Die EU und Ostasien

Die EU und Ostasien

Zum Stellenwert der Sicherheitspolitik

von Dirk Nabers und Günter Schucher

Die EU betreibt eine zunehmend aktivere Außenpolitik. Die Beziehungen zu Ostasien bleiben dabei allerdings weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Institutionalisierung der politischen Beziehungen zwischen Asien und Europa hat zwar eine lange Geschichte, ist aber bis heute nicht über das Stadium des regelmäßigen Dialogs hinaus gekommen.

Entsprechend gering ist bisher der Nutzen für die Beziehungen einzelner asiatischer und europäischer Staaten untereinander gewesen. Dies änderte sich auch nicht, als am 1. März 1996 25 Staats- und Regierungschefs aus der EU und Ostasien zum ersten Gipfel des seither »Asia-Europe Meeting« (ASEM) genannten Forums zusammenkamen. In der Folge wurden zwar mannigfaltige Themen diskutiert, doch das Treffen hat bisher die Konsultationsphase nicht hinter sich gelassen. Wo ASEM in der deutschen Prioritätenliste rangiert, zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung nicht bereit war, am 4. Treffen der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen teilzunehmen, weil das Treffen am Tag der Bundestagswahlen (22. September 2002) stattfand.

Ähnlich steht es mit der Rolle der EU in den sicherheitspolitischen Brennpunkten der Region: auf der koreanischen Halbinsel und in der Taiwan-Straße. Auch hier spielen die Europäer die Rolle eines externen Beobachters, der kaum in der Lage ist, die Agenda der Hauptbeteiligten – vor allem der USA und Chinas – zu beeinflussen. Allein bei der Befriedung der indonesischen Bürgerkriegsregion Aceh spielte die EU im Rahmen einer Beobachtermission eine aktive Rolle, die bereits als Leitbild für künftige friedenserhaltende Maßnahmen außerhalb Europas diskutiert wird.

Wie sich die sicherheitspolitische Rolle der EU in den genannten Problemfeldern im Einzelnen darstellt und sich in die Programmatik der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einfügt, soll im Folgenden analysiert werden. Dazu wird der Blick zunächst auf die programmatischen Grundlagen der EU-Außenpolitik gegenüber Ostasien gerichtet. In einem zweiten Schritt wird nach den Gründen für die geringen Fortschritte von ASEM im sicherheitspolitischen Bereich gefragt, um schließlich die Rolle der EU in den Beziehungen der VR China mit Taiwan, auf der koreanischen Halbinsel und in Aceh zu beleuchten. Am Ende des Beitrags werden die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang der ESVP gestellt.

Programmatik: Kein Sicherheitskonzept für Ostasien

Die politischen Beziehungen der EU zu Asien haben sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren entwickelt. Bis dahin war die EU vor allem mit ihrem eigenen Integrationsprozess befasst. Außenpolitische Beziehungen erfolgten auf der bilateralen Ebene von Land zu Land und blieben daher in hohem Maße inkongruent. Das galt auch für Ostasien, dessen strategische Bedeutung sich aufgrund der hohen Wirtschaftsdynamik seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich vergrößerte. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (Dezember 1991) wurde begonnen, die bisherige Besuchsdiplomatie zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiter zu entwickeln.

Der erste Dialog auf Gipfelebene begann 1991 mit Japan. Später wurden ähnliche Gipfelkontakte zu China, kürzlich auch zu Südkorea sowie im Rahmen des ASEM-Prozesses zu ganz Ostasien aufgenommen. 1994 verabschiedete die EU ihre erste offizielle Asien-Strategie, Konzeptpapiere zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit einzelnen Ländern und Subregionen wurden seit 1993 präsentiert: Korea (1993), China (1995), Japan (1995) und Südostasien (1996). Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wird dieses Rahmenwerk durch die Einbeziehung weiterer Länder komplettiert und die bestehenden Konzepte werden regelmäßig den Veränderungen in Asien, Europa und zwischen beiden Regionen angepasst.1 Dabei nehmen die eher beschreibenden Teile an Umfang ab und die politisch-strategischen zu. Einen Überblick über die sicherheitsrelevanten Aspekte dieser Konzepte gibt Tabelle 1.

Tabelle 1: Sicherheitsrelevante Inhalte der EU-Konzepte zu Asien und der Europäischen Sicherheitsstrategie
Jahr Policy Paper Sicherheitsrelevante Inhalte
1994 „Towards a New Asia Strategy“ COM (94) 314
13. Juli 1994
Stärkung der wirtschaftlichen Präsenz in Asien, Beitrag zur Stabilität in Asien, Förderung der ökonomischen Entwicklung, Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit sowie Menschen- und Freiheitsrechten. Prioritäten u.a.: Weitere Stärkung der bilateralen Beziehungen, Hebung des Profils von Europa in Asien
Politischer Dialog als Charakteristikum des neuen »Politischen Ansatzes«
2001 „Europe and Asia: A Strategic Framework for Enhanced Partnerships“ COM (2001) 469
4. August 2001
Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Asien entsprechend dem wachsenden globalen Gewicht der EU, u.a.: Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Region und Global, Beitrag zum Schutz von Menschenrechten und zur Verbreitung von Demokratie, Good Governance und Rechtstaatlichkeit, Aufbau globaler Partnerschaften und Allianzen mit asiatischen Ländern und Stärkung der Wahrnehmung Europas in Asien
Spannungsherde und Konfliktpunkte: Aceh, Mindanao, Taiwan-Straße, Südchinesisches Meer, Koreanische Halbinsel
2003 „A Secure Europe in a Better World“, European Security Strategy,
12. Dezember 2003
Übernahme von Verantwortung für die globale Sicherheit. Drei strategische Ziele: Bekämpfung der Bedrohungen (Terrorismus, Proliferation, Regionale Konflikte, u.a. Koreanische Halbinsel), Sicherheit in der Nachbarschaft, multilaterale internationale Ordnung
Asien: Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Japan, China, Indien

Die erste Asienstrategie von 1994 nahm ausdrücklich Bezug auf das wachsende Gewicht Asiens in der Weltwirtschaft und legte entsprechend das Schwergewicht auf wirtschaftliche Aspekte. Die EU entwickelte zugleich einen »neuen politischen Ansatz« als Bestandteil einer künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Europa sollte in die Lage versetzt werden, seine Interessen und Werte zu schützen und eine konstruktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Als angemessenes Mittel zur Umsetzung wurde der »politische Dialog« festgelegt.

Mit der neuen Strategie von 2001 nahm die EU unter Bezugnahme auf den Erweiterungsprozess für sich eine größere internationale Rolle in Anspruch und proklamierte entsprechend das Ziel, diese auch in Asien ausüben zu wollen. Wirtschaftliche Ziele wurden daher durch (sicherheits-)politische ergänzt. Europa soll in Asien nicht nur präsenter sein und eine aktivere Rolle spielen, es soll vor allem auch stärker als Akteur wahrgenommen werden. Verweisen konnte man nicht nur auf die Ausweitung der politischen Dialoge, sondern auch auf konkrete Beiträge zur Schaffung von Frieden und Sicherheit wie in Kambodscha, Osttimor und Afghanistan sowie zur Korean Energy Development Organization (KEDO).

Im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), die 2003 im Anschluss an das europäische Debakel im Irakkrieg formuliert wurde, kommt Asien nur am Rande vor; konkret erwähnt wird einzig der Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel. Um global eine größere Rolle zu spielen, will die EU u.a. auf die Partner setzen, die für sie wichtig sind, und in Asien mit Japan, China und Indien strategische Partnerschaften entwickeln. Dies ist ein deutlicher Verweis auf die wachsende Bedeutung Asiens, was die EU-Kommissarin für externe Beziehungen Ferrero-Waldner ausdrücklich bestätigte: „We want to have a more coherent, effective and visible impact on world affairs… That will also mean working more closely politically with our Asian dialogue partners“ (Ferrero-Waldner 2007).

Insgesamt bleibt die EU-Strategie gegenüber Asien weiterhin stark beeinflusst vom wirtschaftlichen Wert der Region. Insofern stehen auch die wirtschaftlich dynamischen Länder in Ostasien sowie die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN im Fokus. Sicherheitsrelevante Fragen spielen nur eine marginale Rolle, kommerzielle und politische Überlegungen sind weit wichtiger. Ein umfassendes kohärentes Sicherheitskonzept für die gesamte Region, das der proklamierten globalen Rolle der EU gerecht wird, alle in den einzelnen Konzepten durchaus benannten Krisenpunkte wie z.B. die Taiwanstraße einschließt und die Beziehungen zu den Kooperationspartnern USA und Japan klar definiert, fehlt völlig (van der Putten 2007). Die EU setzt auch weiterhin auf die Stärkung der ökonomischen Präsenz, den Ausbau bilateraler Beziehungen und auf politischen Dialog. Das sicherheitspolitische Engagement beschränkt sich dabei auf Stellungnahmen. Es bleibt unklar, was die strategischen Partnerschaften letztlich charakterisiert, zumal die Dialoge selten als intensive Diskussionsforen von Sicherheitsfragen genutzt werden.

Institutionalisierung des multilateralen Dialogs: Das Asia-Europe Meeting (ASEM)

Ein Beispiel für den wenig institutionalisierten Dialogprozess zwischen Asien und Europa ist das am 1. und 2. März 1996 in Bangkok erstmals abgehaltene Asia-Europe Meeting (ASEM).2 Drei Themenbereiche wurden bei der Gründung des Forums für künftige Treffen als vordringlich eingestuft: a) politischer Dialog, b) wirtschaftliche Zusammenarbeit und c) Zusammenarbeit in anderen Bereichen, darunter Wissenschaft und Technologie, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Kultur. In den ersten Jahren waren die Diskussionen stark auf wirtschafts- und kulturpolitische Themen gerichtet. So stand die Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien im Vordergrund der Gespräche von ASEM 2 in London 1998. Erstmals wurde im Rahmen von ASEM 3 im Jahr 2000 in Seoul eine sicherheitspolitisch relevante Deklaration verabschiedet, die »Seoul Declaration for Peace on the Korean Peninsula«, in der es jedoch an konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Klimas zwischen beiden koreanischen Staaten mangelt.

Erst seit den Anschlägen auf New York und Washington vom 11. September 2001 spielen innerhalb von ASEM auch politische und sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle. So stand neben der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus abermals Nordkorea auf der Agenda des vierten Asia-Europe-Meetings in Kopenhagen 2002. Es wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die Mitglieder des Forums ihre Unterstützung für den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel festschrieben. Auch dem Normalisierungsprozess zwischen Nordkorea und Japan wurde volle Unterstützung zugesichert. Künftig müsse Nordkorea durch alle ASEM-Mitgliedsstaaten aktiv in wirtschaftliche und politische Initiativen eingebunden werden, so das Schlusskommuniqué der Konferenz (Japan aktuell 4/2002, Ü 47). In der Folge von ASEM 4 wurde in Berlin eine ASEM-Konferenz zum internationalen Terrorismus durchgeführt. Erklärtes Ziel war es, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Terrorismus direkt für die Diskussionen innerhalb von ASEM nutzbar zu machen.

Auch auf den Folgetreffen 2004 in Vietnam und 2006 in Finnland standen sicherheitspolitische Themen auf der Tagesordnung. In keinem Falle wurden jedoch konkrete Handlungsleitlinien für die ASEM-Staaten festgelegt. Dem Forum fehlt es an Handlungsbefugnissen; es besitzt bisher kein ständiges Sekretariat, das die Treffen auf Arbeitsebene koordinierend vorbereiten könnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass informelle Zusammenarbeit auf Dauer ein funktionales Äquivalent zu formaler Kooperation sein kann, wenn es um Themen wie Marktzugang, Investitionsschutz oder Terrorismus geht (Loewen/Nabers 2005).

In der Rede des deutschen Staatssekretärs Silberberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe »EU-Countdown: In 100 Tagen zur EU-Ratspräsidentschaft« am 4. Oktober 2006 kam Ostasien nicht vor, während den Beziehungen mit Russland, Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika erhöhte Bedeutung zugemessen wurden (Auswärtiges Amt 2006). Dies muss angesichts des wirtschaftlichen Potenzials der Region und seiner bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen als verpasste Chance angesehen werden.

Beim europäisch-asiatischen Außenministertreffen 2007 in Hamburg wurde die EU durch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertreten. Themen, die auf der Tagesordnung standen, bezogen sich auf den möglichst baldigen Abschluss eines europäisch-asiatischen Zollabkommens, die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Regulierung von Finanzdienstleistungen und des geistigen Eigentums, bei der Energie- und Ressourcensicherheit, der Forschung und Entwicklung im Hochtechnologiebereich, des Umweltschutzes, der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Terrorbekämpfung. Von politischer Seite wurde dabei darauf hingewiesen, dass es zuvorderst darauf ankomme, sich überhaupt zu treffen und über politische Ansichten zu diskutieren3, weniger auf die am Ende veröffentlichten gemeinsamen Deklarationen. Während es weltweit eine Reihe internationaler Institutionen gibt, die verbindliche Handlungsleitlinien erlassen, ist dies somit innerhalb von ASEM auf absehbare Zeit nicht der Fall.

VR China: Wirtschaftsbeziehungen dominant

Die Beziehungen zur Volksrepublik China machen die Dominanz wirtschaftlicher Beziehungen und die nahezu vollständige Abwesenheit von Sicherheitsüberlegungen besonders deutlich. Die EU hat zwar die Situation in der Taiwanstraße als einen der Hauptkonfliktpunkte in Ostasien benannt und mit dem Waffenembargo gegen China ein diplomatisches Instrument in der Hand, verfügt aber dennoch über kein kohärentes Sicherheitskonzept im Umgang mit der Volksrepublik.

Das Embargo über Waffenexporte wurde im Juni 1989 gegen China verhängt, verbunden mit der Aufforderung an die chinesische Regierung, die Repressionen gegen alle Chinesen zu stoppen, die ihre demokratischen Rechte in legitimer Weise einforderten (European Council 1989). Der konkrete Umfang des Embargos ist dabei nicht klar definiert und offen für unterschiedliche Interpretationen, aufgehoben werden kann es aber nur durch einstimmige Entscheidung, die durch die EU-Erweiterung noch schwieriger wurde. Vor allem Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident Chirac versuchten diese seit Herbst 2003 herbeizuführen, scheiterten aber schließlich an einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter dem Widerspruch der USA und der Nichtberücksichtigung der Taiwanfrage. Vornehmlich hatten sie bilaterale Wirtschaftsinteressen im Blick und vernachlässigten darüber ebenso die transatlantischen Beziehungen wie die globalen und regionalen Sicherheitsaspekte. Als der chinesische Volkskongress dann im März 2005 das Anti-Sezessions-Gesetz gegen Taiwan verabschiedete, war die Aufhebung des Embargos in der EU nicht mehr durchsetzbar.

Ist das Embargo im Prinzip ein Instrument, Chinas Menschenrechts- und Taiwan-Politik zu kritisieren, so hat sich die EU hier selbst geschwächt, als sie sowohl im Europarat in Rom 2003 als auch auf dem EU-China-Gipfel im Dezember 2004 ankündigte, sie werde es in der ersten Hälfte 2005 aufheben. Seitdem drängt China auf die Einhaltung dieser Zusage. Auf der anderen Seite wurde seitens der EU im letzten »policy paper« zu China vom Oktober 2006 die Verbesserung der Beziehungen zwischen China und Taiwan zur Voraussetzung für eine mögliche Aufhebung des Embargos gemacht und damit beide Fragen miteinander verknüpft (Commission 2006). Dennoch fehlt auch weiterhin die klare Einbeziehung der Taiwanfrage in die sicherheitspolitische Agenda der EU. Wie sich die EU im Falle einer Krise in der Taiwanstraße verhalten wird, bleibt demnach offen.

Nordkorea: Unterstützende Rolle der EU

Auch im Hinblick auf eine aktivere Rolle der EU auf der koreanischen Halbinsel bleibt eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Nordkorea ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, mit legalen, politischen und militärischen Maßnahmen das Aufkommen einer neuen Nuklearmacht zu unterbinden. Gleichwohl konnte mit der Unterzeichnung eines »Agreed Framework« zwischen den USA und Nordkorea am 21. Oktober 1994 sowie der Schaffung der Organisation für die Energieentwicklung auf der Koreanischen Halbinsel (KEDO) am 9. März 1995 eine viel versprechende Grundstruktur für eine Regimebildung im Bereich nuklearer Nonproliferation geschaffen werden. In einem quid pro quo einigten sich die USA und Nordkorea, dass Pyongyang die aus Russland stammenden Graphit-Atommeiler in Yongbyon stilllege, den Bau von zwei weiteren Reaktoren stoppe und IAEO-Inspektionen zuzulassen habe. Im Gegenzug sicherten die USA die Lieferung von zwei modernen 1.000 MW-Leichtwasserreaktoren aus Südkorea und von bis zu 500.000 Tonnen Rohöl jährlich bis zur Fertigstellung der Reaktoren zu (Nabers 2006). 1997 trat die EU dem Konsortium bei und förderte die Arbeiten in Nordkorea in der Folge mit 118 Mio. Euro. Seit 1995 hat die EU Nordkorea zusätzlich mit humanitären Hilfen in Höhe von 450 Mio. Euro unterstützt.

Inzwischen ist die Übereinkunft gescheitert, nachdem Nordkorea im Oktober 2002 überraschend zugegeben hatte, heimlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet zu haben. Mit seinem Eingeständnis löste das Regime eine neue Krise insbesondere in den Beziehungen zu den USA aus (Japan aktuell 2/2003, Ü 43). Das internationale Konsortium zur Konstruktion der Leichtwasserreaktoren in Nordkorea beschloss, kein Rohöl mehr an Nordkorea zu liefern. Ein Jahr später wurde dann der Bau der Reaktoren eingestellt (KEDO 2005).

Um dem nordkoreanischen Atomwaffenprogramm Einhalt zu gebieten, fand seit 2003 eine Reihe so genannter »Sechs-Parteien-Gespräche« statt. An dieser Runde nehmen Vertreter der Volksrepublik China, Nordkoreas, der USA, Russlands, Japans und Südkoreas teil. Die EU ist nicht beteiligt. Daher blieb das Verhältnis der EU zu Nordkorea auf intensive humanitäre Hilfe und die politische Unterstützung bei den Sechser-Gesprächen beschränkt. Als Nordkorea am 9. Oktober 2006 einen Atombombentest durchführte, leitete dies die schwerste Krise zwischen der EU und Nordkorea seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 2001 ein (Schwinger 2006). Aktiv ist die EU seither nicht an der Beilegung des Nuklearprogramms beteiligt. Man beschränkt sich hier stattdessen auf enge Konsultationen mit den USA.

Aceh: Die erste europäische Friedensmission

Im Gegensatz zur weit gehenden Passivität der EU in den brennenden Konflikten der Region ist die erste Friedensmission der Europäer in Asien eine Erfolgsgeschichte. Nach 30 Jahren des Bürgerkriegs wurde in der indonesischen Provinz Aceh von September 2005 bis Dezember 2006 eine 227 Kopf starke Beobachtermission unter der Führung der Europäer durchgeführt (Aceh Monitoring Mission, AMM), die mit freien Wahlen am 11. Dezember 2006 endete. Seit 1976 hatte die »Bewegung Freies Aceh« (GAM) für die Unabhängigkeit gekämpft. Die Führer der Rebellenbewegung hatten eine Regierung im Exil gegründet und ihre Kämpfer in einen Guerillakrieg geschickt, der mindestens 15.000 Menschen das Leben gekostet hat. Im Jahr 2001 war ein Waffenstillstand gescheitert, und die Zentralregierung hatte eine massive Militäroperation mit 40.000 Soldaten gestartet. Erst der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 hatte ein Ende der Feindseligkeiten bewirkt (Ufen 2007).

Die historische Wahl war nun der Höhepunkt eines zweijährigen Friedensprozesses, der nach dem Tsunami eingeleitet worden war. In der Zeit der finnischen Ratspräsidentschaft war am 15. August 2005 in Helsinki ein Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der GAM und der indonesischen Zentralregierung unterzeichnet worden, das als Grundlage für die folgende Friedensmission diente (EU 2006a). 131 der Beobachter kamen aus der EU, der Schweiz und Norwegen, 96 aus Mitgliedstaaten der südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN. Hauptziel der Mission war die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen sowie die Überwachung indonesischer Truppenverbände aus der Region. Die EU unterstützte die Mission mit insgesamt 260 Mio. Euro (EU 2006b).

Zur Wahl im Dezember entsandte die EU zusätzlich eine Wahlbeobachtungsmission. Das Team bestand aus 33 Langzeit- und 44 Kurzzeitbeobachtern. Dazu stellte die Kommission 2,4 Mio. Euro im Rahmen der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte bereit. Die Wähler waren aufgerufen, am 11. Dezember den Gouverneur, vier Bürgermeister, 15 Distriktleiter und ihre jeweiligen Stellvertreter zu wählen. Mehr als 10.000 Polizisten und mehrere Tausend Wahlbeobachter aus der Region waren im Einsatz.

Der größte Erfolg der Europäer liegt wohl darin, überhaupt von dem stark auf seine nationale Souveränität bedachten Indonesien ins Land gelassen worden zu sein. Nach dem »Verlust« Ost-Timors, bei dem Australien als externe Macht eine große Rolle gespielt hatte, stand die Masse von Bevölkerung und Politik der Rolle ausländischer Mächte bei der Regelung innerer Angelegenheiten skeptisch gegenüber. Auch die Vereinten Nationen schieden als Beobachter aus, da sie bereits die Friedenserhaltenden Maßnahmen in Ost-Timor durchgeführt hatten. Als sich die EU mit der ASEAN auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatte, wurde ihre Friedensmission schließlich auch von der indonesischen Regierung akzeptiert.

Rückblickend wurde die Mission daher von der EU gerühmt. Sie habe erstens zu einer Annäherung mit Indonesien geführt. Das entstandene Vertrauen könne als Grundlage für ein langfristiges Engagement der EU in Südostasien dienen. Zweitens habe die ESVP durch die Mission Auftrieb erhalten. Künftig werde die Aceh-Mission als Beispiel für eine erfolgreiche Friedensmission der EU im Ausland herangezogen werden können (EU 2006c).

Schluss

Es ist erklärtes Interesse der EU, als globaler Sicherheitsakteur in Ostasien Stabilität und Wirtschaftswachstum zu fördern. Seit Beginn des 21. Jahrtausends gibt es auch Ansätze zur Formulierung einer umfassenden Sicherheitsstrategie; Ostasien bleibt davon allerdings weit gehend ausgeklammert. Hier sind die intensiven Wirtschaftsbeziehungen dominant. Sicherheitsfragen spielen nur eine marginale Rolle und die sicherheitspolitische Präsenz der EU ist weiterhin gering. Bisher scheint sie eher versucht zu haben, ihre politische Rolle im Gepäck der Wirtschaftskooperation zu vergrößern. Auch von Seiten der asiatischen Länder wird die EU daher zwar als ökonomischer Partner, aber weniger als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen.

Erst seit dem gescheiterten Versuch, das Waffenembargo gegen China aufzuheben, sind seitens der EU Ansätze erkennbar, die Beziehungen zu den USA und anderen Kooperationspartnern, d.h. vor allem Japan, in die sicherheitspolitische Strategie einzubeziehen. Dabei ist es durchaus nicht leicht für die EU, sich neben den USA als globaler Sicherheitsakteur zu beweisen.

Entsprechend nachrangig ist die Rolle der EU als Akteur in den wichtigsten Krisenherden der Region, der Taiwan-Straße und der koreanischen Halbinsel. Allein im Rahmen der Beobachtermission in der indonesischen Provinz Aceh konnte ein Erfolg auf der Weltbühne verzeichnet werden. Alles in allem ist das für die EU, die sich selbst gerne als »Zivilmacht EU« gegenüber der Militärmacht USA versteht, viel zu wenig. Als Zivilmacht hat man sich die Zähmung und Einhegung von Gewalt in allen Teilen der Welt, die Verregelung und Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die Intensivierung multilateraler Kooperation und die Förderung sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene auf die Fahne geschrieben. In all diesen Bereichen ist die europäische Asienpolitik indes bis heute unterentwickelt.

Literatur

Auswärtiges Amt (2006): „Ausblick auf die deutsche EU-Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der Bundesregierung“ (Rede von Staatssekretär Silberberg, 04.10.2006), http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/2006/061004-SilberbergEuropa.html [10. Juli 2007].

Commission (2006): „Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. EU-China: Closer Partners, Growing Responsibilities“, Brussels, COM (2006) 631, Commission of the European Communities, S.1.

Dent, Christopher (2004): „The Asia-Europe Meeting and Inter-Regionalism“, in: Asian Survey 44:2, S.213-236.

The European Council (1989): „Declaration on China“ (Madrid 27 June 1989), Annex I of European Union Factsheet, http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/FACTSHEET_ON_THE_EU_AND_CHINA.pdf [4.7.07].

Europäische Union (2006a): „EU monitoring mission in Aceh“, 7 September 2006, http://www.consilium.europa.eu/aceh [27. Juni 2007].

Europäische Union (2006b): „EU entsendet Wahlbeobachtungsmission in die indonesische Provinz Aceh“, IP/06/1570.

Europäische Union (2006c): „Council Conclusions on Indonesia/Aceh“, 11 December 2006, http://www.consilium.europa.eu/Newsroom [27. Juni 2007].

Ferrero-Waldner, Benita (2007): „Common Experiences, Common Hopes and Engagement in our Common Interest“, in: Asia Europe Journal 5:1, S.9-11.

KEDO (2005): „A Message from the Executive Director, Ambassador Charles Kartman“ (April 2005), http://www.kedo.org/ [16. September 2005].

Loewen, Howard/Nabers, Dirk (2005): „Transregional Security Cooperation after 9/11 – Asia, Europe and the United States“, in: Asia-Europe Journal 3:3, S.333-346.

Nabers, Dirk (2006): „Krise und Identitätswandel in Japan“, in: Die Friedens-Warte. Journal of International Peace and Organization 81:3-4, S.43-60.

Schwinger, Philipe (2006): „Europas Reaktion auf ein nukleares Nordkorea“, in: europa-digital, http://www.europa-digital.de/aktuell/dossier/aussenbez/nord_korea.shtml [27. Juni 2007].

Ufen, Andreas (2007): „Wahlen in Aceh – Neue Hoffnung auf Frieden?“, GIGA Focus Asien Nr. 1/2007.

van der Putten, Frans Paul (2007): „The EU Arms Embargo, Taiwan, and Security Interdependence between China, Europe and the United States“, in: The Indian Journal of Asian, Spring, http://www.clingendael.nl/publications/2007/20070400_cscp_art_putten.pdf [retrieved 8. Mai 2007].

Anmerkungen

1) Strategiepapiere der EU-Kommission: „Relations between the European Community and the Republic of Korea“, COM, 1993, unpubl.; „European Union Policy towards the Republic of Korea“, COM (1998) 714; „Europe and Japan: The Next Steps“, COM (95) 73; „A Long-term Policy for China-Europe Relations“, COM (95) 279, „The EU‘s Relations with China: Building a Comprehensive Partnership with China“ COM (1998) 181, „EU Strategy towards China: Implementation of the 1998 Communication and Future Steps for a more Effective EU Policy“ COM (2001) 265; „A new partnership with South East Asia“, COM (2003) 399/4.

2) Neben den Mitgliedstaaten der EU nahmen auf asiatischer Seite die ASEAN-Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie die VR China, Japan und Südkorea teil.

3) Siehe dazu das Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Hamburger Abendblatt vom 26. Mai 2007.

PD Dr. Dirk Nabers nimmt derzeit eine Lehrstuhlvertretung für Internationale Beziehungen und Europäische Integration an der Universität Stuttgart wahr. Dr. Günter Schucher ist Kommissarischer Direktor des German Institute of Global and Area Studies (GIGA)

Nach dem Brüsseler EU-Gipfel …

Nach dem Brüsseler EU-Gipfel …

von Albert Fuchs

im Juni dieses Jahres und zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel waren nicht nur verkappte Regierungspostillen voll des Lobes. So zollte bspw. Joschka Fischer der Kanzlerin Respekt und Anerkennung; sie könne zu Recht stolz sein auf das Erreichte; habe sie doch mit vollem Einsatz gekämpft, sei ein hohes Risiko eingegangen und habe gewonnen. Andere schrieben der Kanzlerin zu, von einer tiefen europäischen Überzeugung angetrieben zu sein, oder wiesen u.a. darauf hin, dass sie jeden Gipfel akribisch vorbereite und durch eine »absolut egofreie«, zielorientierte Verhandlungsführung zu einem konzilianteren Klima beitrage. Der »sanften Gewalt« der von ihr ausgelösten neuen europäischen Dynamik könnten die Bremser und Zweifler sich nicht entziehen.

Gewiss, auch die sprichwörtliche NormalbürgerIn, deren Eindruck vom Agieren der Kanzlerin im Wesentlichen auf deren TV-Auftritten beruht, wird den Gegensatz zu dem aufdringlichen Macht-Gehabe des Basta-Kanzlers der Vorgängerregierung zu schätzen wissen. Frau Merkels Umfragewerte sprechen augenscheinlich eine deutliche Sprache. Es tut der Anerkennung eines Stilwechsels keinen Abbruch, wenn man sich von diesem Wechsel nicht blenden lässt und unter Rückgriff auf die bewährte Unterscheidung von »Ton« und »Sache« das Ergebnis wie den Weg dahin kritisch bewertet.

Nehmen wir nur die vorgeblich größte Leistung der deutschen Präsidentschaft unter Merkel, die Einigung auf eine EU-Vertragsreform, auf einen »Generalvertrag« anstelle einer Verfassung. Der irische Regierungschef, Bertie Ahern, ließ wissen, etwa 90 Prozent des am Nein der Franzosen und Niederländer gescheiterten Verfassungsvertrags blieben unverändert. Und der Hauptpromotor jenes Entwurfs, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing, gab zu verstehen, die Inhalte würden lediglich anders dargestellt; die Regierungen hätten sich auf kosmetische Operationen verständigt, um Referenden in den Mitgliedstaaten zu umgehen. So bezieht sich denn auch das Mandat nicht auf den Verfassungsvertrag, sondern auf die Ergebnisse der Regierungskonferenz von 2004 – so dass (oder damit?) die engen Bezüge nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Aber gerade der Inhalt war es, der in Frankreich und den Niederlanden in Frage gestellt wurde. Hinzu kommt, dass nur noch Regierungsexperten den Reformvertrag aushandeln sollen. Was an diesem Verfahren demokratisch sein soll, wird »top secret« bleiben. Man mag geltend machen, dass es ja nicht mehr um eine Verfassung gehe, sondern eben um einen multilateralen Vertrag zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Doch das bräuchte man vielleicht nicht als Etikettenschwindel zu empfinden, wenn nicht gleichzeitig die Inhalte weitestgehend unverändert blieben – darunter nicht zuletzt die hinlänglich bekannten materialen Demokratiedefizite – und wenn die Europäische Gemeinschaft nicht längst in einem Maße Staatsfunktionen übernommen hätte, das einen weiteren Schritt zur Verfassungsgebung bedingt.

Aus der Perspektive unserer Zeitschrift und erst recht im Hinblick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Heftes erscheint besonders gravierend, dass nach wie vor keine parlamentarische Kontrolle der EU-Außen- und Militärpolitik vorgesehen ist. Diese demokratiewidrige Zumutung wird dadurch potenziert, dass gemäß Mandat für den neuen Vertrag, „das zweite Kapitel … die auf der RK 2004 geänderten Bestimmungen des Titels V des bestehenden EUV (einschließlich des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich)“ enthalten soll. Damit werden ausdrücklich alle Regelungen des Verfassungsvertrags für den Militärbereich in den Reformvertrag übernommen. Einzelheiten brauchen hier nicht (nochmals) erörtert zu werden. Es sei nur darin erinnert, dass demnach auch der Europäische Gerichtshof weiterhin keinerlei Kontrollbefugnis gegenüber Exekutiventscheidungen in Fragen von Krieg und Frieden hat. In Verbindung mit einem impotenten Parlament ist das mehr als die anglo-amerikanische Act of state-Doktrin; das ist die »königliche Prärogative« pur.

Stellt man in Rechnung, dass einerseits auch die amtierende Bundesregierung die Militarisierung der EU via GASP bzw. ESVP als Schlüsselprojekt einer politischen Union betreibt und dass andererseits diese Militarisierung längst auch ohne Vertrag läuft, erscheint der eingangs gewürdigte Aktionsstil der deutschen EU-Ratspräsidentin in einem ganz anderen Licht: als raffinierte Strategie zur Durchsetzung der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Vorherrschaft und Gewalt – vor allem in geopolitischer Perspektive. Der Widerstand gegen diese europäische Einigungsdynamik ist mehr denn je angesagt. Die zivilgesellschaftlichen Akteure aber, die trotz alledem auf die Zähmung dieser Dynamik setzen und sich auf eine Kooperation mit den Regierenden einlassen, müssen nicht nur vor ›nützlicher Idiotie‹ auf der Hut sein, sondern auch vor Selbst-Infizierung mit dem ungebrochenen Geist vermeintlicher kultureller Überlegenheit.

Albert Fuchs

Europäische Rüstungspolitik – gibt’s die?

Europäische Rüstungspolitik – gibt’s die?

von Herbert Wulf

Die Rüstungspolitik der Mitgliedsländer der Europäischen Union ist eingebettet in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Doch mit der ESVP verhält es sich zurzeit fast so wie mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation am Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist die Beschreibung eines Zustandes durch ihr Gegenteil. Denn es war kein römisches Reich, auch keine deutsche Nation und von Heiligkeit konnte schon gar nicht die Rede sein.

Ähnlich die ESVP: Die Rüstungspolitik in der EU ist von widersprüchlichen Interessen geprägt: von Interessen der europäischen politischen Elite, eine möglichst globale Rolle in Kriegen und Konflikten zu spielen, von egoistischen nationalen und rüstungslobbyistischen Ansprüchen bei Waffenbeschaffungen, beim Rüstungsexport und dem Kampf um Arbeitsplätze und von ambitionierten technologischen Interessen bei der Entwicklung neuer Waffensysteme. Das Ergebnis dieser miteinander konkurrierenden wirtschaftlichen und politischen Wünsche, Eigenwilligkeiten und Steckenpferde ist eine widersprüchliche Politik, die weder als europäisch, noch als Sicherheitspolitik und ebenso wenig als Verteidigungspolitik bezeichnet werden kann. Mit der heutigen Politik des Durchwurstelns auf EU-Ebene wird viel Geld für Streitkräfte und Waffen aufgewendet. Doch das Resultat kann weder die europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitiker, noch die Steuerzahler und erst recht nicht die an Sicherheit und Frieden interessierten Bürger befriedigen. Für die Sicherheits- und Verteidigungspolitiker sind die europäischen militärischen Fähigkeiten zu schwach, für die Steuerzahler ist die Verschwendung öffentlicher Mittel horrend und für die an Frieden und Sicherheit interessierten Bürger ist die Militarisierungstendenz gefährlich.

Zivilmacht im Kampfanzug

Seit Ende der 1990er Jahre ist die ESVP in einem Tempo vorangetrieben worden, wie dies in 50 Jahren zuvor nie der Fall war. Vorrangig soll die Fähigkeit entwickelt werden, international militärisch intervenieren zu können. Die EU-Kommission erhielt Kompetenzen in sicherheitspolitischen Bereichen. Diese Politik setzte primär an institutionellen Veränderungen an, ohne dass diesem Prozess eine abgestimmte und ausformulierte Strategie oder ein gemeinsames außen- oder friedenspolitisches Konzept zugrunde lag. Die Schaffung der Struktur folgte nicht einer Strategie, sondern geradezu umgekehrt. Zunächst schuf man neue Komitees und Institutionen, formulierte globale Ziele für die Streitkräfte und erst im Dezember 2003 einigte sich der Europäische Rat auf eine Strategie.1 Beflügelt wurde dieser Prozess durch den Kosovokrieg 1999 und den Irakkrieg 2003. Der Kosovokrieg verlieh dem Wunsch europäischer Politiker zur Bildung autonomer europäischer Streitkräfte zusätzlichen Schub; denn die Europäer (NATO-Europa wie EU)2 hatten Schwierigkeiten, einen relevanten militärischen Beitrag zu leisten. Es mangelte vor allem an Transportkapazitäten und Aufklärungsmitteln. Die politische Elite in der EU hat daraus die Konsequenz gezogen, für künftige Konfliktfälle und Interventionen militärische Kapazitäten aufzubauen. Die unterschiedlichen Positionen und Politiken der EU-Mitgliedsländer pro und contra einer Beteiligung am Irakkrieg im Frühjahr 2003 verdeutlichten die Zerrissenheit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik drastisch. Von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in die die ESVP eingebettet sein soll, ist die EU weit entfernt.

