Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Fachtagung der Universität Duisburg-Essen und International Students/Young Pugwash, Berlin, 31. Oktober – 2. November 2022

Nuklearwaffen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle in der internationalen Politik. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und russische Nukleardrohungen in der Folge dessen haben die Risiken einer nuklearen Konfrontation wieder deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch schon zuvor befand sich die globale nukleare Ordnung in einem kritischen Zustand: Während regionale Proliferationskrisen im Nahen und Mittleren Osten sowie Ostasien andauern und Kernwaffenarsenale in einigen Staaten weiter anwachsen, zeigen sich etablierte Rüstungskontrollmechanismen zunehmend geschwächt oder werden unterlaufen. Zugleich hat sich der geopolitische Kontext verändert: War das erste nukleare Zeitalter noch durch die gegenseitige Abschreckungsbeziehung der beiden Supermächte und das zweite durch das Anwachsen der Anzahl von Kernwaffenstaaten geprägt, so zeichnet sich das sogenannte »dritte nukleare Zeitalter« durch eine neue Komplexität aus. Es verbindet alte mit neuen Herausforderungen, die sich aus der Vielzahl relevanter Akteure, multipolaren Rüstungswettläufen und neuen Technologien ergeben.

Die internationale Fachkonferenz »New Age, New Thinking: Challenges of a Third Nuclear Age« (hier kurz: 3NA-Konferenz), die vom 31. Oktober bis 2. November 2022 in Berlin stattfand, widmete sich eben diesen Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters für nukleare Risikominimierung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Organisiert wurde die Konferenz vom Netzwerk International Students/Young Pugwash (ISYP) und der Universität Duisburg-Essen, mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung, Pugwash Conferences on Science and World Affairs und der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie in Zusammenarbeit mit dem Bulletin of the Atomic Scientists und dem Third Nuclear Age Project der University of Leicester.

Die 3NA-Konferenz brachte knapp 40 internationale Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Ländern in Berlin zusammen, um Herausforderungen des dritten nuklearen Zeitalters und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren. Ziel der Konferenz war nicht nur die Stärkung internationaler Forschungskapazitäten. Vor allem sollte fortgeschrittenen Studierenden und jungen Forschenden ein Raum gegeben werden, um sich untereinander, aber auch mit etablierten Wissenschaftler*innen zu vernetzen und gemeinsam neue Denkansätze zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein des Gesamtkonzepts der 3NA-Konferenz war Diversität: Die Teilnehmenden brachten unterschiedliche nationale bzw. geographische Perspektiven sowie unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen in die Diskussion ein. Eine Mischung aus sozial-, wirtschafts-, ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Hintergründen trug zu einer Multidisziplinarität bei, die es erlaubte, die komplexen Hintergründe nuklearer Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung im dritten Nuklearzeitalter ganzheitlich aufzuarbeiten. Schließlich wirken technologische Faktoren immer in sozialen Strukturen und werden durch kognitive Faktoren, wie Wissens- oder Überzeugungsstrukturen oder gegenseitige Wahrnehmungsmuster geprägt. So wurde kritische Reflexion angeregt und deterministischen Analysen entgegengewirkt, etwa durch Einbezug kritischer Perspektiven, bspw. der feministischen Kritik an technostrategischer Sprache oder der bewussten Dekonstruktion von zugrundeliegenden Machtasymmetrien, die auf Nuklearpolitik einwirken.

Die Tagung begann mit einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Zustand des gegenwärtigen Nuklearregimes befasste. Die Sprecher*innen setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, beschäftigten sich im Kern aber mit den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für globale nukleare Ordnungsbildung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach den normativen Grundlagen der nuklearen Ordnung und der Rolle von Vertrauen in antagonistischen Beziehungen. Zwar blieb offen, wann und wie angesichts des erheblichen Vertrauensverlustes durch Russlands Invasion bilaterale Rüstungskontrollgespräche zwischen Russland und den USA wieder aufgenommen und multilaterale Vertragsregime wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gestärkt werden können. Mehrere Teilnehmenden unterstrichen jedoch, dass Vertrauensbeziehungen auch unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Diplomatie gepflegt werden können – und ergo Wissenschaftler*innen, Studierende oder Techniker*innen eine aktive Rolle dabei einnehmen können.

Die beiden anschließenden Panels des ersten Konferenztages widmeten sich jeweils politischen und technologischen Herausforderungen der nuklearen Nichtverbreitung, darunter regionale (Un-)Sicherheitsperzeptionen, die unzureichende Institutionalisierung globaler Verantwortungsrahmen oder technologische Entwicklungen im Bereich der Reaktortechnologie. Aber auch neue Forschungsansätze und deren Potentiale wurden diskutiert, etwa die Sentimentanalyse oder neue Reaktorkonzepte und deren Bedeutung für Proliferationsresistenz. Im Kern lassen sich die Ergebnisse auf einen recht simplen Nenner bringen, der den Mehrwert einer multidisziplinären Perspektive unterstreicht: So wurde etwa festgehalten, dass neue Reaktortechnologien nicht automatisch das Proliferationsrisiko erhöhen, wenn regionaler Dialog und politischer Wille zur Zusammenarbeit vorhanden sind, um eine Regulierung von Kerntechnik und Spaltmaterial zu erwirken. Zum Abschluss des ersten Konferenztages resümierte die Podiumsdiskussion die Problematik nuklearer Nichtverbreitung im dritten Nuklearzeitalter. Letztlich gelte es, eine Balance zu finden zwischen der Sensibilisierung über Proliferationsrisiken und präventivem Handeln. Hervorgehoben wurden positive Effekte der sich diversifizierenden Akteurslandschaft im dritten Nuklearzeitalter, bspw. das Potenzial von »Open Source Intelligence« oder Handelsanalysen für ein tieferes Verständnis von Proliferationsmustern oder der stärkere Einbezug privater Akteure, wie Finanzinstitutionen, angesichts ihrer Rolle in Proliferationsnetzwerken. Als zentraler Baustein kristallisierte sich außerdem die Notwendigkeit heraus, das vorherrschende Narrativ anzufechten und die Kontrollierbarkeit von Nuklearwaffen und die Unvermeidbarkeit nuklearer Proliferation zu hinterfragen.

Am Abend rundete ein Empfang im Auswärtigen Amt in Kooperation mit dem Referat für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation sowie dem »Jungen Nuklearen Netzwerk«, einem unabhängigen und überparteilichen Verein junger Forschender, den ersten Tag der 3NA-Konferenz ab. Der Empfang ermöglichte es den Teilnehmenden, sich weiter zu vernetzen und die diskutierten Erkenntnisse mit Einsichten aus der ordnungspolitischen Praxis zu ergänzen. Einmal mehr stand hierbei die Frage nach den zukünftigen Konturen der nuklearen Ordnung im Mittelpunkt. Kritisch diskutiert wurde, dass die Diskussion zu stark auf Großmächte konzentriert sei und andere Weltregionen aus dem Blick gerieten. Dabei könnten Erfahrungen aus anderen Regionen wertvolle Einsichten liefern, bspw. der Wandel antagonistischer Beziehungen hin zu Vertrauen im Fall von Brasilien und Argentinien.

Der zweite Konferenztag begann mit der Präsentation breiter angelegter Perspektiven. Teilnehmende erörterten die Bedeutung multiplexer Akteurskonstellationen oder von Quantentechnologien für das dritte Nuklearzeitalter, diskutierten über Herausforderungen für Abschreckungspolitik, die unterschiedliche »Domänen« umfasst, oder formulierten eine feministische Kritik an der technostrategischen Sprache an der Schnittstelle von Cyber- und Nuklearpolitik. Zwei weitere Panels befassten sich mit den technologischen, aber auch ethischen Herausforderungen, mit Blick auf die Entwicklung neuer Trägersysteme wie Hyperschallgleiter, für Rüstungsdynamiken, der Vereinbarkeit von strategischer Stabilität und humanitärem Völkerrecht sowie den Herausforderungen und Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz für militärische Anwendungen. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zu der Frage, wie und ob angesichts der während der beiden Tage diskutierten technologischen und politischen Herausforderungen, die Risiken nuklearer Eskalation minimiert und effektive Mechanismen nuklearer Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung etabliert werden können. Zwar herrschte bei einigen Teilnehmenden Skepsis mit Blick auf die Frage, inwiefern es in der gegenwärtigen Lage gelingen kann, den Zustand der Unordnung zu überwinden. Einig waren sich die Teilnehmenden aber darin, dass das Bemühen um nukleare Ordnungsbildung letztlich alternativlos ist und Wissenschaft wichtige Impulse liefern kann. Da die Erfolgsaussichten für eine Wiedereinsetzung bilateraler Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland derzeit gering sind, sollten die Bemühungen verstärkt werden, konkrete Abkommen zur Risikominimierung, bspw. mit China, auszuhandeln. Diese müssten neue Technologien unbedingt einschließen. Festgehalten wurde aber auch die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure, etwa im Bereich der politischen Aufklärungsarbeit über Nuklearwaffen, inklusive der Sensibilisierung für Proliferations- und Eskalationsrisiken aufgrund von kognitiven Prägungen sowie politischen und technischen Interpretationen. Die Beiträge der Studierenden und jungen Forschenden lieferten dafür eine reichhaltige Palette konkreter Vorschläge.

Damit diese auch in den öffentlichen Diskurs einfließen, endete die Konferenz mit einer besonderen Gelegenheit für die Teilnehmenden: Die 3NA-Konferenz wurde durch eine Schreibwerkstatt mit John Mecklin, dem Chefredakteur des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists, abgerundet. Er ermutigte die jungen Forschenden, ihre Konferenzbeiträge für eine mögliche Veröffentlichung im Bulletin zu überarbeiten. Tatsächlich ist geplant, mehrere der Vorträge mit dem Bulletin zu veröffentlichen, um neues Denken und Forschung auch dort weiterzutragen.

Die 3NA-Konferenz markierte den Auftakt neuer Denk- und Forschungsprozesse und förderte den internationalen, interdisziplinären und intergenerationellen Austausch. Der Komplexität des dritten Nuklearzeitalters wurde mit Diversität, Fachkompetenz, und Multidiziplinarität begegnet. Zu den Erkenntnissen gehören auch offene Diskussionspunkte und Forschungslücken, etwa zum Konzept von Sicherheit und Stabilität im dritten nuklearen Zeitalter, zur Rolle von Vertrauen oder zum Umgang mit autoritären Staaten.

Elisabeth Suh und Carmen Wunderlich

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Atomwaffen sind patriarchale Gewalt!

Feministischer Essay zur nuklearen Bedrohung im Kontext des Ukraine-Kriegs

von Magdalena Fackler

Eine Generation junger Menschen übt feministische Kritik an Atomwaffen, ruft nach dem politischen Ende der atomaren Bewaffnung und schafft sogar international bindende Verträge. Dennoch ist die Gefahr nuklearer Kriegsführung aktueller denn je: im Kontext des Ukraine-Krieges und als Folge seiner Eskalation werden alte Narrative und Sicherheitsvorstellungen gegenseitiger Abschreckung erneut platziert, die in langer Tradition patriarchaler »Sicherheit« stehen. Wie funktioniert diese patriarchale Gewalt, wodurch zeigt sie sich und welche Möglichkeiten der Überwindung bleiben?

Geboren Ende der 90er Jahre, bin ich nach dem Kalten Krieg aufgewachsen. Das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern und das Versprechen von »Frieden in Europa« hat mich über Jahre hinweg begleitet. Plötzlich stehe ich vor dem Bundestag und halte Protestschilder gegen die Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge in die Höhe. Eine ganze Generation, die mit dem romantisierten Bild von »Frieden in Europa« aufgewachsen ist, wurde am 24. Februar eines Besseren belehrt. Denn die Invasion Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass Krieg in Europa sehr wohl möglich ist und dass dieser Krieg im Kontext der letzten Jahrzehnte und patriarchaler Machtstrukturen betrachtet werden muss. Vor allem aber wurde sichtbar: die nukleare Bedrohung ist real und nie weg gewesen.

Von Sicherheit und dem Risiko eines Atomkrieges

Die Erzählung um Sicherheit nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, stützt sich auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die in ihrer eigenen Logik Kriege verhindern soll. Den Krieg in der Ukraine hat sie nicht verhindert. Und doch dominieren nun Stimmen den Diskurs, die eben gerade unter Verweis auf den Krieg gegen die Ukraine und damit als direkte Folge ein Festhalten an Atomwaffen zu legitimieren versuchen: Dass es für das internationale Machtgleichgewicht notwendig sei, an der nuklearen Strategie der NATO festzuhalten, besonders jetzt mit dem Gegner Putin. Dass Deutschland seinen Teil dazu beizutragen habe und deswegen die US-Atomwaffen in Büchel auch die nächsten Jahrzehnte stationiert bleiben sollten. Es wurden gar Stimmen laut, die erneut für die Idee von eigenen Atomwaffen in der EU warben und über eine Ausweitung des Atomwaffenprogramms in Frankreich diskutierten.

Diese Erzählung von Sicherheit scheint zu wirken. Nach einer Umfrage sprach sich zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Deutschen für den Verbleib der US-Atomwaffen in Deutschland aus. 40 Prozent der Befragten befürworteten die Stationierung, zwölf Prozent sprachen sich gar für eine Modernisierung und Aufstockung aus. 39 Prozent gaben an, für einen Abzug der Atomwaffen zu sein (Bongen, Rausch und Schreijäg 2022). Es ist beängstigend, dass die Mehrheit der Deutschen die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, scheinbar zu akzeptieren bereit ist. Friedensforscher*innen warnten erst kürzlich erneut vor dem Risiko einer nuklearen Eskalation vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Im Friedensgutachten 2022 mit dem Titel »Friedensfähig in Kriegszeiten« äußerten sie sich besorgt über die Tatsache, dass alle neun Staaten, die Atomwaffen besitzen, auch neue Trägersysteme für nukleare Waffen entwickeln. In ihrem Gutachten machten die Wissenschaftler*innen sehr deutlich, wie massiv sich die Gefahr eines Atomkrieges erhöht hat. Dies hängt eng mit dem Krieg in der Ukraine und dem Einsatz von Nuklearwaffen als Druckmittel zusammen sowie dem Fehlen von vertrauenswürdigen Verpflichtungen gegenüber Abrüstungsverträgen (BICC et al. 2022, S. 94f.).

Zudem beruht das »nukleare Gleichgewicht« auf einem fragilen Vertrauen: Die »Sicherheit« der Abschreckung ist kein Automatismus, sondern zutiefst von menschlichen Entscheidungen und Emotionen abhängig. Gerade der derzeitige Krieg in der Ukraine zeigt auf, wie schwer die nukleare Abschreckung das Eingreifen in den Krieg macht, da sorgfältig abgewogen werden muss, welche Schritte eine atomare Reaktion hervorrufen könnten. Auch durch die auf ein Minimum heruntergesetzte Kommunikation zwischen Russland und den USA kann es schnell zu fatalen Missverständnissen kommen, die einen Atomschlag auslösen könnten. Die globalen humanitären und ökologischen Konsequenzen eines solchen Einsatzes und eskalierenden Nuklearkrieges sind offensichtlich. Kein Gesundheitssystem und keine Infrastruktur dieser Welt wäre auf die Folgen vorbereitet.

Trotzdem, so zeigt die oben genannte Umfrage, wird diese enorme Gefahr nicht auf die Existenz von Atomwaffen zurückgeführt, sondern im Gegenteil die nukleare Bedrohungssituation als eine Form »letzter Sicherheit« wahrgenommen, die stabilisiert werden muss. Dies legt nahe, dass diese Überzeugung nicht aus einer akuten Situation heraus entwickelt wird, sondern die Wurzeln dafür gesellschaftlich tiefer liegen: Die Überzeugung, nukleare Waffen gehörten zur letztlichen Sicherheit der Menschheit, ist eng mit Machtsystemen verknüpft, die immer noch die internationale Staatengemeinschaft und unsere Gesellschaften dominieren. Es braucht daher eine machtkritische Analyse, um aufzuzeigen, inwiefern die Erneuerung der globalen nuklearen Bedrohung im Rahmen des Ukraine-Kriegs mit dem Fortbestand patriarchaler Machttraditionen und Unterdrückungsformen zusammenhängt.

