Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung?

Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung?

Zum Entwurf für die Europäische Verfassung

von Peter Becker und Philipp Boos

Der Beitrag beschreibt die Entwicklung des sicherheitspolitischen Teils im Entwurf für die Europäische Verfassung. Die Autoren haben im Rahmen eines Projektes der IALANA, der IPPNW und der Humanistischen Union versucht, auf die Entwicklung der Verfassung Einfluss zu nehmen. Dabei ist es gelungen, einzelne aus friedenspolitischer Sicht zu begrüßende Änderungen am Entwurf der Verfassung zu erzielen. Einleitend ist aber bereits festzustellen, dass der Verfassungsentwurf auch sehr kritikwürdige Bestimmungen enthält, die den Vorwurf einer Militarisierung der Europäischen Union rechtfertigen.

Grundlage der Verfassungsentwicklung ist die »Erklärung von Laeken«.1 Die zivile Konfliktschlichtung ist in zentralen Punkten dieser Erklärung angesprochenen. Es wird gefragt, ob Europa eine führende, beispielhafte Rolle in der Weltordnung übernehmen sollte. Der Erklärung von Laeken zufolge korrespondiert das mit den Erwartungen des europäischen Bürgers, der „mehr Europa in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen wünscht, mit anderen Worten: mehr und besser koordinierte Maßnahmen bei der Bekämpfung der Krisenherde in und um Europa sowie in der übrigen Welt.“

Entstehungsprozess der Europäischen Verfassung

Im März 2002 hatte der Europäische Verfassungskonvent mit der Erstellung eines Entwurfs einer Verfassung für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union begonnen. Er setzte sich zusammen aus Mitgliedern der Parlamente und Regierungen der Mitgliedsstaaten sowie Mitgliedern des Europaparlaments.2 Mit der Einrichtung des Konvents verbunden war die Einladung an die »Vertreter der Zivilgesellschaft«, Vorschläge für die zu schaffende europäische Verfassung zu machen und sich über ein Forum direkt in die Diskussion des Verfassungskonvents einbringen.3 Aus friedenspolitischer Sicht war in der Phase vor der Installierung des Konvents eine zunehmende Militarisierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu konstatieren. Diese hat sich unter anderem in dem so genanntenen Farnborough-Abkommen etabliert, in dem eine enge Zusammenarbeit im Bereich der Rüstungsindustrie zwischen sechs großen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vereinbart wurde.4

Im Juli 2003 wurde der endgültige Entwurf der Europäischen Verfassung vom Konventspräsidenten Giscard d´Estaing vorgestellt.5 Entgegen der ursprünglichen Absicht ist es dann aber nicht zu einer Annahme des Verfassungsentwurfs durch den Europäischen Rat6 gekommen. Die Einigung scheiterte nicht an inhaltlichen Festlegungen des Verfassungsentwurfs, sondern an Fragen der Machtverteilung. Einige Staaten wollten eine andere Regelung von Mehrheitsentscheidungen durchsetzen. Außerdem war umstritten, ob die Zahl der Kommissare der Anzahl der Mitgliedsstaaten entsprechen muss oder auch kleiner sein kann. Sofern es zu einer Einigung in den vorgenannten Fragen kommt, ist eine ansonsten unveränderte Übernahme des Entwurfstexts wahrscheinlich. Andererseits bieten Verhandlungen natürlich immer die Möglichkeit zu Veränderungen.

Bevor auf die Regelungen im Einzelnen eingegangen wird, soll zunächst die beachtliche friedenspolitische Wirkung gewürdigt werden, die unabhängig von der Bewertung ihrer inhaltlichen Regelungen mit der Schaffung der Verfassung erbracht würde. Das mit der Gründung der Europäischen Union verbundene Ziel, einen dauerhaften stabilen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten wird durch die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung manifestiert und dokumentiert. Aufgrund der Einbeziehung der Beitrittskandidaten in die Verhandlungen über den Verfassungsentwurf wird diese Wirkung zusätzlich ausgedehnt. Im Einklang damit zeigen die jüngsten Eurobarometer-Befragungen auch, dass die große Mehrheit der Bürger der Union die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung begrüßen.

Sicherheitspolitische Regelungen im Verfassungsentwurf

Aus Sicht der Friedensbewegung sind im wesentlichen die Festlegung auf den Frieden als Ziel der Union (Art. 3 Verfassungsentwurf) und die Vorschriften zur Konfliktschlichtung (Art. 40 Verfassungsentwurf) von Bedeutung. Bei der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass die Diskussion im Verfassungskonvent zeitlich weitgehend parallel zur Vorbereitung und Durchführung des Irak-Krieges stattfand. Eine ausdrückliche Verankerung friedenspolitischer Grundsätze wurde dadurch erheblich erschwert, da jede Festlegung in diese Richtung von den am Krieg beteiligten Regierungen – vor allem Großbritannien und Spanien – als Kritik aufgefasst worden wäre.

Frieden als Ziel der Union / Verbindlichkeit des Völkerrechts

Die Ziele der Union finden sich in Art. I-3. In Abs. 1 heißt es: „Die Union hat das Ziel, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern.“ In Art. 3 Abs. 4 folgt der Auftrag, zum Frieden unter den Völkern beizutragen sowie eine ausdrückliche Anerkennung der Verbindlichkeit des Völkerrechts: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechten Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere der Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“

Positiv zu bewerten ist die prominente Positionierung des »Friedens« als vorrangiges Ziel und die Anerkennung der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Insbesondere letztere war in der ursprünglichen Entwurfsfassung nicht so eindeutig festgelegt. Möglicherweise haben auch entsprechende Appelle aus der Friedensbewegung dazu beigetragen, dass die wünschenswerte Klarstellung erfolgt ist. Mit Anerkennung der Verbindlichkeit der Grundsätze der UN-Charta ist auch der dort in Kapitel VII angelegte Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung vor militärischen Maßnahmen anerkannt.

Zwar gehen die Festlegungen im Verfassungsentwurf nicht über das hinaus, wozu die Mitgliedsstaaten der Union aufgrund ihrer Bindung an die UN-Charta und ihre eigenen Verfassungen ohnehin verpflichtet wären. Aber die ausdrückliche Wiederholung des Friedens als Ziel – gerade wegen der Verfassungsentstehung während des Irak-Krieges – hat eine nicht zu unterschätzende deklaratorische Bedeutung. Ein weiterer Vorteil wäre die Überprüfung der Einhaltung der Verfassung durch die europäischen Gerichte, so dass es – anders als bei Verletzungen der UN-Charta – tatsächlich auch zu einer gerichtlichen Verurteilung von Verstößen kommen könnte. Diese Möglichkeit wird aber von Art. III-282 bedauerlicherweise ausdrücklich ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof „ist nicht zuständig“ für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Hier zeigt sich, dass die oft vertretene politische Forderung nach einer Stärkung des Rechts letztlich nicht Ernst gemeint ist.

Zivile Konfliktschlichtung

Die zentrale Vorschrift zum Anliegen der Friedensbewegung ist Art. I-40»Besondere Bestimmungen für Durchführung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«

Art. I-40, Absatz 1 lautet: „Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union die auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.“

In Art. I-40, Absatz 3 S. 1 heißt es: „Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung.“

Damit wird erstmals in einem Verfassungstext die Existenz und Bedeutung der zivilen Konfliktschlichtung anerkannt. Das deutsche Grundgesetz kennt z. B. nur die Pflicht zur Aufstellung von Streitkräften (Art. 87a GG). Hier hatte das Projekt Europäische Verfassung in zweifacher Weise Erfolg:

Es konnte erreicht werden, dass die ursprüngliche Reihenfolge der Begriffe „auf militärische und zivile Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen“ und „militärische und zivile Fähigkeiten“ umgetauscht wurde (in Art. I-40 Abs. 1 und Abs. 3). Auf einen genau auf diese Umkehrung zielenden Appell hin wurden entsprechende Änderungsanträge eingereicht, die im endgültigen Text des Verfassungsentwurfs auch Berücksichtigung fanden. Das selbe gilt für den Begriff »Konfliktverhütung«, der zunächst in Abs. 1 nicht enthalten war. Es ist davon auszugehen, dass dieser nunmehr eingefügte Begriff und der Rückgriff auf die „Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“ einen Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung festlegt. Bestandteil der Charta im sechsten und siebten Kapitel und insbesondere in Artikel 42 ist die ausdrückliche Festlegung, dass militärische Maßnahmen nur im Falle der Unzulänglichkeit der friedlichen Maßnahmen nach Artikel 41 eingesetzt werden dürfen. Die Wiederholung der zuvor schon in Artikel I-3 des Verfassungsentwurfs verankerten Bindung an die UN-Charta im Zusammenhang mit Missionen zur Friedenssicherung hebt die Priorität der zivilen Mittel noch einmal ausdrücklich hervor.7 Die Bezugnahme auf die UN-Charta schafft kein neues materielles Recht, weil die EU-Mitgliedsstaaten natürlich bereits über ihre Mitgliedschaft in der UN an diese Vorgaben gebunden sind. Sie hat aber einen nicht zu unterschätzenden deklaratorischen Charakter.

Militärische Maßnahmen / Aufrüstungsgebot

Der Verfassungsentwurf enthält aber auch mehrere aus Sicht der Friedensbewegung zu kritisierende Regelungen. Das gilt insbesondere für Artikel I-40, Abs. 3, Satz 3 ff.: „Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird eine Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.“

Die darin zu sehende Festlegung einer Art Pflicht (!) zur Aufrüstung muss aus Sicht der Friedensbewegung deutlich kritisiert werden. Es ist nicht bekannt, dass die Verfassung eines Mitgliedsstaates oder irgend eines Staates eine solche Pflicht enthält. Es handelt sich um eine für Verfassungen untypische, eigentlich eher in einen staatlichen Haushaltsentwurf passende Regelung. Unabhängig von der dahinter stehenden falschen Haltung zur Friedens- und Sicherheitspolitik ist angesichts der restriktiven Haushaltspolitik in den EU-Staaten zweifelhaft, ob der Pflicht tatsächlich nachgekommen wird. Von diesen Finanzierungsproblemen ist aber auch der Aufbau von zivilen Kapazitäten durch die Mitgliedstaaten betroffen. Im Konfliktfall steht zu befürchten, dass sich wegen Art. I-40 Absatz 3 Satz 1 die militärische Aufrüstung durchsetzt. Das wäre wiederum nicht mit dem vorrangig genannten Ziel des Friedens in Art. I-3 des Verfassungsentwurfs vereinbar. Insofern ist die Verfassung in diesem Punkt auch widersprüchlich.

Damit wird die zuvor zum Ausdruck gebrachte Vorrangigkeit der zivilen Konfliktschlichtung konterkariert, weil – im Gegensatz zu den zivilen Kapazitäten – eine ausdrückliche Verpflichtung zur „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ statuiert wird, die durch eine im zivilen Bereich nicht vorgesehene Agentur gewährleistet werden soll. An dieser Stelle haben sich bedauerlicherweise die Befürworter einer auf das Militär ausgerichteten Politik – teilweise sicher mit der Intention zum Aufbau eines Gegengewichts zu den USA – durchgesetzt.8

Weiterhin ist zu kritisieren, dass in Art. III-210 Absatz 1 eine Vermengung zahlreicher verschiedener Missionen erfolgt: „Die in Art. I-40 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ Damit wird das Anwendungsfeld für militärische Maßnahmen auf Ausgaben ausgedehnt, die nicht mit militärischen Mitteln verfolgt werden sollten. Hier wäre eine klare Trennung von zivilen und militärischen Missionen angebracht gewesen.

Schließlich ist zu bemängeln, dass in Art. III-210 Absatz 2 die Entscheidung über die Durchführung von Missionen ausschließlich dem Ministerrat übertragen wird. Insbesondere die Durchführung von militärischen Missionen sollte nicht ohne das Europäische Parlament beschlossen werden dürfen.

Fehlende Regelungen

Neben den zuvor dargestellten Regelungen fehlen im sicherheitspolitischen Teil der Verfassung wünschenswerte Festlegungen, die in anderen völkerrechtlichen Dokumenten bereits weitgehend verbindlich verankert sind und durch eine Aufnahme in den europäischen Verfassungsentwurf weiter gefördert worden wären.

Verbot von Massenvernichtungswaffen

Zunächst fehlt eine ausdrückliches Verbot des Einsatzes, Besitzes und der Herstellung von Massenvernichtungswaffen.9

Völkerrechtlich verbindliche Basis für ein Verbot von Atomwaffen ist der Atomwaffensperrvertrag10 von 1970. In diesem Vertrag haben sich die Nicht-Atomwaffenstaaten dazu verpflichtet, keine Atomwaffen herzustellen, zu erwerben oder zu besitzen. Im Gegenzug haben sich die Atomwaffenstaaten zu redlichen Bemühungen um die vollständige Abschaffung der Atomwaffen verpflichtet. Der Vertrag wurde 1995 auf unbestimmte Zeit verlängert. Im Sommer 1996 entschied der internationale Gerichtshof in einem Rechtsgutachten11 für die UN Vollversammlung einstimmig, das Art. VI des Atomwaffensperrvertrages die Kernwaffenstaaten bindend verpflichte, „Verhandlungen über die nukleare Abrüstung in allen Aspekten erfolgreich abzuschließen.“ Weiterhin hat das Gutachten die generelle Unzulässigkeit der Androhung und des Einsatzes von Atomwaffen festgestellt.12

Der Atomteststoppvertrag13 verpflichtet die Atomwaffenstaaten auf die Durchführung von Atomwaffenversuchen zu verzichten. Er ist allerdings nicht von allen erforderlichen Staaten – unter ihnen die USA – ratifiziert worden. Die Chemiewaffenkonvention und die Biowaffenkonvention enthalten völkerrechtlich verbindliche Verbote für die Herstellung, Fortentwicklung und den Besitz dieser Waffen.

Vor dem Hintergrund dieser ohnehin bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen wäre es angebracht gewesen, dass der Entwurf der Europäischen Verfassung ebenfalls eine ausdrückliche Absage an Massenvernichtungswaffen enthalten hätte. Die Aufnahme eines solchen Verbotes wurde von der IALANA im Rahmen des »Projekt Europäische Verfassung« mit dem folgenden Wortlaut vorgeschlagen: „Die Union und ihre Mitglieder dürfen Massenvernichtungswaffen nicht herstellen, lagern, transportieren, testen oder verwenden.“

Die Umsetzung dieser Forderung ist aber – wahrscheinlich vor allem wegen des Status von Frankreich und Großbritannien als Atomwaffenstaaten – nicht erfolgt.

Ächtung des Krieges

Weiterhin fehlt im Verfassungsentwurf eine ausdrückliche Ächtung des Krieges. Zwar wird in Art. 3 Abs. 1, Abs. 4 des Verfassungsentwurfs der »Frieden« ausdrücklich als Ziel der Union manifestiert, woraus sich im Umkehrschluss auch eine Ächtung des Krieges ergibt. Diese hätte aber noch einmal gesondert betont werden sollen.

Vorbild für eine Ächtung des Krieges als Mittel der Politik ist die Regelung im Briand-Kellogg-Pakt, der für zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ohnehin bindendes Völkerrecht darstellt. Dort heißt es in Art. 1: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“

Vor dem Hintergrund, dass die Diskussion des Verfassungsentwurfs parallel zu dem auch zwischen den Mitgliedsstaaten der Union höchst umstrittenen Krieg im Irak stattfand, konnte man sich möglicherweise nicht auf eine Bestätigung der ausdrücklichen Absage an den Krieg einigen. Die Kriegsbefürworter hätten das als – im Ergebnis übrigens berechtigte – Kritik an ihrer Politik zum Irak-Krieg verstanden.

Ausblick

Die im Titel gestellte Frage kann im Ergebnis mit: »Sowohl Ansatz zur Militarisierung, als auch Chance für die zivile Konfliktschlichtung« beantwortet werden. Es gilt daher nun, die Ansätze für die zivile Konfliktschlichtung im Verfassungsentwurf mit Leben zu füllen. Parallel sollte – auch wenn die Erfolgsaussichten schwierig sind – noch einmal versucht werden, den Text der Verfassung zu beeinflussen. Insbesondere sollte die »Aufrüstungspflicht« herausgenommen werden und parallel zu der Europäischen Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eine entsprechende Agentur für zivile Konfliktschlichtungsmissionen geschaffen werden. Beides könnte durch einen von der IALANA geplanten internationalen Kongress vorbereitet werden.

Etablierung der zivilen Konfliktschlichtung

Aus Sicht der Friedensbewegung kommt es nun vor allem darauf an, die Ansätze für die zivile Konfliktschlichtung für einen weltweiten Wettbewerb um die besseren Konfliktschlichtungsmodelle fruchtbar zu machen. Die EU und die USA befinden sich bereits in einem weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb. Dieser wird nicht nur im internationalen Handel und in der Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen, insbesondere zur Energie, ausgetragen.14 Dieser Wettbewerb findet auch in der Kriegsprävention und -vermeidung statt.15 Der Versuch, durch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) die militärische Stärke der USA zu erreichen, wird jedoch wegen der mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit zur Bereitstellung der dafür erforderlichen Haushaltsmittel scheitern.

Der Schwerpunkt sollte deshalb auf zivilen Alternativen liegen. Europa sollte wirkungsvollere zivile Mittel zur Konfliktschlichtung entwickeln, die sich in einem weltweiten Wettbewerb um die bessere Politik durchsetzen werden. Die Festschreibung des Vorrangs ziviler vor militärischer Konfliktschlichtung ist anerkannt, aber nicht ausreichend. Diese Formulierung setzt unzutreffend voraus, dass Krieg ein Mittel zur Konfliktschlichtung ist.

Die Absage an Krieg wäre unvollständig, wenn nicht gleichzeitig Alternativen aufgezeigt würden. Das naheliegende und inzwischen erfolgreich erprobte Mittel ist die zivile Konfliktschlichtung. Wenn dafür nicht ausreichende Strukturen bereit stehen, ist ein Rückfall auf militärische Mittel wahrscheinlich. Nur die Aufstellung von Streitkräften ist bisher obligatorisch, nicht aber die von zivilen Konfliktschlichtungskräften. Wir schlagen vor, dass Europa Konfliktschlichtung mit Ausrichtung auf die Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen betreibt. Das ist billiger als militärische Intervention, führt nicht zu menschlichen Opfern und Zerstörung und schafft hochqualifizierte Arbeitsplätze.

Verbesserung des Verfassungsentwurfs

Es ist trotz des Scheiterns der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs für die endgültige Entscheidung des zuständigen Rat der Europäischen Union im Dezember 2003 sehr wahrscheinlich, dass der Entwurf des Verfassungskonvents weitgehend unverändert angenommen wird. Die Durchsetzung von Veränderung in der Phase bis zur Ratsentscheidung würde „das gesamte Paket wieder aufschnüren“. Auch aufgrund der hochrangigen Vertretung der Regierungen im Verfassungskonvent (z. B. durch Bundesaußenminister Fischer) ist das nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Eine weitere Befassung der Friedensbewegung mit dem Thema bleibt unabhängig von den Chancen einer erfolgreichen Einflussnahme erforderlich. Ein erheblicher Mangel des bisherigen Verfassungsentwurfs ist – wie bereits zuvor betont – , dass es für die Verbesserung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten keine »Europäische Agentur für die Verhütung gewaltsamer Konflikte« gibt; im Gegensatz zum militärischen Bereich. Es ist notwendig, die im Verfassungsentwurf vorhandenen Ansätze zur zivilen Konfliktschlichtung mit Leben zu erfüllen und Konzepte für eine funktionierende zivile Konfliktschlichtung zu entwerfen. Ansonsten droht die Wiederholung des »Scheiterns« von zivilen Missionen, wie etwa 1998/99 im Kosovo, wo eine unterbesetzte und nicht ausreichend qualifizierte Mission als gescheitert bewertet,16 abgezogen und damit auch noch als Vorwand für den Einsatz militärischer Gewalt missbraucht wurde.

Internationaler Kongress zur zivilen Konfliktbearbeitung

Die IALANA plant deshalb in Kooperation mit zahlreichen anderen Organisationen der Friedensbewegung im Mai 2004 einen internationalen Kongress zur zivilen Konfliktprävention, zur Einrichtung eines Europäischen Amtes für die Verhütung gewaltsamer Konflikte und der Bereitstellung entsprechender Mittel in den Mitgliedstaaten zu veranstalten.17

Anmerkungen

1) Mit dieser Erklärung vom Dezember 2001 hat der Europäische Rat den Konvent beauftragt.

