Das Kernwaffenprogramm der USA

Das Kernwaffenprogramm der USA

Eine Herausforderung für Abrüstungsbemühungen

von Marylia Kelley

Wer das Kernwaffenprogramm der USA verstehen will, darf nicht nur nach Washington D.C. schauen. Vielmehr muss man auch unter die Lupe nehmen, was in den beiden wichtigsten Kernwaffenlaboratorien des Landes vor sich geht, im Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien und im Los Alamos National Laboratory in New Mexico. Buchstäblich jede Kernwaffe der USA wurde entweder von Livermore oder von Los Alamos entwickelt und diese beiden Labore entwickeln gegenwärtig eine neue Bombe, den Robust Nuclear Earth Penetrator (RNEP) – eine tiefer in die Erde eindringende Waffe mit hoher Sprengkraft, sowie eine Vielzahl anderer neuer Waffenkonzepte, darunter die so genannten mini nukes – gemäß Definition eine Kernwaffe mit weniger als 5 Kilotonnen Sprengkraft, die im unbefristeten »Krieg gegen den Terror« der Regierung Bush zum Einsatz kommen sollen.

Die Rolle der beiden Waffenlaboratorien ist aber nicht auf die passive Umsetzung der US-amerikanischen Nuklearpolitik beschränkt. Sowohl Livermore als auch Los Alamos mischen zwar eher im Hintergrund, aber durchaus mit Erfolg, bei der Festlegung der Politik mit, häufig durch die Ausarbeitung der Kernwaffenprogramme. So wurde z.B. in den letzten zehn Jahren unter dem Deckmantel der »Stockpile Stewardship« (Bestandsicherung) in Livermore und Los Alamos eine gewaltige Infrastruktur für die Entwicklung von Kernwaffen aufgebaut, was unaufhaltsam dazu führt, dass das Kernwaffenarsenal der USA ständig »verbessert« wird.

»Stockpile Stewardship« wurde unter Präsident Bill Clinton als Komplettprogramm eingeführt, um die Waffenentwickler von Livermore und Los Alamos dafür zu »entschädigen«, dass sie auf unterirdische Nukleartests verzichten mussten. Zunächst wurden die militärischen Einsatzmöglichkeiten der Kernwaffen, die im Rahmen dieses Programms entwickelt wurden, vorsichtig als »Modifikationen« bestehender Waffentypen bezeichnet. Als der Sprengkopf B61-11 eine zwar bescheidene aber immerhin erste Fähigkeit zur Erddurchdringung erhielt, wurde dies folglich nur als Systemverbesserung ausgegeben. Inzwischen spricht aber die Regierung Bush offen davon, dass die USA neue und besser einsetzbare Kernwaffen entwickeln. Daher erhielt der neue nukleare »Bunkerknacker«, der für das US-Arsenal gebaut wird, einen eigenen Namen, eben »Robust Nuclear Earth Penetrator«. Bei genauerem Hinsehen allerdings sind die Funktionen und Fähigkeiten des »Stockpile Stewardship«-Programms sowohl bei der Modifikation des B61-11 Sprengkopfes als auch jetzt beim neuen RNEP im Wesentlichen identisch.

Ich will nicht bestreiten, dass der Nuclear Posture Review (die Überprüfung des US-Kernwaffenarsenals vom Januar 2002; d. Ü.) und nachfolgende Initiativen die Welt gefährlicher gemacht haben, indem sie die vertikale (neue Waffenfähigkeiten) wie die horizontale (Ausbreitung in weitere Staaten) Proliferation förderten. Es geht mir vielmehr darum, deutlich zu machen, dass die Regierung Bush die nukleare Gefahr zwar beschleunigt und ausgeweitet hat, aber keineswegs das Programm und die Infrastruktur erfunden hat, mit denen das passiert. Dieses US-Programm entstand vielmehr tief im Inneren der beiden Kernwaffenlaboratorien und aufgrund der Versprechungen und Gelder, die die Labors der vorangegangenen US-Regierung abringen konnten.

Die Hintergründe werden vielleicht ein bisschen klarer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zwischen den Waffenentwicklern von Livermore und Los Alamos schon seit einigen Jahrzehnten im Detail diskutiert wurde – u.a. in einem Artikel aus den 1980ern, der in der Hauszeitschrift des Livermore Laboratory erschien –, wie sich die Labors darauf einstellen können, wenn mit einem künftigen Umfassenden Teststoppabkommen (CTBT, Comprehensive Test Ban Treaty) die weitere Entwicklung von US-Kernwaffen gefährdet würde.

Für einige ist das vielleicht der Punkt, um darauf zu verweisen, dass ein Stopp der weiteren Entwicklung von Kernwaffen gerade Absicht des Vertrages ist, der zur Unterzeichnung ausliegt, seitdem Präsident Clinton ihn 1995 unterschrieben hat. Und in der Tat wurde genau das in der Präambel des CTBT auch so festgehalten. Aber im Sinne von Livermore und Los Alamos ist das eindeutig nicht.

Wenn man also das Problem der anhaltenden Entwicklung von Kernwaffen in den USA analysieren oder gar in Frage stellen will, muss man sich sowohl mit Macht, Einfluss und technischen Potenzialen der Kernwaffenlaboratorien in den USA als auch mit den jeweiligen Führern im Weißen Haus befassen.

»Stockpile Stewardship« und die Kernwaffenlabors

Das US-amerikanische »Stockpile Stewardship«-Programm ist ein ambitioniertes, vielseitiges Unterfangen, für das mehr als 25.000 Menschen in über sieben US-Bundesstaaten verteilten Einrichtungen arbeiten. Das Budget beträgt über 6 Milliarden US$ pro Jahr, und liegt damit etwa beim anderthalbfachen Durchschnittsbetrag, den die USA während des Kalten Krieges für Kernwaffen ausgaben. Unter der Aufsicht des US-Energieministeriums (DoE, Department of Energy) arbeiten Lawrence Livermore und Los Alamos an folgenden Aufgaben:

  • Erhebliche Ausweitung des in den USA vorhandenen Wissens über Kernwaffenphysik. Dazu werden eine ganze Reihe exotischer Experimentalanlagen gebaut, unter anderem die National Ignition Facility (NIF) in Livermore. Hier sollen nach neuester Planung Kernspaltungs- (Fissions-) – und Kernverschmelzungs- (Fusions-) Brennstoffe in anspruchsvollen Experimenten miteinander kombiniert werden. So würden die Spezifikationen des Megalasers noch mehr ausgeweitet, der damit die Entwicklung vollständig neuer Waffentypen ermöglichen würde.
  • Dreidimensionale Modellierung des Verhaltens einer explodierenden Kernwaffe mit absoluter oder nahezu absoluter Realitätstreue auf Supercomputern. Sollte dies erfolgreich sein, so stünden den Waffenentwicklern Möglichkeiten zur Verfügung, die die der bisherigen Kernwaffenentwicklung bei Weitem übersteigen.
  • Neudesign jeder Kernwaffe im US-Arsenal. In manchen Fällen sollen dafür komplett neue Bauteile entwickelt und gefertigt werden. Andere Waffensysteme sollen für neue militärische Fähigkeiten und Missionen ausgelegt werden, z.B. als Bunkerknacker.
  • Entwicklung und Bau einer neuen Fertigungsbasis für US-Kernwaffen. Dazu gehört auch die »Modern Pit Facility«, in der jedes Jahr bis zu 450 Plutoniumkerne (pits) für Kernwaffen hergestellt werden sollen. Diese Anlage eignet sich für die Produktion neuartiger Bombenkerne für neue Waffen, die heute erst auf den Zeichenbrettern von Livermore und Los Alamos entworfen werden.

Im Zusammenhang mit »Stockpile Stewardship« ist auch ein Designwettbewerb zwischen den Waffenbauteams in Livermore und Los Alamos im Gange. Als »Preis« winkt der Bau der entsprechenden RNEP-Bombe. Die Wissenschaftler von Livermore versuchen sich an einer Ergänzung der nuklearen Fliegerbombe des Typs B83, um Fähigkeiten der Erdeindringung zu erreichen. Mit einer oberen Sprengkraft von mehr als einer Megatonne (das entspricht einer Million Tonnen TNT) ist die B83 die größte Kernwaffe im derzeitigen US-Arsenal. Los Alamos hingegen will die Fähigkeiten des B61-Sprengkopfes zur Erdeindringung so verbessern, dass er als RNEP eingesetzt werden könnte.

Um besser einschätzen zu können, in welche Richtung die Waffenlabors marschieren, bietet sich ein genauerer Blick in das neue, bislang nur als Entwurf vorliegende, Betriebsdokument des Livermore Laboratory an. Dieser Bericht, Site Wide Environmental Impact Statement (SWEIS, Umweltverträglichkeitsstudie für sämtliche Standorte des Labors; d. Ü.), geht davon aus, dass die Kapazitäten zur Plutoniumlagerung in Livermore von 1.540 Pfund auf 3.300 Pfund mehr als verdoppelt werden. (In den USA entspricht 1 Pfund = 453 Gramm; d. Ü.) Das ist genug für 300 Kernwaffen. In mehreren Veröffentlichungen wird für das Labor von Los Alamos ein Plutoniuminventar von ca. 3 Tonnen genannt. Aus der SWEIS ergibt sich, dass die neuen Technologien, die in der Modern Pit Facility zum Einsatz kommen sollen, in Livermore entwickelt und getestet werden. Und das, obwohl das Energieministerium noch gar nicht entschieden hat, wo die neue Kernwaffenfabrik letztlich aufgebaut werden soll.

Die Umweltverträglichkeitsstudie fügt dem bislang schon geplanten Experimentenmix der National Ignition Facility, die noch im Bau ist und bis zu ihrem Betriebsende vermutlich über 30 Milliarden US$ verschlingen wird, auch Versuche mit Plutonium, hoch angereichertem Uran, Lithiumhydrid und weiteren Materialien hinzu. Das Dokument schlägt weiter vor, für den Megalaser auf dem Gelände von Livermore Tritiumtargets (winzige Zielscheiben aus radioaktivem Wasserstoff für die Laserstrahlen; d. Ü.) zu fertigen. Dadurch würde die Risikomenge Tritium, die für jeden Bearbeitungsgang jeweils maximal zulässig ist, um fast das Zehnfache angehoben, von knapp über 3 Gramm auf 30 Gramm.

Überdies skizziert die SWEIS Pläne, um die Wiederaufnahme von Nukleartests vorzubereiten, die 1992 ausgesetzt wurden. Dazu soll Livermore neue Diagnoseverfahren ausarbeiten, die die »Bereitschaft« zur Durchführung von Atomtests erhöhen würden.

Erfahrene Abrüstungsexperten und Politikanalysten gehen schon seit langem davon aus, dass die Waffentechniker von Livermore und Los Alamos von den 1990ern bis heute vor allem darauf aus waren, zunächst die »Stockpile Stewardship«-Fähigkeiten festzunageln und in einem nächsten Schritt auf die Wiederaufnahme von Nukleartests zu drängen, um die neuen Waffendesigns in richtigen Tests zu überprüfen. Jetzt wird diese Strategie immer offensichtlicher. Meine Prognose ist, dass die Regierung Bush, angeführt von den Waffenlaboratorien des Energieministeriums, etwa in der Mitte der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten eine (erfundene) Begründung für die Wiederaufnahme von unterirdischen Nukleartests auf dem Testgelände von Nevada vorbringen werden.

US-Atomwaffendoktrin und die Bush-Regierung

Im Frühjahr 2002 drangen über das Internet und die Los Angeles Times wesentliche Teile des geheimen Nuclear Posture Review der Regierung Bush an die Öffentlichkeit. Die zugänglich gemachten Teile enthüllen, dass die Regierung Bush das Verteidigungsministerium angewiesen hat, Notfallpläne für den Einsatz von Kernwaffen gegen mindestens sieben Länder – von denen fünf damals selbst keine Kernwaffen hatten – auszuarbeiten. Den meisten Leser wissen vermutlich, um welche sieben Länder es dabei geht: Russland, China, Irak, Iran, Nordkorea, Libyen und Syrien.

Darüber hinaus ordnete das Dokument an, dass der Einsatz von Kernwaffen für einen Nahostkonflikt, eine Konfrontation zwischen Taiwan und China, einen nordkoreanischen An- griff auf Südkorea, einen irakischen Überfall auf Israel oder andere Nachbarländer sowie für weitere, nicht näher erläuterte Situationen vorzubereiten sei. Der Bericht erwägt auch den Einsatz von US-amerikanischen Kernwaffen gegen nur vage definierte Ziele von besonderem Interesse, z.B. unterirdische Bunker und Höhlen, als Vergeltung für einen Angriff mit Chemie- oder Biowaffen und „für den Fall überraschender militärischer Entwicklungen“, was fast alles bedeuten kann.