Das beträchtliche Tempo, in dem die Europäischen Sicherheitsstrategie formuliert und verabschiedet wurde, innerhalb eines dreiviertel Jahres nach Beginn des Irakkrieges, darf jedoch nicht über die Differenzen in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinwegtäuschen. Die französischen und britischen Nuklearwaffen sind nach wie vor ein Tabuthema und werden in der EU-Sicherheitsstrategie nicht einmal erwähnt. Das komplizierte Verhältnis der EU zur NATO und zu deren Führungsmacht USA ist ebenso wenig geklärt, wie der mögliche zivile und militärische Mix bei künftigen internationalen Interventionen der EU. Zwar enthält die EU-Strategie den Hinweis, dass die gesamte Palette der zur Verfügung stehenden Instrumente, „einschließlich unserer Maßnahmen im politischen, diplomatischen, militärischen und zivilen, handels- und entwicklungspolitischen Bereich3 genutzt werden soll, de facto hinkt die zivile Krisenreaktion der EU jedoch hinter der militärischen deutlich hinterher. Die Stärkung militärischer Fähigkeiten und die Aufstockung militärischer Mittel werden als erste Priorität genannt, obwohl sich die EU selbst gerne als Zivilmacht darstellt. Interessanterweise wird das von den EU-Mitgliedsländern, im Gegensatz zur US-Regierung, sonst immer hoch gehaltene Prinzip der Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle in der neuen Sicherheitsstrategie nur angesprochen, wenn es um die Abrüstung in Entwicklungsländern geht, vor allem um deren Massenvernichtungsmittel. Im gescheiterten Entwurf einer EU-Verfassung wurde bis ins Detail eine Europäische Rüstungsagentur beschrieben, die inzwischen auch etabliert ist – ein weltweit einmaliger Artikel in einer Verfassung. Die Begriffe »Abrüstung« oder »Rüstungskontrolle« tauchten im Verfassungsentwurf jedoch an keiner Stelle auf.

Papiertiger auf dem Sprung

Die kombinierten Militärausgaben der heutigen 27 EU-Mitgliedsländer betrugen im Jahr 2006 rund Euro 200 Mrd. (über US $ 260 Mrd.),4 pro Einwohner Euro 425 jährlich. Damit wird in der EU knapp unter 2% des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte aufgewendet. In den Streitkräften dienen fast 1,9 Millionen Soldaten und über 450.000 Zivilbeschäftigte.5 Im Jahresdurchschnitt wurden 2005 73.500 Soldaten bei Auslandsinterventionen eingesetzt. Dies sind 4% der gesamten Truppenstärke.6 Die Planer beklagen, dass nicht viel mehr Soldaten eingesetzt werden können. Sie rechnen für die Vorbereitungs-, die Einsatz- und die Rekreationszeiten jeweils die gleiche Zahl. Das heißt, von den rund 2,35 Millionen militärisch und zivil Beschäftigten im Militärbereich der EU können rund 225.000 Soldaten eingesetzt werden. Dieses Bild wird durch die Bundeswehr bestätigt. Es wird immer wieder betont, dass nicht mehr als 10.000 (zurzeit 7.600) Soldaten im Auslandseinsatz sein könnten – bei einer Truppenstärke von 250.000 und rund 100.000 Zivilbeschäftigten.

Die Rüstungspolitik in der EU wird von den Befürwortern erhöhter militärischer Anstrengungen zumeist mit dem Vergleich zu den USA begründet, wo der Haushalt mit knapp US $ 550 Mrd. zur Zeit mehr als doppelt so hoch wie die kombinierten Militärhaushalte in der EU ist; und die Zahl der in Kriegen eingesetzten US-Truppen ist mit 227.000 (von insgesamt 1,4 Millionen) mehr als drei Mal so hoch wie die der EU.7 Die USA reservieren mit 4,1% des Bruttosozialproduktes ebenfalls mehr als doppelt soviel finanzielle Mittel und für jeden US-Bürger ist die jährliche finanzielle Belastung drei Mal so hoch. Betrachtet man aber die Rüstungsanstrengungen aus der Perspektive der Mehrheit der Länder dieser Welt, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Zwar klafft zwischen den USA und der EU bei den Militärausgaben eine beträchtliche Lücke, insgesamt liegt aber der Anteil der Militärausgaben der USA an den weltweiten Militärausgaben bei 47% und der Europas bei 22%. Die übrigen cirka 165 Länder der Welt (einschließlich China, Russland, Indien und Japan) teilen weniger als ein Drittel der Militärausgaben unter sich auf.

Aus den Größenverhältnissen lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens zeigen die Höhe der Militärausgaben und die Zahl der in Kriegen eingesetzten Truppen, dass die USA weiterhin die dominierende Militärmacht der Welt sind. Zweitens wird aber deutlich, dass die EU keineswegs primär mit zivilen Mitteln Krisenbewältigung betreibt. Im Gegenteil: Sie folgt militärisch bereits auf Platz zwei. Die militärische Dominanz der NATO wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die meisten EU-Mitgliedsländer auch Mitglieder der NATO sind. Trotzdem klagen die Militärplaner in der EU, dass nicht genügend Personal für Auslandseinsätze vorhanden ist, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichen und dass es trotz der großen Zahl der vorhandenen konventionellen Waffensysteme am notwendigen Gerät für die neuen Interventionsaufgaben fehlt.

Nationale Kirchturmpolitik

Gemessen an den eigenen Ansprüchen der EU wird trotz aller politischer Deklarationen und offizieller Berichte die Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur äußerst unvollkommen umgesetzt. Der Grund hierfür ist vor allem in national geprägter egoistischer Kirchturmpolitik zu suchen.

Die Entwicklung der ESVP und mit ihr die europäische Rüstungspolitik wird nachhaltig von den Interessen und dem wirksamen Lobbyismus der Rüstungsindustrie geprägt. Hierbei gehen Politik und rüstungsindustrielle Interessen Hand in Hand und große, an jeweils nationalen Standorten orientierte Rüstungskonzerne spielen eine entscheidende Rolle. Rüstungsindustrielle Vertreter befürworten unisono eine europäisch orientierte Rüstungsindustrie und einen integrierten EU-Binnenmarkt für Waffen und andere militärische Geräte. Gleichzeitig aber wachen dieselben Firmen sorgfältig darüber, dass sie bei der Auftragsvergabe möglichst den Anteil an Aufträgen erhalten, der dem Finanzvolumen ihres Landes in einem Beschaffungsprojekt entspricht.

Über den Umfang der Rüstungsindustrie in Europa, über Umsatz, Forschungs- und Entwicklungsaufwand, Beschäftigtenzahlen oder Gewinne, liegen keine systematischen Zahlen vor. Bekannt ist jedoch, dass von den rund 200 Mrd. Euro in den Militärhaushalten pro Jahr rund 80 Mrd. Euro in Form von Forschungs-, Beschaffungs- und Reparaturaufwendungen an die Industrie fließen. Dieser so genannte investive Anteil am Militärhaushalt ist in den letzten Jahren verhältnismäßig konstant geblieben, obwohl die Rüstungsplaner immer wieder eine Erhöhung der Investitionsausgaben gefordert haben.8

Die Zahl der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie in den 27 EU-Mitgliedsländern beträgt rund 750.000; am Ende des Kalten Krieges waren es mindestens doppelt so viele.9 Die 100 größten Rüstungsfirmen der Welt (ausschließlich chinesischer Firmen) hatten im Jahr 2005 einen Jahresumsatz (Rüstungsbeschaffung und Waffenexport) von US $ 290 Mrd. Der Umsatz der 30 Hauptrüstungsfirmen mit Sitz in der EU beträgt US $ 85 Mrd., also 29% des Gesamtumsatzes dieser Top 100.10 Die 40 amerikanischen Firmen in der Liste der Top 100 zeichnen für fast zwei Drittel des Gesamtumsatzes verantwortlich. Auch diese Zahlen sind ein Hinweis auf die US-Dominanz in der Rüstungsproduktion und auf die globale Bedeutung der Rüstungsproduktion in der EU.

Es ist trotz intensiver und zahlreicher Bemühungen während der letzten Jahrzehnte nicht gelungen, die stark national organisierte Rüstungsindustrie zu einer europäischen Industrie zu verschmelzen, um so eine kosteneffiziente Belieferung mit technologischen Spitzenwaffensystemen zu gewährleisten. Obwohl keines der EU-Mitgliedsländer in der Lage ist, das gesamte Spektrum der Rüstungstechnologie zu finanzieren und eine rüstungstechnologische industrielle Basis national zu gewährleisten, erfolgt die Rüstungsbeschaffung nach wie vor weitgehend national. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weiterhin auseinander, vor allem, weil sich der Lobbyismus der großen Rüstungsfirmen, die sich als »nationale Champions« verstehen, immer wieder durchsetzt. Es werden zudem Waffen beschafft, zum Teil noch während des Kalten Krieges konzipiert, auf die sich die heimische Industrie spezialisiert hat, die aber nicht unbedingt für die Auslandseinsätze geeignet sind.

Die größten Firmen sind in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien lokalisiert. Das Argument, den eigenen Standort, die technologischen Fähigkeiten und Arbeitsplätze zu erhalten, ist bei den meisten Beschaffungsvorhaben ausschlaggebender als wirtschaftliche Überlegungen.11 Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die Beschaffung von Fregatten für die Bundesmarine. Von europäischen Lösungen, wie immer wieder beschworen, kann keine Rede sein. Im Juni 2007 gab der Haushaltsausschuss des Bundestages grünes Licht für ein milliardenschweres Rüstungsprojekt. Beschlossen wurde eine rein nationale Lösung. Vier Fregatten vom Typ 125 werden für 2,6 Mrd. Euro beschafft. Die deutsche Werftindustrie zog einen großen Auftrag an Land und die ausländische Konkurrenz hatte das Nachsehen. Die Dänen bauten vor drei Jahren ähnliche Fregatten für ein Drittel des deutschen Preises und auch andere Länder bieten Fregatten preiswerter an. Das Bundesverteidigungsministeriums schloss von vorneherein eine sehr viel kostengünstigere Kooperation aus und setzte auf einen nationalen Alleingang, um die heimische Werftindustrie zu versorgen. Die deutschen Kriegsschiffe werden nicht nur zu teuer eingekauft, die Industrie setzte außerdem durch, dass der Preis jährlich um bis zu 3% steigen kann, obwohl in den Richtlinien des Verteidigungsministeriums maximal 2% vorgesehen sind. Und weiterhin: Bei Lieferung der ersten Fregatte werden 81% des Gesamtpreises fällig. Die drei anderen, dann noch gar nicht fertig gestellten Schiffe, werden zum großen Teil gleich mitbezahlt. Ein ähnlicher ‚nationaler Protektionismus’ ist in fast allen EU-Staaten anzutreffen.

Es sind schon einige Beschaffungsprojekte in der EU durchgeführt worden, an denen zwei oder mehr Länder beteiligt waren. Doch die Erfahrungen mit Kooperationsprojekten sind sehr zwiespältig. Viele Kooperationsprojekte wurden genutzt, um die jeweils heimischen rüstungsindustriellen Interessen zu verwirklichen. Kooperiert wird in der Regel nur, wenn das Projekt die eigenen Finanzierungsmöglichkeiten übersteigt. Das Prinzip des juste retour, mit dem geregelt ist, dass die Aufträge entsprechend dem Finanzierungsanteil im Beschaffungsprojekt verteilt werden, führt zu höheren Kosten, da nicht der technisch versierteste und wirtschaftlich günstigste Anbieter zum Zuge kommt. Meist kommt es aber nicht einmal zu Kooperationsprojekten. In der EU werden vier verschiedene Kampfpanzer gebaut, 7 verschiedene Kampfhubschrauber, 8 verschiedene Luft-Luftraketen; es existieren 16 verschiedene nationale Programme für gepanzerte Mannschaftswagen, drei verschiedene Kampflugzeuge werden – trotz konkurrenzfähiger Angebote aus den USA – entwickelt und Duplizierungen sind vor allem im Bereich von IT und Kommando- und Kontrollsystemen an der Tagesordnung.12

Auch der Rüstungssektor hat in den letzten Jahren Firmenaufkäufe und Firmenzusammenschlüsse erlebt. Neue und größere Firmen sind entstanden, doch grenzüberschreitende Firmenaufkäufe oder Übernahmen sind in dieser Branche die Ausnahme. Das Argument der Sicherung von Standorten, Technologie und Arbeitsplätzen erweist sich als schlagkräftige Legitimation für überteuerte Beschaffungen. Die Folgen der national orientierten Kirchturmpolitik in der Rüstungsbeschaffung sind Überkapazitäten in der Rüstungsindustrie, die auf weitere Aufträge und Waffenexport drängen, Duplizierungen bei Waffensystemen, mangelnde Standardisierung der Waffen in den EU-Ländern, nicht genutztes Potenzial für Rationalisierungen und schließlich deutlich überhöhte Kosten. Die Gründe hierfür sind im Lobbyismus der Industrie zu suchen und in den Entscheidungen der Beschaffungsbehörden, die zwar im Prinzip für europäische Lösungen sind, im Zweifelsfalle aber die „nationalen Champions“ bevorzugen.

Zahlreiche länderübergreifende Projekte verzeichneten Kosten- und Terminüberschreitungen. Artikel 296 des Europäischen Vertrages schließt die Rüstungsindustrie ausdrücklich vom Europäischen Binnenmarkt aus. Schließlich sollte nicht unterschätzt werden, dass es zwischen den militärischen Ambitionen von NATO und EU gravierende Unterschiede gibt, die sich auch in der Rüstungspolitik niederschlagen. Und obwohl es eine Reihe von Organisationen und bürokratischen Ungetümen wie die European Defence Agency, den sogenannten Letter of Intent, ein Framework Agreement, die Harmonisation of Military Requirements, die European Headline Goals und einen Code of Conduct für Rüstungsbeschaffung gibt, die sich samt und sonders um kostengünstige und aus militärischer Sicht effiziente Rüstungsbeschaffung bemühen, kann von einer Europäischen Rüstungspolitik nicht gesprochen werden. Denn weiterhin wird weniger als ein Fünftel aller Beschaffungen in Kooperation mit zwei oder mehr EU-Mitgliedern getätigt.13

Rüstungsexporte

Die globalen Rüstungstransfers sind seit dem Jahr 2003 wieder deutlich gestiegen.14 Zu den Hauptimportländern gehören China, Indien, Griechenland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Südkorea. Eine Reihe weiterer Länder des Nahen und Mittleren Ostens zählt zu den Hauptkunden. Die größten Lieferanten waren die USA, Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

In der Europäischen Union existieren zahlreiche Dokumente, in denen Zurückhaltung im Rüstungsexport angekündigt und gelobt wird. In der Praxis kann jedoch hiervon keine Rede sein. Im Jahr 1998 verabschiedete die EU einen »Verhaltenskodex für Rüstungsexport«, der primär zur Harmonisierung der Exportpolitiken der Mitgliedsländer und zur Schaffung gemeinsamer Standards gedacht ist. Mit ausschlaggebend für diesen Kodex war die schärfere Konkurrenz der Rüstungsindustrie bei damals sinkenden Rüstungsimporten. Diese Rüstungsexportrichtlinien enthalten acht Kriterien, die bei der Vergabe von Rüstungsexportlizenzen an die Rüstungsindustrie berücksichtigt werden sollen. Dazu gehört unter anderem das Respektieren der Menschenrechte in den Empfängerländern (Kriterium 2), die Erhaltung regionaler Stabilität und Frieden (Kriterium 4) und die Vereinbarkeit von Rüstungsexporten mit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Empfängerlandes (Kriterium 8). Positiv zu bewerten ist, dass die Rüstungsexporte aus der EU transparenter geworden sind, da jährlich einmal ein Rüstungsexportbericht von der EU veröffentlicht wird.15 Kritikwürdig ist, dass sich nicht alle EU-Länder der Berichtspflicht vollständig unterziehen. SIPRI bemängelt, dass auch einige ältere EU-Mitgliedsländer unzureichende Berichte abliefern (so Belgien, Großbritannien, Italien und Schweden), obwohl diese sich für mehr Transparenz einsetzen. Im Gegensatz dazu haben alle 10 Staaten, die 2004 der EU beitraten, ihre Daten vorgelegt, im Wesentlichen deshalb, weil dies eine Voraussetzung für den Beitritt in die EU war.16

Der Verhaltenskodex zum Rüstungsexport in der EU ist eine politische Verpflichtung, die jedoch nicht juristisch bindend ist. So ist auch der große Anteil der Rüstungsimporte des Mittleren Ostens aus den EU-Ländern zu erklären: Dort werden in vielen Ländern die Menschenrechte mit Füßen getreten, und die Region ist nun wirklich nicht durch Stabilität oder Frieden gekennzeichnet. Nach den EU-eigenen Kriterien ist dies eigentlich ein Ausschlussgrund für Waffenlieferungen. EU-Länder sind aber für 35% der Exporte von Großwaffensystemen in diese Region verantwortlich. Deutschland ist nach Angaben von SIPRI der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wenn auch die meisten Waffenexporte von deutschen Rüstungsfirmen in EU- und NATO-Länder gehen, so taucht dennoch eine Reihe von Ländern aus der Krisenregion Mittlerer Osten als Importeur von in Deutschland gefertigten Waffen auf, so etwa Ägypten, Iran, Israel, Jordanien, Katar, Kuwait, Oman, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.17 (siehe Tabelle)

Tabelle Rüstungsimporte aus dem Mittleren Osten ausgewählte Länder, Transfers 1997 – 2006 (nur Großwaffen, in Millionen US $, Preisbasis 1990)
Importeure Exporteure
USA Russland China EU andere Gesamt
Irak 63 68 0 131 135 397
Iran 0 3437 840 10 237 4524
Israel 5503 0 0 1121 0 6624
Saudi Arabien 5253 0 0 3274 108 8635
Syrien 0 512 0 0 92 604
VAE 3220 310 0 5519 314 9363
andere GKR* 1499 94 89 1783 74 3539
Gesamt 15538 4421 929 11838 960 33686
* andere Länder des Golfkooperationsrates ·
Quelle: SIPRI Yearbook 2007, S.398

Widersprüchliche Politik

Die heutige Rüstungspolitik in den Mitgliedsländern der EU kann nicht als europäische Politik bezeichnet werden. Sie ist zwar einerseits durch Ambitionen gekennzeichnet, eine stärkere Rolle in Krisen und Konflikten zu spielen, andererseits aber prägen nationale Egoismen, vor allem wirtschaftliche Interessen die Entscheidungen. Aus der Perspektive der europäischen Steuerzahler handelt es sich hierbei um eine massive Verschwendung öffentlicher Mittel. Aus friedenspolitischer Perspektive muss man die Frage stellen, wie eine europäische Rüstungspolitik aussehen würde, wenn sie kosteneffizient durchgeführt würde. Es ist kaum zu erwarten, dass die dann möglichen Mitteleinsparungen beim Militär für zivile Krisenprävention und Entwicklungszusammenarbeit aufgebracht werden würden. Vielmehr muss man befürchten, dass eine Steigerung der Effizienz den vorhandenen Militarisierungstrend verschärfen würde.

Anmerkungen

1) Europäischer Rat 2003, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf.

2) Folgende EU-Mitgliedsländer gehören nicht der NATO an: Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden und Zypern.

3) Europäischer Rat 2003, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf., S.11.

4) SIPRI Yearbook 2007, Oxford, S.314-315.

5) European Defence Agency, European-US Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=178.

6) In den USA betrug der Anteil nach Angaben der European Defence Agency 16%.

7) European Defence Agency, European – US Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=178.

8) Siehe den Forderungskatalog der European Defence Agency, An Initial Long-Term Vision for European Defence Capability and Capacity Needs, 3. Oktober 2006, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Organisation&id=146.

9) BICC, BICC Conversion Survey, Anhang, verschiedene Jahrgänge.

10) SIPRI Yearbook 2007, S.376-380.

11) Eine gewisse Ausnahme bildet Großbritannien. Dort holt die Regierung konsequenter als in den übrigen Ländern Konkurrenzangebote ein und vergibt Aufträge eher nach Kostengesichtspunkten. Die größte britische Rüstungsfirma, BA Systems, hat sich inzwischen auch auf dem US-Markt etabliert.

12) UNISYS, Intra-Community Transfer of Defence Products, Bericht für die Europäische Kommission, Brüssel, 2005. http://ec.europa.eu/enterprise/regulation/inst_sp/defense_en.htm#study.

13) European Defence Agency, European Defence Expenditure 2005, http://www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?area=Facts&id=170

14) SIPRI Yearbook 2007, S.387-430.

15) Official Journal of the European Union, C250 (16. Oct. 2006), abrufbar unter http://www.bicc.de/ruestungsexport/pdf/misc/EU_8th%20Annual%20Report%20Code%20of%20Conduct%20Arms%20Exports.pdf.

16) SIPRI Yearbook 2007, S.415.

17) Angaben laut SIPRI für den Zeitraum 1997-2006, http://armstrade.sipri.org/arms_trade/values.php.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist Vorsitzender des Vorstandes von W&F und war früher Direktor des Bonn International Centre for Conversion (BICC). Er ist weiterhin Research Associate am BICC und Guest Scholar am Australian Centre for Peace and Conflict Studies (ACPACS) an der Universtiy of Queensland, Brisbane

Deutschland nach vorn

Deutschland nach vorn

Bertelsmann aktiv: Europa militarisiert, die Bundesrepublik optimiert

von Anja Schwertfeger

Der diesjährige Bundeskongress Internationalismus (BUKO 30), der vom 6.-9. April in Leipzig stattfand, hat die Bertelsmannisierung zu einem seiner Schwerpunktthemen gemacht. Unter dem Titel »Ökonomisierung und Privatisierung – Bertelsmann in neoliberaler Mission« wurden die derzeit von Bertelsmann-Einrichtungen, wie dem »Centrum für Hochschulentwicklung« (CHE) in Gütersloh, initiierten Umstrukturierungen in Schulen, Hochschulen und Kliniken sowie die Einflussnahme auf die Konzeptionen europäischer Außenpolitik analysiert. In der Diskussion um Widerstandsperspektiven standen nicht allein politische Kampagnen, sondern auch die kollektive Deutung der Arbeits- und Lebenserfahrungen in den zur Zeit auftretenden Konflikten im Vordergrund.

Die europäische Militarisierung wurde auf dem BUKO von drei verschiedenen Seiten beleuchtet.

Jörn Hagenloch vom »Medienkombinat Berlin«, hat die starke Einflussnahme des »Centrums für angewandte Politikforschung« (CAP) in diesem Prozess dargestellt (vgl. den Beitrag in diesem Heft). Detlef Hartmann von der Kölner Initiative »bundeswehr-wegtreten.tk« legte in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf die kolonialistischen Dimensionen des europäischen Supermachtbestrebens: Kriege würden geführt, um die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen der Bevölkerung untereinander zunächst zu zerstören, und sodann der Bevölkerung die Strukturen aufzuzwingen, die einen kapitalistischen Handel erst ermöglichen – jene »schöpferische Zerstörung«, wie Schumpeter die »Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte« genannt hat.

Die »anti-b AG Militarisierung« erläuterte anhand der von Bertelsmann genutzten Sprachcodes, nach welchen Prinzipien die Akzeptanz von Krieg und innerer Mobilmachung geschaffen wird, z.B. die Aufhebung der Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheitspolitik durch den Diskurs des »Sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels«.

Krieg nach außen bedeutet auch immer Krieg nach innen, so die auf dem Kongress vertretene These. In diesem Sinne nimmt die Bertelsmannstiftung Einfluss insbesondere auf die öffentlichen Dienste in Deutschland. Erklärtes Ziel ist, den Menschen und die Institutionen effizienter zu gestalten. Die »AG du bist bertelsmann Bremen/Hamburg« legte hierzu dar, wie die derzeitige Ökonomisierung und auch Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Institutionen innerhalb der Bundesrepublik einzuordnen ist. Sie diene dazu, auch in den bislang vom Staat durchgeführten Aufgaben das Prinzip des Leistungswettbewerbs einzuführen. In der Konsequenz bedeute dies mehr Leistungsdruck, mehr Arbeit, mehr Stress – also eine klassische Rationalisierungsoffensive, nun aber nicht mehr auf der Ebene von Einzelbetrieben, sondern als systematisch gesamtgesellschaftlicher Ansatz. Nach der Privatisierung von Bus- und Bahnverkehr, Energie- und Wasserversorgung, Telekommunikation und Post steht nun die Ökonomisierung der Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Kliniken, Sozialsysteme und der Kommunalverwaltungen an. Flankiert werden solche Maßnahmen durch die Etablierung sogenannter Bürgerstiftungen, die die bisherigen Aufgaben des Staates, besonders auf kommunaler Ebene, in Eigenverantwortung, durch freiwillige Spenden finanziert, neu und natürlich »besser« organisieren sollen.

In der Umstrukturierung der Krankenhäuser erhält die Bertelsmannstiftung durch ihre direkten Kooperationen mit den Gesundheitsministerien, durch diverse regelmäßig erscheinende Publikationen und die Verleihung des Deutschen Präventionspreises einen erheblichen Einfluss. Die Stiftung finanziert verschiedene Institute, wie z.B. das »Institut für Krankenhausmanagement« (IKM) an der Universität Münster und das »Centrum für Krankenhausmanagement« (CKM). Krankenhäuser werden ökonomisiert und in steigender Zahl privatisiert, um auch diesen Bereich Gewinn orientiert auszurichten. Unter der Parole »Steigerung der Eigenverantwortung« werden die Krankheitskosten immer stärker auf die Kranken umverteilt.

Die »AG Hochschulprivatisierung« des BUKO 30 diskutierte die Rolle des »Centrums für Hochschulentwicklung« (CHE) in der Transformation der Hochschulen zu stromlinienförmigen Qualifizierungsunternehmen: Nicht die gesellschaftlichen Bildungsziele seien tonangebend für die Lehrinhalte an den Hochschulen, sondern das betriebswirtschaftliche Denken. Elitebildung gehört ebenso dazu wie Studiengebühren, Kennziffernsysteme, Qualitätsmanagement, Evaluationen und Hochschulrankings.

Die Schule in Public Private Partnership (PPP) ist eine weitere Variante der verbetriebswirtschaftlichten Bildungslandschaft. Horst Bethge von der GEW und der »AG Bildungspolitik der Linkspartei.PDS« zeigte anhand einer Vielzahl von Beispielen, wie Unternehmen, voran Bertelsmann, das Konstrukt PPP nutzen, um ihren Einfluss auf die allgemeine Schulbildung auszudehnen. Auch die Schulen strukturieren sich mit Hilfe ähnlicher Steuerungsinstrumente wie in den Hochschulen neu. Hier wie dort sind Hierarchisierung, Rationalisierungen, Stellenabbau, sogenanntes Qualitätsmanagement und Selbstoptimierung treibende Kräfte. Die Bildung wird zur Ware. Schüler, Studierende und Lohnabhängige kaufen (Weiter-)Bildung, um ihren Wert als Arbeitskraftunternehmer auf dem Markt zu steigern und verlieren damit letztlich ein großen Teil der Selbstbestimmung über das eigene Leben.

Die Ökonomisierung der Öffentlichen Dienste berührt aber nicht nur die Rechts- und Finanzierungsform der Institutionen, sondern auch die Rationalisierung von Arbeitsabläufen und die Einführung moderner, undemokratischerer Organisations- und Entscheidungsstrukturen. Durchgesetzt wird diese Rationalisierungswelle mit Hilfe allgemeiner Prekarisierung – unterstützt von stabiler Arbeitslosigkeit, mangelhafter Grundversorgung und der Sachzwanglogik der leeren Kassen. Dazu kommen Lohnsenkungen und Arbeitsverdichtung, die unter anderem mit Stellenabbau, betrieblicher Umstrukturierung und der Selbstaktivierung überhöhter Arbeitsmotivation erfolgt. Gängiges Prinzip bei allen »Reformen« und Umstrukturierungen ist der Appell an jede/n einzelne/n, mehr Verantwortung zu übernehmen, damit das Effizienzdenken in Fleisch und Blut übergeht und zu dem prioritären Handlungsmotiv schlechthin wird. Die Selbstoptimierung, im Bertelsmannjargon auch Selbstaktivierung genannt, soll habituell in alle Lebensbereiche übernommen werden. Ganz nebenbei erschließen sich mit der Übernahme der Öffentlichen Dienste für Bertelsmann und andere private Unternehmen neue Märkte. Deshalb spricht man hier auch von der »Ausweitung der Märkte nach innen«. Generell ist neben der Legitimation der Bertelsmannstiftung deshalb auch die Frage zu stellen, weshalb sie gesellschaftlich als »gemeinnützig« anerkannt bleiben soll.

Auch wenn es schwierig scheint, einer Akteurin wie der Bertelsmannstiftung Widerstand entgegenzusetzen, bleibt es trotzdem wichtig, sich nicht von den gefälligen Worten der Stiftung verwirren zu lassen, sondern das eigene Unbehagen auf der Arbeit, in der Schule oder im Krankenhaus ernst zu nehmen, sich Widersprüche deutlich machen und, wer erfolgreich sein möchte, kollektiv über konkrete Missstände zu diskutieren und in dem damit geschaffenen Rahmen, Handlungsmöglichkeiten in Angriff zu nehmen.

Anja Schwertfeger arbeitet in der AG »du bist bertelsmann« (Bremen/Hamburg) mit

Anspruch und Realität

Anspruch und Realität

Die EU auf dem Weg zur Militärmacht?

von Gabriele Rasch

Mit der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), vorgestellt im Dezember 2003, hat sich die Europäische Union das Ziel gesetzt, „Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen.“ Nicht einmal vier Jahre später stehen europäische Truppen unter anderem im Sudan, im Kongo und im Libanon. Die Europäische Union demonstriert verstärkt außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit. Dass diese »neue« Handlungsfähigkeit vor allem auf einer Aufstockung militärischer Mittel beruht, bleibt dabei häufig unbeachtet. Unerwartet ist diese Entwicklung nicht. Der Vorrang des Militärischen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ist das fragliche Resultat der EU-Politik der letzten Jahre.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 etabliert und bildet die zweite der drei Säulen der Europäischen Union. Als grundlegende Ziele der GASP wurden 1997 mit dem Amsterdamer Vertrag folgende fünf Punkte benannt:

  • die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen,
  • die Stärkung der Sicherheit der Union,
  • die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen,
  • die Förderung der internationalen Zusammenarbeit,
  • die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Zur Verwirklichung dieser Ziele sollten gemeinsame Strategien entwickelt werden, in denen Zielsetzung, Dauer und die bereitzustellenden Mittel festgelegt sind.1

Der Aufgabenbereich des Amsterdamer Vertrages wurde im Juni 1999 mit der Übernahme der Petersberg-Aufgaben in die GASP deutlich erweitert. Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben bis hin zu »friedenschaffenden« Militäreinsätzen zählten nun zum Aufgabenkatalog der GASP. Dementsprechend forderten die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Union müsse „die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen“.2

Ein halbes Jahr später wurden in Helsinki die Leitlinien und Institutionen für eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) als Bestandteil der GASP verabschiedet. Es wurde ein Planziel festgesetzt, welches unter anderem den Aufbau einer militärischen Interventionsstreitmacht sowie die Schaffung neuer politischer und militärischer Gremien und Strukturen vorsah. Bis spätestens 2003 sollten die EU-Mitgliedstaaten in der Lage sein, innerhalb von 60 Tagen bis zu 60.000 Soldaten zu mobilisieren, um die »Petersberg-Aufgaben« zu erfüllen.3 Darüber hinaus beschloss der Europäische Rat im Juni 2000, seine nichtmilitärischen Fähigkeiten zur Krisenbewältigung vor allem in den Bereichen Polizei, Justiz, Zivilverwaltung und Katastrophenschutz auszubauen.4 Im Mai 2003 erklärte der Rat, dass die EU nun im gesamten Spektrum der Petersberg-Aufgaben einsatzfähig sei.

Die ESS und die Verfassung für Europa

Mit der im Dezember 2003 vorgestellten ESS »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« sollte der Welt demonstriert werden, dass eine außenpolitische Einigung der EU und damit ein einheitliches Handeln möglich ist. Wer allerdings die Hoffnung hatte, dass in dieser Strategie militärische und zivile Mittel gleichermaßen gewichtet werden, wurde enttäuscht. Die ESS betrachtet Sicherheit nur im eng militärischen Sinn, soziale, ökonomische, ökologische und rechtliche Faktoren bleiben ausgegrenzt. So wird zwar festgestellt, dass Konflikte sowohl militärisch als auch zivil angegangen werden müssen, die Prioritätensetzung erfolgt jedoch einseitig zugunsten militärischer Handlungsfähigkeit. Militärische Intervention wird nicht einmal als ultima ratio deklariert, stattdessen wird betont, dass „die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“ wird. Die ESS vertritt zwar eine Orientierung auf den Multilateralismus, die Vereinten Nationen und das Völkerrecht, es fehlen jedoch eine explizite Bindung an die VN-Charta sowie die Distanzierung von Präventivkriegen. Stattdessen wird zum einen bekundet, die Vereinten Nationen in ihrem Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen, zum anderen wird gleichzeitig die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen gefordert, welchen wiederum mit präventivem Engagement begegnet werden soll.

Militärische Prävention kollidiert jedoch mit der Charta der Vereinten Nationen. Die in der ESS formulierten Ziele der komplexen Konfliktlösung sowie der Stärkung des Völkerrechts werden demnach überlagert von dem eigenen Anspruch, „Einfluss im Weltmaßstab auszuüben“ und zu einem „raschen und wenn nötig robusten Eingreifen“ in der Lage zu sein.5

Dieser Anspruch wird durch das 2004 verabschiedete »Military Headline Goal 2010« und das im selben Jahr beschlossene »Civilian Headline Goal 2008« weiter untermauert. Mit der Umsetzung des »Military Headline Goal« verpflichten sich die EU-Staaten, bis 2010 unter anderem so genannte Battlegroups aufzubauen. Diese Gefechtstruppen sollen jeweils bis zu 1.500 Mann umfassen und innerhalb von 15 Tagen einsatzbereit sein. Des Weiteren wurde zum Beispiel die Einrichtung einer Verteidigungsagentur beschlossen. Mit der Umsetzung des »Military Headline Goal 2010« sollen so systematisch die militärischen Kapazitäten ausgebaut, Synergien zwischen Mitgliedsländern genutzt und die militärische Aktionsfähigkeit beschleunigt werden.6 Mit der Umsetzung des »Civilian Headline Goal 2008« verpflichten sich die Mitgliedstaaten scheinbar gleichermaßen zu einem verbesserten zivilen Krisenmanagement: „The EU must become more active, more capable and more effective in civilian crisis management […].“7 Betrachtet man jedoch die tatsächlichen Zielsetzungen, dann wird deutlich, dass der zivilen Seite spürbar weniger Gewicht beigemessen wird. So müssen zivile Kapazitäten lediglich innerhalb von 30 Tagen für einen Einsatz bereit sein, ein ständig verfügbarer »Pool« von zivilen Kräften, zum Beispiel mit technischen Hilfskäften und/oder administrativen Beratern, der über Katastrophenhilfe hinausgeht, fehlt gänzlich. Das vorgegebene Ziel, auch präventiv mit zivilen Mitteln auf Krisen zu reagieren, erscheint auch deshalb fraglich, weil der zivilen Seite keine eigene koordinierende Institution an die Seite gestellt wird. Die Einrichtung von Planungs- und Unterstützungskapazitäten im Ratssekretariat ist das einzige im »Civilian Headline Goal 2008» geforderte institutionelle Zugeständnis.8

Letzte Zweifel über die angestrebte Gewichtung der Mittel innerhalb von GASP und ESVP werden ausgeräumt, zieht man den Entwurf des Vertrags über eine Verfassung in Europa hinzu. Dieser Entwurf scheiterte zwar an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die Verfassungsabschnitte zur GASP gelten jedoch im Europäischen Rat als unumstritten. Betrachtet man sich die im Entwurf formulierten außenpolitischen Ziele der EU, so wird zwar durchaus die Friedensorientierung der Union, ihr multilateraler Handlungsansatz sowie die Bedeutung der Vereinten Nationen und des Völkerrechts betont. Die Verfassung beschäftigt sich jedoch in den die GASP betreffenden Artikel quantitativ noch stärker als die ESS mit militärischen Angelegenheiten. So wird zum Beispiel die schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten festgeschrieben. Zu finden ist eine militärische Beistandsverpflichtung und die bereits erwähnte Forderung nach Einrichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur. Eine parlamentarische Kontrolle der GASP sucht man hingegen vergeblich. Für das Europäische Parlament sind lediglich unbedeutende Anhörungs- und Informationsrechte vorgesehen.9 In der Verfassung wird damit die legitimatorische Voraussetzung für eine in erster Linie militärisch gestützte Außenpolitik geschaffen.

