Ein eigener Ansatz


Ein eigener Ansatz

Die Atomwaffendoktrin Chinas

von Gregory Kulacki

Die Volksrepublik China hat ein relativ kleines ­Atomwaffenarsenal, eher vergleichbar mit dem von Frankreich und dem Vereinigten Königreich als mit den viel größeren Arsenalen von Russland und den Vereinigten Staaten. Die strategische Logik hinter dem Bau und der Aufrechterhaltung dieser kleinen Atomstreitkraft ist das Ergebnis der chinesischen Geschichte der Neuzeit. Sie unterscheidet sich von den strategischen Überlegungen der anderen Atomwaffenstaaten und wird sich höchstwahrscheinlich nicht ändern. Es ist daher davon auszugehen, dass die chinesischen Atomstreitkräfte zwar qualitativ und technologisch ausgebaut werden, die relative Größe des chinesischen Arsenals und sein Verwendungszweck aber unverändert bleiben. China ist zur vollständigen Abrüstung seines Arsenals bereit, wenn die anderen Atomwaffenstaaten zustimmen, das gleiche zu tun.

China hat einige Hundert Atom­sprengköpfe und genug waffen­taugliches Plutonium für einige Hundert weitere. Die chinesische Führung hat die genaue Zahl der Sprengköpfe nie offiziell bekanntgegeben aus Furcht, ein Gegner könnte dann versucht sein, einen vernichtenden Erstschlag auszuführen. Sie hat aber zugestimmt, sich an einem freiwilligen Moratorium für die Produktion von waffentauglichem Plutonium zu beteiligen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass nicht beabsichtigt ist, das chinesische Atomwaffenarsenal nennenswert auszubauen.

China könnte mit seinen landgestützten Interkontinentalraketen momentan 75 bis 100 seiner Sprengköpfe gegen seinen Hauptgegner, die USA, richten. Es könnte mit Mittelstreckenraketen, die atomwaffentauglich sind, etwa 100 weitere Atomsprengköpfe auf Ziele abschießen, die näher an China liegen, wie Guam, Russland oder Indien. Die komplette landgestützte Atomstreitkraft ist nicht in ständiger Alarmbereitschaft, sondern die Sprengköpfe werden separat von den Raketen gelagert.

Bald 60 U-Boot-gestützte ballistische Raketen könnten jeweils einen Sprengkopf tragen, die U-Boote sind aber – anders als die Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, Russlands und der Vereinigten Staaten – nicht auf bewaffneter Patrouille. Auch hat China momentan keine Atomwaffen an Bord von Flugzeugen; allerdings gibt es unbestätigte Berichte, dass China einen luftgestützten Marschflugkörper entwickelt hat, der mit einem Atomsprengkopf bestückt werden könnte.

Die strategische Logik: »nukleare Erpressung« vermeiden

Im Oktober 1950 drohte die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Atomangriff auf China, nachdem chinesische Truppen Nordkorea Hilfe geleistet hatten. Im März 1955 drohten die Vereinigten Staaten während einer Krise um Taiwan erneut mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China. Die chinesische Führung bezeichnete diese Drohungen vonseiten der USA als »Erpressung« mit Atomwaffen.

Als China im Oktober 1964 seinen ersten Atomwaffentest durchführte, ließ es die Welt wissen, es entwickle Atomwaffen, „um der imperialistischen US-Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohungen entgegenzutreten“. Die chinesische Regierung argumentierte, durch die Entwicklung eigener Atomwaffen „wäre [die US-] Politik der nuklearen Erpressung und der nuklearen Bedrohung nicht mehr so wirksam“. Sie versprach der Weltöffentlichkeit, China würde nicht an „die Allmacht von Atomwaffen“ glauben, hätte nicht vor, sie einzusetzen, sondern wolle mit seinen eigenen Atomwaffen „das nukleare Monopol der Nuklearmächte durchbrechen und Atomwaffen abschaffen“ (New York Times 1964).

Die strategische Logik hinter diesen Äußerungen ergibt sich in der Interpretation der heutigen Generation chinesischer Militärvertreter aus dem „wesentlichen Charakteristikum“ der Atomwaffen: ihrem gewaltigen Zerstörungspotential (Strategic Research Department 2013). Werden ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt, gibt es keine gesicherte Verteidigung gegen dieses Zerstörungspotential. Folglich sollte die „bloße Existenz“ chinesischer Atomwaffen jeden vernünftigen Gegner aus Furcht vor Vergeltung vom Einsatz von Atomwaffen gegen China abhalten. Die chinesische Führung glaubt, dass sie jegliche Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz gegen China als »Papiertiger« abtun kann, solange sie die Mittel für einen Vergeltungsschlag in der Hand hat.

In ihrer Stellungnahme 1964 „erklärt“ die chinesische Regierung hiermit feierlich, das China zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als erstes Atomwaffen einsetzen wird“ (New York Times 1964). Diese Zusicherung entspringt weniger moralischen Gründen denn einer rationalen Erkenntnis: Wenn man glaubt, dass es gegen das immense Zerstörungspotential eines nuklearen Vergeltungsschlages keine gesicherte Verteidigung gibt, dann macht es auch keinen Sinn, selbst mit einem Ersteinsatz zu drohen. China sicherte außerdem zu, niemals Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten einzusetzen oder diesen mit dem Einsatz zu drohen.

Der Ausschluss eines Ersteinsatzes in der Erklärung von 1964, den chinesische Regierungsvertreter*innen in internationalen Foren bis heute wiederholen, erklärt auch, warum China keine nukleare Parität mit Russland und den Vereinigten Staaten anstrebt, obgleich es technisch und ökonomisch dazu in der Lage wäre: Es gibt keinen Grund, in ein nukleares Gleichgewicht zu investieren, wenn die Vergeltungsfähigkeit genauso gut mit einem deutlich kleineren Arsenal gesichert werden kann.

Zukunftspläne

Kurz nachdem Xi Jinping 2012 Staatspräsident wurde, veröffentlichte die Chinese Academy of Military Science (CMS) eine Studie, die die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen, Weltraumwaffen, Cyberwaffen und konventionellen Präzisionslenkwaffen großer Reichweite als die größte Herausforderung für die Gewährleistung dafür bezeichnet, dass China nach einem Atomwaffenangriff Vergeltung üben könnte. Die Verfasser*innen warnten die chinesische Führung, China stünde einer nuklearen Erpressung der USA wehrlos gegenüber, wenn diese die neuen Waffentypen gegen das chinesische Atomwaffenarsenal sowie die wesentlichen Kommunikations-, Kommando- und Kontrollsysteme eingesetzt würden.

Die CMS-Studie deutet an, dass China Maßnahmen ergreifen wird, die es ihm ermöglichen, sein Vertrauen in die Fähigkeit zu einem Vergeltungsschlag aufrechtzuerhalten und gleichzeitig an der Nicht-Ersteinsatz-Doktrin festzuhalten sowie den Einsatzzweck des chinesischen Atomwaffenarsenals auf das Kontern der nuklearen Erpressung zu begrenzen. Die Studie stellt fest, das dazu „angemessene Anpassungen“ der Größe und Fähigkeiten der chinesischen Nuklearstreitkräfte ebenso erforderlich seien wie die Stärkung all der unterschiedlichen Subsysteme, die diese Streitkräfte unterstützen. Dabei bliebe es Chinas Ziel, eine „kleine, aber erstklassige“ Nuklearstreitkraft zu unterhalten, die gegnerischen Versuchen, sie zu schwächen, widerstehen könne.

Zu diesen Anpassungen gehört die Einführung neuer, mobiler atomwaffenfähiger Mittel- und Langstreckenraketen, die mit Festtreibstoff betrieben werden. Zwei solche Raketen, die DF-26 und die DF-41, wurden im Oktober 2019 bei einer Parade in Beijing präsentiert. Es heißt, die DF-41 könne mehrere Sprengköpfe gleichzeitig tragen – eine deutliche Erschwernis für die US-Raketenabwehr.

Eine weitere Anpassung, die in China erwogen, aber wieder verworfen wurde, ist der Aufbau eines Frühwarnsystems, vergleichbar dem der USA und Russlands. Ein solches System würde China in die Lage versetzen, einen Vergeltungsschlag auszulösen, sobald ein Atomwaffenangriff gemeldet wird. Die CMS-Studie argumentiert, dies wäre keine Verletzung der Selbstverpflichtung, keinen Ersteinsatz durchzuführen. Der Generaldirektor der Abrüstungsabteilung im chinesischen Außenministerium hingegen rief alle Atomwaffenstaaten kürzlich auf, ihre Politik aufzugeben, schon bei einer Warnung vor einem Atomwaffenangriff den Start von Atomwaffen vorzubereiten. Vor internationalen Rüstungskontrollexperten erklärte er im Oktober 2019, diese ständige Alarmbereitschaft sei nicht kompatibel mit einer Nicht-Ersteinsatz-Doktrin.

Unterstützung für Rüstungskontrolle und Abrüstung durch Völkerrecht

Die Stellungnahme der chinesischen Regierung von 1964 endete mit dem Versprechen, sie werde „alle Anstrengungen aufbieten, um das edle Ziel eines vollständigen Verbots und der kompletten Beseitigung von Atomwaffen durch internationale Verhandlungen zu fördern“ (New York Times 1964). China trat 1992 dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag bei, unterzeichnete 1996 das Umfassende Atomteststoppverbot und beteiligt sich aktuell an den Treffen der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf. Dort unterstützt China die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterialien und brachte weiterführende Vorschläge ein für einen Vertrag zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum.

China lehnt es ab, an bi- oder multilateralen Verhandlungen über die Reduzierung von Atomwaffen mit Russland und den Vereinigten Staaten mitzuwirken. Es gibt internationalen Verhandlungen den Vorzug, die von den Vereinten Nationen ausgerichtet werden und auf bindende völkerrechtliche Abkommen zielen, die gleichermaßen für alle Staaten gelten. China sieht auch keine Grundlage für konstruktive Abrüstungsgespräche mit Russland oder den Vereinigten Staaten, bis diese ihre Atomwaffenarsenale auf eine Größe reduziert haben, die der der britischen, französischen und chinesischen Arsenale entspricht. Sowohl die USA als auch Russland besitzen jeweils mehr als 6.000 Atomsprengköpfe, während die drei anderen offiziellen Atomwaffenstaaten jeweils einige Hundert vorhalten. Dieses erhebliche Ungleichgewicht ist einer der Gründe, warum China den Vorschlag der beiden Staaten, es solle sich an trinationalen Verhandlungen zur Bewahrung des Mittelstreckenvertrages beteiligen, als nicht ernst gemeint einstufte.

Literatur

Kristensen, H.; Korda, M. (2019): Nuclear Notebook – Chinese nuclear forces, 2019. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr. 4, S. 171-177.

Kulacki, G. (2015): The Chinese Military Updates China’s Military Strategy. Cambridge: Union of Concerned Scientists, 10 S.

New York Times (1964): Statement by Peking on Nuclear Test. 17.10.1964, S. 10.

Strategic Research Department of the Chinese Academy of Military Science (2013): The Science of Military Strategy. Beijing: Military Science Publishing House.

Zhang, H. (2018): China’s Fissile Material Production and Stockpile. Princeton: International Panel on Fissile Materials.

Dr. Gregory Kulacki lebt und arbeitet zur Zeit in Tokio, Japan. Er ist Senior Analyst der Union of Concerned Scientists (­ucsusa.org) und dort im Rahmen des Global Security Program Leiter des Chinaprojektes. Außerdem ist er Visiting Fellow am Re­search Center for Nuclear Weapons Aboli­tion (recna.nagasaki-u.ac.jp/recna/en-top) an der Nagasaki University.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Atomwaffen – eine Übersicht


Atomwaffen – eine Übersicht

von Regina Hagen

Obgleich die Zahl der vorhandenen Atomwaffen sinkt (der nachfolgenden Aufstellung zufolge sind es 13.490), rüsten alle Atomwaffenstaaten auf. Vor allem Russland und die USA nehmen Sprengköpfe aus der Gefechtsbereitschaft, planen aber – wie alle Atomwaffenstaaten – die »Modernisierung« ihrer Arsenale. Je nach Land gehört zur qualitativen Aufrüstung die Indienststellung neuer Trägersysteme (Flugzeuge, ballistische Raketen, Marschflugkörper, Hyperschallraketen, U-Boote) sowie die Entwicklung und Einführung qualitativ verbesserter Sprengköpfe. Einige Staaten vergrößern außerdem ihre Vorräte an Spaltmaterial (hoch angereichertes Uran und/oder Plutonium).

Volksrepublik China

China verfügte 2019 über ca. 290 einsetzbare Atomsprengköpfe. Als Trägersysteme stehen knapp 190 landgestützte und 48 U-Boot-gestützte ballistische Raketen sowie 20 Bomber zur Verfügung. Gut ein Drittel der landgestützten Sprengköpfe sind inzwischen auf Interkontinentalraketen stationiert, die auch die USA erreichen können. Außerdem führt China zunehmend Mehrfachsprengköpfe ein, um die wachsende Zahl US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme mit höherer Wahrscheinlichkeit durchdringen zu können.

China schließt in seiner Nukleardoktrin den Ersteinsatz von Atomwaffen aus (siehe dazu Gregory Kulacki auf S. 26) und verweist auf das Prinzip der »minimalen Abschreckung«. Entsprechend sind die chinesischen Atomwaffen – anders als die der USA und Russlands – nicht »auf Knopfdruck« einsatzbereit; vielmehr werden die Sprengköpfe getrennt gelagert und müssten im Krisenfall erst zu den Trägersystemen verbracht werden. Dies gilt offenbar selbst für die Atomsprengköpfe, die für den Einsatz in U-Booten vorgehalten werden.

Frankreich

Die französische »force de frappe« hat etwa 300 Atomsprengköpfe. Die meisten sind entweder sofort oder nach kurzer Vorbereitungszeit einsatzbereit, der Rest ist jeweils in Wartung.

Frankreich pflegt hinsichtlich seiner Atomwaffen eine hohe Transparenz. So erklärte z.B. der ehemalige Präsident Hollande 2015, Frankreich hätte 300 Atomsprengköpfe, davon seien 54 luftgestützte Marschflugkörper, der Rest sei auf drei U-Booten mit jeweils 16 ballistischen Raketen stationiert. Von den vier Atom-U-Booten Frankreichs ist jeweils eines auf etwa 70-tägiger Patrouillenfahrt, eines wird für die nächste Patrouille vorbereitet, eines befindet sich auf dem Rückweg und eines ist zur Wartung im Dock. Als Trägersysteme für die Marsch­flugkörper dienen Kampfbomber des Typs Rafale, die auch für nicht-nukleare Einsätze genutzt werden.

Frankreich sieht seine Atomwaffen als Mittel zur „legitimen Selbstverteidigung unter extremen Umständen“, wäre aber auch zu einem Ersteinsatz bereit, um einen Gegner vor einem konventionellen oder nuklearen Angriff abzuschrecken.

Indien

Indien verfügt wohl über 130-140 Atomsprengköpfe, hat Plutonium für einige Dutzend mehr und plant die Inbetriebnahme von Schnellen Brütern zur beschleunigten Plutoniumproduktion. Zwei Flugzeugtypen, sechs unterschiedliche landbasierte ballistische Raketen mit Reichweiten zwischen 350 und >5.200 km, seegestützte Raketen zum Abschuss von Schiffen und U-Booten sowie ein Marschflugkörper-Modell stehen bereits zur Verfügung oder werden entwickelt bzw. getestet.

Indien verfolgt offiziell eine Nicht-­Ersteinsatz-Doktrin, allerdings ist unklar, ob das so bleibt, wenn U-Boote für Atombewaffnung einsatzbereit sind (­siehe Jens Heinrich auf S. 22).

Israel

Am schwierigsten ist die Einschätzung des israelischen Arsenals. Israel verfolgt eine strikte Politik des »Weder bestätigen, noch dementieren«. Die Existenz eines Atomwaffenprogramms wurde der Weltöffentlichkeit spätestens 1986 durch ein Interview des ehemaligen Nukleartechnikers Mordechai Vanunu in der »Sunday Times« bekannt. (Nach dem Interview wurde Vanunu vom israelischen Geheimdienst aus Italien entführt und zwei Jahre später zu 18 Jahren Haft verurteilt, die er in voller Länge absaß, größtenteils in Isolationshaft).

Vermutlich hat Israel etwa 80 Atom­spreng­köpfe. Als Trägersysteme verfügt das Land über mobile landgestützte Mittelstreckenraketen, Kampfflugzeuge des Typs F15 und F16 und vermutlich auch eine Anzahl U-Boot-gestützter Marschflugkörper.

Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea)

Nordkorea ist das einzige Land, das jemals aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag austrat und sich anschließend mit sechs zwischen 2006 und 2017 durchgeführten Atomtests zum Mitglied des »nuklearen Clubs» erklärte. Der Status des Atomwaffenprogramms ist nicht im Detail bekannt. Der letzte Test wurde mit eine Wasserstoffbombe durchgeführt und hatte mindestens die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Auch wenn unklar ist, ob Nordkorea tatsächlich über zuverlässige, einsetzbare Atomsprengköpfe verfügt, wird davon ausgegangen, dass das Land 20-30 Atomwaffen vorhält.

Als Trägersysteme setzt Nordkorea auf landgestützte ballistische Raketen. An einem U-Boot und dafür geeigneten Raketen wird gearbeitet.

Pakistan

Wie Indien hat auch Pakistan 1998 eine Reihe Atomtests durchgeführt und baut seither sein Arsenal an Atomsprengköpfen und Trägersystemen kontinuierlich aus. 2018 verfügte das Land über etwa 140-150 Atomsprengköpfe mit einer Sprengkraft zwischen 10 und 40 Kilotonnen (also bis zum Dreifachen der Hiroshima-Bombe). Die Trägersysteme – Flugzeuge, landgestützte Raketen, land- und luftgestützte Marschflugkörper und in Zukunft auch Marschflugkörper zum Einsatz von U-Booten – haben Reichweiten bis 2.200 km.

Bislang war das Arsenal eher strategisch ausgerichtet und diente zur Abschreckung vor einem nuklearen Angriff auf Pakistan. In jüngerer Zeit werden vermehrt Kurzstreckenraketen stationiert, um auch auf einen konventionellen Angriff Indiens mit Atomwaffen antworten zu können (siehe Jens Heinrich auf S. 22).