Atomwaffen und das Patriarchat

Feministische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen analysieren seit Jahren den Zusammenhang zwischen Patriarchat und Atomwaffen (vgl. für eine ausführliche Kritik Acheson 2021). Die Maskulinität, die im Patriarchat zu Macht führt, zeichnet sich durch »mannhafte Stärke« aus, die sich vorwiegend in Form von Gewalt, Militarisierung und bewaffneten Konflikten ausdrückt – oder in der Bereitschaft, diese anzuwenden bzw. zu eskalieren. Damit sichert sie die Macht derjenigen, die Zugang zu diesen Mitteln haben. In der extremsten Form potentiell möglicher Gewaltausübung sind also, der feministischen Kritik nach, Atomwaffen Ausdruck wahnhaft übersteigerter »männlicher« Machtphantasmen. Die Entscheidungsträger einiger weniger Staaten halten gemäß dieser Analyse an Massenvernichtungswaffen fest, um damit ihre (individuell sehr geringe, immer bedrohte) Macht zu sichern basierend auf dem (totalen, dauerhaft etablierten) Risiko der vollständigen Zerstörung ganzer Erdteile (am konkretesten in der Abschreckungsdoktrin der »gegenseitig versicherten Zerstörung«).

Diese Dimensionen zeigen sich auch gerade wieder im Krieg gegen die Ukraine. Viele feministischen Denker*innen sehen in der Person Putin einen Akteur, der eben diese ständig bedrohte Macht durch eine Demonstration »männlicher« Stärke zu sichern sucht. Dem folgt der gesamte militärische und administrative Apparat des Staates sowie viele der kulturellen und religiösen Institutionen – das Patriarchat ist gesellschaftlich tief sedimentiert. Anhand seiner medialen Inszenierungen und seiner Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, zeigt Putin, wie er mit Hilfe einer letztlich fatalen Lösung – denn in einem Atomkrieg kann es keine Gewinner*innen geben – den eigenen prekären Willen, nämlich die Eroberung der Ukraine, erreichen will. Doch nicht nur Putin führt die Erzählung weiter, auch andere Staatschefs fügen sich in dieses Narrativ ein – gerade dadurch geht diese Taktik auf. So geht es darum, sich gegenseitig »Stärke« zu beweisen, nicht nachzugeben und mit dem Festhalten an Nuklearwaffen ebenfalls patriarchale Macht zu demonstrieren, die auch bereit ist, die gesamte Menschheit in »Geiselhaft« zu halten.

Dabei kommen verschiedene Instrumente des Patriarchats zum Einsatz, die die Existenz von Atomwaffen sichern sollen und auch im Kontext des Krieges sichtbar werden. Ein Werkzeug stellt das »Gaslighting« dar. Der Begriff beschreibt üblicherweise die psychische Manipulation jemandes Wahrnehmung der Realität, die zum Machterhalt über die Person bzw. zur Fortführung der Ausübung von Gewalt dienen soll (Acheson 2018). Das fehlende Eingehen des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden auf die Drohgebärden von Putin kann zwar so gedeutet werden, dass er die Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen für hoch einschätzt und eine weitere Eskalation vermeiden möchte, was natürlich zu begrüßen ist. Gleichzeitig wird durch die Regierungen der NATO-Staaten ein Bild an die Öffentlichkeit vermittelt, das das Potential eines Atomschlages verschleiert und es als nicht diskussionswürdig verkennt. Als Olaf ­Scholz sein langes Zögern schwere Waffen in die Ukraine zu liefern damit begründete, dass er keinen Atomkrieg riskieren möchte, wurde er politisch und medial heftig für seine Kommunikation kritisiert. »Der Angstmach-Kanzler« (Reitz 2022) und ähnlich titelten daraufhin deutsche Zeitungen. Dies zeigt, wie das Risiko heruntergespielt, als Panikmache denunziert und die Realität, in der das Risiko für den Einsatz tatsächlich gestiegen ist, verzerrt wird.

Dies deutet auf ein weiteres tief verankertes patriarchales Machtinstrument hin, das im Diskurs um Atomwaffen wirkt, nämlich die »Verweiblichung« jeglicher Bemühungen dagegen. Noch im November 2021 titelte beispielsweise The Economist: »Verbündete fürchten, dass die neugewählte Bundesregierung bei Atomwaffen weich wird«, um die Besorgnis gegenüber möglichen Abrüstungsbestrebungen auszudrücken (The Economist 2021). Dieses Beispiel reiht sich in eine Tradition von Situationen und Aussagen, in denen die Bemühungen von Diplomat*innen und Aktivist*innen zur Abrüstung von ihren Gegenspieler*innen auf Seiten der Nuklearstaaten neben »schwach« auch als »emotional«, »naiv« oder »unrealistisch« bezeichnet wurden. Diese in der Globalgeschichte staatlicher Gewalt geschlechtsspezifisch zugeordneten Adjektive stützen die Aufrechterhaltung der konstruiert maskulinen Dominanz in den Diskursen um Atomwaffen.

Dafür wird auch eine weitere patriarchale Technik genutzt, die »Opferbeschuldigung«. In einer perfiden sicherheitslogischen Drehung der historischen Ereignisse wird nicht selten darauf hingewiesen, dass die Ukraine ja einmal Atomwaffen besaß bzw. lagerte und die Abgabe dieser Arsenale womöglich ein Fehler war, da sich die Ukraine dieser Argumentation zufolge dadurch angreifbar gemacht hätte.

Über die Ukraine hinausblicken

Kriege und Krisen, die die bestehende Ordnung durcheinanderschütteln, schaffen ein Momentum in der Geschichte, in dem wir uns entscheiden müssen: machen wir so weiter wie bisher oder schlagen wir eine andere Richtung ein? Wenn wir es ernst meinen mit Frieden und Sicherheit, dann ist es jetzt an der Zeit neue Normen zu setzen. Diese Entscheidung reicht weit über den Krieg gegen die Ukraine hinaus. Es geht dabei um das internationale System und wie darin »Sicherheit« verstanden und diskutiert wird, und darum, wie die bisherige Staatenordnung mit ihren patriarchalen Strukturen Aufrüstung und die nukleare Bedrohung als Reaktion auf Konflikte ermöglicht und zementiert.

Eine feministische Perspektive stellt demgegenüber den Menschen bzw. die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt und weniger die Sicherheit des Staates. Sie verschiebt damit das traditionelle Sicherheitsverständnis der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen (das gerade wieder einen massiven Aufwind erfährt) und betrachtet die Sicherheit von Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen (Centre for Feminist Foreign Policy 2021). Dieses Verständnis stellt eine Alternative zum traditionellen Sicherheitsbegriff dar. Die derzeitigen Entwicklungen und der hegemoniale Diskurs laufen allerdings Gefahr, die Errungenschaften von Friedensaktivist*innen und Feminist*innen sowie die Erfolge von Abrüstungsbestrebungen der vergangenen Jahre vollständig zu untergraben.

Der Krieg in der Ukraine sowie sein kriegsökonomisches System im Umfeld funktionieren wie ein Brennglas, das das Zusammenwirken verschiedener Machtsysteme, Ungleichheiten und Unterdrückungen aufzeigt. So müssen wir die nukleare Bedrohungsrhetorik im Ukraine-Krieg in ihren Zusammenhängen mit anderen Unterdrückungs- und Gewaltmechanismen verstehen. Die diskriminierenden Übergriffe an den Grenzen gegenüber nicht-weißen Geflüchteten aus der Ukraine, der rassistisch-sexistische Diskurs über Schutzsuchende aus Ländern des Globalen Südens im Vergleich zu Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und das Fehlen von klimagerechten Alternativen sowie die Duldung von Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Priorisierung ökonomischer Handelsbeziehungen – all das ist Ausdruck von jahrhundertealten Machtstrukturen, die auf Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt entlang von ethnischen, geschlechtlichen und sozialen Linien beruhen. Feministischer Kritik an atomarer Bewaffnung geht es also nicht alleinig um die Beseitigung der Nuklearwaffen, sondern um eine umfassende Kritik patriarchaler Gewaltverhältnisse, ihre Zusammenhänge mit Rassismus und Kapitalismus und um ihre Überwindung.

Doch diese bündeln sich im Kampf gegen Atomwaffen: Durch die Bemühungen feministischer Aktivist*innen, der Friedensbewegungen und einiger Diplomat*innen und Regierungen, allen voran aus dem Globalen Süden, ist es gelungen, mit dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) eine Möglichkeit für ein Ende der nuklearen Gewalt zu schaffen. Eine überwältigende Mehrheit der Staaten ist für die Abrüstung von Atomwaffen. Den ratifizierenden Staaten des Abkommens ist klar, dass Atomwaffen nicht von heute auf morgen abzuschaffen sind. Es geht vielmehr darum, Stück für Stück glaubwürdige Schritte in der Abrüstung zu gehen und Nuklearwaffen derart zu ächten, dass ein Einsatz undenkbar und daher auch eine Abrüstung unabdingbar wird. Der AVV ist aber gleichzeitig auch der erste Versuch einer systematischen Aufarbeitung und des Ausgleichs gegenüber den von kolonialen Atomwaffenversuchen betroffenen Gesellschaften im Globalen Süden. Der AVV geht also über die reine Abrüstung deutlich hinaus.

Die derzeitigen Entwicklungen durch den Krieg in der Ukraine machen von Neuem deutlich, was nach 1990 schnell in den Hintergrund geriet: das nukleare Risiko ist real und es bedroht uns alle. Anstatt dieses Risiko kleinzureden und schweigend in Kauf zu nehmen, müssen wir jetzt die Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen und das historische Momentum nutzen, um auf langfristige und nachhaltige Sicherheit und Frieden hinzuwirken. Die Analyse hat gezeigt, wie das patriarchale System wirkt und welche Machtstrukturen wir abbauen müssen, um unsere Gesellschaft und die Staatengemeinschaft zu transformieren. Wir müssen unsere Kämpfe gegen die Klimakrise, patriarchale und rassistische Strukturen sowie ausbeuterische ökonomische Verhältnisse mit dem Einsatz gegen Massenvernichtungswaffen verbinden. Im selben Atemzug, in dem wir uns um eine klimagerechte, antirassistische, antisexistische und gleichberechtigte Gesellschaft bemühen, müssen wir die Abrüstung von Atomwaffen, als höchstem Mittel patriarchaler Gewalt, einfordern.

Literatur

Acheson, R. (2018): Eine feministische Kritik der Atombombe. Heinrich-Böll-Stiftung, 19.10.2018.

Acheson, R. (2021): Banning the bomb, smashing the patriarchy. Maryland: Rowman & Littlefield.

BICC, HSFK, IFSH, INEF (2022): Friedensgutachten 2022. Friedensfähig in Kriegszeiten. Bielefeld: transcript Verlag.

Bongen, R.; Rausch, H.-J.; Schreijäg, J. (2022): Umfrage in Deutschland: Erstmals Mehrheit für Atomwaffen-Verbleib. Tagesschau, 02.06.2022.

Centre for Feminist Foreign Policy (2021): The CFFP Glossary. März 2021.

Reitz, U. (2022): Der Angstmach-Kanzler: Scholz muss den Deutschen endlich Mut machen. Focus Online, 04.05.2022.

The Economist (2021): Allies fear Germany’s incoming government will go soft on nukes. What will happen to the nuclear bombs deployed there? Homepage, 20.11.2021.

Magdalena Fackler hat Politikwissenschaft und Nahoststudien in Erlangen und Kairo studiert. Seit einem Praktikum bei ICAN Deutschland engagiert sie sich als ICAN-Botschafterin.

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg

von Karlheinz Lipp

Die Politik des Kaiserreiches, auch im Ersten Weltkrieg, unterstützte Thomas Mann rückhaltlos. Diese Überzeugung änderte er nach 1918 deutlich. So kritisierte der Schriftsteller den Aufstieg der NSDAP bis 1933 mit klaren Worten. Aus dem kalifornischen Exil attackierte Mann den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg in seinen Radiosendungen. Seine ablehnende Haltung zum Militarismus, zur Aufrüstung und zu einem deutschen Hegemoniestreben änderte sich auch im Zeitalter des Kalten Krieges nicht. Mann war kein Kommunist und kein Antikommunist – sehr zum Unwillen konservativer Kreise in der Bundesrepublik.

Thomas Mann erlebte und kommentierte den Zweiten Weltkrieg aus dem Exil in Kalifornien. Wie würde er die neue politische Phase des Kalten Krieges und die damit verbundenen Probleme sehen und beurteilen? Nach dem Ende des Krieges stellte sich für die Menschen, die ab 1933 durch den NS-Staat ins Exil vertrieben wurden, die Frage, ob sie nach Deutschland zurückkommen sollten. Einige machten dies, andere nicht. Wie würde sich der sehr bekannte Autor mit internationalem Renommee und Gegner des Nationalsozialismus entscheiden? Thomas Mann wurde bereits am 8. August 1945 von Walter von Molo aufgefordert, nach Deutschland zurückzukehren. Der Literaturnobelpreisträger von 1929 antwortete in einem Offenen Brief am 12. Oktober »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«. Mann betonte besonders folgende Gründe für seine Entscheidung: den mangelnden Widerstand im Jahre 1933, die tiefe Verletzung durch die Politik des NS-Staates sowie die Tatsache, dass er inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden sei. So hatte der Schriftsteller eine lange freundschaftliche Beziehung zum Präsidenten Roosevelt.1

Suspekt erschienen Mann große Teile des deutschen Volkes auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus.2 So notierte er am 7. Januar 1947 in sein Tagebuch: „Käme Hitler wieder, 60-80 % würden ihn mit offenen Armen empfangen.“ 3 Eine geplante Reise nach Deutschland, zwei Monate später, wurde von der Tochter Erika vehement und erfolgreich abgelehnt. So fuhr Mann im Frühjahr in europäische Länder (England, Schweiz, Italien und Holland) – aber nicht in die vier Besatzungszonen.

Jedoch publizierte Thomas Mann eine »Botschaft an das deutsche Volk«, diese erschien am 24. Mai 1947. „Das deutsche Volk kann nicht von außen her umerzogen werden. Jede wirksame Umerziehung muß von innen heraus wachsen. Die beste Umerziehung wird eine allgemeine Aufwärtsentwicklung der Welt mit sich bringen, die dem deutschen Volk klar macht, daß es keine Aussicht auf einen neuen Krieg hat, die es überzeugt, daß die Welt einen Stand erreicht hat, in dem alle nationalistischen, nazistischen und militaristischen Ideen sinnlos geworden sind.“ 4

Mit Roosevelt hoffte Mann auf die Vereinten Nationen – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Die bipolare Welt und der Kalte Krieg ließen auch Mann einen neuen Krieg befürchten. Im Koreakrieg (1950-1953) zeigte sich schon recht bald eine entsprechende, militärische Realität.

