Zwangsräumungen in Spanien

Gerechtigkeit und Partizipation

Zwangsräumungen in Spanien

von Elena Vazquez Nuñez und César Amaya

Der Grad der Komplizenschaft zwischen politischer Elite und Finanzinstituten zeigt sich in Spanien am Elan, mit dem die Politik auf Kosten der Lebensqualität eines Großteils der spanischen Bevölkerung die bedrohten Finanzinstitute gerettet und vor den Konsequenzen ihres eigenen Tuns geschützt hat. Den Millionen unmittelbar betroffener Bürger wurden hingegen keine Alternativen zu ihrer Wohnsituation geboten. Sie wurden kurzerhand und wortwörtlich auf die Straße gesetzt. Viele betroffene Familien mussten sich mit anderen zu Wohngemeinschaften zusammenschließen oder bei Bekannten und Verwandten unterkommen. Am schlimmsten betroffen waren aber Familien oder Personen, die über kein Auffangnetz verfügen. Sie sahen sich gezwungen, illegal Wohnhäuser und andere Gebäude zu besetzen, und wurden damit unfreiwillig in einen dauerhaften Zustand der Gesetzlosigkeit gedrängt. Dagegen formierte sich Widerstand.

Das aggressive Hypotheken- und Bankensystem Spaniens hat seit der Verschärfung der Finanzkrise 2008 sein schlimmstes Gesicht gezeigt. Das durch die Immobilienblase verursachte Desaster an den Finanzmärkten führte seither zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, dem millionenfachen Verlust von Arbeitsplätzen1 und der massenhaften Insolvenz kleiner und mittelständischer Unternehmen. Dadurch ist die spanische Mittelschicht stark geschrumpft und die finanzschwache bzw. arme Bevölkerungsgruppe rasant gewachsen. Letztlich hat eine Verarmung großer Teile der spanischen Gesellschaft stattgefunden. Die Anzahl der Zwangsräumungen als Resultat davon, dass Hypothekenverbindlichkeiten nicht mehr bedient werden konnten, ist rasant und unkontrolliert angestiegen und betrifft bis heute ca. 400.000 Familien.2

Seit dem 15. Mai 2011 (in Spanien kurz »15-M« genannt), als im ganzen Land 25.000 Menschen für die »Echte Demokratie Jetzt!«-Bewegung demonstrierten, fällt die Bilanz wenigstens etwas positiver aus: Zahlreiche Zwangsräumungen konnten seither verhindert werden. Diese Reaktion der spanischen Gesellschaft auf die Welle von Zwangsräumungen zulasten bedürftiger Bevölkerungsgruppen, die über keine alternativen Wohnmöglichkeiten verfügen, war und ist bis heute täglich gelebte Realität. Im Austausch zwischen den »asambleas populares« (den basisdemokratischen Versammlungen), die aus dem »15-M« hervorgingen, und den Plattformen für Betroffene der Hypothekenschulden ist es gelungen, die Gnadenlosigkeit des Finanzsektors gegenüber den von der Krise am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen dauerhaft sichtbar zu machen. Dabei wird insbesondere angeprangert, dass die von Zwangsräumung betroffene Bevölkerungsgruppe von Obdachlosigkeit bedroht ist und dass die hohen Verbindlichkeiten gegenüber den Banken auch nach den Zwangsversteigerungsverfahren unbefristet fortbestehen.

Das Recht auf ein würdevolles Wohnen

Dieser alarmierende soziale Missstand ruft nach weitreichenden Reformen im spanischen Finanzsystem sowie in der Rechtssprechung. So hat es im August 2012 auch Raquel Rolnik als Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für das Recht auf ein der Würde des Menschen angemessenes Wohnen in ihrem Bericht formuliert. Dort problematisierte sie das politische Paradigma in Spanien, dass die Finanzierung von Wohnraum primär über den Erwerb einer Immobilie für die Eigennutzung erfolgt und nur selten über Vermietung. Dies zwingt die Käufer aber nahezu zwangsläufig zur Aufnahme von Krediten und ist folglich mit einer Risikoverlagerung auf Privathaushalte verbunden.

Der Bericht beschäftigte sich auch mit den Auswirkungen, die diese Finanzierungspolitik auf das Recht auf Wohnen für Menschen in Armut hat. Die Sonderberichterstatterin kam zum Schluss, dass die volle Wahrnehmung des Rechts auf angemessenes Wohnen „nicht ausschließlich durch finanzielle Mechanismen herbeigeführt werden darf, sondern ganzheitlichen politischen Ansätzen und einer Ausweitung des Wohnungswesens bedarf. Die Sonderberichterstatterin bittet darum, das Paradigma der auf käuflichen Erwerb von Wohnungen ausgerichteten Politik aufzugeben und vielmehr eine Perspektive einzunehmen, die auf den Menschenrechten beruht.“ 3

Die »Plattform Betroffene von den Hypotheken« (PAH)4 geht davon aus, dass in wenigstens 70% der zwangsgeräumten Familien auch mindestens ein minderjähriges Kind obdachlos wurde. Die aktive Verletzung der Grundrechte der Kinder verleiht dieser ohnehin schon problematischen Situation eine zusätzliche Dramatik. Die PAH wurde im Februar 2009 in Selbstorganisation und durch Solidaritätsbewegungen ins Leben gerufen, um den zahlreichen Zwangsversteigerungsverfahren entgegenzutreten. Mehr als 350.000 Fälle waren zu dieser Zeit bereits bei den Gerichten des spanischen Königreichs aufgelaufen – jeder einzelne davon eine Katastrophe für die betroffenen, in Arbeitslosigkeit und unerträgliches Prekariat gerutschten Menschen.

Schutz der Finanzinstitute und Widerstand

Während über die Privatpersonen der Sturm der kompromisslosen Zwangsräumungen fegte, griff die spanische Regierung den Finanzinstituten mit Abermillionen Euro in Form von direkten Hilfen, Bürgschaften, Darlehen etc. unter die Arme, obwohl diese doch die Finanzkrise federführend mit verursacht hatten. Als wäre das nicht genug, fiel auch der Europäischen Zentralbank keine andere Strategie ein, als den Zusammenbruch der Krisenverursacher durch Freigabe von zig Millionen Euro zu verhindern.

Die Reaktion aus der Zivilgesellschaft ließ nicht lange auf sich warten, waren doch viele Tausend Familien direkt betroffen. Das Pochen auf politische und partizipative Prozesse durch die mobilisierte Gesellschaft scheint dabei unverzichtbar, damit die Legislative ihrer Aufgabe wieder nachkommt und Antworten auf die Not gibt, in der wir uns befinden. So spricht sich die ILP (Iniciativa Legislative Popular, Plebiszitäre Gesetzesinitiative)5 für ein Recht auf rückwirkende Überlassung an Zahlung statt,6 außerdem auch gegen Zwangsräumungen aus. Die ILP wird von der PAH, dem Observatorium DESC, den Nachbarschaftsvereinigungen, den Verbraucherorganisationen, den Vereinigungen und Vertretern des Dienstleistungssektors und den Gewerkschaften unterstützt, die wiederum alle den Rückhalt der allgemeinen gesellschaftlichen Initiativen und insbesondere der »asambleas populares del 15-M« genießen. Dieses breite Bündnis, das sich über das ganze Land ausbreitet, könnte künftig gleichermaßen als vereinendes wie als mobilisierendes Element wirken, um der Vorherrschaft des Finanzkapitals einen gesellschaftlichen Widerstand entgegenzusetzen.

EuGH: Zwangsräumungen sind unrechtmäßig

Die Zwangsräumungen in Spanien im Jahr 2010 – so stellte Guillem Soler i Sole, Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH), am 14.3.2013 mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz für die Betroffenen fest – widersprächen dem Grundsatz auf ein würdevolles und angemessenes Wohnen und seien als mängelbehaftet einzustufen. Das Gericht stützte diese Feststellung insbesondere darauf, dass bei den Zwangsräumungen nicht die Vorgaben der EU-Richtlinie 93/13/CEE des Rates vom 5.4.1993 angewandt worden seien. So biete das spanische Zivilprozessrecht (einschlägig war Art. 698 der spanischen Zivilprozessordnung) den betroffenen Verbrauchern keinen der EU-Richtlinie entsprechenden Rechtsschutz.

Für Verbraucher gibt es generell viele juristische Gründe, der Zwangsversteigerung ihrer Immobilie durch die Hypothekenbesitzer zu widersprechen und eine Überprüfung der Hypothek zu veranlassen (Art. 695 LEC [Zivilprozessordung]). Einer Vollstreckung aus der Hypothek kann etwa entgegenstehen, dass die durch die Hypothek besicherte Verbindlichkeit bereits erloschen ist, dass der zu besichernde Betrag fehlerhaft festgesetzt wurde oder dass ein vorrangiges Pfandrecht, eine vorrangige Hypothek oder eine vorrangige Grundschuld besteht. Zur Geltendmachung der genannten Widerspruchsgründe fehlt in den strittigen Hypothekenverträgen jedoch die Möglichkeit einer Missbrauchseinrede (681ff. LEC). Die Verbraucher müssen daher nach der gültigen Gesetzeslage bei Gericht einen Antrag auf Rechtswidrigkeit der Zwangsvollstreckung stellen, dieser Antrag unterbricht aber nicht den Prozess der Zwangsvollstreckung.

Im Verlauf der Zwangsvollstreckungsverfahren kommt es regelmäßig zur Zwangsversteigerung der Immobilie und damit zur Eigentumsübertragung an den Gläubiger oder gar an einen Dritten. Diese Eigentumsübertragung ist jedoch selbst dann kaum mehr rückgängig zu machen, sollte nachträglich die Rechtswidrigkeit der Zwangvollstreckung festgestellt werden. In diesen Fällen muss der dem Verbraucher entstandene Schaden durch Ersatzzahlungen kompensiert werden. Die dabei errechnete Schadensersatzhöhe erreicht aber typischerweise nicht den tatsächlichen Wert der Immobilie, sodass die Zwangsgeräumten einen erheblichen finanziellen Verlust erleiden. Das spanische Schadensersatzverfahren bietet bislang also keinen adäquaten Rechtsschutz zur vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung.7

Weitere Konflikte vorprogrammiert

Die Zwangsräumungen in Spanien beruhen auf einer juristischen Figur: der Aufnahme einer Hypothek. Eine Hypothek ist ein Finanzprodukt, welches den Zugang zu einem Gut – einer Immobilie – ermöglicht, das ein zentrales Gut und ein Grundrecht – das Recht auf Wohnraum – darstellt, da es für ein Leben in Würde unverzichtbar ist. Jeder Mensch braucht ein Zuhause. Der Markt für dieses Gut stellt sich in Spanien so dar, dass es lediglich über den Eigentumserwerb erfüllt werden kann. Die Preise für Häuser wurden dabei künstlich aufgeblasen, sodass der Hauskauf mit Erspartem unmöglich wurde und lediglich unter Zugriff auf die Angebote der Finanzinstitute realisiert werden kann. Dabei wird die Hypothek zu einem Beitrittsvertrag, bei dem der stärkere Part (das Finanzinstitut) dem schwächeren und abhängigen Vertragsteilnehmer (dem Verbraucher) seine Konditionen aufzwingen kann.

Die Ungleichheit in diesen und verschiedenen anderen (Vertrags-) Beziehungen ist in jüngster Zeit stärker in das Bewusstsein gerückt und hat zu einer Ausweitung von Regelungen zum Schutz vor dieser Ungleichheit geführt, im Arbeitsrecht und nun auch im Verbraucherschutzrecht. Der Verweis auf das Prinzip der Gleichheit macht auf eine unzweideutige Wahrheit aufmerksam: Freiheit ohne Gleichheit ist die Tyrannei der Mächtigen.

Das Urteil des EuGH vom 14. März 2013 hat das Fehlen effizienter Schutzmechanismen für die spanischen Schuldner offenbart und hat es erneut in die Hände der europäischen Gesetzgebung gelegt, die Menschenrechte im Falle des Verbraucherschutzes bei Zwangsversteigerungsverfahren eindeutig zu bewahren. Die Fehlbarkeit des spanischen Verfassungsgerichts wurde offenbar, als es dieselbe Klausel selbst dann noch als verfassungskonform erklärte, als der EuGH sie bereits für ungültig erklärt hatte.

Die »Plebiszitäre Gesetzesinitiative«, die sich für die rückwirkende Überlassung an Zahlung statt für soziale Mieten und für ein Moratorium bzw. die Aussetzung der Zwangsversteigerungsverfahren stark macht und von der PAH und anderen Kollektiven vorangetrieben wird, konnte bereits beinahe eineinhalb Million Unterschriften sammeln.

Der soziale Druck sowie der Rüffel durch das Urteil des EuGH haben die Regierung dazu bewegt, das Gesetz zu Zwangsräumungen zu ändern. Leider hat die Regierung dabei die Möglichkeit versäumt, das Urteil des EuGH tatsächlich umzusetzen; stattdessen hat sie die Umsetzung der »Populären Gesetzesinitiative« im parlamentarischen Prozedere verhindert. Der Senat beschloss am 8. Mai 2013 stattdessen ein Gesetz, welches dem Urteil des EuGH widerspricht und, damit noch nicht genug, den Internationalen Pakt für Zivile und Politische Rechte, den Internationalen Pakt für Wirtschaftliche und Soziale Rechte und die Konvention für die Rechte des Kindes verletzt. Da das neue Gesetz weder die Verletzung des Rechtsverfahrensschutzs behebt noch Maßnahmen zur Wiedergutmachung enthält, bestehen weiterhin außergewöhnliche Einschränkungen für den Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz sowie für das Recht auf Verteidigung. Unbefristete Schuldinstrumente, Zwangsräumungen ohne Lebens- und Wohnalternative und die Zwangsvertreibung von Minderjährigen bestehen fort und verstetigen sich.

Die politische Macht hat sich über das Recht, das Gesetz und die Menschlichkeit erhoben und die Interessen der Finanzinstitute entgegen den Interessen der großen Mehrheit der Gesellschaft verteidigt. Der weitere Konflikt ist vorprogrammiert: Auf der Straße, in den Gerichten und vor internationalen Instanzen wird dafür gekämpft werden, dass die systematische Verletzung der Menschenrechte im Kontext der Zwangsräumungen in unserem Land aufhört.

Aber das Wichtigste ist: Das Eis ist gebrochen. Alles, was gestern noch für unmöglich gehalten wurde, ist aufgrund der kontinuierlichen Mobilisierung der Mehrheit der Gesellschaft nun möglich.

Anmerkungen

1) Jeder zweite junge Erwachsene in Spanien ist heute arbeitslos.

2) Ada Colau y Adrià Alemany (2013): 2007-2012: Restrospectiva sobre desahucios y ejucuciones hipotecarias en España, estacísticas oficiales e indicadores. Platforma de afectados por la hipoeca (PAH).

3) Naciones Unidas Asamblea General: El derecho a una vivienda adecuada. Dokument A/67/286 vom 10. August 2012.

4) afectadosporlahipoteca.com.

5) Anabel Díez: El PP prepara sus enmiendas a la iniciativa popular sobre desahucios. El País, 26.3.2013.

6) Das heißt, Betroffene können das Haus zurückgeben, anstatt die Schulden zu bezahlen.

7) Die hier erwähnte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von 2010 führt noch etliche weitere Punkte zur Stärkung des Verbraucherschutzes in Bezug auf Hypothekenkredite auf; diese auszuführen, würde an dieser Stelle zu weit führen.

Elena Vazques Nuñez ist praktizierende Strafverteidigerin in Sozialrecht und Mitglied der Asociación Libre de Abogados (Vereinigung der freien Anwälte).
César Amaya Sandino ist Diplom-Politologe und absolviert gerade an der Universidad Complutense de Madrid den Master in Social Dynamics and Territorial Development.
Aus dem Spanischen übersetzt von María Cárdenas Alfonso und Simon Schäfer-Stradowsky.

Ungarn unter Orbán

Ungarn unter Orbán

Rechtsruck in Gesellschaft und Politik

von Christin Landgraf

Immer mehr Kritiker sehen Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Mihály Orbán in ein autoritäres System driften. Orbán legitimiert sein Handeln mit dem Wahlsieg seiner Partei 2010 und strebt den Aufbau eines neuen Systems an, indem er seine Partei als dominierende Kraft zu etablieren sucht. Die Opposition gegen die Regierung scheint bisher zu uneinig und schwach, um dem eine Alternative gegenüberstellen zu können.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom April 2010 sind beispiellos in der neueren Geschichte Ungarns. Der rechtskonservative »Fidesz – Ungarischer Bürgerbund« konnte mit seinem Bündnispartner, der »Christdemokratischen Volkspartei« (KDNP), über 52% der Stimmen und eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament erreichen. Zugleich wurde die seit 2002 regierende »Ungarische Sozialistische Partei« für ihre Politik abgestraft.

Selbstverständnis und Regierungspolitik Orbáns

Schon mit Beginn des neuen Jahrtausends zeichnete sich zwischen diesen beiden politischen Lagern eine zunehmende Polarisierung ab, die das Land inzwischen tief spaltet. Beide Lager nehmen sich nicht als politisch legitime Kontrahenten wahr, sondern betrachten sich durchweg als Feinde. So hatte Orbán vor den Parlamentswahlen 2010 angekündigt, an die Stelle des dualen und polarisierten Systems eine einzige, dominante Kraft zu setzen: den Fidesz. Orbáns Ziel ist es, ein neues Ungarn aufzubauen, das auf einem christlich-konservativen und nationalen Wertesystem beruht und in dem die postkommunistische durch eine bürgerliche Elite ersetzt wird. Orbán versteht den Systemwechsel 1989/90 und die folgenden Jahre noch nicht als Zäsur und als Ausgangspunkt für den Aufbau eines neuen Systems, da sich seiner Ansicht nach kein umfangreicher Elitenwechsel vollzogen hat.1

So verkündete er kurz nach seinem Wahlsieg, das Parlament müsse anerkennen, dass die Wähler „in den Wahlen vom April über den Aufbau eines neuen Systems abgestimmt“ 2 hätten. In der im Juni 2010 verabschiedeten »Politischen Deklaration über die nationale Zusammenarbeit« heißt es dazu, dass „nach zwei verworrenen Jahrzehnten des Übergangs“ in den Wahlen 2010 „eine Revolution in den Wahlkabinen vollbracht“ worden und ein „neuer Gesellschaftsvertrag zustande gekommen“ sei, „mit dem die Ungarn die Gründung eines neuen Systems, des »Systems der Nationalen Zusammenarbeit«, beschlossen“ hätten. Grundpfeiler des durch den „demokratischen Volkswillen“ entstandenen neuen Systems seien „Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung“. Das neue System stehe „allen sowohl in Ungarn als auch außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn offen“.3 Diese Formulierungen zeigen, dass politisch Andersdenkende, die die von der Fidesz-Regierung vertretenen Werte nicht teilen, aus dem neuen System ausgeschlossen werden.