Russland

Russland besitzt mit knapp 6.500 Atomsprengköpfen das größte Arsenal der Welt. Von diesen sind etwa 1.600 für strategische Zwecke auf ballistischen Raketen und Luftwaffenbasen einsatzbereit. Ungefähr 1.070 strategische und 1.820 taktische Sprengköpfe werden in zentralen Lagern aufbewahrt; 2.000 weitere sind ausgemustert und zur Demontage vorgesehen.

Für den Einsatz steht eine Vielzahl an Trägersystemen bereit: zwanzig verschiedene ballistische Raketen und Marschflugkörper, vier Typen Kampfflugzeuge, drei unterschiedliche Atom-U-Boote. Jüngst gab Präsident Putin den erfolgreichen Test einer neuen Hyperschallrakete bekannt. Die USA werfen Russland außerdem den Besitz von Raketen mittlerer Reichweite vor und nahmen dies Anfang Februar 2018 zum Anlass, den Mittelstreckenvertrag zu kündigen. Ein neues Wettrüsten ist hier im Gang.

Vereinigtes Königreich (UK)

Die britische Regierung postuliert: Wir sind sicherer mit Atomwaffen als ohne. Dafür hält sie vier Atom-U-Boote der Vanguard-Klasse vor, die mit ballistischen Interkontinentalraketen der USA ausgerüstet sind. Von den rund 200 Atomsprengköpfen sind 120 einsatzbereit. Allerdings ist jeweils nur ein U-Boot mit acht Raketen auf Patrouille. An Bord sind dann 40 Sprengköpfe, die nach Angaben der Regierung selbst im Ernstfall erst nach einigen Tagen Vorbereitung abgeschossen werden könnten.

Vereinigte Staaten

Die USA besitzen etwa 3.800 einsetzbare Atomsprengköpfe. Davon sind 1.750 stationiert; etwa 2.050 werden in Reserve gehalten. Rund 2.000 weitere Spreng­köpfe sind ausgemustert und zur Demontage vorgesehen; Letztere können allerdings auch wieder reaktiviert werden.

Von den rund 1.750 stationierten Sprengköpfen sind etwa 400 in Silos auf Interkontinentalraketen stationiert, etwa 900 auf U-Boot-gestützten ballistischen Raketen und 300, darunter auch von Flugzeugen zu startende Marschflugkörper, auf Luftwaffenstützpunkten in den USA. 150 taktische Atombomben der USA sind im Rahmen der »nukle­aren Teilhabe« auf Fliegerhorsten in Europa stationiert. Etwa 80 weitere taktische Bomben befinden sich in einem Lager in den USA und können mit US-Kampfflugzeugen zum Einsatz gebracht werden, z.B. in Nordostasien.

Für den Einsatz der Atomsprengköpfe verfügen die USA über rund 800 ballistische Raketen und Bomberflugzeuge. Die Sprengköpfe befinden sich auf 24 Standorten in elf US-Bundesstaaten und in fünf europäischen Ländern.

Nukleare Teilhabe

Von den etwa 230 taktischen Atomsprengköpfen des Typs B61 der USA sind vermutlich 150 im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« auf sechs Fliegerhorsten in fünf NATO-Ländern stationiert: Kleine Brogel in Belgien, Büchel in Deutschland, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei. Vier der Länder halten für nukleare Missionen eigene Flugzeuge vor. Die B61-Bomben der Typen 3 und 4 fallen nach dem Ausklinken ungelenkt nach unten. Momentan wird an dem Nachfolgemodell B61-12 gearbeitet; dieses soll lenkbar sein und eine maximale Sprengkraft von 50 Kilotonnen aufweisen (das ist rund das Vierfache der Hiroshima-Bombe).

Woher die Daten kommen

Alle oben genannten Zahlen kommen aus dem »Nuclear Notebook« (thebulletin.org/nuclear-notebook). Dieses wird seit 1987 für das »Bulletin of the Atomic Scientists« (BAS) erstellt und analysiert alle zwei Monate das Arsenal eines anderen Landes. Gelegentlich widmet sich das Notebook einem speziellen Thema, z. B. dem globalen Rüstungsstand, taktischen Arsenalen oder bestimmten Zeiträumen. Bis August 2018 wurde das »Nuclear Notebook« von Hans M. Kristensen und Robert Norris recherchiert und geschrieben, seither von Hans M. Kristensen und Matt Korda. Die Autoren legen ihre Quellen in jeder Ausgabe offen und machen die Unsicherheiten ihrer Abschätzungen transparent.

Regina Hagen ist verantwortliche Redakteurin von W&F und Sprecherin der Kampagne »Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt«.

Der Sündenfall


Der Sündenfall

Atomrüstung, Wissenschaft und die Verantwortung des Einzelnen

von Franz Fujara

Welche individuelle Verantwortung und welche Gestaltungsspielräume haben Wissenschaftler*innen als Einzelpersonen? Diese immer wieder diskutierte Frage stellt sich beim Nachdenken über das größte Waffenbauprojekt der Menschheit, das »Manhattan-Projekt« zur Entwicklung der US-Atombombe. Dazu möchte ich einen Blick auf einige der wichtigsten Akteure werfen, dabei manche ihrer überlieferten Worte, ihr Tun, ihr Denken und Fühlen in Erinnerung rufen. Bei allen wird sich zeigen, wie klein ihre individuellen Einflussmöglichkeiten letztlich waren. So wie nach der Fertigstellung und erst recht nach dem Einsatz der Atombombe die Militär- und Machtlogik des Kalten Krieges jeden Bedenkenträger marginalisierte, zermalmte sie auch angebliche Systemfeinde.

Ein Großteil der mit der Entwicklung und dem Bau der Atombombe befassten Wissenschaftler*innen waren deutsche Juden, die schon sehr bald nach Hitlers Machtübernahme ihrer Universitätspositionen beraubt wurden und sodann ins Exil flüchteten, um ihr Leben zu retten. Dazu kamen viele weitere Personen aus später von Nazideutschland beherrschten Ländern. Es handelte sich bei diesen Vertriebenen um die absolute naturwissenschaftliche Elite, die in ihrer Mehrheit gerade auf den jungen Forschungsgebieten der Quantenphysik und damit der Atom- und Kernphysik tätig waren – denken wir nur an Namen wie Hans Bethe, Niels Bohr, Max Born, Albert Einstein, Enrico Fermi, James Franck, Otto Frisch, Klaus Fuchs, Samuel Goudsmit, Lise Meitner, Josef Peierls, Josef Rotblat, Leo Szilard, Edward Teller, Viktor Weisskopf, Eugen Paul Wigner und viele andere mehr. Sie retteten sich in ihrer Mehrheit in die USA, einige auch nach Großbritannien und in andere Länder.

Die Geschichte der Atombombe begann mit der Entdeckung der Atomkernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann im Dezember 1938 in Berlin. Die physikalische Erklärung ihres experimentellen Befundes lieferte wenige Wochen später die kurz zuvor ins schwedische Exil geflüchtete Lise Meitner, gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch. In diesem Forschungsstadium sind es ohne Zweifel Individuen, denen eine solche Entdeckung zuzuschreiben ist und die sie deshalb auch zu verantworten haben. Allerdings stellt sich bereits hier die Frage, wie weit die persönliche Verantwortung geht. Ich erinnere daran, dass Hahn am 6. August 1945 während der Internierung der deutschen Atomwissenschaftler in Farm Hall von der BBC-Meldung über den Abwurf der Atombombe über Hiroshima „wie vernichtet“ gewesen sei. Er sagte, „er persönlich fühle sich verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden, weil es seine Entdeckung gewesen sei, die die Atombombe möglich gemacht habe“, und „dass er sich, als er die schreckliche Tragweite seiner Entdeckung erkannt habe, ursprünglich mit Selbstmordgedanken getragen habe und daß jetzt, wo die Möglichkeit Wirklichkeit geworden sei, ihn die volle Schuld treffe“ (Hoffmann 1993, S. 146).

Nach der im Januar 1939 erfolgten Publikation von Hahns Entdeckung waren sich alle mit der Kernphysik auch nur halbwegs vertrauten Physiker*innen der Möglichkeit bewusst, dass man die Kernspaltung grundsätzlich auch als Kettenreaktion realisieren und damit eine energieerzeugende Maschine oder gar eine Bombe von ungeheuer großer Sprengkraft bauen könnte. Für viele Physiker*innen war das ein wissenschaftliches Faszinosum, andere erkannten rasch die darin steckende große Gefahr für die Menschheit. Zu diesen gehörte Albert Einstein. Zusammen mit Léo Szilárd erarbeitete er einen Brief, den er bereits im August 1939 an Präsident Roosevelt schickte. Darin wies er darauf hin, dass es Hitlerdeutschland gelingen könne, eine Atombombe zu entwickeln, um damit die restliche Welt zu erpressen, und er riet dem Präsidenten, mit einem eigenen Entwicklungsprogramm den Deutschen zuvorzukommen. Einstein unterstrich seine Warnung ein halbes Jahr später in einem zweiten dringlichen Brief. Daraufhin setzte Roosevelt eine Kommission ein, aus der später das gigantische Manhattan-Projekt wurde.

Wir sehen, dass es der Pazifist Albert Einstein war, der den Anstoß für das Atombombenprogramm der USA gab, auch wenn er sich selbst nicht daran beteiligte – er galt dem FBI als ein Sicherheitsrisiko und war somit von dem konkreten Projekt ausgeschlossen. Einstein kommentierte sein Tun 1953 in einem Brief an den japanischen Philosphen Seiei Shinohara: „Ich glaubte, dass man unbedingt vermeiden musste, dass die Deutschen unter Hitler allein diese Waffe besitzen könnten. Das war nämlich zu jener Zeit zu befürchten. (zitiert nach Nathan und Norden 1975, S. 584) Der Zeitschrift »Newsweek« bekannte er 1947: „Wenn ich gewusst hätte, dass es den Deutschen nicht gelingen würde, hätte ich mich von allem ferngehalten. (zitiert nach Vallentin 1955, S. 262) Zum Einsatz der Atombombe schrieb er 1953: Den Gebrauch der Atombombe gegen Japan habe ich stets verurteilt, konnte aber gar nichts tun, um den verhängnisvollen Entschluss zu verhindern. (zitiert nach Nathan und Norden 1975, S. 584) Und 1955, kurz vor seinem Tod, sagte er in einem Brief an den US-Wissenschaftler und späteren Friedensnobelpreisträger Linus Pauling: Ich denke, ich habe einen Fehler in meinem Leben gemacht, jenen Brief unterschrieben zu haben. (zitiert nach Brian 1996, S. 420) Auch bei Einstein steht also die Frage der individuellen Verantwortung im Raum.

Der »Vater der Atombombe«

Das Manhattan-Projekt wurde ab 1942 mit größter Intensität unter der wissenschaftlichen Leitung von Robert Oppenheimer durchgeführt. Er war auf der wissenschaftlich-technischen Ebene mit der Fertigstellung der Bombe und dem erfolgreichen »Trinity«-Test am 16. Juli 1945 in Alamogordo (New Mexico) überaus erfolgreich. Danach war er persönlich an dem finalen Beschluss, die Bombe über Japan abzuwerfen, beteiligt. Zweifel trug er zwar in sich, aber er »funktionierte«. Wenn, was jedoch bezweifelt werden muss, überhaupt ein Wissenschaftler jemals die Chance gehabt hätte, durch sein Votum den Einsatz der Bombe zu verhindern, dann wäre er, Oppenheimer, es gewesen. So wurde ihm nach dem Abwurf klar, dass sein Mittun bei dieser Entscheidung die Tragödie seines Lebens war. Oppenheimers Verweis auf den „Sündenfall“ der Physiker1 exemplifiziert diesen »Oppenheimer-Schuldkomplex«. Oppenheimer mutierte nach Kriegsende einerseits als »Vater der Atombombe« zum Superstar, bemühte sich aber andererseits ebenso lange wie vergebens, auf der politischen Ebene als Mahner und Warner Einfluss zu nehmen. Dies führte später, in der McCarthy-Ära, dazu, dass er als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde, seine »Q-Clearance« verlor und ins Abseits gestellt wurde. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

Das Verhalten anderer führender Wissenschaftler

Andere beteiligte Wissenschaftler*innen zogen aus der Hiroshima-Erfahrung recht unterschiedliche Konsequenzen; zwei seien hier kurz genannt: James Franck versuchte gemeinsam mit einer Handvoll weiterer prominenter Mitstreiter in einem Aufruf, dem sogenannten Franck-Report, die US-Regierung dazu zu bewegen, auf den Bombeneinsatz über Japan zu verzichten und der Weltöffentlichkeit die Zerstörungskraft der Bombe über unbewohntem Gebiet zu demons­trieren. Er wurde nicht gehört.

Léo Szilárd, der schon nach dem Alamogordo-Test entschieden den Kriegseinsatz der Bombe ablehnte, dessen Petition Präsident Truman aber nicht erreichte, verließ die physikalische Grundlagenforschung ganz.

Diese (und viele andere) Wissenschaftler fanden kein Gehör. Das System hatte sich inzwischen verselbstständigt. Das »Gadget« (Gerät) war zur Waffe geworden, über die jetzt andere bestimmten: die Militärs, in Los Alamos vertreten durch General Groves, ebenso die Falken in Washington.

Der jüdisch-polnische Physiker Józef Rotblat, der sich mit einem Forschungsstipendium kurz vor Kriegsbeginn nach Großbritannien begeben und sich dadurch gerettet hatte, wirkte zuerst dort, ab 1943 in Los Alamos bei der Atombombenentwicklung mit. Er war der einzige aus dem engeren Kreis der beteiligten Wissenschaftler*innen, der im Herbst 1944, als klar wurde, dass Deutschland während des Krieges nicht zu einer eigenen Bombe gelangen würde, seine persönliche Konsequenz aus diesem Umstand zog und seine Tätigkeit für das Atombombenprojekt beendete. Zeit seines Lebens blieb er ein unermüdlicher Kämpfer für die nukleare Abrüstung und die Ächtung von Atomwaffen. Der ihm (und den von ihm mitbegründeten Pugwash Conferences on Science and World Affairs) im Jahre 1995 verliehene Friedensnobelpreis ehrte eine Persönlichkeit, die alles tat, was man als Individuum leisten kann. Aber warum wurde das Projekt über den Herbst 1944 hinaus überhaupt fortgesetzt? Rotblat selbst berichtete später, General Groves habe ihm gegenüber bereits im Frühjahr 1944, also lange vor Fertigstellung der Bombe, gesagt, ihm sei immer schon klar gewesen, dass das Projekt sich in erster Linie gegen die Sowjetunion richte (Rotblat 1996, S. 132).

Die Position von Niels Bohr, einem der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, sollte hier unbedingt erwähnt werden: Bohr sprach sich schon früh, etwa ein Jahr vor der Fertigstellung der Bombe, für eine Politik der Offenheit aus.2 Er schlug vor, die sowjetische Führung über das Manhattan-Projekt zu informieren, der Sowjetunion eine Teilhabe an der Atomenergienutzung einzuräumen und gemeinsam mit ihr ein internationales Kontrollsystem aufzubauen. Oppenheimer, mit dem Bohr ab Dezember 1943 während seines mehrmonatigen Aufenthalts in Los Alamos in engem Kontakt stand, sympathisierte zwar mit Bohrs Position, konnte sich aber nicht zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen durchringen. Bohr setzte sich mit seiner Sicht während des Krieges auch bei den politischen Entscheidungsträgern nicht durch. Die von ihm vorgeschlagene »Offenheit« wurde von Truman lediglich insoweit umgesetzt, als er bei der Potsdamer Konferenz in Kenntnis des gerade erfolgreich verlaufenen »Trinity«-Tests Stalin beiläufig mitteilte, die USA verfügten jetzt über ein neues Kampfmittel von außergewöhnlicher Zerstörungskraft. Stalin nahm dies mit demonstrativem Desinteresse zur Kenntnis.

Nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki wurden Bohrs Ideen zwar im »Acheson-Lilienthal Report« (1946) und danach von der Federation of American Scientists wieder aufgegriffen, aber es war zu spät, denn die Weichen waren bereits auf Kalten Krieg und damit auf die atomare Rüstungsspirale gestellt. Kein Wunder, dass andere, wie Klaus Fuchs, eine Politik der Offenheit auf eine radikalere Weise verfolgten: Als Spione gaben sie ihr Wissen an die Sowjetunion weiter. Es ist eine schwierig zu beantwortende Frage, wie man Spionage in einem Bereich, in dem Offenheit als einziges Mittel zum Überleben der Menschheit angesehen werden muss, werten soll. Der betroffene Staat sieht in dem Spion gewiss einen Hochverräter. Aber sollte man ihm, aus einem übergeordneten Blickwinkel betrachtet, nicht eher einen Friedenspreis verleihen?

Das tödliche Paradigma des Atomzeitalters

Mit den Atombombenabwürfen begann eine Ära, die zu Recht als »Atomzeitalter« bezeichnet wird. Sie wird durch das im Grunde unfassbare Paradigma charakterisiert, dass die Menschheit erstmals in der Lage ist, sich selbst weitgehend zu vernichten. Wir wissen, dass wir diesem Punkt während des Kalten Krieges mehrmals – teilweise durch ungewollte Zufälle3 – sehr nahe waren. Wird umgekehrt zuweilen argumentiert, der Frieden in Europa sei vor allem dem nuklearen Patt zwischen den Supermächten zu verdanken, so ist diese Haltung äußerst zynisch. Dieses Gleichgewicht des Schreckens – man sollte besser von einer Gratwanderung des Schreckens sprechen, und auf dem Grat ist ein Gleichgewicht allenfalls labil – beruht doch gerade darauf, dass jeder Antipode glaubhaft macht, er würde im Ernstfall wirklich von der Bombe Gebrauch machen und den »Doomsday« einleiten.4

Mit der expliziten Bereitschaft, zur Verteidigung des Humanismus und aller ihn prägenden Werte eben diesen notfalls zu opfern, befinden wir uns in der denkbar schlimmsten logischen, philosophischen und ethischen Falle.