Beginnende Distanz zu den USA

Seine positive Einstellung zu seinem Gastland USA änderte Mann sukzessive. Wesentlichen Anteil daran hatte der besonders schroffe Antikommunismus in der US-Außenpolitik (Präsident Truman, der Nachfolger Roosevelts, verschärfte durch seine Doktrin von 1947 den Kalten Krieg) sowie in der US-Innenpolitik durch die Jagd auf reale und vermeintliche Anhänger des Kommunismus, maßgeblich vorangetriebenen durch den republikanischen Senator Joseph McCarthy. Diese geschürte Massenhysterie missfiel Thomas Mann zunehmend. Ferner schmerzte den Schriftsteller die Tatsache, dass es die USA waren, die eine Remilitarisierung der Bundesrepublik gezielt vorantrieben. Skeptisch beäugte Mann die Rolle der Rüstungsindustrie beim Aufbau einer deutschen Armee – hatte er doch in der Weimarer Republik die Bedeutung der Großindustrie beim Aufstieg der NSDAP in unguter Erinnerung.5

Skepsis gegenüber der NATO

Am 4. April 1949 wurde die NATO gegründet. Thomas Mann gehörte zu den Unterzeichner*innen eines Offenen Briefes an den amerikanischen Kongress vom 11. April, der sich gegen eine überstürzte Ratifizierung des Paktes richtete. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete: „500 Personen, darunter der deutsche Schriftsteller Thomas Mann und der Pianist Artur Schnabel, haben den amerikanischen Kongreß in einem Offenen Brief zur Ablehnung des Atlantikpaktes aufgefordert. Die Unterzeichner fordern Präsident Truman zu direkten Verhandlungen mit der Sowjet­union zur Beilegung der bestehenden Differenzen auf. In dem Schreiben […] heißt es u.a., der Pakt würde den Wiederaufbau Westeuropas verzögern und unausweichlich zu einer fatalen ‚Zwei-Welten-Politik‘ führen.6

Und die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet schrieb am 20. Mai: „Auf die Frage nach der Distanzierung vom Atlantikpakt antwortete Thomas Mann, er sei der Auffassung, daß Bündnisse zu erschreckend an das erinnern, was früher in den schlechten alten Zeiten geschehen war. Es hat sich gezeigt, daß Machtkonzentrationen dieser Art zu Entladungen geführt haben, selbst wenn sie defensiv geplant waren.7

Hin zu einem Weltföderalismus

Mann unterstützte daher das Projekt des Vereinigten Weltföderalismus, dessen Vorsitzender sein Schwiegersohn Antonio Borgese, verheiratet mit der jüngsten Tochter Elisabeth, war. Sie übernahm nach dem Tod ihres Ehemannes die Leitung. Thomas Manns globale, föderale Position, von der er überzeugt war, dass sie den Krieg überwinden könne, zeigt sich deutlich in der Erklärung »Eine Welt oder keine« im schwedischen Rundfunk vom 5. September 1949 anlässlich des Dritten Internationalen Kongresses der Weltföderationsbewegung in Stockholm.

„Noch immer gibt es Militärbündnisse, Rüstungen und sich widersprechende nationale Interessen. Immer noch können wir, die einfachen Bürger dieser Welt, in einen Krieg verwickelt werden, den wir nicht wollen und der das furchtbarste Unglück wäre. Laßt euch etwas sagen, wovon ich zutiefst überzeugt bin: Wer dauernden Frieden will, muß die Weltregierung wollen. Denn solange wir kein Weltgesetz haben und keine Weltpolizei, wohl aber Mißhelligkeiten und Zerwürfnisse zwischen den Menschen, bleibt Krieg am Ende der einzige Ausweg. Glaubt bitte nicht, daß die Weltregierung gleichbedeutend wäre mit dem Verlust eurer nationalen Unabhängigkeit. Nichts soll euch genommen werden als die Verpflichtung, auf Befehl eurer Regierung in den Krieg zu ziehen. Im übrigen wird die Weltregierung sich nicht einmischen in die Angelegenheiten der Länder. Wenn wir die Weltregierung wollen, so müssen wir hinarbeiten auf unser Ziel.“ 8

Verständigung über Blockgrenzen hinweg

Mann weigerte sich stets, Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine Ebene zu stellen. Im Juni 1951 entstand ein Brief Manns an Walter Ulbricht. Gekürzt erschien das Schreiben 1963, vollständig erst 1990. Eine Antwort Ulbrichts existiert nicht. In seinem Brief führt Mann zunächst seine Friedensüberzeugung an, um sich dann, in einer humanistisch begründeten Verständigung über Blockgrenzen hinweg, aktiv an einer frühen Form der Entspannungspolitik zu versuchen:

„Wenn auch der Kommunismus den Frieden will – und ich glaube, daß er ihn will –, so sollte er alles tun, um einem Humanismus Vorschub leisten und Rechtfertigung zu gewähren, der, ohne an das kommunistische Credo gebunden zu sein, sich dem militanten Anti-Kommunismus verweigert und für den Frieden einsteht, indem er es der Zeit […] anheimgibt, die Gegensätze auszugleichen und zu höherer Einheit aufzuheben, die heute in scheinbarer Unversöhnlichkeit zwischen den Welthälften klaffen, während doch die sie bewohnenden Völker im Grunde alle den gleichen Problemen und Aufgaben verpflichtet sind. Der Kommunismus, sage ich, sollte alles tun, diesem friedenswilligen Humanismus Hilfe zu leihen und so weit nur immer möglich alles vermeiden, was seinen Einfluß lähmen könnte.“ 9

Es ist dann Thomas Mann selbst, der in den folgenden Abschnitten seines Briefes an Ulbricht ein konkretes Beispiel für den angesprochenen Humanismus aufzeigt. Im sächsischen Waldheim kam es ein Jahr zuvor, von April bis Juni 1950, zu Schauprozessen. Ungefähr 3.000 Personen, die zuvor einige Jahre in Lagern der Sowjetischen Besatzungszone interniert waren, wurden der Zusammenarbeit mit dem NS-Staat angeklagt und verurteilt – ohne Rechtsbeistand, ohne entlastende Zeugen und ohne eine Aussicht auf ein Berufungsverfahren. Mann vergleicht diese Rechts­praxis mit dem »Volksgerichtshof« unter Roland Freisler. Damit wollte der Autor darauf hinweisen, dass es bei politischen Prozessen in der DDR keine unabhängige Justiz gab. Der Schriftsteller nennt einige konkrete Namen von Menschen, die abgeurteilt worden sind, und bittet um Gnade für sie. Am Ende seines Briefes verknüpft Mann die Waldheimer Prozesse mit der Bipolarität des Kalten Krieges und plädiert für eine Entspannung sowie Versöhnung zwischen den Machtblöcken.

Glauben Sie nicht mit mir, daß alles, was auch nur indirekt dazu beitragen könnte, diese verhängnisvolle Spannung herabzusetzen, die vergiftete Atmosphäre zu verbessern, Haß und Furcht zu mindern und das Bild der einen Seite der anderen weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, – daß jede Geste der Milde und Menschlichkeit heute eine Tat für den Frieden, Trost und Unterstützung für alle wäre, die den Frieden wollen?“ 10

Manns Haltung zu Massenvernichtungswaffen

Mitte März 1950 beschlossen 150 Delegierte des kommunistischen Weltfriedenskomitees ein absolutes Verbot von Atomwaffen. Dieser Stockholmer Appell wurde weltweit von ca. 500 Millionen Menschen unterschrieben, davon zwei Millionen in der Bundesrepublik. Ob Thomas Mann den Aufruf unterzeichnet hat, ist umstritten.11 Im April 1954 gab der Schriftsteller dem Journalisten Guido Nozzoli ein Interview, der daraus einen Artikel für die Zeitung L‘Unità (Organ der Kommunistischen Partei Italiens) fertigte. Der Beitrag erschien am 3. Mai 1954 und behandelte auch Aspekte des Friedens und der atomaren Bedrohung desselben. In der Bundesrepublik wurde dieses Interview erst viele Jahre nach Manns Tod publiziert. Dies zeigt sehr bezeichnend, dass Thomas Mann zwar als Schriftsteller anerkannt wurde, jedoch nicht als friedenspolitischer Mahner im Kalten Krieg.

„Was denkt Thomas Mann über den Alarmzustand, in den sich alle Nationen durch die unkontrollierbare Wirkung der neuen Bombe [Wasserstoffbombe] versetzt sehen? Wenn man seinen Standpunkt kennt, ist die Frage mehr als überflüssig. […] ‚Der Krieg‘, sagt er [Mann], ‚und besonders ein Atomkrieg wäre nur ein zerstörerisches Unternehmen. Ideen sind um den Preis eines Massakers nicht aufrechtzuerhalten. Auch ein Krieg, den man für richtig hält, kann die Menschheit nur niederdrücken und zurückwerfen. Und bei einem Zusammenprall gäbe es keinen Sieger.‘[…]

‚Sie halten es also für richtig‘, frage ich weiter, ‚daß der friedliche Kampf der Völker gegen die Bedrohung durch die atomare Geißel fortgeführt wird?‘ Auch diese Frage beantwortet Thomas Mann ohne zu zögern. ‚Ja, das ist sicherlich eine gute Sache, und jeder muß zu ihrem Erfolg beitragen. Man darf nicht den Kommunisten allein die Verteidigung des Friedens überlassen. Es mag ihnen befremdlich erscheinen, daß ich das Ihnen, einem Kämpfer der Kommunistischen Partei sage, doch das ist meine Meinung. Ich halte es für eine Pflicht eines jeden Menschen und vor allem eines jeden Intellektuellen, alles Menschenmögliche zu tun, um die Spannung zu entschärfen, um das zu erreichen, was wir mit einem deutschen Wort ‚Entspannung‘ nennen. Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, meine ich, daß man die kulturellen Beziehungen und den wirtschaftlichen Austausch erweitern müßte: auf diesen Ebenen ist es leichter, sich zu verstehen.“ 12

Keine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik

Die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik kritisierte unterdessen weiterhin vehement den Aufrüstungskurs der Regierung Adenauer. Einen Höhepunkt bildete dabei der Zeitraum von Herbst 1954 bis zum Frühjahr 1955.13 Am 23. Oktober 1954 erschien in der französischen Zeitschrift L‘Express unter dem Titel »Thomas Mann lance un message« (Thomas Mann sendet eine Botschaft) ein Beitrag zur Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieses Artikels hatte die Tochter Erika. Das Neue Deutschland druckte am 30. Oktober eine fragmentarische, deutsche Rückübersetzung ab. In der Bundesrepublik erschien Manns Stellungnahme erst 1974.

Der Schriftsteller skizziert zunächst die angespannte weltpolitische Lage des Kalten Krieges und das drohende Potential eines möglichen heißen Krieges. Danach zitiert Mann sehr zustimmend einige Passagen des »Essener Vorschlages«, eines Friedensprogramms von SPD-Mitgliedern.14 Besonders schätzt Mann dabei folgende Aspekte: Frieden als oberstes Ziel angesichts seiner akuten Bedrohung; eine Politik der Freundschaft und Verständigung gegenüber allen Völkern im Westen und Osten – unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsordnung; Verzicht auf eine Machtpolitik angesichts der historischen Erfahrung des Militarismus; Kritik an den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, die ihre Macht missbraucht hätten, um den deutschen Militarismus zu fördern sowie eine Völkerverhetzung zu etablieren; Räumung des gesamten deutschen Territoriums von ausländischen Truppen; Verzicht auf eine deutsche Armee und auf Massenvernichtungsmittel – eine starke Polizei sei ein ausreichender Garant für die Sicherheit.

Besonders betont Mann die deutsch-französische Zusammenarbeit sowie den wichtigen Kulturaustausch (Theater, Musik, Literatur) der beiden Länder. „Mir scheint, die letzten Reste des Mythos vom ‚Erbfeind im Westen‘ sind abgestorben. Schon Hitlers Schwindel-Eroberung Galliens vor vierzehn Jahren hat nicht entfernt den Stolz, das nationale Hochgefühl ausgelöst wie der Sukzeß von 1870/71. Heute ist eher eine gewisse Gêne [Unbehagen] zu beobachten über den Siegesplunder von 1940, ein Achselzucken über den Waffenruhm, mit dem man so äußerst ernüchternde Erfahrungen gemacht hat. Dies Volk, seiner großen Mehrheit nach, will nichts wissen von Krieg und Kriegsgeschrei. Es will leben, arbeiten, aufbauen – und sich ohne ‚Machtpolitik‘ das Maß von Macht wieder zuwachsen lassen, welches das natürliche und legitime Ergebnis der Aktivität, des Fleißes und ehrlicher Tüchtigkeit ist. Es ersehnt sich Zeit und ist nicht ohne berechtigte Hoffnung, daß sie ihm und der Welt gewährt sein möge. Die Hydrogenbombe sollte den Frieden sichern –, was ihn in Wahrheit fristet, ist die Tatsache, daß Rußland sie auch hat, und ich müßte mich ganz und gar irren, wenn nicht verbreitete Befriedigung über diesen Sachverhalt unter den Deutschen herrschte. […] Die Zeit ist ein kostbares Geschenk, uns gegeben, damit wir in ihr klüger, besser, reifer, vollkommener werden. Sie ist der Friede selbst, und Krieg ist nichts als das wilde Verschmähen der Zeit, das Ausbrechen aus ihr in sinnloser Ungeduld. Der Himmel gewähre uns Zeit! In ihr wird sich dem Letzten noch der bloße Gedanke an einen dritten Krieg als der selbstmörderische und kriminelle Wahnsinn erweisen, der er ist.15

In die weiteren Debatten um die Wiederbewaffnung und den Kalten Krieg griff Thomas Mann bis zu seinem Tod am 12. August 1955 im Alter von 80 Jahren allerdings nicht mehr ein. Bereits am 9. Mai traten die BRD der NATO und die DDR am 14./15. Mai dem gerade gegründeten Warschauer Pakt bei. Doch es wäre auch anders gegangen: Die Republik Österreich, ein dritter Nachfolgestaat des NS-Regimes, ist seit dem 26. Oktober 1955 nach dem Abzug aller Besatzungstruppen offiziell ein neutraler Staat – vielleicht ganz im Sinne Thomas Manns?

Anmerkungen

1) Zur deutschen Diskussion um die Remigration Manns vgl. Hermand, J.; Lange, W. (1999): „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt, S. 7-55.

2) Mann versuchte ab 1940 mit seinen BBC-Rundfunkansprachen »Deutsche Hörer« zu erreichen, um sie für den Widerstand gegen den NS-Staat zu aktivieren. Vgl.: Mann, Th (2004): Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag; Valentin, S. (2015): „Steine in Hitlers Fenster“. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! (1940-1945). Göttingen: Wallstein.

3) Mann, Th. (1989): Tagebücher 28.5.1946-31.12.1948. Hrsg. von Inge Jens. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 85.

4) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII. Nachträge, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 789.

5) Vgl. Sontheimer, K. (2002): Thomas Mann und die Deutschen. München: Langen Müller, S. 167ff.

6) Hansen, V.; Heine, G. (Hrsg.) (1983): Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909-1955. Hamburg: Knaus Verlag, S. 290, Anmerkung 4.

7) Ebd., S. 292.

8) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 799f.

9) Mann, Th (1992): Essays. Band 6. Meine Zeit 1945-1955. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, S. 211ff.

10) Ebd., S. 217.

11) Vgl. Heine, G.; Schommer, P. (2004): Thomas Mann Chronik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann Verlag, S. 474.

12) Hansen, V.; Heine, G. (1983): Frage und Antwort. a.a.O., S. 379ff.

13) Für einen Überblick vgl. Lipp, K. (2021): Chronologie der Friedensinitiativen in den beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1955. Norderstedt: BoD, S. 61-94.

14) Zu den Positionen der SPD von 1945 bis 1955 vgl. Butterwegge, Ch.; Hofschen, H-G (1984): Sozialdemokratie, Krieg und Frieden. Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumentation. Heilbronn: Distel Literaturverlag, S. 246-291.

15) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 812f.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Mehr Abrüstung wagen!

Mehr Abrüstung wagen!

von Sabina Galic

Die neue Bundesregierung hat sich für die nächsten Jahre viel vorgenommen. Im Koalitionsvertrag finden sich unter dem selbsterklärten Ziel »mehr Fortschritt wagen«, notwendige Impulse u.a. zum Klimaschutz, einer feministischen Außenpolitik und allem voran Ziele zur Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen.

Die Ankündigung der Bundesregierung, an der ersten Staatenkonferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Wien als Beobachterin teilzunehmen, ist gewiss ein wichtiger Schritt für zukünftige Abrüstungsbemühungen. Der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen ist im Januar 2021 in Kraft getreten und 59 Staaten sind bereits beigetreten, 86 haben unterzeichnet.