Deutlich wird, dass sich die EU in den letzten Jahren zur Stärkung ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vor allem dem Aufbau der ESVP-Instrumente verschrieben hat. Die Reduzierung der GASP auf die ESVP ist dabei die Folge. Gute Ansätze für eine zivile Krisenbewältigung und für eine zivil orientierte Krisennachsorge sind zwar durchaus vorhanden, der Anspruch liegt jedoch klar auf dem Ausbau der militärischen Handlungsfähigkeit der Weltmacht EU.

Die institutionelle Wirklichkeit

Diese Zielsetzung der GASP schlägt sich deutlich im institutionellen Bereich und in den konkret zur Verfügung stehenden Einsatzkräften nieder. So sind zwar innerhalb des zweiten Pfeilers der Union militärische und zivile Strukturen angelegt, allerdings ist hier in der personellen Ausstattung und institutionellen Ausgestaltung eine Schieflage zu Gunsten der militärischen Seite festzustellen. Während der Militärausschuss, das oberste militärische Organ, über einen etwa 190 Mann starken und hochrangig besetzten Militärstab verfügt, stehen seinem Äquivalent, dem Ausschuss für zivile Aspekte des Krisenmanagements, lediglich etwa 70 Mitarbeiter zur Seite. Zur Koordinierung beider Bereiche wurde eine zivil-militärische Planungszelle geschaffen. Diese ist jedoch innerhalb des Militärstabs angesiedelt und wird von einem General geleitet. Die zivilen Strukturen der GASP werden zudem durch die in diesem Bereich bestehende Rivalität zwischen den Akteuren des zweiten Pfeilers und der Kommission geschwächt. Die Aktivitäten Letzterer sind dabei vor allem auf mittel- und langfristige Krisenprävention ausgerichtet. Die Durchführung erfolgt dabei in eigener Zuständigkeit und oftmals über Nichtregierungsorganisationen. Diese institutionelle Trennung zwischen langfristiger Krisenprävention und kurzfristigem Krisenmanagement führt dazu, dass eine Kohärenz zwischen den beiden Ansätzen fehlt.

Die Ungleichgewichtung ziviler und militärischer Mittel wird zudem ersichtlich, betrachtet man sich die neu gegründete Europäische Verteidigungsagentur. Die Agentur mit über 80 Mitarbeitern und einem Budget von etwa 20 Mio. Euro hat die Aufgabe, die Rüstungsaktivitäten der Mitgliedstaaten der Union zu koordinieren, gemeinsame Waffenbeschaffungen zu ermöglichen und die europäische Rüstungsforschung zu finanzieren. Es wird von ihr erwartet, dass auf diesem Wege die Rüstungsausgaben weitaus effizienter eingesetzt werden können. Die Hoffnung, dass es durch eine solche Bündelung von Kräften auch zur Einsparung von Mitteln kommt, die dann wiederum dem zivilen Bereich zur Verfügung gestellt werden, erfüllt sich sicher nicht. Anzumerken ist zudem, dass ein ähnlicher Mechanismus für den zivilen Bereich nicht vorgesehen ist. Hier fehlt eine entsprechend starke Lobby, um die national stark zersplitterten zivilen Strukturen in gleicher Weise zu koordinieren.

Inwieweit die EU ihrem Anspruch auf militärische Handlungsfähigkeit heute bereits gerecht wird, zeigt sich an den ihr zur Verfügung stehenden Einsatzkräften. Auf militärischer Seite stehen 60.000 Soldaten der Rapid Reaction Force, von denen wiederum ab diesem Jahr bis zu 3.000 in Form von zwei Battlegroups binnen von 15 Tagen einsatzbereit sind. Auf ziviler Seite lassen sich lediglich etwa 13.000 Experten finden, von denen wiederum etwa 1.500 binnen von 30 Tagen einsatzbereit sein sollen. Die Diskrepanz zwischen beiden Seiten wird umso deutlicher, bedenkt man, dass die zivilen Kräfte nicht in dauernder Bereitschaft stehen können, da sie zu einem großen Teil noch einer anderen Beschäftigung in ihrem Heimatland nachgehen. Die militärischen Akteure hingegen verfügen über eine Aktionsbereitschaft, einen Trainingsstand und auch über einen Grad an Logistik, der so im zivilen Bereich nicht zu finden ist und auf Grund des mangelnden politischen Willens und einer fehlenden Lobby auch in absehbarer Zeit nicht zu finden sein wird.

ESVP-Operationen

Die mit dem Anspruch auf militärische Handlungsfähigkeit verbundene ungleiche Gewichtung ziviler und militärischer Mittel spiegelt sich auch in den ESVP-Operationen wider. Die EU hat seit 2003 bereits 16 Operationen durchgeführt bzw. führt sie noch immer aus. Zwei der Operationen finden dabei in Bosnien und Herzegowina (BiH) statt: die Militärmission EUFOR ALTHEA und die Polizeimission EUPM.

ALTHEA ist die bisher größte ESVP-Operation. Mit ihr übernahm die EU 2004 die NATO-geführte Mission SFOR. ALTHEA hat das Ziel, die Einhaltung des Abkommens von Dayton sicherzustellen, sowie die Sicherheit und öffentliche Ordnung in BiH zu verbessern. EUPM wurde 2003 initiiert und 2006 mit einer follow-on Mission auf weitere zwei Jahre verlängert. Sie ist die stark verkleinerte Nachfolgerin der 1996 als Teil des Dayton Abkommens etablierten International Police Task Force. Der Fokus der EUPM liegt auf der Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie auf der Implementierung von strukturellen Reformen im Polizeisektor. Die simultane Durchführung beider Missionen in BiH wird häufig als ein Beispiel für den umfassenden Konfliktlösungsansatz der EU herangezogen. Von einer gelungen Kombination aus militärischen und zivilen Elementen kann indes nicht gesprochen werden. Die Zielsetzung von ALTHEA ist längst überholt, denn die tatsächlich existierenden Sicherheitsprobleme in BiH leiten sich nicht mehr aus militärischen Kampfhandlungen ab, sondern resultieren aus einer florierenden Schattenökonomie. Soldaten sind deshalb ein denkbar ungeeignetes Mittel, um die Situation im Land zu verbessern. Trotzdem verwendet die EU für ALTHEA über 71,7 Mio. Euro und setzt etwa 7.000 Soldaten ein. EUPM hingegen, welche eindeutig geeigneter für die Bekämpfung der heutigen Probleme in BiH ist, kann auf lediglich 200 Mitarbeiter und ein Budget von 9 Mio. Euro zurückgreifen. Obwohl die Bilanz der Polizeimission als durchaus positiv zu bewerten ist, befinden sich nur wenige hundert Polizisten und noch weniger weitere Zivilkräfte im Einsatz. Nicht nur das EU-Polizeikontingent wird demnach bei weitem nicht ausgeschöpft, auch auf andere zivile Mittel wird nur unzureichend zurückgegriffen. Zudem fehlt ein klares politisches und auch wirtschaftliches Konzept für das Land. Gerade in Polizeimissionen wie der EUPM liegt für die EU die Chance, sich als internationaler Akteur zu profilieren und eine alternative »Dienstleistung« für Konfliktlösungen anzubieten. Da hierbei auch Nicht-EU-Staaten mitwirken, bietet sich die Möglichkeit, einen effektiven Multilateralismus zu praktizieren. Das Festhalten an ALTHEA zeigt jedoch deutlich, dass auch bei ESVP-Operationen zivile Mittel im Schatten militärischer Handlungsfähigkeit stehen.

Ganz ähnlich gestalten sich auch die ESVP-Operationen im Kongo. In dem afrikanischen Land unterhielt die EU bis Ende letzten Jahres drei Missionen: EUSEC Kongo, EUPOL Kinshasa sowie EUFOR RD Kongo.

  • EUSEC Kongo ist eine Beratermission, die 2005 für 12 Monate initiiert und bis Juni 2007 verlängert wurde. Die Mission bietet den kongolesischen Behörden Beratung und Unterstützung bei der Reform des Sicherheitssektors und der Integration der kongolesischen Armee an. Das Budget für EUSEC Kongo beläuft sich auf 1,6 Mio. Euro, etwa 30 Personen sind im Rahmen der Mission engagiert.
  • EUPOL Kinshasa ist eine Polizeimission, welche ebenfalls 2005 begann. Sie hat als Ziel, dem Kongo beim Aufbau einer integrierten Polizeieinheit (IPU) zu helfen. Das Mandat beinhaltet zum Beispiel den Aufbau eines Schulungszentrums oder die Beteiligung am Training der IPU. Dafür stehen EUPOL Kinshasa etwa 40 Mitarbeiter und ein Budget von 4,3 Mio. Euro zur Verfügung.
  • Die bisher umfangreichste EU-Mission im Kongo, EUFOR RD Kongo, wurde im April 2006 etabliert und auf vier Monate ab dem ersten Tag der Präsidenten- und Parlamentswahlen begrenzt. Auftrag der Mission war die Absicherung der Wahlen sowie, im Falle von Unruhen, der Schutz des internationalen Flughafens in Kinshasa und die Durchführung von Evakuierungseinsätzen. Insgesamt umfasste EUFOR RD Kongo 2.400 Soldaten. Allein die Kosten für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Mission beliefen sich auf über 33 Mio. Euro. EUFOR RD Kongo wurde am 30.11.2006 »erfolgreich« abgeschlossen.

Der Sinn des Einsatzes der Truppen muss jedoch bezweifelt werden. Die Wahlen sind zwar ruhig verlaufen, eine Demokratie ist der Kongo trotz neuer Regierung indes nicht. Das Land kann jederzeit wieder in Anarchie versinken. Es fehlt an Infrastruktur wie Straßen, einer funktionierenden Stromversorgung, sauberem Trinkwasser, Kliniken und Schulen. Das UNHCR äußert sich besorgt über lokale Ausbrüche von Gewalt vor allem im Osten des Landes, über Menschenrechtsverletzungen und hohe Übertragungsraten von HIV/Aids. Die EU hatte der Mission keinerlei mittel- und langfristiges Konzept für den Kongo an die Seite gestellt. Weder wurden die Ursachen des eigentlichen Konflikts angegangen, noch die Stabilität des Staates verbessert. Dafür wären ein umfassendes Wiederaufbauprogramm und eine Stärkung der Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen Gruppen von Nöten gewesen. Im Gegensatz zu EUSEC Kongo und EUPOL Kinshasa, die durchaus als friedenserhaltende Maßnahmen zu bewerten sind, diente EUFOR RD Kongo in erster Linie der zur Schaustellung der militärischen Handlungsfähigkeit der EU. Nicht zuletzt bilanziert der Kommandeur der EU-Truppen, Generalleutnant Karlheinz Viereck: Die Mission hat „das Vorurteil widerlegt, Europa könne nicht führen. Jawohl, Europa kann es. Das ist die wichtigste Botschaft.“10.

Fazit und Ausblick

Die institutionellen Entwicklungen innerhalb der GASP, der Ausbau der ESVP-Kapazitäten in den letzten Jahren und nicht zuletzt die Ausgestaltung der ESVP-Operationen machen deutlich, dass die Europäische Union auf dem besten Weg ist, ihre selbstgesetzten Führungsansprüche umfassend zu verwirklichen. Dabei soll die »Verantwortung für die globale Sicherheit« vor allem durch militärische Mittel getragen werden. Die Möglichkeiten für zivile Maßnahmen haben sich im Zuge dieser Entwicklung zwar ebenfalls verbessert, der Ausbau ziviler Mittel hinkt aber hinter dem Aufbau militärischer Handlungsfähigkeit weit hinterher. Die durchaus guten Voraussetzungen für eine zivile Außenpolitik bleiben weitgehend ungenutzt.

Vorrangig geht es längst nicht mehr um die Lösung eines Konflikts oder die Bekämpfung von Konfliktursachen, sondern um die weltweite Durchsetzung europäischer Interessen. So kann man nicht nur im Weißbuch der Bundesregierung nachlesen: „Die Sicherheitspolitik Deutschlands wird von den Werten des Grundgesetztes und dem Ziel geleitet, die Interessen unseres Landes zu wahren, […].“11 Auch im Vorschlag für ein Weißbuch der europäischen Verteidigungspolitik heißt es, dass sich die EU dafür rüsten müsse, für die Verteidigung des europäischen Wohlstandes Kriege zu führen und zu gewinnen.12 Dass dabei offensichtlich auch die Bereitschaft zur Führung von Präventivkriegen wächst, sollte zusätzlich Sorge bereiten.

Die EU ist auf dem Weg zur Militärmacht. Die Entwicklung ihrer »neuen« Handlungsfähigkeit gilt es deshalb kritisch zu beobachten.

Anmerkungen

1) Vgl. Amsterdamer Vertrag, Art.1, 10.

2) Europäischer Rat, Köln, 3./4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anhang III – Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

3) Vgl. Europäischer Rat, Helsinki, 11./12. Dezember 1999, Kap. II – Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

4) Vgl. Europäischer Rat, Santa Maria da Feira, 19./20. Juni 2000, Anhang I – Bericht des Vorsitzes über die Stärkung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

5) Vgl. Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003.

6) Vgl. Headline Goal 2010, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.111-16.

7) Civilian Headline Goal 2008, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.359-363.

8) Vgl. Civilian Headline Goal 2008, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.359-363.

9) Vgl. Vertrag über eine Verfassung in Europa, Titel V- Auswärtiges Handeln der Union.

10) „Europa kann es. Das ist die wichtigste Botschaft“ – Generalleutnant Karlheinz Viereck, Kommandeur der EU-Truppen im Kongo, zieht Bilanz des Einsatzes in Zentralafrika, Die Welt, 15.12.2006.

11) Weißbuch 2006 – Zur Sicherheitspolitik Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr, S.26-27.

12) Vgl. European Defense – A Proposal for a White Paper, Institute for Security Studies, Paris, May 2004, S.80-87; 99-116.

Gabriele Rasch ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin

(West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik oder neue Friedenspolitik in Europa

(West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik oder neue Friedenspolitik in Europa

von Martin Broszka, Corinna Hauswedell und Klaus Peter Weiner

»Abschied vom Kalten Krieg«, »Das System von Jalta löst sich auf«, »Der Beginn der Nach-Nachkriegszeit« –Schlagzeilen, die den Wandel der durch die Ost-West-Konfrontation geprägten Epoche andeuten. Ein Schauplatz dieses Wandels ist Europa, sein östlicher Teil mit einer noch größeren Dynamik als der Westen: Die stürmischen Entwicklungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn, die Konkretisierungen des Gemeinsamen Europäischen Hauses durch Michail Gorbatschow bei seinen Besuchen in Bonn, Paris und Straßburg im Juni und Juli auf der einen Seite, der Beginn der »heißen Phase« für den EG-Binnenmarkt 1993, die Versuche einer Neuorientierung im westlichen Bündnis seit dem Brüsseler NATO-Gipfel im Mai dieses Jahres andererseits.
Das Ende alter Gewißheiten erfordert neue Sicherheiten im Umgang miteinander, nicht gegeneinander. Die globalen Herausforderungen haben alle, auch »Good Old Europe«, eingeholt. Verschiedene Entwicklungsrichtungen sind offen: Modernisierung auf den alten Grundlagen, vielleicht etwas befreit vom Druck der ehemaligen Großmächte. Die bisherigen Konzepte westeuropäischer Sicherheitspolitik tendieren in diese Richtung. In Europa könnte aber auch –in Korrespondenz mit den anderen Teilen der Welt –in den nächsten Jahren der Versuch Konturen gewinnen, die Gedanken einer »Festung« durch die Ideen eines »Gemeinsamen Hauses« abzulösen. Für den Übergang von militärisch geprägter (hegemonialer) Politik zu ziviler (gleichberechtigter) Kooperation könnte ein Beispiel entstehen. Die Rolle ökonomischer Macht müßte dabei neu bestimmt werden.
Die zunächst ausschließlich vorgesehene kritische Bestandsaufnahme der (West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik schien uns zu kurz zu greifen angesichts der (zumindest) gesamteuropäischen Dimension des Wandels. Deshalb haben wir uns entschieden – etwas anders als bei den Dossiers Nr. 1 bis 3 -, das politische Umfeld des Themas einschließlich der friedenspolitischen Alternativen stärker zu berücksichtigen. Die Dynamik, Widersprüchlichkeit und Offenheit der Entwicklung in Europa setzen einem »klassischen« Dossier Grenzen. Manches ist ausschnitthaft, Hintergrundinformation und Diskussionsbeitrag liegen diesmal eng beieinander.
Teil 1 des Dossiers verfasste Klaus Peter Weiner, Teil 2 erarbeitete Michael Broskza, die Teile 3 und 4 stammen von Corinna Hauswedell. 

I. Die Krise der Nato

Auf das westliche Bündnis kommen Anpassungserfordernisse zu, deren Umsetzung “sich als eine der schwierigsten Phasen” in der vierzigjährigen Geschichte der NATO erweisen könnte1. Diese von – der NATO nahestehenden – Fachleuten abgegebene Situationseinschätzung deutet nicht nur die Dimension der Probleme an, denen sich die herrschende Sicherheitspolitik gegenwärtig und in den nächsten Jahren gegenübergestellt sieht. Sie spiegelt zugleich die Skepsis gegenüber den eigenen Fähigkeiten wider, die Reorganisation der NATO angesichts der internationalen Umbruchsituation über das Management der aktuellen Interessendifferenzen und Meinungsunterschiede zwischen den NATO-Staaten hinaus bündnisverträglich und organisationskonform gestalten zu können.

Denn ein Bündel von Problemen hat zu einer Konstellation geführt, die es auch den Kräften, die das Bündnis politisch tragen, als zunehmend fraglich erscheinen läßt, ob sich die Grundlagen der NATO ohne eine einschneidende Reform des Bündnisses in die neunziger Jahre verlängern lassen. Zu dem Problembündel gehören die wachsenden Probleme der USA, nationale Ressourcen und Globalpolitik in Einklang zu bringen, das veränderte ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den USA und Westeuropa, die zunehmende politische Bedeutung der außerhalb der NATO-Vertragsgrenzen liegenden Weltregionen und die Dynamik der Reformpolitik der UdSSR verbunden mit ihrer auf substantielle Abrüstungsschritte zielenden Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Neubestimmung der Funktionen, der Politik und Struktur der NATO ist für den Fortbestand des Bündnisses notwendig.

Diese Neubestimmung fällt mit einem sukzessiven Bedeutungsverlust der NATO als dem zentralen Bezugsrahmen der Sicherheits- und Militärpolitik ihrer Mitgliedstaaten zusammen. Durch die »selbstabschreckende« Wirkung nuklearer und konventioneller Rüstung erodiert die Rolle der NATO als militärisch-politisches Druckpotential, ihre Funktion als politische Klammer ökomomischer Konkurrenten schwächt sich mit dem Hegemonieverlust der USA zunehmend ab und ihre Aufgabe, die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche System zu garantieren, übernehmen zunehmend die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Westeuropäische Union (WEU).

Vorschläge zur Reorganisation des westlichen Sicherheitssystems und zur Neuformulierung seiner strategischen Konzeption haben daher Konjunktur. Beide Teile des Bündnisses, der nordamerikanische und der europäische Teil, suchen nach einer neuen »Geschäftsgrundlage«. Die Notwendigkeit des Wandels liegt offen, hingegen sind Richtung, Weg und Ziel weiterhin Gegenstand der bündnisinternen Auseinandersetzung. Während die USA eine neue, den real verfügbaren Ressourcen angepaßte und stärker an den als national deklarierten Interessen ausgerichtete globalstrategische Konzeption formulieren2, befinden sich die europäischen NATO-Staaten auf der Suche nach einer »europäischen Identität«3 als Grundlage ihrer außen-, sicherheits- und militärpolitischen Kooperation in einer »Zwei-Säulen-NATO.«

»Europäisierung«: Interessengemeinschaft zur Wahrung der Entspannung

Sicherheitspolitische Motive sind ein Grundzug der westeuropäischen Integration. Bereits die Gründerväter hatten die westeuropäische Integration nicht nur als ökonomisches, sondern auch als politisches Projekt auf den Weg gebracht. Dennoch scheiterten bis in die siebziger Jahre Versuche einer engeren sicherheits- und außenpolitischen Kooperation der westeuropäischen Staaten, für die die NATO als ein hinlänglicher Rahmen erschien. Erst die Verdichtung des Konfliktpotentials zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA in der Reagan-Ära forcierte die politische und institutionelle Ausformung einer eigenständigeren Sicherheitspolitik im westeuropäischen Rahmen. Sie sollte die europäischen NATO-Staaten in die Lage versetzen, ihre Interessen gegenüber den USA besser zur Geltung zu bringen.

Die Differenzen mit der Reagan-Administration in den Bereichen Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik, Militärstrategie, Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen und Umgang mit der Dritten Welt4 hatten es den westeuropäischen Staaten als nicht ausreichend erscheinen lassen, zur Wahrung ihrer Interessen lediglich auf die von den USA dominierte NATO angewiesen zu sein, da die Remilitarisierung der Sicherheitspolitik durch die USA die spezifischen Entspannungsinteressen der westeuropäischen Staaten zu verdrängen drohte5. Dies führte zur Suche nach einem Kooperationsrahmen, in dem die negativen Folgen der Konfrontationspolitik der USA begrenzt werden konnten. Diese Entwicklung vollzog sich auf mehreren Ebenen:

• Auf Initiative der Bundesrepublik nahmen die EG-Staaten 1981 die Sicherheitspolitik in den Kompetenzrahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf. Aber während die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik als in der EPZ und dem Europäischen Rat zu behandelnde Themenkreise festgeschrieben werden konnten, scheiterte das Ziel, neben dem »Rat der Außenminister« einen »Rat der Verteidigungsminster« zu schaffen, an dem Widerstand Dänemarks, Griechenlands und Irlands6. Parallel weitete das Europäische Parlament seine Debatten auf sicherheitspolitische Themen aus und richtete einen Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« ein.

• In der 1987 ratifizierten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) verpflichten sich die EG-Staaten, in der Außenpolitik geschlossener zu agieren und die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik verbindlich zu koordinieren. Hingegen mußten die EG-Staaten die militärpolitischen Aspekte der Sicherheitspolitik in die WEU verweisen7.

• Die 1984 reaktivierte WEU soll die Behandlung der “spezifischen Sicherheitsinteressen Europas” 8 ermöglichen. Als Themenkomplexe wurden die Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses als Grundlage eines zu erstellenden Sicherheitskonzepts, die Abschätzung internationaler Entwicklungen auf die Sicherheit Westeuropas und eine Intensivierung der Rüstungskooperation vereinbart. Die Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Staaten kamen überein, halbjährliche Treffen durchzuführen und eine Reform des institutionellen Gefüges der Organisation vorzunehmen9.

• 1987 verabschiedete der Ministerrat der WEU die »Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen«10, deren Eckpunkte die Bekenntnisse zur nuklearen und konventionellen Abschreckung, zum Bündnis mit den USA und zu den Nuklearpotentialen Frankreichs und Großbritanniens bilden. Zugleich wird an der im Harmel-Bericht formulierten Konzeption von politischer Entspannung auf der Grundlage militärischer Stärke festgehalten. Die Anerkennung der in der Plattform formulierten Positionen bildete die Voraussetzung für den Beitritt Spaniens und Portugals zur WEU. Die Verdichtung der Kooperation im Ministerrat der WEU geht jedoch einher mit dem Verfall der Organisation. Da sich die WEU-Staaten bisher weder über eine Reform des institutionellen Gefüges der WEU noch über einen Erhöhung des Haushalts oder den Sitz der Organisation nach einer Kollokation verständigen konnten, zeigen die Agenturen und Gremien der WEU Auflösungstendenzen11.

• Parallel zu der multilateralen hat sich das Netzwerk der bilateralen Kooperation verdichtet. Anknüpfend an den Elysée-Vertrag von 1963 setzten die Bundesrepublik und Frankreich 1988 einen »Sicherheits- und Verteidigungsrat« ein. Aufgabe des Rates ist die Erarbeitung einer abgestimmten Militärkonzeption als Grundlage einer »Europäischen Sicherheitsunion«. Den militärischen Unterbau des Rates bilden eine gemischtnationale Brigade, gemeinsame Manöver und Rüstungsprojekte. Frankreich erklärte sich darüber hinaus bereit, die Bundesregierung vor einem Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen zu konsultieren12. Die bundesdeutsch-französische Miltärkooperation hat jedoch die Befürchtung eines »Sonderbündnisses« hervorgerufen und ließ weitere WEU-Staaten Interesse an einer engeren westeuropäischen Streitkräfteverzahnung anmelden13.

Das Interesse an einer europäischen Fraktionierung in der NATO – unter Einschluß Frankreichs – mußte nach dem Kurswechsel in der Politik der USA gegenüber der UdSSR wieder nachlassen, zumal trotz aller Tendenzen zur Verselbständigung das Bündnis mit den USA von den europäischen NATO-Staaten als nach wie vor notwendig erachtet wird.

Management der sicherheitspolitischen »Dilemmata« der NATO

Dennoch sind die Tendenzen einer »Europäisierung« der Sicherheitspolitik nicht ein auf die konfrontative Phase der Reagan-Adminstration beschränktes Intermezzo in den Bündnisbeziehungen gewesen. Die zweite Phase der Europäisierung der Sicherheitspolitik beinhaltet vielmehr den Versuch, den Übergang von einem hegemonial durch die USA strukturierten Militärbündnis in eine »Zwei-Säulen-NATO« bündnisverträglich zu managen.

Die Rückkehr der USA zu einer kooperative Elemente aufnehmenden Politik gegenüber der UdSSR war begleitet von zwar nicht neuen, aber mit ungewohnter Deutlichkeit vorgetragenen Forderungen nach einer gerechteren Lasten- und Risikoteilung. In diesen Forderungen drückt sich ein Wechsel in der Politik der USA gegenüber Westeuropa aus, dem ein relativer Positionsverlust der USA in der Weltwirtschaft und das Ende ihrer historischen Ausnahmestellung als Hegemonialmacht zugrundeliegt.

Die Zunahme des weltwirtschaftlichen Gewichts Westeuropas, die gewachsene eigene Abhängigkeit von der Entwicklung der Weltwirtschaft und die Überforderung der nationalen Wirtschaft durch eine expansive Weltmachtpolitik werden in den USA als Ursachen eines relativen Machtverlustes gewertet, der eine Überprüfung der »nationalen Interessen« und eine Reformulierung ihrer Durchsetzungsstrategien erforderlich macht14. In dieser – unilateralistisch gefärbten – Neubestimmung globalstrategischer Zielsetzungen steht nicht mehr Westeuropa, sondern der pazifische und karibische Raum im Zentrum der Überlegungen15. Diese Relativierung der einst einen privilegierten Stellenwert in der strategischen Politik der USA einnehmenden Region Westeuropa versuchen Vorschläge einer weitgehenden Reduzierung der Bündnisverpflichtungen zu operationalisieren. Sie zielen darauf ab, die europäischen Verbündeten zur Übernahme eines höheren Anteils an den Rüstungslasten zu bewegen (burden sharing) oder das Engagement der USA in Westeuropa zu reduzieren (devolution). Einige Vorschläge gehen bis zu einer Aufkündigung des militärischen Bündnisses mit den europäischen NATO-Staaten (disengagement)16 Kern der Vorschläge ist es, die aus der Mitgliedschaft in der NATO resultierenden Lasten und Risiken in einem stärkeren Maß als bisher auf den europäischen Teil der NATO abzuwälzen.

Eine »gerechtere« Lastenteilung, die mit einer politischen Aufwertung der europäischen NATO-Staaten im Bündnis einhergehen würde, löst für die USA aber nicht das Dilemma der mit der Strategie der »extended deterrence« verbundenen nuklearen Risiken. Daher ist vorgeschlagen worden, die nukleare Eskalationsgefahr dadurch zu beseitigen, “daß Nuklearwaffen künftig nicht mehr als Bindeglied zu einem erweiterten, noch verheerenderen Krieg eingesetzt werden.” 17

Auch ohne Übernahme dieser offenen Absage an die gültige Bündnisstrategie in die offizielle Militärpolitik der USA sind mit dieser Aussage die Fundamente der NATO erschüttert worden18. Denn erstens können die europäischen NATO-Staaten und insbesondere die Bundesrepublik das strategische Nuklearpotential der USA nicht mehr als Unterpfand ihrer Politik reklamieren. Zweitens erhalten für die USA mit einer strategischen Abkoppelung vom europäischen »Schauplatz« –unter dem Gesichtspunkt der Wiedererlangung militärischer Handlungsfähigkeit – regional begrenzte nukleare und konventionelle Kriegsführungskonzeptionen einen neuen Stellenwert19.

Vor dem Hintergrund der Suche nach einer neuen Globalstrategie in den USA trägt die »Europäisierung« der Sicherheitspolitik einen doppelten Charakter. Zum einen kommt sie den Forderungen der USA nach Übernahme größerer Lasten entgegen, um eine nach wie vor als notwendig erachtete Reduzierung des militärischen Engagements der USA in Europa zu verhindern20. Ein besseres »Marketing« westeuropäischer Rüstungsanstrengungen in den USA und eine durch intensivierte Kooperation gesteigerte Effektität der Rüstungspolitik soll die Forderung nach einer neuen Lastenteilung entschärfen und Vorschläge eines reduzierten Engagements der USA in Westeuropa zurückdrängen. Zugleich wird versucht, den Risikoverbund mit den USA aufrechtzuerhalten.21.

Gleichzeitig ist »Europäisierung« der Sicherheitspolitik Vorbereitung für den Fall, daß eine Reduzierung des sicherheitspolitischen Beitrags der USA zur NATO eintritt und von den westeuropäischen Staaten kompensiert werden muß – mit der Folge, daß eine solche Entwicklung wahrscheinlicher wird. Denn ein effektivierter Beitrag der westeuropäischen Staaten zur NATO verstärkt auch den politischen Druck in den USA, die projektierten Einsparungen im Rüstungsetat bei den Ausgaben für die NATO vorzunehmen. Der Einstieg in den Ausstieg als Garantiemacht des europäischen NATO-Teils wäre dann vollzogen.

Damit sind auch die europäischen NATO-Staaten in ein Bündnisdilemma geraten: »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in der Diskrepanz zwischen weitreichenden Ankündigungen und verhaltener Dynamik, einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte.

»Europäisierung«: Nationale Machtpolitik im westeuropäischen Rahmen

Die Bewegungsform der Europäisierung der Sicherheitspolitik läßt sich aber nicht nur aus den Konfliktstrukturen mit den USA erklären. Das wird in der erst in Ansätzen erkennbaren dritten Phase der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik deutlich. Denn die Formierung einer westeuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik verschränkt sich mit Umorientierungen in der Politik einzelner EG-Staaten, die über die EG verstärkt »nationale« Ziele verfolgen.

So versucht die Bundesrepublik ihr ökonomisches Potential über die EG in internationalen Einfluß umzusetzen. Dieses “Ausgreifen in die Weltpolitik” 22 markiert gegenwärtig eine wichtige außen- und sicherheitspolitische Tendenz. Nach der Westintegration und der Entspannungspolitik, die beide die äußere Handlungsfreiheit der Bundesrepublik vergrößerten, werden nun die als national deklarierten Interessen global definiert. Die beanspruchte Ausweitung des außenpolitischen Handlungsfeldes geht einher mit dem Versuch, Machtpolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel nicht ausschließt, zu relegitimieren. Das politische Muster eines – im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien – eher niedrigen Profils in der Außen-, Sicherheits-, Militär-, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik beginnt auszulaufen. Die Bundesrepublik entwickelt sich zu einem “Staat wie jeder andere”, der für sich ein Anrecht auf eine “verantwortliche Machtpolitik” reklamiert23.

Aufgrund des antizipierten äußeren und inneren Widerstandes kann die Bundesrepublik einen offenen »nationalen« Kurswechsel kaum vollziehen, sondern verfolgt ihn über die westeuropäische Integration. Denn auf der westeuropäischen Ebene lassen sich die verschiedenen nationalen Interessen in einem globalen Handlungsanspruch, der die »weltpolitischen Herausforderungen« als potentielle Gefährdungen eigener Interessen rezipiert und “die Bereitschaft zu einem auch sicherheitspolitisch relevanten Engagement in der Dritten Welt” 24 einfordert, zusammenfassen. Die Perzeption einer äußeren Bedrohung nationaler Interessen verschiebt sich mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik so zunehmend von den sozialistischen Länder auf die außereuropäischen Regionen in der Dritten Welt.

Kompensatorischer Ausgleich divergenter nationaler Interessen

Die »Fraktionierung« der europäischen NATO-Staaten kann nicht verdecken, daß es zwischen den Mitgliedstaaten jenseits einer Konservierung tradierter Sicherheitsstrukturen nach wie vor große Differenzen über Zielstellung, Reichweite und Tempo der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik gibt. Denn die Erosion der Klammerfunktion der hegemonialen Stellung der USA in der NATO setzt sich nicht umgekehrt proportional in eine Zunahme gemeinschaftlicher sicherheits- und militärpolitischer Interessen der westeuropäischen Staaten um. Vielmehr treten auch divergente nationale Interessen wieder deutlicher zutage.

Trotz der politischen Verflechtung der EG-Staaten hat sich die westeuropäische Integration bisher nicht zu einer politischen Gemeinschaft mit einer weitgehend autonomen Sicherheits- und Militärpolitik entwickelt. Vorhandene Strukturen der politischen Integration, wie die EPZ oder der Europäische Rat, eignen sich aufgrund des Zwangs zum Konsens weniger zum machtbetonten Agieren als zum weltpolitischen Reagieren25. Diese “mangelnde politische Selbstorganisationsfähigkeit und Identität” 26 Westeuropas wird gelegentlich als Diskrepanz zwischen Problemstrukturen und Lösungskapazitäten beklagt, die es politisch zu überbrücken gelte27. Aber der oft geforderte »große Sprung« in die sicherheitspolitische Integration ist kaum wahrscheinlich.

Denn im integrationspolitischen Alltag sind Fortschritte nur unter der Voraussetzung möglich, daß einzelstaatliche Interessen zu »Paketen« zusammengefaßt und unterschiedliche Interessen kompensiert werden. Die Heterogenität der EG-Staaten in Wirtschaft und Politik wirkt einer Vertiefung der Integration entgegen, auch wenn der Zwang zur gegenseitigen Abstimmung zunimmt. Der sicherheitspolitische Akteur Westeuropa verfügt daher nicht über die politische und ideologische Geschlossenheit einer Weltmacht, sondern bleibt nach innen und nach außen vielfältig und komplex strukturiert28. Als national fragmentiertem Machtzentrum sind der Kohärenz und Wirksamkeit westeuropäischer Außen- und Sicherheitspolitik innere Schranken gesetzt, deren Überwindung einen kompensatorischen Ausgleich nationaler Interessen verlangen.