2) Deutschland war durch Bundesaußenminister Joschka Fischer, den SPD-Bundestagsabgeordneten Prof. Jürgen Meyer sowie Ministerpräsident Erwin Teufel als Repräsentant der Bundesländer vertreten. Für nähere Informationen siehe http://european-convention.eu.int/bienvenue.asp?lang=DE&Content=.

3) Siehe dazu http://europa.eu.int/futurum/index_de.htm.

4) Am 27. Juli 2000 in Farnborough von Deutschland, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich, Schweden und Spanien getroffene Entscheidung, eine Rahmenvereinbarung (Letter of Interest) zu unterzeichnen, mit der die Umstrukturierung der Verteidigungsindustrie in Europa erleichtert werden soll.

5) Für den deutschen Text siehe: http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf.

6) Versammlung der Staatschefs der Mitgliedsstaaten.

7) Siehe aktuell zu diesem Vorrang den Beitrag von Helmut Simon; Frankfurter Rundschau vom 06. Januar 2004, S. 8.

8) Zur Kritik an dieser Entwicklung und am Verfassungsentwurf siehe auch Martin Singe, Die Militarisierung der Europäischen Union, in: Friedens-Forum 5-6/2003, S. 31-34.

9) Darunter sind atomare, biologische und chemische Waffen zu verstehen.

10) Auch bezeichnet als: Nicht-Weiterverbreitungs-Vertrag = Non-Proliferation-Treaty (NPT).

11) Abgedruckt in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, S. 29 ff; 69 ff.

12) Siehe dazu D. Deiseroth: Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof – Konsequenzen für die Praxis?, in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, S. 351 (352 f.).

13) Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT).

14) Dazu lesenswert: J. Todd, Weltmacht USA – Ein Nachruf; 2002.

15) Dazu bereits P. Becker: „Aufruf zu einem Wettstreit der Konfliktschlichtungskulturen“, in: Horst-Eberhard Richter (Hrsg.): Kultur des Friedens, Gießen 2001, S. 119-124.

16) Ob die Kosovo Verification Mission (KVM) tatsächlich als Misserfolg zu bewerten ist, ist sehr umstritten, vgl. ausführlich H. Loquai: Weichenstellungen für einen Krieg, Baden-Baden 2003.

17) Weitere und aktualisierte Informationen dazu können demnächst unter www.ialana.de abgerufen werden. Wer die Ausrichtung dieses Kongresses finanziell oder logistisch unterstützen möchte, wird um Mitteilung an info@ialana.de gebeten.

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der deutschen IALANA sowie Sekretär des weltweiten IALANA-Dachverbandes. Dr. Philipp Boos ist Rechtsanwalt sowie Geschäftsführer der deutschen IALANA und des IALANA- Dachverbandes.

Europas Beitrag für eine multilaterale Weltordnung

Europas Beitrag für eine multilaterale Weltordnung

von Mohssen Massarrat

Die US-Außenpolitik ist unter Georg Bush, jun. aggressiver geworden und – wie vor, während und nach dem Irakkrieg deutlich wurde – treten damit auch die Differenzen innerhalb des westlichen Bündnisses stärker hervor. In Wissenschaft und Frieden 1-2004 hat Mohssen Massarrat das Zusammenwirken verschiedener hegemonialer Triebkräfte in der US-Politik untersucht, die grundlegend sind für den verschärften außenpolitischen Kurs der USA. Gleichzeitig hat er darauf hingewiesen, dass sich im Irak selbst die Grenzen der amerikanischen Expansionspolitik zeigen und dass immer mehr Amerikaner angesichts des Irak-Desasters für eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg plädieren. Liegt hier die Chance für Schritte in Richtung einer anderen, multilateralen Weltordnung? Der Autor geht auf die verschiedenen Weltordnungsmodelle ein und der Frage nach, welche Rolle Europa im Ringen um eine humanere und gerechtere Weltordnung spielen kann.

Um es vorweg zu nehmen: Eine neue, humanitäre Weltordnung kann nicht gegen die USA durchgesetzt werden. Die USA sind und bleiben auch absehbar ökonomisch und erst recht militärisch mächtig genug, ihren Unilateralismus mit Hilfe einer Allianz der Willigen quer über den Globus für Jahre in der bisherigen bzw. in abgeschwächter Form fortzusetzen. Für eine multilaterale Ordnung entsteht letztlich erst dann eine reale Chance, wenn in den Vereinigten Staaten selbst die politische Legitimation des Unilateralismus abzubröckeln beginnt. Tatsächlich sind die Gegensätze zwischen US-Unilateralisten und Multilateralisten ohnehin größer und die Positionen vielfältiger als sie sich im US-außenpolitischen Erscheinungsbild widerspiegeln.1 Insofern täte Europa gut daran, alles zu unternehmen, was den in die Isolation geratenen Multilateralisten in den USA Auftrieb geben und alles zu unterlassen, was die US-Unilateralisten und ihre Verbündeten auch in Europa stärken könnte.2 Tatsächlich verläuft die Trennlinie für die konkurrierenden Weltordnungsmodelle nicht zwischen USA und Europa, auch nicht zwischen den Demokraten und Republikanern in den USA, sondern zwischen Unilateralisten und Multilateralisten in der ganzen Welt. Multilateral ausgerichtete Parteien und zivilgesellschaftliche Kräfte in Europa stehen vor der großen Herausforderung, Wege und Schritte aufzuzeigen, die mittel- und langfristig zu einer humaneren und gerechteren Weltordnung führen. Welche Leitbilder stehen aber für diese Perspektive zur Diskussion und welchen Beitrag haben Europas Multilateralisten dafür zu leisten? Um darauf im Ansatz einige Hypothesen zu formulieren, sollen zunächst im Folgenden die vier Hauptgruppen, die gegenwärtig im Ringen um die Weltordnungsmodelle einander gegenüber stehen, skizziert werden.

Die wesentlichen Weltordnungsmodelle

Erstens, die Unilateralisten wie George W. Bush bzw. Silvio Berlusconi, deren Weltbild stark konservative bis rassistische Züge aufweist, die Menschheit manichäisch ganz im Sinne der Hobbes’schen Welt in Gute und Böse, in Zivilisierte und Barbaren aufteilt, rechtliche Doubelstandards befürwortet, das Recht des Stärkeren zum Maßstab des politischen Handelns erhebt und insgesamt die Interessen der reichen Elite dieser Welt vertritt, die sich unter dem US-Hegemonialsystem am sichersten fühlt.3

Zweitens, die Empire-Protagonisten. Sie beschreiben das Empire als ein Frieden stiftendes Ordnungssystem, das im Grundsatz schon jetzt weltweit auf einer breiten Legitimationsgrundlage stünde und dessen Handlungen einschließlich der Kriege daher keinen Widerspruch zum Völkerrecht darstellten. Zu den wichtigsten Vertretern des Empires gehören Michael Hardt und Antonio Negri4 und der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler.5 Bei einer kritischen Betrachtung handelt es sich bei diesem Konzept jedoch um eine Konstruktion, die im Wesentlichen durch historische Analogien (z.B. mit dem Römischen Reich) bzw. Extrapolation republikanischer Ordnungsvorstellungen aus der Gründerzeit der Vereinigten Staaten auf die Gegenwart begründet wird. Die Realität von hegemonialpolitischen Interessen, die Triebkräfte und Handlungen, Brüche und Konflikte,6 werden ignoriert, verharmlost oder Empire-konform zurechtgebogen.7 Ungeachtet der unterschiedlichen Motive seiner Verfechter liefert das Empire-Modell eine ideologische Plattform für alle diejenigen, die aus verschiedenen Motivlagen den US-Unilateralismus nicht offen verteidigen, an den Pfründen der globalen Verteilungsstrukturen unter der US-Hegemonie jedoch quasi als Trittbrettfahrer mit partizipieren wollen. Auf dieser Grundlage ließe sich das Empire-Modell einerseits positiv und moralisch rechtfertigend auf ein in der chaotischen Welt angeblich Frieden und Freiheit stiftendes Ordnungssystem beziehen, andererseits gleichzeitig das real existierende unilateralistische Hegemonialsystem der USA durch verharmlosende Gleichsetzung mit dem Empire für europäische Transatlantiker akzeptanzfähig machen.

Drittens, die Befürworter eines militärisch starken Europas, die in der EU, in Deutschland und vor allem in Frankreich ganz stark vertreten sind. Stellvertretend für sie steht der ehemalige Chirac-Berater und Bestseller-Autor Emmanuel Todd, in dessen multilateraler Weltordnung nur ein emanzipiertes Europa denkbar ist, das durch Erhöhung seiner nuklearen Schlagkraft zu echter strategischer Unabhängigkeit gelangen würde.8 Derartige Vorstellungen leisten jedoch einem neuen weltweiten Wettrüsten unweigerlich Vorschub. Dabei wird Europa – wie David hinter Goliath – militärisch stets hinter dem nicht einholbaren Vorsprung der USA zurück bleiben, ökonomisch jedoch gleichzeitig verlieren, weil es seine zivilen Strukturen militarisiert und eine Umstrukturierung der eigenen Wirtschaft hin zum expansionistischen amerikanischen Pfad forcieren muss, bei dem die USA auch in Zukunft die Nase vorn haben dürften. Dieser Pfad würde zudem alle Ansätze zum Abbau globaler Ungleichgewichte, Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und ökologischem Umbau der Weltwirtschaft blockieren und die Spaltung in der Welt vertiefen. In diese Falle des US-Hegemonialsystems darf Europa nicht hinein tappen.

Viertens, die Verfechter eines Europa als Zivilmacht: Diese Strömung stellt grundsätzlich in Frage, dass militärische Logik und Perspektive zu mehr Stabilität und friedlichem Zusammenleben der Völker führen kann. Das Verharren im militärischen Denken lässt ohnehin den Trugschluss zu, dass Amerika wegen seines militärischen Vorsprungs alles und Europa nichts ist. Für Europa stünde demnach die Abkehr von der militärischen Logik auf der Tagesordnung, da nur so die Aussicht, dass auch in den Vereinigten Staaten die Legitimation des Militärischen als unzeitgemäß abbröckelt, wirkungsvoll verbessert werden kann. Amerikas gegenwärtige Militärmacht würde in sich zusammenfallen, sobald die Mehrheit der Amerikaner ihr die moralische und politische Legitimation entzieht. Genau in dieser Binsenweisheit liegt für das militärisch schwache Europa die Chance, moralische Macht und Handlungsstärke zu gewinnen.9 Diese Position wird in Deutschland und Europa durch die Pazifisten vertreten, die sich zwar in der Minderheit befinden, durch die großen, weltweiten Massendemonstrationen am 15. Februar jedoch neuen Auftrieb erhielten. Auf große Zustimmung stieß der Aufruf von Jürgen Habermas und Jacques Derrida »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«.10 Nach Habermas und Derrida „muss Europa sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.“ Europas Gewicht besteht allerdings in der Stärke seiner Zivilmacht: einerseits bietet „die EU sich schon heute als eine Form des ‘Regierens jenseits des Nationalstaates‘ an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen konnte“, andererseits waren auch „europäische Wohlfahrtsregime lange Zeit vorbildlich.“ Europa verfügt über ein beträchtliches moralisches Kapital, das es aus Verlusterfahrungen (Habermas) in der ersten Hälfte und den Integrationsleistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schöpft. Das Nein von Schröder und Chirac zu Bushs Irak-Krieg – aus welchen Motiven es auch ausgesprochen wurde – und die überwältigend positiven Reaktionen bei den Kriegsgegnern in den USA selbst, in der arabisch-islamischen und in der Dritten Welt insgesamt haben einen Vorgeschmack davon geliefert, welches moralische Gewicht Europa als treibende Kraft einer gerechteren Weltordnung tatsächlich haben könnte, würde es sich vom selbst auferlegten Schattendasein und der amerikanischen Gängelung lösen und mutig mit nicht-militärischen Konzepten zur Bewältigung von Konflikten wie im Nahen Osten aufwarten.11

Habermas und Derrida plädieren vor dem Hintergrund der „historischen Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften“ für „eine attraktive, ja ansteckende ‘Vision‘ für ein künftiges Europa“, das allerdings „nicht vom Himmel fällt“ und eben aus der eigenen Geschichte heraus entwickelt werden muss.12 Ganz in dieser Perspektive braucht Europa Identität stiftende Projekte, die die Konturen einer auf die Zukunft gerichteten Vision nach innen und außen fühlbar und erlebbar machen. Im Folgenden seien einige an Gegenwartskonflikte angelehnte Bausteine einer von Europa voranzutreibenden multilateralen Weltordnung angeführt:

Bausteine einer multilateralen Weltordnung

Erstens: Das Desaster im Irak ist für Europa kein Anlass zur Gleichgültigkeit oder gar Häme, sondern eine wichtige Gelegenheit, konstruktive Alternativen einzubringen. Die US-Regierung ist außerstande, sich im Irak von hegemonialpolitischen Interessen zu lösen, deshalb bleibt sie für die Iraker unglaubwürdig und wird dort überwiegend als imperialistische Besatzungsmacht wahrgenommen. Angesichts der wachsenden Verluste von Soldaten ist es nur eine Frage der Zeit, dass die amerikanischen Truppen den Irak verlassen müssen. Jedweder Kompromiss, der den US-Führungsanspruch im Irak legitimiert, verlängert das Leid der Menschen – der Iraker und der Soldaten der US-Armee – und beschädigt die Autorität der UN. Deutschland und Frankreich müssten daher auf die absolute Zuständigkeit der Vereinten Nationen auch als Ordnungsmacht pochen. Für die Herstellung der Sicherheit der Bevölkerung sind nicht Anzahl der Soldaten und effiziente Kommandostrukturen entscheidend, unvergleichbar wirkungsvoller ist dagegen das Vertrauen in die Legitimität der Ordnungsmacht. Diesen Zweck könnte eine durch die UN autorisierte und aus Soldaten einiger islamischer Staaten (wie z.B. Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan und Jordanien) oder alternativ dazu aus neutralen europäischen Staaten (wie Schweden, Norwegen, Österreich) bestehende Ordnungsmacht trotz Inhomogenität und logistischer Ineffizienz viel wirkungsvoller erfüllen. Die Hauptaufgabe dieser Ordnungsmacht bestünde darin, den Irakern so rasch wie möglich durch eine Übergangsregierung, eine verfassungsgebende Versammlung und allgemeine Wahlen ihre Souveränität zurück zu geben. Ein kompromissloses Pochen auf ein derartiges Irak-Konzept wird zwar bei der US-Regierung auf massive Ablehnung stoßen, bei den Amerikanern jedoch – nicht zuletzt auch angesichts der steigenden Zahl toter US-Soldaten und steigender Kriegskosten – aller Wahrscheinlichkeit nach auf große Zustimmung stoßen. Und genau darauf kommt es für die Stärkung der multilateralen Perspektive auch an.

Zweitens: Der Irak-Konflikt, der Nahost-Konflikt, der Afghanistan-Konflikt, das iranische Atomwaffenprogramm, der Kurdistan-Konflikt, die unzähligen Kriege, die Millionen Gewaltopfer und die Zerstörungen in den letzten Jahrzehnten sind Symptome von komplexen Konfliktstrukturen in einer der sensibelsten Regionen der Welt. Nur ein friedenspolitisches Gesamtkonzept für den Großraum Mittlerer und Naher Osten böte die Chance, die Region mittel- und langfristig zu befrieden. Dies erfordert eine ernsthafte Initiative für die Neuauflage einer Helsinki-Konferenz mit dem Ziel der Errichtung einer Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) als regionale Plattform für die Schaffung einer ABM-freien Zone, die dauerhafte Sicherheit Israels, die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates und die Regelung von ethno-kulturellen und grenzüberschreitenden Ressourcennutzungskonflikten. Europa hätte durch diese Gesamtperspektive die Gelegenheit, im Nahost-Konflikt endlich zu einer von den US-Interessen unabhängigen Position zu gelangen und die von Habermas und Derrida geforderte Gestaltungsbereitschaft und Kompetenz für eine Frieden stiftende Weltinnenpolitik im Rahmen einer neuen Weltordnung unter Beweis zu stellen.13

Drittens: Es ist auch an der Zeit, die OSZE aus dem Schatten der Nato zu lösen und sie zu revitalisieren. Die Nato passt ohnehin weder in Amerikas unilateralistische Ordnung noch in die Architektur einer multilateralen Weltordnung. Kooperative Strukturen sind dagegen tragende Pfeiler einer multilateralen Welt. Sie stellen die Grundlage für den Beginn einer neu zu initiierenden weltweiten Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln dar. „Nach der US-Entscheidung zur Entwicklung von ballistischen Raketenabwehrsystemen … ist die Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens äußerst real“, konstatiert Joseph Rotblat, Träger des Friedensnobelpreises und Symbolfigur der Pugwash-Bewegung. Die vollständige Abschaffung von Atomwaffen ist, wie Rotblat es in seinem alarmierenden Appell gefordert hat,14 eine der dringendsten Menschheitsaufgaben und gehört daher auf die Agenda der internationalen Politik. Die wirksamste Methode zur Nichtverbreitung von Atomwaffen ist deren vollständige Abschaffung, zu der sich alle Atommächte im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet haben. Es ist nicht nur unglaubwürdig und moralisch verwerflich, sondern auch praktisch wirkungslos, die Nicht-Atomstaaten zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen verpflichten zu wollen, das Monopol von Atomwaffenstaaten jedoch nicht anzutasten. Europa verfügt weltweit über beste Voraussetzungen, aus Eigeninteresse und auch mit Blick auf eine gerechtere Weltordnung zum Wortführer eines neuen Abrüstungsprozesses zu werden. Mit den bestehenden Atomwaffenarsenalen und asymmetrischen Abhängigkeitsstrukturen auch für Europa wird die Lebensdauer des US-Hegemonialsystems nur noch verlängert. Europas Abrüstungsinitiative bedeutet aber, zunächst bei sich selbst anzufangen, die eigenen Atomwaffen, die ohnehin ihren sicherheitspolitischen Sinn längst verloren haben, einseitig abzurüsten. Dann wären die Politstrategen und der US-Militärindustrielle Komplex an der Reihe, den Amerikanern zu erklären, warum Amerika das Teufelszeug weiterhin benötigt.

Viertens: Eine neue nachhaltige, stabile und multilaterale Weltordnung kann nur durch den Abbau fossiler Abhängigkeitsstrukturen und auf der Basis einer regenerativen Weltenergieordnung entstehen. Dazu müssten – quer durch die bestehenden Blöcke und Regime – strategische Allianzen gebildet werden, in denen die heutigen Öl produzierenden Staaten eine wichtige Position einnehmen, und dadurch für sich auch die Perspektive sehen, Schritt für Schritt aus der fossilen Energieproduktion auszusteigen. Europa kann und muss dabei die Vorreiterrolle spielen. Auch die Vereinigten Staaten werden sich der Perspektive einer erneuerbaren Weltenergieordnung – ist sie einmal eingeleitet und erlebbar geworden – auf Dauer nicht verschließen können. Der Legitimationsdruck auf die Energie- und Klimapolitik der USA wäre um so stärker, würde Europa mit einem Teil der OPEC-Staaten, vor allem mit Iran, Venezuela, Indonesien, Algerien sowie mit Russland und Mexiko, in eine Allianz für eine zukunftsfähige neue Weltenergieordnung eintreten. Diese Allianz ist möglicherweise nötig, um den multilateral ausgerichteten Reformkräften in den USA neuen Auftrieb zu geben und den Blick der Gesellschaft auf ökonomische innen- und außenpolitische Innovationspotentiale des neuen Energiezeitalters zu lenken.15

Fünftens: Eine multilaterale Welt braucht eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Ein System, das die eigene Wohlstandsvermehrung dadurch institutionalisiert, dass es andere daran hindert, ihren Hunger zu stillen, verwirkt seine moralische Legitimation. Europa muss aufhören, die internen Wachstums- und Verteilungsprobleme mittels Handelsbarrieren und Subventionen vor allem im Agrarsektor zu Lasten der schwächsten Glieder in der Hierarchie der Weltwirtschaft, nämlich Hunderte Millionen Menschen in der Dritten Welt, zu bewältigen. Es muss auch in dieser Beziehung eine Vorreiterrolle übernehmen und die eigene friedens- und zivilmachtpolitische Glaubwürdigkeit wirtschafts- und sozialpolitisch untermauern.

Diese oben aufgeführten Initiativen sind einige aktuelle und konkrete Beispiele, den schwierigen politischen Prozess der Ausgestaltung einer multilateralen Weltordnung vorstellbar zu machen. Multilateralisten in Europa und Verfechter einer gerechteren Weltordnung in der ganzen Welt stehen vor der schwierigen, jedoch perspektivreichen Aufgabe, durch eine eigene Gerechtigkeits- und Friedensethik die Herzen von Milliarden Menschen zu gewinnen. Es gilt, die kulturelle Hegemonie der reichen Weltelite, des Militärindustriellen Komplexes, des Unilateralismus’ und des Neoliberalismus’ durch die kulturelle Hegemonie des Friedens und der Gerechtigkeit zu überwinden. Die weltweiten Antikriegsdemonstrationen am 15. Februar 2003 waren ein historisch wichtiger Meilenstein auf dem bevorstehenden langen Weg.