Deutschland wird nach Norwegen der zweite NATO-Staat und das erste Land sein, in dem Atomwaffen stationiert sind, das die Staatenkonferenz beobachtet. Zudem haben die NATO-Partnerstaaten Finnland, Schweiz und Schweden ebenfalls ihren Beobachtungsstatus bei der Konferenz angekündigt. Der Widerstand gegen den AVV sinkt innerhalb der NATO bereits spürbar.

Dies ist auch ein Erfolg für den UN-Atomwaffenverbotsvertrag sowie für die Staaten, die sich bereits entschlossen für Abrüstung einsetzen. Auf der Konferenz wird es nun konkreter um die Umsetzung des Vertrages gehen. Außerdem werden Vertragsstaaten über nationale Maßnahmen beraten, sowie Schritte bezüglich der Anerkennung von Opfern der Atomwaffentests und -einsätze, Umwelthilfe und der internationalen Kooperation beschließen. Insgesamt bietet der AVV somit einen völkerrechtlichen Rahmen für eine vollständige nukleare Abrüstung. Deutschland hat mit seinem Beobachtungsstatus die Chance, das Verfahren zu verfolgen, Stellungnahmen abzugeben und somit auch Unterstützung für den Vertrag zu signalisieren.

Nichtsdestotrotz scheint die neue Bundesregierung hinsichtlich ihrer Abrüstungsbemühungen in ihrem eigenen Widerspruch gefangen zu sein. Laut Koalitionsvertrag will sie sich zwar einerseits für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, andererseits weiterhin an der nuklearen Abschreckung sowie an der nuklearen Teilhabe festhalten. Obwohl der Beobachtungsstatus bei der Staatenkonferenz eine willkommene Annäherung an das Verbot von Atomwaffen signalisiert, verkündete Verteidigungsministerin Lambrecht gleichzeitig die Beschaffung eines Nachfolgesystems für atomwaffenfähige Tornadoflugzeuge.

Des Weiteren bekennt sich die neue Bundesregierung insbesondere zu einer Aufrechterhaltung eines »glaubwürdigen Abschreckungspotentials«. Die Stationierung von neuen US-Atomwaffen in Büchel ist dafür bereits vorgesehen. Jedoch sind diese laut Expert*innenmeinung militärisch kaum nutzbar und daher auch nicht glaubwürdig. Zudem erfordert die Modernisierung und Instandhaltung dieser Waffensysteme Milliarden­investitionen, jedoch bieten sie gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts wie etwa Cyberangriffe, Klimakrise und Pandemien überhaupt keine Sicherheit. Diese nukleare Aufrüstung passt auch nicht mit Deutschlands Ziel zusammen, eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Bei der UN-Vollversammlung stimmte Deutschland 2021 zudem erneut gegen den UN-Atomwaffenverbotsvertrag. Ein weiterer (Fort-)Schritt der Bundesregierung sollte somit auch darin liegen, bei dieser jährlichen Abstimmung in Zukunft eine andere Position einzunehmen, da der Atomwaffenverbotsvertrag momentan die einzige echte Abrüstungsinitiative darstellt.

In Anbetracht der Tatsache, dass internationale Rüstungskontrollverträge bereits gekündigt wurden und weitere Gespräche über die Abrüstung von Atomwaffen durch die Spannungen zwischen Russland und der NATO ohnehin immer schwieriger werden, sollte auch keine zusätzliche nukleare Aufrüstung erfolgen, die die Konflikte nur weiter befeuern.

Die Bundesregierung sollte vielmehr Deutschlands Rolle in der nuklearen Teilhabe der NATO dringend überdenken, denn der sogenannte nukleare Schutzschirm bietet keinen Schutz. Der Atomwaffenverbotsvertrag bietet hingegen einen Weg zur Abschaffung aller Atomwaffen – und nur dadurch können wir uns selbst und die Welt vor einem Atomkrieg schützen. Deswegen sollte die Bundesregierung dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, die Beschaffung neuer Atomwaffen-Trägerflugzeuge stoppen und sich für den Abzug aller US-Atombomben aus Deutschland einsetzen.

Die neue Bundesregierung lässt im Koalitionsvertrag insgesamt Spielraum für einen Paradigmenwechsel in der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik, auch wenn einige Stellen sich bisher widersprechen oder vage bleiben. Die Frage ist nur: Wie viel Fortschritt wird sie darin wagen?

Sabina Galic ist Vorstandsmitglied bei ICAN Deutschland und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdientsgegnerInnen

Folgen der Atomkatastrophe für Mensch und Natur


Folgen der Atomkatastrophe für Mensch und Natur

Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima«, IPPNW, Berlin, 27. Februar 2021

von Dr. med. Alex Rosen

Am 11. März 2021 jährte sich die Atomkatastrophe von Fukushima zum 10. Mal. Anlässlich des Jahrestages stellte die Organisation »Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) auf ihrem Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima« die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Folgen dieser Katastrophe für Mensch und Natur vor. Der Fokus lag insbesondere auf den physischen gesundheitlichen Auswirkungen, wie steigenden Krebsraten und genetischen Effekten, aber auch psychosoziale Aspekte wurden eingehend beleuchtet. Fachvorträge über Flora und Fauna der Region rundeten das Bild ab. Die Mediziner*innen der IPPNW sandten mit Ihrer Fachtagung ein klares Signal an die japanische Regierung: Unabhängige, wissenschaftliche Forschung darf nicht länger unterbunden werden, sondern muss im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt in der Region effektiv gefördert werden.

Die Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit werden in Japan, aber auch weltweit, heruntergespielt. Institutionen wie die »Internationale Atomenergie Organisation« (IAEO) oder der vielzitierte »Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung« (UNSCEAR) behaupten regelmäßig, es gäbe keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs von 2011 – eine grobe Falschauslegung der Studien, wie das Symposium unter Beweis stellte. Als Hintergrund ist zu vermuten: Beide Organisationen werden von den Regierungen Atomenergie produzierender Staaten personell besetzt – hauptsächlich mit ehemaligen Beschäftigten nationaler Atomunternehmen oder Mitgliedern industrienaher Aufsichtsbehörden.

Insbesondere Schilddrüsenkrebsstudien werden von diesen Institutionen bewusst verzerrt dargestellt, wie ich in meinem Fachvortrag »Krebserkrankungen in Fukushima am Beispiel von Schilddrüsenkrebs« verdeutlichen konnte. Die atomfreundliche Regierung Japans spielt die Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt herunter. Das zeigt auch die von mir analysierte Studie der Fukushima Medical University (FMU) zur Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima.

Eine der meistgefürchteten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Schilddrüsenkrebs bei Kindern ist zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form der strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen sind die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs mit wenigen Jahren vergleichsweise kurz. Zum anderen ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, so dass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen ist. Entsprechend groß war 2011 der Druck auf die japanischen Behörden, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.

Seit knapp zehn Jahren untersucht die FMU nun in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Seit 2011 wurden drei Untersuchungsreihen durchgeführt, die vierte läuft seit 2018.

In der Erstuntersuchung in Fukushima fanden die Forscher*innen 101 bestätigte Krebsfälle, die so aggressiv waren, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl ist von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt worden: Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert werden, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten seien. Das genaue Ausmaß des Screening-Effekts ist unbekannt. In den Folgestudien lässt sich jedoch ausschließen, dass es sich bei den erhöhten Krebsraten um Folgen eines Screening-Effekts handelt, da alle Kinder im Vorfeld untersucht und für krebsfrei befunden wurden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screening-Untersuchungen entwickelt haben. Die Behauptung, die stark erhöhte Anzahl von Krebsfällen liege daran, dass man mehr Untersuchungen durchgeführt habe, ist damit hinfällig.

Da zudem Teilnehmer*innen der Studie ab dem 25. Geburtstag in eine neu geschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen werden und von diesen gerade einmal 8 % an der Studie teilnehmen, dürfte die Dunkelziffer von Schilddrüsenkrebs in der ursprünglichen Untersuchungskohorte deutlich höher liegen. Darüber hinaus wurden elf Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern diagnostiziert, die ebenfalls Teil der Untersuchungskohorte waren. Allerdings fielen ihre Erkrankungen nicht im Rahmen der regulären Screening-Untersuchungen auf, sondern bei Nachuntersuchungen. Diese elf Fälle sind nicht zu den offiziellen Ergebnissen hinzugerechnet worden, obwohl sie identische Tumore zeigten wie die anderen Kinder. Diese offensichtliche Datenmanipulation wurde im Juni 2017 bekannt. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, ist unbekannt.

Fakt ist: allein die Zahl an offiziell bekannten Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima liegt aktuell bei 213 (198 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, 4 Fälle aus der Ü25-Kohorte und 11 Fälle aus Nachuntersuchungen). Interessant wird es aber erst bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 auf 100.000. Das bedeutet, dass in der letzten Kohorte von rund 218.000 Kindern circa 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten wären. Zehn Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe wären es demnach insgesamt knapp 13 Schilddrüsenkrebsfälle. Die tatsächliche Zahl liegt aber mit 213 fast 16fach so hoch.

Erfahrungen aus der Atomkatastrophe von Tschernobyl zeigen zudem: Neben Schilddrüsenkrebs muss auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet werden, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Ergebnisse der Studien aus Fukushima zeigen dabei ein deutliches Bild: Relativ gesehen treten die meisten Schilddrüsenkrebsfälle in den am schwersten verstrahlten Gebieten auf und zeigen so den Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung durch den Super-GAU und der Entwicklung von Tumorerkrankungen überdeutlich auf. Besonders betroffen sind in Fukushima Kinder, die sich im Jahr der Kernschmelzen noch im Mutterleib befanden.

Die Auswirkungen einer Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit kurz vor der Geburt ist ein wenig bearbeitetes Thema. Auf dem Symposium thematisierte Dr. rer. nat. Dipl.-Math. Hagen Scherb die perinatalen Folgen ionisierender Strahlung.

Die Zeit der Perinatalität von der 22. Schwangerschaftswoche bis zum siebten Tag nach der Geburt ist nach der Embryonalzeit die vulnerabelste Phase eines menschlichen Lebens. Das ungeborene Kind sei dabei der Radioaktivität, die über die Nabelschnur in seinen Körper gelangt, viel ungeschützter ausgeliefert als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Ähnlich wie in der Region um Tschernobyl, seien auch in Fukushima infolge der Atomkatastrophe Effekte in Bezug auf Statistiken über perinatale Krankheitsbilder und Sterblichkeitsraten beobachtet worden. Dabei seien ein mangelndes Geburtsgewicht oder die Frühgeburtlichkeit sowie eine erhöhte Zahl an Totgeburten und ein Ungleichgewicht zwischen den geborenen Geschlechtern besonders auffällig, so Scherb.

Neben den Auswirkungen auf die physische Gesundheit ging es auf dem Symposium auch um die weitreichenden psychosozialen Folgen der Atomkatastrophe. So sei die Rate an Depressionen, Suizidalität und Posttraumatischen Belastungsstörungen in den verstrahlten Gebieten weiterhin erhöht, berichtete Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und IPPNW-Europavorsitzende. Mehrere japanische Studien belegten: Es gibt eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der radioaktiven Belastung am jeweiligen Wohnort in der Präfektur Fukushima und dem psychosozialen Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt war.

Laut Claußen fehle allen Studien jedoch die notwendige Einbettung in eine ganzheitliche Perspektive: Körperliche und psychische Befunde gehörten zusammen betrachtet, Diagnostik und Behandlung müssten Teil ein- und desselben Versorgungsprozesses sein. Fallvignetten, die die schwierige Situation der evakuierten Bevölkerung und der betroffenen Aufräumarbeiter*innen illustrierten, wären sowohl für das medizinische und psychologische Personal als auch für die internationale Fachöffentlichkeit wichtig. Klinische Studien hätten über die psychosozialen Bewältigungsmechanismen einer durch kollektive Strahlenexposition geprägten Gesellschaft Aufschluss geben können. Dies wurde jedoch versäumt, so Dr. Claußen.

Auf der Fachtagung vorgestellte biologische Studien zeigten außerdem, dass die erhöhte Radioaktivität bei Bäumen, Insekten und Vögeln bereits zu Mutationen und verminderten Populationen geführt hat. Auch in wilden Affen und Rindern fanden Forscher*innen erhöhte Strahlenwerte und zahlreiche schwere Krankheiten. Untersuchungen des Meeresbodens wiesen eine anhaltende Verstrahlung von bodennahen Meeresbewohnern nach, während Flüsse kontinuierlich Radioaktivität aus höher gelegenen Regionen in Seen, Buchten und ins Meer beförderten und sich so vor allem an Stränden und entlang der Flussmündungen erhöhte Strahlenwerte nachweisen ließen.

Insgesamt machte das Symposium vor allem eines deutlich: Die Atomkatastrophe von Fukushima ist noch lange nicht verjährt. Die havarierten Reaktoren sind noch immer nicht unter Kontrolle, täglich tritt weiter Radioaktivität aus. Millionen Tonnen radioaktiven Wassers und abgetragener Erde lagern in der Präfektur von Fukushima. Dabei sind die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und auf die Natur schon jetzt enorm. Die japanische Atomindustrie und ihre Unterstützer*innen in Regierung und Verwaltung waren bislang erfolgreich darin, unabhängige Forschung über die Folgen der atomaren Strahlung, wie im Fall der Schilddrüsenkrebsstudien, zu unterdrücken und Fördergelder durch eine gezielte Platzierung im eigenen Interesse zu nutzen. Dabei wurden sie von den internationalen Atomorganisationen IAEO und UNSCEAR unterstützt. Zu vielen wichtigen Fragestellungen gibt es deshalb bis heute keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die letzten zehn Jahre sind somit auch eine vergebene Chance für die Wissenschaft. Mit ihrem Symposium setzte die IPPNW dem nun etwas entgegen.

Wissenschaftliche Hintergrundinformationen zu allen Themen der Fachtagung sowie die Mitschnitte der Vorträge zum Ansehen finden Sie hier: fukushima-disaster.de/

Dr. med. Alex Rosen

Neues atomares Wettrüsten?


Neues atomares Wettrüsten?

Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung am Scheideweg

von Götz Neuneck

In einer Zeit, in der die Covid-19-Pandemie das alles beherrschende Thema ist, scheinen Fragen von kooperativer Sicherheit, Frieden und Abrüstung sowie ihre völkerrechtliche Verankerung in den Hintergrund gerückt zu sein. Dabei benötigen existenzielle Risiken wie Pandemien oder die Klimaproblematik zusätzliche Ressourcen und Finanzen, um neue Gefahren für die menschliche Sicherheit abzuwenden. Stattdessen droht das Völkerrecht durch Blockrivalitäten, neue Rüstungskonkurrenz und Vertragskündigungen weiter zerrieben zu werden.

UN-Generalsekretär Guterres hat angesichts der Pandemie vergeblich zu einer weltweiten Waffenruhe aufgerufen, obwohl es offensichtlich geworden sein sollte, dass die alten, militärischen Instrumente nichts zur Lösung der aktuellen Herausforderungen beitragen. Vielmehr braucht es mehr Engagement für humanitäre Sicherheit (vgl. Brzoska et al. 2021). Stattdessen wachsen die Militärhaushalte, neue Waffensysteme werden angekündigt und getestet, und ein neuer Rüstungswettbewerb zeichnet sich ab (vgl. Wulf 2021). Begrenzende Rüstungskontrollverträge wie der INF-Vertrag oder das Open-Skies Abkommen wurden fahrlässig gekündigt.

Das zeigt die Grenzen der klassischen Rüstungskontrolle auf, die am Ende des Kalten Krieges so erfolgreich hohe Waffenstände verringert, eine Verifikationskultur geschaffen und konkret zur Risikoreduzierung beigetragen hatte. Mit dem Inkrafttreten des Atomverbotsvertrages und der Verlängerung des New-START-Vertrages in letzter Minute sind dennoch Hoffnungen auf weitere nukleare Abrüstungsschritte verbunden. Wie sind diese Entwicklungen zu deuten und welche Schritte zur Reaktivierung von Rüstungskontrolle und Abrüstung gibt es?