II. Wege und Hindernisse westeuropäischer Militärintegration

Die Institutionen der militärischen Zusammenarbeit

Westeuropäische Union (WEU)

Unter dem Eindruck der zwei von Deutschland entfachten Weltkriege schlossen die Benelux-Staaten, Frankreich und Großbritannien 1948 einen gegenseitigen Beistandspakt ab. Der Brüsseler Pakt wurde, obwohl die Beistandsverpflichtung im Kriegsfall weiterreichend ist, schon bald vom Ost-West Gegensatz überlagert. Die Vertragsstaaten wurden Mitglieder der NATO und mußten sich mit dem Problem der Wiederaufrüstung Deutschlands beschäftigen. Nachdem der Versuch der Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gescheitert war, fand man den Kompromiß, daß die BRD zwar als NATO-Mitglied voll aufgerüstet wurde, sich jedoch als Mitglied des zur Westeuropäischen Union (WEU) erweiterten Brüsseler Paktes Rüstungskontrollen unterwerfen mußte. In den Pariser Verträgen vom 23.10.1954 verpflichtete sich die Bundesregierung auf die Herstellung, den Erwerb und Besitz bestimmter konventioneller Waffensysteme und Massenvernichtungswaffen auf ihrem Boden zu verzichten. Zur Überprüfung wurde in Paris ein Rüstungskontrollamt geschaffen. Die Beschränkungen für den konventionellen Bereich sind nach und nach gefallen, bis sie 1984 auf französischen Vorschlag ganz aufgehoben wurden (siehe S. XIII).

Im WEU-Vertrag wurde ein Primat der NATO festgelegt. In Artikel VI heißt es, daß mit der WEU keine Parallelorganisation zur NATO aufgebaut werden solle. Bis Anfang der 80er Jahre hatte die WEU weder militärisch noch politisch große Bedeutung, obwohl die vorgesehen Gremien – der Rat der Außenminister und die Versammlung von Parlamentariern aus den Mitgliedsstaaten – regelmäßig tagten und das Pariser Amt Kontrollen durchführte.

Nur aus Frankreich, das 1966 aus der militärischen Integration der NATO ausgetreten war, kamen gelegentlich Anstöße für eine Vitalisierung der WEU. Aber erst 1984, nachdem die Bundesregierung eine entsprechende französische Initiative aufgenommen hatte, kam es anläßlich der 30 Jahr-Feier zu einer Neubelebung. In der “Erklärung von Rom” wurde beschlossen, die WEU strukturell zu reformieren und besser für die Koordination westeuropäischer Politik zu nutzen. Der Rat der Minister wurde um die Verteidigungsminister erweitert. Das weitgehend arbeitslos gewordene Kontrollamt wurde mit der neuen Aufgabe der Ausarbeitung von Studien zur Sicherheitspolitik und zu Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen betraut.

Ein weiterer Schritt, die WEU zu aktivieren erfolgte mit der »Plattform über europäische Sicherheitsinteressen von Den Haag« vom 27. Oktober 1987. Mit ihr wurde die WEU eindeutig in den Gesamtkontext der Bildung einer westeuropäsichen Union gestellt. “Wir sind überzeugt, daß die Schaffung eines integrierten Europas unvollständig bleiben wird, solange es nicht Sicherheit und Verteidiung einschließt… Wir sehen die Revitalisierung der WEU als einen wichtigen Beitrag zum größeren Prozeß der Europäischen Einigung.”29 Um die ihr von Befürwortern einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zugeschriebene Schrittmacherrolle übernehmen zu können, müßte die WEU auf alle interessierten Staaten erweitert werden. In einem ersten Schritt wurden 1988 Spanien und Portugal aufgenommen; mit Griechenland und der Türkei wird über das zukünftige Verhältnis verhandelt.

Die Revitalisierung blieb Stückwerk. Dazu gehört die politische Unsicherheit, welche Funktion die WEU zukünftig haben soll. Angesichts der abrüstungspolitischen Aktivitäten in Osteuropa wackelt sogar der Konsens, die WEU als ein auf Westeuropa begrenztes Bündnis zu begreifen30. Im November 1988 beschloß der Rat, über ein neues Konzept zu verhandeln, mit der möglichen Konsequenz einer Änderung des WEU- Vertrages.

Eurogroup

Die EUROGROUP ist eine in den NATO-Statuten oder Abkommen nicht vorgesehene informelle Gruppierung westeuropäischer NATO-Mitglieder (und damit ohne Frankreich). Sie entstand 1968, um “sicherzustellen, daß der europäische Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung so stark, zusammenwirkend und wirksam wie möglich ist”.31

Um diese Ziele zu erreichen finden häufig parallel zu Sitzungen diversen Gremien der NATO, wie des Ministerrats, Sitzungen ohne US-amerikanische, isländische und kanadische Vertreter statt. Themen der zahlreichen Arbeitsgruppen der EUROGROUP sind Abstimmung von Bedarfsplanungen, Interoperabilität der Streitkräfte und Ausrüstungen, aber auch Abstimmung von taktischen Planungen und militärischen Doktrinen. In den späten 80er Jahren ist die EUROGROUP vor allem ein Instrument der Darstellung des europäischen Anteils an der NATO, nicht zuletzt in den USA, geworden. So schrieb der damalige Vorsitzende der EUROGROUP, der niederländische Verteidigungsminister van Eekelen 1988 in seinen Jahresbericht: “Die EUROGROUP hat eine Menge Arbeit geleistet, um Politikern, Regierungsvertretern und der Öffentlichkeit in Amerika klarzumachen, daß wir einen fairen Anteil zur NATO leisten.”32

Independent European Programme Group (IEPG)

Als Antwort auf die amerikanische Herausforderung im Rüstungsbereich wurde 1976 in Rom die Unabhängige Europäische Programmgruppe (Independent European Programme Group) gegründet. Ihr gehören alle europäischen NATO-Mitgliedsstaaten außer Island (das keinerlei Rüstungsindustrie hat), gegenwärtig sind das 13, an. Der große Unterschied zur Eurogroup besteht darin, daß Frankreich aktives Mitglied ist.

Als Ziele der Gruppe wurden 1976 festgelegt:

  • “zu einer effektiveren Nutzung der verfügbaren Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung beizutragen;
  • die Standardisierung und Interoperabilität von Gerät zu fördern und voranzutreiben;
  • die Aufrechterhaltung einer gesunden industriellen und technologischen Basis für die Verteidigung Europas und des Bündnisses zu gewährleisten;
  • zum Wohle beider Seiten des Atlantik die europäische Identität gegenüber den Vereinigten Staaten und Kanada zu stärken.”33

Die eigentliche Arbeit erfolgt in einer Reihe von Ausschüssen. Hier wird versucht, die Bedarfsanforderungen der verschiedenen Streitkräfte zu vergleichen, und falls sinnvoll, zu koordinieren. Dafür werden Unterausschüsse gebildet. Vertreter der beteiligten Staaten sind Beamte aus den den jeweiligen Verteidigungsministerien und Beschaffungsbehörden.

Als koordinierendes Gremium fungiert die Runde der nationalen Rüstungsdirektoren34, die sich in der Vergangenheit ca. acht Mal jährlich getroffen haben. Grundlegende Entscheidungen werden von der Runde der zuständigen Staatssekretäre, oder der Runde der Verteidiungsminister getroffen. Solche Sitzungen erfolgen, je nach Bedarf, nur wenige Male pro Jahre.

Treffen der Verteidigungsminister gibt es erst seit 1984, als beschlossen worden war, die IEPG politisch aufzuwerten und ihren Aufgabenbereich zu erweitern. Es sollten nicht nur einzelne Projekte koordiniert, sondern auch allgemeine Zukunftsplanung betrieben werden. Unter anderem wurde ein Aktionsplan für die (west)europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aeronautik erarbeitet, und der Vredeling-Bericht in Auftrag gegeben (siehe unten).

Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft (EG)

Der Vertrag von Rom, auf dem die Europäische Gemeinschaft fußt, schließt Rüstungsfragen explizit aus. In Artikel 223 ist festgelegt, daß jedes Mitglied die Maßnahmen ergreifen kann, “die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen.” Die eingeschlossenen Materialien sind in einer besonderen Liste aufgeführt.

Diese Enthaltsamkeit ist immer wieder in Frage gestellt worden. Das zentrale Argument lautet, daß eine Staatengemeinschaft diesen Bereich einfach nicht ausschließen kann, insbesondere, wenn sie in eine politische Union münden soll. So heißt es schon im vom EG-Ministerrat gebilligten Tindemans-Bericht über die Europäische Union von 1975, daß die “Europäische Union … so lange unvollständig (bleibt), wie sie keine gemeinsame Verteidigungspolitik besitzt.”35

In den frühen 70er Jahren geriet zunächst die Außenpolitik in den Sog der EG-Integration, was in der Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) deutlich wurde.

Eine Vorreiterrolle bei der Etablierung rüstungs- und sicherheitpolitischer Themen hatte ab Ende der 70er Jahre das Europäische Parlament (EP).

In den 80er Jahren ist die Beschäftigung von EG-Organen mit rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen deutlich intensiver geworden. Ein Grund dafür ist die verstärkte Diskussion um die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas. Auf dem Weg zur Europäischen Union, die – mit unterschiedlichen Nuancen – offizielles Ziel aller EG-Staaten ist, gerät dieser Bereich immer stärker ins Blickfeld. Zum anderen haben politisch relevante Kräfte in Frankreich – sowohl Gaullisten als auch Sozialisten – ihre sehr skeptische Haltung gegenüber einer Westeuropäisierung der Rüstungs- und Militärpolitik aufgegeben und sind stattdessen zu aktiven Befürwortern geworden. Als Bremser sind somit vor allem Politiker aus kleineren EG-Staaten wie Dänemark, Griechenland und Irland geblieben.

Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)

1970 vereinbarten die Mitgliedsstaaten der damaligen EWG auf einer Tagung in Luxemburg, Stellungnahmen und Maßnahmen zur Außenpolitik mit dem Ziel der Koordination gemeinsam zu besprechen. Von einem völlig informellen Abstimmungsinstrument hat sich die EPZ allerdings inzwischen zu einer auch in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) festgeschriebenen Institution entwickelt, mit festen Regeln und Sekretariat in Brüssel.

Erste Bewährungsprobe der EPZ war die Abstimmung einer einheitlichen Haltung der Westeuropäer zum KSZE-Prozess. Schon hier zeigt sich, daß sich Außen- und Sicherheitspolitik nicht trennen lassen. Dies wurde von den Verantwortlichen bald auch positiv vertreten. Im Londoner Bericht der Außenminister über die EPZ vom Oktober 1981 etwa reklamiert man das Recht “bestimmte außenpolitische Fragen zu erörtern, die die politischen Aspekte der Sicherheit berühren.” 36 In der »Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union« vom Juni 1983 versprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten: “verstärkte Konsultationen im Bereich der Außenpolitik enschließlich der Koordinierung der Positionen der Mitgliedsstaaten zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit.”37

Die ablehnenden Haltungen der dänischen und griechischen Regierung und das Sonderproblem Irland haben die EPZ allerdings bisher nicht zu einem zentralen Instrument der sicherheitspolitischen Abstimmung der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten werden lassen. Dies wird von Befürwortern einer »Europäischen Sicherheitsunion«, wie Alfred Dregger, oder dem CDU-MdEP Hans-Gerd Pöttering als unbefriedigend kritisiert.38 Schon während der Verhandlungen zur Einheitlichen Europäischen Akte, die mit der im Kasten 4 wiedergegebenen »weichen« Formulierung zur Kompetenz in rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen führte, gelang es den Befürwortern, eine spätere Revision zu vereinbaren. Artikel 30, Ziffer 12 der EEA sieht vor, daß 5 Jahre nach Inkrafttreten (d.h. am 1. Juli 1992), die Bestimmungen über die EPZ überprüft, und falls notwendig, geändert werden.

Europäisches Parlament (EP)

Die erste große Diskussion um Rüstungspolitik im Europäischen Parlament war vor allem eine Diskussion darüber, ob das Parlament dieses Thema überhaupt diskutieren könne. Einige Abgeordnete verließen den Saal, andere argumentierten heftig dagegen. Aber eine Mehrheit aus liberalen, christdemokratischen und konservativen Abgeordneten überstimmte die der Gaullisten und Links-Fraktionen, so erstmals am 6. April 1973, als in einem EP-Bericht stand, daß “die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik in der Praxis fast nie von der Verteidigungs und Sicherheitspolitik zu trennen ist”39 1978 nahm das Parlament nach heftiger Debatte mehrheitlich den ersten »Klepsch-Bericht« an. Vom deutschen CDU-MdEP Egon Klepsch verfaßt, wurde in ihm eine Verstärkung der Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten bei der Rüstungsbeschaffung bis hin zur Schaffung einer gemeinsamen Rüstungsagentur befürwortet.40

Danach nahm der Widerstand ab, die Mehrheiten für die Behandlung von Rüstungsthemen wuchsen. Der vom EP im Februar 1984 angenomme Vertragsentwurf für eine Europäische Union (Spinelli-Entwurf) legt in Artikel 68 ausdrücklich fest, daß Kompetenzen auch für den militär-, rüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Bereich eingefordert werden sollten.

Im April 1984 wurde auf Anregung von Egon Klepsch ein Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« eingerichtet, in dem – unter dem Vorsitz von MdEP Hans-Gert Pöttering – zahlreiche Resolutionen und Berichte erarbeitet worden sind, zu Themen wie der Bedeutung Nordeuropas für die Europäische Sicherheit, über die Sicherheit Westeuropas, oder Waffenexporte. Debatten über rüstungs- und militärpolitische Themen gehören mittlerweile zum Alltagsgeschäft in Straßburg und Brüssel, gegen die sich nur noch kleinere Gruppen von Abgeordneten, wie die der Regenbogenfraktion, wenden.

Im März 1989 verabschiedete das EP eine umfassende Entschließung zur »Sicherheit in Westeuropa«. Darin wurde unter anderem die Verstärkung der Rüstungszusammenarbeit der Westeuropäer in der IEPG gefordert und beschlossen, daß “die in der Einheitlichen Europäischen Akte als Ziel angestrebte Europäische Union auch eine europäische Sicherheitspolitik betreiben muß”, daß der Europäische Rat eine Sachverständigengruppe einsetzen solle, um schon jetzt die Revision von Artikel 30 Ziffer 6 der EEA vorzubereiten, sowie daß “Sicherheitsfragen verstärkt im Rahmen der EPZ behandelt werden und daß gegebenenfalls, wenn dies durch aktuelle Ereignisse geboten erscheint, Sondertagungen über Sicherheitsprobleme einberufen werden” 41.

EG-Kommission

Verglichen mit dem EP war die Kommission in der Frage der EG-Zuständigkeit für Fragen der Rüstung und Sicherheit lange Zeit deutlich zurückhaltend. Als das EP den ersten Klepsch-Bericht beschloß, ließ sich die Kommission vom britischen Rüstungsexperten David Greenwood ein Gutachen erstellen, in dem dieser die Möglichkeiten für eine aktivere Rolle der EG sehr viel skeptischer beurteilte als die Mehrheit des EP42.

Erst Ende der 80er Jahre hat die EG-Kommission, vor allem einzelne Mitglieder wie der französische Präsident Jacques Delors und der deutsche Vizepräsident Karl-Heinz Narjes begonnen, eine aktivere Politik der EG-Kommission zu betreiben.

Ein Instrument ist die Neudefinition der Liste der Waren, für die die EG gemäß der Römischen Verträge nicht zuständig ist. Nach einem Bericht des zuständigen EG-Kommissars Lord Cockfield gehen den EG-Staaten jährlich mehr als 200 Millionen ECU an Zolleinnahmen dadurch verloren, daß eigentlich zivile Güter wie Transportflugzeuge für die Streitkräfte zollfrei in die EG importiert werden.43 Ein anderes Instrument der EG-Bürokratie ist die Technologieförderung und Forschung im Rahmen großer Programme wie ESPRIT. In vielen Bereichen der Hochtechnologie sind militärische und zivile Technologien so verwandt, daß über die Steuerung ziviler Forschung auch der militärische Sektor beeinflußt wird.

Deutsch-französische militärische Zusammenarbeit

Schon im Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 wurde vereinbart, regelmäßige Konsultationen zwischen Verteidigungsministern und den Generalstabschefs durchzuführen, Militärpersonal auszutauschen und die Rüstungskooperation zu verstärken. Daraus erwuchsen einige konkrete Rüstungskooperationsprojekte, aber keine besonders engen militärpolitischen Bande – die vorgesehenen Konsultation etwa fanden nicht statt. Das änderte sich erst ab 1982. Die gewandelte Haltung der französischen Sozialisten und, weniger umfassend, auch der Gaullisten zu verstärkter europäischer Zusammenarbeit bei Militär- und Rüstungspolitik, sowie die Sorge um ein »Abdriften« der Westdeutschen in Neutralität leiteten eine Phase verstärkter deutsch-französischer Zusammenarbeit ein. Erstes Ergebnis war die 1982 vereinbarte »Revitalisierung« des militärpolitischen Teil des Elysée-Vertrages. Ein »Ausschuß für Sicherheit und Verteidigung«, bestehend aus zivilen Offiziellen und Offizieren wurde ins Leben gerufen, um Ansätze und Probleme der Zusammenarbeit zu erörtern. Anfang 1988 wurde das Netzwerk noch enger geknüpft, indem die Einrichtung eines kleinen Sekretariat in Paris beschlossen wurde. Die seit längerem jährlich zweimal stattfindenden Treffen der Staats- und Regierungschefs, sowie Außen- und Verteidigungsminister, wurden unter Einbeziehung einiger weiterer Mitglieder aufgewertet und erhielten einen neuen Namen: Deutsch-französischer Rat für Verteidigung und Sicherheitspolitik.

Am medienwirksamsten war sicherlich die Einrichtung einer gemischten Brigade in Böblingen. Die Einschätzungen schwanken zwischen “Spielwiese der Armeen” und “Laboratorium der taktischen Zusammenarbeit”44

Das Verhältnis der Institutionen zueinander

“Die Sicherheitsunion kann schrittweise verwirklicht werden, ohne daß dazu neue Verträge zeitraubend ausgehandelt werden müßten. Alle möglichen Ansätze sind dazu zu nutzen: die Europäische Gemeinschaft (EG), die Westeuropäische Union (WEU), die Einheitliche Akte und die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Auch bilaterale Vertragswerke, wie z. B. der Elysée-Vertrag und die darin begründete deutsch-französische Kooperation, können wesentliches beitragen.”45 So beschreibt der Befürworter einer militärpolitischen Integration Westeuropas, Alfred Dregger, sein politisches Konzept. Für ihn sind die vielfältigen Institutionen kein Hindernis, sondern sie bieten die Möglichkeit, daß sich Staaten mit »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« auf die Sicherheitsunion hin bewegen können. Wichtigste westeuropäische Pole sind dabei WEU und EPZ für die politische Integration und IEPG und EG-Kommission für die Rüstungszusammenarbeit46. Selbst zwischen multi- und bilateralen Vorstößen, wie der »Achse« Bonn-Paris werden keine Widersprüche gesehen.

Es ist allerdings fraglich, ob diese Vorstellung realistisch ist. Die Multiplizierung der Institutionen zeigt sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Befürworter einer verstärkten sicherheits- und rüstungspolitischen Integration. Sie sind in der Lage, das Thema überall auf die Tagesordnung zu bringen, aber bisher ist auf keinem Forum der große Durchbruch gelungen.

Projekte und Probleme der Rüstungskooperation

Im fünften Jahrzehnt NATO ist das Waffengerät der Truppen unterschiedlicher als im ersten. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, neun verschiedene Kampfpanzertypen (Leopard I, Leopard II, M-48, M-60, M-1, AMX-30, AMX-32, Chieftain, Centurion), mit zum Teil unterschiedlicher Munition, unterschiedlichen Betriebsstoffen und natürlich unterschiedlichen Ersatzteilen. Nicht einmal die Funkkommunikation ist möglich, so daß im Ernstfall Fernmelde-Offiziere mit der jeweils eigenen Geräteausstattung zu den militärischen Verbänden der anderen Verbündeten abgestellt werden müssen47.

Der Mangel an Koordination, Kooperation und Interoperabilität ist – immer wieder –festgestellt und von offizieller Sieite zutiefst bedauert worden. Er resultiert sicher nicht aus einem Mangel an Möglichkeiten des Gesprächs. Bereits im Rahmen der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten gibt es die Doppelstruktur von IEPG und Eurogroup, hinzukommen andere Gremien innerhalb der Gesamt-NATO, und, besonders wichtig, häufige bi- und multilaterale Ad-Hoc- Gespräche.

Noch relativ groß ist das Interesse an Kooperation in den allersten Phasen der Entwicklung eines neuen Waffensystems. An den Diskussionen darüber beteiligen sich Experten aus vielen Staaten (siehe Kasten zu IEPG-Projekten). Bald jedoch zeigen sich regelmäßig Probleme: die Anforderungen der einzelnen Streitkräfte sind unterschiedlich, die Zulaufzeiten stimmen nicht überein, und die beteiligten Rüstungsfirmen zeigen Desinteresse. Nach und nach werden es weniger Partner, bis nur wenige übrig bleiben – bei laufenden Projekten mit bundesdeutscher Beteiligung im Schnitt 2,8.48

Die Abwicklung vereinbarter Kooperationsprojekte kann auf verschiedene Art geschehen, wobei sowohl für die Herstellerfirmen als auch die Abnehmer, die Beschaffungsbehörden, unterschiedliche Modelle möglich sind. Eine Möglichkeit ist, daß eine Firma in einem Land die Systemführerschaft übernimmt und für die Abwicklung den anderen Beschaffungsbehörden gegenüber verantwortlich ist. Ein Beispiel für dieses Modell ist die deutsch- französische Zusammenarbeit beim Alpha Jet Trainings- und Erdkampfflugzeug, für die Dassault verantwortlich zeichnet. Ein anderes Modell ist die Gründung von internationalen Managementfirmen durch die beteiligten Rüstungsfirmen. Die Beschaffungsbehörden können entweder direkt mit diesen in Kontakt treten, Modell Euromissile (gemeinsame Tochter von MBB und Aerospatiale) oder ihrerseits eine gemeinsame Beschaffungsbehörde organisieren, Modell Tornado (hier kontrolliert die NAMMA, siehe S. XI, die Panavia, eine gemeinsame Tochterfirma von MBB, British Aerospace und Aeritalia).

Untersuchungen über Rüstungskooperation in der NATO unterscheiden zwei Fälle, in denen es regelmäßig zu Kooperation kommt49: entweder weil die Kosten für ein Projekt für einen Staat zu groß sind, oder weil durch Kooperation relativ billig Technologie ins Land geholt werden kann. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Fallgruppe: wenn auf höchster politischer Ebene Kooperation beschlossen wird. Das derzeit wichtigste deutsch-französische Kooperationsprojekt, der Panzerabwehrhubschrauber PAH-2, wäre nicht zustandegekommen, hätten nur die Rüstungsbürokratien in beiden Ländern zu entscheiden gehabt. Aber die Bundesregierung und ihr französisches Pendant wollten das Projekt als politisches Signal, nicht zuletzt, weil wenige Jahre vorher ein anderes Großprojekt, der deutsch-französische Panzer Napoleon, kläglich gescheitert war.

Kooperation verteuert Rüstungswaren, nicht nur weil viel international koordiniert werden muß, sondern vor allem, weil die einzelnen beteiligten Staaten strikt darauf bestehen, daß an die einheimische Rüstungsindustrie Aufträge vergeben werden, die in etwa dem eigenen Anteil am Projekt entsprechen, auch wenn die Firmen im eigenen Land teurer produzieren als andere. Unter diesen Bedingungen macht es für die nationalen Rüstungsindustrien Sinn, sich an Koproduktionsprojekten zu beteiligen, aber sonst ist aus ihrer Sicht nationale Produktion vorzuziehen, da die Firmen als »Systemführer« finanziell und technologisch besser fahren als Partner in Koproduktionsprojekten. Die zunehmende technologische Kompetenz der bundesdeutschen Rüstungsindustrie zeigt sich nicht zuletzt in ihrem abnehmenden Interesse an Koproduktionsprojekten. “Es ist in letzter Zeit zunehmend schwieriger geworden, erfolgreich zu kooperieren”50 resümiert der zuständige Beamte aus dem BMVg.

Andererseits müssen auf Grund des ständigen Kostenanstieg für Rüstungsprojekte aller Art übernationale Lösungen gefunden werden. Andernfalls sind die Projekte, schon gar in Zeiten sinkender Rüstungshaushalte nicht finanzierbar. Wenn Kooperation Beschaffung verteuert und auch immer schwieriger auszuhandeln ist, bleibt als Möglichkeit die Ausweitung des Rüstungsmarktes, z. B. auf westeuropäische Ebene. Eine Variante einer solchen Ausdehnung ist die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern durch eine übernationale Behörde. Eine andere ist die Öffnung der jetzt meist national gehaltenen Vergabe von Rüstungsaufträge für ausländische Firmen.

Schon seit den 50er Jahren gibt es Bestrebungen, eine übernationale Beschaffungsbehörde der NATO-Streitkräfte zu schaffen, die ohne großen Erfolg blieben, aber zur Einrichtung des Instituts der NATO-Rüstungsagentur (S. XI) geführt haben, aber ohne Erfolg. Mitte der 70er Jahre wurde die Idee einer gemeinsamen westeuropäischen Rüstungsbeschaffungsagentur mehrheitsfähig. Mehrere Berichte, die zwischen 1975 und 1979 im EG-Rahmen behandelt wurden, so der Tindemans-Bericht über die europäische Union von 1975 und der Klepsch-Bericht an das EP von 1978, erwähnen eine solche Behörde. Inzwischen ist die Zahl der Befürworter weniger geworden; inzwischen wird das Konzept einer NATO-Europa-weiten Beschaffungsbehörde allgemein als unrealistisch angesehen51.

Trotz aller Bekenntnisse zum Willen zu mehr Zusammenarbeit: nationale Regierungen und Parlamente wollen weiter allein entscheiden, welche Rüstungsgüter in welcher Zahl beschafft werden. “Dabei stehen”, so schrieb der damalige Abteilungsleiter Rüstungswirtschaft im BMVg, Generalleutnant Wolfgang Tebbe,“nationale Interessen auf dem Spiel.”52

Diese nationalen Interessen sind vor allem wirtschaftliche: würde der jetzt praktizierte Schutz der nationalen Rüstungsindustrien aufgegeben, würden einige Firmen verdrängt werden. Beschäftigung und Technologie könnten verloren gehen. Die enge Bindung zwischen nationaler Industrie, eigenen Streitkräften und Rüstungsbürokratie, der nationale Militärisch-Industrielle-Komplex (MIK) würde aufgebrochen.

Einige Vorschläge für Kompromisse zwischen nationalem Interesse an Technologie und Beschäftigung und übernationalem Interesse an Kostendämpfung und Zusammenarbeit machte eine von der IEPG 1986 eingesetzte Kommission. Unter dem Vorsitz des ehemaligen niederländischen Verteidigungsministers Henk Vredeling erarbeitete eine Gruppe von der Rüstungsindustrie nahestehenden Experten Konzepte für eine Reform des Beschaffungswesens ohne wesentliche Einschränkung der nationalen Souveränität. Wesentliche Elemente sind:53

Gegenseitige Information über Ausschreibungen und Anpassung der Ausschreibungsrichtlinien, einschließlich der Schaffung eines Sekretariats in Brüssel

Konkurrenz von mehreren Konsortien mit Partnern aus verschiedenen Ländern um Großprojekte

Vergabe von Aufträgen nach dem Prinzip der »juste retour«. Nicht in jedem Koproduktionsprojekt soll genauso viel Geld in ein Land fließen, wie in das Projekt gesteckt wird, sondern der Ausgleich soll über viele Projekte und zwar möglichst informell, erfolgen

besondere Förderung der südeuropäischen Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie

Schaffung eines gemeinsamen Fonds für Rüstungsforschung analog zur Forschungsförderung der EG im Hochtechnologiebereich.

Der Ministerrat der IEPG nahm auf seiner Sitzung im November 1988 die meisten Vorschläge der Vredeling-Kommission an (siehe Kasten). Ausgespart blieb der gemeinsame Forschungsfonds – hier wurde eine Entscheidung vertagt, bzw. eine Studiengruppe für die “Entwicklung eines Europäischen Technologieprogramms” eingesetzt.54

Auf der Juli-Tagung des Ministerrates ist nun ein Forschungs-Pool namens EUCLID eingerichtet worden, dessen Aufgabenstellung im grundsätzlichen mit EUREKA vergleichbar ist.

Insgesamt wird im Vredeling-Bericht die westeuropäische Rüstungsindustrie als weit schwächer dargestellt als sie ist. Gegenwärtig geht von ihr die stärkste Dynamik in Richtung Westeuropäisierung aus (siehe unten).

Die Bedeutung des EG-Binnenmarktes

“Die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes setzt Fakten auch für den Rüstungssektor – einmal, weil die Mehrzahl der europäischen Firmen mit Rüstungskapazitäten gleichzeitig – zumeist sogar überwiegend – am zivilen Markt tätig ist, und zum anderen, weil der fortschreitende EG-weite Abbau der administrativen Unterschiede im Wirtschaftsleben der einzelnen Mitgliedsländer auch die nationalen Vergabevorschriften und Verwaltungspraktiken beeinflussen wird. Schließlich aber wird von den Erfolgen des Binnenmarktes ein heilsamer Zwang ausgehen, da es offenkundig werden dürfte, daß es im Interesse der Länder liegt, die Vorteile eines großen Marktes auch bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zu nutzen und so die Verteidigungshaushalte zu entlasten.”55 So sieht der für die Kooperation im BMVg verantwortliche Beamte, Ministerialdirigent Dr. Lothar Weber die Vorteile eines gemeinsamen Rüstungsmarktes. Er spricht für die Gruppe von Bürokraten und Politikern, denen es vor allem um eine Verbilligung der Beschaffung geht. Sie sind eine wichtige Lobby für die Westeuropäisierung.

Großes Interesse an einem (west)europäischen Rüstungsmarkt haben auch die umsatzstarken Rüstungsfirmen, allerdings aus anderen Gründen. Sie sind, zumindest in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik, an die Grenzen der nationalen Märkte gestoßen. Der Konzentrationsprozeß, der schon in den 70er Jahren soweit fortgeschritten war, daß nur noch ein Hersteller in jedem Sektor angebotsfähig war, ist in Richtung horizontaler Integration weitergegangen. British Aerospace ist nicht nur praktisch konkurrenzlos im Bau von Flugzeugen und Lenkwaffen, sondern hat inzwischen auch Royal Ordnance, den größten Hersteller von Infanteriewaffen und Panzern aufgekauft. MBB ist nach der Übernahme von VfW auch ins Panzermanagement eingestiegen, über eine Minderheitsbeteiligung an Krauss-Maffei. Jetzt will das Management von Daimler Benz diesen Konzentrationsprozeß weiter vorantreiben. In Frankreich erfolgt die Koordination innerhalb der Rüstungsindustrie schon lange über den Staat, in dessen Besitz sich außerdem die meisten großen Rüstungsfirmen befinden.

Trotzdem ist die westeuropäische Rüstungsindustrie in vielen Hochtechnologiebereichen der Rüstung den US-Amerikanern unterlegen. Der Markt und die Hersteller sind zu zersplittert. Die USA aber sind das Maß des Weltniveaus für die westeuropäische Rüstungsindustrie. J. H. J. Bosma, Vorstandsvorsitzender eines der größten westeuropäischen Rüstungselektronik-Herstellers, der Philips-Konzerntochter Signal erläuterte in einem Interview seine Vorstellungen: “ Meiner Meinung nach könnte die europäische Verteidigungsindustrie allein alles entwickeln, was unsere Streitkräfte brauchen. Wir könnten als europäische Industrie also stärker sein und könnten einen Teil der amerikanischen industriellen Position in Europa ersetzen – hierzu allerdings benötigen wir einen harmonisierten Markt und engere Zusammenarbeit.”56

Der EG-Binnenmarkt wird von den großen Rüstungsfirmen als ein Vehikel angesehen, um über die nationalen Märkte hinauszuwachsen. Durch den Binnenmarkt vereinfacht sich grenzüberschreitendes Vorgehen, zum Beispiel, weil es ein gemeinschaftliches Steuer- und Gesellschaftsrecht gibt. Grenzüberschreitende Euro-Unternehmen wie Panavia oder Euromissile können dann leichter organisiert werden. Auch grenzüberschreitende Kapitalbeteiligungen und -täusche, wie gegenwärtig etwa zwischen Aerospatiale und MBB vorgesehen, werden einfacher.

Wichtiger aber ist die politische Symbolwirkung des gemeinsamen Marktes. Wenn Markt-, Industrie- und Technologiepolitik zunehmend über Brüssel bestimmt werden, läßt sich dann der Rüstungssektor aussparen? Schon ohne Zutun von Rüstungsfirmen oder Politikern scheint das angesichts der engen Verflechtung von ziviler und militärischer Technologie in vielen Bereichen nicht möglich.

Gegen die Kräfte, die eine stärkere Westeuropäisierung der Rüstungsproduktion von der Angebotsseite, den Firmen, her betreiben, gibt es aber auch starke Widerstände. So sehen US-amerikanische Firmen in der beabsichtigten stärkeren Abschottung des IEPG- oder EG-weiten westeuropäischen Rüstungsmarktes eine Bedrohung57 Kleinere Rüstungshersteller bangen um ihre Existenz. Aber auch den großen Rüstungsfirmen ist die Entwicklung nicht ganz geheuer. Zusammen mit vielen Rüstungsbürokraten, Miltärs und Politikern fürchten sie den Verlust der engen nationalen Zusammenarbeit, von der sie profitiert haben.

Die Westeuropäisierung des Rüstungsmarktes ist deshalb nur in kleinen Schritten zu erwarten, wobei die großen Firmen gute Chancen haben, ihre Vorteile zu optimieren. Ein frühes Beispiel bietet gegenwärtig das Verhalten des Managements von Daimler Benz. Einerseits zielt die Fusion mit MBB auf den größeren Markt, die Konkurrenz mit US-Firmen auf gleichem Niveau. Gleichzeitig aber machte das Management zur Bedingung, daß vor Übernahme die Durchführung des für die Zukunft wichtigsten Projekts für MBB, den Jäger-90, von der Bundesregierung garantiert werden müsse – ohne echten Wettbewerb.

Nur wenige Rüstungsfirmen und Politiker wollen einen völlig freien Rüstungsmarkt58, nicht einmal, wenn garantiert wäre, daß alle Aufträge an westeuropäische Firmen gingen. Die meisten Befürworter wollen einen auf Westeuropa erweiterten Markt in Kombination mit einer westeuropäischen Rüstungsindustriepolitik, in der die Wettbewerbsfähigkeit der Rüstungsindustrie gefördert wird, ohne daß politisch gewollte Kapazitäten zerstört werden. Offen ist, wer die Koordination der Rüstungsindustriepolitik übernehmen sollte, in Frage kämen sowohl IEPG oder EG. Mit der Schaffung des Binnenmarktes als Schritt hin auf die geplante Europäische Union scheint die Übernahme einer solchen Funktion durch die EG wahrscheinlicher.59 Der IEPG dürfte die Aufgabe zufallen, diesen Prozeß von der Beschaffungsseite her durch Zurückdrängen nationaler Alleingänge gegenüber abgestimmtem Verhalten der beteiligten Staaten abzusichern.

Aktionsplan für die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes vom 13. Juli 1988 (Auszüge) vom Ministerrat der IEPG beschlossen am 9.11.1988

1.Einleitung

1.1. Auf ihrer Sitzung am 22. Juni 1987 vereinbarten die IEPG-Verteidigungsminister eine Reihe langfristiger Zielsetzungen zur Verbesserung der europäischen Rüstungsindustrie.