Die Erarbeitung einer Verfassung als Grundlage des neuen Systems begann kurz nach dem Wahlsieg Orbáns und sollte die im Zuge des Systemwechsels umfassend modifizierte Verfassung von 1949 ersetzen. Nur ein Jahr nach Orbáns Regierungsantritt wurde am 18. April 2011 die neue Verfassung als »Grundgesetz Ungarns« verabschiedet. Öffentliche Auseinandersetzungen oder Diskussionen mit anderen politischen Kräften fanden im Verfassungsgebungsprozess nicht statt. Durch die starke Ideologisierung der Verfassung, die die Nation zum höchsten Wert erklärt, werden Vorstellungen und Werte anderer politischer Akteure grundlegend ausgeblendet.4 Statt zu integrieren, so der Vorwurf, polarisiere die Verfassung und schreibe das alte Denken in Freund-Feind-Schemata fort.5

Neben der neuen Verfassung ist die Regierungszeit Orbáns durch die Verabschiedung zahlreicher Gesetze geprägt, die den Umbau des Systems schnell voranbringen sollen. Dazu gehören tiefgreifende Änderungen im Verwaltungs-, Bildungs- und Hochschulsystem sowie das auf heftigen Widerstand stoßende Mediengesetz, das von Kritikern aufgrund der Einschränkung der Pressefreiheit abgelehnt wird. Das Mediengesetz leitete eine umfassende Neustrukturierung der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn ein und stattet den neu geschaffenen Medienrat und die Nationale Medien- und Kommunikationsbehörde mit weitreichenden Kompetenzen zur Kontrolle der Medien aus. Die im Frühjahr 2013 vollzogenen Verfassungsänderungen führten zudem zu einer weiteren Kompetenzbeschneidung des Verfassungsgerichts.6

Die Zentralisierung der bestehenden Strukturen, die Besetzung öffentlicher Ämter mit eigenen Anhängern sowie die Einschränkung von möglichen Gegenspielern sind kennzeichnend für die Umgestaltung des Systems. In vielen Fällen wurden Gesetze schnell und ohne nennenswerte parlamentarische Debatte oder Konsultation mit Vertretern der Zivilgesellschaft erlassen. Das zeigt sich beispielhaft in dem von Orbán forcierten Umbau der Industriellen Beziehungen, der u.a. den Einfluss der ohnehin schwachen Gewerkschaften weiter zu schmälern sucht. So wurde der trilaterale soziale Dialog durch ein neues Konsultationsforum für die Wettbewerbssphäre ersetzt, in dem nur ein Teil der bestehenden Gewerkschaftskonföderationen vertreten ist. Umfassende Änderungen des Arbeitsrechts schränken die Verhandlungspositionen von Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene sowie das Streikrecht erheblich ein. Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Bereich des Ordnungsschutzes und der öffentlichen Verwaltung wurde reorganisiert. Neu geschaffene Kammern, in denen eine Pflichtmitgliedschaft besteht, üben vielfach Aufgaben aus, die traditionell von Gewerkschaften wahrgenommen wurden.7

Neben dem Aufbau eines neuen Systems ist die Regierungszeit Orbáns durch einen zunehmenden Rechtsruck in Gesellschaft und Politik gekennzeichnet. Laut einer Online-Umfrage unter jüdischen Bürgern durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ist eine Mehrheit der ungarischen Befragten der Ansicht, dass in Ungarn in den letzten fünf Jahren der Antisemitismus deutlich zugenommen habe.8 Überdies hat laut einer Umfrage der Institute Tárki und Political Capital mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Ungarn Vorurteile gegenüber Roma.9 Auch die rechtsextreme »Bewegung für ein besseres Ungarn« (Jobbik), die 2010 erstmalig und gleich als drittstärkste politische Kraft ins ungarische Parlament einzog, konnte sich weiter etablieren. Die Partei zeichnet sich durch eine unverhohlen nationalistische, antisemitische und romafeindliche Rhetorik aus, vertritt ausgeprägt europaskeptische Standpunkte und fordert eine Revision der Verträge von Trianon.10 Sie findet insbesondere unter jungen, gebildeten Wählern Zuspruch. Dennoch übernimmt der Fidesz politische Ideen der Jobbik, in der Hoffnung, damit Wähler zu gewinnen und Jobbik als Kontrahenten zurückzudrängen.11

Opposition gegen die Regierung Orbán

Die Politik Orbáns trifft bei den demokratischen und liberalen Oppositionsparteien und in Reihen der Zivilgesellschaft auf große Kritik. Gemein ist diesen Akteuren, dass ihre Haltung über eine bloße Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik hinaus geht. Vielmehr verletzt die Fidesz-Regierung von den Akteuren als zentral wahrgenommene rechtstaatliche und demokratische Werte. Die Entwicklungen im oppositionellen Spektrum sind sehr dynamisch und geprägt von neuen Kräften. Diese lehnen jedoch zum Teil die Zusammenarbeit mit den alten, vor 2010 agierenden Akteuren ab, da sie bei jenen eine Mitverantwortung für die gegenwärtigen politischen Entwicklungen sehen. Das erschwert ein geschlossenes Auftreten. So scheint trotz erster Zusammenschlüsse die Opposition uneinig und noch zu schwach, um bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 eine wirkliche Alternative bieten zu können.

Stärkste oppositionelle Kraft im ungarischen Parlament ist die »Ungarische Sozialistische Partei« (MSZP) unter dem jungen Parteichef Attila Mesterházy. Als Folge interner Machtkämpfe spaltete sich ein Teil der MSZP ab und gründete im Herbst 2011 unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány die »Demokratische Koalition« (DK), die bisher politisch wenig bedeutend ist.12 Drittstärkste oppositionelle Kraft im ungarischen Parlament ist die junge öko-liberale Partei »Politik kann anders sein« (LMP). Die Partei gründete sich 2009 als Reaktion auf die zahlreichen Korruptionsaffären und die Polarisierung in der ungarischen Politik. Im Frühjahr 2013 spaltete sich ein Teil der Abgeordneten der LMP ab und gründete die Partei »Dialog für Ungarn« (PM). Grund der Spaltung waren parteiinterne Auseinandersetzungen über eine politische Zusammenarbeit mit der oppositionellen Bewegung »Együtt 2014« (Gemeinsam 2014).13

Diese wird von Gordon Bajnai geführt, der 2009 bis 2010 den parteilosen Ministerpräsidenten Ungarns stellte und Ferenc Gyurcsány ablöste, der 2009 abtreten musste. »Együtt 2014« gehören zudem die 2011 gegründeten zivilgesellschaftlichen Bewegungen »Eine Million für die Pressefreiheit« (Milla) und die »Ungarische Solidaritätsbewegung« (Szolidaritás) an. Infolge seiner Rede zum Nationalfeiertag am 23. Oktober 2012 in Budapest wurde Bajnai schnell zu einem Hoffnungsträger der Opposition.14 In dieser verurteilte er die Regierung, die „systematisch Wirbel für Wirbel das Rückgrat der ungarischen Demokratie gebrochen“ habe und zog den Schluss: „Diese Regierung muss gehen.“ 15 Eine Abwahl der Fidesz-Regierung sei jedoch nicht ausreichend, sondern „dieses Regime, das in den vergangenen zwei Jahren errichtet wurde, muss auch wieder abgerissen werden“. Dazu sei, so betonte er, ein Zusammenschluss aller demokratisch-oppositionellen Kräfte notwendig. Im August 2013 beschlossen Együtt 2014-PM und die MSZP, in den Parlamentswahlen 2014 als Wahlbündnis miteinander zu kooperieren, ohne sich jedoch auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten einigen zu können.16

Auch in der ungarischen Gewerkschaftslandschaft nimmt der Widerstand gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Regierung zu. Anfang 2013 hatten die größten Gewerkschaftskonföderationen MSZOSZ, SZEF und ASZSZ eine Fusionserklärung verfasst mit dem Ziel, die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber der Regierungspolitik besser vertreten zu können. In dieser heißt es: „Regierungen in Zusammenarbeit mit Eigentümern und Unternehmen haben gelegentlich eine spaltende und einseitige Politik gegenüber Gewerkschaften geführt. Im Besonderen ist es seit 2010 charakteristisch, dass einigen ein Vorrang gewährt wird und andere ignoriert werden. Hier ist unsere Antwort: Vereinigung.“ 17 Anfang Dezember 2013 wollte die neue Konföderation ihre Arbeit aufnehmen.18

Ausblick

Laut einer aktuellen Medián-Umfrage liegt der Fidesz weiterhin vorne, während der Parlamentseinzug der kleinen oppositionellen Parteien, so der DK, LMP und Együtt 2014-PM, ungewiss bleibt. Gleichzeitig ist die Zahl der unentschlossenen Wähler sehr hoch.19Um diese zu gewinnen, wird ein geschlossenes Auftreten der demokratischen und liberalen Opposition immer dringlicher, auch um einem Erstarken von Jobbik entgegenzuwirken. Ein erneuter Einzug dieser Partei ins Parlament könnte die bestehenden innen- und außenpolitischen Konflikte und Spannungen in der Region zusätzlich verstärken. Die Europäische Union täte somit gut daran, sich nachdrücklicher mit den Entwicklungen in Ungarn auseinanderzusetzen.

Anmerkungen

1) Bos, Ellen (2011): Ungarn unter Spannung. Zur Tektonik des politischen Systems. Osteuropa, Jg. 61., Nr. 12, S.39-63, hier S.47-52.

2) Fidesz: A nemzeti együttmûködés rendszere. fidesz.hu, 15.5.2010.

3) »Legyen béke, szabadság és egyetértés«. Az Országgyûlés1/2010. (VI. 16.) OGY Politikai Nyilatkozata a Nemzeti Együttmûködésrõl, 14. Juni 2010; deutsche Übersetzung in: Osteuropa, Jg. 61, Nr. 12, Einschub III, S.7. Siehe dazu auch: Bos: Ungarn unter Spannung, a.a.O., S.52.

4) Küpper, Herbert (2011): Mit Mängeln. Ungarns neues Grundgesetz. Osteuropa, Jg. 61, Nr. 12, S.135-144, hier S.135-138.

5) Tóth, Gábor Attila (2013): Macht statt Recht. Deformation des Verfassungssystems in Ungarn. Osteuropa, Jg. 63, Nr. 4, S.21-28, hier S.23f.

6) Sólyom, László (2013): Ende der Gewaltenteilung. Zur Änderung des Grundgesetzes in Ungarn. Osteuropa, Jg. 63, Nr. 4, S.5-11.

7) Tóth, András (2013): The Collapse of the post-Socialist Industrial Relations System in Hungary. SEER, Jg. 16, Nr. 1, S.5-19, hier S.12-14.

8) Es handelt sich um eine nicht-repräsentative Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: FRA – European Union Agency for Fundamental Rights (2013): Discrimination and hate crime against Jews in EU Member States: experiences and perceptions of antisemitism. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

9) Bognar, Peter: Die Ungarn und die »bösen anderen«. Die Presse, 1. April 2013.

10) Der Friedensvertrag von Trianon, geschlossen 1920, ist einer der Verträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten. Der Vertrag bestätigte die 1918/19 erfolgten Sezessionen aus dem Königreich Ungarn und somit den Verlust von einem Großteil des ungarischen Territoriums an Nachbar- und Nachfolgestaaten.

11) Nagy, András/Boros, Tamás/Varga, Áron (2012): Right-wing Extremism in Hungary. Friedrich Ebert Stiftung -International Policy Analysis.

12) Huthmacher, Heinz Albert (2013): Die demokratische Opposition in Ungarn im Aufwind? Friedrich Ebert Stiftung – Perspektive.

13) Most már hivatalos: szakad az LMP-frakció. Népszabadság, 11. Februar 2013.

14) Huthmacher, a.a.O.

15) Bajnai Gordon beszéde a Millán – Dokumentum. Népszabadság, 23. Oktober 2012. Siehe dazu auch: Huthmacher, a.a.O.

16) Ma megszületett az ellenzéki szövetség. Együtt 2014, 29. August 2013.

17) ASZSZ, MSZOSZ, SZEF: Unification Statement: On the establishment of a united trade union confederation, to serve the development of the interest defence of Hungarian workers. 1. Mai 2013.

18) Az egyesülõ konföderációk közleménye. MSZOSZ.hu, 31. Oktober 2013.

19) Medián: Irányváltó hangulat? Pártok és politikusok népszerûsége 2013 novemberében. 20. November 2013.

Christin Landgraf, MA ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Europäisierungsforschung und der Forschung zu Interessengruppen in EU Governance. Zudem beschäftigt sie sich mit Fragen zur Politik und Wirtschaft Ungarns.
So nicht anders angegeben, wurden die Zitate von der Autorin übersetzt.

Burden-Sharing

Burden-Sharing

Wie und weshalb die EU die türkische Flüchtlingspolitik unterstützt

von Michelle Kerndl-Özcan

Die Europäische Union hat ihre Unterstützung der türkischen Flüchtlingspolitik und des Aufbaus eines funktionierenden Asylsystems in der Türkei im letzten Jahrzehnt sukzessive erweitert. Dabei leistet sie insbesondere finanzielle und technische Hilfe, während sie sich kaum an UNHCR-Umsiedlungsprogrammen aus der Türkei beteiligt. Dieser Beitrag hinterfragt die Motivationen dieses Engagements und setzt das geleistete Burden-Sharing in Zusammenhang mit den breiteren Zielen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik.

In den letzten Jahren hat sich eine entscheidende Veränderung der Migrationsrouten in die Europäische Union vollzogen. Während noch vor zehn Jahren die meisten Flüchtlinge über die Mittelmeeranrainerstaaten Italien und Spanien in die EU gelangten, fanden 2010 über 80% aller irregulären Eintritte in der türkisch-griechischen Grenzregion Evros statt (vgl. McDonough/Tsourdi 2012, S.1). Das türkische Asylsystem wird von einer richtungsweisenden Besonderheit bestimmt: Es wird nur Flüchtlingen Asyl gewährt, die aufgrund von Geschehnissen in Europa geflohen sind. Nicht-europäische Flüchtlinge, die vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und den zuständigen türkischen Behörden als politische Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden, dürfen nur so lange in der Türkei bleiben, bis sie durch das UNHCR in einen Drittstaat umgesiedelt werden (vgl. Tokuzlu 2010, S.11). Aufgrund langer Wartezeiten bis zu einer Umsiedlung, einer strikten Residenzpflicht und schlechten Lebensbedingungen während des Aufenthalts (siehe hierzu Kaya 2009, S.5f.) sind die meisten Flüchtlinge in der Türkei »irregulär«. So wurden alleine im Jahr 2009 146.337 irreguläre Migrant_innen an der türkisch-griechischen Grenze festgenommen, während sich im selben Jahr lediglich 7.834 beim UNHCR um politisches Asyl bewarben (Edsbäcker 2011, S.22f.). Die Statistik verdeutlicht weiter, dass die allermeisten Flüchtlinge die Türkei lediglich als Transitstaat auf ihrer Flucht in die EU nutzen.

Parallel zum schrittweisen Abbau der Innengrenzen im Raum der EU gewann die Sicherung der Außengrenzen zunehmend an Bedeutung. So stilisieren die bisherigen Ansätze zur gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik, wie die Schengener Abkommen sowie die Verträge von Maastricht und Amsterdam, Flüchtlinge in erster Linie als Sicherheitsbedrohung und fokussieren auf Maßnahmen zur Kontrolle der irregulären Migration in das Gebiet der EU. Diese reichen von restriktiven Visabestimmungen und Sanktionen gegen Transportunternehmen über militärische Kontrollen der EU-Außengrenzen bis hin zur Kooperation mit Drittstaaten wie der Türkei (vgl. Hurwitz 2009, S.1f.).

Finanzielles und technisches Burden-Sharing

Der Politikwissenschaftler James Milner definiert internationales Burden-Sharing bzw. Lastenausgleich als einen Mechanismus, mittels dem die vielseitigen Kosten der staatlichen Aufnahme von Flüchtlingen in einer gerechteren Weise zwischen Staaten verteilt werden (Milner 2005, S.56). Oft wird zwischen finanziellem, technischem und physischem Burden-Sharing unterschieden (vgl. bspw. Hurwitz 2009, S.146).

Finanzielles Burden-Sharing der Türkei durch die EU findet auf drei Ebenen statt:

  • Erstens spielt die EU eine entscheidende Rolle in der Bereitstellung finanzieller Mittel für das UNHCR Türkei, dessen Budget 2012 32,3 Mio. US$ betrug (UNHCR 2013).
  • Zweitens erhält die Türkei Unterstützung aus dem regionalen EU-Programm AENEAS, welches Drittstaaten finanzielle und technische Hilfe in den Bereichen Migration und Asyl gewährt (vgl. Europäische Kommission 2008, S.62).
  • Schließlich erhält die Türkei als EU-Beitrittskandidatin seit 2001 Unterstützung im Rahmen der »Pre-Accession Financial Assistance Programs« der EU, welche 2007 durch das »Instrument for Pre-Accession Assistance« ersetzt wurden.

Das Gros der EU-Unterstützung fließt dabei an Projekte zum Aufbau eines Asylinformationssystems sowie zur Ausbildung von Grenzschutzbehörden (vgl. Delegation of the European Union to Turkey 2007, S.18).

Im Rahmen des technischen Burden-Sharing engagiert sich die EU vorrangig in zwei Bereichen:

  • Da ist zum einen die Kooperation mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Seit der Gründung 2004 wurde die Zusammenarbeit von Frontex und den türkischen Behörden an der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze sukzessive ausgebaut. Am 28.1.2013 unterzeichneten beide Seiten eine gemeinsame Vereinbarung zur weiteren Vertiefung der Kooperation (vgl. Frontex 2013).
  • Zum anderen gibt es so genannte Twinning-Projekte zur Unterstützung von Beitrittskandidaten. Exemplarisch sei ein Projekt von 2007 genannt, welches die EU mit 15 Mio. Euro unterstützte. Hier wurden unter anderem zwei Abschiebelager für irreguläre Migrant_innen errichtet (Europäische Kommission 2007). Es folgten mehrere Twinning-Projekte zur Einrichtung eines Asylinformationssystems, zur Beratung der Legislative sowie zum Ausbau von Institutionen zur Bekämpfung irregulärer Migration.

Die ausgeprägte finanzielle und technische Unterstützung der Türkei durch die EU dient dabei in erster Linie als Instrument zur Verfolgung des sicherheitspolitisch definierten Ziels, die Zahl der Flüchtlinge zu minimieren. Dieses Ziel soll durch den Abschluss eines Rückübernahmeabkommens sowie eine stärkere Grenzsicherheit erreicht werden.

Die Bedeutung eines Rückübernahmeabkommens

Laut Rat der EU sollen Rückübernahmeabkommen bevorzugt mit Staaten angestrebt werden, durch die viele Flüchtlinge in die EU migrieren und die in geografischer Nähe der EU liegen (Tokuzlu 2010, S.7). Da die Türkei beide Kriterien erfüllt, wurde der Abschluss eines Abkommens von der EU seit langem mit hoher Priorität betrieben. Seit 2005 fanden Verhandlungen statt, auf deren Grundlage türkische Staatsbürger_innen sowie irreguläre Migrant_innen, die über die Türkei in die EU einreisen, in einem Schnellverfahren in die Türkei zurückgeführt werden können. Im Gegenzug verspricht die EU türkischen Staatsbürger_innen schrittweise Visaerleichterungen. Die türkische Regierung weigerte sich lange, der EU-Forderung nach Aufnahme von Drittstaatsangehörigen nachzukommen, da sie befürchtet, dass ein solches Abkommen die drastisch gestiegene Zahl an internationalen Flüchtlingen in der Türkei weiter erhöhen und die Türkei eine Art »Pufferzone« oder gar ein »dumping ground« für in der EU unerwünschte Flüchtlinge werden könnte (Kirisci 2012, S.75). Die EU war und ist bemüht, derartige Zweifel durch intensives Engagement im Burden-Sharing auszugleichen.