Vielleicht noch mehr alarmiert, dass der Nuclear Posture Review die Rolle von US-Kernwaffen erweitert und nukleare Kriegsszenarien mit konventioneller Kriegsführung verbindet. In einem erheblichen Maß behandelt das Dokument Kernwaffen als lediglich eine weitere militärische Option. Das Dokument senkt die Schwelle zu einem Nuklearkrieg, indem es das Konzept von »besser einsetzbaren« Kernwaffen anbietet, das sich vor allem auf die noch zu entwickelnden Kernwaffen mit niedriger Sprengkraft und auf Bunkerknacker bezieht. Also auf genau das, woran die Waffenlabors des US-Energieministeriums gerade arbeiten.

Damit nicht genug. Der Nuclear Posture Review erhöht die Bedeutung der Infrastruktur zur Waffenentwicklung der Labors als neuen »Pfeiler« der militärischen strategischen Triade, auf der die Sicherheit der USA ruhen soll. Im Klartext: Der Nuclear Posture Review stellt den Laboratorien von Livermore und Los Alamos einen Blankoscheck aus für die »Stockpile Stewardship«, insbesondere für die hochgradig aggressive Kernwaffen-Entwicklungsmaschinerie. Dementsprechend, und kaum überraschend, wurde das US-Budget für Kernwaffen von Jahr zu Jahr ausgeweitet, ebenso Pläne für neue Laboranlagen zur Waffenentwicklung.

Der Nuclear Posture Review ist nach wie vor gültig. Dieses grundlegende Papier beschreibt die Kernwaffenpolitik der Regierung Bush. Allerdings wurde seine Reichweite durch spätere Dokumente noch präzisiert. Im September 2002 veröffentlichte das Weiße Haus die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigte Staaten von Amerika. Hier wird viel klarer der Weg des US-Militärs und der Kernwaffenpolitik hin zur »Präemption« geebnet, oder vielmehr zum »präventiven Krieg«. Im Wesentlichen legt das Dokument dar, dass die USA, da nicht bekannt sei, wer oder was das Land in Zukunft bedrohen könnte, schon heute nach Gutdünken jedes Land oder beliebige Personen angreifen kann – um sie daran zu hindern, morgen zur Bedrohung zu werden. (Die wenn auch schwache und völkerrechtswidrige Begründung für den Einmarsch in Irak kann zwischen den Zeilen dieses Berichts aus dem Jahr 2002 schon herausgelesen werden.)

Dazu passt, dass laut Presseberichten zu der Zeit, als die Nationale Sicherheitsstrategie erstellt wurde, Präsident Bush die geheime Presidential Decision Directive 17 unterzeichnete. Diese bestätigt die Doktrin eines möglichen präemptiven oder präventiven Einsatzes von Kernwaffen durch die USA als Antwort auf eine potenzielle Bedrohung mit Chemie- oder Biowaffen.

2003 schließlich landeten Mitglieder der Regierung Bush im Pentagon und den Waffenlabors des Energieministerium einen politischen Coup: Sie erhielten im US-Kongress genug Stimmen für die Aufhebung eines Gesetzesvorbehalts von 1994, der den USA jegliche Forschung und Entwicklung untersagte, die zur Produktion von »mini nukes« führen könnte. Damit ist jetzt jede rechtliche Bremse gelöst, und die Waffenlabors spurten immer schneller auf vollständig neue Kernwaffendesigns und die in der Folge zu erwartenden neuen Wettrüsten zu.

Aktivitäten zur Beschneidung des Kernwaffenbudgets

Die aktive Arbeit zahlreicher Nichtregierungsorganisationen in den USA und die Meinungsführerschaft einiger wichtiger Kongressabgeordneter, vor allem des republikanischen Vorsitzenden des Komitees, das im Abgeordnetenhaus für das Kernwaffenbudget des Energieministeriums zuständig ist, bewirkten für das Finanzjahr 2005, das am 1. Oktober 2004 begann, wichtige und genau spezifizierte Kürzungen im Haushalt.

Die Gelder für den RNEP wurden für 2005 auf Null heruntergekürzt, und einige Veröffentlichungen lassen vermuten, dass die Waffenlabors bereits die am »Wettbewerb« beteiligten Entwicklungsteams auflösen, wobei allerdings die Wissenschaftler lediglich auf andere »Stockpile Stewardship«-Projekte verteilt werden.

Auch die Finanzierung der Advanced Concepts Initiative in Livermore und Los Alamos wurde auf Null heruntergefahren. In dieses Programm fällt ein Großteil der Forschung für »mini nukes«. Die Modern Pit Facility erhält anstatt der beantragten 30 Millionen US$ jetzt 7 Millionen US$, musste also auch eine deutliche Reduzierung hinnehmen. Der Antrag des Energieministeriums, die Bereitschaftszeit zur Wiederaufnahme von unterirdischen Test zu verkürzen, wurde ausgebremst. Die Mittel für die National Ignition Facility wurden ebenfalls um 25 Millionen US$ beschnitten, wobei allerdings die für das Finanzjahr 2005 beantragten 492 Millionen US$ für das Gesamtprogramm, darunter 130 Millionen US$ für die Fortsetzung der Bauarbeiten, die Kürzungen deutlich relativieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Kongress mehr Gelder für die Demontage von Kernwaffen freigab als vom Energieministerium überhaupt beantragt wurden.

Natürlich müssen die Nichtregierungsorganisationen und Kongressmitglieder in den USA ihre Mobilisierungsanstrengungen fortsetzen, da diese Programme mit hoher Wahrscheinlichkeit im Haushaltsplan des Energieministeriums für das Finanzjahr 2006 wieder auftauchen, und der ist bereits im Februar 2005 fällig. Außerdem waren diese Budgetkürzungen, so sehr sie Grund zur Freude sind, angesichts des aufgeblähten Budgets für das »Stockpile Stewardship«-Program in keiner Weise ausreichend. Die Fähigkeiten der US-Labors, neue Atomwaffen zu entwickeln, werden erst dann wirklich eingeschränkt, wenn die Einschnitte in den Haushalt noch viel tiefer ausfallen.

Marylia Kelley ist Geschäftsführerein von Tri-Valley CAREs (Communities Against a Radioactive Environment). Die Gruppe mit Sitz in Livermore, Kalifornien, verfolgt die Aktivitäten in den Kernwaffenlabors der USA, insbesondere die des Lawrence Livermore National Laboratory. Die Berichte und monatlichen Bulletins stehen unter www.trivalleycares.org im Internet.
Übersetzt von Regina Hagen

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Möglichkeiten und Grenzen in der Politikberatung

von Annette Schaper

Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung zählt zu den größten deutschen Friedensforschungsinstituten. Während sich die anderen Forschungseinrichtungen in der Regel auf einen oder wenige Schwerpunkte konzentrieren, bearbeiten die Mitarbeiter der HSFK ein sehr breites Themenspektrum. Es enthält Analysen der aktuellen Krisenherde genauso, wie Untersuchungen des Verhältnisses Europa-USA und der neuen Welt(un)ordnung. Schwerpunkt sind sicher die Arbeiten zum Verhältnis »Demokratien und Frieden«. Der Leiter der HSFK, Harald Müller, hat dazu in W&F 2-2003 den Artikel »Die Arroganz der Demokratien – Der demokratische Frieden und sein bleibendes Rätsel« veröffentlicht. In folgendem Beitrag verdeutlicht Annette Schaper die Politik beratende Arbeit der HSFK im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Durch die Erfindung von Kernwaffen entstand zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Gefahr, dass sie sich in einem Krieg selbst auslöschen könnte. Während des Ost-West-Konfliktes gab es einen beispiellosen nuklearen Rüstungswettlauf. Die Zahl der weltweit existierenden Sprengköpfe, die Ende 1945 gerade sechs Sprengköpfe umfasste, war 1952 auf 1.005 auf amerikanischer und fünf auf sowjetischer Seite angestiegen. Der Höchststand war 1986 erreicht, mit rund 23.000 amerikanischen und 40.000 sowjetischen Sprengköpfen. Hinzu kamen je einige hundert in Großbritannien, Frankreich und China. Berühmt wurde der Begriff »Overkill«, der angibt, wie oft sich die Menschheit mit diesem Arsenal auslöschen könnte.

Neben der quantitativen Aufrüstung fand ein qualitativer Rüstungswettlauf statt. Im August 1949 explodierte die erste amerikanische und im August 1953 die erste sowjetische Wasserstoffbombe. Im Gegensatz zu den frühen Kernwaffen, die nur auf Kernspaltung beruhen, findet bei der Explosion einer Wasserstoffbombe auch eine Kernverschmelzung statt. Mit dieser Technik sind noch viel energiereichere Explosionen möglich. Die größte Nuklearexplosion mit 58 Megatonnen, soviel wie ungefähr 30.000 Hiroschima-Bomben, wurde 1961 von der Sowjetunion gezündet. In den Ausbau ihrer Forschung und Entwicklung und in ihre Produktionskomplexe investierten die USA und die Sowjetunion massiv. Bald gab es eine Vielzahl von technischen Variationen. Die Sprengköpfe wurden leichter, so dass sie auf Raketen montiert werden konnten, die elektronischen Kontroll- und Sicherungssysteme wurden komplexer, die Explosionsenergien in den ersten beiden Jahrzehnten des »Kalten Krieges« immer größer.

Strategien und Rüstungskontrolle zielten daher seit Beginn des »Kalten Krieges« darauf ab, den Einsatz dieser Waffen durch Abschreckung zu vermeiden. Tatsächlich ist es zwischen den beiden Machtblöcken während des »Kalten Krieges« niemals zu einem Einsatz gekommen. Ob diese Situation auch auf Dauer stabil geblieben wäre, wenn der »Kalte Krieg« weiter fortgedauert hätte, ist umstritten. Es ist ebenfalls umstritten, ob nach dem Ende des »Kalten Krieges« diese Gefahr bereits gebannt ist, oder ob die Welt nicht sicherer dastünde, wenn alle Kernwaffen von der Erde verschwänden.

Seit Bestehen der HSFK führen wir Forschungsprojekte zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle durch. Sie befassen sich sowohl mit der Analyse des aktuellen Geschehens mit dem Ziel der Politikberatung für die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit als auch mit grundsätzlichen Analysen, um die Ursachen der rüstungsdynamischen Prozesse zu verstehen und längerfristige Handlungsoptionen für die internationale Gemeinschaft zu entwickeln. Unsere Arbeit basiert daher auf zwei Pfeilern – Theorie und Praxis. Die Praxisnähe wäre ohne ständigen Kontakt und Austausch mit den Entscheidungsträgern nicht möglich. Diese sind Beamte (v.a. des Auswärtigen Amts, des Verteidigungsministeriums, des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft und des Bundesausfuhramts), Politiker aller demokratischen Parteien und ihre Mitarbeiter, Diplomaten, die in verschiedenen internationalen Foren mit nuklearer Rüstungskontrolle befasst sind, Vertreter von Interessengruppen, z.B. aus der Wirtschaft und auch entsprechende Kollegen und Kolleginnen aus anderen Ländern.

Im Folgenden einige Beispiele für Forschungsfelder und Politikberatung zu nuklearer Abrüstung:

Nukleare Abrüstung: Erste Schritte zur Gefahrenabwendung

Nukleare Abrüstung ist sowohl ein politischer als auch ein technischer Prozess. In einem ersten Schritt muss ein Inventar der abzurüstenden Systeme erstellt werden. Leider gibt es bis heute keine offiziellen Angaben über die Zahl der Sprengköpfe in den Kernwaffenstaaten, es fehlt an internationaler Transparenz und an Verpflichtungen, Zahlen zu Kernwaffenbeständen offen zu legen. Eine Transparenzmaßnahme wäre zum Beispiel das bereits 1993 vom deutschen Außenminister vorgeschlagene Kernwaffenregister bei den Vereinten Nationen. Die nächsten Schritte sind Verminderung der Alarmbereitschaft, Löschen der Zielprogrammierung und Verlängerung der Vorwarnzeiten, z.B. durch Aufschütten von Erde auf Silos. Maßnahmen in diese Richtung finden statt, allerdings nur auf freiwilliger Basis und ohne Verifikation. Die USA und Russland haben Deaktivierungsmaßnahmen angekündigt, der Grad ihrer Implementierung ist jedoch nicht bekannt. Alle diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Gefahr eines versehentlichen Atomkrieges zu verkleinern und sind auch in unserem Sicherheitsinteresse. Daher ist der Bundesregierung zu empfehlen, sich für eine Beschleunigung dieser Abrüstungsmaßnahmen, eine stärkere Verpflichtung und mehr Transparenz über ihre Implementation einzusetzen.