Dazu haben sie generell folgende Entscheidungen getroffen:

  • die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes soll angestrebt werden
  • Hindernisse im grenzüberschreitenden Wettbewerb sollen beseitigt werden.
  • Aufträge sollen bereitwilliger an Lieferfirmen in anderen Ländern vergeben werden,
  • Forschungsaktivitäten sollen die weitestgehende Nutzung der europäischen Ressourcen an geistigen Fähigkeiten und finanziellen Mitteln ermöglichen,
  • Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie sollen an der Zusammenarbeit auf dem Rüstungssektor beteiligt werden…

2.2. Angesichts der sehr wichtigen nationalen Interessen werden die IEPG-Länder nur dann bereit sein, grenzüberschreitenden Wettbewerb zuzulassen, wenn sie sicher sind, in angemessener Zeit einen gerechten Ausgleich zu erhalten, der ihren vitalen Interessen und ihren Möglichkeiten entspricht. Deshalb muß eine Art von »Juste Retour« vorgesehen werden.

Möglicherweise kann ein Spannungsverhältnis zwischen »Juste Retour« und der Forderung nach Wettbewerb auftreten. Aber »Juste Retour« ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Unterstützung der Mitgliedsstaten für einen grenzüberschreitenden Wettbewerb zu erhalten. Deshalb und um die Möglichekit der Finanzierung einer angemessenen konventionellen Verteidigung sicherzustellen sollte der wirtschaftliche Aspekt bei Beschaffung in der Regel Vorrang haben vor einem 100prozentigen Ausgleich um jeden Preis. »Juste Retour« muß im Zusammenhang gesehen werden mit dem Streben nach einer leistungsfähigen und geographisch/technologisch ausgewogenen Rüstungsindustrie….

2.4. Neben dem grenzüberschreitenden Wettbewerb wird die umfassende und systematische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung und Technologie das Kernstück bei der Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes sein…

Quelle: Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988

Einheitliche Europäische Akte von 1986 (Auszüge)

Titel III

Vertragsbestimmungen über die Europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik

Artikel 30

Für die Europäische Zusammenarbeit in der Auáenpolitik gelten folgende Bestimmungen:

(1)
Die Hohen Vertragsparteien, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, bemühen sich, gemeinsam eine europäische Außenpolitik auszuarbeiten und zu verwirklichen.

(6)
a)
Die Hohen Vertragsparteien sind der Auffassung, daß eine engere Zusammenarbeit in Fragen der europäischen Sicherheit geeignet ist, wesentlich zur Entwicklung einer außenpolitischen Identität Europas beizutragen. Sie sind zu einer stärkeren Koordinierung ihrer Standpunkte zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit bereit.
b)
Die Hohen Vertragsparteien sind entschlossen, die für ihre Sicherheit notwendigen technologischen und industriellen Voraussetzungen aufrechtzuerhalten. Sie setzen sich hierfür sowohl auf einzelstaatlicher Ebene als auch, wo dies angebracht ist, im Rahmen der zuständigen Institutionen und Organe ein.
c)
Dieser Titel steht einer engeren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit zwischen einigen Hohen Vertragsparteien im Rahmen der Westeuropäischen Union und des Atlantischen Bündnisses nicht entgegen.

Quelle: Bundesgesetzblatt, II, Nr. 39, 24.12.1986, S. 1103 ff

Mitgliedschaften westeuropäischer Staaten
LAND EUROGROUP IEPG WEU EG
Belgien x x x x
Dänemark x x x
BRD x x seit 1954 x
Frankreich x x x x
Griechenland x x   seit 1986
Großbritannien x x x seit 1973
Irland seit 1973
Island
Italien x x seit 1954 x
Luxemburg x x x x
Niederlande x x x x
Norwegen x x
Portugal seit 1976 x seit 1988 seit 1986
Spanien seit 1982 seit 1983 seit 1988 seit 1986
Türkei x x
x=Gründungsmitgliedschaft
(EUROGROUP: 1968, IEPG: 1976, WEU: 1948; EG: 1958)
Aufhebung von Beschränkungen im Rahmen der WEU
9.05.1958 gelenkte Panzerabwehrraketen;
16.10.1958 Marinesschulschiff mit Wasserverdrängung von 4800 bis 5000 t;
21.10.1959 gelenkte Boden-Luft und Luft-Luft Flugabwehrraketen mit
Annäherungszünder;
24.05.1961 Influenzminen (Seeminen); Raketenzerstörer mit taktischen Raketen für
den Seekampf bis zu 6000 t Wasserverdrängung; Hilfsschiffe bis zu 6000 t
Wasserverdrängung;
19.10.1962 U-Boote bis zu 450 t;
9.10.1963 sechs U-Boote bis zu 1000 t Wasserverdrängung;
1968 Luft-Boden Lenkflugkörper für die taktische Verteidigung;
1971 Oberfläche-Oberfläche Lenkflugkörper für die taktische
Seeverteidigung;
1973 U-Boote bis zu 1800 t;
1980 Streichung aller Beschränkungen im Kriegsschiffbau;
17.06.1984 strategische Bomber; Flugkörper großer Reichweite und Lenkflugkörper.
Quelle: Böge u.a., S. 12 f
NATO-Rüstungsagenturen
NATO-Agenturen haben ihre Rechtsgrundlage im Ottawa Abkommen vom
20.9.1951. Sie sind rechtlich autonome Einheiten der NATO und berechtigt, im Rahmen der
ihnen eingeräumten Zuständigkeiten, Verträge mit Rüstungsfirmen abzuschließen. Die
NATO-Agenturen sind dem NATO-Ministerrat verantwortlich; die wirtschaftliche Kontrolle
erfolgt durch den NATO-Rechnungsprüfungsausschuß.
Bestehende NATO-Rüstungsagenturen:
NAMMA (NATO MRCA Development and Production Management Agency)
NEFMA (NATO European Fighter Aircraft Development, Production and Logistics Management
Agency)
NAPMA (NATO AWACS Programme Management Agency)
NHMO (NATO Hawk Management Office)
NACISA (NATO Communications and Informations System Agency)
NAMSA (NATO Maintenance and Supply Agency)
CEOA (Central Europe Operating Agency)

Name Sitz Projekt Personal Beteiligte Staaten
NAMMA München MRCA TORNADO 211 BRD, UK, I
NEFMA München Jäger-90 147 BRD, UK, I, S
NAPMA Brunssum (NL) E-3A AWACS 85 NATO-Staaten außer F, GB, IS
NHMO Rueil-Malmeison(F) HAWK 127 B, DK, BRD, F, GB, I, NL, NOR
NACISA Brüssel (B) Fernmelde- und Führungssystem 253 NATO-Staaten außer S
NAMSA Capellen (L) Ersatzteilversorgung 1189 alle NATO-Staaten außer IS
CEOA Versailles (F) NATO-Pipelines 73 B, BED, GB, CDA, L, NL, USA
Quelle: Wehrdienst 1141/88 vom 5.9. 1988. S. i

III. Festung oder Gemeinsames Haus

Vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Ära des Kalten Krieges, dem allmählichen Ausstieg aus einer bipolar geprägten Welt erscheinen die Bestrebungen einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zumindest als ein sehr eindimensionaler Lösungsansatz, ihre inhaltliche Substanz bleibt im wesentlichen der alten Epoche verhaftet. Die internen Reibungen und Probleme dieses Prozesses verweisen nicht zuletzt auch auf diesen Tatbestand.

Die wiederbegonnene »Europa-Diskussion« geht über diesen Kontext hinaus, speist sich auch aus neuen Denkansätzen in Ost und West.

Zwei alternative Sicherheitskonzepte

“Wir wollen die schmerzliche Teilung Europas, die wir niemals hingenommen haben, überwinden … Ausgehend von der gegenwärtigen Entwicklung zu mehr Zusammenarbeit und den künftigen gemeinsamen Herausforderungen streben wir an, eine neue politische Friedensordnung in Europa zu schaffen…

Für die vorhersehbare Zukunft gibt es keine Alternative zur Bündnisstrategie der Kriegsverhinderung. Dies ist eine Abschreckungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden… Die Präsenz nordamerikanischer konventioneller und nuklearer Streitkräfte in Europa bleibt von vitaler Bedeutung für die Sicherheit Europas…Die wachsende politische Einigung Europas kann zu einer verstärkten europäischen Komponente unserer gemeinsamen Sicherheitsanstrengung und ihrer Wirksamkeit führen.…” (Erklärung der Staats- und Regierungschefs bei der NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel am 29./30.5.1989, aus: Bulletin Nr. 53, 31.5.1989)

“Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen, um so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europa des Friedens und der Zusammenarbeit – einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses – in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann…

Europa, das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muß der Welt ein Beispiel für stabilen Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die Leistungsfähigkeit aller Staaten ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zum gemeinsamen Wohl zusammenführt… verurteilen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Die Sicherheitspolitik und Steitkräfteplanung dürfen nur der Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr und der Sicherung des Friedens mit weniger Waffen dienen. Das schließt ein Wettrüsten aus…” (Aus der gemeinsamen Erklärung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, Bonn, 13.6.1989, aus: FAZ vom 14.6.1989)

Sehr unterschiedliche – auf Dauer nicht vereinbare – Konzeptionen von Sicherheitspolitik, bzw. Vorstellungen von Sicherheit überhaupt, existieren gegenwärtig noch nebeneinander. Die politische Führung der Bundesrepublik bewegt sich in beiden Konzeptionen: Während im West-West-Kontext der NATO militärische Stärke in Europa noch als ein zentrales (konfrontatives) Sicherheitsparadigma gilt, ist in der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow eine neue Gewichtung ziviler (gemeinsamer) Kriterien erkennbar. Die friedliche Begegnung von Ost und West scheint heute – wenn auch spät – Katalysator für die Zivilisierung der Politik werden zu können. Dies geschieht vor allem über die Bewußtmachung systemübergreifender globaler Herausforderungen, die auch über Europa hinausweisen.

Das von Michail Gorbatschow propagierte »Gemeinsame Haus Europa« kann vor allem als innovatives gedankliches Modell einer (auch in einigen westlichen Ansätzen schon diskutierten) neuen gemeinsamen Konzeption der Sicherheit und des Zusammenlebens an einem Brennpunkt der Welt dienen. Insofern spricht auch nichts gegen die Synonymisierung mit dem Begriff der »Europäischen Friedensordnung«. Gesamteuropa in diesem Sinne jedoch heute als ein einheitliches (völkerrechtliches) Gebäude theoretisch und praktisch zu projizieren, scheint weder realistisch noch hilfreich für die zukünftigen Entwicklungen. Es soll im folgenden vor allem darum gehen,

  • Erfordernisse neuer Sicherheit zwischen Staaten und Völkern zu präzisieren,
  • die Probleme eines solchen Neulandes »Gesamteuropa« unter den heutigen politischen Realitäten in aller Widersprüchlichkeit zu erfassen,
  • sowie auf Defizite bisheriger Konzepte zu verweisen.

Erfordernisse friedlicher Kooperation in Europa

In der Tat beinhalten die genannten unterschiedlichen Sicherheitskonzeptionen zwei alternative Entwicklungswege für Europa (und die Welt): Das Weitergehen in Richtung einer »Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik« impliziert unter anderem eine militärisch geprägte Wissenschafts- und Technikentwicklung, den Primat konfrontativer bzw. aggressiver Denkansätze in der Außen- und Wirtschaftspolitik, die Mißachtung anderer (sozialer, ökologischer) Prioritäten gesellschaftlicher und internationaler Kooperation. Dies gilt insgesamt, wenn sich die EG mit ihrem Binnenmarkt vorrangig zu einem “Rollfeld für Multis” (W. Kartte, Chef des Bundeskartellamtes, SPIEGEL 23/1989) entwickelt.

“Mit Sorge betrachten wir deshalb eine Tendenz in der Europäischen Gemeinschaft zur Herausbildung einer dritten, sich ökonomisch und militärisch selbst behaupten wollenden »Supermacht«, die zugleich versucht, Osteuropa zu ihren Bedingungen zu integrieren. Unsere Vorstellungen von Europa zielen auf die Schaffung einer neuen Europäischen Friedensordnung, die frei ist von Militärbündnissen – und damit frei ist für eine ökologische, soziale und ökonomische Kooperation, die auf der Basis der Gleichberechtigung aller Europäischen Staaten und Gesellschaften aufbaut und aus der alle Beteiligten ihren wechselseitigen Nutzen ziehen können…” (Offener Brief der GRÜNEN an Gorbatschow, Frankfurter Rundschau, 14.6.1989)

Die »Bauelemente« aus der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow skizzieren eine solche politisch-alternative Richtung, ohne jedoch die zentrale Frage der Militärbündnisse schon zu berühren.

Ein Nebeneinanderexistieren beider Sicherheitskonzeptionen für die nächste Zeit realistisch vorausgesetzt, wird es darum gehen müssen, die Entwicklungsbedingungen für das Neue im Alten gezielt zu fördern. Zentrale Gedanken hierfür sind:

  • Das Gemeinsame Haus Europa, die Europäische Friedensordnung versteht sich als Teil eines zukünftigen Systems internationaler Sicherheit, das friedliche Kooperation auch mit der Dritten Welt einschließt (zur gegenwärtig negativen Rolle Europas beim Anteil am Weltrüstungsexport, siehe u.a. SIPRI-Datenbank, in: IFIAS (Hrsg.), Frieden und Abrüstung Nr.26, Bonn 1988.) Der KSZE-Prozeß kann hierfür wegen der an ihm Beteiligten sowie der dort einbezogenen Themenfelder eine wichtige Grundlage sein.
  • Die »Besonderheiten« Gesamteuropas liegen vor allem in seiner besonderen Friedensverantwortung gegenüber Dritten aufgrund seiner geostrategischen und intersystemaren Lage und Erfahrungen, sowie in seinen Völkervielfalt einschließenden kulturellen Wurzeln. Dies widerspricht jeder Form chauvinistischer Abschottung sowie Großmachtpolitik. (Vgl. u.a. M. Gorbatschow, Perestroika, München 1987, S. 255 ff; W. Brandt, Die richtige Perspektive heißt 2000, SPIEGEL Nr. 23/1989)
  • Europa ist ein »Pulverfaß« im doppelten Sinne – mit der größten Waffenkonzentration auf der Welt und dem engsten Netz hochindustrieller Anlagen. Krieg bzw. militärische Optionen sind deshalb in Gesamteuropa in besonderer Weise obsolet (vgl. hierzu u.a. M. Schmidt/W. Schwarz, Das Gemeinsame Haus Europa, in: IPW-Berichte 9+10/1988, Berlin (DDR); G. Zellentin, Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar? Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/1989).
  • Die Entmilitarisierung Gesamteuropas ist zugleich Voraussetzung und paralleler Prozeß zu der Entwicklung neuer ziviler Kooperationsstrukturen auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichtechnischem, ökologischem und kulturellem Gebiet. Vertrauensbildende Schritte können eine wechselseitige Dynamik entfalten.

Neuland Gesamteuropa

Alle sprechen heute von der »Überwindung der Spaltung Europas«. Die politischen Entwicklungen in West (EG-Integration) und Ost (Perestroika) sind aber zu neu, andere Probleme demgegenüber zu alt (die deutsche Frage) als daß Gegenstand und Wege der Überwindung der Spaltung Europas schon vereinheitlicht wären. Zu unterschiedlich sind noch die Interessenlagen.

EG: Markt und (Über-)Macht

Die Besorgnisse über die Übermacht der westeuropäischen Integration, vor allem in Gestalt des Binnenmarktes ab 1993, sind unüberhörbar und berechtigt (von östlicher Seite vergl. exemplarisch die sowjetischen Teilnehmer des 86. Bergedorfer Gesprächskreises »Das Gemeinsame Europäische Haus aus Sicht der SU und der BRD« im Dezember 1988, Hamburg, 1989; vgl. aber auch die »Festung Europa«-Debatte in den USA)

Die »Selbstbehauptungs-„Linie in der Bundesrepublik – auch jenseits der Unionspolitik – reicht von der Forderung, die “EG müsse zu einem Faktor der Sicherheit (gemeint die militärische, d.V.) werden… gegen die Instabilitäten im kommunistischen Herrschaftsbereich” (C. Bertram, 'Die Zeit' vom 16.6.89) bis zum Philosophieren über das allgemein menschliche Streben nach “Macht und Einfluß”, das natürlich in einem friedlichen Europa nicht aufhöre (E. Bahr, Zum Europäischen Frieden, Berlin 1989, S. 90). “Die Flagge folgt dem Handel” …ist solange noch nicht her. Die Hegemoniebefürchtungen gegenüber den 12 EG-Staaten bestätigen sich auch durch die Austragungsformen von Führungsansprüchen im Innenverhältnis der EG selbst: Die scheinkompensatorischen Zuweisungen ökonomischer bzw. militärischer Macht vor allem zwischen Frankreich und der Bundesrepublik (siehe u.a. E. Bahr, a.a.O., S. 52 ff) enthalten noch wenig verantwortliche Politikansätze für die Zukunft, aber viel nationalistisch geprägtes Machtstreben.

Die ökonomische Integration Westeuropas wird zu den Realitäten des nächsten Jahrzehnts gehören; schon deshalb muß sie zu einer wichtigen Säule in einer Europäischen Friedensordnung werden.

“Die Etablierung einer westeuropäischen Dominanz würde die Teilung Europas verlängern. Das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West würde weiter zunehmen…Dann wird es in Europa Destabilisierung nicht als Übergangsphase zu neuen Strukturen, sondern als Dauerzustand geben.” (G. Gaus, Deutsche Volkszeitung, Nr. 23, 2.6.1989).

Perestroika – Quo Vadis ?

Die politischen Neuorientierungen im Osten, haben viel angestoßen, was eine Europäische Friedensordnung befördern kann; nicht vor allem, weil es den Vereinnahmungsabsichten des Westens entgegenkommt, sondern weil dort versucht wird, der Modernisierung mittels des Primats der Politik auf nationaler und internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. Welche konkreten Entwicklungen Ungarn und Polen nehmen werden, wie sich das komplizierte Wechselverhältnis von Politik und Ökonomie auswirken wird, ist gegenwärtig offen (vgl. u.a. Poszgay, in Frankfurter Rundschau, 13.1.89). Chancen und Gefahren liegen nahe beieinander; ob daraus Instabilität für Gesamteuropa erwächst, hängt allerdings wesentlich auch von der Politik des Westens ab. “Wir müssen eine Verflechtung von Interessen und Kooperationen in Europa schaffen, die es keinem Land mehr erlaubt, sich aus diesem Verbund zu lösen, ohne seine vitalsten Eigeninteressen auf das Schwerste zu verletzen. Wir brauchen gegenseitige Abhängigkeit im guten Sinne des Wortes.” (D. Genscher, Worten müssen auch bei uns Taten folgen, in: SPIEGEL, Nr. 24/1989). Was hier als »systemöffnende Zusammenarbeit« propagiert wird, muß sich –wenn »Gegenseitigkeit« Gleichberechtigung trotz Ungleichheit bedeuten soll – wirklich neue Inhalte und Strukturen der Kooperation suchen. Joint Ventures reichen nicht. “Die Arbeitsteilung könnte weitaus substitutiver (statt komplementärer) Natur sein. …Je intraindustrieller die Arbeitsteilung würde, um so geringer wäre die Gefahr, daß im Westen protektionistische Kräfte gegen eine verstärkte Importkonkurrenz aus dem Osten zum Zuge kommen”. (J.P. Donges, Handelsbeziehungen zwischen Ost und West auf der Basis unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, Bremen, April 1988.) Es existieren umfangreiche Vorschläge für gesamteuropäische Institutionen auf dem Gebiet des Umweltschutzes, der Energiewirtschaft, der humanitären Fragen (vgl. u.a. M. Gorbatschow vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 6.7.89, u.a. in: tageszeitung v. 7.7.89).

Das deutsche Problem

Bewegung in Europa ohne Aufwerfen der deutschen Frage ist aufgrund der deutschen Kriegsgeschichte nicht denkbar. Allein das (angesichts der ökonomischen Potenz der Bundesrepublik) berechtigte Mißtrauen der Nachbarn erfordert absolute Abstinenz gegenüber allen »gesamtdeutschen« Vorhaben. Auch wenn die Veränderungen in Europa den Deutschen nach 40 Jahren einen souveräneren Umgang mit ihrer Nationalität ermöglichen können: Die deutsche Besonderheit liegt nicht in einer wie auch immer gearteten Extralösung neben dem gesamteuropäischen Einigungsprozeß, sondern in einer besonders bewußten Verantwortung als Friedensfaktor in eben diesem Prozeß. Nur im Ergebnis dessen, im Kontext von möglicherweise insgesamt veränderten staatlichen (konföderativen) Strukturen in Gesamteuropa wird auch deutsche Zweistaatlichkeit einen neuen vielleicht “außerordentlichen modus vivendi” finden können (G.S. Kennan, The German Problem, in: German Issues, April 1989; vgl. auch T. Sommer, Quovadis Germania,'Die Zeit' vom 23.6.1989 und G. Gaus, in: Die Deutsche Volkszeitung vom 2.6.1989). Jede andere auch von links heute wieder oder neu in die Debatte gebrachte separate deutsche Lösung (vgl. »Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität«, in: Mediatus 6/1989) mißachtet die Anerkennung des historischen Status Quo als Ausgangspunkt für Veränderungen. Das bedeutet auch, daß die wünschenswerte Überwindung der (Militär)Blöcke, nicht dort beginnen kann, wo – wie in der DDR – staatliche und systembedingte Blockidentität so existentiell wie in keinem anderen Land Europas miteinander verbunden sind. Diesem Fakt tragen eher Anforderungen an die DDR Rechnung, über Modernisierung unter sozialistischen Vorzeichen – etwa die Verbindung von Gemeineigentum, ökologischen Kriterien und individuellen Freiheiten – neu nachzudenken (vgl. G. Gaus, a.a.O.; E. Eppler, Rede zum 17. Juni 1989, in: Frankfurter Rundschau vom 19.6.1989).

Defizite vorhandener Konzeptionen

Konzeptionelles Nachdenken über ein Europa des Friedens und der gleichberechtigten Zusammenarbeit erfordert unter den aktuellen Entwicklungen neue Anstrengungen auch seitens der Friedensbewegung. Die Kunst wird darin bestehen, umfassende Alternativen zum Status Quo mit konkreten Schritten für die einzelnen Bereiche – Abrüstung, Wirtschaftsbeziehungen, technologische und ökologische Zusammenarbeit, Demokratie und Kultur – zu verbinden. Realismus und Visionsfähigkeit sind zusammen gefordert.

Die vorhandenen Konzepte tragen der neuen Lage aus unterschiedlichen Gründen nur partiell Rechnung.

Strukturelle Angriffsunfähigkeit in Europa

Die seit einigen Jahren relativ intensiv geführte Debatte – zunächst in der Bundesrepublik Deutschland, inzwischen auch im weiteren NATO-Bereich, sowie im Rahmen der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) – unter den Oberbegriffen strukturelle Nichtangriffsfähigkeit bzw. defensive Verteidigung versteht sich erklärtermaßen als militärstrategische Alternative zur Flexible Response-Konzeption der NATO. (Eine gute Kurz-Übersicht der verschiedenen Ansätze bietet das Bulletin of Atomic Scientists, September 1988, S. 23; s.a. IWIF-Dossier Nr. 3).

Ihr wesentliches Defizit – sieht man einmal von der grundsätzlichen Schwäche eines solchen eindimensionalen Ansatzes ab – ist ein immanentes: Da die Bedrohungsperzeptionen und damit die Philosophie der Abschreckung keiner prinzipiellen Prüfung unterzogen werden, bleiben alle defensiven Verteidigungsansätze paradoxerweise letztlich Kriegsführungsoptionen. Neuere Erkenntnisse, die Europa allein wegen seiner hohen Verwundbarkeit aufgrund der hochindustriellen Strukturen als weder atomar noch konventionell (defensiv) zu verteidigen ausweisen, werden noch nicht rezipiert. (Vgl. W. Schwarz, Strukturelle Angriffsfähigkeit in Europa, in: Beiträge zur Konfliktforschung 2/1989, S. 5 ff.). Im Ansatz werden diese Defizite erstmals im »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO: From Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989, bearbeitet, indem auch die Gesamtstruktur der Militärblöcke thematisiert wird (vgl. Informationsdienst Wissenschaft & Frieden 2/89).

Gemeinsame Sicherheit – System kollektiver Sicherheit (SKS)

Das unbestrittene Verdienst des seit dem Palme-Bericht 1982 vor allem von der Sozialdemokratie propagierten Konzeptes der gemeinsamen Sicherheit liegt in der ersten westlichen Formulierung des »Miteinander im Atomzeitalter«. Ansonsten gelten ähnliche grundsätzliche Defizite wie oben. “Eine Fortentwicklung des Gedankens der gemeinsamen Sicherheit zu einer kollektiven Sicherheit” (D. S. Lutz, Kollektive Sicherheit in und für Europa – eine Alternative, Baden-Baden 1985) bezieht eine mehrdimensionale Sicht der neuen Europäischen Friedensordnung (innergesellschaftlich, verteidigungspolitisch, Ost-West-, und Nord-Süd-Ebene) ein. Trotzdem bleibt das SKS selbst eine auf ein militärisches Gewaltmonopol gestützte Allianz vor allem zum Zwecke der Kriegsverhinderung bzw. Kriegsbeendigung (»negativer Frieden«); es findet keine Entmilitarisierung des Sicherheitsbegriffes statt (zur Kritik am SKS vgl. auch G. Zellentin, ebenda, S. 327 ff).

Interessanter als der Endzustand eines SKS erscheinen unter den heutigen Bedingungen die Schritte und Phasen auf dem Weg dahin, u.a.: der Verzicht auf Destabilisierung, Vertrauensbildung, einseitige Abrüstung, atomwaffenfreie Zonen, Defensivumrüstung, Lockerung der Blockintegration. Auch Böge/Wilke entwickeln vor allem Schritte zu einem Europäischen System kollektiver Sicherheit (ESkS) (im Sinne einer Vollendung des KSZE-Prozesses), mit dem Ziel der Lockerung und schließlichen Auflösung der Blöcke (vgl. V. Böge/P. Wilke, Sicherheitspolitische Alternativen, Baden-Baden 1984). Kritikwürdig erscheint hier vor allem die Vorstellung, die Großmächte USA und UdSSR könnten aus dem ESkS weitgehend ausgegrenzt werden.

Gegenüber den genannten Konzepten hat die durch die aktuelle politische Entwicklung vor allem im Osten angestoßene Grundsatzdebatte über das Europäische Haus bzw. die Europäische Friedensordnung den Vorteil einer umfassenderen (globaleren) Sicht auf das Thema. Man kann kritisieren, daß hierin auch die Gefahr einer Diffusität und Abgehobenheit liegt, weil Europa in der konzipierten Form als Handlungsträger gar nicht existent sei (vgl. D. Senghaas, Die Zukunft Europas, Frankfurt 1986). Die Kehrseite eines Pragmatismus, der letztlich Entspannung auf die militärische Seite reduziert (die zugegebenermaßen erst noch zu erreichen ist), ist jedoch in den bisherigen Konzepten evident.

In den Blöcken – für Blocküberwindung

Hilfreicher als Modellbastelei scheinen Beiträge der Friedensbewegung zur Europadebatte, die sich vor allem vornehmen, Prinzipien zu entwickeln, die als unverzichtbar gelten müssen, wenn Demilitarisierung und neue friedliche Kooperationsformen entstehen sollen. (Siehe u.a. Thesen von A. Buro, Antworten der Friedensbewegung auf die »Europäisierung der NATO«, in: Die GRÜNEN, Euromilitarismus, Bonn 1985). Eine prinzipielle Kritik muß an allen Bestrebungen ansetzen, mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in neuem Rahmen Aufrüstung und Militärpolitik zu befestigen.

Neu nachgedacht werden muß vor allem über das komplizierte Wechselverhältnis von blockübergreifender Kooperation und der Auflösung der Blöcke als Zielvorstellung. Die meisten vorhandenen Konzeptionen über Blockfreiheit und Neutralismus werden der neuen Situation, den Chancen und Problemen einer möglichen Konvergenz zwischen Ost und West nicht gerecht. (Eine kritische Würdigung der europapolitischen Konzeptionen aus Friedensbewegung und Friedensforschung findet sich bei V. Böge, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik, Nr. 2, Januar 1988).

“Warum sollte es nicht zentraleuropäische Gesprächskreise geben für verschiedene Sachgebiete? Das könnte mit Experten beginnen, die von den Regierungen entsandt werden. Auf der nächsten Stufe könnten Regierungsvertreter hinzukommen. Das Ganze könnte förmlich zum Teil des KSZE-Prozesses erklärt werden. Blockübergreifende Ebenen würden sicherlich zu einer schrittweisen inneren Veränderung der Blöcke führen. Da kann in ferner Zukunft auch eine Auflösung der Blöcke vorstellbar sein, doch zur Zeit hätte sie eine gefährliche Destabilisierung zur Folge…. (G. Gaus, in: DVZ vom 2.6.1989).

Die Bevölkerung der einzelnen Länder muß an diesem Prozeß des gesamteuropäischen Dialoges direkt beteiligt werden. Das kann durch Teilnahme von »Bürgervertretern« in solchen zentraleuropäischen Gesprächskreisen erfolgen. Es müssen aber auch neue, nichtstaatliche kooperative Strukturen entwickelt werden: Dazu kann der Ausbau von Städtepartnerschaften gehören, die Errichtung von gemeinsamen Beratungsgremien der sozialen Bewegungen (u.a. Abrüstung, Ökologie, Frauenpolitik), die Gründung wissenschaftlicher Einrichtungen »von unten«, um alternative Expertise zu fördern.

IV Schlußfolgerungen

  1. Die Konzeptionen einer (West-) Europäisierung der NATO haben ihre Wurzel in der Krise der NATO als westlichem militärischen und ökonomischen Machtblock. Es geht um geographisch und politisch unterschiedliche Reflexionen der Bedrohung bzw. der Abschreckungsdoktrin; es geht auch um die Dynamik der ökonomischen Integration Westeuropas, um wirtschaftliche Konkurrenzen zwischen den großen kapitalistischen Zentren.
  2. Im Zuge des weltweiten Rückgangs der bipolar geprägten Ost-West-Konfrontation treten die beiden Akteure der »Europäisierung« – die USA und West-Europa – deutlicher hervor: Dort die Forderungen nach einer »gerechteren Lastenteilung im Bündnis«, hier unterschiedliche Konzepte einer »Selbstbehauptung Europas«, die auch den ideologischen Effekt einer eigenständigen »Friedensstrategie« für Europa einschließen.
  3. Die Widersprüche und Reibungen innerhalb Westeuropas bei dem Versuch, die Militärintegration neu zu strukturieren, haben ihre Ursachen nicht nur vordergründig im institutionellen Bereich, sondern hängen mit der Schwierigkeit zusammen, militärische Modernisierung unter bereits im NATO-Bündnis gescheitertem Vorzeichen neu zu fundieren.
  4. Mit diesem Grunddilemma – der Verbindung nationaler Interessen und Weltmachtansprüche vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen einer ganz neuen Qualität – hängt es zusammen, daß es gegenwärtig völlig offen ist, ob und in welcher Weise der EG-Binnenmarkt 1993 auch einen Fortschritt im Sinne eines einheitlichen westeuropäischen Rüstungsmarktes bringen wird.
  5. »Europäisierung« ist aus den genannten inhaltlichen Gründen, einschließlich seiner ideologischen Wirkung, kein georaphisch fundiertes Modell einer Friedenspolitik in Europa. Hierzu gehört auch die Tatsache, daß der Begriff der »Europäisierung« nur schwerlich über die Exklusivität des Sicherheitsverständnisses seitens des Westens gegenüber dem Osten Europas hinwegtäuschen kann.
  6. Die neuen Tendenzen im Ost-West-Verhältnis, die Veränderungen im Osten noch mehr als im Westen schaffen Voraussetzungen für eine Gesamteuropa einbeziehende friedenspolitische Diskussion. Gedanken eines »gemeinsamen europäischen Hauses« bzw. einer »Europäischen Friedensordnung« finden erstmals Eingang in Ost-West-Dokumente (gemeinsame Erklärung von Michail Gorbatschow und Helmut Kohl).
  7. Der neue inhaltliche Ansatz – gemeinsame Sicherheit zur Lösung globaler Menschheitsprobleme – wendet sich auch gegen die Gefahren eines Eurozentrismus und erweitert die Tagesordnung der (bisher militärisch geprägten) Sicherheit, um alle Fragen ziviler, internationaler Kooperation (Wirtschaftsbeziehungen, Ökologie, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Kultur und Demokratie). Der KSZE-Prozeß kann wegen der daran Beteiligten (inklusive der USA) und der Themenfelder eine gute Grundlage für eine Neubelebung gesamteuropäischer Friedenspolitik sein.
  8. Die gegenwärtige ökonomische Ungleichheit zwischen West- und Ost-Europa darf nicht zum Ausgangspunkt eines neuen kalten Krieges (diesmal zum Zwecke wirtschaftlicher Hegemonie), eines neuen Anlaufs zum »Siegen« werden. Neue Grundsätze und Strukturen ökonomischer Kooperation müssen zwischen Ost und West entstehen.
  9. Die Friedensbewegung sollte mit eigenen Initiativen in die gesamteuropäische Friedensdiskussion eingreifen. Wesentliche Prinzipien hierfür können sein:

    • Kritik an allen neuen Militärprojekten und -strukturen unter dem Vorzeichen »Europäisierung« (das gilt sowohl für die multilateralen Rüstungsvorhaben wie für die bilateralen, insbesondere die deutsch-französische Militärzusammenarbeit). Ansatzpunkte dieser Kritik sind u.a. die Beibehaltung der Abschreckung, die neuen Beiträge zum Wettrüsten, zur Herausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes, zur Forcierung des Rüstungsexportes
    • Die Anerkennung des Status quo der Grenzen in Europa
    • Das Eintreten für gewaltfreie Konfliktlösung und das Prinzip der Nichtbedrohung. Dazu gehört als erste Weichenstellung die Umstrukturierung der militärischen Potentiale in Richtung einer Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, als Übergang zu weiterer bis vollständiger Abrüstung
    • Einseitige Schritte der Abrüstung; multilaterale Verhandlungen
    • Vertrauensbildende Schritte auch auf den Feldern ziviler Kooperation
    • Schaffung neuer staatlicher und nichtsstaatlicher Strukturen gesamteuropäischer, blockübergreifender Zusammenarbeit.
    • Die genannten Prinzipien verstehen sich als Voraussetzung auf dem Weg zu einer schließlichen Auflösung der Militärbündnisse und der Blöcke.
    • Es geht um die Zurückdrängung alter und neuer Nationalismen zu Gunsten globaler humaner Lösungen.

Damit Kurt Tucholsky nicht recht behält, der in den 20er Jahren argwöhnte: “Europa? Ein Vaterlandskomplex mit Ladehemmungen.”