Der individuelle Umgang mit der Sünde

Aber es nützt nichts, sich lediglich zu empören, denn jeder Schrei der Empörung würde durch den nuklearen Knall weit übertönt. Vielmehr muss gegen die zynische Rationalität der nuklearen Abschreckungsdoktrin mit allen Mitteln gehandelt werden, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller ­Ebene. Dass dies möglich ist, soll hier am Beispiel einiger vorbildlich handelnden Personen aufgezeigt werden. Zunächst ist da der bereits erwähnte Albert Einstein, der nur einer Weltregierung zutraute, die Menschheit vor dem nuklearen Inferno zu bewahren. Dann auch Józef Rotblat, der nach Hiroshima sein weiteres Leben in den Dienst der nuklearen Abrüstung stellte. Wir denken vielleicht auch an die »Göttinger Achtzehn«, die deutschen Physiker, unter ihnen viele frühere Mitglieder des Uranvereins aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die im Jahre 1957 jeglicher Mitarbeit an einer damals von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und Bundeskanzler Konrad Adenauer angedachten bundesdeutschen Atomwaffenentwicklung öffentlich ihre Absage erteilten. Und natürlich soll der ehemalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow genannt werden, dem unzweifelhaft die Initiative bei den großen nuklearen Abrüstungsschritten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zuzuschreiben ist.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und diejenigen miteinbeziehen, die zwar keine großen politischen Handlungsspielräume haben, sich aber mit ihren Möglichkeiten und unter Inkaufnahme schwerster persönlicher Konsequenzen für ein Öffentlichmachen militärischer Geheimnisse einsetzen: die Whistleblower. In diesem Sinne agierte Mordechai Vanunu im Jahre 1986, als er der Weltöffentlichkeit enthüllte, dass Israel die Atombombe besitzt.

Eine weithin in Vergessenheit geratene Seite des Atombombenprojekts

Die Geschichte des Manhattan-Projekts und der Bombe hat noch einen anderen Aspekt, der mit einem heute weitgehend vergessenen Justizmord verbunden ist: Am 19. Juni 1953, also mitten in der McCarthy-Ära, wurden Ethel und Julius Rosenberg, Kommunisten aus der Lower East Side von New York, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, weil sie Atomspione und somit Hochverräter seien. Jean-Paul Sartre schrieb kurz darauf von „legaler Lynchjustiz“ eines Amerikas, welches sich in einem Zustand der „Tollwut“ befinde (Sartre 1953).

Anmerkungen

1) Dieses Wort wurde von Robert Oppenheimer in einem Vortrag am MIT am 25. November 1947 (Thema: Physics in the Contemporary World) im Zusammenhang mit dem Einsatz der Atombombe über Japan benutzt. Im englischsprachigen Original: „In some sort of crude sense which no vulgarity, no humor, no overstatement can quite extinguish, the physicists have known sin; and this is a knowledge which they cannot lose.” (zitiert nach L. Badash 1995, S. 57)

2) Bohr war der Auffassung, die in der Wissenschaft unabdingbare Offenheit solle auch im Bereich der internationalen Beziehungen gepflegt werden, insbesondere wenn es um für die Menschheit überlebenswichtige Sicherheitsfragen geht.

3) Siehe dazu »Atomkrieg – aus Versehen?« von Karl Hans Bläsius auf S. 9 dieser W&F-Ausgabe.

4) Mehr zur Abschreckung in »Mythos Abschreckung« von Ute Finckh-Krämer auf S. 31 dieser W&F-Ausgabe.

Literatur

L. Badash (1995): Scientists and the Development of Nuclear Weapons from Fission to the Limited Test Ban Treaty, 1939-1963. Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press.

Bird, K.; Sherwin, M.J. (2009): J. Robert Oppenheimer – Die Biographie. Berlin: Propyläen.

Brian, D. (1996): Einstein – A Life. New York: John Wiley & Sons.

Hoffmann, D. (Hrsg.) (1993): Operation Epsilon – Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Nathan, O.; Norden, H. (Hrsg.) (1975): Albert Einstein über den Frieden – Weltordnung oder Weltuntergang. Bern: Herbert Lang.
Brief Einsteins an Seiei Shinohara vom 23.6.1953

Rotblat, J. (1996): Eine atomwaffenfreie Welt – Eine Phantasievorstellung oder Wirklichkeit? In: Albrecht, U.; Beisiegel, U.; Braun, R.; Buckel, W. (Hrsg.): Der Griff nach dem atomaren Feuer. Peter Lang Verlag, S. 127-145.

Sartre, J.P. (1953): Liberation, 22.6.1953. Zitiert nach: König, T.; Hoß, D. (Hrsg.) (1982): Jean-Paul Sartre, Krieg im Frieden 2 – Reden, Polemiken, Stellungsnahmen 1952-1956. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 166-170

Vallentin, A. (1955): Das Drama Albert Einsteins. Stuttgart: Günther-Verlag

Prof. Dr. Franz Fujara ist pensionierter Physik-Hochschullehrer an der TU Darmstadt. Er forschte auf dem Gebiet der Festkörperphysik (Neutronenstreuung, Kernspinresonanz) und war zudem viele Jahre Sprecher der IANUS-Gruppe. Dort begleitete er u.a. die Erforschung von Möglich­keiten des Verzichts auf hoch angereichertes, atomwaffenfähiges Uran in der zivilen Neutronenphysik.

Atomkrieg – aus Versehen?


Atomkrieg – aus Versehen?

von Karl Hans Bläsius

Das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen geht vor allem von Frühwarnsystemen aus, die der Vorhersage und Bewertung von möglichen Angriffen durch Atomraketen dienen. Dabei kann es zu Fehlalarmen kommen, die besonders dann gefährlich sind, wenn eine politische Krise vorliegt oder wenn in zeitlichem Zusammenhang weitere relevante Ereignisse eintreten. Die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen wird in Zukunft deutlich steigen. Zu den Gründen gehören: Klimawandel, zunehmende Cyberangriffe, unkalkulierbare automatische Entscheidungen, immer mehr Atommächte, neues Wettrüsten, kürzere Vorwarnzeiten.

Frühwarnsysteme basieren auf Sensoren, sehr komplexen Computersystemen und Netzwerken. Sie sollen die Vorhersage und Bewertung von möglichen Angriffen durch (Atom-) Raketen ermöglichen. Dabei kann es zu Fehlalarmen kommen, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können (z.B. Hardware-, Software-, Bedienungsfehler oder die falsche Bewertung von Sensorsignalen). In Friedenszeiten und Phasen politischer Entspannung sind die Risiken sehr gering, dass die Bewertung einer Alarmmeldung zu einem atomaren Angriff führt. In solchen Fällen wird im Zweifel ein Fehlalarm angenommen.

Dies kann sich drastisch ändern, wenn eine politische Krise besteht, eventuell mit gegenseitigen Drohungen, oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem (Fehl-) Alarm weitere sicherheitsrelevante Ereignisse eintreten. Dann werden bei der Bewertung des Alarms Ursachen gesucht, d.h. es wird versucht, kausale Zusammenhänge zu finden. Werden solche gefunden und sind sie logisch plausibel, besteht die große Gefahr, dass die Alarmmeldung als gültig angenommen wird, auch wenn es um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen unabhängiger Ereignisse geht.

Die Risiken können durch Alarmierungsketten verschärft werden: Als Folge einer Alarmmeldung eines Frühwarnsystems können Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt werden. Solche Aktivitäten werden vom Gegner erkannt und können in Konfliktsituationen auch dort zu erhöhter Alarmbereitschaft führen. Dies hat wieder Rückwirkungen auf die eigene Beurteilung der Lage. In Krisen mit gegenseitigen Drohungen und Ereignissen, die als feindselige Aktivitäten eingestuft werden, kann so im Falle eines Fehlalarms innerhalb von Minuten eine Kettenreaktion mit immer höheren Alarmstufen in Gang gesetzt werden, die außer Kontrolle gerät.

Der Bericht »Computergestützte Frühwarn- und Entscheidungssysteme« (Bläsius und Siekmann 2019) enthält einige Beispiele für Fehlalarme sowie detailliertere Darstellungen, einschließlich Quellenangaben, zu weiteren Aspekten, die nachfolgend beschrieben werden.

Informationen über Alarmmeldungen sind nur teilweise verfügbar

In der Vergangenheit sind viele Fehlalarme bekannt geworden, die zu gefährlichen Situationen führten. Es werden aber nicht alle kritischen Vorkommnisse bekannt, denn falsche Alarmmeldungen über Raketenangriffe unterliegen der Geheimhaltung und werden in der Regel nicht veröffentlicht. Zu Beginn der 1980er Jahre gab es verschiedene Presseberichte über Fehlalarme und gefährliche Situationen. Als Folge leitete der Senat der USA eine Untersuchung ein, deren Ergebnis veröffentlicht wurde. Für den begrenzten Zeitraum von 1979 bis 1980 gibt es deshalb Erkenntnisse über alle kritischen Vorfälle im US-Frühwarnsystem. Andere Vorfälle wurden durch Äußerungen von Beteiligten teilweise erst Jahrzehnte später bekannt. Demgemäß sind Statistiken zu Fehlalarmen und gefährlichen Situationen in bestimmten Zeiträumen für eine Beurteilung der aktuellen Gefahrenlage nicht relevant. Es kann auch nicht angenommen werden, dass Fehler in den Frühwarnsystemen Chinas, Indiens oder Pakistans bei uns bekannt werden.

Seltene Fehler sind besonders gefährlich

Fehler können in einem komplexen System nie ausgeschlossen und sowohl durch Menschen als auch durch Computer oder andere Systemkomponenten verursacht werden. Bei komplexen Anwendungen ist es technisch nicht möglich, eine fehlerfreie Software zu erzeugen. Selbst wenn eine Software mit Techniken der Programmverifikation als fehlerfrei beurteilt wird, sind solche Beweise nur auf Basis einer formalen Spezifikation möglich, die aber selbst wieder Fehler enthalten kann. Ein wichtiges Mittel zur Fehlerreduzierung bei der Softwareentwicklung ist daher Testen, dies ist aber bei einem Frühwarnsystem unter realen Bedingungen kaum möglich.

Fehler, die durch unklare Sensordaten verursacht werden, sind in der Vergangenheit häufig aufgetreten und werden zumindest in Friedenszeiten kaum zu einer falschen Beurteilung führen. Seltene oder ungewöhnliche Fehler sind dagegen deutlich schwerer zu bewerten und damit sehr viel gefährlicher. Selbst wenn es gelingt, Frühwarnsysteme so zu verbessern, dass Fehlalarme nur noch sehr selten auftreten, wird damit die Sicherheit also nicht unbedingt erhöht. Die nur noch selten vorkommenden Alarmmeldungen sind dann ungewöhnlich und schwer interpretierbar und werden potentiell als ernst, also als gültig angenommen. Dies gilt insbesondere in Krisensituationen oder wenn es zeitnah weitere Ereignisse gibt, die damit in Zusammenhang gesetzt werden können.

Das Atomkriegsrisiko wird deutlich steigen

Das Atomkriegsrisiko wird derzeit sehr hoch eingeschätzt, was auch durch die »Atomkriegsuhr« (Doomsday Clock) zum Ausdruck gebracht wird. Seit 1947 wird diese Uhr von Atomwissenschaftler*innen und anderen Expert*innen gestellt, um die Öffentlichkeit auf das aktuelle Risiko eines Atomkriegs hinzuweisen. Derzeit steht sie bei nicht einmal mehr zwei Minuten vor zwölf. Die nachfolgend beschriebenen Aspekte werden die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen in Zukunft deutlich erhöhen.

Klimawandel

Der Klimawandel wird vermutlich dazu führen, dass verschiedene Regionen der Erde unbewohnbar werden. Der verfügbare Lebensraum wird kleiner werden, wichtige Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser, knapper. Dadurch wird es in Zukunft häufiger politische Krisen und im schlimmsten Fall sogar kriegerische Konflikte geben. Als Folge werden Raketenangriffsmeldungen in Frühwarnsystemen deutlich ernster genommen. Das erhöhte Risiko eines Atomkriegs durch den Klimawandel wird seit 2007 auch bei der Atomkriegsuhr berücksichtigt.

Cyberattacken

Cyberattacken können gefährliche und unkalkulierbare Wechselwirkungen mit Frühwarnsystemen sowie den Atomstreitkräften erzeugen und damit das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen erheblich erhöhen. Über mögliche Abläufe von Cyberkriegen gibt es bisher wenig Wissen. Cyberangriffe gelten als verdeckte Operationen; Krieg und Frieden sind hierbei nicht klar getrennt, können eventuell nicht unterschieden werden. Ein Cyberkrieg ist vermutlich schwer kontrollierbar. Es wird auch schwer sein, einen Cyberkrieg auf einzelne Staaten zu begrenzen. Hackergruppen, die von ihren Staaten nicht kontrollierbar sind, könnten sich einmischen. Die Quelle eines Cyberangriffs kann häufig nicht festgestellt werden. Ein Angriff kann zwar Hinweise auf den Urheber liefern, allerdings können das auch bewusst falsch gelegte Fährten sein. Es droht eine Verstärkung gegenseitiger Angriffe, die in eine Eskalationsspirale münden und von keiner Seite mehr kontrolliert werden können.

Die Folgen eines schwerwiegenden Cyberangriffs sind nicht absehbar. Neue Militärstrategien schließen möglicherweise eine Antwort mit atomaren Waffen nicht aus. Auch wenn die Hoffnung besteht, dass eine solche Reaktion im Normalfall nicht erfolgt, ändert sich die Lage, wenn es in zeitlichem Zusammenhang zu einem Fehlalarm in einem Frühwarnsystem kommt. Eine solche »flexible« Militärstrategie erhöht aber auch das Risiko einer falschen Bewertung einer Alarmmeldung bei einem potentiellen Gegner. Denn falls dort zeitnah eine Raketenmeldung eingeht, könnte dies als Antwort auf den Cyberangriff gedeutet werden.

Cyberangriffe könnten auch direkt gegen Frühwarnsysteme gerichtet sein und dabei Teilkomponenten lahmlegen, die Kommunikation stören, Informationen abgreifen oder bestimmte Signale senden. Es könnten falsche Daten an ein Frühwarnsystem übermittelt, gegnerische Atomraketen unschädlich gemacht oder die Kontrolle darüber erlangt werden (siehe Austin und Sharikov 2016 sowie Sharikov 2018).

Neues Wettrüsten

Das Ende des INF-Vertrages führt bereits jetzt zu einem neuen Wettrüsten. Neben der höheren Treffsicherheit der Raketen und Sprengköpfe neuen Typs und der kürzeren Vorwarnzeiten beim Einsatz von Mittelstreckenraketen sind kleinere Atomwaffen ein wichtiger Faktor, da diese als »einsetzbarer« gelten. Eine niedrigere Einsatzschwelle erhöht aber auch die Gefahr, dass eine Alarmmeldung als gültig angenommen wird, denn der Einsatz von Atomwaffen wird ja wahrscheinlicher. Damit steigt auch das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen.

Völlig unkalkulierbar sind die Auswirkungen der geplanten Bewaffnung des Weltraums sowie die Entwicklung von Hyperschallwaffen, die offenbar schwer zu lokalisieren sind und die Vorwarnzeiten extrem verkürzen werden. Die Komplexität von Warnmeldungen wird dadurch drastisch steigen, wobei es kaum möglich sein wird, die Zuverlässigkeit der Frühwarnsysteme bezüglich dieser neuen Waffensysteme zu testen.

Automatische Entscheidungen

Die Anzahl und Vielfalt von Objekten im Luft- und Weltraum werden weiter steigen (z.B. Drohnen, Satelliten, Hyperschallraketen). Die Bewertung von Sensorsignalen wird damit schwieriger, und es werden immer mehr Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) erforderlich sein, um für gewisse Teilaufgaben Entscheidungen automatisch zu treffen. Auch die Weiterentwicklung der Waffensysteme mit höherer Treffsicherheit und kürzeren Flugzeiten wird zunehmend Techniken der Künstlichen Intelligenz erforderlich machen. Es gibt bereits Forderungen, im Zusammenhang mit Frühwarnsystemen autonome KI-Systeme zu entwickeln, da für menschliche Entscheidungen gar keine Zeit bleibt.

Ein Testen solcher Systeme unter realen Bedingungen ist aber kaum möglich. Auch wird es im Vergleich zu anderen KI-Anwendungen (z.B. autonomes Fahren) deutlich weniger »Lerndaten« geben, um die nötigen Erkennungskriterien zu erzeugen. Dies kann zu unvorhersehbaren Effekten führen, die eventuell von Menschen nicht bewertet und kontrolliert werden können. In der kurzen verfügbaren Zeit zwischen einem Alarm und dem Befehl, Atomwaffen einzusetzen, wird es in der Regel auch nicht möglich sein, Entscheidungen der Maschine zu überprüfen. Dem Menschen bleibt nur zu glauben, was die Maschine liefert.

Viele Atommächte

Inzwischen gibt es neun Atommächte. Nicht nur die USA und Russland verfügen über Frühwarnsysteme, sondern auch Länder wie China bauen solche auf. Auch in diesen Frühwarnsystemen kann es zu Fehlern und falschen Entscheidungen mit fatalen globalen Folgen kommen. Auch ein begrenzter nuklearer Schlagabtausch, z.B. zwischen Indien und Pakistan, kann zu einem nuklearen Winter mit gravierenden Folgen für die gesamte Menschheit führen (siehe dazu den Artikel von Jürgen Scheffran in diesem Heft).

Vorhersage-Anpassungs-Zyklen

In seinem Buch »Homo Deus« (2016; dt. Ausgabe 2017) beschreibt Yuval Noah Harari (ab S. 96), dass mithilfe von »Big Data« und »Künstlicher Intelligenz« immer bessere Vorhersagen über künftige Veränderungen möglich sind. Dieses Wissen wird jedoch unmittelbar für Anpassungen genutzt, sodass die vorhergesagten Veränderungen so nicht eintreten. Die Zyklen zwischen Vorhersage und Anpassung laufen immer schneller ab, sodass es immer schwerer wird, die Gegenwart sinnvoll zu deuten und die Zukunft zu planen. Es ist äußerst fraglich, ob ein Waffensystem, das die Menschheit als Ganzes bedroht, bei immer schnelleren Veränderungen in unseren Gesellschaftssystemen kontrolliert werden kann.

Nicht vorhersehbar – plötzliches Ereignis

Ein »Atomkrieg aus Versehen« ist nicht direkt vorhersehbar. Wie bei sonstigen Unfällen in technischen Systemen gibt es keine Vorwarnung. Wie ein »normaler Unfall« kann ein Atomkrieg aus Versehen plötzlich innerhalb weniger Minuten ausbrechen. Danach ist keine Korrektur mehr möglich. Bei normalen Unfällen werden hinterher oft Maßnahmen getroffen, um solche Risiken in Zukunft zu vermeiden. Nach einem atomaren Schlagabtausch wird es eine solche Zukunft kaum noch geben. Beim Atomkriegsrisiko können wir mit Maßnahmen zur Reduzierung dieses Risikos nicht warten, bis es zu einem ersten »Unfall« in Form eines »Atomkriegs aus Versehen« gekommen ist.