Unverzichtbares Instrument für Ordnungspolitik?

Die Internationalen Beziehungen sind volatiler, unvorhersehbarer und komplexer als in den letzten 30 Jahren. Die Bindekraft von völkerrechtlichen Normen und Institutionen erodiert sichtbar. Der ökonomische und technologische Wettbewerb zwischen den USA und China verschärft sich und ist längst auch auf den militärischen und technologischen Sektor übergesprungen. Die Konkurrenz um Position und Einfluss in der künftigen Weltordnung zwischen den USA, China und Russland hat begonnen. Domänen wie die Arktis, die Cybersphäre oder der Weltraum werden hiervon nicht ausgenommen. Sanktionen, hybride Kriegsführung und Cyber­operationen sind zu neuen Instrumenten der Außenpolitik geworden. Die USA geben dreimal so viel Geld für ihr Militär aus wie ihre Rivalen China und Russland, bleiben militärische Weltmacht und konzentrieren sich zuallererst auf den ökonomischen und technologischen Wettbewerb mit China, das sein Militärbudget in der letzten Dekade verdoppelt hat und insbesondere regional militärisch aktiv wird. Es setzt aber auch mit seiner »Belt and Road Initiative« global Akzente bis hin nach Afrika.

Russland möchte mit seiner nuklearen Erneuerung insbesondere militärisch punkten und ist auch im Mittleren Osten (z.B. Syrien) oder im ­Kaukasus militärisch tätig. Die NATO, das stärkste Militärbündnis der Welt, verkündet stolz, dass ihre Militärausgaben das sechste Jahr in Folge wachsen, und die Europäische Union strebt nach »strategischer Autonomie«. Sie wird immer stärker in den Wettbewerb zwischen China und den USA hineingezogen (Lodgaard 2020). Staaten wie die Türkei und Saudi-Arabien sind in lokale Kriege verwickelt. Mit der Abwahl von US-Präsident Trump ist zwar die Hoffnung verbunden, dass die neue Biden-Administration Völkerrecht und den »liberalen Multilateralismus« wieder stärkt sowie Rüstungskontrolle (New-START), Abrüstung und Nichtverbreitung (Nichtverbreitungsvertrag NVV, Iran-Abkommen JCPoA) aktiv wiederbelebt, aber dafür sind enorme Anstrengungen nötig. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob dies gelingt und ob Rüstungskontrolle ein „unverzichtbares Instrument internationaler Ordnungspolitik“ (Müller und Schörnig 2006, S. 15) bleibt.

Hybris auf vielen Ebenen?

Die problemlose Verlängerung des New-START-Vertrages nach dem Amtswechsel in Washington schenkt den beiden führenden Atommächten etwas Zeit, einen Nachfolgevertrag zur Reduzierung der strategischen Nukleararsenale auszuhandeln. Die Rückkehr der USA an den Verhandlungstisch und die Wiederbelebung des Iran-Abkommens wären wichtige Signale für die Gültigkeit des globalen Nichtverbreitungsregimes und damit für die nächste 10. NVV-Überprüfungskonferenz. Mit dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) am 22. Januar 2021 sind große Hoffnungen auf eine weitere Delegitimierung der Nuklearwaffen verbunden. Doch die Ankündigung Großbritanniens vom 16. März 2021, im Rahmen seiner außenpolitischen Neuorientierung »Global Britain« die Obergrenze seines Nuklearpotentials um 44 % zu erhöhen und seine Nukleardoktrin zu revidieren, verkompliziert die Abrüstungsdebatte, entfernt sich damit doch ein Nuklearwaffenstaat sichtbar von dem im Nichtverbreitungsregime akzeptierten Ziel, die nuklearwaffenfreie Welt anzustreben (vgl. Deep Cuts Commission 2021). Oft wird vergessen, dass der »International Court of Justice« 1996 in einem Gutachten bereits festgestellt hat, dass die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen im Allgemeinen gegen das Völkerrecht verstößt (ICJ Advisory Opinion 1996).1

Die Krise der Rüstungskontrolle wurde im Wesentlichen durch Lethargie, Unkenntnis und die geschichtliche Kurzsichtigkeit von Führungseliten ausgelöst (vgl. Arbatov 2020). Ihr „ordnungspolitischer Wert ist nicht mehr anerkannt bzw. geschätzt“ (Staack 2019, S. 167) und so werden zentrale Institutionen und Regelungen der Rüstungskontrolle sich selbst überlassen oder erodieren. Die dafür vorgebrachten Argumente sind: Zunahme der Akteure, Vertragsverletzungen der Gegenseite und die regionale Komplexität der Bedrohungslagen. Auch besteht die Tendenz dazu, die wahrgenommene Bedrohung technologisch zu lösen. Ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten ist die Folge. Übersehen wird, dass nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung eine Überlebensfrage der Menschheit sind. Prominente Stimmen aus der Politik verweisen darauf, dass die nuklearen Kriegsgefahren größer sind als während des Kalten Krieges, mit potentiell drastischen Folgen. Würde nur ein Prozent des militärischen Nukleararsenals in Städten zum Einsatz kommen, hätte dies neben den unmittelbaren katastrophalen regionalen Konsequenzen auch unabsehbare globale Folgen für Ernährung und Umwelt (vgl. Toon et al. 2017).

Es ist also an der Zeit, Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime zu stärken, denn die Geschichte der Rüstungskontrolle zeigt, welche großen Abrüstungserfolge möglich sind. Dazu braucht es jedoch weniger einseitige Rüstung und Hybris der verantwortlichen Politik allerorts, sondern energisches, kooperatives Handeln, bei dem sich auch das Rüstungsverhalten des Gegners ändert. Erfolgreiche Rüstungskontrolle trägt unmittelbar zur Kriegsverhütung, Eskalationskontrolle und Konfliktlösung bei. Sie schafft Berechenbarkeit, verändert politische Beziehungen und ermöglicht weitere Abrüstung. Dies verlangt hohe politische Aufmerksamkeit, Reziprozität beim Gegenüber, ein Minimalverständnis für den Verhandlungspartner und ressortübergreifende Expertise (Neuneck 2019).

Neue Hoffnungen, neue Verhandlungen?

Mit dem Antritt der Biden-Administration ist neue Hoffnung auf die Rückkehr effektiver Rüstungskontrolle verbunden. Die Verlängerung des New-START-Vertrages ermöglicht den Beginn eines kontinuierlichen Dialogs zur strategischen Stabilität zwischen den beiden Supermächten USA und Russland. Dies findet vor dem Hintergrund fortgesetzter Sanktionen gegen Russland und einem an Rüstungskontrolle kaum interessierten US-Kongress statt. Dennoch sind Verhandlungen für ein Nachfolgeregime New-START II notwendig, denn es müssen geerbte Probleme des New-START Regimes aber auch diverse neue und komplexe Probleme gelöst werden. Diese reichen von der weiterhin von Russland kritisierten strategischen Raketenabwehr über neue Trägersysteme, wie Hyperschallflugkörper, nuklearbestückte Marschflugkörper oder Unterwassertorpedos, bis hin zu Fragen neuer disruptiver Zukunftstechnologien aus den Bereichen Cybersphäre, Weltraum und Künstlicher Intelligenz, die eine strategische Wirkung entfalten könnten. Die Bedrohung durch Präzisionsangriffe mittels konventionell bestückter Trägersysteme (»Prompt Global Strike«) für einen Erstschlag stellen eine weitere zu regelnde Problematik dar.

Diese Faktoren werden nicht auf einmal gelöst werden können; deshalb ist ein kontinuierlicher Dialog zwischen den USA und Russland nötig, an dem aber auch die anderen Nuklearmächte beteiligt werden sollten, um ein möglichst umfassendes Kontrollregime zu schaffen. Dies betrifft vor allem China. Der ständig wiederholte Ruf in den USA, auch das Arsenal Chinas einzubeziehen, ist insofern berechtigt, als die Zahl der Atomsprengköpfe und das geplante Maximum des chinesischen Arsenals nicht bekannt sind und z.B. der Aufbau von ballistischen Mittelstreckensystemen im Indo-Pazifik drastisch zunimmt.2 Unbedachte Forderungen nach trilateraler Rüstungskontrolle verkennen aber die ungelösten Probleme multilateraler Abschreckung, z.B. wie strategische Stabilität zwischen drei Partnern überhaupt funktionieren kann.

Vorschläge für künftige Regelungen

Eine deklaratorische »No-First-Use«-Regel aller Nuklearmächte wäre ein wichtiger Schritt hin zur Begrenzung vorhandener Arsenale, die heute eher eine deutliche Kehrtwende in Richtung nuklearer Kriegsführung zeigen. Eine solche Erklärung der amerikanischen und russischen Präsidenten, beide Staaten würden Nuklearwaffen nicht im Erstschlag einsetzen, hätte erhebliche Konsequenzen für die Zahl, die Einsatzprofile und Doktrinen beider Kontrahenten (Pifer 2020). Ein Beispiel ist die gegenteilige Entwicklung in Richtung Kriegsführungsoptionen, z.B. von neuen nuklear bestückbaren Marschflugkörpern und zielgenauen ballistischen Raketen mit kleiner Sprengladung (low-yield ­nuclear weapons). Biden hat als US-Vizepräsident 2017 eine »No-First-Use«-Erklärung ins Spiel gebracht und Präsident Putin hat 2020 erklärt, dass Russland Nuklearwaffen nur bei einem Nuklearwaffeneinsatz gegen Russland einsetzen werde. Die Kündigung des INF-Vertrages kann zu einem Wettrüsten von neuen Mittelstreckensystemen gerade in und um Europa aber auch in Asien führen. Solch ein Stationierungswettlauf wie in den 1980er Jahren sollte unter allen Umständen verhindert werden, denn er würde seinerseits die Debatte um die Raketenabwehr neu entfachen.

Ein erster vertrauensbildender Schritt hin zu einer solchen Regelung wäre zunächst ein Moratorium für die Stationierung von neuen nuklearbestückten Trägersystemen in Europa zwischen der NATO und Russland. Mögliche Maßnahmen zur Deklaration von INF-relevanten Systemen und die Überprüfung und Verifikation der Einhaltung von deren Nichtstationierung könnten zwischen Russland und der NATO diskutiert und implementiert werden. Eine Studiengruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) hat jüngst vertrauensbildende Maßnahmen wie Besuche oder Inspektionen von umstrittenen Militärbasen vorgeschlagen, um die gegenseitigen Vorwürfe bezüglich der Stationierung von INF-Systemen zu klären (VDW 2020). Die konventionelle und die humanitäre Rüstungskontrolle sind mit den Themenbereichen nuklearer Rüstungskontrolle verbunden und bedürfen dringend der Erneuerung. Vorschläge dazu liegen vor (Zellner et al. 2020, Richter 2019). Sowohl die Wiener Dokumente im Rahmen der OSZE als auch die NATO-Russland Grundlagenakte bieten ein Potential dazu, werden aber weitgehend links liegengelassen.

Ein möglicher Ansatz für künftige nukleare Rüstungskontrolle wäre die stärkere Hinwendung zur Verifikation des Abzuges, der Lagerung und der Zerlegung vertragskonform abzurüstender Nuklearsprengköpfe auch im Rahmen eines völkerrechtsverbindlichen Regimes. Für eine solche nukleare Rüstungskontrollverifikation wären auch neue Initiativen der NATO erforderlich. Die Initiative der »International Partnership for Nuclear Disarmament Verification« (IPNDV) hat dazu eine erste Grundlage geschaffen, die ausgebaut und durch weitere wissenschaftliche Expertise ergänzt werden kann. In Bezug auf die Verifikation einer atomwaffenfreien Welt gibt es hier auch eine Überschneidung mit dem jüngst in Kraft getretenen AVV. Auch die Europäische Union könnte hier initiativ werden.

Der AVV ist eine ernste Erinnerung einer großen Zahl von Staaten, der im NVV-Vertrag vor über 50 Jahren festgeschriebenen Abrüstungsverpflichtung der Präambel und des Artikel 6 gerecht zu werden. Völkerrechtlich ist der Vertrag von großer Bedeutung, und er stärkt das Tabu eines Einsatzes von Nuklearwaffen. Die Bundesregierung sollte ihre ablehnende Haltung gegenüber dem AVV aufgeben und auf die Befürworter*innen des AVV zugehen. Sie könnte beispielsweise am Treffen der Vertragsstaaten im kommenden Jahr als Beobachterstaat teilnehmen oder einen Workshop zur Verifikation der Denuklearisierung abhalten.

In Deutschland stehen Wahlen an, und dies bietet Gelegenheit die Positionierungen der Parteien in Bezug auf Frieden, Völkerrecht und Rüstungskontrolle zu studieren, erkennbare Sackgassen zu hinterfragen und begehbare Pfade für die Umsetzung aufzuzeigen. An positiven Formulierungen in den Entwürfen der Wahlprogramme fehlt es nicht: Die Grünen sprechen sich für einen neuen Schub für Abrüstung und die Stärkung des Völkerrechts aus, die Sozialdemokraten wollen sich für Diplomatie und Dialog, zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen, die Liberalen sprechen sich für neue Impulse zur Erneuerung von Rüstungskontrolle und Abrüstung aus und die Linke fordert ein neues Friedenssicherungssystem. Interessant wird die Debatte, wenn nachgefragt wird, wie die Stärkung des Völkerrechts und eine atomwaffenfreie Welt konkret erreicht werden sollen. Die Problematik der nuklearen Bedrohung und der Gefahr durch konventionelle Kriege ist jedenfalls für Deutschland und Europa von zentraler und existenzieller Bedeutung.

Anmerkungen

1) Leider konnte der Weltgerichtshof nicht abschließend feststellen, ob der Einsatz von Atomwaffen im Falle eines „extremen Umstandes der Selbstverteidigung, bei dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht“, rechtmäßig oder unrechtmäßig wäre.

2) Ein Vorschlag der USA für diese Region lässt allerdings auf sich warten. Bezüglich China wäre ein eigenständiger, gut strukturierter strategischer Dialog mit den USA über mehr Transparenz und Risikoreduzierung im Indo-Pazifik ein Schritt vorwärts. Dabei könnten auch Regeln für nuklear-bestückbare ballistische Träger mittlerer Reichweite (Intermediate-Range Nuclear Forces, INF) für die Region vorgeschlagen werden.

Literatur

Arbatov, A. (2020): Saving strategic arms control. Survival Vol. 62 (5), S. 79-104.

Brzoska, M.; Neuneck, G.; Scheffran, J. (2021): Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik. IFSH-Policy Brief 2, 2021.

Deep Cuts Commission (2021): The United Kingdom’s damaging decision to build up its nuclear force and how to respond. Mitteilung, 31.03.2021.

International Court of Justice (1996): Advisory Opinion of July 1996; Legality of the threat or use of nuclear weapons.

Lodgaard, S. (2020): Arms control and world order. Toda Peace Institute, Policy Brief No. 87, August 2020.

Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle. Eine exemplarische Einführung in die internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

Neuneck, G. (2019): Kommentar zu dem Mythos „Rüstungskontrolle ist nicht mehr zeitgemäß“. Die Friedenswarte 92(3/4), S. 167-172.

Pifer, S. (2020): Nuclear weapons: it´s time for sole purpose. The National Interest, 15.09.2020.

Richter, W. (2019): Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Vom Gleichgewicht der Blöcke zur regionalen Stabilität in der Krise. SWP-Studie, Juli 2019.

Staack, M. (2019): Mythos „Rüstungskontrolle ist nicht mehr zeitgemäß“. Die Friedenswarte 92(3/4), S. 173-177.

Toon, O.B.; et al. (2007): Atmospheric effects and societal consequences of regional scale nuclear conflicts and acts of individual nuclear terrorism. Atmos. Chem. Phys. Discuss. 7, S. 1973-2002.

Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) (2020): Risikoreduzierung, Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Agenda zum Dialog mit der neuen Biden-Administration für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit. Erklärung von Mitgliedern der VDW-Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“, 27.01.2021.