Nukleare Abrüstung: START und SORT

Im nächsten Abrüstungsschritt müsste man die Sprengköpfe von ihren Trägersystemen separieren und die Träger verschrotten. Die Verpflichtung hierzu ist in den START-Verträgen für bestimmte strategische Systeme festgelegt, ebenso umfangreiche Verifikationsmaßnahmen. Die beiden START-Verträge berühren jedoch nicht die Verschrottung von Sprengköpfen und auch nicht den Abbau von taktischen Kernwaffen. Lange bestand die Hoffnung, dass die Verschrottung von Sprengköpfen Gegenstand eines START-III-Vertrages werden würde. Dies hatten die Präsidenten Clinton und Jelzin auf dem Helsinki-Gipfel im März 1997 angekündigt. Obwohl auf freiwilliger Basis auch Sprengköpfe zerlegt werden, würde die Verpflichtung hierzu in einem internationalen Vertrag ihre Irreversibilität erhöhen. Es wäre dann viel schwieriger wieder aufzurüsten.

Es kam jedoch anders: Der Folgevertrag – genannt Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) – den Bush und Putin am 24. Mai 2002 unterzeichneten, umfasst lediglich 475 Worte. Er verpflichtet beide Seiten, ihre stationierten strategischen Systeme bis zum Dezember 2012 auf 1.700 – 2.200 zu reduzieren, aber er enthält keinerlei Bestimmungen darüber, was mit den Trägersystemen oder den Sprengköpfen geschehen soll. Jede Seite kann selbst über die Zusammensetzung ihrer Arsenale bestimmen. Ein bilaterales »Vertragskomitee« wird sich zweimal jährlich treffen, bis der Vertrag 2012 ausläuft. Die Verpflichtungen erlöschen an diesem Datum und im Prinzip können beide Seiten sofort wieder aufrüsten. Darüber hinaus sind keine Transparenz- oder Verifikationsmaßnahmen vorgesehen. Außerdem kann der Vertrag mit kurzer Frist gekündigt werden. Beide Seiten bleiben also in der Vertragserfüllung extrem flexibel.

SORT bleibt weit hinter den Erwartungen zurück, die der Helsinki-Gipfel 1997 geweckt hatte. Die beiden zentralen Anliegen der Helsinki-Erklärung waren Transparenz und Irreversibilität der nuklearen Abrüstung, also eine weitest mögliche Offenlegung des Prozesses mittels intrusiver Verifikation sowie maximale Unumkehrbarkeit. Der SORT-»Vertrag« verzichtet im Gegenteil auf jegliche Transparenzmaßnahmen und erlaubt, nach seinem Auslaufen 2012 oder nach einer kurzfristigen Kündigung sofort wieder aufzurüsten.1

Diese Einschätzung und das Bedauern über diese Entwicklung wird von den meisten deutschen Entscheidungsträgern geteilt. Mit unserer Politikberatung laufen wir daher offene Türen ein. Auf internationalem Parkett finden wir ebenfalls viele Gleichgesinnte. Es ist jedoch – nicht überraschend – nicht gelungen, die amerikanische Regierung zu einer ähnlichen Beurteilung zu bewegen.

Auf der eher theoretischen Ebene befassen wir uns u.a. mit der grundsätzlichen Bedeutung von Transparenz und Irreversibilität in der nuklearen Rüstungskontrolle. Selbst bei gutem Willen hat man das fundamentale Problem, dass bestimmte technische Informationen über Kernsprengköpfe geheim bleiben müssen, um Risiken der Weiterverbreitung zu minimieren.

Nukleare Abrüstung: Entsorgung des Waffenmaterials

Nach der Demontage von Sprengköpfen liegen die Komponenten aus Nuklearmaterial – genannt Pits – zunächst intakt vor. Die Lagerung von intakten Pits darf aber kein Dauerzustand werden, denn damit ist eine Wiederaufrüstung sehr schnell möglich. Richtig irreversibel wird der Abrüstungsprozess erst, wenn das Material in eine Form überführt worden ist, die größere technische Hürden gegen eine Verwendung für Kernwaffen aufbaut. Im Falle hochangereicherten Urans (dies ist eines von zwei möglichen Nuklearmaterialien) gibt es eine technische Lösung, die sogar begrenzt wirtschaftlich ist: Das Uran wird als waffentauglicher Reaktorbrennstoff verwendbar. Im Falle des anderen für Kernwaffen verwendeten Materials, des Plutoniums, ist die Situation schwieriger. Zwei Vorschläge wurden ernsthaft erwogen, die Verarbeitung zu Mischoxid-Brennelementen (MOX) mit anschließender Bestrahlung in Kernreaktoren und die Vermischung mit radioaktivem Abfall mit anschließender Verglasung und Endlagerung.2 Von diesen beiden blieb nach eingehenderen Untersuchungen nur die MOX-Option als einzige realistische übrig.

Das Problem der Abrüstung von Waffenplutonium war relevant für die deutsche Politik, da sich die Frage stellte, ob die nie in Betrieb gegangene Hanauer MOX-Anlage hierfür hätte genutzt werden können. Der Vorschlag aus der HSFK, das russische Plutonium gleich in Hanau zu verarbeiten, hatte – kaum überraschend – keine Realisierungschance, mangels öffentlicher Akzeptanz.3 Ein realistischerer Vorschlag – der Export von Anlagenteilen nach Russland zum Zweck der Abrüstung4 – scheiterte nach längeren Debatten aus dem gleichen Grund. Die Debatte in Deutschland war so polarisiert, dass schließlich sogar die finanzielle Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen Projekt der Industriestaaten zur Entsorgung von Waffenplutonium in Russland scheiterte. Dies stellt das Gelingen des gesamten Projekts in Frage, da der Finanzaufwand enorm und noch nicht gesichert ist. Deutschland beteiligt sich stattdessen an einigen anderen Abrüstungsprojekten. Einige sind wichtig, andere im Vergleich zum Problem der Plutoniumentsorgung weniger relevant.5

Zu diesem Thema haben wir uns aktiv an der deutschen und internationalen Debatte beteiligt. Es war zu beobachten, dass die meisten Entscheidungsträger, die sich intensiv mit dem Thema befasst hatten, zu einer ähnlichen Einschätzung gelangten wie wir, unabhängig von Parteipräferenz. Die Entsorgung des Plutoniums mittels MOX-Technologie bedeutet in diesem Fall nämlich kein Einstieg in die Plutoniumwirtschaft, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so aussieht. Eine solch intensive Beschäftigung blieb jedoch einem kleinen Kreis vorbehalten. Daher war es nicht möglich, für diesen Vorschlag eine breitere Unterstützung zu finden.

Nukleare Abrüstung: Rüstungskontrollverträge

Der einzige Vertrag, der die Kernwaffenstaaten verpflichtet, vollständig abzurüsten, ist der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), früher auch »Atomwaffensperrvertrag« genannt. 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die regelmäßige Überprüfung des Vertrages verstärkt werden und dass dafür eine Liste von Kriterien beachtet werden soll, die so genannten Prinzipien und Ziele der NVV-Überprüfung. Das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung wird darin bekräftigt und einzelne Maßnahmen, wie z.B. der Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) und ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen, genannt »Cutoff«, als förderlich für dieses Ziel benannt.

Die Verhandlungen zum CTBT wurden zwar 1996 erfolgreich abgeschlossen, seine Ratifikation seitens der USA, unabdingbar für das Inkrafttreten, fehlt jedoch. Die Bush-Administration in ihrer Skepsis gegenüber jeder Rüstungskontrolle hat nicht vor, sich noch mal um eine Ratifizierung zu bemühen, im Gegenteil, sie will wieder neue Sprengköpfe entwickeln und schließt längerfristig weitere Nukleartests nicht aus.6 Während der CTBT-Verhandlungen standen wir der deutschen Delegation beratend zur Seite. Dadurch entstand eine wechselseitige Beeinflussung, die einerseits die deutsche Verhandlungsposition zwischenzeitlich beeinflusste, uns andererseits aber ein sehr realistisches Bild vermittelte, wie begrenzt der Spielraum auf internationalem Parkett ist, wenn ein Verhandlungsgegenstand im eigenen Land nur auf schwaches Interesse stößt und daher keine starke Lobby hat.Zum Cutoff haben wir uns ebenfalls stark politikberatend engagiert und sind bei deutschen Partnern nur offene Türen eingerannt. Aber nach 1996 kam es wegen Meinungsverschiedenheiten in der Genfer Abrüstungskonferenz zu keinen Verhandlungen mehr und verschiedene Bemühungen, nicht nur von deutscher Seite, sind wirkungslos verpufft.7

Insbesondere infolge der Ablehnung von internationalen Verpflichtungen, Gremien und nuklearer Rüstungskontrolle seitens der Bush-Administration steht die weitere Zukunft der nuklearen Abrüstung und damit auch die Eindämmung der Nichtverbreitung auf dem Spiel. Die Bundesregierung hat im Gegensatz zur Bush-Regierung das Ziel, die internationalen Verpflichtungen zu stabilisieren und zu stärken. Allerdings hat die nukleare Rüstungskontrolle in der Vielzahl der Politikfelder eine starke Konkurrenz und eine vergleichsweise schwache Lobby. So wird sie oft genug anderen Interessen geopfert. Unsere Politikberatung erreicht zwar die zuständigen Fachleute. Aber deren Einfluss ist begrenzt. Politikberatung ist nicht mit Lobbyarbeit zu verwechseln, da wir keine weiteren Eigeninteressen verfolgen. Um der nuklearen Abrüstung in Deutschland ein stärkeres Gewicht zu verleihen, wäre ein viel stärkeres öffentliches Interesse notwendig.

Anmerkungen

1) A. Schaper: Die Aufwertung von Kernwaffen durch die Bush-Administration, In: Corinna Hauswedell et. Al (Hrsg.): Friedensgutachten 2003, Münster 2003, p.138.

2) National Academy of Sciences (NAS): Committee on International Security and Arms Control (CISAC), Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium, Washington 1994; NAS, CISAC, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium: Reactor Related Options, Washington 1995.

3) Hier ist zu betonen, dass es zwar Vorschläge und Meinungen {u}aus{/u} der HSFK gibt, nicht jedoch {u}der{/u} HSFK. Das Institut als solches gibt keinerlei Stellungnahmen ab, alle geäußerten Meinungen sind die von einzelnen Mitarbeitern. Zu Einzelheiten des Vorschlags siehe: A. Schaper: Using Existing European MOX Fabrication Plants for the Disposal of Plutonium from Dismantled Warheads, in: W.G. Sutcliffe (Ed.): Selected Papers from Global ‘95, UCRL-ID-124105, Livermore, June 1996, p.197.

4) National Academy of Science and German-American Academic Council (GAAC): U.S.-German Co-operation in the Elimination of Excess Weapons Plutonium, July 1995.

5) Vgl. A. Schaper: Deutsche Abrüstungshilfe für russisches Waffenplutonium – Ein Plädoyer, in: Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Ratsch (Hrsg.): Friedensgutachten 2001, Münster 2001, S.283.

6) A. Schaper: Friedensgutachten 2003, siehe Fußnote 1.