Literatur

Austin, G.; Sharikov, P. (2016): Pre-emption is victory – aggravated nuclear instability of the information age. The Nonproliferation Review, Vol. 23, Nr. 5-6, S. 691-704.

Bläsius, K.H.; Siekmann, J. (2019): Computergestützte Frühwarn- und Entscheidungssysteme. Eigenpublikation, 36 S.; fwes.info/fwes-19-3.pdf.

Bulletin of the Atomic Scientists (2020): The Doomsday Clock; thebulletin.org/doomsday-clock.

Harari, N.H. (2017): Homo Deus – Eine kurze Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck.

Sharikov, P. (2018): Artificial intelligence, cyberattack, and nuclear weapons – A dangerous combination. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 74, Nr. 6, S. 368-373.

Karl Hans Bläsius ist Professor im Bereich Informatik, Künstliche Intelligenz, an der Hochschule Trier.

Atomwaffen, Umwelt und Klima


Atomwaffen, Umwelt und Klima

Grenzen des fossil-nuklearen Zeitalters

von Jürgen Scheffran

Rüstung, Militär und Krieg haben immer schon die natürliche Umwelt belastet. Mit dem Einsatz von Atombomben durch die USA gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 erreichte die Vernichtung von Mensch und Natur ein neues Ausmaß. Durch die kombinierte Wirkung von Hitze, Druck und Strahlung wurden nicht nur Hunderttausende Menschen dahingerafft, sondern auch die lokale Flora und Fauna; Land, Wasser und Atmosphäre wurden für Jahre radioaktiv verseucht. Von den weltweit mehr als 60.000 Atomwaffen zum Ende des Kalten Krieges gibt es 30 Jahre später immer noch nahezu 14.000. Hinzu kommt das Nuklearmaterial aus abgerüsteten Waffen, mehr als genug, um das Leben auf der Erde auszulöschen.

Im gesamten Lebenszyklus (oder besser Todeszyklus) der Atomwaffenentwicklung entstehen radioaktive Isotope, mit Halbwertszeiten von Sekundenbruchteilen bis zu Jahrmillionen. Während schnelllebige Stoffe ihre Umweltwirkung nur kurze Zeit entfalten, müssen langlebige Stoffe dauerhaft von der Umwelt abgeschottet werden, was kaum sicher möglich ist. Dies gilt insbesondere für Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von 24.110 Jahren und Plutonium-244 mit 80 Mio. Jahren. Solche Zeiträume gehen über die bisherige Menschheitsgeschichte weit hinaus. Das gesamte Strahlungsinventar ist schwer abzuschätzen, könnte aber nach manchen Angaben bei mehreren Hundert Billionen radioaktiven Zerfällen pro Sekunde (Becquerel) liegen. Auch langfristige Schäden durch die Strahlen­exposition für Umwelt und Gesundheit kommender Generationen können kaum eingeschätzt werden, insbesondere hinsichtlich Krebs und genetischer Schäden.

Umweltrisiken der nuklearen Brennstoffspirale

Der Nuklearkomplex (zivil wie militärisch) hat vielfältige Umweltbelastungen im gesamten Erdsystem erzeugt und Tausende Quadratkilometer Böden, Flüsse, Seen und Ozeane sowie die Atmosphäre und Biosphäre radioaktiv kontaminiert. Nukleare Spaltprodukte gelangen über Atemluft, Wasser und Nahrung in die Körper aller Organismen und strahlen in den Körperzellen weiter. Besonders exponierte Nahrungsmittel sind Fische, Pilze und Milch. Alleine in den USA soll es durch mit Jod-131 belastete Milch zwischen 10.000 und 75.000 zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs geben.

Alle Komponenten der nuklearen Brennstoffspirale, von Uranminen über Urananreicherung, Reaktoren und Atomwaffen bis zur (End-) Lagerung, belasten Umwelt und Gesundheit. Besonders gravierend sind die Auswirkungen des Abbaus von Uranerz, der radioaktive und toxische Schlämme und Halden hinterlässt, weltweit mit einem Abraum von bislang mehr als zwei Mrd. Tonnen. Radioaktive Stoffe gelangen über Luft, Wasser und Böden in die Nahrungskette. Das Edelgas Radon erhöht das Lungenkrebsrisiko. Ein Teil des abgereicherten Urans wird vom US-Militär in panzerbrechender Munition verwendet; damit wird u.a. das Golfkriegssyndrom in Zusammenhang gebracht.

Viele Uranminen liegen in Gebieten indigener Völker, auf deren Interessen wenig Rücksicht genommen wurde und wird. Stark verschmutzte Gebiete liegen auch in Sachsen und Thüringen, von wo in DDR-Zeiten das sowjetische Atomwaffenprogramm beliefert wurde. Bis 1990 wurden in den Minen der Wismut-AG 231.000 Tonnen Uran gewonnen. Auf einer Fläche von etwa 3.700 Hektar verblieben 48 giftige und radioaktive Halden mit über 300 Mio. Kubikmetern Gesteinsresten und weitere 160 Mio. Kubikmeter Schlämme aus der Uranaufbereitung. Infolge des Uranabbaus starben hier geschätzt rund 15.000 Menschen durch Staublunge und 8.000 durch Krebs. Die Kosten der noch nicht abgeschlossenen Sanierung liegen bei mindestens acht Milliarden Euro.

Atomwaffentests und -produktion

Im nuklearen Wettrüsten des Kalten Krieges wurden mehr als 2.000 Atomwaffen getestet. Das dabei freigesetzte Plutonium und andere radioaktive Stoffe zirkulieren bis heute weltweit. Testgebiete, wie das Bikini-Atoll, wurden für indigene Völker unbewohnbar. Als Folge oberirdischer Atomwaffentests wurde bis zum Jahr 2000 mit 86.000 Missgeburten und 430.000 tödlichen Krebsfällen gerechnet; manche Studien setzen die Zahlen noch deutlich höher an. Hinzu kommen die Auswirkungen unterirdischer Tests. Zunächst wurde angenommen, dass die Wanderung von Isotopen im Boden Jahrhunderte braucht, um den Grundwasserspiegel zu erreichen. Verfügbare Daten zeigen, dass dies schneller geschieht (in Jahrzehnten) und die Radioaktivität teilweise bereits das Grundwasser erreicht hat. Dies lässt für die Zukunft wieder höhere Atomtestfolgen erwarten.

Auch Menschen, die weit entfernt von Atomwaffentest- und -produktionsgebieten leben, sind über Umweltprozesse von den Risiken betroffen. Oftmals liegen Atomwaffenanlagen in der Nähe von Gewässern und landwirtschaftlichen Nutzflächen und beeinflussen die Trinkwasser- und Nahrungsmittelversorgung. Das Nuklearmaterial diffundiert durch die Umwelt und konzentriert sich an bestimmten Orten. So sind in der Nähe des Nuklearkomplexes Sellafield in England Land- und Meeresgebiete stark radioaktiv kontaminiert. Die Meere vor Russland wurden zur Deponie für radioaktive Abfälle. An einigen Standorten von US-Waffenfabriken ist das Grundwasser belastet. In der Nähe von Test- und Produktionsgeländen ist die Sterblichkeit oftmals erhöht. Schließlich wirkt sich die freigesetzte Strahlung auch auf das genetische Erbgut von Menschen und anderen Lebewesen aus, was zu Geburtsfehlbildungen und angeborenen Krankheiten führt.

Wie die zivile ist auch die militärische Nutzung von Atomenergie fehleranfällig und riskant, wie einige Beispiele aus Russland zeigen: Bei Unfällen fielen Dutzende Atomsprengköpfe und U-Boot-Reaktoren ins Meer. Lecks und Unfälle wirken oft weit über die unmittelbare Umgebung und Generation hinaus. Beim schlimmsten Atomwaffenunfall in Tscheljabinsk-65 bei Mayak explodierte 1957 ein Tank mit hochradioaktiven Abfällen, was etwa 15.000 Quadratkilometer Land verseuchte und zur Evakuierung von über 10.000 Menschen führte. Auch flussabwärts gelegene Dörfer wurden kontaminiert. Nuklearabfälle aus Mayak im See Karatschai, dem vielleicht am stärksten verseuchten Gewässer der Erde, wurden nach allmählichem Absinken des Seespiegels als radioaktiver Staub über ein 1.800 km² großes Gebiet verteilt. Im August 2019 sollen durch die Explosion eines nuklearen Raketenantriebs auf einem russischen Militärgelände mindestens fünf Menschen getötet und Radioaktivität freigesetzt worden sein. Der Reaktorunfall von Tschernobyl war eine nationale und internationale Katastrophe, mit riesigen Kosten und Risiken.

Beseitigung und Lagerung nuklearer Altlasten

Weltweit wurden Hunderttausende Tonnen abgebrannter Kernbrennstoffe erzeugt. Viele Abfälle wurden als »niedrig strahlend« vergraben. Trotz großer Anstrengungen fehlen dauerhafte und sichere Endlager für hochradioaktive Abfälle, die in Zwischenlagern gesammelt werden, bis Wärmeleistung und Radioaktivität gesunken sind. Bisherige Konzepte der »Entsorgung« – den Atommüll im tiefen Ozean, in der Antarktis, im Weltraum oder in unterirdischen Formationen zu deponieren – sind mit Problemen behaftet. Während manche eine langfristige Isolierung und Eindämmung bevorzugen, möchten andere die Abfälle in einer abrufbaren und kontrollierten Form lagern.

Der Ost-West-Konflikt endete mit gefährlichen Hinterlassenschaften des nuklearen Wettrüstens. Die globalen Bestände hoch angereicherten Urans betrugen 2017 etwa 1.340 Tonnen und von Plutonium etwa 520 Tonnen. Zusammen reicht dies für mehr als 200.000 einfache Atomwaffen. Es ist ungewiss, ob und wann eine verantwortungsvolle Lösung für die langfristige Beseitigung von Atomwaffenmaterialien gefunden wird. Ein weiteres Problem ist die Säuberung der Umgebung von Nuklearanlagen, die mit hohen ökologischen und ökonomischen Belastungen verbunden ist. Noch viele künftige Generationen müssen diese Last tragen.

In den USA wurden mehrere Flüsse radioaktiv kontaminiert, darunter der Snake, Columbia und Savannah River. In Idaho gefährdeten Radionuklide das Grundwasser im Snake River Plain Aquifer und die Kartoffelproduktion. Milliarden Liter kontaminierte Flüssigkeiten wurden in die Umwelt abgegeben, weitere radioaktive Flüssigkeiten warten auf Endlagerung. Seit der Einstellung der Produktion von waffenfähigem Plutonium 1987 steht die Beseitigung der Abfälle aus 40 Jahren an. Das US-Energieministerium, das für den Atomwaffenkomplex zuständig ist (neun Standorte in sieben Bundesstaaten), schätzte in den 1990er Jahren die Kosten für die Bewältigung der Hinterlassenschaften auf rund 500 Mrd. US$ über einen Zeitraum von 75 Jahren. Doch allein die Sanierung des stillgelegten Nuklearkomplexes von Hanford am Columbia River, in dem 1.200 Tonnen Plutonium erzeugt wurden, dürfte diese Zahl sprengen. Hatte ein Bericht des Congressional Research Service 2018 noch mehr als 100 Mrd. US$ Gesamtkosten für Hanford veranschlagt, so nennt ein Bericht des Energieministeriums von 2019 den schockierenden Betrag von 323 bis 677 Mrd. US$.

Auch in Russland hinterließ der Kalte Krieg einen riesigen Nuklearkomplex, mit neun großen Industriekomplexen zur Urangewinnung sowie drei großen Produktionsanlagen für Waffenplutonium und zur Wiederaufbereitung von Brenn­elementen. 15 % der Fläche Russlands wurden zu ökologischen Notstandsgebiete, sieben Millionen Russ*innen leben auf radioaktiv verseuchten Böden, die nur schwer zu sanieren sind. Dringlich ist das Abwracken ausgedienter Atom-U-Boote und die Beseitigung Tausender Raketen und Bomber sowie Zehntausender Sprengköpfe. Die Beseitigung der 245 nukleargetriebenen U-Booten mit 445 Reaktoren verzögerte sich aufgrund geringer Verschrottungskapazitäten und fehlender Endlagerstätten. Mindestens 18 Atomreaktoren (sechs noch mit Brennstäben) wurden im Nordmeer versenkt, und 50 Atom-U-Boote dümpeln ungesichert vor sich hin, wobei Reaktoren und Brennstoffe an Bord blieben. In Mayak, Krasnojarsk und Tomsk lagern große Mengen flüssigen und festen Atommülls. Ein Teil des Materials aus ausgemusterten Atombomben wurde für zivile Zwecke genutzt, im Rahmen eines Sicherungsabkommens auch in den USA. 2011 genehmigte das russische Parlament trotz Umweltprotesten den Import von 2.500 Tonnen abgebrannter Brennstäbe aus dem Ausland, um mit den erhofften Einnahmen von 20 Mrd. US$ kontaminierte Gebiete zu sanieren.

Neues Wettrüsten und »nuklearer Winter«

Das Wettrüsten ist wieder in vollem Gange, zwischen den USA, Russland und China und in Krisenherden von Nordkorea über Südasien bis nach Iran. Mit den nuklearen Abschreckungsstrategien und Tausenden von einsatzfähigen Atomwaffen bleiben die Risiken eines absichtlichen oder versehentlichen Nuklearkrieges hoch – manche sagen, höher als im Kalten Krieg. Dies ist eine existentielle Bedrohung, auch für das Weltklima. In Städten entzünden Atomwaffenexplosionen große Flächenbrände, die Rauch, Ruß und Staub in höhere Atmosphärenschichten tragen und das Sonnenlicht stark abschwächen, sodass die Oberflächentemperatur abkühlt (nuklearer Winter), bis die Stoffe wieder abgesunken sind. Das Gefahrenpotential zeigt die Tambora-Vulkaneruption, die 1815 zum »Jahr ohne Sommer« machte. Die Abkühlung führte zu Störungen des indischen Monsuns und verkürzten Vegetationsperioden, zu Ernteausfällen in Großbritannien und Irland; viele Tiere starben. Es kam zu Hungersnöten und Fluchtbewegungen, zur Ausbreitung von Typhus und Cholera, Unruhen und Plünderungen.

Jüngste wissenschaftliche Studien zeigen, dass selbst ein »begrenzter« regionaler Atomkrieg das Weltklima destabilisieren könnte. Ein Szenario ist ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Pakistan und Indien, die bis 2025 vermutlich über 400 bis 500 Atomwaffen verfügen werden. Würden beide Länder zusammen 250 Atomwaffen gegen städtische Zentren einsetzen, könnten in wenigen Tagen 50 bis 125 Millionen Menschen sterben. Durch Brände würden je nach Ausmaß 16 bis 36 Mio. Tonnen Verbrennungsrückstände freigesetzt und binnen Wochen weltweit verbreitet. Das Sonnenlicht an der Oberfläche würde um 20 bis 35 % abnehmen, wodurch die globale Oberfläche um 2 bis 5°C abkühlt und die Niederschläge um 15 bis 30 % sinken, während die Pflanzenproduktivität an Land um 15 bis 30 % und in den Ozeanen um 5 bis 15 % geringer wird. Eine Folge der bis zu zehn Jahre andauernden »Kaltzeit« wären der Zusammenbruch von Landwirtschaft, Energie- und Verteilungssystemen und katastrophale Hungersnöte, die das Leben von mehr als einer Milliarde Menschen bedrohen würden.

Nuklearrisiken und Klimawandel: die doppelte Bedrohung

Auch ohne dieses Szenario sind Atomwaffen und die globale Erwärmung essentielle Gefahren für die internationale Stabilität und globale Friedenssicherung, die sich zu einem komplexen Problemgeflecht (Nexus) verdichten können. Klimabedingte Wetterextreme sind auch Gefahren für die nukleare Sicherheit. Dies betrifft insbesondere Anlagen in Hochrisikozonen an Flüssen, Seen, Küsten und in Wäldern. So bestand im Sommer 2010 die Gefahr, dass durch Waldbrände Nuklearstandorte in Russland eingeschlossen wurden und radioaktiv kontaminierte Stoffe im Raum Tschernobyl in die Atmosphäre gelangen. Zum Glück konnten die Brände rechtzeitig eingedämmt werden. Im Hitzesommer 2018 bedrohten Waldbrände in Kalifornien militärische Nuklear- und Raketentestanlagen. Auch Stürme, Überflutungen und Erdrutsche, Meeresspiegelanstieg und Sturmfluten stellen eine Gefährdung nuklearer Anlagen dar. Ein Bericht der U.S. Nuclear Regulatory Authority von 2011 sah landesweit mehr als 30 kerntechnische Anlagen durch Überschwemmungen gefährdet. In Situationen von Klimakrisen könnten nichtstaatliche Akteure Zugang zu Atomwaffen oder spaltbarem Material erlangen.

Manche Regionen sind durch die Verbindung von Atomwaffen und Klimawandel doppelt bedroht. So wurden die Marshall-Inseln durch Atomwaffentests verwüstet und sind nun durch Meeresspiegelanstieg und Stürme wieder existentiellen Gefahren ausgesetzt. Beide Gefahren können sich verstärken, so im Falle des »Runit Dome« auf dem Eniwetok Atoll, der radioaktiven Müll von Atomwaffentests abdeckt und nun droht, vom Meerwasser überflutet zu werden. Die Republik der Marshallinseln setzt sich gegen beide Gefahren zur Wehr. Sie reichte 2014 beim Internationalen Gerichtshof Anträge gegen die neun nuklearbewaffneten Staaten ein, da diese ihre Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung verletzten. Zudem verkündete der Präsident im Oktober 2019 einen nationalen Klimanotstand.

Wenn es nicht gelingt, den Klima­wandel einzudämmen, können sich die Folgen zu komplexen Konflikten mit Kipp­elementen verbinden. Schon die Antizipation einer eskalierenden Klima­krise könnte reaktive technische Maßnahmen provozieren, wie den Ausbau von Atomenergie und Geoengineering (technische Eingriffe ins Klimasystem), oder militärische Reaktionen bis hin zu Raketenabwehr und nuklearer Aufrüstung. Schon Edward Teller, der Erfinder der Wasserstoffbombe, hatte solche Maßnahmen vorgeschlagen. Sie multiplizieren jedoch die Probleme und treiben die Welt erst recht in die Katastrophe.