Anmerkungen

1) Vgl. Näheres dazu Hippler, Jochen, 2003: Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/2003.

2) „Wir müssen daran denken“ sagte Horst Eberhard Richter am Antikriegstag bei einer DGB-Veranstaltung in Frankfurt, „dass ohne einen Bewusstseinswandel innerhalb der USA durchgreifende friedenspolitische Fortschritte im Weltmaßstab unerreichbar bleiben.“ (Frankfurter Rundschau 03.09.2003)

3) Einer der Wortführer dieser Richtung, der die unilateralistische Perspektive am klarsten formuliert und offensiv vertritt, ist der US-Präsidenten-Berater Robert Kagan. Vgl. dazu seine Schrift : Macht und Schwäche, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/2002.

4) Vgl. dazu Hardt, Michael und Negri, Antonio, 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York.

5) Münkler, Herfried, 2003: Im Kampf gegen die Unordnung. Was viele Europäer nicht verstehen : Im Irak ging es für das Imperium USA selbst um die Befriedung einer Peripherzone, in: Frankfurter Rundschau vom 28. August 2003.

6) Vgl. dazu Massarrat, Mohssen: Irak – Es ging nicht nur um Öl, in: Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2004.

7) Ausführlichere Kritik vgl. Massarrat, Mohssen: Die Imperative des Imperiums. Über einen erstaunlichen Versuch, die Aggression gegen den Irak politisch und moralisch zu rechtfertigen, in: Freitag, 21. März 2003.

8) Todd, Emmanuel: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2003, S. 217.

9) Näheres vgl. Massarrat, Mohssen: Friedensmacht Europa. Die neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten nach dem Irak-Krieg, in: Frankfurter Rundschau, 27. März 2003.

10) Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. Mai 2003. Vgl. auch Habermas, Jürgen: Europäische Identität und universalistisches Handeln, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7/2003.

11) Vgl. dazu auch Pradetto: Der Irak, die USA und Europa, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2003, S. 170.

12) Habermas und Derrida bleiben, was die konkreten Elemente dieser »Vision« betrifft, in ihrem Mai-Aufruf allerdings recht unpräzise und begnügen sich mehr oder weniger mit Allgemeinplätzen. Im Interview mit den Blättern für deutsche und internationale Politik wird Habermas jedoch konkreter. Die Identität stiftende Perspektive für Europa könne beispielsweise erreicht werden durch „Harmonisierung der verschiedenen sozialpolitischen Regime“, weil damit Umverteilungen verbunden sein werden, für die ein gehöriges Maß an Solidarität und „staatsbürgerlichem Zusammengehörigkeitsgefühl… nötig ist.“

13) Der Umgang mit dem aktuellen Problem des iranischen Atomprogramms gehört in den Rahmen eines regionalen Sicherheitskonzepts. Eine selektive Behandlung dieses Problems und einseitige Anwendung der Vorschriften des Atomwaffensperrvertrages auf Nicht-Atomwaffenstaaten beschädigt die Glaubwürdigkeit der EU und lässt sie in den Augen der Iraner als Komplize der USA und Israel erscheinen. Näheres dazu vgl. Massarrat, Mohssen: Irans Atomenergieprogramm – Motive und Alternativen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4/2004. Dass sich die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen im Mittleren und Nahen Osten nicht auf den Iran beschränken lässt, belegen die Bestrebungen Saudi-Arabiens, ebenfalls zu Atomwaffen zu gelangen. Vgl. dazu den Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 19. September 2003: Saudi-Arabien denkt über eigene Atomwaffen nach.

14) Rotblat, Joseph: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt, in: Frankfurter Rundschau vom 6. August 2003.

15) Vgl. ausführlicher dazu Massarrat, Mohssen: Strategische Allianz für den Einstieg in das Zeitalter erneuerbarer Energien, in: Solarzeitalter Nr. 4/2002.

Dr. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück

EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

von Tobias Pflüger

Bei ihrem Gipfel in Rom konnten sich die Regierungschefs der EU nicht auf den vorliegenden Verfassungsentwurf einigen. In der Folge gab es eine verstärkte Diskussion um ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein Europa, indem einige Länder in der Zusammenarbeit »vorangehen« – und das vor allem auf militärischen Gebiet. Vor diesem Hintergrund ist von besonderem Interesse, dass die EU in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet hat. Tobias Pflüger über die neuen militärischen Planungen und den dominierenden Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die zukünftige EU-Truppe.

Hauptstreitpunkt bei der Diskussion über die neue EU-Verfassung war die Stimmengewichtung innerhalb der EU. Nach dem Vorschlag des Verfassungskonvents sollten ab 2009 die meisten Entscheidungen im Ministerrat mit einer »doppelten Mehrheit« gefällt werden: Mindestens 13 Regierungen, die mindestens 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Polen und Spanien waren dagegen, die Stimmrechte an der Bevölkerungsgröße auszurichten, da sie bei dieser Regelung im Vergleich zur bisherigen Regelung (Nizza-Vertrag) deutlich an Gewicht verlieren würden. Umgekehrt würde Deutschland als bevölkerungsreichstes Land deutlich an Macht gewinnen.

In den Medien wurden überwiegend Spanien und Polen für das »Scheitern des EU-Gipfels« verantwortlich gemacht. Vereinzelt wurde allerdings auch der Verdacht geäußert, dass die deutsche und die französische Regierung vielleicht gar nicht so unfroh sind über das Scheitern des EU-Gipfels. So vermutet die »Neue Zürcher Zeitung« (15.12.2003), dass „Chirac und Schröder in Brüssel mit Absicht den Karren an die Wand fahren ließen, um das Terrain zur Wiederbelebung der alten Idee eines «Kerneuropa» vorzubereiten.“ Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ, 16.12.2003) stimmt die Schnelligkeit misstrauisch, „in der das Kerneuropa-Konzept aus der Tasche geholt worden ist – ganz so, als habe man das Brüsseler Scheitern nicht ohne Hintergedanken in Kauf genommen.“ Und Wolfgang Münchau spricht in der »Financial Times Deutschland« (16.12.2003) davon, dass „ohne die deutsche Ellbogendiplomatie in der Debatte um den Stabilitätspakt und die ständigen Drohungen mit Kerneuropa“ mit Polen und Spaniern ein Kompromiss möglich gewesen wäre.

Die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse

Tatsächlich nehmen die Forderungen nach einem »Kerneuropa« nach der Nichtverabschiedung der EU-Verfassung zu. So spricht die französische Europaministerin, Noëlle Lenoir, davon, dass es möglich sein sollte, dass einige EU-Staaten „als Vorhut“ bei der europäischen Integration schneller vorankommen können als andere.

Der französische Außenminister, Dominique de Villepin, benennt schon konkrete Ziele: Europa muss die Mittel bekommen, um „seinen Platz in der Welt von morgen einzunehmen. Dieser neuen Union müssen ehrgeizige Ziele gesetzt werden, ob sie nun von allen geteilt oder nur von einigen verfolgt werden. Was die ergänzende Integration angeht, wird diese ganz natürlich ihren Platz finden, so wie Frankreich zusammen mit Deutschland und Großbritannien eine besonders nützliche Zusammenarbeit gegenüber dem Iran in Sachen Nonproliferation praktiziert hat. Einen solchen Präzedenzfall können wir morgen neuerlich schaffen, zum Beispiel indem wir die Partnerschaft zwischen unseren Verteidigungsindustrien stärken oder indem wir in Afrika oder anderswo politische Initiativen ergreifen oder Operationen durchführen.“ (FAZ, 19.12.2003)

Und auch der französische Präsident, Jacques Chirac, setzt auf die deutsch-französische Karte. Er ist für die Bildung von »Pioniergruppen« in der Europäischen Union, bei denen „Deutschland und Frankreich … natürlich zum Kern … gehören.“ (AP, 08.01.2004)

Die deutsche Bundesregierung macht deutlich, dass die Diskussion über Kerneuropa „keine rein taktische Debatte“ ist, mit der der Druck zur Einigung erhöht werden soll. Man müsse bei einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen in der Lage sein, »konzeptionelle« Antworten zu geben. (FAZ, 21.12.2003) Wie die aussehen könnten erläutert Außenminister Joseph Fischer im Spiegel (20.12.2003): „Diejenigen, die weitergehen wollen – in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Zusammenarbeit bei der Innenpolitik, bei Justiz und Recht –, werden weitergehen, wenn die Verfassung scheitert. Sie werden es umso entschiedener tun, je weniger sie daran glauben, dass dieses Europa als Ganzes handlungsfähige Strukturen bekommt.“

Dieses Kerneuropa konkretisiert sich vor allem im Militärbereich. Dazu Sabine Herre: „Das Projekt Kerneuropa hat das Stadium der Theorie verlassen, jetzt gibt es klare Regeln, wie diese »strukturierte Zusammenarbeit« zwischen besonders integrationswilligen Staaten funktionieren soll. Irakkrieg und EU-Erweiterung sind die Gründe dafür, dass Kerneuropa ausgerechnet im militärischen Bereich konkret wird.“ (taz, 01.12.2003)

EU-Militärstrategie – ein Präventivkriegskonzept?

Während die Verhandlungen über eine neue EU-Verfassung scheiterten, wurde in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet. Bereits vorher hatte sich der deutsche Bundeskanzler gewundert, dass die Vorlage – die weitgehend die Vorstellungen der deutschen und französischen Regierung wiedergibt – von allen EU-Staaten akzeptiert wurde: „Zunächst ist es angesichts der innereuropäischen Differenzen in der Irak-Frage bemerkenswert, dass Javier Solanas Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie von allen EU-Partnern positiv aufgenommen worden ist.“ (Internationale Politik, Nr.9-2003)

Tatsächlich wurde Solanas Vorlage im wesentlichen unverändert verabschiedet. Sie benennt drei strategische Ziele:

  • den Kampf gegen Terrorismus,
  • den Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
  • Hilfe für »zusammengebrochene Staaten« als Mittel gegen organisierte Kriminalität.

Wie die EU militärisch agieren wird, ist ebenfalls im Strategiepapier erwähnt: „Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“ Und an anderer Stelle: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“

»Verteidigungslinien« die im Ausland liegen, das erinnert an das »Präemptivkriegskonzept« aus der »National Security Strategy« der US-Regierung. Die Begriffe »Präemptivkrieg« oder »Präventivkrieg« wurden allerdings von der EU vermieden. Dazu heißt es auf der Homepage der Bundesregierung: „Der umstrittene Begriff »preemptive engagement« wurde durch »preventive engagement« ersetzt“. Offizielle Erklärungen erwecken den Eindruck, mit dem Begriff »Prävention« sei Konfliktvorbeugung gemeint. Die Neue Zürcher Zeitung (15.12.03) vermutet dagegen, dass der Begriff »preemptive« vermieden wurde, weil es sich um ein »Reizwort« handele. Und für die International Herald Tribune (09.12.2003) ist der Begriff nur ausgetauscht worden, weil es in einigen EU-Sprachen einfach keine Wörter für »preemptive« gibt. Unabhängig davon: Verteidigungslinien im Ausland, das ist eine Umschreibung für »Angriffsaktionen«, und angreifen bevor der Gegner angreifen kann, das ist eine völkerrechtswidrige Aggression.

EU und NATO, Hand in Hand

Die EU-Militärstrategie spricht davon, dass in „einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien … unsere Sicherheit und unser Wohlstand immer mehr von einem wirksamen multilateralen System ab(hängen) … Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer Welt führt, die gerechter, sicherer und stärker geeint ist.“ Hier sind sie formuliert, die Weltmachtambitionen der EU. Bereits bei der Vorstellung der EU-Militärstrategie hatte Javier Solana am 12.11.2003 in Berlin hervorgehoben: „Die EU wird zu einem globalen Akteur.“ Damals stellte er ebenfalls klar, dass EU und NATO eng kooperieren werden: „Im Rahmen dieses Netzes ist und bleibt die NATO für die Gewährleistung unserer Sicherheit von grundlegender Bedeutung, und zwar nicht als Konkurrent, sondern als strategischer Partner.“ Innerhalb der EU soll eine »Beistandspflicht« eingeführt werden. Für die bisher (noch formal) neutralen EU-Staaten, Österreich, Finnland, Irland und Schweden würde das dann die endgültige Aufgabe ihrer Neutralität bedeuten.

Aufrüstungsverpflichtung auch ohne EU-Verfassung

Die EU hatte beschlossen ein »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« einzurichten – das 2004 seine Arbeit aufnehmen soll – und dieses Amt in der EU-Verfassung zu verankern. Doch vor dem Gipfel von Rom wurde dieser Komplex ausgekoppelt und unabhängig von der Verfassung in der EU-Militärstrategie festgeschrieben: Auch die für die EU-Verfassung vorgesehene Aufrüstungsverpflichtung – „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel I-40, Absatz 3) – wird jetzt im EU-Strategiepapier geregelt: „Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden.“ Die Regierungen innerhalb der EU, die eine intensive Fortentwicklung der militärischen Komponente wollen, haben mit der EU-Militärstrategie vieles von dem bekommen, was sie mit dem vorgelegten EU-Verfassungsentwurf erreichen wollten. Der entscheidende Unterschied: Die Entwicklungen im Militärbereich werden jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit in »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« ablaufen, ein »militärisches Kerneuropa« um Deutschland und Frankreich rückt näher.

Militarisierung der EU

Die Militarisierung der EU ist in vier Bereichen sehr weit vorangeschritten:

  • Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die in diesem Jahr einsatzfähig sein soll.
  • Zweitens – und das wird in der Diskussion häufig übersehen – in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps.
  • Drittens durch die Oligopolisierung und Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie.
  • Viertens – und das ist neu – durch die Gründung von »Battle Groups«. Deutschland, Großbritannien und Frankreich wollen sieben bis neun Gefechtsgruppen zu je etwa 1.500 Mann einrichten, die innerhalb von 15 Tagen für Militäreinsätze auf der ganzen Welt von 30 bis 120 Tagen Dauer mobilisiert werden können. Diese »Battle Groups« sollen „in voller Kompatibilität mit den Fähigkeiten der NATO entwickelt“ werden.

Die EU-Interventionstruppe

Die EU-Staaten haben schon seit längerem die Bildung einer EU-Interventionstruppe vereinbart. Insgesamt haben die Regierungen der EU (mit Ausnahme Dänemarks, das sich nicht an der militärischen Komponente der EU beteiligt) und der EU-Kandidaten ca. 100.000 SoldatInnen »angemeldet«, von denen 60.000 für ein Jahr permanent weltweit einsatzfähig sein sollen. Diese Interventionstruppe soll innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig sein. Selbst der Interventionsradius von 4.000 km rund um Brüssel wurde verbindlich festgelegt, allerdings wurde er beim ersten »Probeeinsatz« im Kongo schon überschritten. Die EU-Interventionstruppe ist keine »stehende Truppe«, sie wird aus den bereitgehaltenen Truppenkontingenten jeweils zusammengestellt.

Politisch interessant ist die Zusammensetzung der Truppe: Österreich 3.500, Belgien 1.000, Großbritannien 12.500, Finnland 2.000, Frankreich 12.000, Griechenland 3.500, Irland 1.000, Italien 6.000, Luxemburg 100, Niederlande 5.000, Portugal 1.000, Schweden 1.500. Deutschland stellt mit 18.000 das mit Abstand größte Kontingent – fast ein Drittel der EU-Interventionstruppe.

Um 18.000 einsatzfähige SoldatInnen zu haben, sind 32.000 notwendig, die extra dafür ausgebildet werden. Dieses wurde von der Bundesregierung auch zugesagt. Zugesagt wurden außerdem 93 Kampf-, 35 Transport- und 3 Überwachungsflugzeuge, vier Kampfhubschrauber und Einheiten der Marine.

Die Fähigkeiten der Bundeswehr beziehen sich vor allem auf die Bereiche Strategische Aufklärung, Führungsfähigkeit und Strategische Verlegefähigkeit. Der Befehlshaber der EU-Truppe wird der deutsche General Rainer Schuwirth. Der wahrscheinliche Kern eines »Operation Headquarters« der Europäischen Union ist das Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow. Die FAZ (10.07.2001) über die Befehlszentrale in Potsdam: „Mit dem Einsatzführungskommando verfügt die Bundeswehr über einen operativen Führungsstab auf der Armee-Ebene, der in seinen Funktionen Aufgaben wahrnimmt, die in den früheren deutschen Armeen von Generalstäben wahrgenommen wurden.“

Bei den EU-Planungen geht es darum, eine Interventionstruppe zu schaffen, die mit oder ohne Rückgriff auf das NATO-Equipment, also unabhängig von der NATO und damit auch unabhängig von der USA, agieren kann. Auf der Homepage der Bundesregierung hört sich das so an: „Diese Kräfte in Form einer europäischen Eingreiftruppe sollen für gemeinsame Einsätze der EU unabhängig von der NATO zur Verfügung stehen.“ (www.bundesregierung.de) Auch wenn Solana die NATO „nicht als Konkurrent, sondern als strategischen Partner“ sieht, Militärinterventionen der EU, an denen die US-Regierung kein Interesse hat oder bei denen sogar andere US-Interessen vorliegen, bergen die Gefahr in sich, dass es zu deutlichen Zuspitzungen im Verhältnis EU – USA kommt.

Die multinationalen Korps

Zentrales Element der EU-Militärpolitik sind die seit langem bestehenden diversen multinationalen Korps. Hier gibt es

  • das Eurokorps mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen und luxemburgischen Truppen,
  • das Eurofor mit Truppen aus Spanien, Frankreich, Italien und Portugal,
  • das Euromarfor bestehend aus Truppen der gleichen Länder,
  • die europäische Luftfahrtgruppe mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen, italienischen und britischen Verbänden,
  • die in Deutschland befindliche Multinationale Division unter britischer Führung mit deutschen, belgischen und niederländischen Truppen
  • und das in Afghanistan zum Einsatz kommende Deutsch-Niederländische Korps, dem zeitweise dort die »Lead-Nation-Funktion« übertragen wurde.

Seit September 2002 ist das Eurocorps bei der NATO als »Rapid Reaction Corps« anerkannt. Der Vorzeigetruppe der EU soll die Führung der Afghanistan-Schutztruppe ISAF übertragen werden. „Weiter ist beabsichtigt, der Nato auch die operative Führung“ des noch laufenden Krieges in Afghanistan „zu übertragen.“ (FAZ, 04.02.2004) Nach Angaben der FAZ werden die dazu erforderlichen Truppenverstärkungen in der Nato auf 5.000 bis 14.000 Mann geschätzt. Das läuft auf eine Zusammenlegung der beiden bisher aus guten Gründen getrennt geführten Operationen »Enduring Freedom« und »ISAF« hinaus. Im Rahmen von »Enduring Freedom« wurden und werden die Kriegs- und Kampfeinsätze in Afghanistan durchgeführt, an denen sich zeitweise auch Soldaten des deutschen Kommando Spezialkräfte beteiligten. »ISAF« war bisher »nur« für die so genanntenen Stabilisierungseinsätze zuständig. Mit dem Bundestagsbeschluss zum Einsatz von Soldaten in der Region Kundus wurde allerdings eine erste Aufweichung dieser harten Trennung vorgenommen.

EU-Truppen in den Irak?

Die USA wünschen offensichtlich eine offizielle Rolle der NATO bei der Besatzung des Irak. Wie beim Treffen der NATO-Militärminister im Kontext der Münchner »Sicherheitskonferenz« im Februar 2004 besprochen, soll beim nächsten Treffen der NATO-Militärminister in Istanbul, im Juni 2004, eine NATO-Operationsplanung für den Irak beschlossen werden. Für den Einsatz gegen Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres sind 30.000 bis 45.000 Soldaten in der Diskussion. Als Hauptquartiere sind das Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) in Mönchengladbach und das Deutsch-Niederländische Korps im Gespräch. „In beiden Führungsstäben stellt die Bundeswehr einen Großteil des Personals“, so die FAZ (04.02.2004). Deutsche Soldaten wären dann durch ihre Beteiligung an den Führungsstäben konkret in die Besatzungspolitik des Iraks eingebunden. Die Anti-Irakkriegsposition der deutschen Regierung – bereist angekratzt durch die indirekte Unterstützung der US-Militäroperationen von deutschem Boden aus und durch die Hilfestellung für die US-Armee im Kriegsumfeld – wäre damit endgültig in sich zusammengebrochen.