Nach erheblichem Druck der EU wurde im Juni 2012 ein bilaterales Rückübernahmeabkommen paraphiert, welches am 16.12.2013 durch EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström sowie den türkischen Innenminister Muammer Güler unterzeichnet wurde. Allerdings hängt die Umsetzung des Abkommens noch von der Ratifizierung des Rates der EU, des Europäischen Parlaments sowie des türkischen Parlaments ab. Der Inhalt des Abkommens berücksichtigt die Bedenken der Türkei: Während diese eingewilligt hat, eigene Staatsbürger_innen aufzunehmen, sollen Angehörige von Drittstaaten erst drei Jahre nach Ratifizierung in die Türkei zurückgeschoben werden können (vgl. Europäische Kommission 2013).

Bisher hatte die Türkei lediglich ein Rückübernahmeabkommen mit dem EU-Mitgliedstaat Griechenland abgeschlossen. Durch das Abkommen erhofften sich griechische Entscheidungsträger sowohl weniger Flüchtlinge im eigenen Land durch Abschiebungen in die Türkei als auch die Abschreckung von Flüchtlingen vor irregulären Übertritten der türkisch-griechischen Land- und Seegrenzen. Allerdings führte die Implementierung des Abkommens seit 2001 nicht zu den angestrebten Ergebnissen. Von 65.300 Flüchtlingen, die Griechenland zwischen 2002 und 2010 in die Türkei zurückschieben wollte, nahm die Türkei lediglich 2.425 Menschen auf (Icduygu 2011, S.7). Gründe für die beschränkte Umsetzung sind – neben den traditionell angespannten bilateralen Beziehungen – Schwächen des finanziellen Lastenteilungsmechanismus sowie das Fehlen einer gemeinsamen Datenbank, auf deren Grundlage nachgewiesen werden könnte, welche Flüchtlinge über die Türkei eingereist sind (vgl. Cramer-Hadjidinos 2011, S.66). Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die intensiven Bemühungen der EU zum Aufbau eines türkischen Asylinformationssystems, welches schließlich in die europäische Datenbank »Schengen Informationssystem« (SIS) integriert werden könnte, aus den Negativerfahrungen des türkisch-griechischen Rückübernahmeabkommens resultieren.

Daneben fordert die EU die Aufhebung des oben erwähnten geografischen Vorbehalts. Die EU-Asylverfahrensrichtlinie konstatiert, dass Flüchtlinge nur in einen Drittstaat abgeschoben werden können, in dem die Möglichkeit besteht, als politischer Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden. Die Türkei gilt daher nicht als sicherer Drittstaat. Obgleich das türkische Asylsystem weitere menschen- und flüchtlingsrechtspolitische Defizite aufweist, ist davon auszugehen, dass die Türkei nach der Aufhebung des geografischen Vorbehalts als sicherer Drittstaat anerkannt würde (vgl. Tokuzlu 2010, S.15). Folglich macht das jüngst unterzeichnete Rückübernahmeabkommen die Einführung von Visaerleichterung für türkische Staatsangehörige abhängig von der Einrichtung eines Asylsystems nach »internationalen Standards« – sprich: der Aufhebung des Vorbehalts (vgl. Europäische Kommission 2013).

Am geografischen Vorbehalt hält die Türkei vor allem aus ökonomischen Gründen fest. Türkische Entscheidungsträger befürchten im Falle einer Aufhebung einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen in der Türkei, was erhebliche Kosten verursachen könnte. Deswegen verweisen türkische Entscheidungsträger bei allen Verhandlungen um einen EU-Beitritt oder die vollständige Implementierung des Rückübernahmeabkommens – beiden müsste die Aufhebung des geografischen Vorbehalts vorausgehen – immer wieder auf die Notwendigkeit eines weitreichenden Burden-Sharing (vgl. Kaya 2009, S.15).

In diesem Zusammenhang spielt die türkische Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft eine entscheidende Rolle. Im Falle einer Mitgliedschaft bewertet die Türkei die Kosten der Aufhebung des Vorbehalts als gering, da sie dann von innereuropäischen Lastenausgleichsmechanismen profitieren würde (vgl. Cramer-Hadjidimos 2011, S.66). Türkische Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass auch Ungarn, Lettland und Malta den zuvor geltenden geografischen Vorbehalt im Laufe der Beitrittsverhandlungen aufheben mussten (vgl. Kirisci 2012, S.74). So zeigte sich die Türkei nach der Erhebung zur Beitrittskandidatin, als die Hoffnungen auf eine baldige Mitgliedschaft noch hoch waren, zunächste zu einer umfassenden Reform bereit. Als die Aussicht auf eine Mitgliedschaft im Laufe der langwierigen Beitrittsverhandlungen weiter in die Ferne rückte, konstatierte sie allerdings, sie würde den Vorbehalt erst nach einem offiziellen Mitgliedschaftsversprechen durch die EU aufheben. Die EU hingegen verlangt die Aufhebung als Vorbedingung für die Mitgliedschaftsperspektive und Visaerleichterungen. So ist die Aufhebung des geografischen Vorbehalts zu einem Druckmittel für beide Seiten geworden (vgl. Kaya 2009, S.23).

Grenzsicherung im Interesse der EU

Die Türkei befindet sich an einer der sensibelsten Grenzen der EU. Sie liegt zwischen der EU und Staaten wie Irak, Iran oder Syrien, die im sicherheitspolitischen Diskurs der EU zunehmend mit religiösem Fanatismus und islamistischem Terrorismus in Verbindung gebracht werden (vgl. Baklacioglu 2010, S.4f.). So liegt ein wesentlicher Fokus des Burden-Sharing der EU auf Projekten zur Verbesserung der Grenzsicherheit in der Türkei. Ziel dabei ist die effiziente Kontrolle sowohl der Grenzen im Osten und Südosten der Türkei, über welche die meisten Flüchtlinge einreisen, als auch der türkisch-griechischen Grenze, über welche die meisten Flüchtlinge in die EU weiterreisen. Durch die Finanzierung von Projekten zur Stärkung der Grenzschutzeinheit und Grenzpolizei sowie zum Aufbau von Abschiebelagern sollen die Grenzen im Osten und Südosten der Türkei undurchlässiger gemacht werden, während die engere Kooperation mit Frontex in erster Linie der Sicherung der türkisch-griechischen Grenze dient. Dadurch findet eine Transformation der EU-Grenzen in die Türkei statt.

Die EU strebt eine Minimierung der Zahl von irregulären Migrant_innen in der Türkei an. So erhofft sie sich einerseits eine Abnahme der irregulären Grenzübertritte in der türkisch-griechischen Evros-Region sowie andererseits eine gesteigerte Bereitschaft der Türkei zur Aufhebung des Vorbehalts. Als adäquates Mittel werden neben der Unterstützung der türkischen Grenzkontrollen auch Rückübernahmeabkommen der Türkei mit weiteren Drittstaaten angestrebt. Folglich übt die EU Druck auf die Türkei aus, selbst Rückübernahmeabkommen mit häufigen Transit- und Herkunftsstaaten abzuschließen. Bislang hat die Türkei derartige Abkommen mit Griechenland (2001), Syrien (2001), Kirgistan (2003) sowie mit den Schwarzmeeranrainern Rumänien (2004) und Ukraine (2005) ratifiziert, wodurch eine Transformation auch der internationaler Grenzen erfolgt (vgl. Soykan 2010, S.221).

Physisches Burden-Sharing

Physisches Burden-Sharing bezeichnet die Teilnahme am UNHCR-»Resettlement«, durch welches anerkannte Flüchtlinge aus Erstasylstaaten mit hohen Flüchtlingszahlen in Industriestaaten umgesiedelt werden. Im Gegensatz zur hohen Beteiligung an finanziellen und technischen Instrumenten des Burden-Sharing ist das EU-Engagement an Umsiedlungsprogrammen aus der Türkei deutlich geringer. Von 37.418 Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtingskonvention, die zwischen 1995 und 2010 aus der Türkei umgesiedelt wurden, nahmen europäische Staaten – ohne die skandinavischen Staaten – lediglich 990 Personen auf (siehe Tabelle).

Umsiedlungen aus der Türkei nach Herkunftsländern (1995-2010)

Herkunftsland Umsiedlung nach
Kanada USA Ozeanien Sonstiges Europa Skandinavien Andere Gesamt
Afghanistan 192 258 3 17 89   559
Iran 4.841 10.061 2.921 269 3.667 12 21.771
Irak 1.043 10.335 1.788 689 1.732 33 15.620
Afrika 436 326 1 7 55   825
Nordafrika 15       1   16
Asien   34     13   47
Naher/Mittlerer Osten 74 4 10 7 6 1 102
Bosnien und Herzegowina   45   1     46
Gesamt 6.601 21.063 4.723 990 5.563 46 37.418
Mit korrigierten Zahlen nach Kirisci 2012, op.cit., S.72

Auch das zögerliche Engagement der EU-Mitgliedstaaten in Umsiedlungsprogrammen steht in engem Zusammenhang mit der Konstruktion von Flüchtlingen als sicherheitspolitische Herausforderung. Dabei sind Flüchtlinge, die auf irregulärem Weg in die EU gelangen, keineswegs eine größere Sicherheitsbedrohung als Flüchtlinge, die durch Neuansiedlungsprogramme in die EU kommen.

Europäische Entscheidungsträger rechtfertigen ihre geringe Aufnahmebereitschaft damit, dass ein umfassender globaler Ansatz mit ausgeprägtem Engagement in der Region nachhaltiger und somit der Beteiligung an Umsiedlungsprogrammen vorzuziehen sei. So definiert das Stockholmer Programm von 2010 den Kapazitätsaufbau in Drittstaaten und die Verbesserung der Lebensverhältnisse in Herkunftsstaaten als primäre Ziele des EU-Flüchtlingsschutzes. Mit den oben diskutierten finanziellen und technischen Instrumenten soll der Flüchtlingsschutz in Staaten, die in Konfliktregionen liegen, ausgebaut werden, während entwicklungspolitische Projekte Fluchtursachen in Herkunftsstaaten bekämpfen sollen. Die freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen durch Neuansiedlungsprogramme hingegen erwähnt das Stockholmer Programm erst als zweite Priorität (vgl. Europäischer Rat 2010, S.33).

Zweifellos bilden die Bekämpfung der Fluchtursachen und die Unterstützung von Erstasylstaaten wichtige Pfeiler der Politik zum internationalen Flüchtlingsschutz. Allerdings stellt sich die Frage, ob der globale Ansatz der EU die Aufnahme von Flüchtlingen – direkt oder durch Umsiedlungsprogramme – ausschließen muss. Selbst die zuständige EU-Innenkommissarin Malmström stellt gravierende Mängel der EU-Flüchtlingspolitik fest: „Die europäischen Versprechen, Menschen in Not zu helfen, wurden in jüngster Zeit gründlich auf die Probe gestellt, und Europa hat bei dieser Prüfung kollektiv versagt.“ (zitiert aus Kopp 2012, S.26)

Die Art des EU-Engagements im Burden-Sharing leitet die in der EU stattfindende »Versicherheitlichung« von Flüchtlingen in die Türkei weiter. Die türkische Asylpolitik ist traditionell in erster Linie von sicherheitspolitischen Bedenken geprägt, im Rahmen derer insbesondere kurdische Flüchtlinge – parallel zu islamischen Flüchtlingen in der EU – als Sicherheitsbedrohung konstruiert werden (vgl. Kirisci 2012, S.66f.). Durch den Fokus der EU-Unterstützung auf den Ausbau des militärischen Grenzschutzes und den Aufbau einer Datenbank wird Flüchtlingspolitik einmal mehr in einen sicherheitspolitischen Kontext gerückt.

In diesem Zusammenhang konstatiert der Politikwissenschaftler Nurcan Özgür Baklacioglu, Ziel des EU-Engagements im Burden-Sharing und Ziel der asylpolitischen Forderungen im Beitrittsprozess sei der Aufbau einer «Festung Türkei» nach dem Vorbild der «Festung Europa» (vgl. Baklacioglu 2010, S.5). Die Europäisierung der türkischen Asylpolitik führt somit kaum zu einer stärkeren Beachtung von Flüchtlingsrechten in der Türkei, sondern schränkt im Gegenteil die Möglichkeit auf Zutritt zu türkischem Territorium und Asylverfahren ein.

Literatur

Baklacioglu, Nurcan Özgür (2010): Building »Fortress Turkey«: Europeanization of Asylum Policy in Turkey. Aktualisierte Fassung seines Artikels in The Romanian Journal of European Studies, No.7-8/2009.

Cramer-Hadjidimos, Katharina (2011): Eine griechische Tragödie. Europa stößt im Umgang mit irregulären Migranten an seine Grenzen. Internationale Politik 1-2011, S.62-67.

Delegation of the European Union to Turkey (2007): Standard Summary. Project Fiche, Project number: TR 06 01 01, Twinning number: TR 06 IB JH 01.

Edsbäcker, Karolina (2011): Turkey’s Asylum Policy in the Light of EU Accession. The Impact of its Geographical Limitation to the Geneva Convention. Lund University, Department of Political Science.

Euro-Mediterranean Human Rights Network (2013): An EU-Turkey Readmission Agreement – Undermining the Rights of Migrants, Refugees and Asylum Seekers? oppenheimer.mcgill.ca.

Europäische Kommission (2007): Standard Summarized Project Fiche, IPA decentralised National Programmes. Project number: TR 07 02 16, TWINNING NO: TR 07 IB JH 05.

Europäische Kommission (2008): Aeneas programme. Programme for financial and technical assistance to third countries in the area of migration and asylum. Overview of projects funded 2004-2006..

Europäische Kommission (2013): Cecilia Malmström signs the Readmission Agreement and launches the Visa Liberalisation Dialogue with Turkey. Pressemitteilung – IP/13/1259 vom 16.12.13.

Europäischer Rat (2010): The Stockholm Programme – an open and secure Europe serving and protecting citizens (2010/C 115/01).

Frontex (2013): Frontex signs a memorandum with Turkey. frontex.europa.eu, ohne Datumsangabe.

Hurwitz, Agnès (2009): The collective responsibility of states to protect refugees. Oxford: Oxford University Press (Oxford monographs in international law).

Icduygu, Ahmet (2011): The Irregular Migration Corridor between the EU and Turkey: Is it Possible to Block it with a Readmission Agreement? Research Report Case Study, EU-US Immigration Systems 2011/14.

Kaya, Ibrahim (2009): Reform in Turkish Asylum Law: Adopting EU Acquis? Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute Florence (CARIM Research Reports).

Kirisci, Kemal (2012): Turkey’s New Draft Law on Asylum: What to Make of it? In: Seçil Paçacý Elitok und Thomas Straubhaar (eds.): Turkey, migration and the EU. Potentials, challenges and opportunities. Hamburg: Hamburg University Press (Edition HWWI, 5), S.63-80.

Kopp, Karl: In Europa nicht willkommen. Weltsichten 8/2012, S.26-29.

McDonough, Paul; Tsourdi, Evangelia (2012): Putting Solidarity to the Test: Assessing Europe’s Response to the Asylum Crisis in Greece. Hrsg. von UNHCR Policy Development and Evaluation Service (New Issues in Refugee Research, Januar 2012, Research Paper No. 231).

Milner, James (2005): Burden Sharing. In: Matthew J. Gibney und Randall Hansen (eds.): Immigration and asylum. From 1900 to the present. Santa Barbara, Calif, Oxford: ABC-CLIO, S.56-57.

Soykan, Cavidan (2010): The Impact of Common European Union Immigration Policy on Turkey. In: Ethnologia Balkanica 14, S.207-225.

Tokuzlu, Lami Bertan (2010): Burden-Sharing Games for Asylum Seekers between Turkey and the European Union. EUI Working Papers. San Domenico di Fiesole/Italiien: Robert Schuman Centre for Advanced Studies.

UNHCR (2013): 2013 UNHCR country operations profile – Turkey..

Michelle Kerndl-Özcan erwarb an der Universität Marburg einen Masterabschluss in Friedens- und Konfliktforschung. Die Autorin wohnt in München und Istanbul und ist momentan in Elternzeit.

Ein Europäischer Pivot?

Ein Europäischer Pivot?

von Jürgen Wagner

Er ist in aller Munde, der US-amerikanische »Pivot« (inzwischen »Rebalancing« genannt), die Schwerpunktverlagerung nach Ostasien. Sie erfolgt vor dem Hintergrund profunder machtpolitischer Verschiebungen, insbesondere zugunsten Chinas, denen Washington mit einer gesteigerten Präsenz in der Region begegnen will. Mit dieser Entwicklung gehen beträchtliche Risiken einher, warnte Avery Goldstein unlängst in der renommierten »Foreign Affairs« (September/Oktober 2013): Es „existiere eine reale Gefahr, dass Peking und Washington in eine Krise schlittern könnten, die schnell zu einem militärischen Konflikt eskalieren könnte.“ Hierzu tragen auch die sich verschärfenden regionalen Konfliktdynamiken bei. Dies betrifft nicht allein die »Großbaustellen«, die chinesisch-japanischen und chinesisch-indischen Spannungen, sondern eine Reihe weiterer Konflikte in der Region, denen sich diese Ausgabe von W&F widmet.