Das nukleare Wettrüsten verbraucht immer noch enorme Ressourcen, die für Umwelt- und Klimaschutz und nachhaltige Energieversorgung fehlen. Enttäuscht wurden die Hoffnungen nach dem Kalten Krieg, dass durch Abrüstung und Rüstungskonversion eine Friedensdividende für den Umweltschutz freigesetzt würde. Unter den weltweit gestiegenen Rüstungsausgeben von 1,8 Billionen US$ im Jahr 2018 beansprucht die nukleare Aufrüstung erhebliche Mittel, die für Klimapolitik nicht nur fehlen, sondern sie untergraben. Allein in den USA wurden seit 1940 etwa 8,7 Billionen US$ (inflationsbereinigt in 2010 US$) für Atomwaffen ausgegeben; im kommenden Jahrzehnt sind Ausgaben von 348 Mrd. US$ für Atomwaffen geplant, in drei Jahrzehnten eine Billion US$. Würde dies für Klimapolitik investiert, könnte die Klimakrise besser bewältigt werden. Atomwaffen verschärfen das Klimaproblem auch direkt, u.a. durch mehr Emissionen. Trägersysteme, wie nukleare U-Boote und Schiffe, haben in ihrem Lebenszyklus einen hohen CO2-Fußabdruck. Auch wenn genaue Zahlen nicht öffentlich sind, gibt es Schätzungen, dass das Pentagon in den USA und weltweit der größte einzelne Verbraucher von Erdölprodukten und Emittent von CO2 ist und damit ganze Länder, wie Schweden, übertrifft.

Double Zero: Abrüstung und Nachhaltigkeit gehören zusammen

Gegen die Gefahren von Atomwaffen und fossilen Energiesystemen konkurrieren zwei unterschiedliche Strategien: Beseitigung der jeweiligen Ursache (fossile und nukleare Energie) oder Abwehr der Folgen. Je mehr die Beseitigung und Vermeidung der zugrundeliegenden Bedrohungen versagt, desto mehr werden Abwehrmaßnahmen forciert, die umgekehrt die Wirksamkeit von Reduzierungsmaßnahmen verringern. Zum Beispiel hat Raketenabwehr die Bemühungen zur nuklearen Rüstungskon­trolle, Nichtverbreitung und Abrüstung erschwert. Ebenso kann Geoengineering die Reduzierung der Treibhausgasemissionen untergraben.

Um die doppelte Bedrohung durch Atomwaffen und Klimawandel zu vermeiden, führt kein Weg vorbei an der Ursachenvermeidung. Um den Nexus von Wachstum, Macht und Gewalt des fossil-nuklearen Zeitalters zu durchbrechen, ist eine Stärkung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung wesentlich. Die Atombombe vereint alle drei Problemverstärker: ungehemmtes Wachstum der Kettenreaktion, unvorstellbare Gewalt und überzogene Allmachtsphantasien. In einer friedlichen und nachhaltigen Welt gibt es keinen Platz für Atomwaffen. Ihre Abschaffung ist daher auch ein zentrales Anliegen nachhaltiger Entwicklung. Abgesehen vom Atomwaffenverbotsvertrag gab es in den letzten Jahren hier nur Rückschritte. Ein zügelloses nukleares Wettrüsten zeichnet sich ab.

Zur Risikominderung erforderlich sind Abrüstung und Konversion, Ressourceneffizienz, Emissionssenkung und erneuerbare Energien. Da Wissenschaft und Technik fossile und nukleare Technologien hervorgebracht haben, liegt hier auch eine besondere Verantwortung für ihre Abschaffung. Ein umfassender, integrativer und adaptiver Aktionsrahmen kombiniert verschiedene Schritte, die auf eine Denuklearisierung und Dekarbonisierung hinauslaufen, im Sinne einer »doppelten Null« (double zero) von Atomwaffen und CO2-Emissionen. Internationale Normen, wie der Nichtverbreitungsvertrag oder die Klimarahmenkonvention, sind weiter zu entwickeln in Richtung einer Nuklearwaffenkonvention und der Implementierung des Pariser Klimaabkommens.

Dabei können soziale und technische Innovationen im zivilen Sektor ebenso eine Rolle spielen wie das Zusammenwirken von Friedens- und Umweltbewegung, die wie die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) und Fridays for Future politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen wollen. Ob sie bestehende Verhältnisse zum Kippen bringen können, wird sich zeigen.

Quellen und weiterführende Literatur

Becker, T. et al. (2019): Uran-Atlas – Daten und Fakten über den Rohstoff des Atomzeitalters. Nuclear Free Future Foundation, Rosa Luxemburg Stiftung, BUND und Le monde diplomatique.

Brandt, G. (2011): Im Krieg und im Frieden – Militär vernichtet Umwelt. Beiträge zur Umweltpolitik 2/2011, Ökologische Plattform, DIE LINKE.

Cary, A. (2019): Energy secretary calls cost of Hanford cleanup ‘shocking’. The Columbian, 27.3.2019.

Center for Arms Control and Non-Proliferation (o.J.): Nuclear Weapons Spending. Washington, D.C.

Fort, J.; Straub, P. (2019): The carbon »boot-print« – The United States and European military’s impact on climate change. Berlin: International Peace Bureau.

Helfand, I. (2013): Nuclear famine – Two billion people at risk? Washington, D.C.: Physicians for Social Responsibility.

Makhijani, A.; Hu, H.; Yih, K. (1995): Nuclear Wastelands. Cambridge, MA: MIT Press.

International Panel on Fissile Materials/IPFM (2018): Fissile material stocks. 12.2.2018; ­fissilematerials.org

Kronfeld-Goharani, U. (2001): Die Umweltschäden und Entsorgungsprobleme des russischen Nuklearkomplexes. Kiel: Schleswig-Holsteinische Institut für Friedenswissenschaften, SCHIFF-texte Nr. 68.

Kalinowski, M.B. (1998): Wie friedlich und nachhaltig ist die Kernenergie? In: Scheffran, J.; Vogt, W. (Hrsg.): Kampf um die Natur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 111-130.

Makhijani, A. (2007): Carbon-Free and Nuclear-Free – Roadmap for US Energy Policy. Takoma Park, Maryland: Institute for Energy and Environmental Research.

Müller, M. (2019): Aufrüstung und Erderwärmung – Die Gefahr eines doppelten Selbstmords. Movum – Debatten zur Transformation, Nr. 26, »Frieden«.

Scheffran, J. (2019): Verbrannte Erde – Militär als Verursacher von Umweltschäden und Klimawandel. Friedensforum 01/2019, S. 32-44.

Scheffran, J.; Burroughs, J.; Leidreiter, A.; van Riet, R.; Ware, A. (2016): The Climate-Nuclear Nexus – Exploring the linkages between climate change and nuclear threats. Hamburg: World Future Council.

Scheffran, J. (2019): The entwined Cold War roots of missile defense and climate geoengineering. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr.5, S. 222-228.

Toon, O.B. et al. (2019): Rapidly expanding nuclear arsenals in Pakistan and India ­portend regional and global catastrophe. Science ­Advances, Vol. 5, Nr. 10, S. 1-13.

U.S. Congressional Research Service (2018): The U.S. Nuclear Weapons Complex: Overview of Department of Energy Sites. Washington, D.C.: CRS, 6.9.2018; crs.gov.

Ware, A. (ed.) (2016): Move the Nuclear Weapons Money. International Peace Bureau, Parliamentarians for Nuclear Non-proliferation and Disarmament, World Future Council.

Werner, M. (2019): Das US-Militär – Auf Kriegsfuß mit dem Klima. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2019/7.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit im Klima-Exzellenzcluster ­CLICCS an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Bombenbauer und Bombenbanker


Bombenbauer und Bombenbanker

Das Geschäft mit Atomwaffen

von Susi Snyder

Atomwaffen werden von Regierungen bestellt, von Nuklearlabors entwickelt, von Unternehmen gebaut und vom Militär stationiert und gegebenenfalls auch eingesetzt. Es gibt aber noch einen weiteren Akteur auf diesem Feld: Finanz­institute. Banken, Versicherungen und Rentenfonds halten Unternehmensanteile, vergeben Kredite oder beteiligen sich auf andere Weise an der Finanzierung von Unternehmen, die Atomwaffen herstellen. Die Autorin beleuchtet diesen meist unterbelichteten Aspekt der nuklearen Rüstung.

Atomwaffen bleiben die zerstörerischsten Waffen, die jemals entwickelt wurden – entwickelt, um Städte zu zerstören, Armeen auszulöschen und Bevölkerungen zu pulverisieren. Im Juli 2017 sprach sich die Mehrheit der Welt entschieden und unmissverständlich gegen diese Waffen aus, als sie den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« annahm. Damit sind Atomwaffen jetzt nicht nur unterschiedslos in der Wirkung, inhuman und unmoralisch, sondern auch durch einen völkerrechtlichen Vertrag verboten.

Gleichzeitig werden ungeachtet weltweiter Appelle, die zu Zurückhaltung und nuklearer Abrüstung mahnen, in allen neun Atomwaffenstaaten neue Atomwaffen entwickelt. Laufende Regierungsaufträge für mindestens 116 Mrd. US$ (102 Mrd. Euro) für die Herstellung, Entwicklung und Lagerung von Atomwaffen wurden an Firmen in Frankreich, Indien, Italien, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten vergeben. In der Volksrepublik China beginnen Staats­unternehmen, die in die Herstellung von Atomwaffen eingebunden sind, mit der Ausgabe von Anleihen Geld zu beschaffen. Über die Atomwaffenprogramme in Israel, Nordkorea, Pakistan und Russland (die vorwiegend von staatlichen Firmen betrieben werden), herrscht nach wie vor keine Transparenz.

Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen, können diese auch nicht beseitigen, sie können aber Normen und Verhaltensregeln einführen, die den weiteren Atomwaffenbesitz und neue Rüstungswettläufe unmöglich machen. Als äußerst wirksam erwies es sich, den Finanzfluss der Unternehmen, die Atomwaffen herstellen (im folgenden kurz »Waffenhersteller«), zu unterbinden. So gaben unter Verweis auf Druck vonseiten ihrer Kredit­institute etliche Unternehmen die Herstellung von Streumunition auf, darunter Textron, Lockheed Martin, Orbital ATK und Singapore Technologies Engineering – obwohl all diese Firmen ihren Sitz in Staaten haben, die dem »Übereinkommen zum Verbot von Streumunition« gar nicht beigetreten sind.

Das Projekt »Don’t Bank on the Bomb« (in Deutschland »Atomwaffen – ein Bombengeschäft«) wurde initiiert, um eine vergleichbare Dynamik anzustoßen. Die Herstellung von Atomwaffen soll durch die Verringerung oder Beendigung von Investitionen in Herstellerfirmen gestoppt werden und der Finanzsektor soll motiviert werden, das Stigma gegen die schlimmsten jemals entwickelten Waffen zu stärken.

Neues nukleares Wettrüsten

Es ist ein neues nukleares Wettrüsten im Gange. Das lässt sich anhand der Aufträge belegen, die für die Forschung, Entwicklung und Herstellung von Schlüsselkomponenten für Atomwaffen vergeben werden. Zu den neuen Systemen, die momentan entwickelt werden, gehören die Interkontinentalraketen des »Ground Based Strategic Deterrent« (Landgestützte strategische Abschreckung«) der USA, das Nachfolgemodell ASN4G der französischen Lenkwaffe ASMP (Air-Sol Moyenne Portée, Luft-Boden-Rakete mittlerer Reichweite) sowie die indischen Bestrebungen, U-Boot-gestützte ballistische Raketen einzuführen. Überdies laufen Programme, um U-Boot-gestützte Hyperschallraketen zu bauen, wie z.B. einem 109,5 Mio. US$ (95,5 Mio. Euro) schweren Vertrag mit dem Charles Stark Draper Laboratory zu entnehmen ist. Die beteiligten Firmen brauchen Investitionen, um konkurrenzfähige Angebote auf entsprechende Ausschreibungen abgeben zu können – so fördern Investitionen aus dem Finanzsektor den Bau neuer Atomwaffen.

Einige Unternehmen fallen durch ihr Gesamtengagement bei der Herstellung von Atomwaffen und laufende Verträge in Milliardenhöhe auf. Huntington Ingalls Industries beispielsweise kooperiert mit etlichen Unternehmen des US-Atomwaffenkomplexes und ist an laufenden Verträgen in Höhe von mehr als 28 Mrd. US$ beteiligt. Lockheed Martin folgt dichtauf und ist an Verträgen über mehr als 25 Mrd. US$ beteiligt.

Profitables Ende des INF Vertrags

Der Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) zwischen den USA und Russland war das letzte Opfer des wiederaufgelebten nuklearen Wettrüstens. Wir sollten fragen, wem die Entscheidung, den INF-Vertrag zu kündigen und die Welt erheblich unsicherer zu machen, nutzt. Fündig werden wir bei den Unternehmen – viele davon gehören zu den Spendern von US-Präsident Donald Trump –, die vom warmen Geldregen für ein neues nukleares Wettrüsten profitieren. Im vergangenen Jahr stiegen die Investitionen in Firmen, die Atomwaffen herstellen, um 81 Mrd. US$, und selbst diese Summe wird bald wie Peanuts erscheinen.

Seit der Kündigung des Vertrags am 2. Februar 2019 beauftragte die US-Regierung bereits mehr als eine Mrd. US$ für neue ballistische Raketen (Rohrlich 2019). Davon profitiert u.a. Raytheon, das auch sonst in die Atomwaffengeschäfte der USA eingebunden ist. Seit Auslaufen des INF-Vertrags am 2. August 2019 konnten auch Boeing, Lockheed Martin, Textron u.a. Regierungsaufträge für Raketen an Land ziehen.

Überraschend ist es nicht, dass Unternehmen mit einem direkten Draht zur Regierung Trump von dem neuen Wettrüsten profitieren. So hatte z.B. Nikki Haley in ihrer Zeit als UN-Botschafterin der USA den US-Boykott der Verhandlungen zum »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« organisiert (Sengupt und Gladstone 2017) – jetzt sitzt sie im Vorstand von Boeing (Boeing o.J.). Bei dem neuen Wettrüsten geht es nicht um Sicherheit, sondern darum, den Kumpels und Sponsor*innen von Donald Trump die Taschen zu füllen.

Wer baut die Bomben?

Das Projekt »Don’t Bank on the Bomb« ist die einzige ausführliche, öffentlich zugängliche Quelle mit Detailinformationen über die Firmen, die an der Herstellung von Atomwaffen beteiligt sind. Das Projekt untersucht Unternehmen, die unmittelbar an der Entwicklung, Erprobung, Herstellung und Wartung von Atomwaffentechnologie, -komponenten, -produkten und -dienstleistungen mitwirken. Die untersuchten Unternehmen arbeiten an Sprengköpfen oder an atomwaffenfähigen Trägersystemen, z.B. Raketen. Das schließt »Dual-use«-Technologie ein, die nicht speziell für die Nutzung in Atomwaffen entwickelt wird, aber dafür angepasst oder umkonfiguriert werden kann.

Flugzeuge und U-Boote werden in den Analysen von »Don’t Bank on the Bomb« nicht berücksichtigt. Allerdings sind oft die selben Unternehmen an der Herstellung solcher Trägersysteme und an der eigentlichen Atomwaffenproduktion beteiligt. So wird z.B. Lockheed Martin, das derzeit das mittelfristig für Atomwaffen vorgesehene Mehrzweckkampfflugzeug F35 (Joint Strike Fighter) baut, berücksichtigt, weil es mehr als 7,9 Mrd. US$ an laufenden Verträgen für Atomraketen der USA und des Vereinigten Königsreiches aufweist.

Das Projekt bietet momentan Informationen über 28 Unternehmen, die an der Herstellung von Atomwaffen mitwirken. Die meisten davon arbeiten für das Atomwaffenprogramm der USA. Grund dafür ist die vergleichsweise hohe Transparenz der Auftragsvergabe in den USA. Es liegen aber auch Daten über Unternehmen vor, die für das französische, indische und britische Atomwaffenarsenal arbeiten, sowie über elf weitere Unternehmen, darunter auch ein chinesisches. Chinesische Unternehmen gehören nicht zum Untersuchungsgegenstand des Projektes, sind aber natürlich Teil der globalen Atomwaffenindustrie.

Tab. 1. listet die 28 Unternehmen auf, von denen eine direkte Beteiligung an der Atomwaffenindustrie nachgewiesen ist, ihr Ursprungsland sowie das Arsenal bzw. die Arsenale, für die sie arbeiten.

Unternehmen Ursprungsland Arsenal(e)
Aecom Vereinigte Staaten USA
Aerojet Rocketdyne Vereinigte Staaten USA
Airbus Group Niederlande France
BAE Systems Vereinigtes Königreich UK, USA
Bechtel Vereinigte Staaten USA
Bharat Dynamics Limited India India
Boeing Vereinigte Staaten UK, USA
BWX Technologies Vereinigte Staaten UK, USA
Charles Stark Draper Laboratory Vereinigte Staaten UK, USA
Constructions Industrielles de la Méditerranée Frankreich Frankreich
Fluor Vereinigte Staaten USA
General Dynamics Vereinigte Staaten UK, USA
Honeywell International Vereinigte Staaten UK, USA
Huntington Ingalls Industries Vereinigte Staaten USA
Jacobs Engineering Vereinigte Staaten UK, USA
Larsen & Toubro Indien Indien
Leidos Vereinigte Staaten USA
Leonardo Italien Frankreich
Lockheed Martin Vereinigte Staaten UK, USA
Moog Vereinigte Staaten USA
Northrop Grumman Vereinigte Staaten USA
Raytheon Vereinigte Staaten USA
Safran Frankreich Frankreich
Serco United Kingdom UK
Textron Vereinigte Staaten USA
Thales Frankreich Frankreich
United Technologies Corporation Vereinigte Staaten USA
Walchandnagar Industries Indien Indien

Tab. 1: An der Atomwaffenindustrie beteiligte Unternehmen
UK = United Kingdom/Vereinigtes Königreich

Investoren und Desinvestoren

Finanzinstitute können auf unterschied­liche Weise zur Finanzierung von Unternehmen beitragen: durch Darlehen, durch Unterstützung der Unternehmen bei der Emission von Aktien und Anleihen sowie durch (die Verwaltung von) Investitionen in Aktien und Anleihen dieser Unternehmen. Für Vermögensverwalter und Rentenkassen beschränken sich entsprechende Aktivitäten auf (die Verwaltung von) Aktien- und Rentenanlagen der entsprechenden Unternehmen.