Ausblick

Für die französische Militärministerin, Michele Alliot-Marie, ist die Militärzusammenarbeit zum Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. In einem Interview mit der FAZ (05.02.2004) stellt sie fest: „Die Irak-Krise hat die Verteidigungszusammenarbeit in der EU nicht zurückgeworfen, das Gegenteil ist der Fall. Die Verteidigung ist ein Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. Sie kommt schneller voran als damals die Währungsunion.“

In seiner Eröffnungsrede zur Hannovermesse 2003 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den Zusammenhang hergestellt zwischen dieser Aufrüstungspolitik und dem sozialen Kahlschlag in unserem Land. Er begründete die Notwendigkeit der Agenda 2010 damit, dass „Deutschland seine Rolle in Europa und damit Europa seine Rolle in der Welt … spielen will und soll.“ Man müsse das „Land ökonomisch in Stand setzen, auch die Kraft zu haben und sie diesem Europa zur Verfügung zu stellen, um diese Rolle realisieren zu können.“ (www.bundesregierung.de, eingesehen am 07.04.2003)

Die Erkenntnis ist alt: Geld kann man nur einmal ausgeben, entweder für eine Hochrüstung oder für Bildung und Soziales. Neu ist, dass sich ein sozialdemokratischer Kanzler so absolut offen zu Gunsten der Militarisierung und gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung entscheidet.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden

Old Europe nach dem Irakkrieg

Old Europe nach dem Irakkrieg

von Jochen Hippler

Der Krieg sollte, so Präsident Bush, seit Anfang Mai im Wesentlichen vorüber sein, die größeren Kampfhandlungen galten seitdem als abgeschlossen. Das war reichlich voreilig, in gewissem Sinne hat mit der Eroberung des Irak durch die US-Truppen der eigentliche Kampf erst begonnen: der um die tatsächliche Kontrolle und Gestaltung dieses Landes. Und diese Auseinandersetzung, dieser »Nach-Krieg« ist in den letzten Monaten eskaliert. Er wird mit wirtschaftlichen, politischen, aber auch militärischen Mitteln geführt und erfolgt zunehmend blutig: der November war der bisher verlustreichste Monat der Besatzungstruppen. Zunehmend geraten nun auch Kräfte der US-Verbündeten ins Visier des Widerstandes. Eine Stabilisierung zeichnet sich noch immer nicht ab, und ein glaubwürdiges und Erfolg versprechendes Konzept Washingtons für eine stabile Nachkriegsordnung, die zugleich die eigenen Interessen sichert, ist weiterhin nicht erkennbar.

Angesichts dieser im Irak weiter unklaren Situation drängt sich die Frage auf, wie sich die damalige »Anti-Kriegs-Koalition« um Frankreich, Deutschland, Russland und China heute auf den weiterschwelenden Konflikt bezieht. Diese Koalition war ja ohnehin sehr heterogen, sie verfügte über keine positive, gestaltende Strategie, sondern war sich nur in der Ablehnung einer rücksichtslosen, unilateral und militaristisch angelegten Politik der Bush-Administration einig. Der Streit ging nur nebenbei um den Irak, vor allem um die Zurückweisung einer als hemdsärmelig empfundenen Art der US-Führungsrolle – nicht um die Bestreitung der US-Führungsrolle an sich. Frankreich hatte sich noch bis Mitte Januar auf eine Beteiligung am Krieg eingestellt und war erst umgeschwenkt, als die Bush-Administration nicht nur auf dem Krieg bestand, sondern Freund und Feind, UNO und Völkerrecht, vor allem aber seinen Verbündeten deutlich seine Geringschätzung zu verstehen gab. Ebenso wenig war die Ablehnung der anderen Akteure prinzipiell begründet, sondern oft gegen den Stil – nicht die Substanz – Bush’scher Politik gerichtet, z.T. opportunistisch oder innenpolitisch verursacht. Viele so nahe liegenden wie berechtigte Einwände waren ja nicht öffentlich erhoben worden: schließlich waren ja die völkerrechtlichen Grundlagen der Kriege gegen Serbien und Afghanistan nicht substantieller als beim Irak-Krieg, und zumindest beim Kosovo-Krieg hatte man die UNO ebenfalls umgangen – was die späteren Kriegsverweigerer nicht weiter gestört hatte. Washington hatte sich bei der Durchsetzung des Irak-Krieges eben nicht als kooperativer Hegemon, sondern als imperialer Rabauke aufgeführt – das hatte die Kriegsgegner verärgert, nicht der Krieg an sich.

Zugleich aber war von vornherein klar, dass die Anti-Kriegs-Koalition die USA weiterhin als zentralen Partner betrachtete und betrachten musste. Washington war, blieb und ist der für Paris, Berlin, Moskau und Peking zentrale internationale Partner in der Sicherheits- Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Das Gewicht der USA als einzige Supermacht ist so beträchtlich, dass keines dieser Länder mittelfristig einen ernsthaften Bruch mit Washington riskieren würde. Deshalb begannen sofort nach dem Streit Anstrengungen zur Überwindung der Auseinandersetzungen. Dabei entstanden bald ernste Risse in der Anti-Kriegs-Koalition: Moskau bemühte sich besonders schnell und deutlich um eine Wiederannäherung an die USA und setzte damit Frankreich und Deutschland unter Druck. Die neue Sichtweise war bereits schnell in der UNO zu erkennen:

Im Mai 2003 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat dann die Resolution 1483, in der nach dem Irakkrieg die Rolle der UNO und der Besatzungsmächte im Irak geregelt wird. In dieser Resolution wurde der Irak-Krieg zwar nicht explizit nachträglich legitimiert, aber in den entscheidenden Punkten kam der Sicherheitsrat den USA weit entgegen. Zwar betonte die Resolution stärker als die zuvor bekannt gewordenen US-Entwürfe eine Rolle der UNO im Irak. Aber zugleich erklärte sie die Besatzungsbehörden nicht nur zum Schlüsselpartner bei der Zusammenarbeit, sondern übertrug ihnen praktisch die Regierungsmacht und die Verfügungsgewalt über die irakischen Ressourcen (Artikel 13, 16, 17 und 20). Alle Mitglieder des Sicherheitsrates, auch Frankreich und Deutschland, stimmten diesem Beschluss zu. Im Oktober 2003 folgte eine ebenfalls einstimmig verabschiedete Resolution 1511, in der der Sicherheitsrat noch einige Schritte weiter ging und die UNO-Mitglieder aufforderte, Truppen und finanzielle Mittel für den Irak bereitzustellen, obwohl etwa Berlin, Paris und Moskau das für sich selbst weiter ablehnten.

Das Problem der Ablehnungsfront lag aber nicht allein beim gestörten Verhältnis zu Washington, sondern auch darin, kein eigenes Konzept für einen Nachkriegsirak zu haben. Sie kann kein Interesse daran haben, dass der Irak nach dem Krieg zu einem regionalen oder gar globalen Herd der Instabilität und Gewalt wird, will aber mit gutem Grund die US-Politik dem Land gegenüber nicht unterstützen, um den Krieg nicht nachträglich zu legitimieren. Die Kriegsverweigerer verfügen im Irak selbst über keinen Einfluss und kaum Präsenz, also über keine Möglichkeit, an den US-Besatzern vorbei Politik zu betreiben. Dieser Widerspruch zwischen strategischem Stabilisierungsinteresse und einer Politik der Verweigerung gegenüber Bush ist nicht auflösbar – auf Dauer werden sich die Skeptiker deshalb schrittweise weiter auf Washington zu bewegen. Dies dürfte mittelfristig leichter werden, weil die US-Regierung durch ihre zunehmenden Schwierigkeiten im Irak ebenfalls gezwungen ist, stärker auf die internationale Gemeinschaft zuzugehen und um Personal und Geld zu bitten.

Prof. Dr. Jochen Hippler lehrt am Institut Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen

Effizienz kontra Transparenz

Effizienz kontra Transparenz

Das Netzwerk europäische Rüstungsindustrie

von Hannes Baumann

Seit Ende des Kalten Krieges ist die europäische Rüstungsindustrie zu einem transnationalen Netzwerk aus Beteiligungen und Joint Ventures zusammengewachsen.1 Diese Strukturveränderung beeinflusst auch das Verhältnis zwischen nationalen Regierungen und der Industrie. Einerseits ist es nicht gelungen, das volle Potenzial der Internationalisierung für den Abbau von Überkapazitäten zu realisieren. Andererseits verschlechtert sie die Transparenz der Rüstungsproduktion, gibt den großen Rüstungskonzernen gesteigerte Marktmacht und könnte zu einer Aushöhlung der Exportkontrollpraxis führen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten die westeuropäischen Staaten ihre Rüstungsproduktion auf nationaler Ebene. Der Sektor war durch Artikel 223 der Verträge von Rom und später durch Artikel 296 der Amsterdamer Verträge von der Liberalisierung des Binnenhandels ausgeschlossen. Nach Ende des Kalten Krieges hinterfragten die europäischen Regierungen dieses System. Das hatte drei Gründe. Erstens verteuerte sich der Preis anspruchsvoller Militärtechnik immerfort. Staaten konnten es sich gar nicht mehr leisten, die gesamte Palette an Waffensystemen in Eigenregie herzustellen. Zweitens sanken die Beschaffungshaushalte, nachdem die Gefahr einer sowjetischen Invasion gebannt war. Regierungen bestellten immer geringere Stückzahlen der sich verteuernden Waffensysteme, was den Einzelpreis weiter in die Höhe trieb. Drittens hatte die liberale Wirtschaftspolitik der 80er Jahre ein Klima geschaffen, in dem die strikte Regulierung des Rüstungssektors zunehmend als anachronistisch angesehen wurde.

Diese Faktoren schufen ein Freihandelsparadigma für den europäischen Rüstungsmarkt, das unter anderem von der Interessenvertretung der Industrie, der European Defence Industries Group (EDIG), vertreten wird.2 Demnach würde die Liberalisierung des Handels mit Rüstungsgütern zu entscheidenden Effizienzsteigerungen führen. Die Industrie würde grenzüberschreitend konsolidieren. Rüstungskonzerne wären in der Lage, Synergien und Größenvorteile zu realisieren und so Überkapazitäten abzubauen. Verschiedene Länder könnten sich auf bestimmte Waffensysteme spezialisieren, denn in einem vereinigten Europa brauchten die Staaten keine Angst vor gegenseitigen Abhängigkeiten zu haben. Der freie Wettbewerb zwischen den Anbietern würde die Verhandlungsposition der Regierungen verbessern, da mehr Wettbewerb unter den Rüstungsanbietern herrschen würde. Allerdings müsste ein gemeinsamer europäischer Rüstungsmarkt geschaffen und eine europäische Beschaffungsagentur eingerichtet werden, um die Nachfrage zu vereinheitlichen. Die großen Konzerne könnten außerdem in Konkurrenz mit ihren amerikanischen Rivalen besser bestehen, und es könnte ein ausgewogener transatlantischer Rüstungsmarkt entstehen. Die Exportkontrollpolitik von EU-Staaten mit Drittländern müsste harmonisiert werden, um die von der Industrie empfundene Benachteiligung der Unternehmen in Länder mit restriktiveren Kontrollen zu beenden. Ein Verteidigungsökonom, der diesen Standpunkt vertritt, errechnete, dass die europäischen Beschaffungskosten auf diese Weise um bis zu 17 Prozent sinken könnten.3

So weit die Theorie. Doch wie weit wurde diese Internationalisierung und Liberalisierung realisiert? Und was sind die Folgen für das Verhältnis von Regierungen und Industrie?

Im Sommer 1999 zimmerten deutsche, französische und spanische Industrielle das erste grenzüberschreitende Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen zusammen. Aus DASA (Deutschland), Aérospatiale Matra (Frankreich) und CASA (Spanien) entstand die European Aeronautic Defence and Space Company (EADS). Die deutsche, französische und spanische Regierung unterstützten die Fusion, die von der Industrie forciert wurde.4 Neben EADS gehören die britische BAE Systems und das französische Thales zu den Rüstungsgiganten des Kontinents. BAE Systems hat eine starke transatlantische Orientierung und erwirtschaftet 34% seines Umsatzes in Nordamerika.5 Thales hat Tochterunternehmen in 53 Ländern und beschreibt sich selbst als eine »multi-domestic company« – eine Unternehmen, dass überall zu Hause ist.6Die Entstehung großer Firmenimperien entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, und die Evolution der EADS traf auf starkes Medieninteresse. Das wahre Ausmaß der Verflechtung findet jedoch jenseits der Militär- und Finanzpresse nur ein geringes Echo. Seit 1989 dokumentiert das SIPRI Arms Production Project die Strukturveränderungen in der Rüstungsindustrie.7 Es entstanden unzählige grenzüberschreitende Joint Ventures, Fusionen, Übernahmen und Beteiligungen. Die Tabellen 1 und 2, die dem SIPRI Jahrbuch 2003 entnommen sind,8 geben einen Eindruck dieser Verflechtung. Das Ausmaß der Internationalisierung lässt sich nur schlecht quantifizieren, da die Firmen ihre militärische und zivile Produktion meist nicht getrennt verbuchen.Die Internationalisierung hat eine transatlantische Dimension, denn es kam auch hier zu Übernahmen und JointVentures. Die bevorzugte Kooperationsform sind jedoch »teaming arrangements«, bei denen transatlantische Konsortia sich um Beschaffungsaufträge bewerben. In Ländern außerhalb der USA engagieren sich europäische Unternehmen vor allem im Rahmen so genannter direkter Offsets. Demnach verlangen Regierungen bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen, dass ein Teil des Kaufpreises in Rüstungsunternehmen des Landes reinvestiert wird. Die europäische Rüstungsindustrie ist also in ein globales Netzwerk eingebunden. Manche Analysten sprechen gar von einer »Globalisierung« der Rüstungsproduktion.9 Doch erstens ist die Internationalisierung vor allem ein europäisches Phänomen. Zweitens sind die »globalen Produktionsnetzwerke« in der Rüstungsindustrie weit weniger entwickelt als in anderen verarbeitenden Industrien. Während zum Beispiel in der zivilen Schiffbauindustrie die Produktion von Schiffskörpern in Länder wie Südkorea und Japan verlagert wurde, verlangen die Vergabeaufträge der meisten europäischen Marinestreitkräfte, dass der Schiffskörper im Heimatland gefertigt wird.Trotz der Initiativen der Industrie konnten die erhofften Effizienzsteigerungen nur teilweise realisiert werden. Der Abbau von Überkapazitäten oder die Realisierung von Synergien ist nur selten das Ziel bei Beteiligungen und Joint Ventures. Durch Investitionen in fremde Rüstungsindustrien hoffen Unternehmen vielmehr, Zugang zum Rüstungsmarkt dieser Länder zu erhalten. Das Beispiel des Raketenherstellers MBDA ist symptomatisch. Das Joint Venture von EADS, BAE Systems und Finmeccanica wurde im Dezember 2001 formell gegründet, hat aber die zu Beginn angekündigte Rationalisierung durch Entlassungen bisher nicht realisiert. Das Unternehmen hat nach wie vor rund 10.000 Beschäftigte an 12 Standorten.10Die europäischen Rüstungsgiganten sind keine multinationalen Unternehmen, wie sie im zivilen Bereich existieren. Sie sind »multi-domestic«, denn sie bedienen keinen gemeinsamen europäischen Markt, sondern viele nationale (»domestic«) Märkte mit militärischem Gerät, das auf nationale Anforderungen zugeschnitten ist und vor allem in nationalen Produktionsstätten gefertigt wird. Außerdem haben Regierungen die Freiheiten des Artikels 296 genutzt, um nationale Produktionskapazitäten zu bewahren. Während Großprojekte im zivilen Bereich europaweit ausgeschrieben werden müssen, dürfen Regierungen ihre Streitkräfte bevorzugt mit einheimischem Gerät ausrüsten. Rüstungsunternehmen dürfen auch in einem Maße subventioniert werden, wie es unter EU-Wettbewerbsregeln im zivilen Bereich unmöglich wäre. Das beste Beispiel ist das französische Staatsunternehmen GIAT. Seit 1991 hat die französische Regierung den Panzerhersteller mit 3,5 Milliarden Euro unterstützt, und sie hat weitere 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahr 2006 bereitgestellt.11 Anstatt also Kapazitäten aufzugeben – zum Beispiel durch Spezialisierung verschiedener Länder auf bestimmte Waffensysteme – haben Regierungen versucht, möglichst viele Produktionskapazitäten im eigenen Land zu erhalten.Das Verhältnis zwischen Regierung und Industrie wird zu großen Teilen durch die relative Marktmacht der beiden Seiten bestimmt. Grob gesagt verbessert sich die Verhandlungsposition einer Regierung mit steigender Anzahl an Bewerbern für Beschaffungsaufträge. Die Internationalisierung birgt Chancen und Risiken für den Wettbewerb. Einerseits können Regierungen den Wettbewerb von Unternehmen außerhalb des Landes nutzen, um preiswertere Waffensysteme zu erwerben. Gerade die britische Regierung verfolgt schon seit Mitte der 80er Jahre eine solche Beschaffungspolitik. Trotzdem hat sie große Probleme, dieser Strategie treu zu bleiben. Im vergangenen Jahr traten BAE Systems und Thales gegeneinander an, um zwei Flugzeugträger für die britische Marine zu bauen. Der britische Verteidigungsminister signalisierte, dass BAE Systems nicht bevorzugt würde, nur weil es ein britisches Unternehmen sei.12 BAE Systems hatte gefordert, Großaufträge automatisch zugeschlagen zu bekommen, da sonst Großbritannien seine Fähigkeiten in der Rüstungsproduktion auf lange Sicht hin verlieren würde.13 BAE Systems unterstrich die Dramatik ihrer Forderung indem sie 1.000 Werftarbeiter entließen.14 Am Ende vergab die Regierung Blair den Auftrag an BAE Systems. Die Episode zeigt, wie schwer sich nationale Regierungen tun, den offenen Wettbewerb gegen industrielle Interessen durchzusetzen. Die Internationalisierung beinhaltet die Gefahr, dass ein »Oligopol« auf der Anbieterseite entsteht, dass also Regierungen bei der Beschaffung von einer kleinen Anzahl transnationaler Rüstungsgiganten abhängig werden. In den USA ist die Konsolidierung bereits so weit fortgeschritten, dass die wenigen übrig gebliebenen Konzerne eine besorgniserregende Marktmacht erlangt haben.15Bei der Internationalisierung sind aber nicht nur die Effizienzversprechungen enttäuscht worden, sie birgt auch friedenspolitische Risiken, da die Transparenz der Rüstungsproduktion sinkt. Ein Beispiel ist der niederländische Elektronikhersteller Hollandse Signaalapparaten, der zu Thales gehört. Seit 2001 veröffentlichen die Franzosen keine Zahlen zur Rüstungsproduktion dieses Unternehmens mehr.16 Das schafft zwar ein sauberes Image, doch es verschleiert die Herstellung von Kriegsmaterial vor der Öffentlichkeit und erschwert die Debatte über die Rüstungsindustriepolitik. Die Initiative der Europäischen Kommission, die Industrie mit Hilfe von Daten ihres Statistikbüros EUROSTAT und des Europäischen Statistischen Systems (ESS) zu überwachen, könnte Abhilfe schaffen.17 Es bleibt zu hoffen, dass diese Daten öffentlich zugänglich gemacht werden.Der zweite Schwachpunkt ist der Effekt der Internationalisierung auf die Exportkontrolle von Rüstungsgütern. Die wichtigsten Dokumente für die Europäisierung der Exportkontrollpolitik sind das »Framework Agreement« von 200018 und der Verhaltenskodex der EU für Waffenausfuhren von 199819. Das »Framework Agreement« wurde unter großer Geheimhaltung von den Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Schwedens und Spaniens unter Beteiligung der Rüstungsindustrien dieser Länder ausgehandelt. Das Ziel ist eine Vereinfachung des Transfers von militärischen Gütern zwischen diesen Ländern, aber auch eine Harmonisierung der Regeln für Exporte in Drittländer. Es ist die bisher deutlichste Manifestation des Freihandelsparadigmas. Der EU-Verhaltenskodex zielt ebenfalls auf eine Harmonisierung der Exportkontrollen ab, er wurde allerdings öffentlich unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erstellt. Die Rüstungsindustrie war gegen den Kodex, da er Exportmöglichkeiten zu beschneiden drohte.20Durch eine Harmonisierung der Exportkontrolle könnten Länder mit restriktiveren Bestimmungen unter Druck geraten, ihre Regulierung zu lockern. Deutschland und Schweden werden hier gerne als Beispiele angeführt. EDIG fordert zum Beispiel, dass Regierungen ihr Vetorecht aufgeben sollen, wonach Länder, die Komponenten für kooperativ hergestellte Waffensysteme liefern, ein Mitspracherecht bei der Wahl der Endempfänger besitzen.21 1999 zum Beispiel verweigerte die Bundesregierung eine Lizenz zur Ausfuhr von deutsch-französischen Tiger Helikoptern in die Türkei. In der Praxis wird von dem Vetorecht jedoch nur selten Gebrauch gemacht.22 In dem »Framework Agreement« wurde das nationale Veto aufgeweicht. Demnach geben die Regierungen die fallweise Lizensierung für Komponententransfers für kooperative Rüstungsprojekte zwischen den Unterzeichnerstaaten auf. Stattdessen stellen sie eine »weiße Liste« derjenigen Länder zusammen, in die das Waffensystem exportiert werden darf. Die Liste wird in Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne parlamentarische Kontrolle zusammengestellt und auch später nicht veröffentlicht. Nationalen Regierungen bleibt immer noch eine Notbremse, denn durch ein einseitiges Veto können sie Länder von der Liste streichen. Allerdings steht zu befürchten, dass die Länder mit dem größerem Anteil an kooperativen Programmen – also normalerweise die größten Rüstungsproduzenten Frankreich und Großbritannien – auch den größeren Einfluss auf die Zusammenstellung der Liste haben werden. Und gerade in diesen Ländern hat die Industrie auch den größeren Einfluss auf die Exportkontrollpolitik.23EDIG geht jedoch noch weiter und fordert, nationalen Regierungen die Kontrolle über den Transfer von Rüstungskomponenten gänzlich zu nehmen. Dasjenige EU-Land solle die endgültige Exportentscheidung treffen, in dem ein Waffensystem endproduziert wird.24 Eine solche Regelung wäre ein Anreiz für die Industrie, die Endproduktion in Länder mit einer weniger restriktiven Exportkontrollpolitik zu verlagern. Umgekehrt kämen Länder mit restriktiveren Regeln unter Druck, diese abzuschwächen, um die Rüstungsproduktion im eigenen Land zu halten. Weder das »Framework Agreement« noch die jüngste Mitteilung der EU-Kommission gehen so weit, den EDIG Vorschlag realisieren zu wollen. Allerdings zeigt das Beispiel, wie ein falsch konstruierter gemeinsamer europäischer Rüstungsmarkt dazu führen könnte, dass die Industrie auf Kosten nationaler Regierungen an Einfluss gewinnt.