Unterdessen hat der »Pivot« auch die europäische Strategiedebatte befeuert, wobei sich grob zwei Denkschulen unterscheiden lassen. Da wären einmal diejenigen, die argumentieren, die US-Schwerpunktverlagerung mache es notwendig – oder eröffne die Chance, je nach Blickwinkel –, sich nun endgültig als regionale Ordnungsmacht im europäischen Nachbarschaftsraum zu etablieren. Hierfür sei aber ein stärkeres, auch militärisches, Engagement erforderlich, wie etwa Patrick Keller von der Konrad-Adenauer Stiftung im Reader Sicherheitspolitik (27.03.2013) schreibt: „Angesichts der strategischen Neuausrichtung der Amerikaner wird Europa seine Interessen in dieser Region – und auch auf dem Balkan, im Kaukasus und im Hohen Norden – selbst durchsetzen müssen. Das geht in erster Linie durch politische und wirtschaftliche Kooperation, kann als äußerstes Mittel aber auch den Einsatz militärischer Gewalt erfordern.“

Doch manchen geht dies noch nicht weit genug: Sie plädieren dafür, angesichts der wachsenden Bedeutung Ostasiens müsse die EU dort auch sicherheitspolitisch Flagge zeigen. Besonders im Institute für Security Studies (ISS), der strategischen Denkfabrik der Europäischen Union, wurde hierüber lebhaft debattiert. So argumentiert Nicola Casarini, schon seit etwa einem Jahrzehnt sei ein »europäischer Pivot« im Gange, der sich aber primär auf nicht-militärische Aspekte erstrecke: „Der Fokus des europäischen »Pivot« liegt primär auf ökonomischen, finanziellen, technologischen, generell auf »soft power«-Fragen und weit weniger darin, die Militärpräsenz auszubauen und Sicherheitsbündnisse zu schmieden. Er schließt Elemente mit Verteidigungsbezügen ein, aber eher in Form militärischer Dialoge, Austauschprogramme, gemeinsamer Übungen und Waffenverkäufe.“ (ISS Alert, März 2013)

Einige prominente Sicherheitspolitiker drängen derzeit aber darauf, eine Änderung des bisherigen Kurses zu erwirken. So fordert etwa James Rogers, der vom ISS mit der Ausarbeitung des Vorschlagskatalogs für den »Rüstungsgipfel« der EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 2013 beauftragt wurde: „Europa könnte seine Bereitschaft unter Beweis stellen, Kriegsschiffe in unsichere Regionen zu entsenden, um bestimmten Staaten zu zeigen, dass illegitime Souveränitätsansprüche im südchinesischen Meer von den Europäern nicht anerkannt werden.“ (South China Sea Monitor, August 2012)

Ähnlich ambitioniert heißt es im Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments »über maritime Aspekte der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«, der im Frühjahr 2013 unter der Ägide der sozialdemokratischen Europaabgeordneten Ana Gomes vorgelegt wurde: „[Das Europäische Parlament] fordert die HV/VP [EU-Außenbeauftragte] auf, potenzielle Bedrohungen für den Frieden, für die Sicherheit der maritimen Verkehrswege und den offenen Zugang zu benennen, denen europäische Schiffe, Handelsinteressen und Bürger im Falle einer Eskalation von Spannungen und bewaffneten Konflikten im Ost- und Südchinesischen Meer ausgesetzt sein könnten; fordert die umgehende Benennung der Mittel und Ressourcen (insbesondere Flotten), die die EU für einen Einsatz in der Region benötigen würde, um Bürger der EU und anderer Staaten zu evakuieren, die Interessen der EU und die internationale Rechtsordnung zu bewahren und zu verteidigen, an internationalen Bemühungen zur Eindämmung gefährlicher Politik teilzunehmen, Aggressionen einzudämmen und die Sicherheit der Schifffahrt im Ost- und Südchinesischen Meer und in der Straße von Malakka zu garantieren.“

Die Tatsache, dass dieser Passus in der schlussendlich vom Parlament am 12. September 2013 verabschiedeten Fassung fast vollständig gestrichen wurde, deutet darauf hin, dass es für derlei ambitionierte Positionen derzeit (noch) keine Mehrheit zu geben scheint. Erkennbar ist dennoch, dass aus friedenswissenschaftlicher Perspektive der Region Asien/Pazifik künftig mehr Aufmerksamkeit gezollt werden muss – und zwar nicht allein aufgrund der Aktivitäten der USA und regionaler Akteure, sondern auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in der Europäischen Union.

Ihr Jürgen Wagner

Festung Europa

Festung Europa

von Jürgen Nieth

Das Europäische Parlament hat am 10. Oktober „den Betriebsvorschriften für das elektronische Grenzüberwachungssystem Eurosur mit 479 zu 101 Stimmen bei 20 Enthaltungen klar zugestimmt. Da damit eine politische Einigung zwischen dem Parlament und dem Ministerrat erzielt worden ist, steht der gestaffelten Einführung des Systems ab Anfang Dezember nichts mehr im Wege.“ (NZZ 11.10.13) „Nur die Grünen und die Linke stimmten dagegen.“ (BG 11.10.13)

Hightech-Aufrüstung

„Eurosur soll mit hochwertiger Sicherheitstechnik arbeiten. Dazu zählen Drohnen, offshore-Sensoren, ein Satellitensuchsystem und automatisierte biometrische Identitätskontrollen.“ (ND 11.10.13.) „Mit Eurosur sollen Informationen zwischen Grenzbeamten und Zollbehörden, den Küstenwachen und der Marine schneller ausgetauscht werden. Überwachungsinstrumente wie Satelliten oder Schiffsmeldesysteme ermöglichen über ein geschütztes Kommunikationssystem die Weitergabe in Echtzeit. Das System soll eng mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden.“ (SN 11.10.13.) „In einer ersten Phase werden nationale Systeme modernisiert und elektronisch vernetzt […] Ein maritimes Meldesystem für das Mittelmeer, Teile des Atlantiks (Kanarische Inseln) und das Schwarze Meer soll später in das Netzwerk eingebunden werden.“ (welt-online 12.10.13) „Die Kommission schätzt die Kosten bis 2020 auf 244 Millionen Euro.“ (NZZ 11.10.13) Andere Berechnungen kommen zu wesentlich höheren Zahlen. Die SZ (19.10.13) geht von 340 Millionen Euro aus, und laut einer Studie der Böll-Stiftung „könnten sich die Kosten von Eurosur und dem »Smart border package«, mit dem sämtliche Ein- und Ausreisen von Drittstaaten in die EU erfasst werden sollen, auf bis zu zwei Milliarden Euro belaufen“. (ND 11.10.13.)

Abschottung oder Hilfe?

Die Überschriften der meisten deutschsprachigen Zeitungen sind eindeutig: „Abschottung aus einem Guss“ (taz 09.10. 13), „Moderne Technologie gegen illegale Migration“ (NZZ 11.10.13.), „Neues System zur Grenzüberwachung“ (StZ 11.10. 13), „Über Wachen und Dichtmachen“ (ND 11.10.13), „EU billigt Drohneneinsatz gegen illegale Einwanderung“ (Zeit-online, 10.10.13), „EU kauft Flüchtlingsabwehrsystem“ (FR-online 10.10.13), „EU verschärft Überwachung an den Außengrenzen“ (SZ-online 10.10.13).

Die EU-Innenkommissarin, Cecilia Malmström, spricht zwar davon, das neue System werde helfen, „das Leben jener Menschen zu retten, die sich selbst in Gefahr bringen, um Europas Küsten zu erreichen“, doch der Schwerpunkt liegt offensichtlich nicht auf Hilfe, sondern auf Flüchtlingsabwehr. So schreibt die SZ (11.10.13), laut Gesetzestext solle Eurosur dem Zweck dienen, „illegale Einwanderung und grenzüberschreitende Kriminalität aufzudecken, ihr vorzubeugen und sie zu bekämpfen. Die Rettung von Menschenleben wird zwar im gleichen Absatz, nicht aber im gleichen Atemzug genannt. Weil sich eine Reihe von Mitgliedstaaten dagegen aussprachen, sie zum Ziel zu erheben, soll Eurosur zur Seenotrettung nur mehr »einen Beitrag« leisten.“ Die taz (09.10.13) zitiert den Linken Europa-Abgeordneten Hunko, nach dem „ein Vorschlag des Europäischen Parlaments, die Aufgaben von Eurosur auf die Seenotrettung auszuweiten, von den europäischen Innenministern »geschlossen abgelehnt« wurde“. Und in der SZ (19.10.13) schreibt Heribert Prantl: „Die EU schützt Grenzen und nicht Flüchtlinge […] Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der Abschreckungsstrategie.“

Abdrängen statt Hilfe

Die Einschätzung Prantls wird bestätigt durch Recherchen des ARD-Magazins »Monitor« (17.10.13). Danach hat die EU-Grenzschutzbehörde Frontex „zugegeben, was von Menschenrechtsorganisationen bereits seit längerem kritisiert wird: die Beteiligung an illegalen Abdrängungsmanövern, sogenannten Push-Backs im Mittelmeer. Die Statistiken von Frontex wiesen (so Frontex Leiter Ilkka Laitinen) fünf bis zehn Verdachtsfälle pro Jahr auf“. Eine Zahl, die Karl Kopp von Pro Asyl gegenüber dem ND als „rührend“ bezeichnet. „Seine Organisation habe basierend auf Interviews zusammen mit Partnerorganisationen in den letzten zwölf Monaten Push-Back-Fälle der griechischen Küstenwache dokumentiert, die alleine 2.000 Menschen betreffen.“ Trotzdem birgt das Eingeständnis von Frontex gegenüber »Monitor« Brisanz, denn im Februar letzten Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „die Praxis, Flüchtlinge auf hoher See auch unter Einsatz von Gewalt zurück in das Herkunftsland oder in Länder zu zwingen, wo ihnen Verfolgung droht, […] als menschenrechtswidrig gewertet“. (ND 18.10.13)

Umfassende Flüchtlingsabwehr

Die nordafrikanischen Länder sollen stärker in die Flüchtlingsabwehr einbezogen werden. „Die ersten Partner […] waren die neuen Machthaber Libyens […] Ägypten, Tunesien und Algerien hingegen hatten sich lange jeder Beteiligung […] verweigert […] Doch auf Druck aus Südeuropa signalisierten die drei Länder im September, nun doch beitreten zu wollen.“ (taz 09.10.13) „Mit den sogenannten »Mobilitätspartnerschaften«, die die EU in solchen Fällen eingeht, werden Drittländern zum Beispiel Visaerleichterungen und Informationen über Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten in Europa in Aussicht gestellt, sie müssen sich im Gegenzug aber zu einer Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels und zu einer Rücknahme illegaler Migranten verpflichten.“ (FAZ 04.10.13)

Christopher Ziedler verweist in der StZ (05.1013) darauf, dass durch diese »Rücknahmeabkommen« der Fokus noch stärker auf Flüchtlingsabwehr gelegt wird. „Letztlich können die Behörden über Satelliten und Drohnen künftig sehen, wenn ein Boot an der afrikanischen Küste ablegt, und die Kollegen auf der anderen Seite informieren, damit die dortige Küstenwache die Flüchtlinge aufhält.“ Er zitiert die Grüne Europa-Abgeordnete Keller: „ Das erspart ihnen (den Flüchtlingen) eine tödliche Überfahrt, rettet aber nicht unbedingt ihr Leben, sie haben ja einen Grund zu fliehen.“

Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, hat nach „Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen seit 1998 bereits mehr als 19.000 Menschenleben gekostet“. (NZZ 05.10.13)

Abkürzungen:

Bonner Generalanzeiger (BG), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), Neues Deutschland (ND), Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Stuttgarter Nachrichten (SN), Stuttgarter Zeitung (StZ), Süddeutsche Zeitung(SZ), tageszeitung (taz), Die Welt (Welt).

Jürgen Nieth

Grand Area

Grand Area

Ein imperiales Raumkonzept für die Weltmacht EUropa

von Jürgen Wagner

Im folgenden Beitrag wird argumentiert, dass die europäische außen- und sicherheitspolitische Debatte von verschiedenen »Versatzstücken« dominiert wird, die eine geostrategische Expansionspolitik unterschwellig anleiten. Um dies zu verdeutlichen, wird das aus der europäischen Debatte abgeleitete imperiale Raumkonzept der »Group on Grand Strategy« vorgestellt und mit der praktischen EU-Politik verglichen. In seinen Schlussfolgerungen fordert der Autor Politikwissenschaft und Friedensforschung auf, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Als Geostrategie wird im Folgenden der Einfluss der Geografie auf die Politik (Geopolitik) sowie die Androhung und Anwendung militärischer (und anderer) Mittel zur Erreichung bestimmter interessengeleiteter Ziele (Strategie) verstanden. Solche Begrifflichkeiten stehen für harte Machtpolitik und das Denken in Einflusssphären. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte wurde die Politik der Europäischen Union daher mit ganz anderen Begrifflichkeiten belegt: „Die Gründungsphilosophie der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft], aus der die [Europäische Gemeinschaft] und dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwickelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrategischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und politische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“ 1 Die Europäische Union als eine Art geopolitischer Abstinenzler – dieses Bild wird bis heute sorgsam gehegt und gepflegt, wenn etwa der polnische Außenminister Radek Sikorski erklärt: „Die EU ist inhärent unfähig, strategisch zu denken. Denn wir sind wohl oder übel eine Gemeinschaft des Rechts und des Handels, nicht der Geopolitik.“ 2

Demgegenüber legen die Arbeiten der »Group on Grand Strategy« (GoGS) nahe, dass geostrategische Überlegungen innerhalb der EU durchaus eine wichtige Rolle spielen, womöglich im Hintergrund sogar handlungsleitend wirken. Offiziell gegründet wurde dieser Zusammenschluss europäischer Geopolitiker erst im Sommer 2011. Allerdings wurden erste Publikationen bereits im August 2009 auf der eng mit der Gruppe verbundenen Internetseite »European Geostrategy« (EUGeo)3 veröffentlicht. Im GoGS-Beirat finden sich prominente Vertreter zahlreicher einflussreicher EU-Denkfabriken,4 wobei im Folgenden vor allem die Publikationen der beiden GoGS-Direktoren, James Rogers und Luis Simón, näher betrachtet werden, da sie als repräsentativ für die Positionen der gesamten Gruppe gelten können.5 Sowohl Rogers als auch Simón arbeiteten u.a. für die wichtigste hauseigene EU-Denkfabrik, das European Union Institute for Strategic Studies (EUISS), sowie im Auftrag der Generaldirektion für Außenbeziehungen des EU-Rates (DG EXPO). Dass es sich bei beiden keineswegs um Hinterbänkler handelt, zeigt auch ihre Einladung als Sachverständige für den EU-Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) sowie ihre Beratertätigkeit für die schwedische EU-Ratspräsidentschaft. Die »Group on Grand Strategy« ist also bestens vernetzt und in der Lage, den EU-Strategiediskurs teils mitzubestimmen.

Keineswegs soll hier aber der Eindruck erweckt werden, diese Gruppe würde »im stillen Kämmerlein« die Geschicke der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik lenken. Vielmehr ist sie so interessant, weil sie aus den wesentlichen Elementen der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte ein machtpolitisches Anforderungsprofil ableitet, diese Einzelelemente zu einer – zumindest aus ihrer Sicht – in sich kohärenten Geostrategie zusammengeknotet und in ein imperiales EU-Raumkonzept überführt.

Bestandsaufnahme und Prognosen

Aus einer Reihe von Befunden postulieren Rogers und Simón die Notwendigkeit für eine Weltmachtrolle EUropas. Auf dieser Basis wird dann wiederum ein Anforderungsprofil abgeleitet, das seinerseits als Grundlage für die Ausarbeitung eines detaillierten geostrategischen Raumkonzeptes dient.

Bedrohte westliche Vormacht

Rogers und Simón teilen wie viele andere die Auffassung, dass die jahrhundertelange Vorherrschaft des Westens inzwischen ernsthaft gefährdet sei: „Da mittlerweile neue Mächte aufsteigen, ist der amerikanische und europäische Einfluss bedroht.“ 6 Für sie handelt es sich hierbei um ein Phänomen von wahrhaft historischer Tragweite: „Die Abnahme der westlichen Macht in den letzten Jahren könnte nicht nur das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahrzehnts, sondern möglicherweise der letzten vier Jahrhunderte darstellen.“ 7

(Teil-) Rückzug der Vereinigten Staaten

Der Machtverlust der Vereinigten Staaten werde EUropa in besonderer Weise betreffen, so ein weitere Befund: „Für die Europäer ist es zentral, dass die aufkommende multipolare Ordnung unweigerlich die Macht der USA noch mehr verringern wird. Dies wird die Amerikaner dazu veranlassen, ihre Kapazitäten stärker auf Regionen zu fokussieren, die für ihre eigenen Interessen von strategischer Bedeutung sind. […] Die USA werden bereit sein, manchmal auszuhelfen, aber lediglich bis zu einem gewissen Grad: Sie sind nicht mehr in der Lage, die Europäer den ganzen Weg mitzuschleppen.“ 8 Dabei wird allerdings keinesfalls für einen Bruch mit den USA plädiert – im Gegenteil. Ein enges Bündnis mit den Vereinigten Staaten wird auch künftig als unerlässlich erachtet, um EU-Interessen effektiv durchsetzen zu können. Aus der prognostizierten abnehmenden US-Unterstützung wird jedoch die Notwendigkeit (oder: die Gelegenheit) abgeleitet, dass die Europäische Union auf militärischem Gebiet handlungsfähiger und eigenständiger wird, um die entstehende Lücke zu schließen.

Neue Großmachtkonflikte und Rückkehr der Machtpolitik

Vor allem die aufstrebende Supermacht China (mit Abstrichen auch Russland) wird als eine ernsthafte Gefahr für die vom machtpolitischen Abstieg bedrohte Europäischen Union eingestuft. So wird etwa vor „potenziell räuberischen Autokratien“ 9 und einem China gewarnt, „das künftig im politischen und wirtschaftlichen Bereich aggressiver werden wird“.10 Auf dieser Grundlage werde Machtpolitik künftig wieder an Bedeutung gewinnen: „Wir sollten uns an Folgendes gewöhnen: Ohne eine größere politische Entschlossenheit und Führungsfähigkeit Europas wird die Zukunft möglicherweise mehr wie Europas eigene Vergangenheit aussehen. Eine Welt, in der schiere Macht wichtiger wird und in der die etablierten Regeln gebrochen werden, falls oder wenn sie den nationalen Interessen der neuen Mächte ins Gehege kommen sollten.“ 11

Anforderungsprofil an eine »Weltmacht EUropa«

Die zuvor beschriebenen Befunde sind kein Selbstzweck, sie stecken den Rahmen für ein alarmistisches Bedrohungsszenario ab und liefern damit die Rechtfertigung, um ein eigenes expansiv-gewaltgestütztes Vorgehen zu legitimieren.