Mit Stand Juni 2019 wurde mehr als die Hälfte aller Investitionen in die großen Atomwaffenhersteller von zehn Finanzinstitute getätigt: Vanguard, BlackRock, Capital Group, State Street, Verisight (firmiert jetzt als Newport Group), T. Rowe Price, Bank of America, JPMorgan Chase, Wells Fargo und Citigroup. Die meisten Investitionen finden zwar in Form von Aktienbeteiligungen statt, allerdings wurden fast 20 % der laufenden Investitionen als Darlehen an die Atomwaffenhersteller vergeben.

Wenn mehr Staaten den neuen »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« ratifizieren und dieser in Kraft tritt, wird der Zusammenhang zwischen dem umfassenden Verbot von Atomwaffen und den Unternehmen, die in die Produktion von Atomwaffen eingebunden sind, stärker in die Diskussion rücken.

Seit Juli 2017, als der Vertrag verabschiedet wurde, ist zu beobachten, dass die Stigmatisierung von Investitionen in Atomwaffen wächst. Die niederländische ABP, fünftgrößter Pensionsfonds der Welt, teilte mit, dass aufgrund des „Wandel[s] in der Gesellschaft, auch auf internationaler Ebene […], Atomwaffen nicht mehr zu unserer nachhaltigen und verantwortungsbewussten Investmentpolitik passen“ (Houwelingen 2018). ABP achtete jetzt darauf, das Atomwaffenhersteller keinen Zugang mehr zu ihrem 500 Mrd. US$ (405 Mrd. Euro) schweren Vermögenspool haben.

Die Zahl der Banken, Rentenanbieter und Versicherungsunternehmen, die überhaupt noch in Atomwaffenhersteller investieren, sinkt, selbst wenn die Invest­mentsummen steigen mögen. Manche Investoren spekulieren auf kurzfristige Gewinne, da alle Atomwaffenstaaten neue Atomwaffen entwickeln und hoch dotierte Verträge an Atomwaffenhersteller vergeben. Das birgt aber längerfristig das Risiko eines Kurzschlusses in der globalen Sicherheit.

Die Untersuchungsergebnisse von »Don’t Bank on the Bomb« zeigen, dass eine nennenswerte Zahl institutioneller Investoren Regelwerke aufstellt, die jegliche Finanzbeziehungen mit Atomwaffenherstellern beschränken oder ausschließen. Mindestens 77 Finanzinstitute haben bereits Regeln verabschiedet, die ihre Geschäftsbeziehungen mit Atomwaffenherstellern auf ein Minimum begrenzen. 36 davon haben bereits umfassende Regelwerke eingeführt (­keinerlei Investitionen in als Atomwaffenhersteller identifizierte Unternehmen). Diese offiziellen Regelwerke signalisieren unmissverständlich, dass Atomwaffen inakzeptabel sind und niemand von ihrer Herstellung profitieren darf.

Und in Deutschland?

In fünf europäischen Ländern sind momentan vermutlich 180 Atomwaffen des Typs B61 stationiert (auf den Luftwaffenstützpunkten Kleine Brogel in Belgien, Büchel in Deutschland, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei). Obwohl eine Mehrheit der Menschen in diesen Ländern gegen die Stationierung dieser Waffen ist, wird in den USA momentan an einer neuen Version dieser Bomben gearbeitet, an der B61-12. Aufgrund technischer Probleme werden die neuen Bomben wohl zwei bis fünf Jahre später als geplant stationiert, aber es gibt bereits Pläne für die Entwicklung des Typs B61-13 ab 2038 (Kristensen 2019).

An der Herstellung der B61-12-Bombe sind mindestens drei Unternehmen beteiligt: Boeing fertigt im Rahmen eines 185-Mio.-US$-Vertrages das Heckleitwerk (das entspricht 163 Mio. Euro). Honeywell International betreibt und managt das Sandia National Laboratory, das die neue Hardware für die Bombe entwickelt. Huntington Ingalls Industries ist für die Nuklearkomponenten und deren Fertigung zuständig. Der Vertrag sah vor, dass die Heckleitwerke im Mai 2019 verfügbar sein sollten (DoD 2019). Ein weiteres Unternehmen, Atlantic CommTech, erhielt 2016 einen Vertrag zur Umrüstung der »Weapon Storage and Security Systems« (zur unterirdischen Lagerung der B61-12 in den Flugzeughangars) an den europäischen Stationierungsorten; diese Arbeiten sollen im Oktober 2020 abgeschlossen sein (DoD 2016).

Zu den deutschen Investoren in diese drei Unternehmen gehören Allianz, BayernLB, Commerzbank, Deutsche Bank, DZ Bank und Siemens. Bei der Bank für Kirche und bei Caritas hingegen gelten umfassende Regelwerke, die jegliche Finanzierungsbeziehungen mit Atomwaffenherstellern ausschließen. Auch die Deutsche Bank hat inzwischen Regeln im Hinblick auf Atomwaffen aufgestellt, die allerdings (noch) nicht umfassend und (noch) nicht vollständig in Kraft sind.

Schlussfolgerungen

Eine Risikoanalyse, die lediglich die Maximierung des Gewinns im Blick hat, ist nicht mehr zureichend. In einer Welt, die mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert ist, müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, um der Treuhandpflicht eines Finanzinstituts gerecht zu werden und um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Angesichts von Billionen Dollar, die kontinuierlich in nachhaltige Investments fließen, dürfen Investitionen nicht nur profitabel sein, sondern sie müssen auch Gutes tun.

Die Finanzinstitute, die immer noch Profit mit Atomwaffen machen, sind ebenso wie die wenigen Länder, die immer noch an die Nützlichkeit von Atomwaffen glauben, zunehmend isoliert und stigmatisiert. Wir alle können mithelfen, die Profite aus der Atomwaffenherstellung auszutrocknen. Das bringt uns der atomwaffenfreien Welt ein bisschen näher.

Literatur

Boeing (o.J.): Overview – Board of Directors. boieing.com, Stand 30.1.2020.#lit Rohrlich, J. (2019): the US has started a »new nuclear arms race< since Trump pulled out of the INF Treaty. Quartz, 2.5.2019.

Houwelingen, E.v. (2018): ABP Pension Fund excludes tobacco and nuclear weapons. ABP Press Release, 11.1.2018.

Kristensen, H.K. (2019): NNSA Plan Shows Nuclear Warhead Cost Increases and Expanded Production. Federation of American Scientists, Security Blog, 5.11.2018.

Sengupt, S.; Gladstone, R. (2017): United States and Allies Protest U.N. Talks to Ban Nuclear Weapons. New York Times, 27.3.2017.

U.S. Department of Defense/DoD (2016): Daily contracts – Modification P00007 to contract FA2103-16-C-0061. 16.6.2016; dod.defense.gov.

U.S. Department of Defense/DoD (2016): Contracts for September 9, 2016. defense.gov.

Susi Snyder koordiniert die Recherchen und die Kampagne »Don’t Bank on the Bomb« (dontbankonthebomb.com; in Deutschland »Atomwaffen – ein Bombengeschäft«, atombombengeschaeft.de). Sie vertritt die niederländische Friedensorganisation PAX im Steering Committee der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Und wenn der Druckkessel platzt?

Und wenn der Druckkessel platzt?

von Regina Hagen

Fünf Monate nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die sich 2020 zum 75. Mal jähren, nahm die Generalversammlung der neu geschaffenen Vereinten Nationen ihre allererste Resolution an: »Einrichtung einer Kommission, die sich mit den Problemen im Zusammenhang mit der ­Entdeckung von Atomenergie befasst« (Res. I(1) vom 26.1.1946). Der Auftrag lautete u.a., einen Vorschlag auszuarbeiten „für die Beseitigung von Atomwaffen und aller anderen Massenvernichtungswaffen aus den nationalen Rüstungsarsenalen“ (Absatz 5c).

Bio- und Chemiewaffen wurden seither geächtet; die entsprechenden Verträge gehören zum anerkannten Kanon des Völkerrechts. Für Atomwaffen wurde der Nichtverbreitungsvertrag abgeschlossen. Er ist jetzt seit 50 Jahren in Kraft, verbietet den fünf damals schon existenten Atomwaffenstaaten aber nicht den Besitz und konnte auch nicht verhindern, dass vier weitere Staaten Atomwaffen besitzen. Es gibt seit 2017 auch einen Vertrag, der Atomwaffen ganz verbietet, mehrere Artikel in diesem Heft beziehen sich darauf. Allerdings ist er noch nicht in Kraft, und die neun Atomwaffenstaaten lehnen den
Vertragsbeitritt ab.

Es stimmt schon, die Zahl der Atomwaffen ist seit der Hochrüstung im Kalten Krieg deutlich gesunken, auf knapp 13.500, wobei die meisten die vielfache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe haben. Außerdem hat sich der nukleare Rüstungswettlauf wieder beschleunigt. In manchen Atomwaffenländern wird das Arsenal weiter ausgebaut, in allen wird quantitativ aufgerüstet. Am offenkundigsten ist dies bei den Vereinigten Staaten: Die US-Regierung legte gerade ihren Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2021 vor. Dort sind für den Atomwaffenkomplex zwanzig Prozent mehr Gelder als bisher vorgesehen, in
Summe horrende 46 Milliarden US$. Weitere 20 Milliarden US$ sind für Raketenabwehr reserviert. Zur Erinnerung: Der gesamte russische Verteidigungshaushalt liegt bei ca. 60 Milliarden US$. Die US-Journalistin Nahal Toosi bezeichnete Trumps Vorhaben als „Flirt mit neuen Atomwaffen“.

Damit nicht genug, wird Atomwaffen auch an anderer Stelle ein hoher militärischer Macht- oder Statuswert eingeräumt. Der türkische Präsident Erdogan beschwerte sich vergangenen Herbst öffentlich, es sei „inakzeptabel, dass manche Länder über Atomraketen verfügen und die Türkei nicht“. Das Nordatlantische Bündnis beharrt auf »nuklearer Abschreckung«. Beim Gipfel zum 70-jährigen NATO-Jubiläum vergangenen Dezember betonten die Staats- und Regierungschefs erneut: Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die NATO ein nukleares Bündnis.

Auch in Deutschland ist der Wunsch nach dem Zugriff auf die Bombe ein ewiger Wiedergänger. Schon seit Jahren melden sich immer wieder Journalisten und Politikwissenschaftler (ja, lauter Männer!) zu Wort und drängen auf eine deutsche Atombombe, da die »Teilhabe« an den US-Atomwaffen in Büchel nicht auf immer gewährleistet sei. So weit ging Johann Wadephul, Abgeordneter der CDU im Bundestag, nicht. Aber er plädierte am 3. Februar in einem »Tagesspiegel«-Interview für eine deutsche Teilhabe am französischen Atomarsenal. Wir müssen eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei
den Nuklearwaffen ins Auge
fassen. Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen.

Das wirkt wie aus der Zeit gefallen. Die Weltgemeinschaft muss sich auf einen gravierenden Klimawandel einstellen und diesen so gut wie möglich eindämmen. Dafür werden viel zu wenig Mittel bereitgestellt. Stattdessen stecken reiche ebenso wie arme Staaten Geld in ihre Atombewaffnung. Die Lobbygruppe Global Zero berechnete, dass 2011 weltweit 105 Milliarden US$ für Atomstreitkräfte ausgegeben wurden – das waren knapp 300 Millionen US$ am Tag oder 12 Millionen US$ pro Stunde!

Die Expert*innen des Bulletin of the Atomic Scientists, die die »Doomsday Clock« verwalten, rückten den Zeiger der Uhr in den vergangenen zehn Jahren fünf Mal näher an den »doomsday«, den »Jüngsten Tag«, zuletzt am 23. Januar dieses Jahres: von 10 Minuten vor 12 im Jahr 2010 auf nur noch 100 Sekunden vor 12 heute. Sie begründeten dies mit dem Klimawandel, der Rüstungskontroll- und Wissenschaftsignoranz vieler Machthaber und den Risiken aus der Nuklearrüstung, die durch neue Gefahren im Informations- und Cyberraum verstärkt würden. In seinem Statement bei der Vorstellung des neuen Uhrstands
sagte der Militärexperte Robert Latiff: „Es scheint, die Welt ist ein ­Druckkessel. Sie ist ein Hochenergiesystem, und es braucht nur einen einfachen Fehler, irgendwo in einer waffenstrotzenden Welt, dass ein Krieg startet und katastrophal eskaliert.

Lenkt US-Präsident Trump nicht ein und nimmt das russische Angebot an, den New-START-Vertrag um fünf Jahre zu verlängern, entfällt in einem Jahr auch noch der letzte Rüstungskontrollvertrag. Die aktuelle Bundesregierung erklärte im Koalitionsvertrag: „Ziel unserer Politik ist eine nuklearwaffenfreie Welt. Sie soll ­endlich mutige Maßnahmen ergreifen, um diesem Ziel näher zu kommen. Ein erster Schritt dorthin könnte sein, wenigstens unser eigenes Land, Deutschland, endlich atomwaffenfrei zu machen. Nukleare Teilhabe passt dazu nicht.

Ihre Regina Hagen

Die Schönheit der Bombe

Die Schönheit der Bombe

Zur Ästhetik im nuklearen Diskurs

von Aicha Kheinette

Kann eine Massenvernichtungswaffe ästhetisch sein? Kann ein Atompilz sexy wirken? Können nukleare Sprengköpfe romantische Gefühle auslösen? Die Atombombe steht für Tod und Zerstörung und wurde doch zu einem Faszinosum der Moderne. Ihre Ästhetik umfasst apokalyptische Bilder, ikonische Symbole sowie sexuelle Metaphern und ist geprägt von ambivalenten Gefühlen – bis heute, denn die Atombombe ist kein Relikt des Kalten Kriegs, sondern brandaktuell.

Die Atombombe wurde in der Kunst schon gedacht, bevor Otto Hahn und Lise Meitner im Jahr 1938 die Kernspaltung entdeckten. Den Begriff prägte H.G. Wells 1914 in »The World Set Free« (dt. »Befreite Welt«); dieser Science-Fiction-Roman knüpft an eine lange Geschichte menschlicher Faszination für die Ästhetik apokalyptischer Szenarien an. In der Kunst und Unterhaltungsbranche finden sich unzählige Beispiele dafür. 1945 wurde die Atombombe zur Realität. Mit dem »Trinity«-Test in New Mexico im Juli und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im August
begann endgültig das Atomzeitalter.

Seitdem sorgt »die Bombe« für große Emotionen. Während sich die meisten Menschen vor einem Atomkrieg und der Zerstörung von ganzen Regionen oder gar der ganzen Welt fürchten, wird die Atombombe auch als Symbol für Macht und die Moderne gefeiert. Zwischen Schrecken und Faszination ergeben sich dabei ganz unterschiedliche Bilder – auch ästhetische, auch schöne. Erste Beobachter*innen beschrieben poetisch, ihre Explosion strahle wie tausend Sonnen, und der Atompilz wurde in den Werken großer Künstler*innen zu einem Motiv. Unter den frühen Beispielen finden sich »Die drei Sphinxe von
Bikini« (Salvador Dali, 1947), »Atom Burst« (Roy Lichtenstein, 1965) und »Atomic Bomb« (Andy Warhol, 1965). Die Ästhetik der Atombombe ist jedoch umstritten. Darf denn ihre Explosion schön sein? Vielleicht „furchtbar schön“ (Dax 2005)?

Es ist kaum vorstellbar, dass Bilder der nuklearen Explosionen von ihrer Zerstörungskraft, dem Tod und Schrecken, den sie über Hiroshima und Nagasaki brachten, getrennt werden können. Auch die unzähligen Detonationen zu Testzwecken weltweit bringen irreparable Schäden für Mensch und Umwelt mit sich; die Atomprogramme verschlingen immense Ressourcen. Nichtsdestotrotz finden sich positiv konnotierte Darstellungen der Bombe. Woher rührt diese Ambivalenz?

Im Krieg herrscht keine ästhetische Abstinenz. Die Ästhetik des Kriegerischen ist sogar ein integraler Bestandteil militärischer Institutionen und zeigt sich in Waffen, Uniformen oder Militärparaden. Waffen dienen dabei als Symbol für Macht oder Tapferkeit – dies gilt letztlich auch für Atomwaffen. Ihre symbolische Wirkung ist ein integraler Bestandteil ihrer Existenz.

Nuke Pop – Die Antwort der Populärkultur

Seit Beginn des Atomzeitalters werden Atombomben nicht immer auf die gleiche Weise perzipiert. Ihre Ästhetik ist abhängig von Zeit und Raum, und so fließen ganz unterschiedliche Bilder in ihre Symbolik ein. In den 1950er und 1960er Jahren, zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Kuba­krise, entwickelte sich in den USA ein regelrechter Hype um die Atomwaffe, die als Symbol der Moderne und des technischen Fortschritts gefeiert und als »Geschenk des Himmels« verehrt wurde. Sie wurde sogar zur Vermarktung eingesetzt: Spielzeug, Partys, Getränke, Miss-Wahlen – alles ließ sich
mit Atompilzen und Atombomben bewerben (vgl. Paul 2016, S. 251). Im Überschneidungsbereich von Militär- und Populärkultur entstand der »nuke pop«.

Die Atombombe scheint in der US-Populärkultur der 1950er Jahre eine ähnliche Anziehungskraft zu haben wie beispielsweise Raumschiffe für die Neue Deutsche Welle der 1980er. In zahlreichen Musikhits, Comics oder Filmen wurde sie zu einem zentralen Motiv ihrer Epoche. Atomenergie – die zivile Nutzung der Kernkraft – wurde dabei weitestgehend außer Acht gelassen. Ihr fehlte die nötige Dramatik, welche sich im Kontext der Atomwaffen in der Sinnlichkeit ihrer Explosion und in apokalyptischen Bildern der Zerstörung manifestiert.

Besonders populär wurden Bilder von Atompilzen, die sich, auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt, zum Symbol für das Atomzeitalter und zur Ikone des Kalten Kriegs entwickelten. »Mushroom clouds«, die bei den Atombombentests in der Wüste Nevadas in den Himmel schossen, wurden wie ein Naturspektakel aus vermeintlich sicherer Entfernung verfolgt. Über radioaktive Strahlung machte man sich bei den regelmäßig veranstalteten Familien-Picknicks und Paraden keine Sorgen – man staunte.

Ästhetisierung in Populär- und Militärkultur

Doch der ästhetischen Wahrnehmung der Bombe wurde auch nachgeholfen. Objekte, die per se nicht als ästhetisches Objekt gesehen werden, können durch Kontextualisierung zu einem solchen werden. Die Ästhetisierung von Atombomben und »mushroom clouds« in der US-amerikanischen Populärkultur (und ihren Einzugsgebieten) fand auf ganz unterschiedliche Weise statt – immer wieder auch mit Hilfe des weiblichen Körpers und sexualisierender Metaphern und Bilder.