Die Europäisierung der Rüstungsexportkontrolle hält allerdings auch ein Beispiel für demokratische Partizipation und Transparenz auf EU-Ebene bereit. Das Europäische Parlament schlug 1992 den EU-Verhaltenskodex vor. Im Gegensatz zu den geheimen Regierungsverhandlungen über das »Framework Agreement« wurde die Formulierung des EU-Verhaltenskodex von NGOs begleitet. Der Kodex enthält einen Mechanismus gegenseitiger Konsultationen, der verhindern soll, dass die restriktivere Exportkontrollpolitik einiger Staaten von anderen Ländern ausgenutzt und unterwandert wird (Operative Bestimmungen 3). Im Vordergrund steht also nicht die Liberalisierung des Rüstungsmarktes, sondern eine Harmonisierung der Exportkontrolle auf der Basis restriktiver Regelungen.

Am Ende sollte noch erwähnt werden, wie vielschichtig das Verhältnis zwischen Regierungen und Industrie ist. Der europäische »militärisch-industrielle Komplex« ist keineswegs ein monolithischer Block, denn entscheidende Gegensätze zwischen Industrien verschiedener Länder sind bestehen geblieben. Es ist symptomatisch, dass jede nationale Industrie ihre Interessen vor allem durch Industrievereinigungen im eigenen Land vertritt, dass EDIG also relativ schwach ist. Das ist natürlich nur so lange der Fall, wie die Nationalstaaten das letzte Wort in der Rüstungsindustriepolitik haben. Allerdings verstärkt es auch die Gegensätze zwischen den nationalen Industrien. Eine Spezialisierung bestimmter Länder auf bestimmte Waffensysteme würde die Verlierer eines solchen Prozesses auf die Barrikaden treiben – gegen die nationale Regierung. Das Beispiel der britischen Flugzeugträger beweist, dass sich die Industrie gegen Einschnitte zu wehren weiß. Obwohl EDIG einer der lautstärksten Vertreter der Freihandelsidee ist, werden nationale Industrien die Nachteile ablehnen, die mit der Rationalisierung einhergehen. Zu den Verlierern könnte zum Beispiel der deutsche Luftfahrtbereich oder die französische Heeresindustrie gehören. Vor allem Unternehmen in kleineren Ländern, wie zum Beispiel Spanien, profitieren vom Protektionismus im Rüstungsbereich, da sie sich nicht gegen die stärkeren Industrien Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens durchsetzen könnten.25

Die versprochenen Effizienzsteigerungen durch die Internationalisierung der Rüstungsindustrie wurden nicht ausreichend realisiert, weil das einen gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt voraussetzen würde. Die Schaffung eines solchen Marktes birgt allerdings Risiken. Die Transparenz der Rüstungsproduktion könnte leiden, es könnte zu einer »Kartellisierung« unter den Konzernen kommen, die Kontrolle des Transfers von Rüstungsgütern innerhalb der EU und in Drittländer könnte schwieriger werden. Nationale Regierungen müssen also weiter zwischen zwei Zielen lavieren. Einerseits die Kosten der Rüstungsproduktion auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und andererseits die Kontrolle über den Rüstungssektor zu behalten. Der EU-Verhaltenskodex ist ein Beispiel dafür, wie Aspekte der Rüstungspolitik auf europäischer Eben unter Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Gruppen reguliert werden können.

Anmerkungen

1) Mit der europäischen Rüstungsindustrie sind Unternehmen in den Ländern der Europäischen Union gemeint.

2) Siehe dazu u.a. European Defence Industries Group (EDIG): EDIG Contribution to the Convention on the Future of Europe for ESDP, Brüssel, 18. September 2002. Hartley, K.: The future of the European Defence Policy: An economic perspective, Defence and Peace Economics, 2003, Vol. 14(2).

3) Hartley, 2003, S. 110.

4) Schmitt, B.: From Cooperation to Integration: Defence and Aerospace Industries in Europe, Chaillot Paper no. 40, Western European Union Institute for Security Studies, Paris, July 2000, S. 29-39.

5) Sowohl im Rüstungs- als auch im zivilen Bereich. BAE Systems Annual Report 2002, Februar 2002, S. 53.

6) Thales Website, besucht am 23. Mai 2003, http://www.thalesgroup.com/home/countries/ow_all_companies/ow_all_companies.htm, http://www.thalesgroup.com/ga/profile/figures.htm

7) http://projects.sipri.se/milex.html

8) Sköns, E. und Baumann, H.: Arms Production, SIPRI: SIPRI Yearbook 2003: Armaments Disarmament and International Security, Oxford University Press, Oxford, 2003.

9) Hayward, K.: The Globalisation of Defence Industries, Survival, vol. 42, no. 2, Summer 2000, S. 115-132.

10) Hill, L. und Mulholland, D.: BAE, EADS and Finmeccanica seal missile merger deal, Jane’s Defence Weekly, 2. Mai 2001, S. 21. MBDA Pressemitteilung: MBDA and Bharat Dynamics Limited Signed a Strategic Memorandum of Understanding, 7. Februar 2003.

11) Giat Industries Job Losses Confirmed, Air Letter, 9. April 2003, S. 1.

12) British Ministry of Defence: Defence Industrial Policy, Policy Paper no. 5, Directorate General Corporate Communication, London, 2002, S. 4.

13) Nicoll, A.: Plain Speaker Waves the Union Jack, Financial Times, 3. Juli 2002, S. 21.

14) Odell, M.: BAE Cuts Jobs as Contract Decision Looms, Financial Times, 22. Januar 2003, S. 23.

15) Markusen, A. und Costigan, S. S.: The Military Industrial Challenge, Markusen, A. and Costigan, S. S.: Arming the Future, A Defense Industry for the 21st Century, Council on Foreign Relations Press, New York, 1999, S. 3-36.

16) Laut Nachfrage von Ton van Oosterhout, Mitglied im SIPRI Arms Production Network.

17) Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission – Europäische Verteidigung – Industrie und Marktaspekte; Auf dem Weg zu einer Verteidigungsgüterpolitik der Europäischen Union, KOM(2003) 113, Brüssel, 11. März 2003, S. 15.

18) »Framework Agreement between The French Republic, The Federal Republic of Germany, The Italian Republic, The Kingdom of Spain, The Kingdom of Sweden and The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland Concerning Measures to Facilitate the Restructuring and Operation of the European Defence Industry«, Farnborough, 27 July 2000, http://projects.sipri.se/expcon/loi/indrest02.htm.

19) Rat der Europäischen Union: Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren, 8. Juni 1998, http://www.bundesregierung.de/Themen-A-Z/Sicherheitspolitik-,1311/Verhaltenskodex-der-EU-fuer-Wa.htm

20) Davis, I.: Regulation of Arms and Dual-Use Exports in a Transnational Defence Industrial Environment: The EU Code of Conduct on Arms Exports, Serfati, C. (Hrsg.): The Restructuring of the European Defence Industry: Dynamics of Change, Office for Official Publications of the European Communities, Luxemburg, 2001, S. 92.

21) EDIG, Juni 2000.

22) Davis, 2001, S. 96.

23) Davis, 2001, S. 97.

24) EDIG, Juni 2000.

25) Walker, W. und Gummett, P.: Nationalism, Internationalism and the European Defence Market, Chaillot Paper No. 9, Western European Union Institute for Security Studies, Paris, September 1993, S. 24.

Hannes Baumann arbeitet seit Mai 2002 als Research Assistant im SIPRI Arms Production Project, Stockholm. Als Koautor mit Elisabeth Sköns trug er zum SIPRI Yearbook 2003 bei.

Neues vom Aufbau der EU-Militärunion

Neues vom Aufbau der EU-Militärunion

von Lars Klingbeil und Paul Schäfer

Wissenschaft und Frieden hat wiederholt über die Bemühungen berichtet, die EU auch zu einer Art Militärunion zu machen. Zuletzt hat sich Volker Böge ausführlich mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt (Schritt für Schritt und immer schneller, in W&F 3/2000). Die dort getroffenen Feststellungen behalten ihre Gültigkeit. Der folgende Beitrag ist daher im Wesentlichen eine Fortschreibung.
Wurden mit den EU-Gipfeln in Köln und Helsinki die Weichen für ein neues, militärisch gestütztes Machtzentrum im globalen Wettbewerb gestellt, so hat in der Folgezeit die Kärrnerarbeit der Umsetzung begonnen. Die in Helsinki beschlossenen Zielvorgaben für die Streitkräfte (Headline Goals) sollen schließlich bis 2003 verwirklicht werden. Eine Schnelle Eingreiftruppe im Umfang von ca. 60.000 Soldaten soll dann bereit stehen, um Krisen in und um Europa, aber auch darüber hinaus »bewältigen« zu können.

Auf drei Konferenzen hat sich die Europäische Union Ende des Jahres 2000 mit dem Vorantreiben des Vorhabens »militärgestützte Machtprojektion« beschäftigt:

  • Beim Treffen der Außen- und Verteidigungsminister am 13. November in Marseille wurde im Wesentlichen die Überführung der WEU in die EU besiegelt. Der EU wurden in Sonderheit übertragen: Der militärische Generalstab, das Satellitenzentrum in Torrejon, das Institut für Sicherheitsstudien.
  • Auf einer sogenannten Beitragskonferenz (Capability Commitment Conference) am 20. November in Brüssel legten die Mitgliedsstaaten ihre militärischen Kapazitäten fest, die sie in die Rapid Reaction Force einbringen wollen.
  • Beim EU-Gipfel in Nizza, der vom 7.-9. Dezember stattfand, wurde der Weg geebnet, um endgültig die nötigen Entscheidungsstrukturen für das Krisenmanagement zu schaffen. Zugleich wurden in Nizza Festlegungen getroffen, wie die ungeklärten Fragen im Verhältnis zur NATO bzw. zu den NATO-Staaten die nicht in der EU sind, angegangen werden sollen.

Die Brüsseler Beitragskonferenz

Auf dieser Konferenz wurde die Größe des Einsatzkontingents von 60.000 Soldaten bestätigt. Dies läuft darauf hinaus, dass die EU insgesamt zwischen 150.000 und 200.000 Soldaten für Kriseneinsätze »vorhalten« will – eine ganz erkleckliche Zahl, die aber noch nichts über die wirkliche Kriegführungsfähigkeit aussagt. Soweit bekannt haben die Mitgliedsstaaten die in der Tabelle 1 festgehaltenen Beiträge zugesagt.

Die Beiträge der Länder sind in einem inzwischen recht umfangreichen »Streitkräfte-Katalog« enthalten, der ständig fortgeschrieben werden soll. Er umfasst zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Pool von mehr als 100.000 Soldaten, annähernd 400 Kampfflugzeuge und 100 Schiffe. Die EU-Streitmacht soll in begrenztem Maße schon Ende dieses Jahres einsetzbar sein. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und spätere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, vermutet allerdings, dass die Europäer damit bestenfalls „einfache Aufgaben, wie humanitäre Einsätze und Katastrophenhilfe“1 lösen können. Noch bleiben also die militärischen Defizite der westeuropäischen Staaten erheblich. Sie betreffen die Bereiche Transport, Luftbetankungsfähigkeiten, Satellitenaufklärung, Abstandswaffen und nicht zuletzt Kommando- und Gefechtsführungssysteme. Hier bleibt die EU noch längere Zeit auf die von den USA im Rahmen der NATO bereitgestellten Einrichtungen und Fähigkeiten (assets and capabilities) angewiesen. Dies macht u.a. die Verhandlungen EU-NATO so brisant.

Die Konferenz von Brüssel hat neben der Bestandsaufnahme noch einmal die Felder benannt, auf denen besondere Anstrengungen in der nahen Zukunft gemacht werden sollen: militärische Frühwarnung, gemeinsame Hauptquartiere, Vorbereitung des Aufbaus eines gemeinsamen Lufttransportkommandos, Erhöhung der Anzahl der unmittelbar einsetzbaren Kontingente, Verstärkung der strategischen Seetransport-Fähigkeiten.

Defizite in diesen Bereichen sind in einem sog. Helsinki Progress Catalogue aufgelistet, der weiter präzisiert und fortgeschrieben werden soll.

Der Gipfel von Nizza

In Nizza wurden durch die Annahme des Berichtes des Vorsitzenden die drei bisherigen Interimsgremien zur Gestaltung der ESVP (Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee, Militärausschuss, Militärstab) in ständige Ausschüsse der Europäischen Union überführt.

Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK)

Dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) kommt dabei die Rolle als »Motor« der ESVP zu. Seine Aufgabe ist es, die „internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen“ und Stellungnahmen an den Rat zur Gestaltung seiner Politik abzugeben. Das PSK nimmt die „politische Kontrolle und strategische Leitung“ der militärischen Operationen der Europäischen Union wahr. Der Hohe Vertreter für die GASP kann durch Konsultation des Rates im Krisenfall den Vorsitz des Komitees übernehmen. Die Vertreter im PSK sind an ihre nationalstaatlichen Weisungen gebunden.

Der Militärausschuss

Das zweite Gremien ist der Europäische Militärausschuss (EUMC), das „höchste militärische Gremium im Rahmen des Rates“. Er dient als Bindeglied des PSK zum Militärstab (EUMS). Der Ausschuss berät den PSK und der Vorsitzende nimmt, wenn erforderlich, an den Sitzungen des PSK teil. Zusammengesetzt ist der EUMC aus einem Generalstabschef bzw. militärischen Delegierten der Nationalstaaten. Ihm unterliegt die „militärische Leitung aller militärischen Aktivitäten im Rahmen der Union“. Den Vorsitz nimmt ein Vier-Sterne-General/Admiral in der Regel für drei Jahre wahr. Er berät zudem den Hohen Vertreter in militärischen Angelegenheiten.

Der Militärstab

Der Militärstab soll laut Vorsitz-Bericht aus Helsinki „innerhalb der Ratsstrukturen (…) für die GESVP militärischen Sachverstand und militärische Unterstützung bereitstellen, auch in Bezug auf die Durchführung EU-geführter militärischer Krisenbewältigungsoperationen.“ In Nizza wurde diese Funktion bestätigt. Der Militärstab (EUMS) dient der Union als „Quelle für militärisches Fachwissen“. Er unterstützt dabei den Militärausschuss hinsichtlich der militärischen Aspekte der strategischen Planung. Ihm obliegen die drei operativen Hauptfunktionen: Frühwarnung, Lagebeurteilung und strategische Planung. Der EUMS stellt gemäß den »Dauervereinbarungen« ständige Beziehungen zur NATO und künftig auch zur UNO und zur OSZE her. Der Stab ist als Abteilung des Ratssekretariats unmittelbar dem Hohen Vertreter unterstellt und setzt sich aus Personal der Mitgliedstaaten zusammen. Für den Stab sind 120 Stellen vorgesehen.2

Personalia

Am 26. März wurde der finnische General Gustav Hägglund zum Vorsitzenden des EU Militärausschusses gewählt. In einer Kampfabstimmung setzte er sich mit 8:7 Stimmen gegen den Italiener Mario Arpino durch. Mit ausschlaggebend war dabei die Stimme Deutschlands für den Finnen. Die USA verheimlichten nicht, dass sie einen Vorsitz aus einem NATO-Partnerland bevorzugt hätten. Der deutsche Generalleutnant Rainer Schuwirth leitet zukünftig den EU-Militärstab. Er setzte sich in einer Kampfabstimmung gegen den französischen Kandidaten durch.

Einsatzplanungen

Beim möglichen Einsatz der Schnellen Eingreiftruppen stellen sich für die EU zwei Probleme. Erstens: Was passiert mit den Nicht-EU-, aber NATO-Mitgliedern, die ggf. beteiligt werden sollen? Zweitens: Wie lassen sich verlässliche Regelungen mit den USA bezüglich des für unverzichtbar gehaltenen Rückgriffs auf NATO-Kapazitäten treffen?

Beide Themen sollen noch möglichst innerhalb dieses Jahres abgearbeitet werden. Der Gipfel von Nizza hat Kriterien verabschiedet, mit denen die EU in die jeweiligen Verhandlungen gehen wird.

Nicht-EU/NATO-Mitglieder

Hier hat man sich auf folgendes Verfahren verständigt: In einer Krisensituation erarbeitet die Europäische Union zunächst verschiedene Optionen (Das PSK beauftragt über den Militärausschuss den Militärstab verschiedene militärstrategische Optionen für einen Einsatz auszuarbeiten und dann legt das PSK wiederum eine Entscheidung fest). Hat man sich auf eine Einsatzmodalität festgelegt, werden die Nicht- EU-Staaten, die sich an der Aktion beteiligen wollen, informiert. In einem Komitee, das während des Einsatzes zusammenkommt, sind dann alle sich beteiligenden Staaten vertreten. Das Ende der Operation legt wiederum der Rat der Europäischen Union fest, allerdings in Kooperation mit den weiteren beteiligten Staaten.

Problemfall Türkei

Die Türkei hat die Verhandlungen zwischen der EU und der NATO bisher dadurch blockiert, dass sie auf ihrem vollen Mitentscheidungsrecht bei EU-Einsätzen bestanden hat. In der Tat könnte sie als NATO-Mitglied ihre Zustimmung zum Zugriff der EU-Truppe auf die Planungskapazitäten und militärischen Geräte der NATO verweigern. Sie kann dies allerdings nur so lange, wie den USA dieses Pokerspiel zupass kommt.

Klar ist: Die Türkei will über die NATO-Mitgliedschaft ihren Anspruch auf EU-Aufnahme untermauern. Sie verweist zusätzlich darauf, dass von den insgesamt sechzehn potenziellen Konfliktszenarien, die von der NATO ausgemacht werden, sich dreizehn in unmittelbarer Nachbarschaft zur Türkei befinden. Dass heißt: Die Türkei ist unter geostrategischen Gesichtspunkten sowohl für die NATO als auch für die Europäische Union von größter Bedeutung; und die Türkei will ihrerseits im sich möglicherweise anbahnenden Great Game in der ressourcenreichen Kaspi-Region kräftig mitmischen. Das Pokerspiel kann also noch eine Weile weitergehen.