7) Die Vorgänge in der CD sind dokumentiert und analysiert in den Publikationen des Acronym-Instituts. Auf seiner Webseite sind alle Publikationen herunterladbar: www.acronym.org

Dr. Annette Schaper ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Atomwaffenmacht Israel

Atomwaffenmacht Israel

von Ernst Woit

Israel verfügt inzwischen über ein Kernwaffen-Arsenal, das aus 200 bis 300 Sprengköpfen besteht.1 Als »Vater der israelischen Atombombe« gilt der Kernphysiker Yu‘ Val Ne‘man, während unter den israelischen Politikern der Sozialdemokrat Shimon Peres die treibende Kraft hinter dem israelischen Nuklearwaffenprogramm war.2 „Im Jahr 1952“, sagte Peres später einem israelischen Reporter, „stand ich ganz allein da mit meinem Ziel, die israelische Kernwaffenoption durchzusetzen.“3 Er war es, der zur Absicherung des Atomprojekts auf der Schaffung eines neuen, speziellen Nachrichtendienstes bestand, die Beschaffung von Spenden bei jüdischen Millionären im Ausland betrieb und jede internationale Kontrolle des offiziell als zivil dargestellten israelischen Nuklearprogramms ablehnte. 1966 verteidigte Peres Israels Entscheidung, der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) Kontrollen zu verweigern, mit der Begründung, „die Araber seien im konventionellen Bereich überlegen.“4 Nachdem die britische Sunday Times am 5. Oktober 1986 einen Bericht des ins Ausland geflohenen israelischen Kernphysikers Mordecai Vanunu über die israelische Kernwaffenproduktion veröffentlicht hatte, an der er bis zu seiner Flucht persönlich mitgewirkt hatte, war es Peres, der den israelischen Geheimdienst Mossad beauftragte, Vanunu zu kidnappen und in israelischen Gewahrsam zu nehmen, wo er seitdem eingekerkert ist. Schließlich hatte Shimon Peres auch maßgeblichen Anteil an der Herstellung einer engen Kooperation Israels mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime auf dem Gebiet der Waffenentwicklung und insbesondere der Nuklearrüstung.5 Diese Kooperation ermöglichte es Israel, am 22. September 1979 über dem Südatlantik einen Nuklearwaffentest durchzuführen. Auch deshalb ist es durchaus berechtigt, ja unerlässlich, den späteren Friedensnobelpreisträger Shimon Peres – wie Gush-Shalom das kürzlich getan hat – als das einzuschätzen, was er tatsächlich war und geblieben ist: „ein traditioneller zionistischer Falke“.6

Inzwischen verfügt Israel nicht nur über ein umfangreiches Arsenal unterschiedlicher Nuklearwaffen einschließlich Neutronensprengköpfen, sondern auch über die unterschiedlichsten Trägermittel bis hin zu Interkontinentalraketen. Im September 1988 schoss Israel seinen ersten Satelliten ins All und ist inzwischen neben den USA und Russland das dritte Land, das Cruise Missiles mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern von U-Booten aus starten kann. Dabei handelt es sich übrigens um U-Boote des Typs »Delfin«, die von Deutschland finanziert und produziert wurden.7 Doch nicht nur, dass Israel sich unter Ignorierung aller völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kontrolle und Verminderung nuklearer Rüstungen ein Kernwaffenpotenzial von strategischer Bedeutung schuf – es schreckte auch nicht davor zurück, ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt zu verhindern. So bombardierte und zerstörte die israelische Luftwaffe am 7. September 1981 den in Bau befindlichen Atomreaktor in Osirak bei Bagdad. Überlegungen israelischer Politiker und Militärs, ähnlich auch gegen andere Länder vorzugehen, hat es seitdem mehrfach gegeben. So schlug der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon während des Libanonkrieges 1982 vor, man solle Syrien mit Nuklearwaffen angreifen.8 Am 28. September 1998 votierte der gerade zum Generalstabschef ernannte Generalleutnant Schaul Mofaz mit folgender Argumentation dafür, den Iran anzugreifen: „Ein Präventivschlag war immer ein Teil von Israels strategischen Optionen. Die Ausrüstung eines extremistischen Landes wie dem Iran mit weitreichenden Raketen, die mit nicht-konventionellen Raketengefechtsköpfen ausgestattet werden können, könnte auf längere Sicht zu einer existentiellen Bedrohung Israels werden.“9

Nach Seymour M. Hersh ist es schon bemerkenswert, „dass einer der wichtigsten Verbündeten der USA … heimlich ein beachtliches Atomwaffenarsenal aufbauen konnte, während Washington einfach schwieg und die Augen geschlossen hielt.“10 Tatsächlich hat Israel auf seinem Wege zu einer Kernwaffenmacht in extremer Weise all die Eigenschaften und Praktiken entwickelt, die typisch für jene Staaten sind, die von den USA gemeinhin als »Schurkenstaaten« bezeichnet und bekämpft werden. Demgegenüber haben die US die Entwicklung Israels zur Kernwaffenmacht nicht ein einziges Mal öffentlich kritisiert, sondern vielmehr nach Kräften unterstützt. Immerhin haben die USA Israel die meisten Trägersysteme für seine Kernwaffen geliefert. Das alles hängt letztlich damit zusammen, dass die Existenz dieser Kernwaffenmacht ein wohl kalkulierter Bestandteil der Nahost-Strategie der USA gegenüber den arabischen Ländern ist.

Anmerkungen

1) Vgl.: Israels Atomstreitkräfte. In: antimilitarismus information, Berlin 31(2001) 1, S.13 ff.

2) Vgl. W. E. Burrows/R. Windrem: Critical Mass. London 1994, S.292 f.

3) S. M. Hersh: Atommacht Israel. München 1991, S.35.

4) Ebenda, S. 163.

5) Ebenda, S. 274.

6) Gush Shalom: Israel: 80 Thesen für ein neues Friedenslager. In: Marxistische Blätter. Essen 39(2001)3, S.11.

7) Nach: Wissenschaft & Frieden, Bonn, 18(2000)4, S. 4.

8) Nach: antimilitarismus information. A.a.O., S. 21

9) Nach: Ebenda, S. 22.

10) S. M. Hersh: A.a.O., S.331.

Prof. Dr. Dr. Ernst Woit, Philosophiehistoriker und Friedensforscher

US-Raketenabwehr

US-Raketenabwehr

Zurück zum globalen Schutzschild?

von Tom Bielefeld und Götz Neuneck

Die Ankündigung US-Präsident Clintons, die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen landesweiten Raketenabwehrsystems National Missile Defense (NMD) seinem Nachfolger zu überlassen, hat Befürwortern und Gegnern des Systems lediglich eine kurze Atempause verschafft. Spätestens nach der Vereidigung der neuen Administration im Januar wird die Debatte um Zweck und Architektur der Raketenabwehr jedoch wieder aufleben. Beide Präsidentschaftskandidaten haben sich prinzipiell für die Einführung einer Raketenabwehr zur Landesverteidigung ausgesprochen. Während der Demokrat Gore weitgehend an den bisherigen Plänen der Clinton-Administration festhalten möchte, hat der Republikaner Bush angekündigt, ein noch umfassenderes System entwickeln lassen zu wollen, das auch verbündete Staaten vor Raketenangriffen schützen soll. Gleichzeitig lockt Bush mit einer Überprüfung der US-Nukleardoktrin und stellt eine einseitige Reduzierung der Nuklearstreitkräfte in Aussicht. Auch scheint er eher geneigt zu sein, den ABM-Vertrag, der den USA und Russland die Entwicklung einer landesweiten Raketenabwehr verbietet, im Zweifelsfall aufzukündigen, falls Russland einer Anpassung des Vertrages nach US-amerikanischen Wünschen weiterhin nicht zustimmen sollte. Gore kündigte an, in intensive Verhandlungen zur Lösung des Streits insbesondere mit Russland, aber auch mit China zu treten.
Unterdessen wird die Debatte um NMD vor dem Hintergrund fehlgeschlagener Testflüge und wachsender Zweifel an der technischen Durchführbarkeit des Projekts zunehmend angereichert durch Forderungen nach Alternativen zur jetzigen NMD-Architektur. Es existieren mittlerweile aus den verschiedenen politischen Lagern einige neue Vorschläge, die das NMD-System entweder durch ein weniger aufwändiges ersetzen oder durch neu zu entwickelnde Komponenten zur See oder im Weltraum ergänzen sollen – letzteres mit möglicherweise verheerenden Folgen für den Abrüstungsprozess.

Clintons Entscheidung, nicht zu entscheiden

In seiner Rede vom 1. September1 begründete Präsident Clinton die Verschiebung der Stationierungsentscheidung von NMD damit, dass er aufgrund der bisherigen Testergebnisse noch nicht genügend Vertrauen in Technik und Effektivität des Gesamtsystems habe. Clinton erwähnte auch die Vorbehalte der europäischen Verbündeten und kündigte an, die diplomatischen Bemühungen für eine Änderung des ABM-Vertrages mit Russland fortzusetzen. Desweiteren betonte er, dass seine Entscheidung den NMD-Programmablauf nicht verzögere. Der ursprüngliche, ehrgeizige Zeitplan, der die Stationierung der NMD-Eingangsstufe2 bereits im Jahre 2005 vorgesehen hatte, war zwischenzeitlich aufgrund der fehlgeschlagenen Tests und unvorhergesehener Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Abfangraketen allerdings bereits um ein bis zwei Jahre nach hinten korrigiert worden.

Außenpolitisch hatte die Clinton-Administration sowohl Russland und China als auch die europäischen Verbündeten von der Notwendigkeit und Unschädlichkeit ihrer Planungen zu überzeugen versucht. Die Europäer blieben skeptisch, Russland und China verharrten in offener Ablehnung. Die Regierungen beider Länder warnten wiederholt vor „ernsthaften Konsequenzen für die internationale Sicherheit Russlands, Chinas und anderer Länder (…) und die weltweite strategische Stabilität“.3 Innenpolitisch wurde jeder diplomatische Schritt der Clinton-Administration von der republikanischen Kongressmehrheit misstrauisch beäugt. Deren Vertreter stellten mittlerweile die Gültigkeit des ABM-Vertrages überhaupt in Frage und kündigten an, jedes Abkommen mit Russland, das die Vereinigten Staaten in ihren Bemühungen um ein Abwehrsystem einschränken könnte, verhindern zu wollen.4 Die europäischen Regierungen begrüßten Clintons Entscheidung. Die britische und deutsche Regierung nannten sie „weise“ und der NATO Generalsekretär Robertson bezeichnete sie als „klugen Schritt“. Clinton betonte in seiner Rede, dass die Vereinigten Staaten in Zukunft alliierte Unterstützung haben „müssen“.

Countermeasures

Neben der Diskussion um die politischen Konsequenzen einer NMD-Stationierung bestimmte vor allem der Streit über die technische Durchführbarkeit des Projekts die letzten Monate. Im April veröffentlichte eine Gruppe von US-Naturwissenschaftlern, unter ihnen renommierte Experten wie Richard Garwin und Ted Postol, eine Studie, in der sie ihre technischen Einwände gegen das System vorbrachten und durch detaillierte Rechnungen belegten.5 Die Studiengruppe kam zu dem Schluss, dass vergleichsweise geringe technische Mittel ausreichten, um die Sensoren des geplanten Abwehrsystems zu überlisten und dass diese so genannten »Countermeasures« (Gegenmaßnahmen) sehr wahrscheinlich von jedem Land installiert werden könnten, das in der Lage sei, ballistische Raketen mit großer Reichweite zu bauen oder zu kaufen. Die Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste bestätigte, dass Länder wie Nordkorea, Iran oder Irak auf einfach zugängliche Technologien für Gegenmaßnahmen wie Ballonattrappen oder radarabsorbierende Materialien zurückgreifen können: „Diese Länder können Gegenmaßnahmen basierend auf diesen Technologien zu dem Zeitpunkt entwickeln, zu dem sie ihre Raketen testen.“6

Die Einwände, ein Abwehrsystem sei technisch recht einfach zu umgehen, sind nicht neu, allerdings wurden sie im Rahmen der Studie erstmals mit quantitativen Abschätzungen und konkreten Berechnungen für drei Beispiele unterfüttert:

  • Bio- oder Chemiewaffen, die in hundert oder mehr kleinen Behältern, so genannter »Submunition«, im Kopf der Rakete transportiert werden,
  • Nukleare Gefechtsköpfe, die im Inneren von metallbeschichteten Ballons untergebracht sind und zusammen mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden und schließlich
  • Nukleare Gefechtsköpfe, die mit einer stickstoffgekühlten Hülle versehen werden.

Im ersten Fall, in dem der B-und C-Kampfstoff anstatt in einem einzigen Gefechtskopf in vielen kleinen Behältern transportiert wird, die gleich nach dem Ausbrennen der letzten Stufe freigesetzt werden, wird das Verteidigungssystem durch die große Anzahl einfliegender Objekte schlicht überfordert. Das NMD würde auch nach der letzten geplanten Ausbaustufe im Jahre 2011 lediglich für das Abfangen einiger Dutzend Sprengköpfe ausgelegt sein. Das bedeutet, dass die Ortung, Verfolgung und Zerstörung hunderter »Bomblets« aus mehreren angreifenden Raketen unmöglich wäre. Diese Angriffstaktik ist zudem für einen B- oder C-Waffeneinsatz die effektivste Methode, weil so der Kampfstoff im Zielgebiet über eine große Fläche verteilt werden kann.

Im zweiten und dritten Fall werden den NMD-Sensoren die notwendigen Informationen über das Ziel vorenthalten, die es braucht, um einfliegende Gefechtsköpfe zu orten, von Attrappen zu unterscheiden und schließlich mit dem Abfangflugkörper anzusteuern. Es gibt jedoch für die Radaranlagen und IR-Sensoren keinerlei Unterscheidungskriterium mehr zwischen einem Gefechtskopf und zusätzlich freigesetzten Attrappen, wenn der Gefechtskopf im Inneren eines metallbeschichteten Ballons versteckt, also selbst als Attrappe getarnt wird.7

Es existieren zahlreiche weitere Tarnmöglichkeiten, zum Beispiel verhindert die Freisetzung des Gefechtskopfes innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden eine exakte Radarortung. Diese Methoden sind allesamt keine Reißbrett-Phantasien, die in der Realität schwierig zu implementieren wären, sondern realistische Möglichkeiten, die auch technisch weniger entwickelten Ländern zur Verfügung stehen sollten, sobald diese in der Lage sind, ballistische Raketen zu konstruieren.