Abstieg vermeiden – Weltmacht werden – Pazifismus überwinden

Ungeachtet der zuvor beschriebenen eher pessimistischen Aussichten für die Europäische Union ist aus Sicht der GoGS noch nicht alles verloren: „[W]ir sind sicher, dass der europäische Niedergang nicht unausweichlich ist.“ 12 Um aber in die Riege der Supermächte aufsteigen zu können, sei die Forcierung des europäischen Einigungsprozesses unabdingbar: „Kurz gesagt, die Europäische Union muss ein Superstaat und eine Supernation werden, was sie dann wiederum in die Lage versetzt, eine Supermacht zu werden. 13 Die wesentlichen weiteren Stolpersteine auf dem Weg zur Weltmacht sind ebenfalls schnell ausgemacht: Es gelte, die „europäische Risikoscheu“ ebenso zu überwinden wie den „wachsenden europäischen Widerstand gegenüber dem Einsatz militärischer Macht“.14 Der Europäischen Union wird (fälschlicherweise) vorgeworfen, sie verfolge eine „Reinform des ungezügelten Pazifismus“.15

Militarisierung der Europäischen Union

Es ist nicht verwunderlich, dass die EU-Entscheidung aus dem Jahr 1999, eine EU-Eingreiftruppe im Umfang von 60.000 Soldaten aufzubauen, als entscheidender Schritt in die »richtige« Richtung erachtet wird: „Kurz gesagt: Seit den späten 1990er Jahren ist die Europäische Union von der »Zivilmacht« (oder »normativen Macht«) mit ihrem Fokus auf die innere Entwicklung abgerückt und begann, eine »globale Macht« zu werden […]. 16 Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, beschäftigen sich zahlreiche GoGS-Publikationen damit, wie die militärische Schlagkraft weiter »verbessert« werden kann. So werden etwa ein EU-Rüstungshaushalt, ein EU-Hauptquartier und ein einheitlicher EU-Rüstungsmarkt (der wiederum die Herausbildung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes befördern soll) sowie ein einheitlicher Geheimdienst für das europäische In- wie Ausland gefordert.17 Auch der Soldatenpool für die EU-Eingreiftruppe soll mehr als verdoppelt werden.18 Grundsätzlich sei es erforderlich, „eine neue Ära der europäischen Integration auf Grundlage militärischer Zusammenarbeit einzuleiten“.19

Machtmaximierende Geostrategie entwickeln

Im Juni 2011 forderte der ehemalige britische Premier Tony Blair die Europäische Union dazu auf, ihr Selbstverständnis grundlegend zu überdenken: „Für Europa ist es wesentlich, zu verstehen, dass die einzige Möglichkeit, heute Unterstützung für Europa zu erhalten, nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, gemäß der die EU notwendig für den Frieden ist. […] Beim Grundprinzip von Europa geht es heute um Macht, nicht um Frieden. [… I]n einer Welt, in der sich vor allem China zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts entwickelt, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen und sein kollektives Gewicht einzusetzen, um Einfluss zu erlangen.“ 20

Genau solch eine grundlegende Neuausrichtung strebt auch die »Group on Grand Strategy« an. Das Gerede von der „Zivilmacht Europa“ sei Schnee von gestern, „diese alte Vision spricht die Herzen der jungen Europäer nicht mehr an“.21 Aus diesem Grund sei es dringend erforderlich, diese „ideologische Leerstelle“ 22 aufzufüllen und das Zusammenspiel von Geografie und Macht in Form einer in sich kohärenten Geostrategie ins Zentrum zu rücken. James Rogers macht keinen Hehl daraus, worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik miteinander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphäre des heimischen Territoriums zu maximieren […] Ein solcher Ansatz muss von subtilen, aber beeindruckenden militärischen Fähigkeiten unterstützt werden, die darauf abzielen, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln […].“ 23

Imperiales Raumkonzept: »Grand Area«

Führt man sich die Konsequenzen vor Augen, so wird klar, dass es keine kleinen Brötchen sind, die von der »Group on Grand Strategy« gebacken werden: „Über eine europäische Geostrategie nachzudenken bedeutet, Neuland zu betreten. [… Hierfür] muss die EU vermeintlich »nationale« Interessen überwinden und diese europäisch definieren. Zum anderen muss die EU bereit sein, interessenpolitisch zu denken und gemeinsame außenpolitische Interessen durchzusetzen. Damit verließe die EU endgültig ihre Nische als »Zivilmacht«, um zum machtpolitisch bewussten Akteur mit internationaler Verantwortung zu werden.“ 24 Mit genau diesem Anspruch legte James Rogers im Januar 2011 eine Studie mit dem Titel »New Geography of European Power?«25 vor, die in bislang wohl einzigartiger Form aus einer Definition europäischer Interessen ein imperiales Raumkonzept ableitet.

Die Kartografie des EU-Imperiums

Bei dem von James Rogers definierten europäischen Großraum – der „Grand Area“ – handelt es sich um nicht weniger als um eine Kartografie eines »Imperium Europa«. Es umfasst große Teile Afrikas, die ölreiche kaspische und zentralasiatische Region und den Mittleren Osten, reicht aber auch bis weit nach Ostasien, wo es gilt, die Schifffahrtsrouten zu kontrollieren (siehe Abb.)

A New Geography of European Power?

Nachweis: Rogers, James: A New Geography of European Power?, Egmont Paper Nr. 42, January 2011

„Aus einem geopolitischen Blickwinkel muss diese Zone fünf Kriterien genügen: Sie muss

1. über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die notwendig sind, um die europäische Industrieproduktion und künftige industrielle Bedürfnisse zu decken;

2. alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Energiepipelines und maritime Transportrouten, aus anderen Regionen ins europäische Heimatland umfassen;

3. möglichst wenige geopolitische Problemfälle einschließen , die zu einer Desintegration der Region führen und damit die künftige wirtschaftliche Entwicklung Europas schädigen könnten;

4. bezogen auf ihre Bedeutung für die Wirtschaft und die geopolitischen Interessen Europas die geringste Wahrscheinlichkeit signifikanter Übergriffe durch mächtige ausländische Akteure aufweisen;

5. eine Region sein, die die Europäische Union am kosteneffektivsten durch eine Ausweitung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik […] verteidigen kann.“ 26

Imperium der Militärbasen

Die »Grand Area« soll mit einem dichtmaschigen Netz aus europäischen Militärbasen überzogen und so unter Kontrolle gebracht werden: „[D]as Konzept der »Grand Area« würde versuchen, diese Länder in ein beständiges System unter Führung der EU zu integrieren, das durch Militärbasen, bessere Kommunikationsverbindungen und engere Partnerschaften untermauert wird – eine europäische »Vorwärtspräsenz« –, um die Notwendigkeit sporadischer Interventionen zu reduzieren.“ 27 Mit diesem Militärbasennetz soll vor allem folgenden beiden Zielen Nachdruck verliehen werden: „Erstens, um ausländische Mächte davon abzuhalten, sich in Länder in der weiteren europäischen Nachbarschaft einzumischen, und zweitens, um Halsstarrigkeit und Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vorzubeugen“.28 Konkret wird daraufhin die Errichtung einer ganzen Reihe neuer Basen vorgeschlagen: „[N]eue europäische Militäranlagen könnten im Kaukasus und in Mittelasien, in der Arktis und entlang der Küstenlinie des indischen Ozeans benötigt werden. Das Ziel dieser Einrichtungen wäre es, […] innerhalb der »Grand Area« eine latente aber permanente Macht auszuüben“.29

In zwei viel beachteten Studien für das EUISS und die DG EXPO präzisierten James Rogers und Luis Simón diese Überlegungen für den Bereich einer maritimen EU-Geostrategie und schlugen gleichzeitig eine Europäisierung bislang nationalstaatlicher Anlagen vor, um so die Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion zu vergrößern: „Die Europäische Union muss die kontinentale Vorherrschaft anstreben, indem sie von Militärstützpunkten innerhalb des EU-Territoriums Luft- und Seemacht in die maritimen Randgebiete an den EU-Küstengebieten projiziert. [Hierfür] müssen die Europäer ihre überseeischen Militärbasen integrieren, um so eine umfassende globale Präsenz der Europäischen Union zu gewährleisten und ihre Vorwärtspräsenz zu maximieren und so zum Weltfrieden beizutragen.“ 30

Geostrategie: Realitätscheck

Die »Group on Grand Strategy« ist der Auffassung, dass sich aufgrund der geostrategischen Diskussion innerhalb der EU allmählich ein „strategischer Konsens“ herausbildet, zu dem sie wesentlich beigetragen habe.31 Und tatsächlich ist es frappierend, wie omnipräsent die Einschätzungen und Politikempfehlungen der Gruppe im europäischen Strategiediskurs sind.32 Doch auch was die praktische Politik anbelangt, wurde mit der Expansion der EU-Einflusssphäre und der Etablierung eines imperialen Großraums bereits längst begonnen. Ursächlich hierfür ist, dass die Kontrolle des südlichen und östlichen Nachbarschaftsraums als notwendige Bedingung für EUropas Aufstieg zur Weltmacht erachtet wird, wie etwa GoGS-Beirat Thomas Renard betont: „Selbstverständlich muss die EU sich zuerst als Macht in ihrer eigenen Region etablieren, wenn sie eine globale Macht werden will.“ 33

Hierfür wurde im Jahr 2003 die »Europäische Nachbarschaftspolitik« (ENP) ins Leben gerufen, die sich auf 16 Staaten südlich und östlich der EU-Grenzen erstreckt. Ihr Ziel ist es, die umliegenden Länder fest an die EU zu binden (sprich: zu kontrollieren), ohne ihnen allerdings eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Mit dieser „Expansion ohne Erweiterung“ (Georg Vobruba) hat die Europäische Union einen wesentlichen Schritt hin zur Etablierung eines imperialen Großraums im Sinne der »Grand Area« von James Rogers unternommen. Die ambitionierte ENP-Agenda wurde kurz nach ihrem Start von der damaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner folgendermaßen beschrieben: „Um die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Erweiterung mit unseren neuen Nachbarn zu teilen, haben wir die Europäische Nachbarschaftspolitik konzipiert. Mit dieser Politik etablieren wir einen »Ring von Freunden« entlang der Grenzen der erweiterten EU. Das ist ein geostrategisches Schlüsselprojekt für Europa. Diese Zone der Stabilität und des Wohlstandes soll von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum reichen.“ 34

Dass dabei mittlerweile immer offener gefordert wird, die »Freunde« notfalls mit Gewalt an die Kandare zu nehmen, sollten sie aus der Reihe tanzen, entspricht ebenfalls ganz dem »Grand Area«-Konzept. Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, wenn dies ausgerechnet von jemandem wie dem eingangs zitierten polnischen Außenminister Radek Sikorski getan wird, der einerseits der EU geostrategische Inkompetenz attestiert, andererseits aber unmissverständlich betont, dass Gewalt zur Aufrechterhaltung des imperialen Großraums einen integralen Bestandteil der Europäischen Nachbarschaftspolitik darstellt: „Wenn die EU eine Supermacht werden will – und Polen befürwortet dies –, dann benötigt sie die Kapazitäten, um Einfluss in der Nachbarschaft auszuüben. […] Manchmal müssen wir Gewalt anwenden, um unsere Diplomatie zu unterstützen.“ 35

Auch wenn sie augenscheinlich eine wichtige Rolle spielen, tun sich Spitzenpolitiker wie Sikorski derzeit wohl noch schwer, offen auf geostrategische Strategien und Erklärungsmuster zu rekurrieren. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies noch lange so bleiben wird. Im Juli 2012 riefen die Außenminister Polens, Spaniens, Italiens und Schwedens das »European Global Strategy Project« aus.36 Sein Ziel ist es, bis Mai 2013 eine EU-Globalstrategie vorzulegen – und bei der Ausarbeitung spielen Mitglieder der »Group on Grand Strategy« eine sehr prominente Rolle.

Die Debatte um die Zukunft der EU-Globalstrategie ist also in vollem Gange: Dass dabei große Teile der Politikwissenschaft und Friedensforschung der Auffassung zu sein scheinen, Begriffe wie Geostrategie, Macht- und Expansionsstreben seien allenfalls für Historiker von Belang, als Erklärungsmuster für die aktuelle EU-Politik jedoch irrelevant, ist ebenso blauäugig wie verantwortungslos. Die Augen hiervor zu verschließen und sich aus einer kritischen Auseinandersetzung um Macht und Interesse zu verabschieden, bedeutet, Geopolitikern wie der »Group on Grand Strategy« das Feld zu überlassen – mit allen Folgen, die dies nach sich ziehen wird.

Anmerkungen

1) Guérot, Ulrike/Witt, Andrea: Europas neue Geostrategie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 17/2004), S.6-12, S.6f.

2) Führen heißt nicht dominieren. Interview in: Internationale Politik, Mai/Juni 2012, S.8-13, S.13.

3) europeangeostrategy.ideasoneurope.eu.

4) Dazu gehören u.a. Sven Biscop und Jo Coelmont vom belgischen Egmont Institute; Giovanni Grevi von der spanischen Foundation for International Relations (FRIDE); Eva Gross vom Institute for European Studies (IES); Jolyon Howorth (Jean Monnet Professor of European Politics) und Stefani Weiss von der Bertelsmann Stiftung.

5) So stellt etwa das »Manifest« (grandstrategy.eu/manifesto.html) der Gruppe, dem die einzelnen Beiratsmitglieder augenscheinlich zustimmen, eine Zusammenfassung der Positionen der beiden Protagonisten Rogers und Simón dar.

6) Rogers, James/Simón, Luis: The new »long telegram« – Why we must re-found European integration. GoGS, Long Telegram No. 1/Summer 2011, S.4.

7) Rogers, James/Simón, Luis: The top ten geopolitical events of the last decade. EUGeo, 05.01.2011.

8) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit. S.3, S.5.

9) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

10) Rogers, James/Simón, Luis: Forecasting the next decade, EUGeo, 06.01.2010.

11) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.4.

12) Group on Grand Strategy: Manifesto. o.J.; grandstrategy.eu/manifesto.html.

13) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.8.

14) Group on Grand Strategy: Manifesto, op.cit.

15) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.2.

16) Rogers, James: A diagram of European »grand strategy«. EUGeo, 14.09.2011.

17) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.12.

18) Biscop, Sven/Coelmont, Jo: Europe Deploys Towards a Civil-Military Strategy for CSDP. Egmont Paper 49, June 2011, S.26.

19) Rogers/Simón: The top ten geopolitical events of the last decade, op.cit..

20) Hough, Abdrew: Tony Blair: EU needs elected president, former PM says. The Telegraph, 09.06.2011.

21) Rogers/Simón: The new »long telegram«, op.cit., S.5.

22) Ebd.

23) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit, S.16.

24) Guérot/Witt: Europas neue Geostrategie, op.cit., S.6.

25) Rogers: A New Geography of European Power?, op.cit.

26) Ebd., S.21.

27) Ebd., S.5.

28) Ebd., S.4.

29) Ebd., S.23.

30) Rogers. James: From Suez to Shanghai. EUISS Occasional Paper No. 77/2009; Rogers, James/Simón, Luis: DG EXPO Briefing Paper, February 2009. Das Zitat stammt aus einer im Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlamentes von James Rogers verwendeten Präsentation, die dem Autor vorliegt.

31) Balogh, István: Crafting a »grand design«. GoGS, Strategic Snapshot No. 1/July 2011, S.3f.

32) Siehe hierzu ausführlich Wagner, Jürgen: Die EU als Rüstungstreiber. IMI-Studie 2012/08.

33) Renard, Thomas: Libya and the Post-American World: Implications for the EU. Egmont Security Policy Brief No. 20, April 2011, S.5.

34) Ferrero-Waldner, Benita: Europa als globaler Akteur. Berlin, 24.01.2005.

35) Five EU countries call for new military »structure«. EUobserver, 16.11.2012.

36) euglobalstrategy.eu.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

Pooling und Sharing

Pooling und Sharing

Der geteilte Krieg und das Ende der Demokratie

von Claudia Haydt

In der NATO wie beim militärischen Arm der Europäischen Union geht der Trend hin zur gemeinsamen Nutzung bestimmter Ressourcen. Begründet wird dies vor allem mit budgetären Zwängen, vorbereitet wurde es aber schon vor der Finanzkrise. Was zunächst plausibel klingen mag – nicht jedes Land hält teures Gerät und hoch spezialisiertes Personal vor, sondern bringt diese in einen Pool zur gemeinsamen Nutzung ein –, hat Folgen für den Einsatz des nationalen Militärs, die öffentlich bislang kaum diskutiert werden.

Die Wirtschaftskrise ist auch bei den Militärhaushalten der Europäischen Union angekommen – zumindest wenn man den Verlautbarungen zahlreicher Politiker oder Think-Tanks Glauben schenkten mag. Seit Beginn der Banken- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 wird die Debatte über militärische Integration innerhalb der Europäischen Union vor allem unter Verweis auf die schrumpfenden finanziellen Ressourcen der Mitgliedsstaaten vorangetrieben.

Zentral ist dabei die Gent-Initiative, die die belgische EU-Präsidentschaft im Jahre 2010 ins Leben rief. Hier wurde nach Wegen gesucht, wie aus der Europäischen Union ein effektiverer und handlungsfähigerer militärischer Akteur werden könnte als bisher. Die Gent-Initiative – das Motto ist »Pooling und Sharing«1 – geht dabei Hand in Hand mit vergleichbaren Bemühungen der NATO, die dort »multinational approach« oder »smart defense« heißen.

Für die engere Kooperation hat die Europäische Verteidigungsagentur (European Defence Agency/EDA) die nationalen Fähigkeiten nach drei Kriterien überprüft. Zum einen wurde beleuchtet, wie nationale Fähigkeiten so umgestaltet werden können, dass sie in Zukunft eine stärkere militärische Zusammenarbeit (Interoperabilität) ermöglichen, zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Eingreiftruppe. Zweitens sollen die nationalen Fähigkeiten auf ihre Rolle bei der zukünftigen europäischen Aufgabenteilung untersucht werden, um die Duplizierung spezialisierter und teurer Fähigkeiten (etwa für die Luftbetankung) oder Systeme (z.B. Flugzeugträger) zu vermeiden. Schließlich sollen die nationalen Fähigkeiten identifiziert werden, die sich für die Erstellung EU-weiter Pools und deren gemeinsame Nutzung eignen.2 Wie weit Letzteres bereits gediehen ist und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Kontrolle von Militärpolitik hat, soll im Folgenden erläutert werden. Vorab lohnt sich jedoch ein kurzer Blick auf die Frage, wie weit die europäischen Militäretats tatsächlich von Kürzungen betroffen sind.

Sparen beim Militär?

Es fällt auf, dass die Klagen über Kürzungen beim Militär in keinem Verhältnis zu den realen Kürzungen in den EUropäischen öffentlichen Haushalten stehen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik warnt gar, „die Finanzkrise demilitarisiert Europa“.3 Die SWP stützt sich dabei auf Daten der Europäischen Verteidigungsagentur, die einen Überblick über die Entwicklung der Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2010 geben.4 Die Verteidigungsagentur wie die SWP konstatieren einen europaweiten Rückgang der Militärausgaben und argumentieren dabei vor allem mit dem starken Rückgang der Militärbudgets in den neuen NATO-Mitgliedsstaaten im Osten Europas. Dass diese jedoch in den Jahren zuvor zur Vorbereitung des NATO-Beitrittes zu Lasten ihrer Sozialsysteme ihre Ausgaben im Militärbereich massiv gesteigert hatten und ihre Militäretats auch nach den aktuellen Kürzungen längst nicht wieder auf das Niveau aus der Zeit vor dem NATO-Beitritt gesunken sind, das verschweigen SWP und EDA. Die Zahlen über dramatisch sinkende Verteidigungsausgaben treffen daher nur begrenzt zu.

Als Beispiel sei hier Deutschland genannt, das einen gewichtigen Teil des gesamteuropäischen Verteidigungsbudgets stellt. So konstatiert die EDA einen deutlichen Rückgang der deutschen Militärausgaben von 36,1 Mrd. Euro im Jahr 2009 auf 33,5 Mrd. Euro im Jahr 2010. Nach den offiziellen Zahlen im deutschen Bundeshaushalt lagen die Ausgaben 2009 und 2010 jeweils bei etwa 31,1 Mrd., es ist aber bekannt, dass diese Angaben nur begrenzt stimmen. Wesentlich zuverlässiger sind die Zahlen, die die Bundesregierung an die NATO meldet; demgemäß wurden 2009 etwa 33,5 Mrd. Euro fürs deutsche Militär ausgegeben, 2010 mit 34 Mrd. Euro etwas mehr. Seitdem sind die deutschen Militärausgaben weiter gestiegen und werden im Jahr 2013 gemäß dem Kabinettsentwurf des Verteidigungshaushaltes etwa 36,9 Mrd. Euro betragen.5 Es bleibt also ein Rätsel, auf welcher Grundlage die »Demilitarisierung Europas« konstatiert werden kann.