Während die Türkei öffentlich gewarnt wird, sie verbaue sich durch die Blockade den EU-Beitritt, und Außenminister Joseph Fischer vorsichtig damit droht, dass das Vorgehen der Türkei die EU zu einer Duplizierung von NATO-Strukturen zwingen könnte3, wird hinter den Kulissen heftig beratschlagt. Die Briten haben inzwischen einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der bilaterale Seitenabsprachen zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und der Türkei über Schutzgarantien vorsieht. Welcher Art diese Garantien sein sollen, ist öffentlich nicht bekannt. Eine endgültige Einigung konnte auch auf der NATO-Ministerratstagung am 29.-30. Mai 2001 in Budapest nicht erreicht werden.

Rückgriff auf NATO-Kapazitäten

Für den Fall, dass auf Kapazitäten der NATO zurückgegriffen werden muss, soll es zu einer gemeinsamen Sitzung von PSK und Nordatlantikrat kommen, um die genauen Modalitäten festzulegen. Die Formulierungen im Bericht des EU-Vorsitzes an den Gipfel von Nizza bleiben jedoch unklar. Die NATO soll in dem Moment Kapazitäten entziehen können, in dem sich ein Nato-Einsatz nach Artikel V anbahnt bzw. ein Einsatz der NATO nach Konsultationen mit der EU als prioritär erachtet wird. Wie soll das funktionieren?

US-Verteidigungsminister Rumsfeld warnte auf der Sicherheitskonferenz in München am Anfang des Jahres vor verwirrenden Doppelstrukturen und Störungen des transatlantischen Verhältnisses.4 Die virulenten Widersprüche zwischen europäischen Autonomie-Bestrebungen und dem US-Interesse an Dominanzsicherung, die bereits Volker Böge eingehender beschrieben hat, werden sich in der Zukunft weiter verschärfen. Die USA wollen schon im Vorfeld von Einsätzen der Europäischen Union mitentscheiden und nicht erst Einfluss nehmen können, nachdem sich die Europäische Union auf eine Einsatzoption festgelegt hat. Dies wird umso leichter fallen, wenn die EU-Eingreiftruppe auf NATO- und besonders auf USA-Kapazitäten zurückgreifen muss.

Während sich die Zusammenarbeit im vergangenen Herbst recht gut anließ – ein erstes Treffen zwischen der NATO und dem PSK der EU fand am 20. September 2000 statt und bei der Formulierung der »Headline Goals« für die Einsatztruppe gab es eine intensive Zusammenarbeit – wurde die gemeinsame High Level Task Force in der Folge durch die Türkei blockiert. Erst in jüngster Vergangenheit fanden wieder gemeinsame Treffen statt, bei denen über Einsatzregularien und den sogenannten Berlin-Plus-Prozess (beim Berliner NATO-Gipfel wurden die sog. Combined Joint Task Forces vereinbart) geredet wurde. Die Tagungsfrequenzen auf Minister- bzw. Botschafterebene sollen erhöht werden.

Die transatlantischen Divergenzen

Währenddessen geht der Streit über die Ausrichtung der Euro-Streitkraft – ob autonom oder US-abhängig – weiter.

Am 18. März erklärte der britische Premier Tony Blair unumwunden: „Wenn wir nicht in die europäische Verteidigung involviert wären, würde sie ohne Großbritannien auf den Weg gebracht. Dann würden diejenigen, die tatsächlich die Zerstörung der NATO auf der Agenda haben, die Kontrolle darüber haben.“5 Blair wollte damit wohl der neuen US-Administration unter George W. Bush versichern, dass England fest an der Seite der Supermacht steht.

Am 28. März sagte der französische Heereschef, General Jean-Pierre Kleche, dass eine europäische Streitkraft unabhängige militärische Planung brauche, um Verantwortung zu übernehmen. „Warum sollten wir hierfür auf die NATO zurückgreifen?“6 Prompt kam die Antwort über den britischen Admiral Michael Boyce, dass eine solche selbstständige Planungskapazität nicht erwünscht sei.

Noch kann man den grundsätzlichen und strategischen Streit dieser beiden Protagonisten durch Formelkompromisse übertünchen. Noch kann sich die deutsche Position indifferent zeigen. Aber der Punkt wird irgendwann erreicht werden, an dem es heißen wird: Hic Rhodos, hic salta.

Kurzer Ausblick: Schwedische Ratspräsidentschaft…

Schweden, das ja bekanntlich kein Mitglied der NATO ist, will den zivilen Krisenbewältigungsaspekt stärken und die Kooperation mit der OSZE intensivieren. Es hat angekündigt, auf dem Gipfel von Göteborg ein operativ angelegtes Programm der Konfliktprävention verabschieden lassen zu wollen. Schweden hat jedoch auf dem Gipfel von Nizza gleichzeitig die Aufgabe übernommen, die Gespräche mit der NATO voranzutreiben und die Arbeiten an einem Überprüfungsmechanismus für die militärischen Fähigkeiten der EU fortzusetzen. Die gegenwärtig tatsächlich intensivierten Bemühungen um zivile Krisenmanagement-Fähigkeiten können zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Schritte Bestandteil des gesamten Krisenmanagements sind. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich, dass unter »zivil« fast ausschließlich Mittel zur Herstellung eines Gewaltmonopols von außen verstanden werden (Polizei, Rechtsprechung). Die NATO-Protektorate auf dem Balkan sind offenkundig verhaltensprägend. Große Skepsis ist also mehr als angebracht, wenn Bundesaußenminister Fischer diese Kombination von ziviler und militärischer Krisenbewältigung geradezu zum Markenzeichen der Europäischen Union machen will.

…Belgisches Mandat

Am 15. Dezember hat die belgische Regierung erste Arbeitsvorhaben für den Bereich der Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vorgestellt, die sie im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft behandeln will. Auf einer Politischen Konferenz soll es um die Perspektiven militärisch gestützter Krisenbewältigung gehen. Eine weitere Beitragskonferenz, die die militärischen Kapazitäten der EU weiter präzisieren soll, wird gleichfalls noch 2001 stattfinden. Formal will die belgische Regierung zwar ein Gleichgewicht zwischen den zivilen und den militärischen Entwicklungen herstellen und auch die zivilen Aspekte des Krisenmanagements, wie auf dem Gipfel von Feira verabredet, weiterentwickeln. Doch die in der Praxis zu registrierende Fokussierung auf die militärischen Instrumente hat in Belgien schon einigen Widerspruch von Parlamentariern der Grünen Partei und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen hervorgerufen.

Anmerkungen

1) Klaus Naumann, Die Europäer hinken weit hinterher, in: Berliner Morgenpost vom 21. Mai 2001.

2) Rechnet man 40 Stellen hinzu, die beim EU-Ministerrat für die sog. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen werden sollen (z.T. allerdings Umbesetzungen), dann entwickelt sich allmählich ein Apparat, der von nicht unbeträchtlichem Ausmaße ist.

3) Controversy over EU access to Nato capabilities, European Security Review, No.4, March 2001

4) SZ, Ärger über Junior-Partner, 05.02.2001

5) Sunday Telegraph vom 18.03.2001, zit. nach bits-NEWS-press-report vom 27.04.01

6) The Daily Telegraph, 28. März 2001

Lars Klingbeil, Student der Politologie, ist Vorsitzender der Jungsozialisten in Nordniedersachsen und für die Initiative für Frieden (IFIAS) in der Redaktion von W&F.
Paul Schäfer, Diplom-Soziologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der PDS-Bundestagsfraktion und in der Redaktion von W&F seit der ersten Ausgabe.

EU-USA: Zunehmende Differenzen?

EU-USA: Zunehmende Differenzen?

von Jürgen Nieth

Europa kommt – und zwar mächtig. So jedenfalls sieht es aus, glaubt mensch den Schlagzeilen der Presse in den letzten Wochen.

Der „alte Kontinent (attackiert) die Wirtschaftsmacht USA“, titelt der Spiegel (Nr. 22-2000). Trotz schwächelndem Euro, trotz gewaltigem Vorsprung der USA, entdeckt er „wohin man auch blickt (…) ein neues europäisches Selbstbewusstsein“ und deutliche Anzeichen für eine erfolgreiche Aufholjagd der EuropäerInnen. Dokumentiert im schneller steigenden Aktienindex, Erfolgen in der Top-Technologie und der Herausbildung neuer Superkonzerne. Beispiele: Vodafone-Mannesmann als Nr. 1 im Mobilfunk und Nokia als Nr.1 bei den Mobilfunkgeräten, Daimler-Chrysler unter deutscher Führung und mit dem Zusammenschluss von Aerospatiale Matra, DASA und Aeronauticas zur European Aeronautic Defence and Space Companie (EADS) rückt in der Luft- und Raumfahrt ein europäischer Konzern auf Platz 2 in der Welt, der sich anschickt auch in der Rüstungsproduktion zum wichtigsten Konkurrenten der US-Konzerne zu werden.

Wer aber die US-amerikanische Politik der letzten Jahrzehnte betrachtet, weiß, dass die USA jederzeit bereit sind zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen und ihre Supermachtposition auszureizen, wenn es um ihre ökonomischen Interessen geht. Wie heißt es doch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 1997: „Unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen sind unauflösbar miteinander verbunden.“

Schon heute beinhaltet das Verhältnis Europa-USA wesentlich mehr Differenzen, als die Herrschenden beiderseits des Atlantiks zugeben möchten. Vieles deutet darauf hin, dass diese weiter zunehmen werden und zwar sowohl im ökonomischen, im politischen wie auch im militärischen Bereich.

Auffälligstes Beispiel ist die gegenwärtige Debatte um die Neue Raketenabwehr der USA – dem Nachfolgemodell von Regans-SDI-Plänen.

Der US-Präsident will noch in diesem Sommer das Ja geben zum Bau eines Raketenabwehrsystems und damit eine Politik festschreiben, die statt auf Rüstungskontrolle auf einseitige militärische Stärkung setzt. Eine Politik, die den ABM-Vertrag aushebelt und Anlass gibt zu einem erneuten Wettrüsten.

Ein funktionierendes Raketenabwehrsystem würde auch innerhalb der NATO Zonen unterschiedlicher Sicherheit schaffen. Hinzu kommt, dass die USA ihre »Verbündeten« vor vollendete Tatsachen stellen, die diese nicht beeinflussen, sondern nur ablehnen oder akzeptieren können. Die maximale Ausnutzung der Hegemonialposition wird den Dissens vertiefen, sie zwingt die EU-Staaten, sich zu emanzipieren.

So unausweichlich wie diese Emanzipation ist, so kompliziert ist sie allerdings auch. Zum einen ist offen, ob die EU in diesem Prozess zu einer eigenen und einheitlichen Interessenvertretung findet. Zum anderen geht es darum, welche Politik im Mittelpunkt einer europäischen Emanzipation steht: Kommt es über den Weg einer eigenen Militärmacht zu einer Militarisierung Europas oder findet Europa den Weg zu einer Zivilisierung der Außenpolitik?

Eigentlich liegt auf der Hand, dass auch eine noch so große militärische Überlegenheit nicht in der Lage ist, internationale Probleme zu lösen. Das haben die USA in Vietnam erfahren, Russland in Afghanistan, die NATO am Golf usw. Auch der Misserfolg des ersten Kriegseinsatzes der Bundeswehr gegen Jugoslawien dürfte nicht zur Nachahmung reizen.

Doch gerade diesen Konfliktherd kannte die westeuropäische Gemeinschaft seit Jahren. Jetzt gibt es zaghafte – leider auch halbherzige – Schritte hin zu einem Stabilitätspakt für den südlichen Balkan. Vor zehn Jahren wäre eine solche Initiative sicher ein wichtiger Beitrag gewesen, um die Konflikte im zerfallenden Jugoslawien zivil zu bearbeiten. Noch vor zwei Jahren waren die europäischen Staaten nicht einmal bereit alle 3.000 OSZE-BeobachterInnen, die sie selbst beschlossen hatten, zur Konflikteindämmung im Kosovo einzusetzen. Heute ist dort auf unbegrenzte Zeit im Rahmen der KFOR ein Mehrfaches an Soldaten stationiert. Das demonstriert nicht nur, um wie viel teurer die militärische Variante – von den Kriegskosten ganz abgesehen – gegenüber der zivilen Konfliktbearbeitung ist, es zeigt vor allem, dass in den Köpfen der Regierenden nach wie vor das Denken in militärischen Kategorien dominiert.

So sind dann auch große Zweifel angebracht, dass die EU-Staaten die Chance des Einigungsprozesses nutzen, um die Armeen drastisch zu verkleinern und die Wehretats deutlich zu senken; dass eine Emanzipation Europas von den USA zur Entwicklung einer Politik genutzt wird, der es darum geht, Konflikte rechtzeitig zu erkennen und sich politisch und ökonomisch einzumischen um sie zu lösen, bevor sie in eine Gewaltspirale entgleiten; dass Europa endlich seine ökonomische und politische Potenz in die Waagschale wirft für eine Zivilisierung der Außenpolitik.

Jürgen Nieth

Schritt für Schritt und immer schneller

Schritt für Schritt und immer schneller

Die Militarisierung der europäischen Integration

von Volker Böge

Anfang März 2000, also knapp ein Jahr nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, haben neue – dezidiert militärpolitische – Gremien der Europäischen Union ihre Arbeit aufgenommen, darunter ein »Politisches und sicherheitspolitisches Interims-Komitee« und ein »Interimsgremium militärischer Delegierter«. Das Wörtchen »interim« in den Benennungen dieser Institutionen verweist auf ihren zwischenzeitlichen, provisorischen, ihren Übergangscharakter. Frage: Übergang wohin? Antwort: Zu einer Militärgroßmacht EU. Bei der Etablierung dieser Gremien handelt es sich lediglich um den jüngsten Schritt einer Entwicklung, die im offiziellen Jargon mit der Formel »Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« belegt wird.

Entsprechende Bestrebungen haben seit dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien eine neue Dynamik gewonnen. Haben doch »die Europäer« – also die Regierungen der wichtigsten in der EU zusammengeschlossenen Staaten – ihre ganz eigenen »Lehren« aus Verlauf und Ausgang des Krieges gezogen. Dieser Krieg war auch eine Veranstaltung, mit der die USA den EuropäerInnen drastisch ihre militärische Überlegenheit vor Augen geführt und deutlich gemacht haben, dass in der westeuropäisch-nordamerikanischen Konkurrenz jedenfalls auf dem Felde von Rüstung, Militärtechnologie und militärischen Apparaten die EU-Staaten weit abgeschlagen sind.

Der Krieg als Vater
der EU-Militarisierung

Die Haupt»last« des Krieges haben eindeutig die USA getragen; letztlich wären sie durchaus in der Lage gewesen, die Operation militärisch im Alleingang durchzuziehen. Demgegenüber hätten die EU-EuropäerInnen den Krieg allein, ohne die USA, niemals führen können. Diese Verteilung der Gewichte hatte selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Entscheidungsbildung auf politischem, strategischem und taktischem Gebiet – bis in die Zielauswahl hinein. Und so beklagten sich die EuropäerInnen denn auch über ihre relative Einflusslosigkeit hinsichtlich des konkreten Ablaufs der militärischen Aktionen.

Die Schlussfolgerung, die aus dieser Konstellation gezogen wurde, war: Um sich aus der Abhängigkeit von den USA – wenigstens ein Stück weit – zu lösen, müssten die EuropäerInnen ihre militärischen Anstrengungen verstärken, müsse namentlich die EU eine eigene sicherheits- und militärpolitische Kompetenz entwickeln.1 Nur so könne man sich in Zukunft gegenüber den USA mehr Gehör verschaffen. Der eigenen Öffentlichkeit wurde und wird diese Argumentation – insbesondere von der rot-grünen Bundesregierung – »friedenspolitisch« verbrämt und mit populärem anti-amerikanischen Unterton verkauft: In den USA herrsche ja bekanntlich eine militärische »Hau-drauf«-Mentalität vor, die sich aus der Arroganz der – militärischen – Macht speise; demgegenüber seien »wir Europäer« (und vor allem »wir Deutschen«) sehr viel zurückhaltender, stärker auf zivile Konfliktregelung orientiert und militärischem Draufschlagen eher abhold. Um dieser zivilisierteren europäischen Attitüde künftig mehr Gewicht zu verleihen, müssten »wir« allerdings auch gewisse Anstrengungen unternehmen, um uns militärisch von den USA unabhängig(er) zu machen.2

Neu ist dabei nicht so sehr die Absicht, sondern der frische Schwung, mit dem seit dem Krieg gegen Jugoslawien an die praktische Umsetzung herangegangen wird. Schon im Vertrag von Maastricht und noch prononcierter im Amsterdamer Vertrag ist die Rede davon, dass die EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln müsse, die schließlich auch die Verteidigungspolitik umfassen und letztlich in die gemeinsame Verteidigung münden solle. Damit war zwar ein Ziel proklamiert; über den Weg dorthin und die Dauer, bis das Ziel erreicht sein würde, war allerdings noch nichts gesagt. Vielmehr herrschten hierüber Unklarheit und offensichtlich auch erhebliche Differenzen. Das hat sich seit dem Krieg geändert. Man ist in der EU stärker zusammengerückt und drückt aufs Tempo. Deutlich wird das etwa an einer britisch-französischen Annäherung in Fragen europäischer Militärpolitik, die in der jüngsten Vergangenheit sogar zu einigen gemeinsamen britisch-französischen Initiativen geführt hat.3 Das ist insofern bemerkenswert, als bisher Briten und Franzosen innerhalb der EU die am weitesten auseinander liegenden Vorstellungen über die europäische Militärpolitik hatten. Die Briten waren und sind traditionell stark transatlantisch und NATO-orientiert, pflegen ihre »special relationship« mit den USA und wollten eine Europäisierung von Sicherheits- und Militärpolitik nur in Unterordnung unter die NATO – und damit die US-Führung – zulassen. Die Franzosen hingegen strebten und streben in gaullistischer Tradition eine (weitestgehend) von den USA unabhängige eigenständige Militärgroßmacht Europa an.

Ein deutscher Masterplan

Diese Differenzen sind auch heute keineswegs vollends ausgeräumt, doch scheint man sich auf eine Kompromisslinie zu zu bewegen, die es erlaubt, einerseits durchaus schon einige Entscheidungen festzuklopfen und zugleich andererseits künftige Optionen offenzuhalten. Dass dies möglich wird – daran hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichen Anteil; und sie – allen voran Außenminister Josef Fischer – ist auch noch stolz darauf, dass so der Militarisierung der EU ein neuer Schub gegeben wurde. Denn entgegen allen Beteuerungen insbesondere grüner Programme, man sehe Vorzug und Stärke der EU gerade darin, dass sie »Zivilmacht« sei, wurde von deutscher Seite während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ein ausgefeilter Plan erarbeitet und vorgelegt, der eine ganze Palette handfester Maßnahmen zur »Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«4 vorsah. Damit wird das »Zivilmacht«-Image, welches schon immer wenig mit der Realität zu tun hatte – schließlich gehören die Schlüssel-Staaten der EU zu den am höchsten gerüsteten und militärisch mächtigsten der Welt und die EWG/EU war auch bereits zu Zeiten der Ost-West-Blockkonfrontation ein zentraler Bestandteil des westlichen Systems – endgültig ad acta gelegt.

Die rot-grüne Bundesregierung ließ sich bei ihrem Plan zur Militarisierung der EU von dem Gedanken leiten, dass sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU „auf glaubwürdige operative Fähigkeiten stützen können (müsse), wenn die Europäische Union in der Lage sein soll, auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitzuspielen.“ Wenn man „uneingeschränkt mitspielen“ wolle, brauche man das entsprechende »Spielzeug«, sprich „autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen“. Man benötige mithin so aparte Strukturen und Gremien wie einen EU-Militärstab einschließlich eines Lagezentrums, ein Satellitenzentrum, einen EU-Militärausschuss, ein ständiges Gremium in Brüssel (politischer und sicherheitspolitischer Ausschuss) bestehend aus VertreterInnen mit politischer/militärischer Expertise sowie regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister.

Das alles sei erforderlich, damit die EU in die Lage versetzt werde, die so genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können. Auf dem Petersberg bei Bonn hatte sich die WEU (Westeuropäische Union) anläßlich ihrer Außen- und Verteidigungsministertagung am 19. Juni 1992 bereits zuständig erklärt für „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedenschaffender Maßnahmen“ – also Militärinterventionen. Diese Petersberg-Aufgaben machte sich die EU mit dem Amsterdamer Vertrag zu eigen.

Nun geht es folglich darum, die militärischen Fähigkeiten der EU so zu entwickeln, dass sie „auch für Krisenbewältigungsoperationen geeignet sind“. Deswegen müssen die Streitkräfte der Zukunft folgende »Haupteigenschaften« haben: „Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Interoperabilität, Flexibilität und Mobilität“. Das heißt, man orientiert sich auf eine eindeutig offensiv- und interventionsfähige Auslegung der eigenen militärischen Mittel. Es geht nicht um Verteidigung der Territorien der EU-Mitgliedstaaten, sondern um die Fähigkeit zur Militärintervention fern der Heimat.