Walk before you run? Teil I: Pleiten, Pech und Pannen des Testprogramms

Im Flugtestprogramm der dem Pentagon zugehörigen Raketenabwehrbehörde BMDO fanden ernstzunehmende Gegenmaßnahmen bisher wenig Beachtung.8 Die Devise lautete: „Walk before you run“. Die beiden ersten Testflüge im Juli 1997 und Januar 1998, bei denen Prototypen des Abfangflugkörpers Sensordaten über Zielköpfe und Attrappen sammeln sollten, wurden zunächst als Erfolg gewertet. Allerdings wurde nach diesen Flügen die Anzahl der Attrappen für die eigentlichen Abfangtests im Oktober 1999 sowie im Januar und Juli diesen Jahres, drastisch gesenkt, nämlich auf einen einzigen hellen Ballon. Dieser runde Ballon, der sich schon äußerlich deutlich von einem konisch geformten Gefechtskopf unterscheidet, leuchtete noch dazu unter den Versuchsbedingungen sechs bis sieben Mal heller als der Gefechtskopf, war also gut zu erkennen.

Trotz des weitgehenden Verzichts auf realistische Gegenmaßnahmen und der Tatsache, dass sich das Ziel weitgehend »kooperativ« verhielt (das Abfangteam kannte die Flugbahn und die Angriffszeit, die physikalischen Eigenschaften des Ziels und der Attrappe sowie die genauen Koordinaten des Gefechtskopfes, die dieser über einen Sender übermittelte) verlief nur der erste der drei Abfangtests erfolgreich. Der zweite Test scheiterte an einer Panne im Kühlsystem für den Infrarotsensor des Abfangflugkörpers. Beim dritten Test verhinderte eine Fehlfunktion der letzten Trägerstufe das Ausklinken des Abfangflugkörpers, so dass beide zusammen unverrichteter Dinge ins Meer stürzten.

Der Mangel an ernstzunehmenden Attrappen und die Verwendung kooperativer Ziele bilden die Hauptkritikpunkte am Testprogramm. Vor dem dritten Test im Sommer war befürchtet worden, dass dem System im Erfolgsfalle vom Verteidigungsminister die technische Reife bescheinigt werden würde, nach lediglich drei Tests, die allesamt nicht unter den wahrscheinlichen Bedingungen des Ernstfalls stattgefunden hätten. Nach dem unerwarteten Scheitern des letzten Tests mehrten sich jedoch auch im Kongress die Stimmen, die für eine Verschiebung der Stationierung eintraten. In der Tat zitierte Clinton in seiner Rede die beiden fehlgeschlagenen Testflüge als eine Begründung dafür, dass ihm noch das Vertrauen in die NMD-Technologie fehle. Weitere „robuste Entwicklungs- und Testprogramme“ seinen nötig, um die „operative Effektivität“ des Systems zu prüfen. Der nächste Test ist frühstens im Januar 2001 geplant. Die weitere Testplanung dürfte aber stark vom Ausgang der US-Wahl und den Plänen der neuen Administration abhängen.

Walk before you run? Teil II: Manipulationsvorwürfe

Die Kritik am NMD-Testprogramm ließ auch nach den letzten Misserfolgen nicht nach, im Gegenteil. Im Mai dieses Jahres schrieb der MIT-Professor Ted Postol einen Brief an den Stabschef des Weißen Hauses, in dem er Vorwürfe gegen ein an der NMD-Entwicklung beteiligtes Unternehmen erhebt.9 Postol beruft sich auf technische Unterlagen über den ersten Testflug IFT-1a (Juli 1997), die im Rahmen eines Prozesses einer entlassenen Mitarbeiterin gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber TRW zugänglich gemacht wurden. Die Protokolle über die Auswertung des Testflugs zeigten, so Postol, Inkonsistenzen und deutliche Hinweise auf Datenmanipulationen, die allen Beteiligten bekannt gewesen sein müssten.

Bei IFT-1A flog ein Testabfangflugkörper an einem Feld mit zehn Objekten vorbei. Dabei handelte es sich um den Gefechtskopf, acht Attrappen verschiedener Form und Größe sowie den Bus, auf dem die anderen neun Objekte in den Weltraum gebracht wurden. Ziel dieses Versuchs war, die Sensoreinheit des Abfangflugkörpers zu erproben und Daten über die zehn Objekte zu sammeln. Mit diesen Daten wiederum sollten die Zielerkennungs- und Diskriminierungsalgorithmen für den Bord-Computer des Abfangflugkörpers getestet werden. Laut BMDO war dieser Test erfolgreich. Die Sensoren hätten die Objekte erkannt und die Software sei in der Lage gewesen, den Gefechtskopf von den Attrappen zu unterscheiden.

Postols Analyse der technischen Unterlagen hingegen zeigte, dass die gemessenen Signale der zehn Objekte keinerlei Merkmale enthielten, die zur Unterscheidung von Gefechtsköpfen und Attrappen hätten dienen können. Mehr noch, die vorliegenden Protokolle ergäben, dass versucht wurde, dieses Ergebnis mit Hilfe einer Manipulation der Auswertungssoftware zu vertuschen. Postol kommt zu dem Schluss, dass aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Daten die Sensoren und Computer des Abfangflugkörpers prinzipiell nicht in der Lage sein werden, Gefechtsköpfe von einfachen Attrappen zu unterscheiden.10

Das Pentagon reagierte auf Postols Vorwürfe, indem es den Brief und die technischen Anhänge, die allesamt aus freigegebenen Unterlagen bestanden, eine Woche später wieder als geheim einstufte. Zur Zeit sind die Behauptungen Postols Gegenstand einer Überprüfung durch das General Accounting Office. Tatsache ist auch, dass nach dem zweiten Testflug, der wie der erste ebenfalls ein Vorbeiflugtest war, die Anzahl der Attrappen für die eigentlichen Abfangtests auf eine einzige reduziert wurde, nämlich auf den oben bereits erwähnten hellen Ballon.11 Weitere BMDO-Unterlagen zeigen, dass auch bei den für die kommenden Jahre geplanten Abfangtests auf glaubwürdige Attrappen verzichtet werden wird.

Von Frachtschiffen und Weltraumwaffen: Alternativen zu NMD?

Die andauernde Diskussion um die technischen Unzulänglichkeiten von NMD und die Ankündigung von George W. Bush, im Falle seiner Wahl zum Präsidenten das Abwehrsystem um zusätzliche Komponenten erweitern zu lassen, haben dazu geführt, dass im Laufe des Jahres von verschiedenen Seiten Vorschläge für alternative Raketenabwehrsysteme vorgetragen wurden. Auf den ersten Blick sehen sich einige der Vorschläge sehr ähnlich, bei näherem Hinsehen wird aber klar ersichtlich, dass es drei sehr unterschiedliche Ansätze gibt:

Richard Garwin hat den Vorschlag gemacht, das NMD-System durch ein kleineres, so genanntes Boost-Phase-Intercept-System (BPI) zu ersetzen.12 Ted Postol hat diese Ideen, an denen er mitgearbeitet hat, als effizienter bezeichnet als NMD. Im Gegensatz zu NMD, dessen in Nordamerika stationierte Abfangraketen anfliegende Gefechtsköpfe im Weltraum abfangen sollen, schlagen sie vor, feindliche Raketen bereits wenige Minuten nach dem Start noch während der Antriebsphase abzuschießen. Zu diesem Zweck müssten die BPI-Abfangraketen in der unmittelbaren Nähe des Angreifers, nicht mehr als einige hundert Kilometer entfernt stationiert werden, denn die Antriebsphase einer Interkontinentalrakete dauert nicht länger als etwa vier Minuten. In dieser Zeit müsste der Start der Rakete registriert werden, ihre Flugbahn berechnet, die Abfangrakete gestartet und schließlich der Abschuss erfolgt sein. Die Zeitkritikalität ist der gravierendste technische Nachteil dieser Abfangmethode.

Die erforderliche Nähe zum Angreifer hingegen ist bei kleineren Staaten von der Größe Nordkoreas oder auch des Irak kein unüberwindliches Problem. Die Abfangraketen könnten in diesen Fällen auf Frachtschiffen im Japanischen oder Kaspischen Meer oder auch in kooperierenden Ländern wie der Türkei stationiert werden. Russland und China hätten vor einem solchen System nichts zu befürchten, denn ihre schiere Größe würde es ihnen immer ermöglichten, einen Abschussort zu finden, der außerhalb der Reichweite des BPI-Systems liegt. Aus diesem Grunde wäre BPI für diese Staaten wahrscheinlich eher akzeptabel als NMD. Garwin hofft, dass über die auch für das BPI-System notwendigen Anpassungen des ABM-Vertrags leichter ein Konsens zu finden sein wird. In der Tat hatte der russische Präsident Putin Anfang Juli im Vorfeld des Moskauer Gipfeltreffens mit Präsident Clinton angedeutet, Russland und die USA könnten bei örtlich begrenzten Raketenabwehrsystemen zusammenarbeiten.

Eine weiterer, technisch weniger überzeugender Vorschlag für ein BPI-System wurde unter anderem vom ehemaligen CIA-Chef John Deutch vorgetragen.13 Dieser Vorschlag beinhaltet, vorhandene Marineschiffe, die mit dem Schiffsverteidigungssystem AEGIS ausgestattet sind, das sich gerade in der Weiterentwicklung zum Raketenabwehrsystem »Navy Theater Wide«-System (NTW) befindet, so umzurüsten, dass die Abfangraketen an Bord dieser Schiffe angreifende Raketen in der Antriebsphase abfangen können. Ungewiss ist bei diesem Vorschlag vor allem die Frage, ob das NTW ohne weiteres für BPI-Missionen umgerüstet werden kann. Es ist denkbar, dass eine Neuentwicklung gemäß dem Garwin/Postol-Vorschlag, mit Frachtschiffen und landgestützten Abfangraketen, billiger zu realisieren wäre. Deutch und seine Kollegen haben ihren Vorschlag im Sommer als Übergangslösung veröffentlicht, weil sie der Überzeugung waren, das geplante NMD-System sei noch nicht ausgereift und eine verfrühte Stationierungsentscheidung würde zudem den Beziehungen zu Russland und China schweren Schaden zufügen. Die Ideen der Gruppe sind jedoch wenig detailliert und nicht ausgereift. Viele Fragen bleiben offen.

Die Fraktion der Befürworter einer globalen Raketenabwehr, zu der traditionell weite Kreise der Republikaner gehören, hat die technische Kritik der NMD-Gegner ebenfalls aufgenommen. Jedoch verkehrt sie deren Argumentation in ihr Gegenteil, indem sie betont, dass der Verwundbarkeit des begrenzten Abwehrsystems der Clinton-Administration durch eine Ergänzung dieses Systems um zusätzliche Komponenten zur See und möglicherweise auch im Weltraum begegnet werden müsse.

Ein Vorschlag in diese Richtung wurde 1999 von der konservativen Heritage Foundation vorgelegt.14 Deren Autoren möchten ebenfalls die Raketenabwehr »Theater Missile Defense« (TMD) der Marine aufrüsten und in ein globales, see- und weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem verwandeln. Ihr Vorschlag zielt darauf ab, die landgestützten NMD-Abfangraketen auf Schiffen unterzubringen und desweiteren die für das NMD geplante Infrastruktur an Aufklärungssatelliten und Radaranlagen zu nutzen. Hinzukommen sollen weltraumgestützte Abwehrwaffen, die feindliche Raketen sowohl in der Antriebsphase als auch in der mittleren Flugphase abfangen sollen. Einige der Vorschläge erinnern verdächtig an die alten SDI-Fantasien.Eines dieser Systeme, der »Space-Based Laser« (SBL), befindet sich bereits in der Entwicklung. Das Ziel des SBL ist es, startende Raketen noch in der Antriebsphase mit Hilfe eines Laserstrahls zu zerstören. Dieses Programm, das gemeinsam von der Luftwaffe und dem BMDO betrieben wird, hat jedoch laut einer aktuellen GAO-Studie15 noch hohe technische Hürden zu überwinden. Ein Prototyp des SBL wird frühestens im Jahre 2008, wahrscheinlich aber erst zwischen 2010 und 2012, in den Weltraum gebracht werden können. 12 bis 24 SBLs könnten die gesamte Erde abdecken.