Wulf, H. (2021): Globaler Rüstungsboom. Internationale Politik und Gesellschaft, 06.04.2021.

Zellner, W.; Pifer, S.; Oliker, O. (2020): A little of the old, a little of the new: A fresh approach to conventional arms control (CAC) in Europe, Deep Cuts Issue Brief #11, 2020.

Prof. Dr. Götz Neuneck war bis 2019 stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und ist deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.

Die iranische Atomvereinbarung


Die iranische Atomvereinbarung

Erfolg und Misserfolg europäischer Außenpolitik

von Azadeh Zamirirad

Die Atomvereinbarung ist eine der größten Errungenschaften europäischer Außenpolitik. Doch das europäische Prestigeprojekt verfiel in einen Krisenmodus, als sich die US-Regierung unter Donald Trump 2018 einseitig von ihren Verpflichtungen zurückzog und fortan eine Politik des »maximalen Drucks« gegenüber Iran verfolgte. Es kann als bemerkenswerter Erfolg der Europäer gelten, dass sie es trotz des US-amerikanischen Sanktionsdrucks geschafft haben, ein unmittelbares Scheitern der Vereinbarung zu verhindern. Zugleich zeigte sich jedoch, dass die EU nicht die notwendigen Kapazitäten besitzt, um ihre eigenen sicherheitspolitischen Interessen gegebenenfalls auch gegen den Willen der USA durchzusetzen.

Die Atomvereinbarung, der sogenannte »Joint Comprehensive Plan of Action« (JCPOA, siehe Kasten), ist in erster Linie ein Erfolg europäischer Diplomatie. Die Europäer legten 2003 den Grundstein für Verhandlungen mit Iran, als die Außenminister der E3 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) erstmals zu Nukleargesprächen nach Teheran reisten. Berlin, Paris und London setzten auf einen politischen Dialog, um offene Fragen hinsichtlich des iranischen Atomprogramms auf friedlichem Wege beilegen zu können.

Europa als Wegbereiterin der Atomvereinbarung

Die Initiative folgte vornehmlich sicherheitspolitischen Erwägungen. Angesichts der US-Intervention im Irak zielten die Europäer darauf, zum einen eine weitere militärische Eskalation in ihrer Nachbarschaft zu verhindern und zum anderen einer zusätzlichen Proliferationskrise zuvorzukommen, nachdem bereits Nordkorea zu Beginn des Jahres aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag ausgestiegen war.

Die EU schloss sich 2004 formal den Konsultationen an und wurde von der Hohen Vertreter*in für Außen- und Sicherheitspolitik vertreten. Dies bot nicht nur zusätzliche Möglichkeiten, Iran im Namen der gesamten Europäischen Union wirtschaftliche Anreize für einen Kompromiss zu setzen und damit den europäischen Verhandlungsspielraum zu erweitern. Durch die Einbeziehung der Hohen Vertreter*in konnte auch der Informationsfluss zwischen den E3 und den übrigen EU-Mitgliedsstaaten verbessert und entstandener Unmut gegenüber Alleingängen der E3 reduziert werden (Bassiri Tabrizi und Kienzle 2020, S. 327).

Trotz des größeren europäischen Rahmens und anfänglicher Verhandlungserfolge erwies sich das Gesprächsformat ohne explizite politische Unterstützung der USA und ohne Hinzuziehung weiterer permanenter Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auf Dauer nicht als aussichtsreich. Im Jahr 2006 schlossen sich neben den USA auch Russland und China den Gesprächen an. Mit dem neuen Verhandlungsformat wandelte sich zugleich die Rolle der europäischen Staaten. Während diese 2003 als autonome Akteure mit eigenständigen Positionen auftraten, übernahmen sie kaum zehn Jahre später vor allem eine Vermittlerfunktion zwischen Washington und Teheran (Cronberg 2017, S. 246). Damit trug der erweiterte Verhandlungskreis der Atomgespräche zwar einerseits zum Einigungserfolg von 2015 bei, bedeutete andererseits aber auch, dass den europäischen Parteien nur noch eine nachrangige Rolle zukam.

Europa als Verteidigerin der Atomvereinbarung

Obwohl die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) mehrfach verifizierte, dass die Islamische Republik die Vereinbarung vollständig umsetze, verkündete die US-Regierung unter Donald Trump im Mai 2018, von ihren Verpflichtungen zurückzutreten. Der Rückzug hatte nicht nur das weitreichendste Sanktionsregime zur Folge, das die USA je gegen Iran verhängten. Die Adminis­tration unternahm auch gezielte Schritte, um die verbliebenen JCPOA-Parteien von der Fortführung der Vereinbarung abzuhalten. Insbesondere die Ausweitung US-amerikanischer Jurisdiktion mittels extraterritorialer Sanktionen erwies sich für europäische Staaten als enorme Herausforderung.

Die EU ergriff daher eine Reihe von Maßnahmen, die den Fortbestand der Vereinbarung sicherstellen sollten. Zu diesem Zweck aktualisierte die EU-Kommission eine Abwehrgesetzgebung aus dem Jahr 1996, die es europäischen Unternehmen untersagt, der US-amerikanischen Rechtsprechung zu folgen, und ihnen ermöglicht, dadurch entstandene finanzielle Schäden vor europäischen Gerichten einzuklagen. Darüber hinaus stellte sie auch finanzielle Hilfen bereit, darunter 50 Mio. € zur Unterstützung der wirtschaftlichen Kooperation mit dem iranischen Privatsektor. Den bedeutendsten Schritt unternahmen die E3 jedoch im Januar 2019 mit der Gründung eines vom US-Dollar unabhängigen Finanzmechanismus. Das sogenannte »Instrument in Support of Trade Exchanges« (INSTEX) sollte den Warenaustausch zwischen Iran und seinen Handelspartnern ermöglichen, ohne auf direkte Finanztransaktionen angewiesen zu sein, die durch US-Sanktionen behindert wurden. Mit der Einrichtung dieser Zweckgesellschaft sollten ursprünglich iranische Öl- und Gasexporte nach Europa abgesichert werden, doch um INSTEX aus dem Schussfeld amerikanischer Sanktionspolitik zu nehmen, wurde der Handel auf den humanitären Warenverkehr beschränkt. Ein substanzieller Beitrag zur wirtschaftlichen Kooperation mit Iran konnte damit nicht erzielt werden.

Während die Europäer den JCPOA nicht davor bewahren konnten, von US-amerikanischen Sanktionen wirtschaftlich untergraben zu werden, gelang es ihnen, die Abmachung zumindest politisch abzuschirmen. Im August 2020 verwehrten sie der US-Administration Unterstützung im UN-Sicherheitsrat (UNSR) bei deren Versuch, einen sogenannten »Snapback« in der UNSR-Resolution 2231 (siehe Kasten) auszulösen, mit dem der JCPOA außer Kraft gesetzt worden wäre. Zuvor hatten es die E3 bereits abgelehnt, sich einer Resolutionsinitiative aus Washington anzuschließen, mit der ein UN-Waffenembargo gegen Iran auf unbestimmte Zeit verlängert werden sollte – ein Vorhaben, das gegen die Abmachung verstoßen hätte. Mit ihrer klaren Haltung im Sicherheitsrat bekräftigten die Europäer glaubhaft ihre Absicht, an der Vereinbarung festzuhalten und zeigten, dass sie zur Aufrechterhaltung des JCPOA nicht davor zurückzu­schrecken, sich auch im Rahmen der Vereinten Nationen gegen den transatlantischen Bündnispartner zu positionieren.

Der Blick aus Teheran

Die europäischen Bemühungen wurden in Teheran jedoch als unzureichend angesehen. Nach dem einseitigen Rückzug Washingtons aus der Atomvereinbarung 2018 hatte die Islamische Republik zunächst darauf gesetzt, dass die verbliebenen Vereinbarungsparteien effektive Maßnahmen ergreifen würden, um die Wirtschaftskooperation trotz des US-amerikanischen Sanktionsdrucks aufrechtzuerhalten. Doch die Maßnah­men blieben weit hinter Teherans Erwartungen zurück. Insbesondere die Beschränkung von ­INSTEX auf den humanitären Warenverkehr stieß in allen politischen Lagern auf Kritik, die sich von der Zweckgesellschaft vor allem die Absicherung von Energieexporten versprochen hatten. Derweil weitete die Trump-Administration das Sanktionsregime gegen Iran sukzessive aus. Vor diesem Hintergrund setzte die Islamische Republik ab Mai 2019 Teile der Übereinkunft schrittweise aus und verkündete schließlich, keine der im JCPOA festgelegten technischen Beschränkungen des Atomprogramms mehr anzuerkennen. Die iranische Kehrtwende ist somit nicht nur die direkte Folge des US-amerikanischen Sanktionsdrucks, sondern zugleich Resultat des mangelnden Vermögens europäischer Akteure, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Damit wurden zwei grundlegende Annahmen der iranischen Atomdebatte bestätigt. Kritiker*innen eines Nuklearkompromisses hatten stets argumentiert, dass eine Vereinbarung mit westlichen Staaten keine nachhaltige Lösung im Atomkonflikt zur Folge haben würde, da es den USA am politischen Willen und den Europäern an grundlegenden Kapazitäten fehle. Durch die Erfahrung mit dem JCPOA wurde die Position jener politischen Kräfte in Iran untergraben, die sich für eine kooperative Haltung in der Atompolitik ausgesprochen hatten, darunter die Regierung von Präsident Hassan Rohani. Dies ist umso mehr der Fall, seit es Iran gelungen ist, durch eine regionale Eskalationsstrategie sowie die Steigerung nuklearer Aktivitäten, die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Derweil ist auch die Unterstützung der iranischen Bevölkerung für den JCPOA rapide gesunken (CISSM/IranPoll 2019, S. 4).

Europäische Versuche, Iran im Rahmen eines im JCPOA festgelegten Konfliktregulierungsmechanismus wieder zu einer vollständigen Implementierung der Vereinbarung zu bewegen, blieben daher ohne Erfolg. Teheran erklärte unmissverständlich, die Vereinbarung erst dann wieder in vollem Umfang umsetzen zu wollen, wenn auch die USA ihren Verpflichtungen wieder nachkämen.

Aussichten unter der Biden-Administration

Iran setzt die Übereinkunft nur noch in Teilen um und hat seine nuklearen Aktivitäten kontinuierlich ausgeweitet. Infolge des Attentats auf den Atomwissenschaftler Mohsen Fakhrizadeh im November 2020 verabschiedete das iranische Parlament ein bereits Monate zuvor erarbeitetes Gesetz, das die Regierung dazu anhält, den Zugang von IAEO-Inspekteur*innen zu iranischen Atomanlagen zu beschränken und Uran auf bis zu 20 % anzureichern, sollte es nicht zu kurzfristigen Sanktionserleichterungen kommen. Eine weitere Eskalation ließe sich unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden jedoch verhindern, der bereits im Wahlkampf seine Absicht erklärte, in die Vereinbarung zurückkehren zu wollen. Europäische Akteure könnten diesen Prozess unterstützen, indem sie sich mit Iran, Russland und China auf ein Verfahren für einen Wiedereinstieg der USA verständigen. Eine Verständigung auf eine schrittweise Implementierung auf US-amerikanischer und iranischer Seite wird jedoch auch unter einer Biden-Administration eine Herausforderung darstellen, nicht zuletzt, da Washington beabsichtigt auch in weiteren sensiblen Themenfeldern wie der iranischen Regionalpolitik oder dem ballistischen Raketenprogramm Folgevereinbarungen zu erzielen. Sollte es Biden versäumen, frühzeitig erste Sanktionserleichterungen zu erlassen, könnte Teheran beschließen, sein Atomprogramm auf Grundlage des Parlamentsbeschlusses erheblich auszuweiten. Damit wäre der JCPOA auf absehbare Zeit hinfällig.

Europas strategische Autonomie

Doch auch im Falle einer erfolgreichen Rückkehr der USA in die Vereinbarung wird die EU nicht umhinkommen, ihre strukturellen Defizite aufarbeiten zu müssen. Denn trotz zahlreicher Versuche ist es ihr nicht gelungen, europäischen Unternehmen die politische und rechtliche Sicherheit zu geben, den Handel mit Iran gegen anhaltenden Sanktionsdruck aus Washington fortsetzen zu können. Die Erfahrung mit dem JCPOA hat damit einmal mehr die Notwendigkeit für eine strategische Autonomie der Europäischen Union offenbart. Strategisch autonom wäre die EU dann, wenn sie imstande wäre, nicht nur eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sondern auch die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen zu erfüllen, um diese gegebenenfalls auch eigenständig umsetzen zu können (Lippert, von Ondarza und Perthes 2019, S. 5). Die Ausweitung von INSTEX zu einem gesamteuropäischen alternativen Finanzinstrument, das unabhängig vom US-Dollar operiert, könnte hier wichtige Impulse setzen.

Nach vier Jahren transatlantischer Spannungen stellt die Wahl Joe Bidens für viele europäische Mitgliedsstaaten einen willkommenen Machtwechsel im Weißen Haus dar. Zugleich läuft die EU jedoch Gefahr, nunmehr in gewohnte Bündnismuster zurückzufallen und Bemühungen um größere Souveränität hintanzustellen. Die Atomvereinbarung hat jedoch aufgezeigt, dass Europas Anspruch, internationale Normen und Vereinbarungen aufrechtzuerhalten, Konflikte auf diplomatischem Wege beizulegen und Nichtverbreitungsinstrumente zu stärken, an enge Grenzen stößt, solange die Europäer extraterritorialen Sanktionen nichts entgegensetzen können. Intensive Bemühungen um strategische Autonomie bleiben daher auch unter Biden unabdingbar für die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.

Dieser Artikel spiegelt den Stand der Entwicklungen bis Mitte Dezember 2020 wider.

Der »Joint Comprehensive Plan of Action« (JCPOA) (2015)

  • Der JCPOA wurde am 14.07.2015 zwischen der Islamischen Republik Iran und der Staatengruppe P5+1 (die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und Deutschland) sowie der EU in Wien getroffen. Die Vereinbarung wurde mit der Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 2231 (s.u.) völkerrechtlich verbindlich.
  • Der Text umfasst die Übereinkunft an sich und fünf weitere Anhänge (I-V), die genauer ausbuchstabieren, wie in den einzelnen Bereichen vorgegangen wird. Anhang V legt dafür den Zeitplan vor.
  • Im JCPOA bekräftigt Iran, niemals Atomwaffen besitzen oder beschaffen zu wollen (Präambel).
  • In der Vereinbarung verpflichtet sich Iran, bis 2030 maximal 300kg niedrig angereichertes Uran zu lagern und den Anreicherungsgrad auf maximal 3,67 % zu beschränken; ausreichend für zivile Nutzung, aber nicht für die Produktion einer Atombombe. Zudem sieht die Übereinkunft vor, dass Iran die Zahl verfügbarer Zentrifugen begrenzt und umfangreiche Modernisierungen am Schwerwasserreaktor vornimmt, die eine potenzielle militärische Nutzung verhindern sollen.
  • Im JCPOA unterwirft sich Iran einem umfangreichen und strengen Inspektionsregime durch die IAEO. Für den Fall von Unstimmigkeiten hinsichtlich der Umsetzung ist ein Disputregulierungsmechanismus vorgesehen. Wird der Disput unter den Vereinbarungsparteien innerhalb einer festgelegten Frist nicht beigelegt, wird der UN-Sicherheitsrat mit dem Konflikt befasst. Dieser hat 30 Tage Zeit, über eine Fortführung des JCPOA zu entscheiden, andernfalls treten alle zuvor ausgesetzten nuklearbezogenen UN-Sanktionen gegen Iran automatisch wieder in Kraft.