Hierfür wiederum wurden im Plan der deutschen Ratspräsidentschaft zwei Varianten in Betracht gezogen, nämlich „EU-geführte Operationen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“ oder „EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“. Variante Nummer eins entfernt sich nicht allzu weit vom Status quo. In den letzten Jahren haben sich US-AmerikanerInnen und EU-EuropäerInnen in zähem Ringen darauf geeinigt, den europäischen Staaten die Möglichkeit zu eigenständigen militärischen Interventionen ohne Beteiligung der USA zu verschaffen – allerdings nur unter Rückgriff auf Strukturen und Potenziale der NATO und bei Zustimmung der NATO, womit sich die USA Einfluss und Kontrolle sicherten. Das 1998 von der NATO in Berlin verabschiedete Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) setzt diese Einigung operativ um: NATO-Hauptquartiere können von Fall zu Fall für je spezifische NATO- oder EU/WEU-geführte Operationen herangezogen werden. Die Formel, die hierfür gefunden wurde, war: trennbar, jedoch nicht getrennt. Das heißt, einheitliche (nicht getrennte) militärische Strukturen und Potenziale können von Fall zu Fall getrennt zum Einsatz gebracht werden, je nachdem, ob es sich um eine NATO-Operation unter Beteiligung der USA oder um eine europäische Aktion ohne Beteiligung der USA handelt. Auf diese Weise sollten Duplizierungen militärischer Anstrengungen vermieden werden. Den USA war diese Regelung recht, weil so zum einen keine Parallelstruktur neben der (und letztlich in Konkurrenz zur) NATO aufgebaut wurde, die NATO also die einzige militärisch handlungsfähige Instanz blieb und damit die USA aufgrund ihrer Vormachtstellung in der NATO die Kontrolle behielten, und weil so zum anderen tatsächlich eine gewisse Entlastung der USA erreicht werden konnte: Sie konnten die EuropäerInnen allein aktiv werden lassen, wenn US-amerikanische Interessen ein Mitmachen nicht geboten erscheinen ließen. Den EuropäerInnen war diese Regelung fürs Erste auch recht, weil sie die Möglichkeit bekamen, gegebenenfalls allein aktiv zu werden, auch wenn die USA nicht mittun wollten, und dabei auf NATO-Strukturen zurückzugreifen, also Kosten zu sparen, weil man nicht in den Aufbau von Parallelstrukturen investieren musste. Es blieb das Dilemma, dass man letztlich weiterhin von den USA abhängig war.

Weitaus brisanter war daher die Variante Nummer zwei des deutschen Plans: EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO. Sie nämlich verließ den Boden des mühsam ausgehandelten transatlantischen Kompromisses. Ginge es hier letztlich doch darum, eigenständige, von der NATO und damit den USA unabhängige militärische Interventionskapazitäten zu schaffen. Ob das tatsächlich realisierbar ist und von allen EU-Mitgliedern im Konsens angestrebt werden wird, war bei Vorlage des Plans im ersten Halbjahr 1999 noch offen – und ist es auch gegenwärtig noch. Die entsprechende Entwicklung steht ganz am Anfang. Vorerst hat man sich im EU-Kontext auf Maßnahmen verständigt, die sowohl immer noch in den Rahmen der Variante eins einpassbar sind als auch auf die Variante zwei hinführen können. Diese Doppelwertigkeit und Doppeldeutigkeit ist politisch gewollt; zum einen, um Konsens über die entsprechenden Schritte zu erhalten, zum anderen, um – wie bereits angesprochen – Optionen für die Zukunft offen zu halten.

Von der schrittweisen zur beschleunigten Militarisierung der EU

Vor diesem Hintergrund muss man die Beschlüsse interpretieren, die auf der Basis der oben ausführlich zitierten deutschen Vorlage5 auf dem Kölner EU-Gipfel am 3. und 4. Juni 1999 zur GASP getroffen wurden, die dann auf dem Dezember-Gipfel in Helsinki fortgeschrieben und konkretisiert wurden und die schließlich im Frühjahr 2000 zur Etablierung der oben genannten Interimsgremien geführt haben. In der Kölner Gipfelerklärung »Zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«6 heißt es: „Wir sind davon überzeugt, dass der Rat bei der Verfolgung der Ziele unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die Möglichkeit haben sollte, Beschlüsse über die gesamte Palette der im Vertrag über die Europäische Union definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten »Petersberg-Aufgaben«, zu fassen. Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“ Entsprechend verpflichtete man sich auf „den Ausbau von wirksameren europäischen militärischen Fähigkeiten (…) und insbesondere die Stärkung unserer Fähigkeiten in den Bereichen strategische Aufklärung, strategischer Transport sowie Streitkräfteführung“ – also just jenen Bereichen, die für erfolgreiche Militärinterventionen fern der Heimat besonders wichtig sind und in denen Europa bisher den USA weit hinterher hinkt.

Konkret wurde in Köln beschlossen, das Amt eines Hohen Repräsentanten der EU für die GASP zu schaffen (»Mister GASP«) und diesem ein effektives Lage- und Krisenzentrum an die Hand zu geben. Von hoher symbolischer Bedeutung war, dass zum ersten »Mister GASP« ausgerechnet der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana bestellt wurde. Er trat sein neues Amt im Oktober 1999 an. Im November wurde er zudem Generalsekretär der WEU – auch dies ein bedeutendes Zeichen, verweist es doch auf die enge Anbindung dieses alten, aber stets im Schatten der NATO dahin kümmernden, westeuropäischen Militärbündnisses an die EU. In der Tat wurde in Köln auch das Ziel formuliert, bis Ende des Jahres 2000 die WEU in die EU zu integrieren. Damit würde die EU vollends eine militärische Komponente erhalten, und der Dauerdisput um die Rolle der WEU – ist sie nun eher europäischer Pfeiler der NATO oder eher militärischer Arm der EU ? – wäre zu Gunsten der zweiten Option entschieden.

Mit der Integration der Aufgaben, Kompetenzen und Strukturen der WEU in die EU wäre für die EuropäerInnen zudem das Problem gelöst, welches sich bisher daraus ergab. Dass der WEU vertragsgemäß der Aufbau einer eigenständigen militärischen Struktur zusätzlich zu jener der NATO nicht gestattet war; das gilt für die EU nicht, sie hat mithin in dieser Hinsicht sehr viel größeren Handlungsspielraum.7

Der EU-Gipfel in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 brachte weitere wichtige Schritte: Beschlossen wurde, die EU „in die Lage (zu) versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen“.8

Bis zum Jahre 2003 sollen dafür die Voraussetzungen geschaffen werden. Dann sollen 50 bis 60.000 Soldaten (etwa 15 Brigaden) sowie Luft- und Seestreitkräfte und die entsprechenden Kommandostrukturen für Krisenreaktionseinsätze der EU bereit stehen (wohlgemerkt: explizit für Einsätze außerhalb der EU; mit Verteidigungsanstrengungen hat das Ganze mithin nichts zu tun). Innerhalb von 60 Tagen sollen diese Kräfte einsatzbereit und auf einen fernen Krisen- und Kriegsschauplatz verlegbar sein; sie sollen eine Durchhaltefähigkeit von mindestens einem Jahr im Einsatz fern der Heimat haben. Stellt man in Rechnung, dass diese Kräfte regelmäßige Ablösungen brauchen, kommt man auf rund 180.000 Soldaten für diese EU-Interventionsstreitmacht. Freilich ist nicht die Aufstellung neuer Verbände beabsichtigt, sondern bereits der NATO assignierte Kräfte erhalten einen zweiten Auftrag.

Ferner einigte man sich in Helsinki – auch hierin dem deutschen Vorschlag im Wesentlichen folgend – darauf, dass zur institutionellen Absicherung künftiger militärischer Aktivitäten der EU ein ständiges sicherheitspolitisches Komitee auf Botschafterebene sowie ein Militärausschuss und ein militärischer Arbeitsstab etabliert werden.9

Die eingangs erwähnten Interimsgremien, deren Einrichtung die EU-Außenminister bei einem Treffen in Brüssel am 14. Februar 2000 beschlossen und die sich bereits Anfang März 2000 konstituierten, sind Vorläufer dieser Organe, die im Jahre 2001 ihre Arbeit aufnehmen sollen.10 Das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« setzt sich aus VertreterInnen der Politischen DirektorInnen der Mitgliedsstaaten zusammen, es tagt wöchentlich und soll Empfehlungen für die Fortentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erarbeiten. Das Interimsgremium militärischer Delegierter (Vorläufer des in Helsinki beschlossenen Militärausschusses) besteht aus Abgesandten der nationalen Generalstabschefs, trifft sich zweimal jährlich und berät als höchstes militärisches EU-Gremium das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« und den »Mister GASP«. Zudem fanden sich auch bereits militärische Experten im EU-Ratssekretariat ein, die später den in Helsinki ebenfalls beschlossenen Militärstab bzw. einen EU-Generalsstab bilden sollen. Sie basteln schon mal an möglichen Einsatzszenarien für die EU-Streitmacht der Zukunft.11

Beim nächsten EU-Gipfel Ende 2000 in Nizza soll die Integration der WEU in die EU vollzogen und die militärpolitische Dimension der EU vertraglich fixiert werden. Dann soll auch geklärt werden, wie stark der personelle Beitrag der einzelnen Mitgliedsstaaten zur EU-Interventionsstreitmacht ausfallen kann. Deutschland will mit zwei bis drei Brigaden dabei sein. Das rot-grüne Projekt der Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer kleineren, aber effizienteren und interventionsfähigeren Streitmacht ist auch und gerade aus dem Bestreben zu erklären, die deutsche Führungsrolle in der EU – und das heißt künftig eben auch in der Militärmacht EU – auszubauen und zu stärken. Folglich sollen die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr aufgestockt, weitreichende Transportkapazitäten geschaffen und die Logistik für länger dauernde heimatferne Expeditionen ausgelegt werden. Die Führungsstruktur der Bundeswehr wird durch die Aufstellung eines Einsatzführungskommandos als strategischem Hauptquartier und eines operativen Führungsstabes dementsprechend modernisiert.12

Hindernisse und Friktionen

Unklar ist allerdings noch, wer das bezahlen soll. Der Aufbau von weit reichenden Transportkapazitäten und der Logistik für längere Zeit heimatfern eingesetzte Expeditionskorps, die Schaffung von satellitengestützten Aufklärungs- und Kommunikationssystemen, die Entwicklung von hochmodernen (Langstrecken-)Präzisionswaffen usw. erfordern Unsummen. In Köln wurden zwar die Notwendigkeit einer „Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsbasis“ und „die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien“ zwecks „engere(r) und effizientere(r) Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen“ angemahnt und gerade in jüngster Zeit hat es bedeutende Fusionen bei den europäischen Rüstungskonzernen gegeben; doch ob das angesichts knapper finanzieller Mittel reicht, um tatsächlich im Spurt den rüstungsindustriellen und militärtechnologischen Vorsprung der USA einzuholen, ist sehr fraglich. Jedenfalls „schwiegen sich die meisten europäischen Verteidigungsminister am 28. Februar 2000 bei einem informellen Treffen in Sintra nahe der portugiesischen Hauptstadt Lissabon (über die mögliche Finanzierung der Umsetzung der Pläne für die Eingreiftruppe – V.B.) aus. (…) zur Realisierbarkeit eines französischen Vorschlages, nach dem alle Mitgliedsländer 0,7% ihres Bruttoinlandproduktes für militärische Investitionen aufwenden sollen“ mochte sich auch kein EU-Partner äußern.13

Aber nicht allein am schnöden Mammon können sich die hochfliegenden Pläne brechen. Auch der einzig verbliebenen militärischen Supermacht auf dieser Welt passt die ganze Richtung offensichtlich immer weniger.14 Zwar mahnen die USA seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten an, dass die EuropäerInnen im Rahmen einer „gerechteren Arbeits- und Lastenteilung“ unter den transatlantischen Bündnispartnern mehr Arbeit und Lasten übernehmen. Gerade beim Krieg gegen Jugoslawien hatte sich einmal mehr gezeigt, dass die europäischen Streitkräfte technologisch so weit hinter den US-amerikanischen zurück waren, dass eine gemeinsame Operationsführung darunter litt. Für die US-Seite war das Anlass zu fordern, die EuropäerInnen mögen sich doch bitte mehr anstrengen. US-Verteidigungsminister Cohen postulierte auf der diesjährigen Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik: „Die europäischen Staaten müssen ihre Streitkräfte verbessern. Sie müssen mehr (finanzielle) Ressourcen bereitstellen und Reformen beschleunigen“.15 Aber selbstverständlich sollten diese Anstrengungen und die Übernahme von mehr Arbeit und Lasten unter US-Führung und Kontrolle erfolgen. Eine tatsächliche rüstungsindustrielle, militärpolitische und militärische Eigenständigkeit der westeuropäischen Staaten ist nicht im Sinne der USA. Um das zu verhindern, wollten und wollen sie das Primat der von ihnen geführten NATO sicherstellen.

Gegenwärtig aber droht sich in den Augen maßgeblicher US-Außen- und SicherheitspolitikerInnen eine Dynamik zu entfalten, die den USA entgleiten könnte. Der US-amerikanische Vize-Außenminister Strobe Talbott äußerte die Befürchtung, dass die europäische Verteidigungsidentität „erst in der NATO entsteht, dann aus der NATO herauswächst und schließlich sich von der NATO wegbewegt“16 – mit den Folgen von Duplizierung militärischer Anstrengungen und militärpolitischer Konkurrenz EU-USA. Seine Chefin Madeleine Albright warnt vor den drei d's,

  • dem »decoupling«, also der Loslösung EU-Europas von den USA;
  • der »duplication«, d.h. der Verdopplung von Strukturen und Kapazitäten (NATO plus EU-Militärorganisation) und schließlich
  • der »discrimination«, der Diskriminierung (soll heißen: Ausschluss von militärpolitischen Beratungen, Entscheidungen und Maßnahmen) jener NATO-Mitglieder, die nicht Mitglied der EU sind (womit sich die USA auch zum Anwalt insbesondere des geostrategisch wichtigen NATO-Staates Türkei macht).

Um diesen Gefahren zu begegnen, fordern die USA die eindeutige formale Festlegung einer Vorrangstellung der NATO gegenüber der EU bei der »Krisenbewältigung«. Einige EU-Mitglieder – allen voran Deutschland und Großbritannien – versuchen, die USA zu beschwichtigen, indem sie formelle Strukturen des Dialogs, der Konsultation und Koordinierung NATO-EU anbieten und auch bereit scheinen, eine offizielle Festschreibung einer Art Erstentscheidungsrechtes der NATO darüber, wer denn nun intervenieren darf (die NATO selber oder die EU), zu akzeptieren. Das allerdings behagt der französischen Regierung nicht, die keinerlei Einschränkungen des Rechtes der EU zu Militärinterventionen hinnehmen will. Mit anderen Worten: „Der Wettbewerb geht um die Frage, wer in Europa die Ultimaten stellt, wer die Exempel statuiert und wer den Finger am Abzug hält“.17 Noch haben die USA angesichts ihrer klaren militärischen Übermacht und ihres großen militärtechnologischen Vorsprungs in diesem Wettbewerb die Nase vorn; einer tatsächlich eigenständigen und eigenständig interventionsfähigen europäischen Militärmacht sind nach wie vor enge Grenzen gezogen. Doch auch wenn die militärische und militärpolitische Hegemonie der USA auf absehbare Zeit unanfechtbar bleibt, so wird doch andererseits die Militarisierung der europäischen Integration von herrschender Politik in den bedeutendsten EU-Staaten unbestreitbar forciert. Das Resultat: Dem für Konfliktbearbeitung untauglichen Mittel NATO wird ein weiteres untaugliches Mittel EU-Streitmacht beigesellt.

Ob und wie die innereuropäischen und transatlantischen Widersprüche sich entwickeln, ob und wie sie von herrschender Politik eingehegt und kleingearbeitet werden können oder ob und wie sie sich verschärfen, ist gegenwärtig noch nicht auszumachen. Gewisslich aber ist für antimilitaristische Politik nichts zu gewinnen, indem man sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Positionen, die in den USA den Garanten zur Abwehr europäisch-deutscher Großmachtambitionen sehen, sind friedenspolitisch ebenso verfehlt wie Positionen, die in europäischer sicherheits- und militärpolitischer Eigenständigkeit die Chance zur Zurückdrängung der maßgeblich auf militärische Macht gestützten US-Hegemonie sehen. Friedenspolitisch ist die Wahl zwischen NATO und EU-Streitmacht eine solche zwischen Scylla und Charybdis.

Anmerkungen

1) Vgl. etwa die offizielle Position der Bundesregierung: „Der Konflikt im Kosovo hat der EU dramatisch vor Augen geführt, wie dringend und unverzichtbar die Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa ist. Nur wenn es der EU gelingt, auch auf diesem Gebiet ihre Kräfte zu bündeln und eigenständig handlungsfähig zu werden, wird Europa seine Werte und Interessen in vollem Umfang zur Geltung bringen können.“ (http://www.auswaertiges-amt.de/4_europa/7/4-7-2g.htm).

2) „Ohne die überlegene Waffentechnologie der USA hätte der Luftkrieg gegen Belgrad nicht geführt werden können. Dagegen sollen nun ebenbürtige Einsatzmittel in europäischer Hand Abhilfe schaffen. »Wir müssen es selbst können, damit die Amerikaner es nicht ohne unser Wollen tun«, ließ Bundeskanzler Schröder in einem »Spiegel«-Interview besorgt verlauten“ (Mutz, Reinhard: Europa unter falscher Flagge, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45. Jg., 2000, H. 2, S. 140-144, hier: S. 143). Vgl. auch Joffe, Josef: Ein Wunderwerk der Kontinuität. Parameter rot-grüner Außenpolitik, in: ebd., 44. Jg., 1999, H. 11, S. 1324-1335, hier: S. 1330.

3) Man kann die französisch-britische Erklärung von St. Malo vom 4. Dezember 1998, in dem die beiden Länder neue Initiativen zur Stärkung der europäischen militärischen Fähigkeiten im EU-Rahmen ankündigten, als Auftakt der gegenwärtig ablaufenden beschleunigten Militarisierung der EU sehen.

4) Siehe Bericht des Vorsitzes über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin, Nr. 49, 16. August 1999, S. 533-535. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

5) Die Bundesregierung sah mit der Billigung ihres Plans und den Beschlüssen des Kölner Gipfels „die wesentlichen Ziele“ ihrer Ratspräsidentschaft als „erreicht“ an, s. dazu Sommer, Peter-Michael: Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ergebnisse der deutschen Doppelpräsidentschaft in EU und WEU, in: Europäische Sicherheit, H.12, 1999, S. 14-18, hier: S. 16.

6) Siehe Bulletin Nr. 49, a.a.O., S. 532f. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

7) Auf der anderen Seite enthält der WEU-Vertrag anders als der die NATO konstituierende Nordatlantikvertrag keine Beschränkung des geographischen Zuständigkeitsbereichs; die WEU und damit auch die EU haben mithin im Gegensatz zur NATO kein »out-of-area«-Problem.

8) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, 18.12.1999, Sendemanuskript, S. 7f.

9) Nicht mehr als eine Fußnote wert ist die Feststellung, dass in Helsinki auch Lippenbekenntnisse zur Stärkung und Verbesserung der zivilen Krisenpräventions- und -bewältigungsmechanismen der EU abgegeben wurden. Da geht es um Studien, Datenbanken, Bestandsaufnahmen. Das alles steht in überhaupt keinem Verhältnis zur Energie und zum Aufwand, mit dem die Implementierung der militärischen Maßnahmen betrieben wird.

10) Die Etablierung der Interimsstrukturen wurde notwendig, weil für die Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki Änderungen des EU-Vertrags erforderlich sind.

11) Ebenfalls lediglich fußnotenmäßig sei festgehalten, dass selbstverständlich an eine demokratisch-parlamentarische Kontrolle aller dieser Militarisierungsschritte nicht gedacht ist; das Europäische Parlament spielt in diesem ganzen Prozess keine Rolle.

12) Vgl. dazu Scharping, Rudolf: Fähig zum Handeln. Wie Europa in der Sicherheitspolitik zum gleichberechtigten Partner Amerikas werden kann, in: Die ZEIT, Nr. 14, 30. März 2000,
S. 5.

13) Europa, quo vadis?, in: ami, 30. Jg., H. 3. März 2000, S. 11-15, hier: S. 13.