Das zweite vorgeschlagene System sind die sogenannten weltraumgestützten kinetischen Interzeptoren (SBI), die als »Brilliant Peebles« bereits aus früheren Studien zu SDI bekannt sind.16 Dieses System würde aus Abfangprojektilen bestehen, die, gekoppelt an Satelliten, ständig auf einer Erdumlaufbahn kreisen. Wenn ein Satellit einen Raketenstart registriert, würden sich diese Abfangraketen in Bewegung setzen und auf Kollisionskurs zum anfliegenden Gefechtskopf gehen. Auch hier müssten die Weltraumprojektile ihre Ziele selbständig orten und von Attrappen unterscheiden können.17

Unabhängig von den astronomischen Kosten, die eine solche umfassende Raketenabwehr verursachen würde und die die Kosten für das aktuelle NMD-System bei weitem übersteigen, ist äußerst zweifelhaft, ob dieses System überhaupt zuverlässiger funktionieren würde. See- und weltraumgestüzte Abfangraketen, die Gefechtsköpfe in der mittleren Flugphase abschießen sollen, sind natürlich genauso durch Attrappen zu verwirren wie landgestützte Raketen. Die prinzipiellen Probleme, die das NMD-System plagen, wären also auch mit umfangreicheren Systemen wie dem der Heritage Foundation nicht gelöst. Letztlich hätte ein solches System also sehr viel Geld gekostet, zu einer Bewaffnung des Weltraums geführt und die ohnehin schon schwierigeren politischen Probleme, die mit strategischen Raketenabwehrsystemen verbunden sind, dramatisch verschärft.

BPI-Systeme, die feindliche Raketen bereits in ihrer Antriebsphase abfangen sollen, hätten möglicherweise mehr Aussicht auf Erfolg, obgleich auch solche Systeme bei weitem keine absolute Verlässlichkeit garantieren könnten. Auch hier steckt der Teufel im Detail. Das BPI-System von Garwin/Postol scheint prinzipiell technisch machbar zu sein. Das gleiche gilt für eine Variante, bei der die Abfangraketen von Kampfflugzeugen aus losgeschickt werden. In beiden Fällen wäre der logistische Aufwand groß und die zu überwachende Fläche, etwa die eines Landes von der Größenordnung Iraks oder Libyens, vergleichsweise klein. Dies stellt aber, wie bereits erwähnt, mit Bezug auf die Beziehungen zu Russland und China keinen Nachteil dar. Die extrem kurzen Reaktionszeiten, die dadurch begründet sind, dass die Antriebsphase von Raketen nur wenige Minuten dauert, würde bei BPI-Systemen lange Befehlsketten ausschließen. Das System müsste sofort quasi automatisch reagieren, Zeit für eine Autorisierung durch höhere Kommandoebenen oder die politische Führung bliebe nicht.

Garwins und Postols BPI-System existiert gegenwärtig nur als Vorschlag. Hingegen werden von der BMDO zwei andere BPI-Systeme bereits entwickelt. Das ist neben dem weltraumgestützten Laser SBL das sogenannte »Airborne Laser«-Programm (ABL), bei dem ebenfalls ein Laserstrahl zum Abschuss von aufsteigenden Raketen benutzt werden soll. Der dazugehörige Laser soll an Bord einer Boeing 747-400 untergebracht werden, die in mehreren hundert Kilometern Entfernung vom Startplatz der feindlichen Rakete patrouilliert. Geplant ist, bis zum Jahre 2007 eine Flotte von sieben Flugzeugen zu stationieren. Ein ABL-Flugzeug ist leichter gegen startende ICBM einzusetzen, da deren Wände dünner sind als die von Kurzstreckenraketen. Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen darüber, ob das ABL-System überhaupt in der Lage sein wird, innerhalb der Erdatmosphäre und aus mehreren hundert Kilometern Entfernung einen Laserstrahl genügend lange auf einen Punkt auf der Hülle einer sich bewegenden Rakete zu fokussieren, um diese schließlich zu durchdringen. Ähnliche Vorbehalte existieren über den weltraumgestützten Laser. Letzterer ist jedoch sicherheitspolitisch noch kritischer, weil er völlig unzweideutig die Bewaffnung des Weltraums einläutet.

Die schon heute in der Entwicklung befindlichen TMD-Systeme haben alle das Potenzial der Vernetzung untereinander und mit der geplanten NMD-Radar und Weltraumsensorik (SBIRS). So kann zum Beispiel das mobile »Theater High Altitude Area Defense System« (THAAD), dessen Zweck es sein soll, Bevölkerungszentren oder militärische Einrichtungen vor Raketen zu schützen, mit den NMD-Frühwarnsatelliten SBIRS verbunden werden. Diese Vernetzung würde dem System im Prinzip die Fähigkeit geben, größere Bereiche (einige 100 km Durchmesser) abzudecken. Auch kann das System im Prinzip gegen strategische Raketen mittlerer und langer Reichweite eingesetzt werden.18 Somit könnte THAAD Teil eines landesweiten, strategischen Abwehrsystems werden und das »begrenzte« NMD-System gleich um mehrere hundert Abfangraketen erweitern. Ähnliches gilt für das Marine-Abwehrsystem NTW. So tragen diese beiden Systeme de facto zur weiteren Erosion des ABM-Vertrages bei.

Aussichten

Durch die Einführung von mehreren TMD-Systemen oder einer BPI-Raketenabwehr kann die Funktion des NMD-Systems ergänzt oder erweitert werden, so dass eine mehrschichtige Raketenverteidigung entsteht. Dies wäre mit der Idee des ABM-Vertrages genauso wenig vereinbar wie die Schaffung einer globalen Weltraumaufklärungs- und Steuerkomponente (SBIRS, SBL etc.). TMD-Systeme sollten ursprünglich außerhalb der USA zum Schutz von US-Truppen oder Alliierten vor Raketenangriffen stationiert werden. Ihr militärischer Hauptzweck besteht darin, den Handlungsspielraum von US-Truppen weltweit zu erhalten.

Für einige Regionen und Länder wie z.B. Taiwan bzw. Japan oder Israel würden diese effektiv aber auch ein nationales Verteidigungssystem darstellen. Der tatsächliche Nutzen solcher Systeme ist jedoch zweifelhaft, denn die Möglichkeiten von Gegenmaßnahmen bestehen auch hier. Entscheidend ist, ähnlich wie beim NMD, wie effektiv die Abwehr gegen einfache Gegenmaßnahmen ist und nicht, ob es prinzipiell gelingt einen anfliegenden, ungetarnten Gefechtskopf im Flug zu treffen.

Die Bost Phase-Vorschläge bieten ebenfalls lediglich eine technische Lösung des heutigen Proliferationsproblems. Regionale, see- oder landgestützte BPI-Systeme wären mit dem ABM-Vertrag leichter in Einklang zu bringen. Zumindest Russland könnte einer solchen Lösung zustimmen. Das Problem dieser Systeme liegt, neben den noch zu überwindenden technischen Hürden darin, dass sie aus US-Perspektive in der gegenwärtigen Situation eher als weitere Ergänzung der NMD-Architektur betrachtet werden und nicht als deren Ersatz.

Die in den USA fortdauernde Debatte zeigt, dass die USA nach wie vor gewillt sind, eine umfassende Raketenabwehr aufzubauen. Keines der vorgeschlagenen Konzepte ist jedoch bisher ausgereift und überzeugend. Es wird entscheidend von der nächsten Administration abhängen, welcher der genannten Wege beschritten wird und ob es gelingt, die Sorgen Russlands und Chinas zu zerstreuen. Die Befürchtigung dieser Nuklearstaaten liegt darin, dass durch den Wegfall des ABM-Vertrages ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten beginnt, das u.a. auch in den Weltraum getragen wird. Eine Aufkündigung der Substanz des ABM-Vertrages könnte den Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozess weiter schwer behindern und sogar die zweite Säule des internationalen Rüstungskontrollregimes, den Nichtverbreitungsvertrag, zum Einsturz bringen.19 Im Zuge einer solchen Entwicklung könnten sich weitere Staaten gezwungen fühlen, in eigene Nukleararsenale zu investieren. Die beste Rückversicherung gegen den Aufbau einer Raketenabwehr ist in der Logik nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Die Paradoxie der heutigen Diskussion besteht darin, dass zwar der Kalte Krieg beendet ist, nicht jedoch sein Erbe, das Denken in Abschreckungskategorien. Soll aber die nukleare Abschreckung überwunden werden, ist der einfachere Weg sicher die konsequent fortgesetzte nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle von Massenvernichtungswaffen. Diese hat zumindest in der Vergangenheit mehr Raketen unschädlich gemacht als alle bisherigen Raketenabwehrversuche.

Literatur

Siehe dazu: Tom Bielefeld, Götz Neuneck: Ende der Illusion?, Spektrum der Wissenschaft, September 2000, S. 92-94. Eine aktuelle, offizielle Bewertung des NMD-Testprogramms findet sich in: Statement by The Honorable Philip E. Coyle, Director, Operational Test and Evaluation, Before the House Committee on Government Reform, Subcommittee on National Security, Veterans Affairs, and International Relations, 8. September 2000,
http://sun00781.dn.net/spp/starwars/congress/2000_h/ coyle_sept_8. htm

Anmerkungen

1) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks by the President on National Missile Defense, 1. September 2000, www.whitehouse.gov/library/hot_releases/ September_1_2000_2.html

2) »SDI light« oder die Aushöhlung des ABM-Vertrages, in: Wissenschaft & Frieden 2/1999, S.58-63.

3) The Washington Post, 19. Juli 2000.

4) Senator Trent Lott et al.: Letter to the President, 25. September 1998; R. James Woolsey: What ABM Treaty?, Washington Post, 15. August 2000; Mirko Jakubowski: Öffentliche Meinung, gesellschaftliche Gruppen und Raketenabwehr in den USA, HSFK-Bulletin Nr. 5, Frühjahr 2000.

5) Union of Concerned Scientists, MIT Security Studies Program: Countermeasures – A Technical Evaluation of the Operational Effectiveness of the Planned US National Missile Defense System, Cambridge, April 2000.

6) National Intelligence Council: Foreign Missile Developments and the Ballistic Missile Threat to the United States Through 2015, September 2015 (Unclassified Summary of the Intelligence Communitys 1999 National Intelligence Estimate).

7) Leere Ballons haben wegen des fehlenden Luftwiderstands im Weltraum dasselbe Driftverhalten wie der schwere Gefechtskopf und ihre Oberflächentemperatur lässt sich leicht durch einen dünnen Farbanstrich manipulieren, der das Sonnenlicht in gewünschter Menge absorbiert. Bei nächtlichen Angriffen würde ein kleines, batteriebetriebenes Heizaggregat denselben Zweck erfüllen. Im Übrigen könnten auch alle Attrappen eine leicht unterschiedliche Temperatur haben, wenn das System die eigentliche Temperatur des Gefechtskopfs nicht genau kennt.

8) B = Siehe dazu: Tom Bielefeld, Götz Neuneck: Ende der Illusion?, Spektrum der Wissenschaft, September 2000, S. 92-94. Eine aktuelle, offizielle Bewertung des NMD-Testprogramms findet sich in: Statement by The Honorable Philip E. Coyle, Director, Operational Test and Evaluation, Before the House Committee on Government Reform, Subcommittee on National Security, Veterans Affairs, and International Relations, 8. September 2000, http://sun00781.dn.net/spp/starwars/congress/2000_h/ coyle_sept_8. htm

9) Theodore A. Postol, Letter to John Podesta, White House Chief of Staff, 11. Mai 2000; William J. Broad: Antimissile System's Flaw Was Covered Up, Critic Says, New York Times, 18. Mai 2000; Uwe Schmitt: Kritik an US-Raketenabwehrsystem, Die Welt, 27. Mai 2000.

10) Den Autoren dieses Artikels liegen die technischen Unterlagen, auf die Postol sich bezieht, teilweise vor. Wir teilen die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Analyse und können ebenfalls bestätigen, dass diese Unterlagen in entscheidenden Passagen inkonsistente Behauptungen und irreführende bzw. physikalisch unhaltbare Schlussfolgerungen enthalten.

11) Kleinere Ballons, deren Infrarotsignatur der des Gefechtskopfs ähnlicher ist und die ursprünglich ebenfalls bei den ersten Abfangtests hätten mitfliegen sollen, wurden, wahrscheinlich aufgrund der Erfahrungen aus den Vorbeiflugtests, nicht mehr berücksichtigt.

12) Richard L. Garwin: A Defense that Will Not Defend, in: The Washington Quarterly 23:3, Summer 2000, S. 109-123; The Wrong Plan, in: The Bulletin of the Atomic Scientists, March/April 2000, S. 36-41.

13) John Deutch, Harold Brown, John P. White: National Missile Defense: Is There Another Way?, in: Foreign Policy, Summer 2000, S. 91-100.