In Las Vegas wurden in den 1950er Jahren atomare Schönheitsköniginnen mit dem Titel »Miss Big Bang« oder »Miss A-Bomb« gekürt und in Atompilz-Bikinis abgelichtet. Auch in der Popmusik wurde die Explosivität der Bombe zu einem Sinnbild für Sexappeal. In ihrem Hit »Fujiyama Mama« sang Wanda Jackson Ende der 1950er Jahre: „I’ve been to Nagasaki, Hiroshima too / The things I did to them baby, I can do to you.“ 1 Auch in Songs von Bill Haley, Doris Day oder Fay Simmons werden Atomwaffen metaphorisch mit Sexualität verknüpft (Stöver
2017, S. 483).

Die Akzentuierung der Anziehungskraft von Waffen durch weiblichen Sexappeal zeigt sich besonders deutlich in den Pin-up-Bildern, die unter anderem auf Militärflugzeugen oder Bomben zu finden waren. Die ursprünglich im Militär verbreiteten Zeichnungen und Fotografien wurden zu einem Teil der Populärkultur und machten die Kombination von Waffen und teilweise pornographisch inszenierten Frauenkörpern salonfähig. In zahlreichen Formen und Farben, auf Stickern, Plakaten oder Tätowierungen finden sich Pin-up-Girls, die auf herabfliegenden Atombomben reiten. Als »Bomb Babes«, »Bomb Girls« oder
»Atom Bomb Baby« sitzen die Figuren auf Bomben, deren ohnehin phallische Form teilweise durch zeichnerische Ergänzungen noch hervorgehoben wird.

Auch in der Sprache werden diese Bilder aufgegriffen. Carol Cohn zeigte in den 1980er Jahren eindrucksvoll, dass der nukleare Diskurs unter US-Verteidigungsstrategen von radikaler sprachlicher Ästhetisierung geprägt war. Besonders auffällig sind jedoch auch hier die zahlreichen sexuellen Anspielungen und Metaphern. Die Rede ist von Streicheln, Penetration, orgastischen Stößen oder „Mehr Bums fürs Geld“. Die vielfältigen und meist männlichen Namen der Bomben und immer wiederkehrende Geburtsmetaphern suggerieren eine emotionale Bindung zu den Atomwaffen. Durch liebevolle und
häusliche Umschreibungen werden sie domestiziert und zu ungefährlichen Alltagsobjekten. Die Sprache der Verteidigungsstrategen ist leichtfüßig und soll Spaß machen. Durch ein technokratisches Vokabular, starke Abstraktion und Euphemisierung wird erreicht, dass Bilder des Schreckens fast völlig ausgeblendet werden können. So wird es möglich „das Undenkbare zu denken“ (Cohn 1987, S. 715).

Kontranarrative

Während der Atompilz in den USA bereits sehr früh zu einer Ikone wurde, war die öffentliche Darstellung von Atombombendetonationen in der Sowjetunion lange tabu (Renner 2016, S. 215). Die sowjetische Propaganda beschränkte sich auf das Narrativ eines atomaren Friedensprojektes2 – ein bewusstes Kontranarrativ, das sich auch in einer eigenen Ästhetik widerspiegelte. Bis zum Ende der 1970er Jahre spielte der Atompilz als Symbol keine Rolle und wurde nicht einmal zu Zwecken der Stigmatisierung der Atombombeneinsätze durch die USA verwendet (Renner
2016, S. 216). Die US-amerikanische Begeisterung über seine Schönheit wurde von sowjetischer Seite als „Perversion kapitalistischer Kriegstreiber“ angeprangert (Renner 2016, S. 235).

In Europa überwog indessen die Angst. Der Atompilz stand von Beginn an für die atomare Bedrohung und fand so als Symbol Einsatz in der Kunst, Publizistik und auf politischen Plakaten. Die Positivkonnotation der Atompilze in den USA wird vor allem mit der Entfernung zur Realität erklärt: Anders als in Europa, wo Atompilze als Symbol einer realen und an der Nahtstelle der Machtblöcke des Kalten Krieges örtlich nahen Bedrohung galten und mit den jüngsten Erfahrungen der Bombenkriege assoziiert wurden, bildeten sie in der US-amerikanischen Populärkultur eine fiktive Bedrohung ab (Paul 2006, S.
254-258).

Natürlich war man sich auch in den USA der Gefahr bewusst. Robert J. Oppenheimer, der als Vater der Atombombe in die Geschichte einging und selbst zwischen Forschungswillen und moralischen Skrupeln zerrissen wurde“ (Stöver 2017, S. 464), zitierte beim Anblick der ersten Atombombendetonation eine Stelle aus der hinduistischen Schrift Bhagavad Gita: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welt.“ (vgl. Rosenthal 1991, S. 73) Dies ist eine dramatische Erkenntnis, die doch von weit verbreiteter Faszination begleitet wurde.

Woher rührt die Begeisterung? Eine Erklärung findet sich im US-amerikanischen Narrativ, die Atombombe habe den Zweiten Weltkrieg beendet und Tausenden US-Soldaten das Leben gerettet (Rosenthal 1991, S. 76). Auch die eigene, nationale Vormachtstellung wird als Erklärung für den US-amerikanischen Enthusiasmus herangezogen (Rosenthal 1991, S. 82). Für eine Weile besaßen nur die USA die neue Wunderwaffe und damit eine hegemoniale Machtstellung im internationalen System. Alle anderen Großmächte eiferten ihnen nach. Zudem wurden die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki (die Realität) zunächst vor
der Öffentlichkeit zurückgehalten, sodass sich sprachlich ein positiv konnotiertes Bild entwickeln konnte (Paul 2006, S. 249). Das Bild der Bombe, symbolisiert durch spektakuläre Atompilze, blieb zunächst losgelöst von ihrem eigentlichen Schrecken.

Im Jahr 1963, kurz nach der Kubakrise, in der die Welt für ein paar Tage am Rande eines Atomkriegs stand, verschwand der Atompilz-Tourismus in Las Vegas. Mit einem internationalen Vertrag wurde das Ende der oberirdischen Atomwaffentests beschlossen, und die Bilder der Atompilze wurden Geschichte – nicht aber ihre Bedeutung und die Bomben selbst. Weltweit entstanden Kampagnen für nukleare Abrüstung. Das heute als Peacezeichen bekannte Symbol wurde bereits 1958 im Rahmen der britischen Campaign for Nuclear Disarmament gestaltet und steht bis heute für die internationale Friedens- und
Abrüstungsbewegung. Auch in den USA entwickelten sich breite gesellschaftliche Protestbewegungen, die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in beeindruckender Größe auftraten – bis zu eine Million Menschen versammelten sich. Der Atompilz symbolisierte nicht mehr allein Macht und Moderne, sondern die nahende Bedrohung durch einen Atomkrieg.

Zunehmend wurde die Anti-Atomkraft-Bewegung durch ein ökologisches Bewusstsein geprägt, und mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 rückt die Atomenergie vollends in den Fokus der Proteste. Nach dem Ende des Kalten Krieges verliert das Symbol Atompilz auch in Europa an unmittelbarer Bedrohung und wird bildnerisch umgewandelt. Auf politischen Plakaten erwuchsen aus dem Atompilz Bäume oder Blätter – an die Stelle von Zerstörungskraft wurde Lebenskraft gesetzt (Abb. 1). Dem Atompilz als Zeichen für das Böse stellte man hoffnungsvoll das Gute entgegen (Paul 2006, S. 7).

Nukleare Ästhetik und der politische Diskurs

Was die Betrachtung nuklearer Ästhetik freilegt, ist eine enorme Fülle verschiedenartiger Bilder, die in die Wahrnehmung der Atombombe einfließen. Es finden sich sowohl positive Konnotationen als auch starke Kontranarrative. Die Macht der Bilder ist dabei nicht zu unterschätzen. Ob visuell oder sprachlich, sie beeinflussen unser Denken, unsere Emotionen und Ideen. Nukleare Ästhetik geht deshalb über die Kunst und Populärkultur hinaus. Sie betrifft auch das Politische.

Im rund 45 Jahre andauernden Kalten Krieg schwankte man zwischen „Normalitätsgefühl und Krisenbewusstsein“ (Stöver 2017, S. 483), und der sinnliche Atompilz wurde zur ambivalenten Ikone des Atomzeitalters. Dem ikonischen Symbol wird auch eine abschreckende Wirkung zugesprochen: Es stellt die sinnlich wahrnehmbare Zerstörungskraft der Atombombe ins Zentrum – eine Sinnlichkeit und Symbolkraft, die anderen Waffen (vielleicht auch in Zukunft) fehlt. „Der Atompilz ist ein komplexes Symbol, aber kein subtiles.“ (Rosenthal 1991, S. 89)

Im nuklearen Diskurs bilden Ästhetisierung und Verharmlosung zentrale Mechanismen. Dabei sind Sprache und Bildsprache oft geprägt von heterosexueller militärischer Männlichkeit, die in den militärischen Institutionen betont und gefördert wird. Neben phallischer Symbolik wird dazu auch der weibliche Körper eingesetzt. Die gesichtslose Maschinerie wird animiert, der Umgang mit Waffen romantisiert oder durch andere Bilder ersetzt. Was hinter technokratischer oder metaphorischer Sprache und sexualisierten Bildern verborgen bleiben soll, ist die Grausamkeit der Atombombe: Bilder und Berichte aus
Hiroshima und Nagasaki, die Schäden für Menschen und ihre Umwelt.

Die Dominanz militärischer Männlichkeit hat zudem Auswirkungen auf den Diskurs. Gedanken über humanitäre oder ökologische Auswirkungen wurden insbesondere im Militär und auf politischer Ebene als »unmännlich« und dadurch als unvernünftig und unrealistisch dargestellt. Damit wurde der Diskurs beschnitten, und Macht, Stärke und Dominanz schienen die letztlich gültigen Kategorien darzustellen (Cohn 1993).

Bis heute stehen den breiten Protestbewegungen und den Nichtatomwaffenstaaten Regierungen entgegen, die ihre atomare Macht verteidigen. Die Anzahl der Atommächte wächst stetig (wenn auch langsam), und das internationale Abrüstungsregime gerät immer wieder in Krisen. Nach wie vor wird die Atombombe als Sicherheitsgarant und friedensschaffende Kraft inszeniert, und Abrüstungsforderungen werden als politischer Eskapismus abgetan. Die »Liebe zur Bombe« ist keine historische Erzählung; ein umfassender Diskurs ist nötig.

Anmerkungen

1) Tatsächlich landet sie damit zunächst nur außerhalb der USA einen Erfolg. Die Thematisierung von Sexualität ist in der US-amerikanischen Öffentlichkeit der 1950er Jahre den Männern vorbehalten.

2) Atomkraft als Friedensprojekt (»Atoms for ­Peace«) wurde bereits 1953 von US-Seite in einer Rede Eisenhowers vor den Vereinten ­Nation propagiert (Stöver 2017, S. 485).

Literatur

Cohn, C. (1987): Sex and Death in the Rational World of Defense Intellectuals. Signs – Journal of Women in Culture and Society, Vol. 12, No. 4, S. 687-718.

Cohn, C. (1993): Wars, Wimps, and Women – Talking Gender and Thinking War. In: Cooke M.; Woollacott, A. (eds.): Gendering War Talk. Princeton: Princeton University Press, S. 228-246.

Dax, M. (2005): „Furchtbare Schönheit der ­Bombe“. Welt am Sonntag, 24.7.2015.

Paul, G. (2006): Visual History – Ein Studienbuch. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Renner, A. (2016): Globale Ikone des Kalten Kriegs? Der Atompilz und die sowjetische ­Nuklearkultur. OSTEUROPA, Vol. 66, Nr. 6-7, S. 215–236.

Rosenthal, P. (1991): The Nuclear Mushroom Cloud as Cultural Image. American Literary History, Vol. 3, Nr. 1, S. 63-92.

Stöver, B. (2017): Geschichte der USA – von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck.

Aicha Kheinette studierte Internationale Beziehungen in Dresden und lebt in Berlin. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit feministischen Perspektiven auf die Atombombe.

Es ist schon spät


Es ist schon spät

Das Ende des INF-Vertrags zwingt zum Handeln

von Joseph Gerson

Die durch Präsident Trump forcierte Aufrüstung und Kriegsrhetorik droht, den gesamten Prozess der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Einsturz zu bringen und den Frieden in der Welt tiefgreifend zu gefährden. Der Autor beschreibt einige Hintergründe und mögliche Konsequenzen, die sich aus dem Ende des INF-Vertrags ergeben. Sein Text ist aber auch Zeugnis dafür, wie sich die Friedens- und Abrüstungsbewegung in den USA – und nicht nur dort – an kleine Hoffnungsschimmer klammert, um eine neue Rüstungs­spirale aufzuhalten.

Der Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) trat 1987 in Kraft und beendete den Kalten Krieg, noch bevor die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion sich auflöste. Der Vertrag verpflichtete die USA und die Sowjetunion zur dauerhaften Abschaffung landgestützter nuklear oder konventionell bewaffneter Marschflugkörper und ballistischer Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km. Mit dem INF-Vertrag sank die Gefahr, dass Europa zum ersten Schlachtfeld und Opfer einer Atomkriegsapokalypse zwischen den damaligen Supermächten wird, erheblich (wenn auch nicht auf Null).

Im Oktober 2018 teilte US-Präsident Trump mit, er plane den Rückzug der Vereinigten Staaten von dem Vertrag, und schuf damit das politische und strategische Umfeld für ein ungehindertes und äußerst gefährliches nukleares Wettrüsten. Donald Trump ist ein hartnäckiger Lügner. Die New York Times berichtete, dass er kürzlich die Marke von 10.000 belegten Lügen seit seinem Amtsantritt knackte. Zuweilen sollten wir ihn aber beim Wort nehmen. Er meinte es ernst, als er sich damit brüstete, „wir haben mehr Geld als alle anderen“, und als er sagte „let it be an arms race“ – dann eben ein Wettrüsten. Präsident Putin drohte seinerseits, Russland könne im Falle der Stationierung neuer US-Raketen in Europa gleichziehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der New-START-Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen über das Jahr 2021 hinaus verlängert wird, sodass wir uns angesichts der verheerenden Beziehungen zwischen den USA und Russland im letzten Jahrzehnt jetzt im Anfangsstadium einer Konfrontation der beiden Länder befinden, die durchaus mit dem Kalten Krieg vergleichbar ist. Den INF-Vertrag einfach aufzugeben bezeugt einmal mehr, dass Ignoranz, die mit dem Drang nach Dominanz einhergeht, einen äußerst gefährlichen nuklearen Cocktail ergibt.

Es mag stimmen, dass das russische Militär den INF-Vertrag mit Tests eines neuen Marschflugkörpers mittlerer Reichweite verletzt hat. Weniger bekannt ist, dass, wie Professor Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) nachwies, die in Rumänien stationierten US-Raketenabwehrsysteme des Typs Aegis Merkmale aufweisen, die sie für Russland besonders bedrohlich machen […] Würden die Aegis-Systeme in Osteuropa mit US-Marschflugkörpern bestückt – sei es der existierende Tomahawk oder eine neue Rakete, die die Vereinigten Staaten aktuell entwickeln –, so wären sie angsteinflößende Offensivwaffen, stationiert direkt an der Grenze zu Russland. Und Russland könnte kaum wissen, ob Aegis-Systeme mit Abfangflugkörpern oder mit nuklear bewaffneten Marschflugkörpern geladen sind. Die offensiven Fähigkeiten der US-amerikanischen Raketenabwehrinstallationen in Osteuropa sind der Schlüssel, um den Streit zwischen den USA und Russland über den INF-Vertrag zu verstehen.“

Natürlich wäre die passende Antwort auf Russlands Marschflugkörper-Tests nicht gewesen, den Vertrag zu zerreißen, der für das Ende des Kalten Krieges von zentraler Bedeutung war. Vielmehr hätte die nukleare Abrüstungsdiplomatie intensiviert werden müssen, und dies hatte die russische Seite dringend eingefordert.

Eine neue nukleare Rüstungsspirale droht

Der Austritt aus dem INF-Vertrag ist elementarer Bestandteil von Trumps unilateraler Vision des »America First« und der globalen Dominanz der USA. Da vermutlich auch der New-START-Vertrag nicht verlängert wird, sind damit sämtliche nuklearen Abrüstungsabkommen zwischen den beiden größten und gefährlichsten Nuklearmächten hinfällig, und der Weg zu einem ungehemmten, gefährlichen und irrsinnig kostspieligen nuklearen Wettrüsten ist frei.

Der Rückzug vom INF-Vertrag muss im Kontext von mehr als zwei Jahrzehnten zunehmend aggressiverer Militärpolitik der USA gegenüber Russland gesehen werden: die Osterweiterung der NATO durch die Regierung Clinton; die Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags durch die Regierung Bush jr.; die Zusage der Regierung Obama, für die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen und Trägersystemen 1,2 Billionen US-Dollar auszugeben; die Stationierung von Raketenabwehrsystemen, von denen Moskau befürchtetet, sie könnten für einen nuklearen Erstschlag genutzt werden; die Entscheidung, in fünf europäischen NATO-Staaten aufgerüstete und »einsatzfähigere« US-Atomwaffen zu stationieren.

Fest entschlossen, anders als in den 1990 Jahren keine neue Demütigung Russlands zuzulassen, bekräftigte Präsident Putin sein Bekenntnis zur gegenseitig gesicherten Zerstörungsfähigkeit (mutually assured destruction, MAD). Russland hat inzwischen in Kaliningrad, am nördlichen Rand Mitteleuropas, atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen [des Typs Iskander] stationiert. Um US-Raketenabwehrsystemen ausweichen oder diese überwältigen zu können, stationiert Russland neue Langstreckenraketen mit mehreren Sprengköpfen, außerdem Hyperschall-Marschflugkörper und andere Raketen, die angeblich mit der fünffachen Schallgeschwindigkeit fliegen können. Putin hat des Weiteren angekündigt, ein »unbemanntes Unterwasserfahrzeug« mit Atomantrieb zu stationieren, das Hafenstädte der USA mit Atomwaffen zerstören könnte.

Diese neuen Waffensysteme erinnern an die existenziellen Bedrohungen der 1980er Jahre und setzen noch einen obendrauf.