Teurer globaler Interventionismus

Zuverlässiger als bei den Militäretats scheinen die Angaben der EDA bei der Frage nach den Kosten für Militärinterventionen der EU-Mitgliedsstaaten zu sein. Dabei fällt auf, dass sowohl die Gesamtkosten für globale Kriegs- und Besatzungseinsätze kontinuierlich gestiegen sind (von 6,6 Mrd. Euro in 2006 auf 10,4 Mrd. Euro in 2010) als auch die Kosten pro eingesetztem Soldaten, die sich von 79.000 Euro im Jahr 2006 auf 157.000 Euro im Jahr 2010 fast verdoppelt haben. Da die Personalkosten in etwa gleich geblieben sind, geht der Anstieg der Interventionskosten vor allem auf die immer teurere Ausstattung, entsprechend steigende Wartungskosten, den höheren Munitions- und Treibstoffverbrauch und eine intensivere und stärker technisierte Kriegsführung zurück. Durch den zunehmenden Einsatz von unbemannten Drohnen und weiterem Hightech-Kriegsgerät wird die Kostenexplosion wohl weiter zunehmen. Will die EU also ihre Fähigkeit zur globalen Kriegsführung erhalten oder gar ausbauen, wird sie dafür zukünftig noch mehr Geld brauchen als bisher. Die »knappen Mittel« der EU-Militärs sind also in erster Linie eine Konsequenz ihrer globalen Militärinterventionen und ihrer machtpolitischen Ambitionen.

Die »Krise« wird offenbar als Argument genutzt, um die militärische Integration von EU und NATO, die bereits seit Langem geplant, aber ohne tatsächlichen oder imaginierten Notstand politisch nicht durchsetzbar war, auf ein einheitliches Niveau fortzusetzen.6 Die »Krise« wird somit zur »Chance« für die Militärpolitik der EU.

EUropäisches Lufttransportkommando als Fallbeispiel

Welche militärischen und politischen Konsequenzen das »Pooling und Sharing« haben kann, lässt sich beispielhaft am »europäischen strategischen Lufttransportkommando« (European Air Transport Command/EATC) zeigen. Mit dem EATC soll eine von drei vermeintlichen »Fähigkeitslücken« geschlossen werden. Zum Aufgabenspektrum des Kommandos gehören die Mobilität im Einsatz, der Schutz der Soldaten bei Militäreinsätzen und vor allem die Bereitstellung von Transportkapazitäten für die Verlegung von Streitkräften und Gerätschaften in die Einsatzgebiete. Das EATC ist also ein zentrales Projekt, um die Kriegsfähigkeit der EUropäischen Streitkräfte zu verbessern. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat es seine Arbeit vor mehr als einem Jahr aufgenommen.

Das EATC ist verantwortlich für gemeinsame militärische Lufttransporte mit Flugzeugen, nicht jedoch mit Hubschraubern. Das europäische Kommando führt zwar keine »kinetischen Einsätze«, also keine direkten Kampfeinsätze, durch, transportiert aber Rüstung, Munition und Soldaten im direkten Kontext von Kriegen. Wie bei den meisten multinationalen Militärprojekten müssen die Einzelstaaten bei der Einrichtung des gemeinsamen Transportkommandos zumindest auf einen Teil ihrer nationale Souveränitätsrechte verzichten. Das ist einer der Gründe, weshalb die konkrete Umsetzung vieler Integrationsprojekte länger dauert als von Seiten der EUropäischen Militärstrategen geplant. Die grundsätzliche Bedeutung dessen, was bereits umgesetzt wurde, darf dennoch nicht unterschätzt werden.

2007 einigten sich Belgien, Deutschland, Frankreich und die Niederlande auf ein EATC-Konzept. Im September 2010 wurde das EATC in Eindhoven (Niederlande) aufgestellt. Luxemburg, das ursprünglich seine Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert hatte, wird voraussichtlich erst 2013 beitreten. Um das EATC langfristig zu etablieren, soll 2013/14 ein Staatsvertrag abgeschlossen werden, und damit auch Nicht-NATO-Staaten integriert werden können, wurde bewusst eine Lösung außerhalb der NATO-Struktur gesucht. Es wird unter anderem mit dem Beitritt von Österreich, Spanien und der Türkei gerechnet.

Der deutsche Beitrag zum EATC besteht momentan aus 72 Soldaten und einem Zivilmitarbeiter, die in der Zentrale in Eindhoven eingesetzt werden. Im November 2011 wurden zudem etwa 70 deutsche Transportflugzeuge dem gemeinsamen Transportkommando unterstellt. Die Flugzeuge werden jeweils von nationalen Besatzungen geflogen, transportieren aber Frachten für sämtliche teilnehmende Streitkräfte. Dem EATC wurden fünf A310 zugeordnet, beim Rest handelt es sich um C-160 und C-160 ESS. In Zukunft sollen auch die von EADS produzierten Airbus A400M im Rahmen des EATC eingesetzt werden. Obwohl die volle Funktionsfähigkeit des Transportkommandos erst im Mai 2011 erreicht wurde, hat es im Jahr 2011 bereits umfangreiche Transportleistungen abgewickelt: Insgesamt fanden 7.712 Flüge statt, 3.650 davon waren deutsche Flüge.

Flüge, die für eine andere Nation durchgeführt werden, werden nicht bezahlt, sondern lediglich erfasst. Durch den Einsatz des jeweils passenden Flugzeuges mit der jeweils passenden Transportkapazität wird aber in Summe auf einen Effizienzgewinn gehofft.

Libyen und Afghanistan – Kriegsbeteiligung als Routineaufgabe

Die Transportflugzeuge werden nicht nur in Europa eingesetzt, sondern routinemäßig auch „auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent“.7 Konkret wurden bisher der Libyenkrieg, die französische Intervention in der Elfenbeinküste und der Afghanistankrieg über das EATC unterstützt. Die Flüge für den ISAF-Einsatz in Afghanistan werden von deutschen Flugzeugen über Termes/Usbekistan und von französischen Flugzeugen über Duschanbe/Tadschikistan abgewickelt. Angesichts der seit November 2011 geschlossenen Grenze zu Pakistan haben diese Transportrouten zentrale strategische Bedeutung.

Nach Angaben aus dem Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung im Europaparlament8 wurden im Verlauf des Libyenkrieges 11.000 Soldaten und 3.300 Tonnen Ausrüstung durch das EATC transportiert. Der größte Teil dieser Transporte wurde mit französischen Maschinen abgewickelt, deutsche SoldatInnen haben aber immerhin etwa 10% der Transporte durchgeführt. Zusätzlich unterstützten in der Zentrale in Eindhoven weitere Bundeswehrangehörige den Libyenkrieg.

Dabei war Deutschland am Libyenkrieg offiziell gar nicht beteiligt. Der Bundestag erteilte folglich auch kein Mandat für die Teilnahme deutscher Soldaten an diesem Krieg. Dennoch waren über hundert deutsche Soldaten in NATO-Stäben eingesetzt, die explizit für die Unterstützung des Libyen-Krieges eingerichtet worden waren. Die Parlamentsbeteiligung und damit die demokratische Kontrolle der Bundeswehr werden durch solche indirekten Kriegseinsätze im Zuge der militärischen Integration immer weiter ausgehöhlt.

Das Ende der Parlamentsarmee

Das EATC ist zwar nicht das einzige militärische Integrationsprojekt der EU, es gehört jedoch neben dem prominentesten Beispiel, den Europäischen Battlegroups, zu den am weitesten vorangeschrittenen Projekten für das »Pooling« europäischer militärischer Ressourcen. Während das EATC sich bereits als »kriegstauglich« erwiesen hat, steht dieser »Praxistest« den Battlegroups eventuell bald bevor. Diese meist multinationalen Gefechtsverbände mit 1.500 bis 3.000 Soldaten stehen für jeweils ein halbes Jahr für globale Militärinterventionen zur Verfügung. Das Ziel, die Battlegroups innerhalb von weniger als zehn Tagen einsetzen zu können, ist nach Auskunft des Vorsitzenden des EU-Militärkomitees Haakan Syrén inzwischen erreicht.9

Deutschland hat in drei weiteren Projekten die Federführung übernommen: bei der Errichtung eines multinationalen Hauptquartiers in Ulm (Multinational Joint Headquarter), beim Aufbau eines Pools von Flugzeugen zur Überwachung des Seeraumes sowie bei einer Militärgeographischen Unterstützungsgruppe. Jedes dieser multinationalen Projekte könnte vor einem Militäreinsatz zumindest theoretisch durch ein nationales Veto gestoppt werden. In den meisten Ländern müsste das Veto von der Regierung kommen, nur in wenigen Ländern hat das Parlament dabei die entscheidende Stimme. Parlamentarische Entscheidung bedeuten immer auch öffentliche Debatten über Sinn und Unsinn von Einsätzen. Deswegen sieht der Lissabon-Vertrag der EU in Protokoll 10 auch vor, die parlamentarischen Entscheidungswege im Zuge der »ständigen strukturierten Zusammenarbeit« »anzupassen«, so dass einer kurzfristigen Verfügbarkeit der nationalen Militärbeiträge nichts mehr im Wege steht.

Die Möglichkeit für Grundsatzentscheidungen über Krieg und Frieden werden zunehmend durch Effizienzerwägungen ausgehebelt, wie die Vorschläge von Andreas Schockenhoff, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zeigen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die »geteilt« werden, verlässlich zugreifen können. […] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Maße zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten.“10

Fazit

Das EATC und andere »Pooling-und-Sharing«-Projekte stellen Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee dar. Wer diese will, spricht sich damit für einen Abschied von der Parlamentsarmee aus. Die Bundeswehr im Einsatz ist bereits heute, mit den noch existierenden Möglichkeit der Parlamentsbeteiligung, kaum zu kontrollieren. Doch je mehr eine europäische Armee Realität wird, umso stärker werden die letzten Kontrollmöglichkeiten verschwinden. Bereits schon die Tatsache, dass in der Öffentlichkeit nur über das angebliche Sparpotential einer EUropäischen Integration, nicht aber über das Demokratieproblem diskutiert wird, sollte nachdenklich stimmen. Einen konkreten Vorgeschmack auf die Auswirkungen der militärischen Integrationspolitik liefert das EATC, in dessen Rahmen Bundeswehrangehörige umfangreiche Kriegsunterstützung leisten – ohne öffentliche Debatte, ohne vorherige Information der Abgeordneten und ohne Entscheidung des Bundestages.

Anmerkungen

1) Vgl. European Defence Agency: EDA’s Pooling and Sharing. Fact Sheet vom 20.1.2012.

2) Insgesamt wurden vom EU-Militärstab 18 Projekte mit Potential für eine engere Kooperation identifiziert, auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.

3) Claudia Major: Mehr Europa in der NATO. SWP-Aktuell 2012/A 52, September 2012.

4) European Defence Agency: Defence Data Portal – 2005-2010; eda.europa.eu/DefenceData.

5) Bundesministerium der Verteidigung: Erläuterungen und Vergleiche zum Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 2013, August 2012, S.32.

6) Vgl. » Schlussfolgerungen zur Bündelung und gemeinsamen Nutzung militärischer Fähigkeiten« in: Rat der Europäischen Union: Mitteilungen an die Presse. 3157. Tagung des Rates, Auswärtige Angelegenheiten, Brüssel, den 22. und 23. März 2012.

7) Mitteilung Staatssekretär Thomas Kossendey an den Verteidigungsausschuss vom 6.3.2012, S.4.

8) PowerPoint-Präsentation von Generalmajor Jochen Both, 29.11.2011.

9) Myrto Hatzigeorgopoulos: The Role of EU Battlegroups in European Defense. ISIS Europe, European Security Review no 56, June 2012, S.1f.

10) Schockenhoff, Andreas/Kiesewetter, Roderich: Impulse für Europas Sicherheitspolitik. Internationale Politik, September/Oktober 2012, S.88-97.

Claudia Haydt ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Ihr Forschungsschwerpunkt ist deutsche und europäische Außen- und Militärpolitik.

Nobelpreis für 503.000.000?

Nobelpreis für 503.000.000?

von Jürgen Nieth

„Wir sind Papst war gestern. Jetzt gilt: Wir sind Friedensnobelpreisträger. Wir alle, Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, wurden vom Komitee in Oslo ausgewählt und geehrt, wegen des historischen Friedensprojekts, das wir verwirklicht haben.“ (Robert Misik, taz 13.10.12, S.3) EU-Ratspräsident Herman van Rompuy verkündete gar, „die Auszeichnung sei kein Preis der Institutionen, sondern der Europäer“ (Financial Times 15.10.12., S.2). Für einen Augenblick hat er wohl vergessen, dass zu Europa nicht nur die 27 EU-Mitglieder sondern 47 Staaten gehören.

Begründung des Nobelpreis-Komitees

Die FAZ (13.10.12., S.1) fasst die Begründung des Komitees wie folgt zusammen: „Das fünfköpfige Komitee hob in seiner Begründung die deutsch französische Aussöhnung nach dem zweiten Weltkrieg als herausragendes Ergebnis der europäischen Integration heraus. »Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar«, hieß es. Als weitere Leistungen der EU nannte das Komitee die Förderung der demokratischen Entwicklung in Südeuropa nach dem Ende der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland in den siebziger Jahren und die Integration der ostmitteleuropäischen Staaten nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1989. Zudem fördere die Beitrittsperspektive für die Balkanstaaten die Versöhnung nach den Kriegen der neunziger Jahre.“

An anderer Stelle weist Günther Nonnemacher in der FAZ (13.10.12, S.1) darauf hin, dass der Preis – neben der Würdigung historischer Leistungen – auch ermutigen soll, „den Prozess der europäischen Einigung fortzusetzen, trotz der Schwierigkeiten, in die er gegenwärtig geraten ist“. Auch Inge Meissl Arebo geht in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ 13.10.12., S.3) davon aus, dass sich das Komitee von der Preisverleihung vor allem „einen wichtigen Signaleffekt gegen den aufkommenden Extremismus und Nationalismus in Europa“ verspricht.

Historische Leistung

Die historische Begründung des Komitees wird in der deutschsprachigen Presse weitgehend geteilt. Ausnahme 1: Für Thilo Sarrazin (Handelsblatt 15.10.12., S.48) grenzt die Begründung „in ihrer Einseitigkeit an Geschichtsklitterung. Ganz richtig wird zwar die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes in den Mittelpunkt des europäischen Friedensprozesses gestellt […] verantwortlich war […] [aber] nicht die EU. Sie ist lediglich das passive Resultat […] Der Friede in Westeuropa war schon seit den fünfziger Jahren nicht mehr gefährdet, und der Zusammenbruch des Ostblocks wurde durch ganz andere Kräfte als die EU bewirkt.“

Ausnahme 2: Für Alan Posener (Die Welt 13.10.12., S.4) ist die „Überwindung der deutsch-französischen »Erbfeindschaft« […] eher […] der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Blockbildung des Kalten Krieges zu verdanken als dem Wunsch nach europäischer Einigung“.

Frieden – nur innerhalb der EU

In der SZ (13.10.12., S.2) schreibt Martin Winter: „Frieden im eigenen Haus bedeutet […] noch lange nicht, dass sich die Bewohner auch über den Frieden im Rest der Welt einig wären […] Eine gemeinsame Friedenspolitik besitzt die Europäische Union […] noch lange nicht. Wenn es um ferne Länder und Kontinente geht, verfolgen die Nationen Europas ihre jeweils eigenen Interessen. Und die decken sich sehr oft nicht mit denen der anderen, im schlimmsten Fall widersprechen sie sich sogar. Dem Krieg gegen den Irak schlossen sich zum Beispiel Briten und Polen an, Deutsche und Franzosen lehnten in strikt ab. In Libyen griffen Franzosen und Briten ein, ohne ihre europäischen Partner zu konsultieren.“

Markus Spillmann erwähnt in der NZZ (13.10.12., S.3) die Balkankriege: „Dass die Union auf europäischem Boden bis in die jüngste Vergangenheit Kriege nicht zu verhindern wusste – allen voran auf dem Balkan –, schmälert die großartige Leistung (Friedenssicherung) nicht. Aber es bleibt ein Schandmal.“ Kein Wort dazu, dass EU-Mitgliedsländer – auch Deutschland – sich dort selbst an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligten.

Darauf geht Alan Posener (Die Welt 13.10.12., S.4) ein. Er hebt hervor, dass Frankreich und Großbritannien „durchaus zu robusten Einsätzen militärischer Macht in der Lage sind, zuletzt beim Sturz des libyschen Diktators Gaddafi. Zu ihnen hat sich in den letzten Jahren auch die […] Bundesrepublik gesellt. Deutschland kam auch ohne UN-Mandat den muslimischen Kosovaren gegen ihre serbischen Angreifer zu Hilfe und war bereit seine Freiheit gegen den islamischen Terrorismus am Hindukusch zu verteidigen.“ Für ihn sind das offensichtlich wichtige Gründe für den Friedensnobelpreis.

Frieden ist mehr als Nicht-Krieg

„Nobel geht der Preis zugrunde“ karikiert die taz (13.10.12., S.9) die Entscheidung und legt der Jury den Spruch in den Mund: „Eine Friedensleistung der EU ist auch die Erkenntnis: Man kämpft nicht mit den Waffen, die man baut. Man exportiert sie.“ Um die Waffenexporte geht es auch in Neues Deutschland (13.10.12., S.1). Die sozialistische Tageszeitung weist darauf hin, „dass sieben der zehn weltweiten Top-Waffenexportländer Staaten der Union“ sind und dass mehr als ein Drittel aller Waffenexporte aus der EU kommen. Sie zitiert die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping: „Es hat schon etwas Absurdes, wenn eine der größten Waffenschmieden der Welt den Friedensnobelpreis bekommt.“

Dominic Johnson weist in der taz (13.10.12., S.1) auf die große Lücke hin „zwischen europäischem Anspruch und europäischer Wirklichkeit […]. Die EU, das ist auch der tausendfache Tod afrikanischer Flüchtlinge im Mittelmeer.“

„Für die Asylpolitik haben die EU und ihre Mitglieder alles Mögliche verdient, nur nicht den Friedensnobelpreis“, schreibt auch Stephan Hebel in der FR (15.10.12.). Und weiter: „Wirklich groß wäre ein Europa, das sich verpflichtete, seine Politik in spätestens fünf Jahren den vom Nobelpreiskomitee gepriesenen Werten auch wirklich anzupassen – und das die Annahme des Preises bis dahin verweigerte. Eine Utopie? Ja. Und da sieht man, wie schlecht es steht um die Friedensmacht Europa.“

Jürgen Nieth

Der MIK der Europäischen Union

Der MIK der Europäischen Union

von Iraklis Oikonomou

Es gibt einen Grund für das Zögern, wenn nicht gar die Unfähigkeit, von Friedensaktivisten und besorgten Bürgern, die Verstrickung der Europäischen Union im Rüstungsbereich zu erfassen: das Bild von der EU als einer Zivilmacht. Dieses Bild wird nicht nur von den wesentlichen politischen Kräften gezeichnet, sondern auch von großen Teilen der europäischen Linken. Es ist an der Zeit, von dieser Vorstellung Abschied zu nehmen. Über ihre Mitgliedsstaaten wie ihr Institutionengefüge hat sich die Europäische Union in einen Prozess verstrickt, der zum Ausbau ihres militärischen Arms und der Rüstungsproduktion führt und der unumkehrbar ist.