Die UN-Sicherheitsratsresolution 2231 (2015)

Nach dem Abschluss der Verhandlungen verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig Resolution 2231, in der die internationale Staatengemeinschaft die Übereinkunft begrüßt und unter anderem folgendes festlegt:

  • Die Aufhebung der nuklearbezogenen UN-Sanktionen gegen Iran nach der positiven Einschätzung eines Umsetzungsberichtes der IAEO (Paragraph 5-7). Dieser Bericht wurde am 16.01.2016 eingereicht und damit der Umsetzungsplan im JCPOA ausgelöst.
  • Bei Verstößen gegen die Übereinkunft können die Sicherheitsratsmitglieder den sogenannten »Snapback-Mechanismus« auslösen, der zu einer sofortigen Wiederanwendung der zuvor aufgehobenen UN-Sanktionen führen würde (Paragraph 11 und 12).
  • Die Resolution hält auch fest, dass Iran eine Wiedereinsetzung von Sanktionen wie in Paragraph 11 und 12 als Bruch des JCPOA betrachtet und sich in einem derartigen Fall nicht länger an die Übereinkunft gebunden sieht (Paragraph 13). Hierauf beruft sich die Islamische Republik, nachdem die USA sich im Mai 2018 einseitig von ihren Verpflichtungen im JCPOA zurückzogen und fortan gegen Resolution 2231 verstießen.

Literatur

Bassiri Tabrizi, A.; Kienzle, B. (2020): The High Representative and Directories in European Foreign Policy. The Case of the Nuclear Negotiations with Iran. European Security 29(3), S. 320-336.

Center for International and Security Studies at Maryland (CISSM)/IranPoll (2019): Iranian Public Opinion Under »Maximum Pressure«, Oktober 2019.

Cronberg, T. (2017): No EU, no Iran Deal. The EU‘s Choice Between Multilateralism and the Transatlantic Link. The Nonproliferation Review 24(3-4), S. 243-259.

Lippert, B.; von Ondarza, N.; Perthes, V. (Hrsg.) (2019): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte. SWP-Studie 2019/S 02, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

Dr. Azadeh Zamirirad, Irananalystin und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten & Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.

Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft


Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft

von Jacqueline Cabasso

Joseph Biden hat seine Präsidentschaft mit einem Ehrfurcht einflößenden Berg an Herausforderungen vor sich angetreten. Ersten Anzeichen nach wird Bidens Regierung im Inland eine dramatische Kehrtwende einleiten: zur rücksichtslosen Missachtung der Pandemie unter der Regierung Trumps; zu ihrer fremdenfeindlichen Politik, die auf Immigrant*innen, People of Color, Muslime*a, Jüd*innen, Frauen, nicht binär-identifizierte Menschen und die Armen abzielte; und zu ihrem Angriff auf das Gesundheitssystem, die Umwelt und die Demokratie an sich.

Außenpolitisch hingegen sind die Absichten der neuen Regierung weniger klar ersichtlich. Bidens Ankündigung an seinem ersten Tag im Amt, dem Pariser Klimaabkommen und der WHO wieder beitreten zu wollen, ist ein willkommenes Signal und er wird ernstzunehmende Anstrengungen unternehmen, belastete Beziehungen zu Verbündeten wieder zu verbessern.

Mit Blick auf Bidens Vergangenheit und seine acht Jahre als Vizepräsident unter Präsident Obama können wir allerdings bezüglich der schwierigen Beziehungen zu Russland, China, Nordkorea und dem Iran, sowie des US-Atomwaffenprogramms wahrscheinlich eine Rückkehr zum Status-Quo erwarten, der vor Donald Trump galt.

Joe Biden ist schon seit 1979 in Rüstungskontrollverhandlungen involviert. Bevor er im Januar 2017 aus dem Amt schied, sprach der damalige Vizepräsident über den Wert von Verträgen: „Gerade weil wir unseren Gegner*innen nicht trauen, sind Verträge, die das menschliche Zerstörungspotential begrenzen, so unerlässlich für die Sicherheit der USA. Rüstungskontrolle ist wesentlich für unsere nationale Verteidigung und – wenn es Atomwaffen betrifft – für unsere Selbsterhaltung.“

Das bietet Anlass zu vorsichtigem Optimismus sowohl für eine erfolgreiche Verlängerung des START-Vertrages mit Russland und eine mögliche Rückkehr in den JCPOA [das Iran-Abkommen, die Red.], als auch für zukünftige bi- und multilaterale Rüstungskontrollverhandlungen.

In seiner Rede im Januar 2017 erklärte Biden: „Ich glaube, dass wir weiter nach dem Frieden und der Sicherheit einer atomwaffenfreien Welt streben müssen.“ Aber weiter: „Nukleare Abschreckung ist der Kern unserer nationalen Verteidigung seit dem Zweiten Weltkrieg. Solange andere Staaten Atomwaffen besitzen, die sie gegen uns einsetzen könnten, werden wir ein sicheres, gut geschütztes und effektives Atomwaffenarsenal unterhalten müssen, um Angriffe gegen uns und unsere Verbündeten abzuschrecken. Darum haben wir zu Beginn unserer Amtszeit die Finanzierung zur Aufrechterhaltung unseres Arsenals und zur Modernisierung unserer atomaren Infra­struktur erhöht.

Als Donald Trump sein Amt antrat, hatten die USA geplant, 1,2 Bio. US$ über die folgenden 30 Jahre in Unterhaltung und Modernisierung ihrer Atombomben, Waffenköpfe, Trägersysteme und Infrastruktur zu stecken, um die atomare Unternehmung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Zu Bidens Amtsantritt ist diese enorme Summe schon auf 1,7 Bio. US$ angewachsen.

Biden hat in der Vergangenheit bekanntermaßen unterstützt, die Bedingungen dafür zu schaffen, Atomwaffen nur noch zur Abschreckung eines gegnerischen Angriffs zu besitzen und die strategische Bedeutung von Atomwaffen in der nationalen Sicherheitspolitik zu reduzieren. Noch ist es aber zu früh, um vorhersagen zu könne, ob das zur Absage geplanter neuer Waffensysteme oder der Abschaffung landgestützter Interkontinentalraketen führen wird, wie von manchen angeregt. In seiner Senatsanhörung zur Bestätigung versprach der neue US-Verteidigungsminister zwar eine Prüfung des Atomwaffen-Modernisierungsprogramms, erklärte aber seine „persönliche“ Unterstützung für die strategische Triade.

Obwohl der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist, wird, durch den etablierten militärisch-industriellen Komplex mit Atomwaffen als seinem Kern, durch eine große und reaktionäre republikanische Minderheit im Kongress sowie das Fehlen einer sichtbaren Anti-Atomwaffen-Bewegung in den USA, auf absehbare Zeit keine grundsätzliche Änderung der US-Atomwaffenpolitik zu erwarten sein.

Die Zivilgesellschaft muss sich daher zusammenschließen wie nie zuvor, um dauerhafte, breite, diverse und mehrere Themen umfassende Koalitionen, Netzwerke und Meta-Netzwerke zu schaffen, die auf unserer geteilten Hingabe zu einer universellen, unteilbaren menschlichen Sicherheit beruhen.

Jacqueline Cabasso ist Direktorin der »Western States Legal Foundation« in Kalifornien. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks »Abolition 2000« zur Abschaffung aller Atomwaffen, Beraterin bei »Mayors for Peace« und aktiv im Koordinationskreis von »United for Peace and Justice«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Die Zukunft der nuklearen Teilhabe


Die Zukunft der nuklearen Teilhabe

Wird Europa technisch ausgetrickst?

von Otfried Nassauer

Spätestens seit Frühjahr 2020 ist in der deutschen Politik die Diskussion neu entbrannt, ob die Bundesrepublik sich auch in Zukunft nicht nur aktiv an der Atomwaffenpolitik der NATO beteiligen, sondern weiterhin technisch für einen möglichen Atomwaffeneinsatz rüsten soll. Der Autor beschrieb in W&F 2-2020 (S. 43-46) die Aufnahme eines neuen U-Boot-gestützten Atomwaffentyps in das Arsenal der USA und welche Folgen dies für das System der nuklearen Teilhabe der NATO hat. Im hier vorliegenden Text erkundet er vor diesem Hintergrund, ob bestehende politische Absprachen über bündnisinterne Konsultationen vor einem Einsatz von NATO-Atomwaffen überhaupt noch Gültigkeit und Relevanz besitzen.

Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, warf im Mai dieses Jahres einen Stein ins Wasser. Gemessen an den Wellen, die er auslöste, war es ein ganz schöner Brocken. Mützenich wurde wahlweise vorgeworfen, er kündige die Solidarität in der NATO auf, versuche Deutschland von einem Krieg in Europa abzukoppeln oder gefährde die nukleare Abschreckung der NATO und Mitsprachemöglichkeiten Deutschlands im Bündnis.

Dabei hatte er sich nur dafür ausgesprochen, Deutschland solle aus der »technischen nuklearen Teilhabe« der NATO ausscheiden, also künftig für Atomwaffeneinsätze des Bündnisses keine Flugzeuge mehr bereithalten. Mützenichs intendiertes Signal: Die SPD lehnt es ab, die deutsche Tornadoflotte durch neue nuklearfähige Trägerflugzeuge vom Typ F18 abzulösen und die nukleare Rolle der Luftwaffe auf weitere Jahrzehnte festzuschreiben (siehe Mützenich 2020).

Was ist und worum geht es bei der nuklearen Teilhabe?

Die nukleare Teilhabe der NATO besteht aus zwei Komponenten, einer technischen und einer politischen.

  • Zur technischen Teilhabe gehört als Kern die Bereitstellung europäischer Trägersysteme und ausgebildeter Bedienungsmannschaften für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall sowie von Lagermöglichkeiten für US-Atomwaffen.
  • Zur politischen Teilhabe gehört die Mitarbeit in NATO-Gremien, in denen Informationen über nukleare Angelegenheiten ausgetauscht, nukleare Rüstungsplanung betrieben, Rüstungskontrollinteressen abgeglichen und nukleare Einsatzszenarien diskutiert und beschlossen werden. Das geschieht z.B. in der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), auf derer nachgeordneter Arbeitsebene im NATO-Hauptquartier in Brüssel und in den mit Nuklearwaffen befassten Teilen der militärisch-operativen Stäbe des militärischen Oberkommandos im belgischen Mons.

Die Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe ist keine Voraussetzung dafür, sich an der politischen Komponente beteiligen zu können. Alle NATO-Mitglieder außer Frankreich sind bei der politischen Teilhabe dabei. Darüber hinaus gibt es einen weiteren Aspekt, über den allerdings kaum gesprochen wird: Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die NATO-Länder zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen. Auch das ist unabhängig von ihrer Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe.

Als die NATO in den späten 1960er Jahren den Übergang von der Strategie der »massiven Vergeltung« zur »flexiblen Antwort« vollzog1 und der Atomwaffensperrvertrag zur Unterzeichnung anstand, waren die nichtnuklearen NATO-Mitglieder in Europa bemüht, die technisch-nukleare Teilhabe weiterzuführen und sich im Bündnis verbesserte Informations- bzw. Mitspracherechte in Nuklearfragen zu sichern. Für eine solche Mitwirkung mussten im Bündnis jedoch erst noch Strukturen, wie die NPG, sowie Verfahrens- und Konsultationsmechanismen geschaffen werden. Auch die zum Einstieg in die Debatte über die flexible Antwort im Mai 1962 formulierten, aber nie im Konsens verabschiedeten »Athener Richtlinien« zu Konsultationsmöglichkeiten über die nuklearen Optionen der NATO bei unterschiedlichen Szenarien eines Kriegsausbruchs mussten weiterentwickelt und präzisiert werden.2

Das sollte in der NPG erfolgen, wozu zunächst zwei Dokumente vorgelegt wurden. Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen und verursachte relativ wenig Diskussion. Das andere befasste sich mit der Frage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also das Überschreiten der Schwelle zur nuklearen Kriegführung durch die Allianz. Dieses Papier führte u.a. zu intensiven Diskussionen über das damals vermutlich erste Mittel eines NATO-Atomwaffeneinsatzes: Atomminen, mit deren Einsatz das Militär einen potentiellen Angriff auf NATO-Territorium möglichst grenznah stoppen bzw. Truppenbewegungen kanalisieren wollte. Zunächst kamen nur vorläufige Richtlinien zustande, da grundsätzlichere Fragen sichtbar wurden:

1. Wann, mit welcher Zielsetzung und in welchem Umfang würde ein solcher Einsatz erfolgen?

2. Würde genug Zeit bleiben, um politische Konsultationen in der NATO durchzuführen oder auf die Freigabe durch den US-Präsidenten zu warten? Oder wäre eine Prädelegation, eine vorab erfolgende Delegierung der Freigabe an hohe militärische Befehlshaber in Europa, z.B. den NATO-Oberbefehlshaber, sinnvoll und gewollt?

3. Damit stellte sich auch die Frage des Primats der Politik, der politischen Kontrolle über militärisch-nukleare Planungen für einen solchen Einsatz. Würden Militärs oder Politiker letztlich das Sagen haben?

Zweifellos waren das Fragen, bei denen auch die nichtnuklearen Staaten Europas mitreden oder gar mitentscheiden wollten. Als Lager-, Abschuss- und potentielle Zielorte eines Atomwaffeneinsatzes mussten sie daran ein elementares Interesse haben. Im Bündniskontext gelang es ihnen nicht, ein Vetorecht für sich zu erwirken. Sie erhielten lediglich die Zusage, bei Konsultationen würde der Position besonders betroffener Länder ein spezielles Gewicht beigemessen. Dieses Gewicht wurde u.a. auch dadurch bestimmt, welche Atomwaffentypen in einem Land vorhanden waren und welche Konsultationsmechanismen für diese Waffentypen und ihre möglichen Einsatzszenarien zutrafen.

Parallel bemühte sich die Bundesregierung um eine verbindlichere bilaterale Übereinkunft mit den USA. Eine erste wurde zwischen den Regierungen Kiesinger und Johnson erreicht, erwies sich aber mit Blick auf das Primat der Politik als unzureichend. Später folgte eine zweite, die auf die Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Melvin Laird zurückging und 1974 in einer Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Brandt und US-Präsident Nixon mündete. Vier deutsche »No’s« wurden in Form eines vertraulichen, bilateralen Briefwechsels von den USA anerkannt, in denen unter anderem von einer erforderlichen Zustimmung der Bundesregierung vor einem Nuklearwaffeneinsatz die Rede sein soll, zumindest wenn dieser von deutschem Boden ausgehen sollte oder auf Ziele auf deutschem Boden gerichtet wäre. Der Kern bestand jedoch in einer Festlegung auf das Primat der Politik gegenüber militärischen Planungen.

Im Verlauf der weiteren Arbeit der NPG wurden aufgrund von Veränderungen der NATO-Strategie, des nuklearen Dispositivs der Allianz und des Wandels der Rolle nuklearer Waffen in der NATO-Strategie wiederholt neue Dokumente mit Aussagen zu den Planungs- und Konsultationsprozessen im Bündnis verabschiedet. So wurden z.B. nach dem Abzug der Atomminen aus Europa im Oktober 1986 »General Political Guidelines for the Employment of Nuclear Weapons in the Defense of NATO« angenommen oder nach Verabschiedung der neuen militärischen Strategie der NATO, MC400, Ende 1991 im Folgejahr neue »Political Principles of Nuclear Planning and Consultation«. Letztere gingen erstmals davon aus, dass der NATO aufgrund der [reziproken] »Presidential Nuclear Initiatives« [der Präsidenten Reagan und Gobatschow] vom Herbst 1991 künftig keine taktischen Atomwaffen kurzer Reichweite mehr zur Verfügung stehen würden, sondern nur noch luftgestützte, als substrategische bezeichnete Waffen sowie möglicherweise auch seegestützte Systeme, die aber keinen multinationalen Nuklearwaffeneinsatz erlauben würden.