14) Defending America: A Plan to Meet the Urgent Missile Threat, Report by The Heritage Foundation's Commision on Missile Defense, March 1999, http://www.heritage.org/missile_defense . Eine detaillierte Analyse dieses Vorschlags findet sich in: Rodney W. Jones, Taking National Missile Defense to Sea, Council for a Livable World Education Fund, October 2000, http://www.clw.org/ef/seanmd.html

15) United States General Accounting Office, DoD Efforts to Develop Laser Weapons for Theater Defense, GAO/NSIAD-99-50, March 1999.

16) Dieser Vorschlag wurde insbesondere während der Bush-Administration populär. Es sollte sozusagen eine etwas realistischere Variante von SDI darstellen und wurde wiederum von Edward Teller und seinen Kollegen propagiert. Eine Kritik findet sich in: Richard L. Garwin: Brilliant Pebbles Won't Do, in: Nature, Vol. 346, S. 21, July 5, 1990.

17) Die Strecke, die die Abfangrakete bis zu ihrem Zielen zurücklegen müsste, hängt ab von der Anzahl der stationierten Satelliten und deren Abständen zueinander. Je mehr Satelliten stationiert werden, desto dichter das Netz und desto kürzer der zurückzulegende Weg.

18) Lisbeth Gronlund, George Lewis, Theodore Postol, David Wright: Highly Capable Theater Missile Defenses and the ABM Treaty, Arms Control Today, April 1994, S. 3-8.

19) Siehe dazu das VDW-Memorandum: Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!- Konzept, W&F 1-2001.

Tom Bielefeld ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS)

Atomare Rüstungskontrolle

Atomare Rüstungskontrolle

– Opfer des US-amerikanischen Unilateralismus

von Alexander Kelle

Die Medien haben wieder einmal falsch berichtet: Die Erklärung der fünf offiziellen Nuklearwaffenstaaten USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich am Ende der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) stellt keinen Durchbruch auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt dar, ja noch nicht einmal eine in ihrer inhaltlichen Substanz neue Aussage. Die Fünf hatten bereits bei der unbegrenzten Verlängerung des NVV im Jahr 1995 eine Verpflichtung abgegeben, nukleare Abrüstung nicht nur als Prozess zu verstehen, sondern auch als verbindliches Ziel im Sinne der vollständigen nuklearen Abrüstung. Damals wie heute weigern sich die Kernwaffenbesitzer aber, einen auch nur unverbindlichen Termin für die Realisierung dieses Ziels anzugeben. Es sei praktikabler – so ihre Argumentation – in überschaubaren, aufeinander folgenden Abrüstungsschritten voranzugehen. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden solange erkennbar bleibt, dass die Strategie zum gewünschten Ziel führt. Genau daran sind derzeit jedoch erhebliche Zweifel angebracht.

Im bilateralen US-amerikanisch-russischen Abrüstungsdiskurs überwiegen die negativen Anzeichen eindeutig. Daran ändert auch die kurz vor der NVV-Überprüfungskonferenz erfolgte Ratifizierung des START-II-Vertrages zur Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen nichts. Diese war zweifellos mit Blick auf ebendiese Konferenz erfolgt, wo sie dazu genutzt werden konnte, Fortschritte bei der Umsetzung der im NVV enthaltenen Abrüstungsverpflichtung zu demonstrieren. Mit diesem Schritt tritt jedoch weder der START-II-Vertrag unmittelbar in Kraft – dazu müssen die USA ihrerseits noch Ergänzungen des Vertrags ratifizieren – noch besteht Klarheit zwischen den beiden Parteien über die jetzt vorzunehmenden Abrüstungsschritte.

Weiter gehende Abrüstungsschritte im bilateralen Rahmen werden zudem durch die US-Pläne bezüglich eines landesweiten Raketenabwehrsystems erschwert. Die russische Besorgnis über ein nationales Raketenabwehrsystem in den USA blockierte lange Zeit bilaterale Schritte zur Reduktion der strategischen Nuklearwaffenarsenale. Die Ratifizierung des START-II-Vertrags durch die russische Duma im April 2000 wurde denn auch an die Abkehr der USA von ihren Plänen, ein landesweites Raketenabwehrsystem zu errichten, geknüpft.

Auch auf multilateraler Ebene, in der Genfer Abrüstungskonferenz (CD), droht die US-amerikanische Raketenabwehr Fortschritte bei der nuklearen Rüstungskontrolle gänzlich zu verhindern. Scheiterte der Beginn von Verhandlungen über einen sogenannten Cut-Off-Vertrag bislang an der damit verbundenen Forderung einiger Blockfreie Staaten nach einem verbindlichen Abrüstungsfahrplan, so droht nun die chinesische Forderung nach einem »Ausschuss zur Verhinderung eines Rüstungswettlaufs im Weltall« weiteren Sand in das abrüstungspolitische Getriebe der CD zu streuen. Verantwortlich für diese chinesische Forderung sind zweifelsfrei die US-Raketenabwehrpläne. Insbesondere die Möglichkeit regionaler Abwehrsysteme, die in Japan, Südkorea oder gar Taiwan stationiert werden könnten, alarmieren die chinesische Führung.

Mit Blick auf den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) von 1996, der als letzter Meilenstein der nuklearen Rüstungskontrolle angesehen werden muss, stellt ebenfalls die US-Politik eines der entscheidenden Hindernisse auf dem Weg zu seinem Inkrafttreten dar. Die Ablehnung des CTBT durch den amerikanischen Senat im Oktober 1999 wird hier – ungeachtet der russischen CTBT-Ratifizierung im April 2000 weiteren Stillstand verursachen. Die Ratifizierung durch China ist höchst unwahrscheinlich, schließlich hat China seine letzten Nukleartests 1996 mit dem Hinweis auf seinen Rückstand bei der Waffenentwicklung gegenüber den USA und Russland gerechtfertigt. Sollte nun ein landesweites Raketenabwehrsystem in den USA errichtet werden, könnte die chinesische Führung zu dem Schluss kommen, die Glaubwürdigkeit des chinesischen Abschreckungsdispositivs werde vollends untergraben. In einem solchen Szenario könnte die Entwicklung neuer Nuklearwaffen – möglicherweise unter Einbezug von Nukleartests – als einzig mögliche Option erscheinen, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten.

Betrachtet man die Ursachen der gegenwärtigen Krisensymptome nuklearer Rüstungskontrolle – verzögertes Inkrafttreten von CTBT und START-II-Vertrag, ausbleibende Verhandlungen über einen Cut-Off-Vertrag, unklarer Einzugsbereich von START-III-Verhandlungen und, last but not least, die Raketenabwehrpläne – so zeigt sich der zunehmende US-amerikanische Unilateralismus als entscheidender Einflussfaktor. Jedoch bleibt diese politische Grundhaltung nicht auf die nukleare Rüstungskontrolle begrenzt: Die Umsetzung des Chemiewaffen-Übereinkommens durch die USA läuft schleppend, bei den Verhandlungen über ein Biowaffen-Protokoll blockieren die USA rasche Fortschritte und die Anti-Personenminen-Konvention wurde ohne die USA abgeschlossen, um nur einige Beispiele zu nennen. Allerdings manifestiert sich dieser Unilateralismus nicht nur im sicherheitspolitischen Bereich, sondern auch in anderen Politikfeldern wie etwa der Umweltpolitik. So ist denn auch der von Harald Müller im diesjährigen Friedensgutachten auf den Punkt gebrachten Feststellung insbesondere auch im Rüstungskontrollbereich zuzustimmen: „Die Welt hat ein Problem. Das Problem heißt USA.“ Eine schnelle, politikfeldbezogene Lösung ist in Anbetracht des sehr viel grundlegenderen Charakters des Problems nicht zu erwarten. Es ist zu hoffen, dass der Bestand verhandelter Rüstungskontrollabkommen die gegenwärtige unilaterale Phase der US-Politik ohne größere Verluste übersteht. Der größten Gefahr ist hier der ABM-Vertrag ausgesetzt, der mit den US-Raketenabwehrplänen ausgehebelt zu werden droht. Hier ist ein Gegensteuern der an Rüstungskontrolle nach wie vor interessierten US-Verbündeten am dringendsten geboten.

Dr. Alexander Kelle, Institut für Vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen, J.W. Goethe Universität/Hessische Stiftung Friedens und Konfliktforschung

Drohungmit der Bombe?

Drohung
mit der Bombe?

Russland und seine Nuklearwaffen

von Otfried Nassauer

„Russland senkt Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen“ meldete die französische Nachrichtenagentur afp am 14. Januar. Kaum im Amt hatte Vladimir Putin eine neue »Konzeption der nationalen Sicherheit« in Kraft gesetzt. Das Papier, so viele westliche Beobachter, erlaube nicht nur den auch von der NATO offen gehaltenen Ersteinsatz nuklearer Waffen, sondern lasse erkennen, daß Moskau angesichts der Schwäche seiner konventionellen Streitkräfte davon ausgehe, Atomwaffen künftig früher einsetzen zu müssen. Russland auf den Spuren der NATO, auf zu einer russischen Variante der Strategie der flexiblen Antwort, mit der die NATO den Kalten Krieg überwinterte? Neuer Grund zu westlicher Vorsicht?
Otfried Nassauer über die neue Rolle der Atomwaffen in der russischen Sichewrheitspolitik.

Vladimir Putin, Russlands Interimspräsident und Premierminister hat sich schnell einen Ruf als entschlossener Entscheider gemacht. Kaum im Amt, ließ er das nur drei Monate alte Grundlagendokument russischer Sicherheitspolitik, die »Konzeption nationaler Sicherheitspolitik der Russischen Föderation« seines Vorgängers Boris Jelzin aus dem Oktober 1999n überarbeiten und setzte erste eigene Akzente. Das Papier sieht den „Einsatz aller Russland zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel, einschließlich von Kernwaffen“ vor, „wenn bei Notwendigkeit der Abwehr einer bewaffneten Aggression alle anderen Maßnahmen zur Krisenbeilegung ausgeschöpft wurden und sich als uneffektiv erwiesen“ haben.

Die »Konzeption der Sicherheit« stellt die politische Grundlage für die Verabschiedung einer neuen »Militärdoktrin« dar, die im März politisch gebilligt werden soll. Den Entwurf für dieses Dokument hatte am 9. Oktober 1999 die Zeitung »Krasnaja Swesda« veröffentlicht. Er beschreibt die Rolle nuklearer Waffen etwas präziser. Russland sieht danach die Nuklearwaffen als „wirksamen Faktor der Abschreckung von Aggressionen, der Gewährleistung von militärischer Sicherheit der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten sowie der Aufrechterhaltung der internationalen Stabilität und des Friedens.“ Mit dem russischen Nuklearpotenzial müsse „jedem Aggressor-Staat oder jeder Staatenkoalition unter beliebigen Lagebedingungen ein befohlener Schaden garantiert zugefügt werden können.“

Der Entwurf der Militärdoktrin wiederholt die Negative Sicherheitsgarantie, die Russland 1995 den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrages gegeben hatte: Russland werde gegen Staaten, „die nicht über Kernwaffen verfügen keine Kernwaffen einsetzen, es sei denn, ein solcher Staat verwirklicht oder unterstützt gemeinsam mit einem Kernwaffenstaat oder als dessen Verbündeter eine Invasion oder einen beliebigen anderen Überfall gegen die Russische Föderation, ihr Territorium, ihre Streitkräfte oder anderen Truppen, ihre Verbündeten oder gegen einen Staat dem gegenüber sie Sicherheitsverpflichtungen hat.“

Russland behalte sich aber „das Recht auf die Anwendung von Kernwaffen vor – sowohl in Antwort auf den auf den Einsatz von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie oder ihre Verbündeten als auch, in kritischen Situationen für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation und ihre Verbündeten, als Antwort auf eine Aggression großen Maßstabs mit konventionellen Waffen.“

Per definitionem stellt der Einsatz nuklearer Waffen gegen einen »nur« mit biologischen und chemischen Waffen ausgestatteten Gegner einen Ersteinsatz dar, ebenso der Einsatz in Reaktion auf einen großen konventionellen Angriff. Letzteres war auch die Strategie der NATO während der letzten zwanzig Jahre des Kalten Krieges als davon ausgegangen wurde, dass Moskau dem Westen konventionell deutlich überlegen sei. Bislang aber haben lediglich die USA in ihrer nationalen Strategie die Option offengehalten, Nuklearwaffen gegen die Besitzer von biologischen und chemischen Waffen einzusetzen. Washington bedrängt die NATO seit Jahren, dies auch in die Bündnisstrategie aufzunehmen – ein politisch höchst heikles Unterfangen, da ein solcher Einsatz nicht nur gegen die Negativen Sicherheitsgarantien von 1995 verstoßen würde, sondern – sollte dabei die nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO zur Anwendung kommen – auch eine direkte Verletzung der Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages darstellen würde. Nun scheint auch Moskau eine solche Erweiterung der Funktion nuklearer Waffen zu planen. Dort scheint man sich aber nicht bewußt zu sein, daß die Negativen Sicherheitsgarantien keine Ausnahme für Staaten machen, die biologische oder chemische Waffen besitzen. Sonst müßte es doch verwundern, warum die Wiederholung der Garantien und die erweiterte Funktion nuklearer Waffen direkt aufeinander folgen. Die Entwicklung in den Nuklearwaffenstaaten hin zu einer Erweiterung und damit Relegitimation nuklearer Waffen wirft zudem die Frage auf, welche weitergehenden, negativen Folgen für den NVV entstehen, der im April und Mai zur Überprüfung ansteht.