Der wichtigste Mechanismus zur Förderung des Rüstungsbereichs auf EU-Ebene ist der militärisch-industrielle Komplex der Europäischen Union (EUMIK). Dort lassen sich die drei entscheidenden Elemente jedes militärisch-industriellen Komplexes finden: Triebfedern, Akteure und Resultate. Im Folgenden sollen diese drei Dimensionen kurz skizziert, ihre Querverbindungen aufgezeigt und die Bedeutung dieser Konstellation für die europäische Rüstungs-, Sicherheits- und »Verteidigungs«politik herausgearbeitet werden. Es wurde zwar an anderer Stelle überzeugend dargelegt, dass die Rüstungsindustrie als eine mächtige Lobbykraft innerhalb der EU anzusehen sei (Lühmann 2011). Aber geht es wirklich nur um Lobbying? Das Konzept eines »Komplexes« bedarf deshalb der Klärung, bevor man sich seiner Anwendung im Falle der EU zuwenden kann.

Das Konzept und seine Definition

»Militärisch-industrieller Komplex« ist ein umstrittener Begriff, der nicht unkritisch und mechanistisch verwendet werden sollte. Im EU-Kontext kennzeichnet er einen transnationalen historischen Block, der bei der Formulierung der militärischen Industriepolitik die Hegemonie ausübt und außerdem die Richtung der militärischen Integration in der EU beeinflusst. Ian Manners (2006, S.193) verwendete den Begriff „militärisch-industrieller Simplex“ um zu beschreiben, „auf welche Weise beide, die militärische Rüstungslobby und die technologisch-industrielle Lobby, auf EU-Ebene arbeiten, um einen einfachen, aber überzeugenden Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit für Truppen, die zu »robusten Interventionen« fähig sind, und den technologischen und industriellen Vorteilen der Verteidigungs-, Luft- und Raumfahrtforschung sowie der […] Gründung der Europäischen Verteidigungsagentur herzustellen“. Dabei geht es aber nicht um Lobbying, sondern um eine deutlich tiefer reichende und mehrdimensionale Konfiguration von Klassenkräften, um eine spezielle Form der institutionalisierten Disziplinierung. Dabei lässt sich der EUMIK als ein verhältnismäßig kohärenter, wenn auch widersprüchlicher Block sozio-ökonomischer, politisch-institutioneller, militärischer und ideologischer Kräfte definieren, die auf EU-Ebene mit dem Ziel operieren, die Interessen des internationalisierten europäischen militärisch-industriellen Kapitals und die Stärkung der Fähigkeiten zur europäischen Machtprojektion zu fördern.

Nur selten wird auf einen solchen europaweiten Komplex Bezug genommen. Außer der Studie von Manners wurden die einzigen Arbeiten, die auf die Formierung eines EUMIK hinweisen, von Experten verfasst, die diesem institutionellen, militärischen und industriellen Klüngel kritisch gegenüberstehen (Slijper 2005; Hayes 2006). Die WissenschaftlerInnen zögern, den Begriff MIK zu verwenden: Jocelyn Mawdsley (2002) lehnte die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit der EU ab und wies darauf hin, dass er die Existenz einer Verschwörung impliziere und dass es einen Unterschied gebe, von einer Politik zu profitieren oder sie zu initiieren. Sie merkte zudem an, es gebe weder einen Konsens über die Zusammensetzung des Komplexes noch einen gemeinsamen Indikator, um seine Macht zu bewerten. Außerdem existiere kein eindeutiger Feind, der einem potentiellen Komplex Legitimität verleihen könnte, vielmehr beruhe die Verwendung des Begriffes vermutlich auf einer fälschlichen keynesianischen Konzeptualisierung der Ökonomie entlang nationaler Begrifflichkeiten. Letztlich ist das Konzept für Mawdsley US-zentriert und weitgehend ahistorisch, eher deskriptiver denn theoretischer Natur. John Lovering (1998, S.235) fügte hinzu, dass die großen Rüstungsunternehmen weiterhin eine nationale Basis hätten, transnationale Kooperationsvereinbarungen lediglich wenige der rüstungsproduzierenden Länder einbeziehen würden und viele industrielle Akteure auf Länder außerhalb Europas ausgerichtet seien.

Die Kritik von Mawdsley und Lovering ist nicht unbegründet. Mit dem Konzept sind bestimmte normative und ideologische Konnotationen verbunden, und es wird meist mit der Geschichte der USA im Kalten Krieg in Verbindung gebracht. Darüber hinaus ist die sozio-ökonomische Basis der europäischen Rüstungsindustrie fragmentiert und von nationalen Unterschieden sowie der Abwesenheit eines EU-Staates geprägt. Dennoch scheint eine völlige Ablehnung des MIK-Konzeptes auf Grundlage dieser Überlegungen nicht gerechtfertigt. Das Konzept steht nicht für eine Verschwörung, sondern für ein erkennbares Netz politischer Verbindungen, sowohl formeller als auch informeller, zwischen verschiedenen Akteuren, die von spezifischen nationalen sozio-ökonomischen Interessen untermauert werden. Methodisch ist es möglich, die Rolle bestimmter Akteure bei der Formulierung einer Politik aufzuzeigen, ohne dies zwingenderweise mit den Ergebnissen dieser Politik und der Frage nach den Profiteuren zu vermischen. Außerdem könnte die Einbeziehung von Akteuren, die in den frühen 1970er Jahren noch nicht im Fokus standen, eher ein Beweis für die Anpassungsfähigkeit des Konzeptes an neue Entwicklungen sein als für seine methodische Unzulänglichkeit.

Im Hinblick auf die Beurteilung der Macht des Komplexes bedeutet das Fehlen eines gemeinsamen Indikators nicht, dass es dafür generell keine Indikatoren geben kann. Allerdings kann die Macht eines EUMIK nur auf der Basis einer konkreten und detaillierten Untersuchung einzelner Fälle in ihrem je spezifischen historischen Kontext beleuchtet werden. Die Kritik von Mawdsley überzeugt am wenigsten, wenn sie auf den Mangel an Bedrohungen und Legitimationsgrundlagen verweist. Die Legitimitätsgrundlagen müssen nicht »real« sein, das heißt, die Bedrohungen müssen nicht unbedingt »objektiv« sein. Tatsächlich besteht eine der Aufgaben des Komplexes darin, die Rahmenbedingungen (Bedrohungen, Missionen, Kapazitäten) zu erfinden, die seine Legitimität stärken. Außerdem ist es möglich, das Konzept anzuwenden, ohne dabei notwendigerweise von der Existenz eines ökonomischen Umfelds auszugehen, das sich ausschließlich entlang nationaler Grenzen definiert. Die ökonomische Internationalisierung kann potenziell zur Internationalisierung nationaler Komplexe führen. Schließlich ist der Fakt, dass ein Großteil der großen Rüstungsunternehmen auf Exporte außerhalb der EU orientiert ist, irrelevant. US-Firmen sind auch exportorientiert, sie wollen aber trotzdem vom heimischen Markt und dem Komplex, der ihn unterstützt, profitieren.

Triebfedern

Was die Triebfedern anbelangt, laufen zwei unterschiedliche, aber miteinander verwobene Prozesse ab: die Internationalisierung der europäischen Rüstungsindustrie und die Schaffung der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) der EU. Die Internationalisierung ist vorwiegend ökonomischer Natur und kulminierte in den späten 1990ern in der Formierung wahrlich multinationaler europäischer Rüstungsunternehmen wie EADS. Ihre Wurzeln lassen sich auf die Privatisierungswelle der 1980er sowie die nachfolgende nationale und internationale Kapitalkonzentration und -zentralisierung zurückverfolgen. Der Drang nach industrieller Konsolidierung speiste sich vor allem aus den sinkenden Militärbudgets nach dem Kalten Krieg, aus der außereuropäischen Konkurrenz und aus den steigenden Kosten für die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsgütern. Schließlich woben mittels Fusionen, Aufkäufen und anderen Formen der industriellen Zusammenarbeit immer größere Unternehmen mit immer höheren Marktanteilen ein dichtes Netz aus internationalen Verbünden und Kooperationen. Dieser Prozess brachte ein mächtiges sozio-ökonomisches Subjekt hervor, dessen Interessen es erforderte, ein Management seiner Angelegenheiten auf EU-Ebene zu etablieren.

Allerdings bedurfte dieses Subjekt für sein Agieren wenigstens des Anscheins der Legitimität, der alsbald mit der GSVP gefunden war, die Ende der 1990er Jahre durch den britisch-französischen Konsens von St. Malo ins Leben gerufen wurde. Die weiteren Entwicklungen, wie etwa die Durchführung etlicher Militäreinsätze und die Abfassung der »Europäischen Sicherheitsstrategie«, verschafften dem Vorgehen der Industrie und ihrer Verbündeten eine Aura der Dringlichkeit und technokratischen Notwendigkeit. Die Schwerpunktsetzung der GSVP auf Machtprojektion eröffnete endlose Legitimationsmöglichkeiten für den Bau von mehr und besseren Waffen und die Homogenisierung der nationalen Anforderungsprofile und Märkte. Ergänzt man das Ganze um das Streben nach europäischer Autonomie von den USA sowie die Idee der Unteilbarkeit der inneren und äußeren Sicherheit, so erhält man eine breite Palette an Argumenten zugunsten der Rüstungsagenda, die dabei half, eine ganze Reihe politisch zwiespältiger Maßnahmen und Entscheidungen zu legitimieren.

Akteure

Das internationalisierte militärisch-industrielle Kapital in Europa ist als die wichtigste Kraft innerhalb des EUMIK anzusehen. Weshalb? Weil das militärisch-industrielle Kapital der Rüstungsproduktion am nächsten steht und es angesichts seiner Stellung innerhalb der sozialen Produktion von Gewaltmitteln ein Klassensubjekt ist, dessen ökonomische Macht systematisch in politische Macht übersetzt wird. Und tatsächlich förderte die wirtschaftliche Konsolidierung einen Prozess der politischen Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie, der 2004 in der Schaffung der AeroSpace and Defence Industries Association of Europe (ASD) mündete. Die Entscheidung der drei sektoralen Lobbygruppen (European Defence Industries Group, European Association of Aerospace Manufacturers und Association of European Space Industry), zu einem integrierten System zu fusionieren, ist ohne die vorangegangene Welle internationaler und inter-sektoraler Fusionen und Übernahmen undenkbar.

Das Ausmaß und die Intensität, mit dem die Industrie in die Formulierung der EU-Rüstungspolitik und beim Agendasetting eingebunden war, kann nicht allein als ein Ergebnis von Lobbying betrachtet werden. Der Philosoph Istvan Mészáros (2003) merkte an, dass „der Begriff »militärisch-industrieller Komplex« […] klar darauf hindeutet, dass das, was uns so beunruhigt, etwas ist, das weitaus stabiler verankert und beharrlicher ist als manche direkten politisch-militärischen Entscheidungen (und Manipulationen), die im Prinzip auf dieser Ebene auch wieder rückgängig gemacht werden könnten.“ Wir haben es hier mit einer viel tiefgreifenderen, strukturelleren Einbindung zu tun, die ihre Verankerung, Normalisierung und Bevorzugung einer Reihe von EU-Institutionen verdankt. Die Europäische Kommission und ihre »Generaldirektion Unternehmen und Industrie« schälen sich dabei als politisch-institutioneller Nukleus des Komplexes heraus; mangels eines EU-Staates bilden sie ein staatsähnliches Kommandozentrum und inszenieren das »Allgemeinwohl« als eine langfristige Vision. Dieses »Allgemeinwohl« bedarf der intergouvernementalen Bestätigung durch den Rat der Europäischen Union und einen weiteren intergouvernementalen Akteur, die EU-Verteidigungsagentur, die innerhalb der EU formal für Rüstungsfragen zuständig ist. Ihre Rolle bei der Kapazitätsentwicklung wird zunehmend verknüpft mit ihrer Funktion bei der Finanzierung von Forschungs- und Technologieprojekten, beim Ausbau der Rüstungskooperation und bei der Abfassung von Strategien zur Aufrechterhaltung einer starken europäischen rüstungstechnologischen und -industriellen Basis – Letzteres ist ein Euphemismus für die Profitabilität militärisch-industrieller Konzerne. Mit seiner unbestrittenen überparteilichen Unterstützung der Anliegen des EUMIK verleiht das Europäische Parlament dem Ganzen das Flair öffentlicher Unterstützung, das von Schlüsselpersonen im »Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung« weiter gestärkt wird. Allerdings kann es ohne das Militär auch keinen militärisch-industriellen Komplex geben. Durch seine Teilnahme in GSVP-relevanten Ausschüssen wie dem Militärkomitee kann das Militär über Anforderungsprofile und Kapazitätslücken entscheiden, die von den Rüstungsunternehmen bedient werden sollen.

Eine letzte Akteursgruppe umfasst Teile der »Zivilgesellschaft«, wie etwa öffentliche (EU Institute for Security Studies) und private (Security & Defence Agenda) Denkfabriken sowie informelle politische Zusammenschlüsse (The Kangaroo Group). Diese »Zivilgesellschaft« besteht gewissermaßen aus Initiativen, die von der Industrie selbst finanziert werden. Auf der anderen Seite haben sich die Gewerkschaften mittels der Positionierung der Europäischen Metallarbeitergewerkschaft als treuer und ergebener Unterstützer der Rüstungsagenda bewiesen. Die Mobilisierung der Arbeiteraristokratie zeugt dabei von der Reichweite des militärisch-industriellen Komplexes und von der Hegemonie der Rüstungsfabrikanten.

Auswirkungen

Wenn man sich die Auswirkungen anschaut, kann sich der EUMIK durchaus rühmen, dass er neue Finanzierungsmechanismen wie das von der Kommission inspirierte »Europäische Sicherheitsforschungsprogramm« und seine Vorstufe, die »Vorbereitenden Maßnahmen für die Sicherheitsforschung«, eingeführt hat. Die EU-Verteidigungsagentur ist ebenfalls eine Finanzierungsquelle für militärische Forschung und Entwicklung, während die EU-Kommission die Entwicklung großer Weltraumprogramme mit militärischem Anwendungsprofil wie Galileo und GMES vorantrieb. Tatsächlich gibt es einen Trend, zivile Gelder in militärische Projekte umzulenken, wie sich am Beispiel Galileo zeigt. Mangels einer paneuropäischen Beschaffungsagentur – wenn man einmal von der Europäischen Weltraumagentur und ihrer Auftragsvergabe für Satelliten absieht – wird der Großteil der Gelder eher für Forschung und Technologie als für die Beschaffung von Ausrüstung ausgegeben.

Die Auswirkungen sollten jedoch nicht rein quantitativ und finanzbezogen betrachtet werden. Es gibt auch eine qualitative Dimension, die militärisch-industrielle Interessen befördert, selbst wenn sie sich nicht immer direkt finanziell niederschlägt. Als ein Beispiel ist die Reform, Konsolidierung und Konzentration des europäischen Rüstungsmarktes durch das »Verteidigungspaket« (Defence Package) der EU-Kommission zu nennen, das Mitte 2012 europaweit bindend in Kraft trat. Es ist überdies bemerkenswert, welchen Einfluss viele EU-Projekte auf die industrielle Konsolidierung haben. Durch die aktive Unterstützung von Kollaborationsprojekten – insbesondere über »Pooling & Sharing« –, fördert die EU noch mehr Fusionen und Übernahmen, in deren Folge noch mächtigere und größeren Rüstungsunternehmen entstehen. Ein weiterer qualitativer Aspekt ist die formelle Beteiligung der Industrie an der Politikgestaltung über neue Kanäle: Man betrachte sich etwa den Fall der ASD-Komitees im Kontext der Verteidigungsagentur oder die zahlreichen »Expertenberichte« (STAR21, Group of Personalities, LeaderSHIP 2015), die unter straffer Federführung von Industriellen und unter der Schirmherrschaft der Kommission abgefasst wurden.

Fazit

Man sollte die Effektivität und Linearität des EUMIK nicht überbewerten. Mangels eines EU-Staates und eines einheitlichen, transnationalen militärisch-industriellen Subjektes bestehen nationale Divergenzen fort. Der Mangel an finanziellen Ressourcen in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise ist ebenfalls allgegenwärtig. Dennoch ist der militärisch-industrielle Komplex in Europa real und bezieht mehrere intergouvernementale und supranationale Institutionen ein. Er ist jedoch auch extrem widersprüchlich, besonders im Vergleich zur Funktionsweise nationaler militärisch-industrieller Komplexe wie dem in den USA. Einerseits reproduziert der europäische Kapitalismus systematisch die Militarisierung, andererseits setzen finanzielle Zwänge und nationalstaatliche/kapitalistische Präferenzen dem Einfluss und der Effektivität des EUMIK auch Grenzen. Im Kern haben wir es mit der Divergenz von der globalen Reichweite des Kapitals und der begrenzten Reichweite des Nationalstaates zu tun. Es handelt sich in den Worten von Ellen Wood (2002) um „die fehlende Übereinstimmung zwischen der ökonomischen und politischen Ausprägung des Kapitalismus“. Während ökonomisch-industrielle Entwicklungen supranationale, staatenähnliche Einrichtungen erfordern, bleibt der Nationalstaat für die Reproduktion der nationalen militärisch-industriellen Komplexe wie als politische Voraussetzung für die kapitalistische Hegemonie unentbehrlich.

Die Geschichte des EUMIK wirft ein Licht auf die Bedeutung von Ideen. Ideen sind enorm wichtig, und die Rüstungsindustrie und ihre Verbündeten haben das genau verstanden. Beispielhaft zeigt sich dies an den zahlreichen Expertenorganisationen, Konferenzen, Publikationen und Forschungsprogrammen, die von Rüstungsunternehmen finanziert werden.

Antimilitaristische Kräfte müssen sich dies zum Vorbild nehmen. Um angemessen auf die Situation reagieren zu können, sollte unbedingt in Brüssel eine Forschungsstelle eingerichtet werden, die sich mit Fragen der sicherheits- und militärpolitischen Dimension der EU beschäftigt. Solch ein Zentrum würde wichtige Daten und Dokumente sammeln und kritische Forschung ermutigen und so einen Beitrag zur Analyse der europäischen Sicherheits- und Rüstungspolitik sowie der Militarisierungsprozesse in Europa leisten. Die Forschungsstelle würde eine öffentliche Debatte ankurbeln und sowohl innerhalb als auch außerhalb des Europäischen Parlaments über alternative Politikvorschläge informieren. Mit anderen Worten: Sie würde den Widerstand gegen die Militarisierung stärken.

Vor allem anderen ist es aber wichtig aufzuzeigen, dass die externe Orientierung der EU in Richtung Machtprojektion und Militarisierung und die interne Ausrichtung hin zu Neoliberalismus und sozialer Ausbeutung zwei zusammenhängende Prozesse sind. Der Widerstand gegen das eine erfordert es, den Widerstand gegen das andere mit einzubeziehen, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das ist der zentrale Punkt, für den sich die anti-hegemonialen Kräfte gegen die vorherrschenden Narrative des immer mächtiger werdenden EUMIK stark machen müssen.

Literatur

Hayes, Ben (2006): Arming Big Brother: The EU’s Security Research Programme. TNI Briefing Series No 2006/1, Amsterdam: Transnational Institute.

Lovering, John (1998): Rebuilding the European defence industry in a competitive world: intergovernmentalism and the leading role played by companies. In: Mary Kaldor, Restructuring the Global Military Sector: Volume II – The End of Military Fordism. London: Pinter, S.216-238.

Lühmann, Malte (2011): Lobbying Warfare: The Arms Industry’s Role in Building a Military Europe. Corporate Europe Observatory, September 2011; corporateeurope.org.