Anmerkungen

1) Die NATO in den 90er Jahren. Ein Sonderbericht des Ausschusses der Nordatlantischen Versammlung, Brüssel 1988, S.7 Zurück

2) So die in sich nicht widerspruchfreie, aber den »main stream« der Diskussion in den USA repräsentierende Studie Discriminate Deterrence. Report of The Commission on Integrated Long-Term Strategy, U.S. Government Printing Office, Washington D.C. 1988 Zurück

3) Vgl. Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen, in: Europa-Archiv 22/1987, S.D613-D616, hier S.D613 Zurück

4) Vgl. Oldag, Andreas, Allianzpolitische Konflikte in der NATO. Die sicherheitspolitischen Interessen der USA und Westeuropas, Baden-Baden 1985 Zurück

5) Weidenfeld, Werner, Bilanz der Europäischen Integration, in: ders./Wessels, Wolfgang, Jahrburch der Europäischen Integration 1981, Bonn 1982, S.26 Zurück

6) Vgl. »Feierliche Deklaration zur Europäischen Union«, in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Europäische Politische Zusammenarbeit. Dokumentation, S.352-364, hier S.362 Zurück

7) Vgl. Einheitliche Europäische Akte, in: Europa-Archiv 6/1986, S.D163-186, hier S.D176-D178. Zurück

8) Rede des amtierenden Vorsitzenden des Ministerrates der WEU, Außenminister H.-D. Genscher, vor der Versammlung der WEU in Rom am 29.10.1984, zit. n. Europa Archiv 24/1984, S.D 708-710, hier S.D 709 Zurück

9) Vgl. »Erklärung von Rom«, in: Europa-Archiv 24/1984, S.D 705-707 Zurück

10) Vgl. Plattform …, a.a.O. Zurück

11) Vgl. Hintermann, Eric, European Defence: a Role for WEU, in: European Affairs 3/88, S.31-38 Zurück

12) Vgl. Statz, Albert, Eine Achse der Aufrüstung? Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich, hrsg. von: Die GRÜNEN im Bundestag, Bonn 1988; Yost, David S., Franco-German Defense Cooperation, in: The Washington Quarterly 1/1988, S.173-195; Kaiser, Karl/Lellouche, Pierre (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Wege zu mehr Gemeinsamkeit?, Bonn 1986 Zurück

13) Vgl. Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Versammlung der Westeuropäischen Union, BT-Drs. 11/1546 Zurück

14) Vgl. Kennedy, Paul M., The Rise and Fall of Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987; Calleo, David, Beyond American Hegemony: The Future of the Western Alliance, New York 1987 Zurück

15) Vgl. Brzezinski, Zbignew, America's New Geostrategy, in: Foreign Affairs, Spring 1988, Vol. 66, S.680-699; Discriminate Deterrence …, a.a.O., S.5-12; Tonelson, Alan, The Real National Interest, in: Foreign Policy No. 65, Winter 1985/86, S.49-68; Zurück

16) Vgl. Gray, Collin S., NATO: Time to Call it a Day?, in: National Interest No.10, Winter 1987/88; Calleo, David P., NATO's Middle Course, in: Foreign Policy No. 69, Winter 1986/87, S.135-147 Zurück

17) Discriminate Deterrence …, a.a.O., S.33 Zurück

18) Vgl. Haftendorn, Helga, Transatlantische Dissonanzen. Der Bericht über »Selektive Abschreckung« und die Strategiediskussion in den USA, in: Europa-Archiv 8/1988, S.213-222; Howard, Michael/ Kaiser, Karl/de Rose, Francois, Differenzierte Abschreckung, in: Europa-Archiv 5/1988, S.129-131 Zurück

19) Vgl. ebd.; Schülert, Irene, Die Entwicklung der NATO-Strategie – auf dem Weg in die Kriegsführungsfähigkeit?, in: Heisenberg, Wolfgang/Lutz, Dieter S. (Hrsg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S.260-270 Zurück

20) Vgl. Hunter, Robert E., Will the United States remain a European power?, in: Survival 3/1988, S.210-231 Zurück

21) Vgl.Brock, Lothar/Jopp, Mathias/Ropers, Norbert/Schlotter, Peter, France, Grat Britain and West Germany: Dissenting Promoters of Security in Western Europe, PRIF Reports No.4., Frankfurt a.M. 1989 Zurück

22) Hacke, Christian, Weltmacht wider Willen: die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S.467. Den “neuen Größenwahn” (Arnulf Baring) dieses Weltmachtanspruchs verdeutlicht die Entlehnung des Titels bei Ernst Fraenkel (USA. Weltmacht wider Willen, Berlin/West 1957). Zurück

23) Vgl. Schwarz, Hans-Peter, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985, S.141. Zurück

24) Bertram, Christoph, Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/1988, S.3-11, hier S.7.Vgl. auch ders., Sicherheitspolitische Perspektiven für Westeuropa, in: Genscher, Hans-Dietrich (Hrsg.), nach vorn gedacht. Perspektiven deutscher Außenpolitik, Bonn 1987, S.91-111 Zurück

25) Vgl. Luard, Evan, A European Foreign Policy?, in:International Affairs 4/1986, S. 573-582 Zurück

26) Senghaas, Dieter, Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt/M. 1986, S. 97 Zurück

27) Vgl. Weidenfeld, Werner, 30 Jahre EG. Bilanz der Europäischen Integration, Bonn 1987 Zurück

28) Vgl. Rummel, Reinhardt, Zusammengesetzte Außenpolitik, Westeuropa als internationaler Akteur, Kehl a.Rh., Straßburg 1982 Zurück

29) Zitiert nach: Assembly of the Western European Union, Document 1140, S. 7-10 Zurück

30) Siehe z. B. den Redebeitrag des Präsidenten der Versammlung der WEU, Charles Goerens, anläßlich einer Tagung der Versammlung in Florenz vom 21.-23. März 1989 über das Thema: ”Die Zukunft der Europäischen Sicherheit”, Assembly of Western European Union, General Affairs Committee, Paris, 1989, S. 12 Zurück

31) Zitiert aus NATO-Brief. Nr. 5, 1987, S. 20 Zurück

32) Willem F. Van Eekelen, Die Eurogroup und der Amerikanisch-Europäische Dialog, in; NATO-Brief, Nr. 4, 1988, S. 11 Zurück

33) Vgl. Eduardo Serra Rexach, Die unabhängige Europäische Programmgruppe auf dem richtigen Weg, in: NATO- Brief, Vol. 34, Nr. 5, 1986, S. 27 Zurück

34) In der Bundesrepublik ist dies der jeweilige HauptAbteilungsleiter Rüstung im BMVg Zurück

35) Der Tindemans- Bericht über die Europäische Union, in: Europa-Archiv, 31. Jg., Nr. 3, 1976, S. D64 Zurück

36) Londoner Bericht, in: Europa Archiv, 37. Jg. Nr. 2, 1982, S. D46 Zurück

37) Feierliche Deklaration zur Europäischen Union vom 21.6.1983, Bulletin 65, S. 602 Zurück

38) Vgl. Hans-Gert Pöttering, Vom Protest zum gemeinsamen Konzept. Sicherheits- und Abrüstungspolitik in der der EG, in: Das Parlament, Nr. 3, 13.1.1989, S. 8 Zurück

39) Zitiert in: Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft und Dokumentation, Sicherheit und Rüstung: Die Rolle des Europäischen Parlaments in Verbindung mit der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, Reihe Politik, Nr. 9, März 1985, mimeo, S. 2 Zurück

40) Vgl. EP-Sitzungsdokument 1978/79, Dok. 83/78 Zurück

41) Zitiert nach der Unterrichtung des Bundestages, Bundestagsdrucksache 11/4339, S. 6 Zurück

42) David Greenwood, Report on a Policy for Promoting Defence and Technological Cooperation among West European Countries for the Commission of the European Communities, mimeo, o. O., 1980 Zurück

43) Vgl. Jonathan Braude, EEC seeks to create single European Market, in: Jane's Defence Weekly, 28 May 19, 1988, S. 1044 Zurück

44)in Albert Statz, Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich. Eine Achse der Aufrüstung?, Bonn 1988 Zurück

45) Dregger, Alfred, Europäische Sicherheitsunion, in: Europäische Wehrkunde 1/1989, S. 5 Zurück

46) Vgl. etwa die Vorstellungen bei David Greenwood, Errichtung der europäischen Säule: Fragen und Institutionen, in: NATO-Brief, Vol. 36, No. 3, 1988, S. 19 Zurück

47) Vgl. Peter Runge, Rüstungszusammenarbeit, Anspruch und Wirklichkeit, in: Wehrtechnik, No. 4, April 1988, S. 20 Zurück

48) Errechnet für Stand 31.8.1987, nach Wehrtechnik, Nr. 4, April 1988, S. 27 Zurück

49) Vgl. z. B. M. Brzoska, P. Lock und H. Wulf, Rüstungsproduktion in Westeuropa, Hamburg 1980 und Wulf, Herbert, Europäische Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion, in: Lothar Brock und Mathias Jopp (Hrsg.), Sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Kooperation in der Rüstungswirtschaft in Westeuropa, Baden-Baden 1986 Zurück

50) Vgl. Runge, S. 26 Zurück

51) Vgl etwa Greenwood, S. 19 Zurück

52) Tebbe, Wolfgang, Internationale Rüstungskooperation, in: Wehrtechnik, April 1988, S. 30 Zurück

53) Towards a Stronger Europe, A Report by an Independent Study Team Established by Defence Ministers of Nations fo the Independent European Programme Group to Make Proposals to Improve the Competitiveness of Europe's Defence Equipment Industry, mimeo, Brüssel 1987 Zurück

54) Vgl. Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988 Zurück

55) Lothar Weber, Eine Wende des Denkens? Europäischer Rüstungsmarkt, in: Europäische Wehrkunde/WWR, Nr, 7, 1988, S. 399 Zurück

56) Wehrtechnik, Nr. 8, August 1988, S. 43 Zurück

57) Vgl. etwa U.S. Welcomes Changes in Europe, but fears of trade barriers lingers, in: Aviation Week und Space Technology, June 12, 1989, S. 127-137 (die gesamte Nummer der Zeitschrift ist dem Thema Binnenmarkt gewidmet) Zurück

58) Ein gewisse Ausnahme ist Großbritannien. Hier wird seit Anfang der 80er Jahre verstärkt auf Wettbewerb bei der Rüstungbeschaffung gesetzt, was bei der Rüstungsindustrie durchaus auf starke Kritik stöpßt. Siehe etwa Hall, S. 58 Zurück

59) Vgl. Greenwood S. 19 Zurück

Corinna Hauswedell ist Vorsitzende der IWIF, Bonn, Michael Broskza und Klaus Peter Weiner arbeiten als Friedensforscher und Politikwissenschaftler in Heidelberg bzw. Marburg

Wer wollte sagen, er habe es nicht wissen können?

Dieser Artikel befindet sich noch in Korrektur

Die Militarisierungsprogrammatik im EU-Verfassungsvertrag

Wer wollte sagen, er habe es nicht wissen können?

von Albert Fuchs

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF e.V.)
Texte und Kommentare zusammengestellt von Albert Fuchs

Die Militarisierungsprogrammatik im EU-Verfassungsvertrag

Vorbemerkung:

1. Gemäß Beschluss des Europäischen Rats von Laeken im Dezember 2001 hat der sog. Konvent zur Zukunft Europas zum EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 einen Entwurf für einen »Vertrag über eine Verfassung für Europa« (EU-VerfV) vorgelegt und ihn am 18. Juli der italienischen Ratspräsidentschaft überreicht.* Dieser Entwurf ist in vier Teile gegliedert. Teil 1 definiert Ziele, Zuständigkeiten, Organe und Entscheidungsverfahren; Teil 2 enthält die »Charta der Grundrechtre der Union«; in Teil 3 geht es um die Politikbereiche und die Arbeitsweise; Teil 4 beinhaltet »Allgemeine und Schlussbestimmungen«, darunter zum Verfahren zur Änderung des Vertrags. Schließlich sind verschiedene Anhänge angefügt, denen ebenfalls Verfassungsrang zugedacht ist. Auf dem Gipfel in Brüssel im Dezember 2003 sollte über den EU-VerfV entschieden werden. Nachdem seinerzeit eine Verabschiedung i.W. an Fragen der Stimmengewichtung bei Beschlüssen mit »qualifizierter Mehrheit« gescheitert war, erreichte man auf der Regierungskonferenz am 17./18. Juni d.J. eine Einigung. Abgesehen von der Regelung der Abstimmungsmodalitäten wurde der Konventsentwurf redaktionell überarbeitet, aber auch inhaltlich verändert, nicht zuletzt im militärpolitischen Bereich. So ist i.B. ein »Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit« hinzugekommen.* In der vom Sekretariat der Regierungskonferenz im Internet veröffentlichten »vorläufigen konsolidierten Fassung« vom 06.08.04 wurde der Text schließlich neu durchnummeriert.* Der Vertrag soll am 29. Oktober d.J. von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten in einer feierlichen Zeremonie in Rom unterzeichnet werden.

2. Bereits in den Vertrag von Maastricht von 1992 wurde das Ziel einer gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgenommen. Durch Übernahme der »Petersberg-Aufgaben« der WEU in den Vertrag von Amsterdam von 1997 wurde dieses Ziel differenziert und präzisiert. Zwar existier(t)en innerhalb der EU erhebliche Differenzen bezüglich der zukünftigen sicherheitspolitischen Rolle der Union, dem grundsätzlichen Konsens der Staats- und Regierungschefs über die Stärkung der militärischen Macht Europas aber war das kaum abträglich. Der französisch- britische Gipfel vom Dezember 1998 in St. Malo machte den Weg frei für einen kaum noch verdeckten Militarisierungskurs. In der Abschlusserklärung dieses Treffens wurde verkündet, die Union müsse in der Lage sein, „ihre Rolle in der internationalen Arena voll und ganz wahrzunehmen“; dazu benötige sie „eine autonome Handlungskapazität, unterstützt von glaubwürdigen Streitkräften mit den Mitteln und der Bereitschaft sie zu nutzen«, um internationalen Krisen zu begegnen (zit. nach Wehr, 2004, S. 84). Mit der Ratstagung in Köln im Juni 1999 wurde diese Entwicklung durch den Beschluss, entsprechende ständige Strukturen zu schaffen, um einen entscheidenden Schritt weitergetrieben (u.a. Einrichtung eines politischen und sicherheitspolitischen Komitees, eines Militärausschusses und eines Militärstabs, Ernennung des früheren NATO-Generalsekretärs Javier Solana zum »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«). Zugleich wurde ausdrücklich festgehalten, dass damit das NATO-Bündnis nicht beeinträchtigt werden solle; die NATO solle im Gegenteil ihre Mittel und Fähigkeiten der Union für deren Aktionen zur Verfügung stellen. Bereits ein halbes Jahr später, auf der Ratstagung von Helsinki im Dezember 1999, wurden die politischen Vorgaben von Köln in konkrete Ziele umgesetzt (u.a. Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bis 2003 eine rasch verlegbare und mindestens ein Jahr durchhaltefähige »Schnelle Eingreiftruppe« in der Stärke von 15 Brigaden (rd. 60.000 Mann/Frau) aufzubauen. Eine Regelung der Zusammenarbeit mit der NATO kam nach langen Verhandlungen auf der Kopenhagener Ratstagung im Dezember 2002 zustande. Die Krönung dieses Militarisierungskurses würde seine endgültige Verankerung im Verfassungsvertrag darstellen.

3. Der EU-VerfV erfordert allerdings eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten. Für den Ratifizierungsprozess werden zwei Jahre veranschlagt; dann will man weitersehen. Damit haben FriedensaktivistInnen, -initiativen und -bewegungen auf absehbare Zeit eine letzte Chance, sich mit der militärpolitischen Seite des europäischen Integrationsprozesses kompetent und zielführend auseinander zusetzen. Die vorliegende Handreichung soll der Unterstützung einer solchen Auseinandersetzung dienen. Die einschlägigen Bestimmungen sind kaum überschaubar über alle Teile des Vertrags verstreut. Die Dramatik der militärpolitischen (Neu-) Orientierung der Union wird aber erst deutlich, wenn man versucht, diese Bestimmungen systematisch zusammenzustellen. Im Folgenden geschieht das unter den Rubriken: Integration durch Militarisierung – Mit allen militärmachtpolitischen Mitteln – Wohin soll marschiert werden? – Wer bläst den Marsch? und Wo stehen die »Noten«? Innerhalb dieser Rubriken bzw. geeigneter Unterrubriken werden die einschlägigen Artikel in ihrer Abfolge im EU-VerfV wiedergegeben – vielfach bis auf Satzniveau auseinander genommen und unter Inkaufnahme von gelegentlichen Wiederholungen zur Verdeutlichung des sachlogischen Zusammenhangs. Dabei wird die v.g. »Vorläufige konsolidierte Fassung« zugrunde gelegt.

4. Die Textwiedergabe (erste Spalte) wird im Folgenden strikt von der Kurzkommentierung (zweite Spalte) getrennt – um die Bestimmungen zunächst sich selbst »erklären« zu lassen und den Leserinnen und Lesern eine unabhängige Meinungsbildung zu erleichtern. Die Zwischenüberschriften stammen vom Bearbeiter; ebenso die in [ ] eingefügten Erläuterungen. Diese Erläuterungen basieren auf dem Kontext der jeweiligen Passage oder der entsprechenden Formulierung im Konventsentwurf. Für die Kommentierung wurden die im Literaturverzeichnis angegebenen Beiträge ausgewertet. Die »Regeln der Kunst« des Zitierens werden bei der Wiedergabe vernachlässigt, da es sich primär um eine Dienstleistung handelt.

5. Bei Einbezug des gesamten Vertragstextes mögen sich einige Akzente verschieben; i.B. dürfte im Lichte der finanz- und wirtschaftspolitischen Bestimmungen das instrumentalistische Verhältnis der (meisten) Konventsmitglieder und Staats- und Regierungschefs zum Militär- im Sinnes seines Verständnisses als Instrument einer »Politik mit anderen Mitteln« – deutlicher hervortreten. Anders gesagt: Die Militarisierung der Union würde vermutlich als letzte Konsequenz einer durchgehenden Orientierung am »Recht des Stärkeren« zu erkennen sein. Der Gesamteindruck eines gigantischen Militarisierungsprogramms würde dadurch also vermutlich eher bestärkt. Durch Einbezug der vom Europäischen Rat bereits im Dezember 2003 verabschiedeten »Europäischen Sicherheitsstrategie« sowie der im Juni d.J. gebilligten »Headline Goal 2010« würde zudem deutlicher, dass die militärpolitischen Konzeptionen des Verfassungsvertrags die außen- und sicherheitspolitische Praxis der Union mehr und mehr konkret bestimmen.* Hier kann jedoch nur darauf hingewiesen werden, dass die einschlägigen Artikel des Vertrags auch in diesen Kontexten gelesen werden sollten.

Auszüge aus dem EU-Verfassungsvertrag Bemerkungen / Fragen

Integration durch Militarisierung

Ziele und Zuständigkeiten der Union

  • Präambel: …IN DER ÜBERZEUGUNG, dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will,
  • Art. I-3 (1): Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
  • Art. I-3 (4): In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
  • Art. I-3 (5): Die Union verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in der Verfassung übertragen sind.
  • Art. I-12 (4): Die Union ist dafür zuständig, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen.
  • Art. I-16 (1): Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.
  • Art. I-40 (1): Die Europäische Union verfolgt eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auf einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten, der Ermittlung der Fragen von allgemeiner Bedeutung und der Erreichung einer immer stärkeren Konvergenz des Handelns der Mitgliedstaaten beruht.
  • Art. I-41 (1): Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.
  • Art. I-41 (2): Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen. Die Politik der Union nach diesem Artikel berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen bestimmter Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation verwirklicht sehen, aufgrund des Nordatlantikvertrags und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-43 (1): Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um a) terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden – die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen – im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen; b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen
  • Art. I-60 (2, S. 1, 2 u. 4): Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt es ab, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird… Es wird vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten« oder Europäischer Rat?] im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
  • Art. I-60 (4): Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 [betr. die Geltung des Verfassungsvertrags für den fraglichen Mitgliedstaat in diesem Zusammenhang] nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der diesbezüglichen Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 72 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen.
  • Art. III-294 (1): Die Union erarbeitet und verwirklicht im Rahmen der Grundsätze und Ziele ihres auswärtigen Handelns eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt.
  • Art. III-294 (3): Die Union verfolgt ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, indem sie a) die allgemeinen Leitlinien bestimmt, b) Europäische Beschlüsse erlässt zur Festlegung i) der von der Union durchzuführenden Aktionen, ii) der von der Union einzunehmenden Standpunkte, iii) der Einzelheiten der Durchführung der unter den Ziffern i und ii genannten Europäischen Beschlüsse, c) und die systematische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Führung ihrer Politik ausbaut.
  • Hehre und unstrittige friedenspolitische Zielvorstellungen werden im Verfassungsvertrag im Gegensatz zu den militärpolitischen Zielsetzungen nicht annähernd vergleichbar in konkrete Verpflichtungen »übersetzt«.
  • Die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sind ein zentrales Element, wenn nicht der Kern des vorliegenden Verfassungsvertrags.
  • Außenpolitische und militärpolitische Aspekte erscheinen nach Wortlaut und Kontext der einschlägigen Klauseln nahezu deckungsgleich – entsprechend einer Erklärung J. Fischers im Deutschen Bundestag (am 11.10.01), dass Friedenspolitik in der einen Welt des 21. Jahrhunderts, anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, internationale Ordnungspolitik bedeute und das Militärische sehr stark im Vordergrund stehe. Jedenfalls wird die EU sozusagen konstitutionell als Militärunion verankert.
  • Nach den Vorstellungen des EU-Konvents bzw. der Staats- und Regierungschefs soll die gemeinsame Militärpolitik sowohl Ausdruck wie Instrument der Integration der EU-Staaten werden. Diesbezüglich höchst aufschlussreich ist eine Passage aus einer Regierungserklärung G. Schröders vor dem Hintergrund des Kosovo-Kriegs (am 19.04.1999): „Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das atlantische Europa eine neue Seite in der Weltgeschichte aufgeschlagen… Das ist ein Gründungsakt, und wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel, sondern im Schmerz..“
  • Die WEU, die nach dem EU-Vertrag noch „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“ sein soll (Art. 17), findet demgegenüber im Verfassungsvertrag keine Erwähnung – offensichtlich sieht man dafür aufgrund der Aufwertung der militärpolitischen Komponente im Verfassungsvertrag keinen Bedarf.
  • Es wird nicht näher ausgeführt, wie i.B. die GSVP in die Grenzen der Friedenssicherungsmechanismen der UN einzufügen sein soll. (s.u.)
  • Noch weniger ist eine konstruktive »weltinnenpolitische Perspektive« erkennbar; »Sicherheit“ und die „Interessen der Union“ stellen den (alleinigen) Orientierungshorizont dar. (s.u.)
  • Dabei werden die »Interessen der Union“ ohne Spezifikation und ohne Angabe, wer sie wie feststellt, als »harte Währung« unterstellt.
  • Gegenüber den vermutlich divergierenden Interessen der beteiligten einzelstaatlichen Akteure soll dieser Orientierungshorizont anscheinend im Wege der EU-internen Vormachtbildung zur Geltung kommen. (s.u.)
  • Trotz wiederholter Erwähnung »ziviler Mittel“ bleiben gewaltfreie Mittel und Formen der Konfliktbearbeitung im gesamten Entwurf praktisch ausgeblendet – wiederum im Gegensatz zu den militärischen, die voraussetzungslos als Option der GSVP – keineswegs nur als »letztes Mittel« – aufgeführt und differenziert geregelt werden.
  • Der Entwurf lässt kaum erkennen, ob und wie der neutrale / blockfreie Status von Mitgliedstaaten adäquat berücksichtigt werden soll.
  • Während ein Austritt aus der EU bisher eine souveräne Entscheidung der Mitgliedstaaten ist, wäre er nach Art. 60 (2) nur mehr mit Zustimmung von Europäischem Parlament und Ministerrat bzw. Europäischem Rat möglich. (Nach dem Konventsentwurf ist der Ministerrat die entscheidende Instanz, nach der »vorläufigen konsolidierten Fassung« dagegen anscheinend der Europäische Rat.)

Militärpolitische »Vorreiter«

  • Art. I-41 (6): Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Diese Zusammenarbeit erfolgt nach Maßgabe von Artikel III-312. Sie berührt nicht die Bestimmungen des Artikels III-309.
  • Art. I-44 (1): Die Mitgliedstaaten, die untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union begründen wollen, können in den Grenzen und nach Maßgabe dieses Artikels und der Artikel III-416 bis III-423 die Organe der Union in Anspruch nehmen und diese Zuständigkeiten unter Anwendung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ausüben. Eine Verstärkte Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Sie steht allen Mitgliedstaaten nach Artikel III-418 jederzeit offen.
  • Art. I-44 (2): Der Europäische Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, und sofern an der Zusammenarbeit mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligt ist. Der Rat beschließt nach dem in Artikel III-419 vorgesehenen Verfahren.
  • Art. I-44 (3): Alle Mitglieder des Rates können an dessen Beratungen teilnehmen, aber nur die Mitglieder des Rates [„Auswärtige Angelegenheiten“], welche die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, nehmen an der Abstimmung teil. Die Einstimmigkeit bezieht sich allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Beschließt der Rat nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Außenministers der Union, so gilt abweichend von den Unterabsätzen 3 und 4 als die erforderliche qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 72 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen.
  • Art. I-44 (4): An die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht als Besitzstand, der von beitrittswilligen Staaten angenommen werden muss.
  • Art. III-312 (1): Die Mitgliedstaaten, die sich an der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Sinne des Artikels I-41 Absatz 6 beteiligen möchten und hinsichtlich der militärischen Fähigkeiten die Kriterien erfüllen und die Verpflichtungen eingehen, die in dem Protokoll über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit enthalten sind, teilen dem Rat und dem Außenminister der Union ihre Absicht mit.
  • Art. III-312 (2): Der Rat erlässt binnen drei Monaten nach der in Absatz 1 genannten Mitteilung einen Europäischen Beschluss über die Begründung der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit und über die Liste der daran teilnehmenden Mitgliedstaaten. Der Rat beschließt nach Anhörung des Außenministers der Union mit qualifizierter Mehrheit.
  • Art. III-312 (3): Jeder Mitgliedstaat, der sich zu einem späteren Zeitpunkt an der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit zu beteiligen wünscht, teilt dem Rat und dem Außenminister der Union seine Absicht mit. Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss, in dem die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats, der die Kriterien und Verpflichtungen nach den Artikeln 1 und 2 des Protokolls über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit erfüllt beziehungsweise eingeht, bestätigt wird. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Außenministers der Union. Nur die Mitglieder des Rates, welche die teilnehmenden Mitgliedstaaten vertreten, beteiligen sich an der Abstimmung. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds, erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht.
  • Art. III-312 (4): Erfüllt ein teilnehmender Mitgliedstaat die Kriterien nach den Artikeln 1 und 2 des Protokolls über die ständige Strukturierte Zusammenarbeit nicht mehr oder kann er den darin genannten Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, so kann der Rat einen Europäischen Beschluss erlassen, durch den die Teilnahme dieses Staates ausgesetzt wird. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit. Nur die Mitglieder des Rates, welche die teilnehmenden Mitgliedstaaten mit Ausnahme des betroffenen Mitgliedstaats vertreten, beteiligen sich an der Abstimmung. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % derjenigen Mitglieder des Rates, die die beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten ausmachen. Für eine Sperrminorität ist mindestens die Mindestzahl der Mitglieder des Rates, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung der beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, zuzüglich eines Mitglieds, erforderlich; andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht.
  • Art. III-312 (5): Wünscht ein teilnehmender Mitgliedstaat, von der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit Abstand zu nehmen, so teilt er seine Entscheidung dem Rat mit, der zur Kenntnis nimmt, dass die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats beendet ist.
  • Art. III-312 (6): Mit Ausnahme der Beschlüsse nach den Absätzen 2 bis 5 erlässt der Rat die Europäischen Beschlüsse und Empfehlungen im Rahmen der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit einstimmig. Für die Zwecke dieses Absatzes bezieht sich die Einstimmigkeit allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten.
  • Art. III-419 (2): Der Antrag der Mitgliedstaaten, die untereinander im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen möchten, wird an den Rat gerichtet. Der Antrag wird dem Außenminister der Union, der zur Kohärenz der beabsichtigten Verstärkten Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union Stellung nimmt, sowie der Kommission übermittelt, die insbesondere zur Kohärenz der beabsichtigten Verstärkten Zusammenarbeit mit der Politik der Union in anderen Bereichen Stellung nimmt. Der Antrag wird ferner dem Europäischen Parlament zur Unterrichtung übermittelt. Die Ermächtigung zur Einleitung einer Verstärkten Zusammenarbeit wird mit einem Europäischen Beschluss des Rates erteilt, der einstimmig beschließt.
  • Art. III-420 (2): Jeder Mitgliedstaat, der an einer bestehenden Verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik teilnehmen möchte, teilt dem Rat, dem Außenminister der Union und der Kommission seine Absicht mit. Der Rat bestätigt die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats nach Anhörung des Außenministers der Union und gegebenenfalls nach der Feststellung, dass die Teilnahmevoraussetzungen erfüllt sind. Der Rat kann auf Vorschlag des Außenministers der Union ferner die notwendigen Übergangsmaßnahmen zur Anwendung der im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit bereits erlassenen Rechtsakte treffen. Ist der Rat jedoch der Auffassung, dass die Teilnahmevoraussetzungen nicht erfüllt sind, gibt er an, welche Schritte zur Erfüllung dieser Voraussetzungen notwendig sind, und legt eine Frist für die erneute Prüfung des Antrags auf Teilnahme fest. Für die Zwecke dieses Absatzes beschließt der Rat einstimmig nach Artikel I-44 Absatz 3.
  • Im militärpolitischen Kontext kommt die »Kerneuropa«-Idee, wie sie u.a. J. Fischer in seiner Rede an der Humboldt-Universität (2000) skizziert hat, voll zur Geltung. Damit wird eine Hierarchisierung und Zentralisierung der EU parallel zur Erweiterung betrieben: Das militärpolitische „Avantgarde-Europa“ (Fischer) wird die Führung übernehmen.
  • Im Hintergrund mag u.a. die Überlegung stehen, im Einzelfall unabhängig sowohl von neutralen Mitgliedstaaten agieren zu können als auch unabhängig von Mitgliedstaaten, die sich aufgrund ihrer Loyalität gegenüber den USA gemeinsamem Handeln verweigern könnten.
  • Es ist allerdings nicht recht klar, ob die Ausdrücke „Engere Zusammenarbeit«, »Verstärkte Zusammenarbeit“ und „Strukturierte Zusammenarbeit“ dasselbe bedeuten oder worin ggf. die Unterschiede bestehen.
  • Da nach Art. I-44 (2) „Der Europäische Beschluss über die Ermächtigung zur Einleitung einer Verstärkten Zusammenarbeit… vom Rat als letztes Mittel erlassen“ wird und nach Art. I-44 (3) „nur die Mitglieder des Rates, welche die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, …an der Abstimmung teil«-nehmen sollen, muss es eine der formellen Zusammenarbeit vorausgehende Phase der informellen Zusammenarbeit geben, in der sich u.a. dieser »Kernministerrat«, der über die formelle Zusammenarbeit befinden soll, zusammenfindet; andernfalls wäre Art. I-44 (3, S. 1) schlicht zirkulär: Für die kritische Abstimmung wäre die Verstärkte Zusammenarbeit einerseits Voraussetzung, andererseits sollte sie dadurch begründet werden.
  • Wie eine solche engere Zusammenarbeit außerhalb der europäischen Gremien in der Praxis aussehen könnte, dafür haben Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg mit dem militärpolitischen »Pralinengipfel« im April 2003 in Brüssel ein Beispiel geliefert.
  • Wie auch immer: Die Machteliten der großen Nationalstaaten können auf diese Weise sicherstellen, dass sich ihre Interessen – definiert als »Interessen der Union“ – möglichst reibungsarm durchsetzen. Der »Kern« diktiert i.B. auch die Bedingungen, unter denen sich die restlichen Mitgliedstaaten am weiteren Ausbau der EU-Militärmacht beteiligen können.
  • Man muss davon ausgehen, dass die „ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union« (SSZ) zum eigentlichen Machtzentrum der EU werden wird. Interessanterweise wird u.a. mit dem – einleitend angesprochenen – »Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit« deren Herausbildung betrieben, obwohl der Verfassungsvertrag noch nicht ratifiziert ist. Offensichtlich will man Fakten schaffen für den Fall, dass der Verfassungsvertrag den Ratifizierungsprozess nicht überstehen sollte.
  • So verpflichtet das fragliche Protokoll jeden an der SSZ teilnehmenden Mitgliedstaat recht konkret, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EU-VerfV u.a.
  • „…seine Verteidigungsfähigkeit durch Ausbau seiner nationalen Beiträge und gegebenenfalls durch Beteiligung an multinationalen Streitkräften, an den wichtigsten europäischen Ausrüstungsprogrammen und an der Tätigkeit der Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungstätigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) intensiver zu entwickeln und
  • spätestens 2007 über die Fähigkeit zu verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht -genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel III-309 aufzunehmen… und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten.“ (Art. 1 Protokoll über die SSZ).*

Pflichten der Mitgliedstaaten

  • Art. I-5 (2): Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Verfassung ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus der Verfassung oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.
  • Art. I-6: Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.
  • Art. I-16 (2): Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten das Handeln der Union in diesem Bereich. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte.
  • Art. I-40 (5): Die Mitgliedstaaten stimmen sich im Europäischen Rat und im Rat [Auswärtige Angelegenheiten] zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung ab, um ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Bevor ein Mitgliedstaat in einer Weise, die die Interessen der Union berühren könnte, auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht, konsultiert er die anderen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder im Rat. Die Mitgliedstaaten gewährleisten durch konvergentes Handeln, dass die Union ihre Interessen und ihre Werte auf internationaler Ebene geltend machen kann. Die Mitgliedstaaten sind untereinander solidarisch.
  • Art. I-41 (3, S. 1 bis 3): Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] festgelegten Ziele zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten, die untereinander multinationale Streitkräfte bilden, können diese auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.
  • Art. I-41 (7): Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt. Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung ist.
  • Art. III-294 (2, S. 1 u. 2): Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität. Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte…
  • Art. III-297 (2): Die Europäischen Beschlüsse nach Absatz 1 [des Ministerrats »Auswärtige Angelegenheiten« über ein operatives Vorgehen der Union] sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.
  • Art. III-298 (S. 2): … Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht.
  • Art. III-305 (1, S. 1, 2 u. 4): Die Mitgliedstaaten koordinieren ihr Handeln in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen. Sie treten dort für die Standpunkte der Union ein… In den internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen, bei denen nicht alle Mitgliedstaaten vertreten sind, setzen sich die dort vertretenen Mitgliedstaaten für die Standpunkte der Union ein.
  • Art. III-305 (2): Nach Artikel I-16 Absatz 2 halten die Mitgliedstaaten, die in internationalen Organisationen oder auf internationalen Konferenzen vertreten sind, die dort nicht vertretenen Mitgliedstaaten und den Außenminister der Union über alle Fragen von gemeinsamem Interesse auf dem Laufenden. Die Mitgliedstaaten, die auch Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sind, stimmen sich ab und halten die übrigen Mitgliedstaaten sowie den Außenminister der Union in vollem Umfang auf dem Laufenden. Die Mitgliedstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrats sind, setzen sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortung aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union ein. Wenn die Union einen Standpunkt zu einem Thema festgelegt hat, das auf der Tagesordnung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen steht, beantragen die dort vertretenen Mitgliedstaaten, dass der Außenminister der Union aufgefordert wird, den Standpunkt der Union vorzutragen.
  • Art. III-329 (1): Wird ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag betroffen oder wird ein Mitgliedstaat Opfer einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe, so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung. Zu diesem Zweck sprechen die Mitgliedstaaten sich im Rat ab.
  • Art. III-436 (1): Die Verfassung steht folgenden Bestimmungen nicht entgegen: a) Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht; b) jeder Mitgliedstaat kann die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Herstellung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen; diese Maßnahmen dürfen auf dem Binnenmarkt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen.
  • Trotz der Exklusivität des »Kerns« sollen alle Mitgliedstaaten »aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“ (Art. I-16 (2)) ihren »Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele“ (Art. I-41 (3)) leisten.
  • Rüstungspolitik gehört realpolitisch zum »normalen Geschäft« der meisten Staaten; die Dreistigkeit und reaktionäre Energie, Aufrüstungspolitik in Verfassungsrang zu erheben – und damit maximal gegenüber politischen Veränderungen abzuschotten -, haben in der bisherigen bürgerlich-demokratischen Verfassungsgeschichte nur die Mitglieder des EU-Konvents bzw. die EU-Staats- und Regierungschefs aufgebracht.
  • Während der Konventsentwurf eine Art Beistandsgarantie bzw. Beistandspflicht nur für die an der »strukturierten Zusammenarbeit“ beteiligten Mitgliedstaaten kannte, soll diese Garantie/Pflicht jetzt nach Art. I-41 (7, S. 1) anscheinend für alle Mitgliedstaaten der Union gelten. (In dem unmittelbar vorausgehenden Art. I-41 (6) ist allerdings von der »strukturierten Zusammenarbeit“ die Rede (s.o.), so dass Art. I-41 (7, S. 1) sich weiterhin nur auf die daran beteiligten Mitgliedstaaten beziehen könnte.)
  • Die fragliche Beistandsverpflichtung ist jedenfalls strenger als die des erklärten Militärbündnisses NATO, das es einem Mitgliedstaat ausdrücklich anheim stellt, im Falle eines bewaffnete Angriffs die Maßnahmen zu ergreifen, die er „für erforderlich erachtet, …“ (Art. 5 NATO-Vertrag).
  • Die salvatorischen Klauseln in Art. I-41 (7, S. 2 u. 3) und Art. III-436 (1) scheinen demgegenüber vor allem Beschwichtigungsformeln an die Adresse einzelner (kleinerer? neutraler?) Mitgliedstaaten bzw. an die Adresse der USA als Führungsmacht der NATO darzustellen.