Zumindest bis zu diesem Dokument war das Primat der Politik explizit und klar verankert. Wie und ob die Allianz im Kontext der wiederholten Modifikation der MC400 in den Folgejahren mit erneuten Revisionen ihrer Dokumente zu nuklearen Konsultationen reagiert hat, ist noch nicht bekannt. Dies gilt auch mit Blick auf die weitere Gültigkeit bilateraler Vereinbarungen zwischen den USA und Deutschland. Solche Vereinbarungen werden normalerweise bei jedem Regierungswechsel in einem der beteiligten Staaten fortgeschrieben. Ob Donald Trump Angela Merkel ähnliche Zusagen gemacht hat wie Nixon 1974 Brandt, ist ungewiss.

Neue gefährliche Entwicklungen

Nach der Verabschiedung einer neuen Militärstrategie der NATO (Comprehensive Defense and Shared Response, MC400/4) im Jahr 2019 gibt es wieder Anlass, über politische Richtlinien für nukleare Planung und Konsultation neu nachzudenken. Denn bei den nuklearen Waffen, die bei einem Konflikt in Europa zum Einsatz kommen könnten, sind substantielle Veränderungen zu verzeichnen. In den letzten Jahren konnte die nukleare Schwelle entweder mit strategischen Atomwaffen der USA oder mit den als substrategisch bezeichneten Atombomben und deren Trägerflugzeugen in Europa überschritten werden. Mit Trumps »Nuclear Posture Review 2018« deuteten sich diesbezüglich jedoch wieder größere Veränderungen an, da in diesem Dokument die Absicht bekundet wurde, zwei weitere Waffensysteme zu stationieren, die für diesen Zweck eingesetzt werden können. Dies sind zum einen strategische Raketen-U-Boote mit Langstreckenraketen, die nur einen Sprengkopf kleiner Sprengkraft tragen, und zum anderen seegestützte atomare Marschflugkörper. Der Einsatz beider Waffen sei unabhängig von einem Mittun der Bündnispartner möglich.

Ende 2019 schickten die USA erstmals ein Raketen-U-Boot auf Patrouille, das eine Rakete an Bord hatte, die nur einen Sprengkopf vom Typ W76-2 mit einer relativ kleinen Sprengkraft (ca. acht Kilotonnen) trug. Der Einsatz dieses Sprengkopfs für einen »initial nuclear use« in Reaktion auf einen angenommenen taktischen Kernwaffeneinsatz Russlands in Europa wurde im Februar 2020 vom Strategischen Kommando (STRATCOM) der USA durchgespielt. Ob Washington die Bündnispartner dabei konsultierte oder im Voraus informierte, ist unbekannt. Das Kriegsspiel wurde als nationale Übung präsentiert. Der NATO-Oberbefehlshaber Todd Wolters bezeichnete sich etwa zeitgleich als „Fan einer flexiblen Ersteinsatzpolitik“, ohne zu erklären, was diese von der traditionellen Ersteinsatzpolitik unterscheide (siehe dazu mehr in Nassauer 2020).

Der Vorgang signalisierte, dass die USA den selektiven Einsatz nuklearer Waffen in Europa ohne europäisches Zutun praktizieren können. Das U-Boot, die Rakete und der Sprengkopf sind im Besitz der USA, unterstehen nicht der NATO und könnten somit außerhalb der heute in der NATO vereinbarten Konsultationsregeln eingesetzt werden. Washington könnte zugleich wählen, ob das Ziel der Waffe auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegen sollte. Die USA besitzen nunmehr eine attraktive nationale Alternative zu den in Europa stationierten nuklear­fähigen Flugzeugen, die zudem den Nachteil haben, erst noch die russische Luftabwehr überwinden zu müssen. Diese Alternative bietet ähnliche Vorteile wie die [in Europa stationierte] Pershing-­II-Rakete [der 1980er Jahre]: kleine Sprengkraft mit geringerem »Kollateralschaden«, kurze Flugzeit, Reichweite bis nach Russland. Die Waffe kann sowohl in Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz genutzt werden als auch für einen eigenen Ersteinsatz. Sie bürdet dem Gegner die schwierige Entscheidung auf, ob er den Konflikt tatsächlich weiter eskalieren soll. Die Russland von den USA oft unterstellte »escalate to de-escalate«-Strategie kann also gespiegelt werden. Der Nachteil bei aller [vermeintlichen] Attraktivität: Eine solche Waffe kann auch ähnlich destabilisierend wirken wie die Pershing-II.

Aufgrund dieser Eigenschaften könnte die mit dem Sprengkopf W76-2 ausgestattete Trident-II-Rakete künftig zur Waffe der Wahl avancieren, wenn es um einen erstmaligen oder Ersteinsatz oder um begrenzte, selektive Nuklearwaffeneinsätze geht. Das wäre von besonderer Bedeutung, da die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO mit ihren freifallenden Atombomben durch bessere Luftverteidigungssysteme verwundbarer und damit unsicher für die Erfüllung ihrer Aufgabe werden. Ihr Einsatz bedarf zudem der Eindringhilfe durch andere Kampfflugzeuge, die sie begleiten. Das reduziert ihre Nützlichkeit für solche Einsätze. Auf Flugzeuge würde man wohl vor allem dann zurückgreifen, wenn man einem Gegner signalisieren will, dass der Nuklearwaffeneinsatz durch viele nichtnukleare Länder politisch mitgetragen und verantwortet wird.

Mehr noch: Jüngst durch die USA vorgenommene technische Änderungen an den Nutzungskontrollsystemen der in Europa gelagerten B61-Bomben machen diese Waffen möglicherweise nicht nur sicherer. Wenn die Änderungen mit der Nebenwirkung verbunden wären, dass diese Bomben ausschließlich gegen im Voraus festgelegte Ziele oder Zielgruppen eingesetzt werden können, wäre die für einen »initial use« erforderliche Flexibilität bei der Zielauswahl und -planung möglicherweise nicht mehr zu gewährleisten. Auch deshalb wäre die Waffe der Wahl für einen ersten Einsatz meist U-Boot-gestützt und trüge nur einen kleinen Sprengkopf.

Diese Änderungen im Nukleardis­positiv der USA finden zu einem für Deutschland heiklen Zeitpunkt statt. Die Bundesregierung will bei der technischen nuklearen Teilhabe weiterhin mitwirken und ihre Mitsprache bei der nuklearen Planung im Bündnis absichern. Das Bundesministerium für Verteidigung plant deshalb, 30 Flugzeuge des Typs F-18F zu beschaffen, um den Tornado abzulösen. Die Hoffnung, über die Beteiligung an der technisch-nuklearen Teilhabe auch künftig Einfluss auf einen erstmaligen oder Ersteinsatz von Atomwaffen in Europa nehmen zu können, könnte aber aufgrund der Modernisierungen im US-Nukleardispositiv weitgehend gegenstandslos werden. Der geplante Kauf neuer Kampfflugzeuge würde dann zu einem milliardenteuren Selbstbetrug. Er könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen. Auch die Entscheidung, ob das Primat der Politik Gültigkeit behält, wäre dann wieder weitgehend eine der USA.

Anmerkungen

1) In den 1950er Jahren wurde von den USA die Strategie der »massiven Vergeltung« (massive retaliation) vorgestellt. Die NATO übernahm die Strategie 1954; diese sah einen raschen Rückgriff auf Atomwaffen bei nahezu jeder militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion vor. 1967 wurde sie ersetzt durch die Strategie der »flexiblen Antwort« (flexible re­sponse), gemäß der ein konventioneller Angriff der Sowjetunion zunächst mit konventionellen Mitteln abgewehrt werden sollte, verbunden mit der Bereitschaft, den Konflikt nuklear zu eskalieren. [die Redakteurin; Quelle: atomwaffena-­z.info]

2) Der Wortlaut der »Athener Richtlinien« wurde lange unter Verschluss gehalten und schließlich etwas versteckt im Kontext von Dokumenten zur NATO-Ratssitzung vom 5. und 6. Mai 1962 in Athen durch das NATO-Archiv zugänglich gemacht. Die Richtlinien wurden 1962 nicht von allen NATO-Mitgliedern im Konsens verabschiedet, aber von denen, die ihnen zustimmten, als offizielle Politik der Allianz betrachtet. In seiner Rede vor dem NATO-Rat erklärte US-Außenminister Dean Rusk für die USA die Akzeptanz der Richtlinien, die NATO-Generalsekretär Stikker in Abschnitt 25 seines Sonderberichts zur Verteidigungspolitik der Allianz vorgelegt hatte. In Punkt 5 dieses Abschnitts finden sich drei exemplarische Fallbeispiele für unterschiedliche potentielle Angriffszenarien auf die NATO und Aussagen zur Wahrscheinlichkeit, dass in der NATO vor dem Rückgriff auf einen Nuklearwaffeneinsatz Konsultationen möglich seien: 1. Wenn unzweifelhaft ein sowjetischer Angriff mit Nuklearwaffen auf das NATO-Gebiet vorliege, auf den die NATO mit einem adäquaten Nuklearwaffeneinsatz antworten müsse, sei die Möglichkeit zu Konsultationen äußerst begrenzt. 2. Im Falle eines großangelegten konventionellen Angriffs […], der auf den Ausbruch genereller Feindseligkeiten hindeute, bei denen die NATO im angemessenem Umfang mit Nuklearwaffen reagieren wolle, gehe man davon aus, dass Konsultationen zeitlich möglich seien. 3. Im Falle eines sowjetischen Angriffs, der die Bedingungen der beiden ersten Fälle nicht erfülle, aber die Integrität des Territoriums und der Streitkräfte der NATO bedrohe und nicht mit den vorhandenen konventionellen Kräften aufgehalten werden könne, werde die Entscheidung zum Einsatz nuklearer Waffen im Voraus im NATO-Rat getroffen. […]

Literatur

Mützenich, R. (2020): Nukleare Teilhabe – überholtes Konzept ohne Funktion. WeltTrends, Nr. 167, September 2020, S. 68-70.

Nassauer, O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Otfried Nassauer war Journalist und Friedensforscher und leitete das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Der Autor verstarb am 1. Oktober 2020 (siehe Nachruf auf S. 58). Einen Tag zuvor hatte er seine Fahrt zu einem Vortrag abgebrochen, weil er sich nicht wohlfühlte. Damit der Vortragsabend nicht ganz platzt, schickte er den Veranstalter*innen ein druckreifes Manuskript zum Vorlesen und Diskutieren. Das Manuskript wurde von W&F behutsam redigiert. Wir wissen nicht, für welche Publikation der Text geschrieben wurde. Der Abdruck in W&F erfolgt in Absprache mit BITS. [die Redakteurin]

Verboten – und nun?

Verboten – und nun?

von Regina Hagen

Honduras wählte ein symbolträchtiges Datum, um seine Ratifizierungsurkunde für den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) in New York zu hinterlegen: Der 24.10. erinnert als »Tag der Vereinten Nationen« an den Tag, an dem die UN-Charta nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft trat und die Weltgemeinschaft auf eine friedlichere Zukunft einschwor.

Mit Honduras haben nun 50 Staaten den TPNW ratifiziert; 90 Tage danach tritt der Vertrag vereinbarungsgemäß in Kraft, das wird am 22.1.21 sein. Der TPNW verpflichtet die Vertragsparteien u.a. dazu, „unter keinen Umständen jemals […] Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern“, diese „anzunehmen […,] einzusetzen oder mit dem Einsatz zu drohen“, jemanden bei solch verbotenen Tätigkeiten „zu unterstützen“ oder
„Kernwaffen […] in seinem Hoheitsgebiet […] zu gestatten“.

Der TPNW schließt eine Lücke im Völkerrecht. Einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1996 zufolge widersprechen zwar der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz – und somit auch die Doktrin der Abschreckung, die auf dieser Drohung beruht – aus humanitären Gründen ohnehin dem Völkerrecht. Atomwaffen sind bislang aber nicht ausdrücklich verboten. Das wird sich ab 22. Januar ändern. Weitere Vertragsbeitritte sind zu erwarten, wenngleich vielleicht nicht alle 122 an den Vertragsverhandlungen beteiligte Staaten diesen Schritt bald wagen werden. Denn der Gegenwind
ist scharf, mutet allerdings auch panisch an.

So schrieben die USA noch wenige Tage vor Honduras‘ Ratifizierung alle bereits beigetretenen Staaten an und legten ihnen nahe, ihre Ratifizierung zu widerrufen, damit der Vertrag nicht in Kraft treten kann – ein beispielloser Vorgang im Völkerrecht. Die USA betonten laut der Nachrichtenagentur AP in dem Brief ausdrücklich, mit ihnen stünden Russland, China, Frankreich und Großbritannien sowie die NATO-Verbündeten „geschlossen in ihrem Widerstand gegen die möglichen Auswirkungen“ des TPNW.

Es ist nicht schwer zu verstehen, was die Atomwaffenstaaten verschreckt: Der Vertrag erlangt zwar nur für seine Mitgliedsstaaten Gültigkeit, markiert aber eine weit über diesen Kreis hinausreichende völkerrechtliche Norm gegen nukleare Rüstung. Einige Beispiele:

  • Die USA selbst wiesen vor etlichen Jahren auf die Konsequenzen für ihre Schiffs- und U-Boot-Flotte hin. Die US-Regierung legt grundsätzlich nicht offen, welche Schiffe und Boote Atomwaffen an Bord haben. TPNW-Mitgliedsstaaten müssten aber die Durchfahrt von Booten mit Atomwaffen durch ihre Hoheitsgewässer untersagen, um jegliche, auch unbeabsichtigte, Beihilfe zu verbotenen Aktivitäten auszuschließen. Für die USA wären diese Gewässer damit indirekt gesperrt.
  • NATO-Verbündete, wie die Nieder­lande, Belgien oder Deutschland, müssten dem TPNW eigentlich beitreten, um ihrem multilateralen Anspruch gerecht zu werden. Nur dann wären sie beteiligt an der Fortentwicklung des Völkerrechts und nur dann könnten sie die praktische Ausgestaltung des Vertrags beeinflussen. Dazu müssten sie allerdings auf jegliche Form der nukleare Teilhabe verzichten und von den USA den Abzug ihrer Atomwaffen verlangen. In ihrem Koalitionsvertrag schrieb die neue belgische Regierung immerhin fest, sie wolle
    „prüfen […,] wie der UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen neue Impulse für multilaterale nukleare Abrüstung geben kann“ – eine deutliche Ablehnung des Vertrags klingt anders.
  • Bereits in den vergangenen Jahren zogen sich aufgrund öffentlichen Drucks etliche Banken und Versicherungen aus der Finanzierung des Nuklearwaffenkomplexes zurück; es wurde schwieriger für Produzenten von Atomwaffen oder Trägersystemen, neue Investitionen oder Kredite zu bekommen. Die völkerrecht­liche Ächtung der Atomwaffen wird diesen Prozess beschleunigen. Ebenso werden sich Firmen künftig genauer überlegen, ob ihre Gewinne aus Atomwaffengeschäften (z.B. Airbus am französischen Nukleararsenal) den Boykott durch Konsument*innen und Finanz­institutionen wirklich aufwiegen.

Es stimmt, der TPNW wird nicht unmittelbar zur Verschrottung von Atomwaffen führen. Er ist aber eine wichtige Ergänzung des Völkerrechts und könnte mittelbar den Weg bahnen für eine umfassendere Nuklearwaffen­konvention unter Einbindung der Atomwaffenstaaten, wie dies bei den Chemie- und Biowaffen der Fall war. Sobald der TPNW in Kraft getreten ist, müssen die Vertragsstaaten und die sie unterstützenden Nichtregierungsorganisationen und Friedensbewegten ohnehin darüber nachdenken, wie sie der in der Präambel des Vertrags konstatierten
„Dringlichkeit der Herbeiführung und Erhaltung einer kernwaffenfreien Welt, die ein globales öffentliches Gut höchsten Ranges ist und nationalen wie kollektiven Sicherheitsinteressen dient,“ zusätzlich Schwung verleihen können. Der Beitritt weiterer Nichtatomwaffenstaaten, darunter Deutschland, ist dafür wichtig. Ohne Mitwirkung der Atomwaffenstaaten sind entsprechenden Bemühungen aber enge Grenzen gesetzt.

Ihre Regina Hagen