Manners, Ian (2006): Normative power Europe reconsidered: beyond the crossroads. Journal of European Public Policy, Vol. 13, No. 2, S.182-199.

Mawdsley, Jocelyn (2002): The Gap between Rhetoric and Reality: Weapons Acquisition and ESDP. BICC Paper 26, Bonn: Bonn International Center for Conversion, S.18-21.

Meiksins Wood, Ellen (2002): Global capital, national states. In: Mark Rupert and Hazel Smith (eds.): Historical Materialism and Globalization. London: Routledge, S.17-39.

Mészáros, Istvan (2003): Militarism and the Coming Wars. Monthly Review, Vol. 55, No. 2 (June 2003).

Slijper, Frank (2005): The emerging EU Military-Industrial Complex. TNI Briefing Series No 2005/1, Amsterdam: Transnational Institute.

Dr. Iraklis Oikonomou ist unabhängiger Forscher und lebt in Griechenland. Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor bei der Tagung »The European Union: a driving force for armament« hielt, die von der Fraktion GUE/NGL im Europaparlament organisiert und im November 2011 in Brüssel abgehalten wurde. Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Wagner.

Neuausrichtung der Nachbarschaftspolitik

Neuausrichtung der Nachbarschaftspolitik

EUropa un die südliche Peripherie

von Sabine Lösing und Jürgen Wagner

Anfangs wurden die revolutionären Umbrüche im arabischen Raum zumindest in einigen europäischen Ländern vorrangig als Bedrohung wahrgenommen – schließlich war man mit den autoritären Machthabern in der Region bis dato relativ gut zu Rande gekommen. Schnell wurde aber aus der Not eine Tugend gemacht und überlegt, wie aus der veränderten Situation (buchstäblich) Kapital geschlagen werden könnte.

Welche Unterstützung die Wirtschaft von der EU nach den Umstürzen in einigen arabischen Ländern erwartet, erläutert Anton Börner, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (BGA): „Eine entscheidende Rolle kommt bei alledem der Europäischen Union zu. Europa hat seine Politik mit der Region allzu lange einseitig auf die Vermeidung von Flüchtlingsströmen oder die Sicherstellung von Rohstoffquellen gerichtet. Jetzt muss in den Handels- und Investitionsbeziehungen ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Ziel muss es sein, eine echte Liberalisierung von Handel und Investitionen zwischen der EU und dem südlichen Mittelmeerraum zu erreichen und Maßnahmen zu ergreifen, um nichttarifäre Handelshemmnisse abzubauen und Unternehmen mit konkreten Informationen über Handels- und Investitionsmöglichkeiten in der gesamten Region zu versorgen.“ 1

Zur zielstrebigen Umsetzung genau dieser Agenda wurde wenige Wochen nach Ausbruch der Proteste die Neufassung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) verabschiedet.2 Sie zielt auf die Ausweitung der europäischen Einflusssphäre, wobei ein besonderes Augenmerk darauf gelegt wird, die angrenzenden Länder zur Übernahme neoliberaler Reformen zu »ermutigen«, um so den (west-) europäischen Konzernen neue Absatzgebiete und Investitionsfelder zu erschließen.

Expansion ohne Erweiterung

Gerade in Zeiten, in denen die Europäische Union durch neue machtpolitische Herausforderer wie China verstärkt unter Druck gerät, stellt die kontinuierliche Erweiterung der eigenen Einflusssphäre aus Sicht der EU-Eliten eine notwendige Bedingung dar, um im Ringen der Großmächte bestehen zu können. Der Traum von der Weltmacht Europa wäre, so die Sorge, ohne eine weitere Expansion schnell ausgeträumt: „Eine Reihe von Berichten der Europäischen Kommission und Analysen von EU-Wissenschaftlern argumentieren, dass eine fortgesetzte Erweiterung notwendig ist, will die EU ökonomisch und politisch in der Lage sein, mit anderen globalen Akteuren zu konkurrieren.“ 3

Hierfür wurden in zwei großen Erweiterungsrunden 2004 und 2007 neue Staaten in die Union aufgenommen, die damit von 15 auf 27 Staaten anwuchs. Aus diversen Gründen, insbesondere, weil die Aufnahme weiterer Länder die in den letzten Jahren in die Wege geleitete Machtverschiebung zugunsten der EU-Großmächte gefährden würde, steht vorerst eine weitere Expansion durch neue Mitgliedsländer nicht mehr zur Debatte.4 Neue Wege mussten gesucht und gefunden werden: „Schon vor dem Vollzug der Osterweiterung 2004 setzten in der EU-Kommission Überlegungen ein, wie es danach weitergehen sollte. Klar war aber auch, dass ein abruptes Ende der Expansionsdynamik nicht im Interesse der EU sein konnte.“ 5 Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die Europäische Nachbarschaftspolitik, deren Ziel bündig auf die Formel »Expansion ohne Erweiterung« zusammengefasst werden kann.

Imperial und neoliberal

Bereits im November 2002 wurden die Arbeiten an einem neuen Expansionskonzept aufgenommen. Dies führte schließlich zur Veröffentlichung des Papiers »Größeres Europa« der EU-Kommission im März 2003, dessen deklaratorisches Ziel darin bestand, um die Europäische Union einen „Ring befreundeter Staaten“ zu schaffen.6 Das Papier steckte erstmals den Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik ab, die ein Jahr später auch offiziell so benannt wurde und sich gegenwärtig auf 16 Staaten erstreckt. Aus oben genannten Gründen war man nicht bereit, den ENP-Staaten eine Beitrittsperspektive in Aussicht zu stellen. Im Papier »Größeres Europa« heißt es hierzu: „Die durch Nähe und Nachbarschaft aufgeworfenen praktischen Fragen sind getrennt von der Frage der Aussicht auf einen EU-Beitritt zu beantworten.“ Dennoch – oder gerade deswegen – war die ENP »revolutionär«, denn mit ihr untermauerte die Europäische Union ihr „Bestreben, ein Machtblock außerhalb ihrer Grenzen zu sein bzw. zu werden, ein Global Player“.7

Vorrangiges Ziel der ENP ist die Schaffung einer »Großeuropäischen Wirtschaftszone«, indem die angrenzenden Länder mit zahlreichen Maßnahmen zum Abbau von Handelshemmnissen und zur Übernahme des EU-Rechtsbestands (acquis communautaire) »ermutigt« werden.8 Der neoliberale Umbau erfolgt in Form von Aktionsplänen, die von Brüssel einseitig diktiert werden. Erst wenn die Europäische Union zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Vorgaben zufriedenstellend implementiert wurden, erfolgt eine Belohnung in Form einer engeren wirtschaftlichen Integration. Die Mitspracherechte der Anrainerstaaten sind also – vorsichtig formuliert – begrenzt, weshalb zahlreiche Beobachter kritisch auf den imperialen Charakter der Nachbarschaftspolitik hingewiesen haben.9 Andere, wie etwa der ehemalige Kommentarchef der Welt am Sonntag, Alan Posener, kommen zwar zu demselben Ergebnis, sehen dies jedoch als eine „naturgegebene“ Folge der aus ihrer Sicht erforderlichen EU-Expansionspolitik: „Auf die Feinheiten der Europäischen Nachbarschaftspolitik kommt es hier nicht an, sondern auf die Feststellung, dass Europa, von seinen eigenen Bürgern fast unbemerkt, bereits eine imperiale Politik des »Größeren Europa« betreibt; und dass es dabei das typische Merkmal aller Imperien entwickelt, nämlich eine Asymmetrie und ein Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie.“ 10

Revolutionsbedingte Generalüberholung

Natürlich wurde im Zuge der Nachbarschaftspolitik durchaus erfolgreich auch gegenüber den Staaten der südlichen Peripherie auf die Übernahme neoliberaler Reformen gedrängt. Allerdings bestand das Hauptinteresse darin, diese Länder in die brutale EU-Abschottungspolitik gegen Migranten einzubinden.11 Offenbar sollen die jüngsten Umbrüche im arabischen Raum nun die Möglichkeit eröffnen, auch in dieser Region die wirtschaftsliberale Agenda stärker in den Vordergrund zu rücken. Hierfür veröffentlichte die Europäische Kommission am 8. März 2011, also schon sechs Wochen nach Ausbruch der Proteste, die Mitteilung »Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand» (KOM (2011) 200), die am 25. Mai weitgehend in die Neufassung der Europäischen Nachbarschaftspolitik eingearbeitet wurde, die den Titel »Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel« trägt (KOM (2011) 303).12

Zwar ist in beiden Dokumenten viel die Rede von Demokratieförderung und sozialer Gerechtigkeit, mit beeindruckender Offenheit wird aber dennoch eingeräumt, was der Schwerpunkt der Nachbarschaftspolitik war und ist: „Seit ihrer Einführung im Jahr 2004 dient die ENP als Rahmen für die Förderung einer Vielzahl wichtiger Initiativen – vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Handel […]“. (KOM (2011) 303: S.1) Aus diesem Grund ziele man insbesondere auf den „schrittweisen Abbau von Handelshemmnissen und die Angleichung von Rechtsvorschriften in für den Handel relevanten Bereichen ab“. (KOM (2011) 303, S.10) Sicherheitspolitischen Fragen (insbesondere der Migrationsabwehr) komme zwar weiter eine hohe Bedeutung zu, die wirtschaftliche Zusammenarbeit müsse aber nun gezielter vorangetrieben werden. „Als gemeinsames mittel- bis langfristiges Ziel wurde in den Gesprächen mit den südlichen Mittelmeerpartnern auf regionaler und bilateraler Ebene der Abschluss tiefgreifender und umfassender Freihandelsabkommen vereinbart […] Die Abkommen sollten über die Abschaffung von Zöllen hinausgehen und schrittweise eine engere Integration zwischen den Volkswirtschaften der südlichen Mittelmeerpartner [sic!] und dem EU-Binnenmarkt fördern u.a. durch Maßnahmen wie Angleichungen im Regulierungsbereich. Besonderer Vorrang sollte Bereichen wie Wettbewerbspolitik, öffentliches Auftragswesen, Schutz von Investitionen und tier- und pflanzengesundheitlichen Maßnahmen eingeräumt werden.“ (KOM (2011) 200, S.10)

Angesichts dieser ambitionierten Agenda drängt sich allerdings folgende Frage auf: Weshalb sollten die südlichen Anrainer gewillt sein, diesen Vorgaben Folge zu leisten, zumal auch in der ENP-Neufassung keinerlei Beitrittsperspektive eröffnet wird, die das wichtigste »Lockmittel« für die Umsetzung derart weitreichender Eingriffe wäre? Untersuchungen zeigen, dass die Einführung des acquis communautaire für wirtschaftlich schwache Länder mit extremen Kosten verbunden ist. Verschärft wird dies zusätzlich dadurch, dass die Europäische Union in den Verhandlungen wenig Bereitschaft an den Tag legt, über den Abbau von Handelshemmnissen in Bereichen zu diskutieren, in denen die ENP-Staaten wettbewerbsfähig wären (etwa im Agrarsektor). Schon die seit 2006 im Rahmen der ENP-Aktionspläne erfolgten Liberalisierungsmaßnahmen haben sich deshalb extrem zuungunsten der südlichen Länder ausgewirkt: Ihr jährliches Handelsbilanzdefizit mit der EU stieg sprunghaft von 530 Mio. Euro (2006) auf 20,4 Mrd. Euro (2010).13 Die nun ins Auge gefassten weitergehenden Liberalisierungsmaßnahmen würden diesen bedenklichen Trend zusätzlich verschärfen, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sich in den Ländern des südlichen Nachbarschaftsraums zunehmender Widerstand gegen die wirtschaftsliberale EU-Agenda regt.14

Anstatt aber, wie teils vorgeschlagen wurde, einseitig den südlichen (und östlichen) Anrainern Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren und so ihre wirtschaftlichen Perspektiven massiv zu verbessern,15 versucht die Europäische Union mit einer Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik die aus ihrer Sicht wünschenswerten Ergebnisse zu erzielen.

Neoliberalismus mit Zuckerbrot und Peitsche

Die Neufassung der Nachbarschaftsstrategie sieht zunächst einmal eine Aufstockung der Mittel zur Umsetzung der Aktionspläne vor: Von 2011 bis 2013 stehen nun zusätzlich zu den bislang vorgesehenen 5,7 Mrd. Euro weitere 1,24 Mrd. Euro zur Verfügung. Außerdem wurden die Kreditmittel der Europäischen Investitionsbank von sechs auf sieben Mrd. Euro erhöht.

Im Zuge eines „leistungsbezogenen Ansatzes“ sollen diese Gelder künftig aber deutlich stärker nach dem Prinzip von Belohnung und Bestrafung vergeben werden: „Es handelt sich um einen leistungsbezogenen Ansatz (»more for more«), der Anreize geben und motivieren soll: Länder, die ihre Reformen schneller und weiter vorantreiben, können mit mehr Hilfe von der EU rechnen, während Länder, die die vereinbarten Reformen verzögern oder von ihnen abweichen, eine Neuzuweisung der Mittel oder deren Verlagerung auf andere Schwerpunktbereiche befürchten müssten.“ (KOM (2011) 200, S.5)

Insbesondere die Bestrafung ungewünschter Verhaltensweisen (negative Konditionalität) wird deutlich stärker als in den Vorgängerdokumenten betont, wenn etwa von der „Verhängung gezielter Sanktion“ (KOM (2011) 303: S.3) die Rede ist. Beobachter werten das als klaren Verweis auf die Absicht, künftig die Daumenschrauben weit stärker anziehen zu wollen.16 Zusammenfassend lässt sich die neue ENP-Strategie also folgendermaßen beschreiben: „Nur wer mehr Reformen durchzieht, kriegt auch Geld (»more for more«), und wer keine Fortschritte macht, dem wird der Hahn zugedreht (»less for less«) heißen die Zauberformeln.“ 17

Fazit: Ein »Ring zorniger Staaten«?

Das vorgelegte Programm sei hochprofitabel – und zwar für beide Seiten, so das Märchen der Europäischen Union: „Unsere Nachbarschaft bietet große Chancen für Integration und Zusammenarbeit, die für beide Seiten von Vorteil sind, zum Beispiel eine zahlenmäßig große und gut qualifizierte Erwerbsbevölkerung, beträchtliche noch unerschlossene Märkte und »Win-Win-Lösungen« im Bereich Energiesicherheit.“ (KOM (2011) 303, S.25) Selbstredend wird dabei betont, das Bestreben zur „Erschließung neuer Märkte“ bedeute keineswegs, den südlichen Anrainern ein bestimmtes Wirtschaftsmodell überstülpen zu wollen: „Die Geschehnisse in den südlichen Nachbarländern sind von historischer Tragweite. […] Die EU darf nicht einfach nur zuschauen. […] Jedes Land und jedes Volk wird natürlich seinen eigenen Weg wählen und seine eigenen Entscheidungen treffen. Es ist ihr Recht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und es ist nicht an uns, ihnen Lösungen vorzuschreiben.“ (KOM (2011) 200: S.15)

Solche Aussagen stehen jedoch in krassem Gegensatz zur Alternativlosigkeit, mit der versucht wird, die neoliberale Agenda durchzusetzen. Sie stehen auch im Widerspruch zu dem erklärten Ziel, zu sozialer Gerechtigkeit im Nachbarschaftsraum beitragen zu wollen. Von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit reden und zugleich in imperialer Art und Weise Neoliberalismus ausschenken, auf diese Weise macht man sich keine »Freunde«, auch wenn dies einmal das vorgebliche Ziel der Nachbarschaftspolitik war: „Im Vorfeld festgelegte Politiken müssen akzeptiert werden und vorab definierte europäische Werte werden gegenüber den lokalen Werten der Nachbarn als überlegen erachtet. […] Paradoxerweise riskiert die ENP, die ins Leben gerufen wurde, um gut gesinnte Nachbarn zu schaffen, das zu produzieren, was sie verhindern will: zornige Nachbarn.“ 18

Anmerkungen

1) Anton F. Börner: Nordafrika und Nahost: Aufgabe und Chance für die deutsche Wirtschaft, Statement vor der Bundespressekonferenz am 09.03.2011.

2) Gemeinsame Mitteilung der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Kommission: Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, Brüssel, den 25.5.2011 KOM (2011) 303.

3) Brian Yesilanda et.al.: Competing Among Giants: A Look at How Future Enlargement of the European Union Could Affect Global Power Transition. In: International Studies Review, volume 8, issue 4, December 2006, S.607-622, hier S.620.

4) Vgl. Jürgen Wagner: Brüssel, das neue Rom? Ostexpansion, Nachbarschaftspolitik und das Empire Europa. Informationsstelle Militarisierung (IMI), Studien zur Militarisierung EUropas 36/2008.

5) Georg Vobruba: Expansion ohne Erweiterung. Die EU-Nachbarschaftspolitik in der Dynamik Europas. In: Osteuropa 2-3/2007.

6) Kommission der Europäischen Gemeinschaft: Größeres Europa – Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Partnern. Brüssel, den 11.3.2003, KOM (2003) 104.

7) Henk van Houtum/Freerk Boedeltje: Questioning the EU’s Neighbourhood Geo-Politics. In: Geopolitics, Volume 16, Issue 1 (2011), S.121-129, S.121f.

8) Vgl. Martin Brand: Die Europäische Nachbarschaftspolitik – ein neoliberales Projekt? In: Utopie kreativ, H. 217 (November 2008), S.988-1006.

9) Vgl. etwa Christopher S. Browning/Pertti Joenniemi: Geostrategies of the European Neighbourhood Policy. In: European Journal of International Relations, Vol.14, No. 3 (September 2008), S.519-551.

10) Alan Posener: Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss. München: Pantheon. 2007, S.101.

11) „Die Sicht der Europäischen Union auf den südlichen Mittelmeerraum war im letzten Jahrzehnt jedoch stark auf sicherheitsrelevante Fragen fokussiert.“ (Christian-Peter Hanelt/Almut Möller: Was kann die EU für Nordafrika tun? Bertelsmann-Stiftung, spotlight europe, 2011/01 – Februar 2011, S.3).

12) Europäische Kommission, Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand, Brüssel, den 08.03.2011, KOM (2011) 200. Gemeinsame Mitteilung der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Kommission: Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, Brüssel, den 25.5.2011 KOM (2011) 303.

13) Vincenzo Scarpetta/Pawel Swidlicki: The EU and the Mediterranean: good neighbours? In: open Europe, Mai 2011, S.16.

14) Herausforderung Liberalisierung. German-Foreign-Policy.com, 25.08.2011.

15) Vgl. Nathalie Tocci: State (un)Sustainability in the Southern Mediterranean and Scenarios to 2030: The EU’s Response. Mediterranean Prospects project, MEDPRO Policy Paper No. 1/August 2011, S.10.

16) Ibid.

17) Jan Techau: Zähne für den Tiger. Bevor die neue Nachbarschaftspolitik wirken kann, muss die EU ihre Hausaufgaben machen. In: Internationale Politik Juli/August 2011, S.126-127, hier S.126.

18) Henk van Houtum/Freerk Boedeltje: Brussels is Speaking: The Adverse Speech Geo-Politics of the European Union Towards its Neighbours. In: Geopolitics, Volume 16, Issue 1 (2011), S.130-145, hier S.131.

Sabine Lösing ist Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und Mitglied im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung des Europaparlaments. Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und Mitglied der Redaktion von W&F.