14) Noch eine Fußnote der Geschichte: Auch innerhalb der EU gibt es Bedenken und Reserven gegenüber der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor allem von Seiten der neutralen Staaten unter den EU-Mitgliedern.

15) Zitiert nach Handelsblatt, 7.2.2000, S. 12.

16) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, a.a.O., S. 8.

17) Mutz, a.a.O., S. 143. – Im Neuen Strategischen Konzept der NATO vom Frühjahr 1999 ist noch festgelegt, dass die EU nur und erst dann militärisch aktiv werden darf, wenn der NATO-Rat zuvor entschieden hat, dass sich die NATO nicht engagieren will. Doch stellt dieses Neue Strategische Konzept der NATO in der Tat nicht mehr als „einen situationsbedingten Kompromiss dar. (…) es beseitigt nicht die Spannungen zwischen der amerikanischen Dominanz und dem insbesondere von Frankreich artikulierten europäischen Wunsch nach Eigenverantwortung und Gleichberechtigung“ (Dembinski, Matthias: Von der kollektiven Verteidigung in Europa zur weltweiten Intervention?, HSFK-Standpunkte Nr. 3/ Juli 1999, S. 9).

Dr. Volker Böge ist im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Die Polizei taucht ab

Die Polizei taucht ab

Neues über die europäische Zusammenarbeit

von Mark Holzberger

Die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa spielt sich – neben einer Vielzahl unübersichtlicher informeller Gremien – vor allem in folgenden Bereichen ab: der Intensivierung der praktischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (so z.B. im Bereich der Schengen-Kooperation, der Erleichterung der polizeilichen und justiziellen Rechtshilfe), im Ausbau von EUROPOL und den Bemühungen, die Abschottung der Europäischen Union gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen polizeilich zu perfektionieren. Doch während die Zusammenarbeit forciert wird, bleibt die demokratische Kontrolle auf der Strecke.

Die Innen- und Justizpolitik – darunter fällt u. a. die Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden – war bislang in der sogenannten dritten Säule des Maastrichter Vertrages angesiedelt. Dort galten – im Unterschied zum ersten Pfeiler – weder das Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments (EP) noch die Kontrollbefugnis des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). In diesem Bereich handelten die Regierungen der Mitgliedstaaten verbindliche Standpunkte und Maßnahmen unter sich aus, d. h. ohne Mitwirkung des EP oder der nationalen Parlamente wie z.B. des Deutschen Bundestags

Die polizeiliche Zusammenarbeit verbleibt auch nach dem Vertrag von Amsterdam in der dritten Säule – ohne auch nur die Aussicht auf Veränderung. Auch weiterhin darf das EP lediglich Anfragen und Empfehlungen an den Ministerrat richten. Bei Beschlüssen zum Polizeibereich haben die Abgeordneten des EP lediglich das Recht angehört zu werden. Die Kontrollbefugnis des EuGH ist in Fragen der Inneren Sicherheit stark eingeschränkt. Das Luxemburger Gericht ist in Fällen, die die Innere Sicherheit betreffen, „keinesfalls zuständig“1

Ausweitung der EURPOL-Kompetenzen

Die bekannteste Ebene der polizeilichen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union ist zweifellos EUROPOL. Zum 1. Juli 1999 – nachdem alle Mitgliedstaaten die EUROPOL-Konvention und sämtliche Durchführungsbestimmungen ratifiziert hatten – nahm EUROPOL offiziell seine Arbeit in Den Haag auf. Die Zahl der bei EUROPOL arbeitenden BeamtInnen (zumeist sog. VerbindungsbeamtInnen von den Zentralstellen der nationalen Polizeibehörden wie dem BKA) soll bis 2003 fast verdreifacht werden. Die Haushaltsmittel steigen »nur« von derzeit rund 19 Mio. auf dann 37 Mio. Euro.

Das Europaparlament hat gegenüber EUROPOL keine aktive Kontroll-Kompetenz, sondern wird nur einmal jährlich über dessen Tätigkeit unterrichtet – und dies auch nur unter Geheimhaltungspflicht, wie sie sonst für die Geheimdienstkontrolle üblich ist. Ähnliches gilt für die nationalen Parlamente. EUROPOL ist letztlich nur sich selber verantwortlich – der vorläufige Höhepunkt der schon seit Jahren zu beobachtenden Entwicklung einer sich verselbständigenden Exekutive.

In EUROPOL werden viele und intime Daten zusammengeführt. So sollen nicht nur Informationen über StraftäterInnen und Verdächtige, sondern auch über deren Kontakt- und Begleitpersonen, ja selbst über „mögliche Zeugen“ und „mögliche Opfer“ gesammelt werden. EUROPOL interessiert sich dabei nicht nur für die politische Gesinnung dieser Menschen, sondern auch für deren sexuelle Orientierung. Auch sollen Angaben über die „rassische Herkunft“ einer Person die Arbeit der EUROCOPS erleichtern. Bei der Qualität der zu erfassenden Information will man bei EUROPOL nicht allzu wählerisch sein. So sollen in den sog. Analysedateien auch sog. weiche Daten verarbeitet werden. Diese personenbezogenen Daten werden von EUROPOL auch von Informationsquellen (V-Personen oder anderen HinweisgeberInnen) entgegengenommen, auch wenn deren Verlässlichkeit von EUROPOL selbst „nicht beurteilt werden kann“. Schließlich schließt die EUROPOL-Konvention nicht aus, dass auch Geheimdienst-Informationen eingespeist werden bzw. dass EUROPOL seine Erkenntnisse an Nachrichtendienste weiterleiten kann.

Vorgesehen ist eine Erweiterung der EUROPOL-Kompetenzen dahingehend, dass künftig EUROCOPS Ermittlungsarbeiten nationaler Polizeibehörden „erleichtern, unterstützen und fördern“. Man muss sich diesbezüglich in Erinnerung rufen, dass bei EUROPOL das gesamte Polizeiwissen der EU konzentriert und analysiert werden soll. Durch dieses Informationsgefälle zwischen EUROPOL und den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten entsteht unweigerlich sogenanntes Herrschaftswissen. Wo wird die altruistische »Unterstützungsarbeit« der EUROCOPS enden? Wo werden sie qua ihres Wissensvorsprungs beginnen, Ermittlungsverfahren eigenständig zu steuern bzw. zu führen?

EUROJUST – eine effektive Kontrolle von EUROPOL?

Auf dem EU-Sondergipfel im finnischen Tampere wurde im Oktober 1999 aber immerhin die Einsetzung eines neuen Gremiums beschlossen, das EUROPOL im Hinblick auf die Erweiterung seiner Kompetenzen kontrollieren soll: EUROJUST. StaatsanwältInnen, RichterInnen und PolizeibeamtInnen bekommen in dieser neugeschaffenen Institution zwei Aufgaben zugeteilt: Zum einen sollen sie strafrechtliche Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität, die auf Grundlage von EUROPOL-Analysen stattfinden, unterstützen. Zum anderen soll EUROJUST helfen, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Staatsanwaltschaften besser zu koordinieren.

Bei einer Bewertung von EUROJUST kommt es darauf an nachzuprüfen, was aus den noch reichlich unbestimmten Ankündigungen aus Tampere wird. So ist noch offen, welche Institutionen letztendlich VertreterInnen in dieses Gremium entsenden – sollen tatsächlich PolizistInnen die Arbeit von EUROPOL kontrollieren? – und welche tatsächlichen Leitungsbefugnisse und Kontrollmöglichkeiten EUROJUST erhält. Schließlich ist auch das Verhältnis der nationalen Staatsanwaltschaften zu EUROPOL und EUROJUST noch nicht geklärt.

Der Ausbau staatsanwaltschaftlicher Kontrolle ist erst einmal aus rechtsstaatlichen Gründen zu begrüßen. Aber die Erfahrungen von Spezialstaatsanwaltschaften (sei es z.B. in der Bundesanwaltschaft oder sog. OK-Abteilungen – Abteilungen Organisierte Kriminalität – bei den regionalen Staatsanwaltschaften) raten zur Vorsicht: Zum einen fehlt es den dort tätigen Spezial-StaatsanwältInnen mit der Zeit immer mehr an Distanz und zum anderen hört man immer wieder, dass auch diese die immer mehr durch Geheimdienstmethoden abgeschotteten und sich verselbstständigenden Polizeibehörden nicht im Griff haben.

Schengen-Kooperation
wirkt weiter fort

Eine Ebene, die mittlerweile zu unrecht etwas in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins gerückt ist, ist die polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen der »Schengen-Kooperation«.

Außerhalb der EU-Strukturen und rein intergouvernmental ist die Arbeit im Kreis der Schengener Vertragsstaaten noch abgeschotteter als in der geheimniskrämerischen dritten Säule der EU. Maßgebliche strategische Entscheidungen wurden hier ohne parlamentarische Beteiligung in zwei Bereichen gefällt: Der europäischen Abschottungspolitik und der gemeinsamen Polizeikooperation. Dies trifft auch auf die für die Praxis der Polizeikooperation wichtigen Punkte der grenzüberschreitenden Nacheile und Observation zu.

Der Amsterdamer Vertrag beinhaltet ein sog. Schengen-Protokoll, das die Überführung der Schengen-Kooperation in die EU-Institutionen regelt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass insbesondere das Bundesministerium des Inneren eigentlich immer Gegner der Schengen-Integration war, um die bisherige – aus Sicht der RegierungsvertreterInnen – praktische und erfolgreiche Schengen-Kooperation nicht zu gefährden. Schengen sollte den BMI-Vorstellungen zufolge innerhalb der EU einen »Sonderstatus« erhalten, sollte innerhalb der EU „ein gewisses Eigenleben führen können, um sich ungehindert weiterzuentwickeln.“

Die polizeiliche Kooperation ist eines der drei verbliebenen Handlungsfelder der Schengen-Kooperation im Rahmen der EU. Unmittelbar vor der Überführung Schengens in den EU-Rahmen hatte das deutsche Innenministerium noch schnell eine diesbezügliche Wunschliste vorgestellt.2 Eigentlich – so das BMI – wolle man „eine grundlegende Novellierung des Schengener Durchführungsübreinkommens“ erreichen. Aber bis dahin beschränkt man sich in Berlin auf folgende Wünsche:

  • Ermöglichung grenzüberschreitender Spontanübermittlungen;
  • grenzüberschreitende Observation auch des Täter- und Tatopferumfeldes; präventive Observation und Eilzuständigkeit u. a. bei Schleusungen;
  • Nacheile ohne zeitliche und räumliche Begrenzung;
  • Legalisierung grenzüberschreitender verdeckter Ermittlungen;
  • Legalisierung grenzüberschreitender kontrollierter Lieferungen.

Grenzenloses Abhören

Derzeit liegt das neue »Rechtshilfeübereinkommen der EU« zur Zeichnung durch die EU-Innen- bzw. JustizministerInnen bereit. Über zwei Jahre wurde darüber intensiv verhandelt.

Was im vom Gedanken der Gefahrenabwehr getragenen Bereich Schengens noch Wunschdenken ist, wird hier im Bereich der europäischen Strafverfolgung voraussichtlich schon bald Wirklichkeit. So sollen künftig verdeckte – sprich geheime – Ermittlungsmethoden der Polizei grenzüberscheitend möglich sein. Ein Straftaten-Katalog hierfür fehlt. Mit dem Hinweis auf evtl. entstehende Haftungsprobleme „für gegebenenfalls bei verdeckten Ermittlungen begangene Verstöße oder verursachte Schäden“ erkennt der Abkommensentwurf implizit an, dass es bei solchen Einsätzen zu sogenannten milieutypischen Straftaten kommen wird, wie dies bei Spitzeleinsätzen üblich ist.

Die Möglichkeiten der Polizei, über Landesgrenzen hinweg sogenannte kontrollierte Lieferungen durchzuführen, soll mit dem Rechtshilfeübereinkommen erheblich ausgeweitet werden.3 Künftig soll dies bei allen Delikten mit einer Mindeststrafe von einem Jahr möglich sein.

Das Abhören neuer Telekommunikationsdienste soll durch das Rechtshilfeübereinkommen auf einer völlig neuen Stufe möglich werden. Seit Anfang der 90er-Jahre hat die EU – in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen FBI – Pläne für ein internationales Abhörsystem entwickelt.4 1995 fassten die EU-Innen- und JustizministerInnen einen Beschluss, mit dem das Abhören auch seitens privater Netzbetreiber und damit von Handys und Satellitentelefonen sowie von E-mails und Internet ermöglicht werden sollte. Es geht um die Abhörfähigkeit sämtlicher Telekommunikationsdienste. Neue Netze dürften demnach nur in Betrieb gehen, wenn Überwachungssoftware bereitsteht. Internet-Provider sollten die Schlüssel für verschlüsselte Informationen liefern. Probleme bereiten hier die geplanten Netze der Satellitenkommunikation. Die erste und einzige europäische Bodenstation für den satellitengestützten Fernmeldeverkehr mit dem Namen »Iridium« existiert seit dem 1. November 1998 auf Sizilien.5 Egal wo auch immer jemand eine derartige Fernmeldenachricht aus einem EU-Staat empfängt, dieser Kommunikationsvorgang muss bisher zuvor die italienische Bodenstation passiert haben.

Geplant ist nun, es den Mitgliedstaaten mit Hilfe eines Systems der »Fernkontrolle« zu ermöglichen, die Überwachung in ihrem Hoheitsgebiet durchzuführen. Hierfür werden die abzuhörenden Gespräche automatisch von Sizilien in den entsprechenden EU-Staat übermittelt.

Technisch gesehen wird der Kommunikationsvorgang dann gleichzeitig in Italien und dem Ausgangs- bzw. Empfängerland überwacht. Bislang war es nach dem geltenden Rechtshilfeübereinkommen so, dass jeder einzelne Abhörantrag stets an Rom gerichtet werden musste. Nunmehr soll – so die Absicht des neuen Rechtshilfeübereinkommens – eine einzige Anordnung genügen, um ein für alle mal per »Fernkontrolle« unbegrenzt mitlauschen können.

In einem Beschluss vom 17. Februar 2000 hatten die Abgeordneten des Europaparlaments umfangreiche Änderungen zum Rechtshilfeübereinkommen gefordert, u.a. die ersatzlose Streichung des Artikels zur Überwachung von Personen im Hoheitsgebiet anderer Staaten mit technischer Hilfe des Aufenthaltstaates.6 In dem jetzt zwischen den EU-Innen- und JustizministerInnen abgestimmten Entwurf wurden die Bedenken der Abgeordneten nicht berücksichtigt.7

Polizeiliche Grenzabschottung

Nicht nur EUROPOL hat seine Zuständigkeiten auf den Bereich der Bekämpfung von illegaler Migration und Schleuserkriminalität ausgedehnt, auch die nationalen Polizeibehörden vernetzen ihre diesbezüglichen Anstrengungen europaweit.

So wurde 1999 beispielsweise eine »Entschließung zur Bekämpfung internationaler Kriminalität mit Ausbreitung über Routen« vereinbart. Danach sollen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Punkten in der EU oder entlang bestimmter Verkehrswege intensive Kontroll- und Fahndungsaktivitäten von Hunderten oder Tausenden PolizistInnen stattfinden. Diese polizeiliche Materialschlacht – deren Effektivität der Öffentlichkeit gegenüber bis heute nicht nachgewiesen wurde – soll nunmehr ausgedehnt werden auf alle in „in Betracht kommenden Deliktbereiche“. Zudem kann jetzt auch EUROPOL in die Durchführung und Auswertung derartiger Massenkontrollen eingebunden werden.

Zur Bekämpfung der professionellen Fluchthilfe wurde ein Frühwarnsystem zur Übermittlung von Informationen über »illegale Zuwanderung und Schleuserkriminalität« eingerichtet. Ziel dieser – so Schily – „besonders erfolgversprechenden Methode“ ist die Auswertung statistischer – und zu einen nicht unerheblichen Anteil polizeilicher – Informationen über „Vorkommnisse und Ereignisse“, die auf entsprechende Entwicklungen schließen lassen. Bereits weit vor den Grenzen der EU – namentlich an den Außengrenzen der Beitrittskandidaten – soll dieses Frühwarnsystem eingerichtet werden.

Ein Großteil der diesbezüglichen »Aufgabenerfüllung« erfolgt durch die Grenzschutzbehörden der Mitgliedsstaaten. An den Ostgrenzen werden beispielsweise über 9.000 BeamtInnen des Bundesgrenzschutzes und anderer Grenzbehörden eingesetzt.8

Zeitweilig kam es in verschiedenen Ländern auch zum Einsatz von Soldaten bei Maßnahmen zur Abschottung der Grenzen. So wurden in den letzten Jahren wiederholt italienische Kriegsschiffe eingesetzt, um Flüchtlingen den Weg über die Adria abzuschneiden. In der Bundesrepublik wurden Anfang der 90er Soldaten zur Unterstützung der überforderten BGS-BeamtInnen »freiwillig« in deren Amtsstuben an der Ostgrenze abkommandiert.

Trotzdem lässt sich weder hieraus, noch aus der Massivität der personellen Einsätze oder der technischen Hochrüstung des an der Grenze eingesetzten Personals eine Verquickung von Militär und Grenzpolizei ableiten. Denn die Soldaten wurden zeitlich begrenzt lediglich für den Innendienst und ohne exekutive Befugnisse an den BGS ausgeliehen.

Oder nehmen wir das Beispiel Österreichs: Wien hatte im Zuge des Umbaus und der Aufstockung seiner Grenzpolizei (zur Erreichung des sog. Schengen-Standards bei der Außengrenzsicherung zu Ungarn, der Slowakei und Sloweniens) zeitweilig 1.550 Soldaten an der Grenze eingesetzt. Ein Einsatz, der von Schengen-InspektorInnen zwar als kurzfristig unerlässlich betrachtet wurde. Gleichzeitig stand aber fest, dass er Ende 1997 – also vor dem eigentlichen Schengen-Beitritts der Alpenrepublik – beendet werden würde.9

Die EU hat eine Demokratieoffensive nötig

In den Führungsetagen der EU wird nach wie vor davon ausgegangen, dass man mehr Europa durch weniger Demokratie erreichen könnte – was für ein Trugschluss. Das hier vorgestellte Vorgehen der EU im Polizei-Bereich ist für die demokratische Zukunft Europas zerstörerisch.

In der EU existiert ein echtes »schwarzes Loch«. Die EU muss nämlich erst noch lernen, Gewaltenteilung zu buchstabieren, also die parlamentarische Teilhabe und die Kontrolle der Exekutive zu gewährleisten. Und so wenig Möglichkeiten sich einem als kleiner Koalitionspartner bieten, hier Einfluss zu nehmen – ein sich derzeit innerhalb der EU vollziehender Prozess sollte nicht unterbewertet werden: Die Erarbeitung einer EU-Grundrechtscharta. Es besteht eine reale Chance, dass es durch sie möglich werden könnte, künftig alle Politikbereiche der EU – und somit auch den Aspekt der polizeilichen Zusammenarbeit – endlich einem vor Gericht einklagbaren Grundrechtsschutz zu unterwerfen. Das würde einen großen Sprung nach vorn bedeuten.

Anmerkungen

1) Vgl. auch Art. 68 Abs. 2 EG-Vertrag

2) Dok-Nr. SCH/I (99) 20 rev. 2, Brüssel, 22. April 99. Otto Schily wiederholte diese Wunschliste in einem Schreiben an den EU-Ausschuss vom 18.02.00 (S. 5)

3) Hierbei handelt es sich um Schmuggelaktivitäten, wie den Münchner Plutonium-Deal von 1994, die von der Polizei entweder von außen technisch überwacht und observiert und/oder von innen durch V-Personen oder »verdeckte ErmittlerInnen« initiiert, gesteuert bzw. begleitet werden.

4) Vgl. hierzu: Wright: Auf dem Weg zum globalen Überwachungsstaat in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP Nr. 61 (1998) sowie Statewatch 2/99

5) In Kürze soll jedoch eine weitere Station (Globalstar) ihren Betrieb in Frankreich aufnehmen.

6) Dok.-Nr. A5-0019/2000

7) Dok.-Nr. 7846/00 Brüssel, 15.5.2000

8) BGS-Jahresbericht 1998, S. 16

9) Ähnliches ließe sich auch anhand des EU-Beitrittkandidaten Bulgarien aufzeigen. Hier ebenfalls setzt sich die EU-Kommission für eine Zivilisierung grenzpolizeilicher Tätigkeit ein, vgl. KOM (1999) 510 end, Brüssel 13.10.99, S. 54

Mark Holzberger ist Wissenschaftlicher
Mitarbeiter von Claudia Roth, MdB Bündnis 90/Grüne