Die Sorgen Trumps und seines Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton um mögliche Vertragsverletzungen Russlands sind aber nur vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es ihnen um die Bestimmungen des INF-Vertrags, die die USA daran hinderten, dem Aufrüstungsprogramm und der Einrichtung neuer Militärbasen im Südchinesischen Meer durch China etwas entgegenzusetzen. Der Rückzug der USA vom INF-Vertrag steht also im Kontext des aktuellen Kampfes um Hegemonie im asiatisch-pazifischen – inzwischen »indopazifisch« genannten – Raum. Wir müssen uns klar sein, dass der Rückzug von dem Vertrag die provokativen »Freiheit der Schifffahrt«-Übungen der USA im Südchinesischen Meer ebenso ergänzt wie die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Japan und Südkorea sowie den fatalen Wirtschaftskrieg mit China, den Trump auslöste. Dies sind alles Elemente von Trumps kontraproduktiver Kampagne, um China zu schwächen und einzudämmen.

Die Dringlichkeit der Gefahren ist groß

Ich kann es nicht anders sagen: Wahrscheinlich müssen wir bald Widerstand leisten gegen Pläne, landgestützte Marschflugkörper in Japan, in Taiwan und – in der Zeit nach der Präsidentschaft Duterte – auf den Philippinen zu stationieren.

Michail Gorbatschow hatte Recht mit seiner Bemerkung, Trumps Rückzug vom INF-Vertrag sei nicht das Werk „einer Geistesgröße […] Mit dem nötigen politischen Willen könnten alle Probleme mit der Einhaltung vorhandener Verträge gelöst werden“ und „in einem »Krieg aller gegen alle« wird es keinen Gewinner geben – vor allem dann, wenn er in einen Atomkrieg mündet“. Ich bin zwar kein Freund Putins, wir sollten aber unbedingt auf das russische Angebot eingehen, dass „immer noch Raum für Dialog ist“.

Die Gefahren, die sich aus dem Kollaps des INF-Vertrags und vermutlich auch des New-START-Vertrags ergeben, sind keineswegs abstrakt. Beide Großmächte benutzen ihre Atomwaffenarsenale, um ihre imperialen Einflusssphären in Besorgnis erregendem Ausmaß zu festigen oder auszuweiten. So haben die USA beispielsweise am Vorabend der Irakkriege von 1991 und 2003 mit nuklearen Angriffen gedroht, und Präsident Obama wiederholte die Drohung es sind alle Optionen auf dem Tisch“ gegen Iran. Erst die inspirierte Politik des südkoreanischen Präsidenten Moon brachte uns einen Schritt weg vom Abgrund der Trump’schen Drohung mit fire and fury“ (Feuer und Zorn) gegen Nordkorea. Waghalsige Politik ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der USA. Putin bestätigte, dass er den Einsatz von Atomwaffen erwogen habe, um die russische Kontrolle über die Krim sicherzustellen, und dass er für eine Art Kubakrise des 21. Jahrhunderts gewappnet sei. All das erhöht die ohnehin latente Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes aufgrund von Fehleinschätzungen und Unfällen.

Ich befürchte, die meisten Regierungen, Friedensorganisationen und die Zivilgesellschaft insgesamt schätzen die Dringlichkeit dieses Moments falsch ein. Wir müssen Wege finden, Alarm zu schlagen und die Großmächte vom Abgrund zurückzuziehen.

Die Krise ist wirklich ernst, und sie wird von starken Mächten in den USA, in Russland und, wenngleich auf andere Art, auch in China angeheizt. Sie kann nur durch den Aufbau einer ausgleichenden politischen, diplomatischen und bürgerschaftlichen Macht abgewehrt werden. Ich behaupte nicht, dass ich genau sagen kann, wie das geht, ich kann aber einige mögliche Pfade dorthin aufzeigen.

Einige Ansatzpunkte zum Handeln

Da ist zum einen das US-Abgeordnetenhaus mit seiner Budgethoheit. Adam Smith, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Abgeordnetenhauses, machte klar, er sei dagegen, Gelder für die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen und Trägersysteme bereitzustellen. Wir in den USA müssen ihm unbedingt den Rücken stärken und andere Kongressabgeordnete drängen, ebenfalls keine Gelder für neue Atomwaffen und Trägersysteme freizugeben. Das ist machbar.

Zum anderen hat der Vorwahlkampf der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 2020 begonnen. Wie Adam Smith stellten auch die Senator*innen Elizabeth Warren und Bernie Sanders klar, dass sie gegen die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen sind. Damit haben sie die Messlatte gelegt, und Lobbygruppen in New Hampshire und Iowa sowie Wähler*innen in anderen Staaten sollten die Präsidentschaftskandidat*innen darauf einschwören und daran messen.

Hier in den USA müssen wir aber auch Massenaktionen auf die Beine stellen. Angesichts des nachvollziehbaren Fokus auf Trump und die Korruption in seiner Regierungsmannschaft, der Angriffe gegen unsere Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit, der Klimakrise und aller möglichen anderen Themen, bleibt es eine Herausforderung, eine breitere Öffentlichkeit für die Nuklear- und Außenpolitik zu mobilisieren. Die Situation ist vergleichbar mit den 1980er Jahren, als sich Europa im Fadenkreuz eines möglichen Atomkrieges befand: Wenn die Öffentlichkeit in Europa gegen die Stationierung neuer Atomraketen der USA und Russlands mobilisiert werden kann, könnte dies bei uns in den USA einen deutlichen Widerhall hervorrufen und uns beflügeln. Die aufkeimende Bewegung »European Nuclear Disarmament« und die mit ihr verbündeten Organisationen schaffen es hoffentlich, in Europa die Menschen auf die Straße zu bringen. Erinnern wir uns an die Kampagne »Nuclear Weapons Freeze«, die quer durch die USA lokale Aktionen durchführte, 1982 mehr als eine Million Demonstrant*innen nach New York brachte und schließlich Präsident Reagan zu Verhandlungen mit der Sowjetunion zwang.

Und dann gibt es noch den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen«. Wenn im Globalen Süden und in Ländern, die unter dem »nuklearen Schutzschirm« stehen, die Menschen, die den Verbotsvertrag unterstützen, hartnäckig am Ball bleiben, könnten die Nuklearmächte eingekreist und isoliert werden. Sobald der Vertrag in Kraft tritt, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Atomwaffenstaaten ebenfalls zum Beitritt zu drängen. Wenn es den Regierungen der Vertragsstaaten wirklich ernst damit ist, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, können sie hochrangige Vertreter der Atomwaffenstaaten sowie der Atomwaffenindustrie mit Sanktionen belegen.

Und wenn Länder unter dem »nuklearen Schutzschirm« der USA, einschließlich der NATO-Staaten, Japans und Australiens, von Massenbewegungen in ihren Ländern zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Verbotsvertrags gezwungen werden, oder wenn Jeremy Corbyn in Großbritannien an die Macht kommt und den Vertrag unterzeichnet, würden die ideologischen Fundamente des »Nuklearismus« aufgebrochen und es würden neue Freiräume und Möglichkeiten geschaffen, auch in den Atomwaffenstaaten auf ernsthafte nukleare Abrüstung zu drängen.

Ich möchte noch auf zwei weitere Anknüfungspunkte für unseren Kampf gegen ein neues ungehindertes Wettrüsten hinweisen. Da sind zum einen die Kosten, viele Billionen Dollar, unvorstellbare Summen. Wir werden die Konsequenzen dieser Zahlen aber unschwer ausfindig machen in den Budgetkürzungen für Sozial- und Umweltprogramme, die auf dem Altar des Nuklearismus geopfert werden: bezahlbarer Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, Sozialhilfe und vieles mehr. Wir müssen uns daher unbedingt mit den Kräften in unserem Land verbünden, die für ökonomische, soziale und Umweltgerechtigkeit kämpfen.

Und schließlich ist da die Behauptung der Atommächte, das strategische Umfeld für eine ernsthafte Abrüstungsdiplomatie sei einfach nicht gegeben. Dieses Umfeld kann man schaffen, so wie das durch das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« in den 1980er Jahren geschah. Georgi Arbatow, der Mitglied der Palme-Kommission war und das Denken von Michail Gorbatschow stark beeinflusst hatte, schrieb „wir können unsere eigene Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen gewährleisten, sondern nur auf der Basis gemeinsamer Interessen“. Das gemeinsame Interesse war damals wie heute „ein Bekenntnis zum gemeinsamen Überleben anstatt zur Drohung mit der gegenseitigen Zerstörung“.

Ich bin gespannt, wohin uns unsere Überlegungen und Aktionen bringen. Bei allem, was wir über nukleare Erpressung, Unfälle mit Atomwaffen, Fehleinschätzungen und die menschlichen Kosten des nuklearen Wettrüstens wissen, gilt, um meinen Lieblings-Nobelpreisträger Bob Dylan zu zitieren, „the hour is getting late“ (in »All Along the Watchtower«) – es ist schon verdammt spät. Und doch wissen wir, dass eine andere Welt möglich ist.

Dr. Joseph Gerson ist Abrüstungskoordinator des American Friends Service Committee (ASFC), Programmleiter der ASFC-Projekte in Neuengland und geschäftsführender Direktor der Campaign for Peace, Disarmament and Common Security.

Dieser Text wurde für die internationale zivilgesellschaftlichen Konferenz »Growing nuclear risks in a changing world« gehalten, die am 8. Mai 2019 zeitgleich mit der Konferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag in New York stattfand.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.

Nach dem INF-Vertrag

Nach dem INF-Vertrag

Dokumentation einer Stellungnahme

von Studiengruppe »Europäische Sicherheit und Frieden« der VDW

Am 2. August 2019 wird die bindende Wirkung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) wegfallen, wenn keine diplomatische Einigung in letzter Minute erfolgt. Damit besteht die Gefahr eines neuen unkontrollierten und gefährlichen Wettrüstens in Europa und das Ende der nuklearen Abrüstung weltweit. Ab sofort muss sich Europa stärker um den Erhalt von Frieden und Sicherheit kümmern und geschlossen die Neustationierung von russischen und amerikanischen Atomwaffen in Europa verhindern. Vertrauensbildende und deeskalierende Maßnahmen, insbesondere gegenüber
Russland, und der Wille zum Dialog mit allen Beteiligten sind daher dringend notwendig. Die Studiengruppe »Europäische Sicherheit und Frieden« der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) hat dazu konkrete Vorschläge.

Mit der Kündigung des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces; zu Deutsch: Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) durch die Vereinigten Staaten und Russland fallen ab August 2019 die völkerrechtlichen Beschränkungen für die Entwicklung und Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa weg. Das Vertragswerk war im Kontext der Entspannungspolitik beschlossen worden und hatte 1987 das Ende des Kalten Krieges eingeleitet. Dem Vertrag folgte ein beispielloser Abrüstungsprozess, in dem ca. 2.700 Trägersysteme mit ca. 4.000 Atomsprengköpfen
eliminiert wurden und weitere Abrüstungsverträge möglich wurden. US-Präsident Trump und der russische Präsident Putin haben Anfang Februar 2019 nacheinander erklärt, den Vertrag zu suspendieren. Die US-Regierung verweist zudem auf das wachsende INF-Potenzial Chinas und anderer Staaten. Sie macht geltend, dass der INF-Vertrag veraltet ist, weil er diese Staaten nicht einbezieht. Eine Multilateralisierung des Vertrages wurde bisher allerdings nie ernsthaft angegangen. Daraus ergibt sich die akute Gefahr, dass weltweit eine neue gefährliche Rüstungsspirale beginnt sowie die nukleare Bedrohung
für Europa wieder wächst: Als mögliche militärische Gegenmaßnahmen der NATO-Staaten (North Atlantic Treaty Organization) für Europa werden die Neustationierung bodengestützter INF-Systeme, konventionell und nuklear, der Ausbau der Raketenabwehr, die Einführung von see- und luftgestützter Flugkörper oder die Verstärkung konventioneller Streitkräfte diskutiert.

Russland und die USA haben keine ernsthaften Schritte unternommen, um eine Lösung für die gegenseitigen Anschuldigungen, die seit 2014 bestehen, zu finden. Im Wesentlichen geht es zunächst um die umstrittene Reichweite eines russischen Flugkörpers 9M729 sowie um die potenziellen Offensivkapazitäten zweier NATO-Raketenabwehrstellungen in Polen und Rumänien. Der neue russische, nuklear bestückbare Marschflugkörper soll weiter als 500 km fliegen und wurde inzwischen in vier Verbänden stationiert. Der INF-Vertrag beinhaltet einen Mechanismus (Special Verification Commission), in dem
gegenseitige Vertragsverstöße im Vorfeld geklärt werden können. Seit 2014 sind von Rüstungskontrollexperten zahllose Vorschläge gemacht worden, um die INF-Krise zu lösen. Die NATO-Staaten sehen die russischen Vertragsverletzungen als gesichert an, aber der Öffentlichkeit liegen keine konkreten Beweise dafür vor. Die Unwilligkeit, diese eher technischen Probleme zu lösen, legt die Vermutung nahe, dass seitens der USA und Russlands kein Interesse an einer Weiterführung des Vertrages besteht. Eine eigenständige, europäische Strategie zum Erhalt der INF-Beschränkungen ist nicht erkennbar.

Das Ende des Vertragswerkes muss im Wirkungszusammenhang mit der neuen geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China gesehen werden, in dem der nach dem Kalten Krieg erreichte Stand der kooperativen Sicherheit und die Politik des Ausgleichs verloren gegangen sind. Der Verlust des INF-Vertrags spiegelt den Vertrauensverlust und die seit einigen Jahren herrschende gefährliche Gesprächsverweigerung zwischen ­Washington und Moskau wider. Auch im Bereich der konventionellen Rüstung stehen sich in Europa erneut militärische Kräfte
Russlands und der NATO in einer Weise gegenüber, die an die Situation im Kalten Krieg erinnert. Mit der Auflösung des INF-Vertrages wird die Sicherheitslage in Europa verschlechtert. Europa steht erneut an einem Scheideweg, an dem es sich auf seine eigenen friedens- und sicherheitspolitischen Interessen besinnen muss. Das wird durch unterschiedliche Positionierungen unter den europäischen Partnern leider erschwert.

Nach der Aufkündigung des INF-Vertrages wird es darauf ankommen, eine neue atomare Rüstungsspirale in Europa durch politisch bindende Vereinbarungen abzuwenden.

Es gilt, eine politische Brandmauer zu errichten, durch die neue russische und amerikanische Atomwaffenstationierungen in Europa verhindert werden. Die strategische Stabilität zwischen der NATO und Russland wird durch die erfolgte Stationierung russischer Marschflugkörper des Typs 9M729 nicht wesentlich beeinträchtigt. Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, dass Russland und die NATO eine gegenseitige Selbstbeschränkung bei Mittelstreckenwaffen vereinbaren und ausüben. Hierzu könnte gehören, dass Russland als vertrauensbildende Maßnahme alle 9M729-Systeme ostwärts des Urals stationiert.
Im Gegenzug könnten die USA und die NATO-Staaten erklären, dass sie keine landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa stationieren. Dies schließt eine Erklärung ein, die amerikanischen Aegis-Startrampen in Osteuropa nicht für die Stationierung von Marschflugkörpern zu nutzen. Für das Aushandeln entsprechender Vereinbarungen könnte neben bilateralen Sondierungen auch der NATO-Russland-Rat genutzt werden. Bei der notwendigen Verifikation sollten Beobachtungsflüge im Rahmen des Vertrags über den offenen Himmel (Open Skies) einbezogen werden. Deutschland könnte mit seinem neuen
Open-Skies-Flugzeug nach Indienststellung einen wichtigen Beitrag zu dieser Verifikation leisten.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich wesentlich stärker als bisher dafür einzusetzen, dass die NATO-Staaten auf die Aufkündigung des INF-Vertrages in Europa maßvoll und deeskalierend reagieren, um der russischen Seite ein vergleichbar kooperatives Verhalten zu ermöglichen.

Über diese kurzfristigen Maßnahmen hinaus bedarf es mittelfristig neuer Anstrengungen zur politischen und militärischen Vertrauensbildung zwischen der NATO und Russland, die neue Ansätze in der Rüstungskontrolle auf vertraglicher Grundlage ermöglichen, um Frieden und Sicherheit in Europa wieder zu festigen. Wechselseitige Gegenrüstung und Abschreckungsdoktrinen können den Frieden nicht sichern, u.a. weil keine Seite eine Eskalationskontrolle generieren kann. Künftig sind darüber hinaus folgende sicherheitspolitischen Schritte zur Stabilisierung der Situation denkbar:

1. Sondierung der Möglichkeit einer wechselseitigen Verzichterklärung auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zwischen NATO und Russland (»No first use pledge«) als vertrauensbildende Maßnahme.

2. Aufnahme von Gesprächen und Verhandlungen für eine Vereinbarung zwischen der NATO und Russland, in der beide Seiten erklären, dass sie keine bodengestützten Marschflugkörper und ballistischen Flugkörper mit mehr als 500 km Reichweite in Europa stationieren werden. Diese Vereinbarung sollte in einen neuen Verbotsvertrag münden, in den später auch see- und luftgestützte atomare Marschflugkörper einbezogen werden könnten. Umfassende Verifikationsmaßnahmen sind dazu auszuarbeiten.

3. Aufnahme von Gesprächen und Verhandlungen für globale Verbote nuklear bestückter Marschflugkörper und nuklear bestückter ballistischer Flugkörper mit Reichweiten von z.B. 500 km bis 5.500 km inklusive eines umfassenden Verifikationssystems. Mögliche Vertragsparteien wären neben den USA und Russland Indien, China und Pakistan.

Diese weitergehenden rüstungskontrollpolitischen Vorschläge setzen ein Mindestmaß an wiedergewonnenem politischem Vertrauen und einen Spannungsabbau zwischen den NATOStaaten und Russland sowie einen neuen Konsens innerhalb der NATO-Allianz voraus. Hierfür sollte sich die Bundesregierung nachdrücklich einsetzen, um Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken.

Unterzeichner:

Prof. Dr. Lothar Brock, Frankfurt
Prof. Dr. Michael Brzoska, Hamburg
Dr. Hans-Georg Ehrhart, Wedel
Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser, Hamburg
Prof. Dr. Hartmut Graßl, Hamburg
Dr. rer. nat. Dirk-Michael Harmsen, Karlsruhe
Dr. rer.pol. Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal
Parl. Staatssekretär a.D. Dr. Hans Misselwitz, Berlin
Prof. Dr. rer.nat. Götz Neuneck, Hamburg
Prof. Dr. Konrad Raiser, Berlin
Prof. Dr. Michael Staack, Hamburg
Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Hamburg