Mit allen militärmachtpolitischen Mitteln

Aufrüstung im Verfassungsrang

  • Art. I-41 (3, S. 4): Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie den Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.
  • Art. III-311 (1): Aufgabe der nach Artikel I-41 Absatz 3 errichteten, dem Rat unterstellten Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) ist es, a) bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und der Bewertung der Erfüllung der von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangenen Verpflichtungen mitzuwirken; b) auf eine Harmonisierung des operativen Bedarfs sowie die Festlegung effizienter und kompatibler Beschaffungsverfahren hinzuwirken. c) multilaterale Projekte vorzuschlagen, durch die die Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten erfüllt werden, und für die Koordinierung der von den Mitgliedstaaten durchgeführten Programme sowie die Verwaltung spezifischer Kooperationsprogramme zu sorgen; d) die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen, gemeinsame Forschungsaktivitäten sowie Studien zu technischen Lösungen, die dem künftigen operativen Bedarf gerecht werden, zu koordinieren und zu planen; e) dazu beizutragen, dass zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen gezielteren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen.
  • Art. III-311 (2): Alle Mitgliedstaaten können auf Wunsch an der Arbeit der Europäischen Verteidigungsagentur teilnehmen. Der Rat erlässt mit qualifizierter Mehrheit einen Europäischen Beschluss, in dem die Rechtsstellung, der Sitz und die Funktionsweise der Agentur festgelegt werden. Dieser Beschluss trägt dem Umfang der effektiven Beteiligung an den Tätigkeiten der Agentur Rechnung. Innerhalb der Agentur werden spezielle Gruppen gebildet, in denen Mitgliedstaaten zusammenkommen, die gemeinsame Projekte durchführen. Die Agentur versieht ihre Aufgaben erforderlichenfalls in Verbindung mit der Kommission.
  • Zur Realisierung der vg. Aufrüstungsverpflichtung soll – ebenfalls im Verfassungsrang – ein institutionelles Antriebs- und Kontrollsystem geschaffen werden: eine »Europäische Verteidigungsagentur«.
  • Aufschlussreich ist die Umbenennung dieser Institution, die im Konventsentwurf noch in aller Offenheit als „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ eingeführt worden war. Vor dem Hintergrund der breiten Kritik an diesem Amt setzt man jetzt offensichtlich in der uralten Tradition von Herrschaftssprache auf die psychopolitische Wirkung von »Neusprech«. Konkret wird versucht, positive Konnotationen des Verteidigungsbegriffs zur Akzeptanzsicherung auszunutzen.
  • Insbesondere an dieser Stelle des Verfassungsvertrags tritt die enge Verzahnung von machtpolitischen und rüstungswirtschaftlichen Interessen offen zutage. Bereits in der Schlusserklärung des Kölner Gipfels von 1999 brachten die Staats- und Regierungschefs die Überzeugung zum Ausdruck, dass entschiedene „Bemühungen zur Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsfähigkeit erforderlich“ seien, die „wettbewerbsfähig und dynamisch sein“ müsse, und verkündeten ihre Entschlossenheit, „…die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien in den betroffenen Staaten zu fördern“ und »…zusammen mit der Industrie auf eine engere und effizientere Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen hin(zu)arbeiten.“ Der EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 erklärte diese Ziele – erhöht um den Anspruch, „der EU die Führerschaft bei strategischen Technologien für die zukünftigen Verteidigungs- und Sicherheitsfähigkeiten zu geben“ und ergänzt um die Bestimmung, „einen wettbewerbsfähigen europäischen Markt für Rüstungsgüter zu schaffen« – ausdrücklich zur Aufgabe der avisierten Agentur.
  • Der Europäischen Rüstungsagentur wird vielfach mit dem Argument der Kostenersparnis durch Zusammenlegung von Beschaffungsprogrammen das Wort geredet. Eine eventuelle Kostenreduzierung dürfte aber dadurch mehr als aufgehoben werden, dass diese europäische Behörde einen konzentrierten und permanenten Druck zur Erhöhung der Militärhaushalte ausüben wird.

Nuklear-Streitkräfte eingeschlossen

  • PROTOKOLL ZUR ÄNDERUNG DES EURATOM-VERTRAGS DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN UNTER HINWEIS DARAUF, dass die Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft weiterhin volle rechtliche Wirkung entfalten müssen, IN DEM WUNSCH, diesen Vertrag an die neuen im Vertrag über eine Verfassung für Europa festgelegten Vorschriften, insbesondere in den Bereichen Organe und Finanzen, anzupassen, HABEN die folgenden Bestimmungen ERLASSEN, die dem Vertrag über eine Verfassung für Europa beigefügt sind und durch die der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft wie folgt geändert wird: …
  • Wichtige politische und militärische EU-Repräsentanten haben seit Beginn der 1990er Jahre die Weichen in Richtung einer gesamteuropäischen Nuklearmacht gestellt – Deutschland i.B. eingeschlossen. Bei der Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags 1995 machte die BRD bereits wesentliche Einschränkungen bzgl. der Bindung an den Vertrag, falls es europäische Atomstreitkräfte geben sollte.
  • Durch Integration der EURATOM-Vertrags in die Verfassung können diese militärischen Ambitionen weiter hinter der zivilen (»friedlichen«) Nutzung der Atomenergie versteckt werden.

Finanzierung

  • Art. III-313 (1): Die Verwaltungsausgaben, die den Organen aus der Durchführung dieses Kapitels [Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik] entstehen, gehen zulasten des Haushalts der Union.
  • Art. III-313 (2): Die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Kapitels gehen ebenfalls zulasten des Haushalts der Union, mit Ausnahme der Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen und von Fällen, in denen der Rat etwas anderes beschließt. In Fällen, in denen die Ausgaben nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, gehen sie nach dem Bruttosozialprodukt-Schlüssel zulasten der Mitgliedstaaten, sofern der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] nicht etwas anderes beschließt. Die Mitgliedstaaten, deren Vertreter im Rat eine förmliche Erklärung nach Artikel III-300 Absatz 1 Unterabsatz 2 abgegeben haben, sind nicht verpflichtet, zur Finanzierung von Ausgaben für Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen beizutragen.
  • Art. III-313 (3, S. 1 u. 3): Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss zur Festlegung besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten, die für die Sofortfinanzierung von Initiativen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 bestimmt sind… Die Tätigkeiten zur Vorbereitung der in Artikel I-41 Absatz 1 und in Artikel III-309 genannten Missionen, die nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, werden aus einem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten gebildeten Anschubfonds finanziert…
  • Durch die Finanzbestimmungen des Art. III-313 soll augenscheinlich »interventionssicher« für die finanzielle Absicherung des ganzen Militarisierungsprogramms wie konkreter Militäraktionen gesorgt werden.
  • Während es beim Stabilitätspakt der Wirtschafts- und Währungsunion um eine Begrenzung der Verschuldung der Mitgliedstaaten geht – nicht zuletzt durch Reduzierung der Ausgaben für soziale Leistungen -, sollen die Staatsausgaben im militärischen und verteidigungspolitischen Bereich auf bestehendem Niveau gehalten bzw. erhöht werden – mit dem kleinen Unterschied, dass diese Gelder der europäischen Rüstungsindustrie zugute kommen.

Wohin soll marschiert werden?

Interventionen weltweit

  • Art. III-309 (1): Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.
  • Die Bereitschaft zu exterritorialen Militäreinsätzen wird zur verfassungsmäßigen Pflicht erhoben. Für diese Militäreinsätze soll es offensichtlich keinerlei geographische Begrenzung geben, Drittländer eingeschlossen.
  • Ziel und Zweck der »gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen“ umfassenden „Missionen“ scheint einzig die Durchsetzung der Abrüstung anderer Akteure zu sein.
  • Nach welchen Kriterien »Krisen« durch Kampfeinsätze »bewältigt« werden sollen, bleibt im Dunkeln.
  • Die »Unterstützung für Drittländer“ unter dem Vorwand der »Bekämpfung des Terrorismus“ ermöglicht weltweite Aufstandsbekämpfung – wobei »Freiheitskämpfer« und »Terroristen« wie eh und je nach der Interessenlage differenziert werden.
  • Art. III-309 (1) i.V.m. Art. I-41 (1) steht augenscheinlich in einem fundamentalen Gegensatz zum Friedensgebot des Bonner Grundgesetzes und zu der grundgesetzlichen Beschränkung des Militärs auf Aufgaben der Verteidigung im strengen Sinn (Art. 26 und Art. 87a GG).

Einsätze im Innern

  • Art. I-41 (5): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen. Die Durchführung einer solchen Mission fällt unter Artikel III-310
  • Art. I-43 (1): Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um a) terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden – die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen – im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen; b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.
  • Minderheitenproblemen multi-ethnischer europäischer Staaten sollen künftig anscheinend (auch) mit militärischer Gewalt »geregelt« werden können; eine Vermengung von militärischem und polizeilichem Handeln ist damit vorprogrammiert.
  • Alle politischen Bewegungen, die die allerhöchsten »Werte der Union und… ihre Interessen“ in Frage stellen, erhalten einen deutlichen Wink mit dem Militärknüppel.

Wer bläst den Marsch?

Europäischer Rat und Ministerrat

  • Art. I-22 (2, S. 2): Der Präsident des Europäischen Rates nimmt in seiner Eigenschaft auf seiner Ebene, unbeschadet der Befugnisse des Außenministers der Union, die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr.
  • Art. 24 (3): Als Rat »Auswärtige Angelegenheiten« gestaltet er [der Ministerrat] das auswärtige Handeln der Union entsprechend den strategischen Vorgaben des Europäischen Rates und sorgt für die Kohärenz des Handelns der Union.
  • Art. I-40 (2): Der Europäische Rat bestimmt die strategischen Interessen der Union und legt die Ziele ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fest. Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] gestaltet diese Politik im Rahmen er vom Europäischen Rat festgelegten strategischen Leitlinien in Übereinstimmung mit Teil III.
  • Art. I-40 (3): Der Europäische Rat und der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlassen die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. I-40 (5): Die Mitgliedstaaten stimmen sich im Europäischen Rat und im Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung ab, um ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Bevor ein Mitgliedstaat in einer Weise, die die Interessen der Union berühren könnte, auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht, konsultiert er die anderen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder im Rat. Die Mitgliedstaaten gewährleisten durch konvergentes Handeln, dass die Union ihre Interessen und ihre Werte auf internationaler Ebene geltend machen kann. Die Mitgliedstaaten sind untereinander solidarisch.
  • Art. I-40 (6): Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erlassen der Europäische Rat und der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] außer in den in Teil III genannten Fällen Europäische Beschlüsse einstimmig. Sie beschließen auf Initiative eines Mitgliedstaates, auf Vorschlag des Außenministers der Union oder auf Vorschlag des Außenministers mit Unterstützung der Kommission. Europäische Gesetze und Rahmengesetze sind ausgeschlossen.
  • Art. I-40 (7): Der Europäische Rat kann einstimmig einen Europäischen Beschluss erlassen, wonach der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] in anderen als den in Teil III genannten Fällen mit qualifizierter Mehrheit beschließt.
  • Art. I-41 (4, S. 1): Europäische Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] einstimmig auf Vorschlag des Außenministers der Union oder auf Initiative eines Mitgliedstaats erlassen.
  • Art. III-293 (1): Auf der Grundlage der in Artikel III-292 aufgeführten Grundsätze und Ziele legt der Europäische Rat die strategischen Interessen und Ziele der Union fest. Die Europäischen Beschlüsse des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union erstrecken sich auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie auf andere Bereiche des auswärtigen Handelns der Union. Sie können die Beziehungen der Union zu einem Land oder einer Region betreffen oder aber ein bestimmtes Thema zum Gegenstand haben. Sie legen ihre Geltungsdauer und die von der Union und den Mitgliedstaaten bereitzustellenden Mittel fest. Der Europäische Rat beschließt einstimmig auf Empfehlung des Rates, die dieser nach den für den jeweiligen Bereich vorgesehenen Regelungen abgibt. Die Europäischen Beschlüsse des Europäischen Rates werden nach Maßgabe der in der Verfassung vorgesehenen Verfahren durchgeführt.
  • Art. III-294 (2, S. 3): Der Rat und der Außenminister der Union tragen für die Einhaltung dieser Grundsätze [der Zusammenarbeit bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik] Sorge.
  • Art. III-295 (1): Der Europäische Rat bestimmt die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen. Wenn eine internationale Entwicklung es erfordert, beruft der Präsident des Europäischen Rates eine außerordentliche Tagung des Europäischen Rates ein, um die strategischen Vorgaben für die Politik der Union angesichts dieser Entwicklung festzulegen.
  • Art. III-295 (2): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt die für die Festlegung und Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erforderlichen Europäischen Beschlüsse auf der Grundlage der vom Europäischen Rat festgelegten allgemeinen Leitlinien und strategischen Vorgaben.
  • Art. III-296 (3, S. 3): … Die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes werden durch einen Europäischen Beschluss des Rates festgelegt. Der Rat beschließt auf Vorschlag des Außenministers der Union nach Anhörung des Europäischen Parlaments und nach Zustimmung der Kommission.
  • Art. III-297 (1): Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] die erforderlichen Europäischen Beschlüsse. In diesen Beschlüssen werden die Ziele, der Umfang, die der Union zur Verfügung zu stellenden Mittel sowie die Bedingungen und erforderlichenfalls der Zeitraum für die Durchführung der Aktion festgelegt. Tritt eine Änderung der Umstände mit erheblichen Auswirkungen auf eine Frage ein, die Gegenstand eines solchen Europäischen Beschlusses ist, so überprüft der Rat die Grundsätze und Ziele dieses Beschlusses und erlässt die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. III-297 (2): Die Europäischen Beschlüsse nach Absatz 1 sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.
  • Art. III-297 (3): Jede einzelstaatliche Stellungnahme oder Maßnahme, die im Rahmen eines Europäischen Beschlusses nach Absatz 1 geplant ist, wird von dem betreffenden Mitgliedstaat so rechtzeitig mitgeteilt, dass erforderlichenfalls eine vorherige Abstimmung im Rat stattfinden kann. Die Pflicht zur vorherigen Unterrichtung gilt nicht für Maßnahmen, die eine bloße Umsetzung dieses Beschlusses auf einzelstaatlicher Ebene darstellen.
  • Art. III-297 (4): Bei zwingender Notwendigkeit aufgrund der Entwicklung der Lage und falls die in Absatz 1 vorgesehene Überprüfung des Europäischen Beschlusses nicht stattfindet, können die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der allgemeinen Ziele dieses Beschlusses die erforderlichen Sofortmaßnahmen ergreifen. Der Mitgliedstaat, der solche Maßnahmen ergreift, unterrichtet den Rat unverzüglich davon.
  • Art. III-297 (5): Ergeben sich bei der Durchführung eines Europäischen Beschlusses im Sinne dieses Artikels größere Schwierigkeiten, so befasst ein Mitgliedstaat den Rat, der darüber berät und nach angemessenen Lösungen sucht. Diese dürfen nicht im Widerspruch zu den Zielen der Aktion stehen oder ihrer Wirksamkeit schaden.
  • Art. III-298 S. 1): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt Europäische Beschlüsse, in denen der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geographischer oder thematischer Art bestimmt wird…
  • Art. III-300 (1): Europäische Beschlüsse nach diesem Kapitel werden vom Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] einstimmig erlassen. Bei einer Stimmenthaltung kann jedes Mitglied des Rates zu seiner Enthaltung eine förmliche Erklärung abgeben. In diesem Fall ist es nicht verpflichtet, den Europäischen Beschluss durchzuführen, akzeptiert jedoch, dass dieser für die Union bindend ist. Im Geiste gegenseitiger Solidarität unterlässt der betreffende Mitgliedstaat alles, was dem auf diesem Beschluss beruhenden Vorgehen der Union zuwiderlaufen oder es behindern könnte, und die anderen Mitgliedstaaten respektieren seinen Standpunkt. Vertreten die Mitglieder des Rates, die bei ihrer Stimmenthaltung eine solche Erklärung abgeben, mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, so wird der Beschluss nicht erlassen.
  • Art. III-300 (2): Abweichend von Absatz 1 beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit, wenn er a) auf der Grundlage eines Europäischen Beschlusses des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union nach Artikel III-293 Absatz 1 Europäische Beschlüsse erlässt, mit denen eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; b) auf einen Vorschlag hin, den ihm der Außenminister der Union auf spezielles Ersuchen des Europäischen Rates unterbreitet hat, das auf dessen eigene Initiative oder auf eine Initiative des Außenministers zurückgeht, einen Europäischen Beschluss erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; c) einen Europäischen Beschluss zur Durchführung eines Europäischen Beschlusses erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird; d) nach Artikel III-302 einen Europäischen Beschluss zur Ernennung eines Sonderbeauftragten erlässt. Erklärt ein Mitglied des Rates, dass es aus wesentlichen, von ihm darzulegenden Gründen der nationalen Politik die Absicht hat, eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit über einen Europäischen Beschluss abzulehnen, so erfolgt keine Abstimmung. Der Außenminister der Union bemüht sich in engem Benehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat um eine für diesen Mitgliedstaat annehmbare Lösung. Gelingt dies nicht, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit veranlassen, dass die Frage im Hinblick auf einen einstimmigen Europäischen Beschluss an den Europäischen Rat verwiesen wird.
  • Art. III-300 (3): Nach Artikel I-40 Absatz 7 kann der Europäische Rat einstimmig einen Europäischen Beschluss erlassen, in dem vorgesehen ist, dass der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] in anderen als den in Absatz 2 genannten Fällen mit qualifizierter Mehrheit beschließt.
  • Art. III-300 (4): Absätze 2 und 3 gelten nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen.
  • Art. III-309 (2, S. 1): Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] erlässt die Europäischen Beschlüsse über Missionen im Sinne des Absatzes 1; in den Beschlüssen sind Ziel und Umfang der Missionen sowie die für sie geltenden allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegt…
  • Art. III-310 (1): Im Rahmen der nach Artikel III-309 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Rat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Die betreffenden Mitgliedstaaten vereinbaren im Benehmen mit dem Außenminister der Union untereinander die Ausführung der Mission.
  • Art. III-310 (2): Die an der Durchführung der Mission teilnehmenden Mitgliedstaaten unterrichten den Rat von sich aus oder auf Antrag eines anderen Mitgliedstaats regelmäßig über den Stand der Mission. Die teilnehmenden Mitgliedstaaten befassen den Rat sofort, wenn sich aus der Durchführung der Mission schwerwiegende Konsequenzen ergeben oder das Ziel der Mission, ihr Umfang oder die für sie geltenden Regelungen, wie sie in den in Absatz 1 genannten Europäischen Beschlüssen festgelegt sind, geändert werden müssen. Der Rat erlässt in diesen Fällen die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.
  • Art. III-313 (3): Der Rat erlässt einen Europäischen Beschluss zur Festlegung besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten, die für die Sofortfinanzierung von Initiativen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 bestimmt sind. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Die Tätigkeiten zur Vorbereitung der in Artikel I-41 Absatz 1 und in Artikel III-309 genannten Missionen, die nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, werden aus einem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten gebildeten Anschubfonds finanziert. Der Rat erlässt mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag des Außenministers der Union die Europäischen Beschlüsse über a) die Einzelheiten für die Bildung und die Finanzierung des Anschubfonds, insbesondere die Höhe der Mittelzuweisungen für den Fonds; b) die Einzelheiten für die Verwaltung des Anschubfonds; d) die Einzelheiten für die Finanzkontrolle. Kann die geplante Mission nach Artikel I-41 Absatz 1 und Artikel III-309 nicht aus dem Haushalt der Union finanziert werden, so ermächtigt der Rat den Außenminister der Union zur Inanspruchnahme dieses Fonds. Der Außenminister der Union erstattet dem Rat Bericht über die Erfüllung dieses Mandats.
  • Art. III-329 (2): Die Einzelheiten für die Anwendung der in Artikel I-43 enthaltenen Solidaritätsklausel durch die Union werden durch einen Europäischen Beschluss festgelegt, den der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] aufgrund eines gemeinsamen Vorschlags der Kommission und des Außenministers der Union erlässt. Hat dieser Beschluss Auswirkungen im Bereich der Verteidigung, so entscheidet der Rat nach Artikel III-300 Absatz 1. Das Europäische Parlament wird darüber unterrichtet. Für die Zwecke dieses Absatzes wird der Rat unbeschadet des Artikels III-344 vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee, das sich hierbei auf die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelten Strukturen stützt, sowie vom Ausschuss nach Artikel III-261 unterstützt, die ihm gegebenenfalls gemeinsame Stellungnahmen vorlegen.
  • Art. III-329 (3): Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten auf effiziente Weise tätig werden können, nimmt der Europäische Rat regelmäßig eine Einschätzung der Bedrohungen vor, denen die Union ausgesetzt ist.
  • Art. III-341 (1, S. 2): Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Zustandekommen von Beschlüssen des Europäischen Rates, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegen.
  • Die Entscheidungsgewalt in Sachen EU-Militärpolitik liegt grundsätzlich beim Europäischen Rat und beim Ministerrat »Auswärtige Angelegenheiten«; das gilt für die Grundlinien wie für konkrete Situationen und Maßnahmen. Die Mitgliedstaaten sind also i.W. Vollzugsorgane dieser Gremien..
  • Unklar bleibt, nach welchen Kriterien der Europäische Rat gemäß Art. III- 295 (1) »die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen“ festlegen soll.
  • In den Art. I-41 (4) und III-293 (1) ist zudem unklar, ob die »Europäische(n) Beschlüsse zur Durchführung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission“ im Ministerrat einstimmig unter Einschluss oder unter Ausschluss der nicht an der „ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ beteiligten Mitgliedstaaten zu fällen sind. Diese Unklarheit ist um so gravierender, als der Ministerrat nach Art. I-41 (5) »eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union betrauen“ können soll. (s.o.)
  • Selbst wenn Einstimmigkeit vorgesehen ist, kann ein EU-Land gemäß Art. III-300 (1) bzw. Art. III-341 (1, S. 2) durch »konstruktive Stimmenthaltung« den Beschluss ohne die eigene Stimme passieren lassen – um z.B. innenpolitisch das Gesicht zu wahren und sich später u.U. trotzdem an der Durchführung zu beteiligen – , ohne dass damit das Erfordernis der Einstimmigkeit verletzt wäre.
  • Der weiteren Flexibilisierung der außen- und sicherheitspolitischen Beschlussfassung dient die Anwendung des Prinzips der „qualifizierten Mehrheit«. Nach Art. III-300 (2) dürfen entsprechende Beschlüsse des Ministerrats im Prinzip in Angelegenheiten gefasst werden, zu denen der Europäische Rat zuvor bereits einstimmig Grundlagenbeschlüsse verabschiedet hat. Diese Einschränkung der möglichen Beschlussfassung mit „qualifizierter Mehrheit“ im Ministerrat kann nach Art. III-300 (3) allerdings durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates wieder entschärft werden. Das gilt nach Art. III-300 (4) wiederum »nicht für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen«.

Außenminister und Komitee

  • Art. I-28 (1): Der Europäische Rat ernennt mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission den Außenminister der Union. Der Europäische Rat kann die Amtszeit des Außenministers nach dem gleichen Verfahren beenden.
  • Art. I-28 (2): Der Außenminister der Union leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung dieser Politik bei und führt sie im Auftrag des Rates durch. Er handelt ebenso im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-28 (3): Der Außenminister der Union führt den Vorsitz im Rat »Auswärtige Angelegenheiten«.
  • Art. I-28 (4): Der Außenminister der Union ist einer der Vizepräsidenten der Kommission. Er sorgt für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union. Er ist innerhalb der Kommission mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen und mit der Koordinierung der übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns der Union betraut…
  • Art. I-40 (4): Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird vom Außenminister der Union und von den Mitgliedstaaten mit einzelstaatlichen Mitteln und den Mitteln der Union durchgeführt.
  • Art. I-41 (4, S. 2): Der Außenminister der Union kann gegebenenfalls gemeinsam mit der Kommission den Rückgriff auf einzelstaatliche Mittel sowie auf Instrumente der Union vorschlagen.
  • Art. III-293 (2): Der Außenminister der Union und die Kommission können dem Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] gemeinsame Vorschläge vorlegen, wobei der Außenminister für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Kommission für die anderen Bereiche des auswärtigen Handelns zuständig ist.
  • Art. III-294 (2, S. 3): Der Rat und der Außenminister der Union tragen für die Einhaltung dieser Grundsätze [der Zusammenarbeit bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik] Sorge.
  • Art. III-296 (1): Der Außenminister der Union, der im Rat »Auswärtige Angelegenheiten« den Vorsitz führt, trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bei und stellt sicher, dass die vom Europäischen Rat und vom Rat erlassenen Europäischen Beschlüsse durchgeführt werden.
  • Art. III-296 (2): Der Außenminister vertritt die Union in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Er führt im Namen der Union den politischen Dialog mit Dritten und vertritt den Standpunkt der Union in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen.
  • Art. III-296 (3, S. 1 u. 2): Bei der Erfüllung seines Auftrags stützt sich der Außenminister der Union auf einen Europäischen Auswärtigen Dienst. Dieser Dienst arbeitet mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammen…
  • Art. III-299 (1): Jeder Mitgliedstaat, der Außenminister der Union oder der Außenminister mit Unterstützung der Kommission kann den Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] mit einer Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik befassen und ihm Initiativen beziehungsweise Vorschläge unterbreiten.
  • Art. III-299 (2): In den Fällen, in denen eine rasche Entscheidung notwendig ist, beruft der Außenminister der Union von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaats innerhalb von 48 Stunden, bei absoluter Notwendigkeit in kürzerer Zeit, eine außerordentliche Tagung des Rates ein.
  • Art. III-301 (1): Hat der Europäische Rat oder der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] ein gemeinsames Vorgehen der Union im Sinne des Artikels I-40 Absatz 5 festgelegt, so koordinieren der Außenminister der Union und die Minister für auswärtige Angelegenheiten der Mitgliedstaaten ihre Tätigkeiten im Rat.
  • Art. III-304 (1): Der Außenminister der Union hört und unterrichtet das Europäische Parlament nach Artikel I-40 Absatz 8 und Artikel I-41 Absatz 8. Er achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments mit herangezogen werden.
  • Art. III-305 (1, S. 3): … Der Außenminister der Union trägt für die Organisation dieser Koordinierung [des Handelns der Mitgliedstaaten in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen] Sorge…
  • Art. III-307 (1): Unbeschadet des Artikels III-344 verfolgt ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und trägt auf Ersuchen des Rates, des Außenministers der Union oder von sich aus durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politik bei. Ferner überwacht es die Durchführung der vereinbarten Politik; dies gilt unbeschadet der Zuständigkeiten des Außenministers der Union.
  • Art. III-307 (2): Im Rahmen dieses Kapitels nimmt das Politische und Sicherheitspolitische Komitee unter der Verantwortung des Rates [„Auswärtige Angelegenheiten“] und des Außenministers der Union die politische Kontrolle und strategische Leitung von Krisenbewältigungsoperationen im Sinne des Artikels III-309 wahr. Der Rat kann das Komitee für den Zweck und die Dauer einer Krisenbewältigungsoperation, die vom Rat festgelegt werden, ermächtigen, geeignete Maßnahmen hinsichtlich der politischen Kontrolle und strategischen Leitung der Operation zu erlassen.
  • Art. III-309 (2, S. 2): … Der Außenminister der Union sorgt unter Aufsicht des Rates und in engem und ständigem Benehmen mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte dieser Missionen [gemäß Art. I-41 (1) bzw. III-309 (1)].
  • Die Schaffung des Amtes des Außenministers der Union – unterstützt von einem Europäischen Auswärtigen Dienst – gilt als ähnlich bedeutsame strukturelle Erneuerung wie die Ermöglichung der Beschlussfassung mit „qualifizierter Mehrheit“ und soll (ebenfalls) einer größeren außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der Union dienen.
  • Der Außenminister als Vorsitzender des Ministerrats »Auswärtige Angelegenheiten« und einer der Vizepräsidenten der Kommission hat die Gesamtverantwortung für diesen Politikbereich.
  • Die Zuständigkeit des Außenministers sowohl für die GASP wie für die GSVP lässt wiederum die enge Verzahnung beider Politikbereiche erkennen – und damit die betriebene Militarisierung der Außenpolitik.
  • Anhörung und Unterrichtung des Europäischen Parlaments hängen von der Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit des Außenministers ab (Art. III-304 (1)).
  • Für die militärische Kommandostruktur gibt es keine Regelung im Verfassungsvertrag. Die durch den Vertrag von Nizza im Dezember 2000 geschaffenen Institutionen Militärausschuss und Militärstab werden nicht verfassungsrechtlich verankert. Das ebenfalls in Nizza gebildete »Politische und Sicherheitspolitische Komitee« soll „die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ verfolgen, „durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politik“ beitragen, die „Durchführung der vereinbarten Politik“ überwachen und »die politische Kontrolle und strategische Leitung von Krisenbewältigungsoperationen im Sinne des Artikels III-309“ wahrnehmen (Art. III-307 (1 u. 2). Damit ist dieses Komitee für die außen- und sicherheitspolitische Praxis der Union als ähnliches bürokratisches Machtzentrum konzipiert wie die »Europäische Verteidigungsagentur« im Zusammenhang der Aufrüstungsprogrammatik.

Europäisches Parlament

  • Art. I-40 (8): Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
  • Art. I-41 (8): Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
  • Art. III-304 (1): Der Außenminister der Union hört und unterrichtet das Europäische Parlament nach Artikel I-40 Absatz 8 und Artikel I-41 Absatz 8. Er achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments mit herangezogen werden.
  • Art. III-304 (2): Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat und den Außenminister der Union richten. Zweimal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Das Europäische Parlament soll weder an den »grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik» noch an der konkreten Beschlussfassung als Entscheidungsinstanz beteiligt sein; Anhörungs- und Informationspflicht der Exekutivorgane gegenüber dem Parlament beinhalten kein Beschlussrecht der Legislative.
  • Und selbst bei dieser minimalen demokratischen Partizipation ist das Parlament auf die Gnade des Außenministers angewiesen.
  • Im Lichte dieser Bestimmungen erscheint die Erarbeitung eines »Entsendegesetzes« für die Bundeswehr (nach SPD-Entwurf sollen nur noch bewaffnete Einsätze zustimmungspflichtig sein, Verlängerungen automatisch erfolgen) als Vorbereitung auf die sich hier abzeichnende militärpolitische Parlamentsentmächtigung.
  • Durch effektive Nichtbefassung der ParlamentarierInnen mit der Militärpolitik der Union wird auch die Öffentlichkeit davon ausgeschlossen.

Wo stehen die »Noten«?

UN und internationale Organisationen

  • Art. I-3 (4, S. 2): Sie [die Union] leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, …, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
  • Art. I-41 (1, S. 2): Auf diese [auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen] kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen.
  • Art. I-41 (7, S. 1): Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten.
  • Art. III-292 (1): Die Union stützt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene auf die Grundsätze, welche die Grundlage für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung bildeten und denen sie durch ihr Handeln auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Die Union strebt an, die Beziehungen zu Drittländern und zu regionalen oder weltweiten internationalen Organisationen, die die in Unterabsatz 1 aufgeführten Grundsätze teilen, auszubauen und Partnerschaften mit ihnen aufzubauen. Sie setzt sich insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen ein.
  • Art. III-292 (2): Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest und führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um a) ihre Werte, ihre grundlegenden Interessen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Unversehrtheit zu wahren; b) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern; c) nach Maßgabe der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen sowie der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki der Ziele der Charta von Paris, einschließlich derjenigen betreffend die Außengrenzen, den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken; d) die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen; e) die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau von Hemmnissen des internationalen Handels; f) zur Entwicklung von internationalen Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Umwelt und der nachhaltigen Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen beizutragen, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen; g) den Völkern, Ländern und Regionen, die von Naturkatastrophen oder von vom Menschen verursachten Katastrophen betroffen sind, zu helfen; und h) eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht.
  • Art. III-292 (3): Die Union wahrt bei der Ausarbeitung und Umsetzung ihres auswärtigen Handelns in den verschiedenen unter diesen Titel fallenden Bereichen sowie der externen Aspekte der übrigen Politikbereiche die in den Absätzen 1 und 2 genannten Grundsätze und Ziele. Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen. Der Rat [„Auswärtige Angelegenheiten“] und die Kommission, die vom Außenminister der Union unterstützt werden, stellen diese Kohärenz sicher und arbeiten zu diesem Zweck zusammen.
  • Art. III-305 (2, S. 3): … Die Mitgliedstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrats sind, setzen sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortung aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union ein …
  • Vor dem Hintergrund verbreiteter aktueller Tendenzen, völkerrechtliche Bestimmungen zur Einschränkung militärischer Gewaltanwendung zu nivellieren oder gar völlig in Frage zu stellen, erscheint die Absicht, zur „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ beitragen zu wollen, höchst ambivalent.
  • Der Verfassungsvertrag kennt keine eindeutige Festlegung auf eine Mandatierung von EU-Militäreinsätzen durch die UN oder ein regionales System kollektiver Sicherheit, sondern nur eine vage Orientierung an den »Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen«. Wird demnach das Gewaltverbot von Art. 2 Ziff. 4 ChVN nur allgemein und »grundsätzlich« anerkannt? Wie die »Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen« missbraucht werden können, hat jedenfalls die NATO im Kosovo-Krieg vorexerziert.
  • Im Gegensatz dazu wird das in Art. 51 ChVN verbriefte „naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ konkret in Anspruch genommen; aufschlussreich ist die Umdeutung dieses »Völkerrechts« in eine Pflicht der EU-Mitgliedstaaten (Art. I-41 (7, S. 1).
  • Unklar ist ferner, ob im Konfliktfall »die Standpunkte und Interessen der Union“ Vorrang haben sollen vor der internationalen Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten, die gleichzeitig Mitglieder des Sicherheitsrats sind.

NATO-Vertrag

  • Art. I-41 (2, S. 4): Die Politik der Union nach diesem Artikel berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen bestimmter Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation verwirklicht sehen, aufgrund des Nordatlantikvertrages und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
  • Art. I-41 (7, S. 3): Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich [der Sicherheits- und Verteidigungspolitik]) bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz für deren Verwirklichung ist.
  • Mit Art. I-41 (2, S. 4) wird das völkerrechtlich hoch problematische »Strategische Konzept des [NATO-] Bündnisses«vom April 1999 implizit anerkannt. Statt die Rückführung auf die Kernaufgaben eines Verteidigungsbündnisses zu fordern, orientiert man sich an diesem Konzept.
  • Fraglich erscheint, ob die erklärte Achtung des „besonderen Charakter[s] der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ dem neutralen Status verschiedener EU-Staaten gerecht wird.

Verfassung der Mitgliedstaaten

  • Art. I-6: Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.
  • Art. I-41 (2, S. 3): Er [der Europäische Rat] empfiehlt in diesem Fall [der Einführung einer gemeinsamen Verteidigung durch einstimmigen Beschluss des Rates] den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen.
  • Art. II-70 (2): Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.
  • Eine Ratifizierung des EU-VerfV liefe auf eine grundlegende Verfassungsänderung hinaus – im Falle der BRD i.B. betr. Art. 87a (1 u. 2) und Art. 26 (1) GG; sie müsste gemäß Art. 79 GG mit 2/3 Mehrheit von Bundestag und Bundesrat erfolgen.
  • Da EU-Recht nationales Recht bricht, wären dann die neuen Regelungen im Militärbereich den grundgesetzlichen Regelungen übergeordnet. Die Beschwörung des „Einklang[s] mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ bei »Einführung einer gemeinsamen Verteidigung“ in Art. I-41 (2, S. 3) dürfte also wieder primär eine Beschwichtigungsformel an die Adresse der Mitgliedstaaten darstellen.
  • Das Recht auf Wehr- und Kriegsdienstverweigerung steht zur Disposition des nationalen Gesetzgebers; Anerkennung und Ablehnung dieses Rechts können demnach als gleichermaßen verfassungskonform gelten – statt dass es als selbstverständlicher Bestandteil des Menschenrechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verankert wird.

Kontrolle der Normbefolgung

  • Art. III-376 (S. 1): Der Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht zuständig in Bezug auf die Artikel I-40 und I-41, in Bezug auf Titel V Kapitel II betreffend die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und in Bezug auf Artikel III-293, soweit er die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betrifft.
  • Eine gerichtliche Überprüfung von Beschlüssen im Bereich der GASP bzw. der GSVP durch den Europäischen Gerichtshof ist per Verfassung ausgeschlossen.
  • Damit ist die Exekutive – nach dem effektiven Ausschluss des Europäischen Parlaments vom Entscheidungsprozess in diesem Politikbereich (s.o.) – faktisch keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterworfen.

* Quellen

Europäischer Konvent (2003): Entwurf. Vertrag über eine Verfassung für Europa. Vom europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13. Juni und 10. Juli 2003. Dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreicht – 18. Juli 2003. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Verfügbar unter: http://european-convention.eu.int [12.12.03]

Europäische Kommission (2003): A secure Europe in a better world. European security strategy.Verfügbar unter: http://europa.eu.int/geninfo/whatsnew.htm [20.12.03]

Headline Goal 2010 (2004):Verfügbar unter: http://ue.eu.int/uedocs/cmsupload [31.08.04]

Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (2004, 06.08.): CIG 87/04. Betr.: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Verfügbar unter: http://europa.eu.int/futurum/eu_constitution_de.htm [11.08.04]

Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit gemäß Artikel I-41 Absatz 6 und Artikel III-312 der Verfassung (2004): Verfügbar unter: http://ue.eu.int/igcpdf/de04/cg00/cg0087-ad01.de04.pdf [16.08.04]

Literatur

Bäuerle, Dietrich (2004, 20.06): Die EU ist auf dem Weg zur Militärunion. In der Verfassung sind Aufrüstung und Gewalteinsatz vorgesehen – es findet sich aber kein Wort zur Kriegsächtung. Frankfurter Rundschau, 20.06.04, S. 8.

Becker, Peter & Boos, Philipp (2004): Militarisierung oder Chance für zivile Konfliktschlichtung? Zum Entwurf für die Europäischer Verfassung. Wissenschaft und Frieden, 22 (2), 10-13.

Böge, Volker (2000): Schritt für Schritt und immer schneller. Die Militarisierung der europäischen Integration. Wissenschaft und Frieden, 18 (3), 6-10.

Dembinski, Matthias (2000): Die EU mit eigener Verteidigungsidentität – Ein Beitrag zum Frieden? In U. Ratsch, R. Mutz & B. Schoch (Hrsg.), Friedensgutachten 2000 (S. 109-118). Münster: Lit.

Duchrow, Ulrich (2004): Der Gott der EU-Verfassung. Zeitschrift Entwicklungspolitik. Heft 5-6/2004. Verfügbar unter: http://www.entwicklungspolitik.org [24.05.04].

Ehrhart, Hans-Georg (2001): Leitbild Friedensmacht? Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Herausforderung der Konfliktbearbeitung. Sicherheit und Frieden, 19, 50-56.

EU-Nachrichten (2003, 20.10.): Entwurf einer Verfassung für Europa. Konvent, Vertragsreform und die Diskussion um die Zukunft Europas. Themenheft Nr. 6.

Friedenswerkstatt Linz (Hrsg.) (2004): EU-Verfassung – Europa der Konzerne und Generäle? Die EU-Verfassung aus der Sicht von Friedens-, Anti-Atom- und globalisierungskritischer Bewegung. Linz: Herausgeber.

Hauswedell, Corinna & Wulf, Herbert (2004): Die EU als Friedensmacht? Neue Sicherheitsstrategie und Rüstungskontrolle. In C. Weller, U. Ratsch, R. Mutz, B. Schoch & C. Hauswedell (Hrsg.): Friedensgutachten 2004. Münster: Lit.

Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.) (2004): EU-Militarisierung zerstört die »Zivilmacht Europa«. Köln: Herausgeber.

Pflüger, Tobias (2003): Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder Auch die EU ist auf Kriegskurs. IMI-Analyse 2003/036. Verfügbar unter: http://www.imi-online.de [12.12.03].

Pflüger, Tobias (2004): EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet. Wissenschaft und Frieden, 22 (2), 18-20. Verfügbar unter: http://www.imi-online.de [14.08.04].

Schirmer, Gregor (2004): Militarisierung der Europäischen Union. Textanalyse der außen- und sicherheitspolitischen Bestimmungen im EU-Verfassungsentwurf. Kassel: Friedensratschlag. Verfügbar unter: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden [29.01.04].

Schroedter, Elisabeth (1999): Die Militarisierung der EU. ami, 29 (11). Verfügbar unter: http://userpage.fu-berlin.de/~ami/ausgaben/1999/11-99_5.htm [23.03.04].

Singe, Martin (2003): Die Militarisierung der Europäischen Union. Friedens-Forum, 16 (5-6), 31-34.

Wehr, Andreas (2004): Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen. Köln: Papyrossa.

Prof. Dr. Albert Fuchs Mitglied des Redaktionsteams von W&F

Ein »weiter so« ist ausgeschlossen

Ein »weiter so« ist ausgeschlossen

Das Nein zur EU-Verfassung in FR und den NL als Chance nutzen

von Tobias Pflüger

Nach dem Nein in Frankreich und den Niederlanden ist ein für den EU-Verfassungsvertrag positives Votum in Großbritannien nahezu ausgeschlossen. Nachdem Meinungsumfragen eine über 70prozentige Ablehnung verzeichneten, hat der englische Premierminister, Tony Blair, das Referendum vorläufig ausgesetzt, um seine politische Zukunft nicht zu gefährden. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Dänemark, Irland, Tschechien oder Polen der EU-Verfassungsvertrag bei den dortigen Referenden eine Mehrheit bekommt wird damit immer geringer. Doch die Regierenden wollen ganz nach dem Motto »business as usual« weitermachen. So forderte Bundeskanzel Gerhard Schröder: „Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen.“ Eine Neuverhandlung des Vertrages wurde von ihm, genauso wie von EU-Präsident Barroso ausgeschlossen. Doch die Ratlosigkeit ist trotz Durchhalteparolen kaum zu übersehen.

Nach dem deutlichen Scheitern des EU-Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden machen hilflose Erklärungsversuche die Runde. Kommissionspräsident Barroso sprach von widersprüchlichen Zielen der französischen und niederländischen Gegner des EU-Verfassungsvertrags. Ein „Bündnis von Ängsten“ habe zu der Ablehnung beigetragen. Barroso warnte vor „Schuldzuweisungen“. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments Elmar Brok sprach vom „Versagen der politischen Klasse.“ Den Verfassungsbefürwortern sei es nicht gelungen, den Menschen die Vorteile des Vertragsvertrags klarzumachen. Auf den ersten Blick erscheint die politische Klasse orientierungs- und ratlos: „Keiner kann jetzt genau sagen, wie es weitergeht“, meinte EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD). Gleichzeitig beeilte er sich aber, das Abstimmungsergebnis als einen „Unfall“ zu bezeichnen, den es nun zu korrigieren gelte. Der belgische Außenminister gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass dies „nicht das Ende des Verfassungsvertrages“ bedeute. EU-Handelskommissar Peter Mandelson dekretierte, dass „kein einzelner Mitgliedstaat ein Vetorecht habe“. Auch der spanische Ministerpräsident Zapatero will den Ratifikationsprozess einfach weitergehen lassen, als sei nichts geschehen. Europa sei die Lösung, „nicht das Problem.“ Für den EU-Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, sind „weder der Text des Verfassungsvertrages noch die Ideen, die er enthält. …tot.“ Seine Bitte, einfach weiter wie gehabt zu verfahren und nicht in eine „psychologische Starre zu verfallen“, klingt wie ein Pfeifen im Keller. Interessant ist auch die Haltung der Grünen in Deutschland. Ihr europapolitischer Sprecher entdeckte plötzlich berechtigte Kritik am Verfassungsvertrag, um im selben Atemzug die Verpflichtung zur „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ im Verfassungsvertrag als Mittel zu „Abrüstung“ zu bezeichnen.

Das imperiale Projekt der EU-Strategen hat einen schweren Dämpfer erhalten, gerade deshalb suchen sie aber offensichtlich nach Möglichkeiten, soviel wie nur möglich von den Teilen des Verfassungsvertrages zu retten, mit dem die Militarisierung der EU festgeschrieben werden sollte. Obwohl noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden ist, zeichnen sich erste Konturen und Optionen eines »Plan B« ab.

Optionen für den Plan B

Gemäß der getroffenen Vereinbarung, die auch im EU-Verfassungsvertrag in Artikel IV-443 (4) festgehalten ist, dass die EU-Staats- und Regierungschefs über das weitere Vorgehen beraten werden, sobald vier Fünftel, also 20 der EU-Staaten den Vertrag ratifiziert haben, möchte man wohl zumindest dieses Etappenziel erreichen. In der Zwischenzeit sollen schon mal Nägel mit Köpfen gemacht werden. Eine detaillierte Darstellung der möglichen Optionen wurde vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der Bertelsmannstiftung erstellt, dem wohl wichtigsten Think Tank bezüglich der Ausgestaltung des Verfassungsvertrags. Die CAP-Autoren schlagen vor, in der nun eintretenden Zwischenphase soviel wie möglich Bestimmungen irreversibel in die Praxis umzusetzen: „Die frühzeitige Implementierung bestimmter Verfassungsneuerungen wird nicht nur die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU-25 verbessern. Darüber hinaus werden politische Tatsachen geschaffen, von denen die EU-Mitgliedstaaten auch im Falle eines endgültigen Scheiterns der Verfassungsratifikation nur schwerlich abrücken können.“ Dies könnte beispielsweise den weiteren Ausbau der Europäischen Rüstungsagentur betreffen. Die eigentliche Schwierigkeit ist allerdings, dass Regelungen, die substanziell in das bestehende Mächtegleichgewicht der Union eingreifen, grundsätzlich ratifizierungspflichtig sind. Damit die diesbezüglichen Bestimmungen des Verfassungsvertrages, insbesondere die Neuregelung der Stimmengewichtung zu Gunsten der EU-Großmächte, in Kraft treten können, ist aber dessen Annahme durch sämtliche Mitgliedsstaaten, also auch den Nein-Sagern, erforderlich. Für ein Inkrafttreten des Vertrages müssten entweder die Ja-Länder eine neues Staatenbündnis auf der Grundlage des EU-Verfassungsvertrages bilden, oder aber die Nein-Sager aus der Union austreten, beziehungsweise dem Vertrag doch noch zustimmen. Eine wie auch immer geartete Koexistenz innerhalb der Europäischen Union zwischen Staaten, die auf Grundlage des Nizza-Vertrages Mitglied sind und denen, für die der EU-Verfassungsvertrag Geschäftsgrundlage ist, ist unmöglich.

Deshalb haben die Regierenden ein außerordentliches Interesse daran, dass es unter allen Umständen zur Annahme des Verfassungsvertrages kommt, und deshalb streben Europa-Ideologen, wie der Sozialdemokrat Jo Leinen bereits ein neues Referendum in Frankreich an. Für den luxemburgische EU-Ratspräsidenten, Jean-Claude Juncker, müssen sich die „Länder, die Nein gesagt haben, …mit der Abstimmungsfrage erneut auseinandersetzen.“ Als Extrembeispiel denken die CAP-Autoren sogar die Möglichkeit an, in Frankreich könne „ein zweites Referendum mit der Frage nach der Zukunft der französischen EU-Mitgliedschaft verbunden werden.“ Die EU-Ideologen lernen aus ihrem Scheitern bei der Abstimmung vor allem, dass sie in Zukunft die Propagandamaschinerie besser ölen sollten, um alle, die sich ihrem Projekt eines neoliberalen und militaristischen Europa widersetzen, auch in Zukunft als Nationalisten diffamieren zu können. Die besondere Attraktivität einer Verabschiedung des Verfassungsvertrages im Gesamtpaket liegt darin, dass es deutlich schwieriger sein wird, die ebenfalls konsensuell erforderliche Ratifizierung einzelner Aspekte zu erreichen. Man wird allerdings sehen müssen, inwieweit diese Option auch nur kurzfristig eine Zukunft hat, da es augenblicklich fraglich ist, ob überhaupt genug Länder den Vertrag ratifizieren werden.

Da ein erzwungener Austritt Frankreichs oder sogar mehrerer Länder aus der EU undenkbar ist, überlegen sich die EU-Strategen gegenwärtig eine weitere Option. Sie sähe vor, wesentliche Aspekte, insbesondere die Stimmengewichtung, aus dem Gesamtpaket auszugliedern und stattdessen über Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen. Dies würde zwar auch eine Ratifikation durch sämtliche Einzelstaaten erfordern, zöge aber nicht zwingend Referenden nach sich, womit deren Verabschiedung wahrscheinlicher würde. Laut CAP-Studie betrifft dies „vor allem die Neuerungen der EU-Institutionen. Hierzu gehören unter anderen die Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates, die Etablierung des Entscheidungsverfahrens der »doppelten Mehrheit«, die Verkleinerung der Kommission, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und die Schaffung des Amtes eines EU-Außenministers sowie die Stärkung der Rechte des EP und der nationalen Parlamente.“ In fast allen dieser Fälle „wäre jedoch eine förmliche Änderung der europäischen Verträge erforderlich. Anstelle einer umfassenden Neuverhandlung könnten einzelne Aspekte des Verfassungsvertrages herausgegriffen (z.B. die »doppelte Mehrheit«) und im Wege einer kurzfristig einberufenen Regierungskonferenz (»Mini-Regierungskonferenz«) oder über eine Inkorporation in künftige Beitrittsverträge in Kraft gesetzt werden. Da nur einige wenige Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen wären, könnten die meisten Mitgliedstaaten auf die Durchführung eines neuen Referendums verzichten.“

Man möchte also die Entscheidungskompetenz über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union wieder weg von ihren BürgerInnen und hin zu den Regierungen verlagern. Allerdings dürfte sich besonders die Neuregelung der Stimmgewichtung als extrem schwierig erweisen. Insbesondere Polen, aber auch alle mittelgroßen- und kleinen EU-Länder werden hierdurch massiv benachteiligt, das war der Hauptgrund für Warschaus ursprünglich heftigen Widerstand gegen den Verfassungsvertrag. Die ausgerechnet von Deutschen gegenüber Polen ausgesprochenen Drohungen, um die Bevölkerung und die Politiker »umzustimmen«, ließen in den letzten Monaten an Schärfe nichts vermissen. CAP-Leiter Werner Weidenfeld: „Polen wird sehr schnell spüren, was es bedeutet, alleine den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger Wind ins Gesicht wehen – was naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen lässt und die innenpolitische Bereitschaft zum Kompromiss fördert.“

Nachdem mit Spanien Polens letzter Verbündeter seine Position gewechselt hatte, gab das Land zwar seinen Widerstand gegenüber dem Verfassungsvertrag auf, ob solche Drohungen es aber dazu bewegen werden, eine Regelung, die ausschließlich die EU-Großmächte begünstigt, außerhalb eines umfassenden Gesamtpakets namens Verfassung zu schlucken, ist mehr als zweifelhaft.

Verfassung ist abgelehnt – jetzt auch die Militarisierung ablehnen

Zwar ist damit zu rechnen, dass Europas Militärstrategen versuchen werden, auf ein »Weiter so!« zu drängen und den Pfad einer hochgerüsteten global kriegsführenden Militärmacht EU weiter verfolgen, dieses Bestreben entbehrt aber nach dem Referendum in Frankreich jeglicher, schon vorher fraglichen Legitimation. Deutsche Konservative, wie der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers, ziehen aus der französischen Abstimmung allerdings ganz andere Schlussfolgerungen. Für sie geht es nicht um eine Abkehr, sondern um eine Intensivierung des EU-Militarisierungskurses. Er fordert als Konsequenz aus dem französischen Referendum, die EU-Armee „könnte Katalysator einer gemeinsamen Außenpolitik und Gegenstück zu einer gemeinsamen Währung sein.“ Berlin und Paris müssten ihre „im vergangenen Jahr begonnene Initiative für eine europäische Armee wieder aufgreifen und gemeinsam mit Spanien entschlossen vorantreiben.“ Ein Projekt wie es Lamers vorschlägt, ist aber kaum auf Grundlage des gültigen Nizza-Vertrages möglich, der unmissverständlich klarstellt, verstärkte Zusammenarbeit „kann nicht Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen betreffen.“

Was aber bedeutet das Nein für die Linke?

Zum einen ist bemerkenswert, dass unisono – von den neuen sozialen Bewegungen bis hin zum DGB – das Ergebnis als Forderung nach einem sozialeren Europa interpretiert wird. Alle Umfragen in Frankreich über die Hauptmotivation des Nein bestätigen diese Sichtweise. Das bedeutet, dass jetzt der Kampf gegen Neoliberale und Europa-Ideologen um einen anderen Verfassungsvertrag begonnen werden muss. Diese Auseinandersetzung muss von links offensiv mit eigenen Eckpunkten für einen anderen Verfassungsvertrag angegangen werden. Ein kompletter Gegenentwurf macht keinen Sinn, da es über die konkreten Zuständigkeiten der verschiedenen EU-Institutionen und bzgl. detaillierter Regelungen in einem möglichen zukünftigen EU-Verfassungsvertrag in der Linken, der Friedensbewegung und der globalisierungskritischen Bewegung sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Die Verständigung auf Grundsätze ist hier eine gute Möglichkeit, doch Einigung zu erzielen.

Es beginnt das Ringen darum, dass die ablehnenden Voten in Frankreich und den Niederlanden nun auch inhaltlich Ernst genommen werden. Das gilt auch für das Nein zur Militarisierung der Europäischen Union. Sie verliert mit den Ergebnissen der Referenden in Frankreich und den Niederlanden ihre Grundlage. Genau die inhaltliche Kritik, die von Links am Verfassungsvertrag geübt wurde (Neoliberale Wirtschaftspolitik, Militarisierung und inhaltsleere Grundrechtscharta) muss nun vertieft werden. Die Politik der EU in diesen Bereichen muss nun auch von den sozialen Bewegungen stärker in den Blick genommen werden.

Mit der Absage an diesen EU-Verfassungsvertrag ist auch jede vertragliche Übereinkunft zur EU-Militarisierung gescheitert. Daraus folgt nicht nur, dass dieser Prozess sofort zu stoppen ist, sondern auch, dass die konkreten Schritte zur Militarisierung, die im Vorgriff auf den Verfassungsvertrag bereits umgesetzt oder eingeleitet wurden, nun zurückgenommen werden müssen. Was die Staats- und Regierungschefs unter sich auf den EU-Gipfeln vereinbart haben, muss nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages zugunsten einer zivilen EU zurückgenommen werden. Das bedeutet konkret, um nur einige Stichworte der EU-Militarisierung der letzten Jahre zu nennen:

  • Auflösung der Battle Groups und den Verzicht auf das vorgesehene Aufstellungsprogramm der Schlachtgruppen,
  • Auflösung der Rüstungsagentur,
  • Ende der militärischen Kerneuropaprogramme, d.h. keine Umsetzung der »strukturierten Zusammenarbeit«,
  • Stopp der Aufrüstungsprojekte, die die EU für die globale Kriegsführung fit machen sollen,
  • keine weitere heimliche Umsetzung einer Aufrüstungsverpflichtung,
  • Beendigung der engen Kooperation der EU mit der NATO und in diesem Zusammenhang eine Kündigung des Berlin Plus-Rahmenabkommens, dass den Rückgriff auf NATO-Kapazitäten regelt,
  • Beendigung von Militäreinsätzen der EU, die beispielsweise mit der ALTHEA-Mission in Bosnien für eine Ausweitung des Einsatzspektrums in Richtung militärische Terrorbekämpfung und Kriegen zur angeblichen »Abrüstung« Dritter für die EU-Interventionstruppen, als vorbereitende Testfelder dienen.

Ausblick

Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags eröffnet die Möglichkeit für eine andere Politik. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Militär- und Außenpolitik. Die aus der Kritik am und der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden gewonnene Kraft muss in konkrete Kampagnen gegen die EU-Militarisierung umgesetzt werden.

Tobias Pflüger ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und Mitglied des Europaparlaments. Er ist Mitglied der Links-Fraktion (GUE/NGL), des Auswärtigen Ausschusses und des Unterausschusses Sicherheit und Verteidigung.

Fischers »strategische Dimension«

Fischers »strategische Dimension«

von Jürgen Nieth

Liebe Leserinnen, liebe Leser, der deutsche Außenminister ist schon per Amt einer der einflussreichsten in der EU und es ist auch kein Geheimnis, dass Joseph Fischer gerne EU-Außenminister werden möchte. Es ist also verständlich, dass sich keiner aus der deutschen Ministerriege so oft und so umfassend zu europäischen Zukunftsfragen zu Wort meldet wie er. Manchmal dabei auch Irritationen auslösend. So als er sich am 28.02.04 in einem Interview mit der Berliner Zeitung von der These eines Kerneuropas – einer EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, für die er seit vier Jahren gestritten hatte – verabschiedete.

In einem Interview mit der FAZ (»Die Rekonstruktion des Westens«, 06.03.04. Alle nicht anders gezeichneten Zitate sind diesem Artikel entnommen) und anderen Beiträgen werden die Gründe erkennbar, die zu diesen Kurswechsel führten: Fischer registriert eine neue Lage, in der ein Kerneuropa, das neben Deutschland und Frankreich nur wenige Länder umfasst hätte, nicht mehr reicht, um der Globalisierung und den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Gleichzeitig sieht er die Bereitschaft der meisten EU-Mitgliedstaaten mitzumachen. Die „Idee eines Gravitationszentrums oder einer Avantgardegruppe,“ möchte Fischer jedoch auf keinen Fall aufgeben, die Vorraussetzungen dafür sieht er sogar „im Verfassungsvertrag umgesetzt.“ Dafür spreche auch: „Nicht alle werden können, ganz wenige werden nicht wollen.“

Aus dem »Kerneuropa« ist ein Gravitationsfeld mit wechselnder Zusammensetzung geworden; natürlich immer mit Deutschland und Frankreich im Mittelpunkt, deren Macht damit gestärkt werden dürfte. Es geht um deutsche Macht in der EU und es geht um eine neue machtpolitische Positionierung der EU im weltweiten Kräftespiel.

Aus Fischers Sicht hat das „Projekt einer neuen europäischen Ordnung drei Dimensionen … : eine historische, eine pragmatische und nun auch eine strategische.“ 1989 kam für ihn diese dritte Dimension dazu. „Es zeigte sich, dass sich die Union nicht länger nur im Schlagschatten des Ost-West-Konflikts entwickeln konnte, wo die strategische Last in Amerika lag. Und die Ausrichtung dieser strategischen Dimension, die am 9.11. (1989) zutage trat, wurde durch den 11.09.(2001) wesentlich defeniert.“ Damals habe sich auch gezeigt, dass die EU für „diese strategische Dimension von Krieg und Frieden … noch nicht gebaut war.“

Dass die EU bis 1989 nur aus Geschichte und Pragmatismus bestanden haben soll, ist schon nicht nachvollziehbar, doch was versteht Fischer unter einer »strategischen Dimension« oder einer »strategischen Last«? Wenn wir im Duden (Mannheim, 2000) nachschlagen unter »Strategie« erfahren wir: „Genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein militärisches , politisches , psychologisches, wirtschaftliches o.ä. Ziel zu erreichen, und indem man die Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen können, von vorneherein einzukalkulieren versucht.“ Und unter strategisch: „genau geplant einer Strategie folgend.“ Fischers Begriffsschöpfungen werden auch unter Zuhilfenahme des Dudens nicht verständlicher, ihnen kommt man näher, wenn man das Wort Strategie in seiner ursprünglichen Bedeutung nimmt: Kriegskunst.

Auch einige weitere Formulierungen Fischers erschließen sich dann, wenn man »strategisch« liest und »militärisch« denkt. Etwa wenn Fischer davon spricht, dass nach dem 11.09. „das mangelnde strategische Bewusstsein bei uns selbst … zur mangelnden strategischen Dialogfähigkeit mit dem Partner Amerika“ führte. Oder wenn er meint, dass die NATO erst dann „ein Instrument des 21. Jahrhunderts werden (wird), wenn die strategische Dimension Europas zu Bewusstsein kommt.“

Wie stark Fischer heute in militärischen Kategorien denkt, wird deutlich, wenn er formuliert, der Irak-Krieg habe bei den Europäern die Erkenntnis gefördert, „die strategische Dimension auszufüllen. Mit der neuen Strategie, dem »Solana-Papier«,haben wir jetzt erstmals die Voraussetzung dafür geschaffen. Die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik, besonders auch der militärischen Fähigkeiten ist dabei ein ganz wchtiger Faktor.“

Der EU ist nach 1989 weltpolitisch gesehen eine größere Rolle zugefallen. Die Macht der EU wird weiter wachsen. Und Macht an sich ist ja nichts Schlechtes. Es kommt darauf an, wie und wofür sie eingesetzt wird und welche Machtinstrumente vorrangig entwickelt werden.

Eine starke EU ist in der Lage, Pflöcke zu setzen für einen gerechteren Welthandel, einen Nord-Süd-Ausgleich, beim Ausbau des internationalen Rechtssystems und für einen Dialog der Kulturen, bei der zivilen Bearbeitung von Konflikten usw. Doch wenn schon ein Politiker wie Joseph Fischer – mit einer solchen Vita – heute nicht mehr aus militärischen Denkkategorien rauskommt, wenn in einer EU-Verfassung eine Aufrüstungsverpflichtung festgeschrieben wird, dann wissen wir, wieweit wir von einer solchen Politik heute entfernt sind.

Dabei wäre eine Zivilmacht Europa in der Weltpolitik ein Schwergewicht. Eine Militärmacht Europa bleibt bestenfalls Juniorpartner der USA, im schlechtesten Fall wird sie in einem Rüstungswettlauf hinter dieser hinterher hecheln.

Jürgen Nieth

EU opfert ihre zivilen Stärken

EU opfert ihre zivilen Stärken

von Tilman Evers

Mit tausenden von Soldaten samt schwerem Gerät ist die EU derzeit in Bosnien und im Kongo präsent. Handelt es sich tatsächlich um Militärmissionen, die potentiell einen Feind zu bekämpfen haben? Dann reichen weder Truppenzahl noch Bewaffnung. Oder geht es im Kern um die polizeiliche Aufgabe, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern? Dann wären eine andere Doktrin, Schulung und Bewaffnung vonnöten. Ähnliches gilt für den Libanon-Einsatz europäischer Militärkräfte im Auftrag der UN.

Seit Jahren versucht die »Zivilmacht EU«, auch militärisch »glaubwürdig« zu werden. Friedensgruppen warnen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht – sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.

Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die Union international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Muskeln gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.

Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile wie militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Eine konzeptionelle Basis dafür wurde in Planungspapieren entwickelt, die in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« vom Dezember 2003 gipfelten. Sie räumt ein, dass keine der heutigen Konfliktursachen und Gefahren ausschließlich militärischer Natur seien, und bekennt sich zum Multilateralismus nach Maßgabe des Völkerrechts. Aber sie eröffnet der EU unter dem Begriff »friedenserzwingende Maßnahmen« zugleich die Möglichkeit, weltweit militärisch zu intervenieren, und das auch ohne UN-Mandat. Ähnlich ambivalent liest sich der Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags von 2004: Er bekennt sich zwar zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten, enthält aber auch eine Art Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten.

Auch in der Praxis sind die militärischen Fähigkeiten weit stärker als die zivilen entwickelt. So sind dem GASP-Sekretariat beim Ministerrat der EU derzeit 150 Militärexperten zugeordnet, während der Stab für zivile Krisenreaktion maximal 25 Personen umfasst, einschließlich des Leitungspersonals für Polizei-, Justiz- und Beobachtungsmissionen. Während heute in Bosnien und im Kongo 7.000 Mann stationiert sind, verfügen die laufenden Zivil- und Polizeimissionen in Bosnien und Mazedonien nur über 700 Kräfte. Das Verhältnis liegt also bei 10:1. Nimmt man die Einsätze europäischer Soldaten im Auftrag der UNO oder der NATO im Libanon, in Afghanistan und anderswo hinzu, wird das Übergewicht des Militärs noch krasser.

Noch 1999 beschloss die EU unter dem Eindruck ihrer Abhängigkeit von den USA im Kosovo-Krieg eine »Schnelle Eingreiftruppe« von 60 000 Mann für ein breites Spektrum von »humanitären« bis »friedenserzwingenden« Maßnahmen. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. 2004 folgte daraufhin der Beschluss, 13 »Battle Groups« à 1500 Mann für »friedenserzwingende« Kampfeinsätze aufzustellen, die realistischerweise aus einzelstaatlichen Kampfverbänden oder bestehenden bi- oder tri-nationalen Eurocorps bestehen sollen.

Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20.000 Mann noch keine »Militärmacht« aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedsstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammen betteln. Es geht also nicht um militärische Großmacht-Geltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union.

Auch die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür, dass die Europäische Union an größere Operationen kaum denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer »military capabilities« müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine »Civil-Military Cell« zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die NATO das einzig relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mit entscheidet, wozu und wie die EU ihre Militärkräfte einsetzt.

Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steht? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geografischen Umfeld und in Afrika.

Was ist also gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah kann nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotential des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militär-Gebaren die Gewalt-Logik noch zu verstärken.

Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur bei der Bewaffnung und den Entscheidungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: Nicht militärische Interessen-Erzwingung, sondern zivile Rechts-Durchsetzung, im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. »Humanitäre Interventionen« ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.

Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar; es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UN-Organs fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte?

Die sicherste Gewähr gegen europäischen Militarismus liegt in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedsstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser »gepoolten« Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechend großen Stab, ein Milliarden-Budget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die Mitgliedsstaaten das Sagen. Entscheidungen erfordern hier noch immer den Konsens aller Mitgliedsländer bzw. große Mehrheiten. Was als Gemeinsame Außenpolitik erscheint, ist eine mühsame Dauerkoordination zwischen 25 Hauptstädten.

Die EU-Außenpolitik hat zwei Köpfe

Andererseits wurde eigens für Belange der GASP beim Rat ein Sekretariat mit kleinem Stab und Budget geschaffen. Dieses Sekretariat mit seinen Untergremien hat unter Javier Solana als »Mister GASP« eine Eigendynamik entfaltet. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: Für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinander greifen, ist so kaum möglich.

Das gilt auch für die entstehenden »military capabilities«: An ihnen sind zu viele Gulliver-Fäden einzelstaatlicher Eifersucht befestigt, als dass sie ohne einen mühsam auszuhandelnden Konsens auf kleinstem Nenner einsetzbar wären. In diesem Filter bleibt auf absehbare Zukunft alles hängen, was über einen (allenfalls »robusten«) Blauhelmeinsatz hinausgeht.

Die institutionelle Machtblockade hemmt aber nicht nur den Ausbau der militärischen, sondern auch der zivilen Instrumente. Hier stellen die Einzelstaaten der EU bislang nur einige Polizeikräfte, kaum aber die dringend benötigten Experten für Justiz und Verwaltung, Menschenrechte und Zivilschutz ab. Weil der Ministerrat für Fragen der Sicherheit, nicht aber für Strukturpolitik zuständig ist, darf er erst tätig werden, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist. Für Prävention und Nachsorge ist dagegen die Kommission zuständig.

Die neuesten Entwicklungen bestätigen die gegensätzlichen Tendenzen. In Abstimmung mit den europäischen Netzwerken zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung hat die Kommission die Grundzüge einer »Peacebuilding Partnership« beschlossen. Gegenüber dem Europäischen Parlament kündigte die Außenkommissarin Ferrero-Waldner an, man wolle die operative Fähigkeit für zivile Missionen ausbauen und dabei auch mit nichtstaatlichen Netzwerken zusammenarbeiten, die in fast allen Krisenregionen über vorzügliche Kenntnisse und Zugänge verfügen. Zudem hat die Kommission ein mit zwei Milliarden Euro dotiertes »Stabilitätsinstrument« geschaffen, das vielfältige Hilfsmaßnahmen bei Krisen oder Naturkatastrophen vorsieht.

Ganz anders die Entwicklung im Rat. Generalsekretär Solana hat dem Ratspräsidenten seine Absicht mitgeteilt, alle Abteilungen für militärisches wie ziviles Krisenmanagement im GASP-Sekretariat künftig dem militärischen Stab zu unterstellen. Auch über rein zivile Aktivitäten wie Polizeihilfe oder Rechtspflege würden somit Militärs befinden. Die Begründung klingt rein pragmatisch: Im Sekretariat gebe es weitaus mehr militärisches Personal, dem es oft an sinnvollen Aufgaben fehle, während die wenigen Zivilisten chronisch überlastet seien! Das zeigt, dass man die Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Denkwelten entweder nicht kennt oder bewusst ignoriert. Bekannt ist, dass Großbritannien und besonders Frankreich die Militarisierung der ESVP vorantreiben. Beide Länder haben durchgesetzt, dass der Leiter der »Civil-Military Cell« ein Militär ist und nur sein Stellvertreter ein Zivilist.

Im Gefüge der EU lagen die operativen Funktionen bislang ganz überwiegend bei der Kommission; die sichtbare Tendenz, dass sich das Sekretariat des Rats zum zweiten operativen Zentrum neben und gegen die Kommission entwickelt, vermehrt die Inkohärenz statt sie zu mindern. Hier sind auch machtpolitische Ambitionen im Spiel: Für die Leitung künftiger Missionen möchte Solana im Regelfall einen Beamten seines Stabes nominieren; das würde den Einfluss der Mitgliedsländer mindern, die bisher über diese Besetzung mit entschieden haben. Und entgegen früheren Beschlüssen, wonach die Kommission beim Entwurf von Konzepten und Länderstrategien zu beteiligen ist, soll dafür nun Solanas Sekretariat allein zuständig sein.

Allerdings gibt es auch innerhalb des Rats unterschiedliche Bestrebungen. So will die finnische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 die zivilen Aspekte der Konfliktbearbeitung voranbringen und lässt dazu die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft prüfen; erwartet wird, dass die deutsche Präsidentschaft ab 2007 diesen Ansatz fortführt. Das Sekretariat meidet dagegen weiterhin die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.

Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen?

Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken, und damit die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.

Vergleich der Militärischen und Zivilen Fähigkeiten der EU

Zivile Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für zivile Einsätze zugesagt:

Polizei 5761 Kräfte
Justiz 631 Kräfte
Zivile Verwaltung 562 Kräfte
Zivilschutz 4988 Kräfte
Beobachter 505 Kräfte
Andere Gebiete 391 Kräfte
Insgesamt ca. 12.800 Kräfte

real:

Mitarbeiter im Generalsekretariat des Rats für kurzfristiges ziviles Krisenmanagement: max. 25
Mitarbeiter in der Kommission für langfristige zivile Krisenprävention und Friedenskonsolidierung: ca. 10

Militärische Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für militärische Einsätze zugesagt:

Rapid Reaction Force 60.000 Kräfte (bis 2010 zugesagt)
13 Battle Groups à 1500 = 19.500 Kräfte (ab 2007 zuges.) (jeweils x3 für Ablösung und Logistik)
Insgesamt min. 180.000, max. 240.000 Kräfte

real:

Militärpersonal im Generalsekretariat des Rats: min. 150
Europäische Verteidigungsagentur 80 Mitarbeiter
(2005, noch im Ausbau)
Europäisches Verteidigungs-Kolleg (im Aufbau) Anzahl der Mitarbeiter noch nicht bekannt
Martina Weitsch 2005, überarb. Tilman Evers 2006

Tilman Evers ist Privatdozent für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin Wir danken der Redaktion von Le Monde diplomatique, für deren deutschsprachige Ausgabe (September 2006 S. 9) der Artikel geschrieben wurde, für die Nachdruckerlaubnis. Der Artikel wurde vom Autor für W&F an einigen Stellen aktualisiert und durch den Kasten ergänzt.