Zugleich machen die Konzeption nationaler Sicherheit und der Entwurf der Militärdoktrin aber auch deutlich, daß Nuklearwaffen eine vor allem politische, den Weltmachtstatus Russlands abstützende Funktion haben und ein klassisches Abschreckungsdenken unter dem Vorzeichen einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit vorherrscht.

Zahlenmäßig wirkt das russische Nuklearpotenzial auf den ersten Blick weiterhin imposant. Russland verfügte im vergangenen Jahr nach den Zählregeln des START-Vertrages noch über mehr als 6.500 strategische Atomsprengköpfe, für die 756 Interkontinentalraketen, 592 U-Boot-gestützte Raketen und 74 Langstreckenbomber als Trägersysteme existierten. Es gelang der russischen Föderation eine neue Langstreckenrakete vom Typ SS-27 zu entwickeln und – wenn auch deutlich langsamer als vorgesehen – bei den Streitkräften einzuführen. Jüngst wurde mit der Ukraine vereinbart, daß dort nach dem Zerfall der Sowjetunion verbliebene strategische Blackjack-Bomber im Tausch gegen ukrainische Energieschulden nach Russland überführt werden. Der Papierform nach ist Russlands strategische Nuklearmacht damit nur wenig schwächer als die der USA mit Trägersystemen für knapp 8.000 Sprengköpfe.

In der Wirklichkeit geben diese Zahlen jedoch kaum Aufschluß über das einsetzbare strategische Nuklearpotenzial Russlands. Das liegt zum einen daran, daß die Sprengkopfzahlen »nach START« zum Teil theoretischer Natur sind. Zum anderen muß berücksichtigt werden, daß jedes Trägersystem (und seine Sprengköpfe) solange mitgezählt werden, bis es verifiziert eliminiert ist. Somit sind diese Zahlen vor allem mit Blick auf die russische Seite, die bei der teuren Nuklearabrüstung deutlich hinter den USA hinterherhinkt – deutlich zu hoch. Das wird auch in folgenden Beispielendeutlich:

  • Russland verfügt zwar angeblich noch über 592 U-Boot-gestützte Raketen, es kann jedoch nur mit Mühe jederzeit je ein U-Boot zu Patrouillen im Nordmeer und im Pazifik aussenden.
  • Die Zahl einsetzbarer strategischer Nuklearwaffen bei den Russischen Streitkräften sinkt durch den natürlichen Alterungsprozeß immer weiter ab. Um 2008 – so die verbreitete Annahme – wird Russland allein deshalb vermutlich über deutlich weniger als 1.800 einsetzbare strategische Nuklearsprengköpfe verfügen. Russische Sprengköpfe haben aus technischen Gründen eine Lebensdauer von etwa 10-15 Jahren – US-amerikanische von etwa 30 Jahren – und Russland verfügt nicht über die Mittel, ebenso viele Sprengköpfe und vor allem Trägersysteme nachzuproduzieren wie wegen Überalterung außer Dienst gestellt werden müssen.

Unklarheit herrscht auch über die Zahl taktischer Nuklearwaffen, die die Russische Föderation weiterhin einsatzbereit hält. Anders als im Bereich strategischer Waffen gibt es hier bislang keine vertraglichen Transparenz und Datenaustausch vorschreibenden Regelungen. Auf westliches Drängen, über diese Waffen z.B. im Rahmen des NATO-Russland-Rates zu einem Informationaustausch zu kommen, reagierte Moskau eher zugeknöpft. Die Reduzierung taktisch nuklearer Waffen nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgte weitestgehend auf Basis einseitiger Schritte, die beide nuklearen Supermächte 1991/92 angekündigt hatten. Im Westen herrschen vielerorts Zweifel, ob Russland Willens und in der Lage war seinen einseitig übernommenen Verpflichtungen vollständig nachzukommen.

Um die zehntausend taktische Nuklearwaffen vermuteten manche westlichen AnalytikerInnen vor wenigen Jahren noch in Moskaus Arsenalen und befürchteten, daß hier ein signifikantes Ungleichgewicht zu den USA entstanden sei. Dort sollen nur noch etwa 1.000 taktische Nuklearwaffen im Dienst gehalten werden. Russland dürfte heute kaum über mehr als 5.000 taktische Nuklearwaffen verfügen; viele dieser Waffen sind zudem zur Delaborierung vorgesehen. Schon 1997 bezifferte der kenntnisreiche stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Alexei Arbatov die Zahl der im Dienst verbliebenen taktischen Nuklearwaffen auf 3.800. Andere russische WissenschaftlerInnen schätzten das verbliebene Potenzial 1998 auf insgesamt 5.700 Sprengköpfe. Einig sind sich allerdings die meisten BeobachterInnen, daß im neuen Jahrtausend die Zahl der einsetzbaren taktischen Nuklearwaffen schnell auf etwa 1.000 Systeme absinken dürfte. Dies auch deshalb, weil sich Russland bei der Modernisierung und Neuproduktion von Sprengköpfen auf den Erhalt seiner strategischen Nuklearfähigkeit und die verfügbaren Ressourcen hier konzentriert. Ein größeres Programm zur Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen Russlands – immer wieder einmal tauchte das Gerücht auf, der Bau von bis zu 20.000 neuen Mini-Nuklearwaffen sei geplant – hat sich bislang nicht bestätigen lassen.

Diese Trends haben Auswirkungen auf die von manchen westlichen AnalytikerInnen befürchtete Umsetzung einer russischen Variante der NATO-Strategie der flexiblen Antwort. Die dafür erforderliche einsatznahe Stationierung taktisch nuklearer Waffen zur Unterstützung konventioneller Operationen würde Russland vor nicht unerhebliche Probleme stellen. Viele der während des Kalten Krieges von den sowjetischen Streitkräften genutzten Depots liegen außerhalb des heutigen Russlands. Nicht selten waren dies die moderneren und besser ausgestatteten. Dort, wo Russland heute taktische Nuklearwaffen mit operativem Nutzen stationieren müßte, gibt es oft keine geeigneten, reaktivierbaren Lager für diesen Bestimmungszweck. Sie müßten mit hohen Kosten neu eingerichtet werden.

Schließlich ist zu berücksichtigen: Die deutlichen Worte, die mancher russische Politiker zur erweiterten Rolle nuklearer Waffen verliert, haben oft einem anderen Hintergrund. Mit diesen Äußerungen stützt Russland seine Ansprüche auf Mitsprache bei Fragen der europäischen und internationalen Sicherheit, seine Rolle als Großmacht und – innenpolitisch gedacht – als den USA ebenbürtige Supermacht.

Die wirklichen Interessenlagen Moskaus spiegeln sich dagegen eher im rüstungskontrollpolitischen Verhalten. Der Kreml ließ trotz des tiefen Konfliktes mit der NATO wegen des Kosovo-Einsatzes die Verhandlungen über ein KSE 2-Abkommen nicht scheitern. Und trotz der immer wieder vertagten Ratifizierung des START 2-Abkommens durch die Duma werden weiterhin bilaterale technische Gespräche mit den USA über ein künftiges START 3-Abkommen geführt. Die Absicht START II in Russland durchzusetzen wurde nie aufgegeben.

Die Vorgespräche für ein START III Abkommen fußen auf den Grundlagenvereinbarungen zwischen den Präsidenten Jelzin und Clinton während des Helsinki-Gipfels 1997, in denen u.a. auch festgelegt wurde, über die Problembereiche »verifizierbare Abrüstung atomarer Sprengköpfe« und »taktische Nuklearwaffen« zu verhandeln. Sie werden in Genf geführt.

Die in Helsinki vereinbarte künftige Obergrenze für die Zahl erlaubter Atomwaffen ist aus russischer Sicht mit 2.000- 2.500 zu hoch; Russland möchte die Zahl auf maximal 1.500 beschränkt wissen. Eine solche Absenkung war seitens der USA bislang für ein viertes START-Abkommen ins Auge gefaßt worden. Deutlich spiegelt sich das russische Interesse, Kosten für die Modernisierung und Aufrechterhaltung seines strategischen Nuklearpotenzials zu sparen.

Unklar ist derzeit, ob und welche Fortschritte bei diesen Gesprächen in den Fragen der Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen und des verifizierbaren Sprengkopfabbaus erzielt wurden.

Ähnlich wie im Bereich strategischer Waffen muß Russland an weiteren signifikanten Reduzierungen gelegen sein. Nur so lassen sich Kosten für eine teure Modernisierung sparen. Nur so kann das russische Interesse die US-Nuklearwaffen der NATO in Europa, die Russland als strategische weil russisches Territorium bedrohende Waffen sehen muß, durch Rüstungskontrolle zu beseitigen gewahrt werden.

Ob und welche Fortschritte aber in diesen Verhandlungen insgesamt erreicht werden können wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob Moskau und Washington Einigung über die Zukunft des ABM-Vertrages erzielen können. Dieser Vertrag ist aus Moskauer Sicht das Fundament aller bilateralen Verträge, mit denen die Zahl strategischer Atomwaffen begrenzt werden. Er sichert, daß der Gegner verwundbar bleibt und es darf deshalb nicht verwundern, wenn russische Politiker oder Regierungsmitglieder immer wieder einmal damit drohen, daß Russland sich bei einem Ausscheiden Washingtons aus dem ABM-Vertrag automatisch nicht mehr an die Verträge über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen gebunden fühle.

Unter Putins Präsidentschaft könnte Russland allerdings bereits sein, den USA auf dem Weg zu einem Kompromiß bei START III und dem ABM-Vertrag sichtbar entgegen zu kommen. Dies macht eine der selten beachteten Veränderungen deutlich, die Putin an Jelzins Konzept der nationalen Sicherheit vornehmen ließ: In der Fassung Jelzins vom 5. Oktober 1999 lautet die entscheidende Passage: Die Außenpolitik Russlands ist auszurichten „auf das Erreichen eines Fortschritts im Bereich der Kontrolle über Kernwaffen, die Aufrechterhaltung strategischer Stabilität und den Erhalt und die Festigung des Vertragsregimes von 1972 zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme.“ (Nesawisimoje wojennoje obosrenije, Nr. 46 (169), 26.11.1999) Unter Putin wird bereits zehn Tage nach Übernahme der Interims-Präsidentschaft Kompromißbereitschaft signalisiert: Hier lautet das Ziel „die Anpassung der existierenden Vereinbarungen über Rüstungskontrolle an die neuen Bedingungen in den internationalen Beziehungen.“ (Nesawisimoje wojennoje obosrenije, 14.1.2000, http://nvo.ng.ru/concepts/2000-01-14/6_concept.html)

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er arbeitet u.a. an einem durch die Ford-Stiftung geförderten Projekt zu den NATO-Russland-Beziehungen.

Das Gewissender WissenschaftlerInnen

Das Gewissen
der WissenschaftlerInnen

Für ein Jahrhundert ohne Atomwaffen

von Joseph Rotblat

Unsere Arbeit als WissenschaftlerInnen sollte darauf gerichtet sein, das Los der Menschheit zu verbessern. Ein Großteil von uns wird sagen, dass die Arbeit für militärische Einrichtungen daher auszuschließen sei, vielleicht sogar die Arbeit an Universitäten, die Verträge über die Entwicklung militärischen Geräts annehmen. Viele würden weiter gehen und WissenschaftlerInnen eine definitive Zusage abverlangen, sich nicht in dieser Form zu betätigen; sie fordern eine Art von Hippokratischem Eid.

Viele werden sagen, dass eine Welt ohne Krieg ein utopischer Traum ist. Sogar das etwas bescheidener gesteckte Ziel einer Welt ohne Atomwaffen in absehbarer Zukunft wird als nicht erreichbar, ja nicht wünschenswert betrachtet. Aber wir sind keine UtopistInnen. Wir suchen nicht nach Utopia, der vollkommenen Welt des Thomas Morus. Unser Ziel ist nüchterner: eine Welt, die weiter besteht; eine Welt, in der die Zivilisation trotz der Gefahren die auch wir WissenschaftlerInnen geschaffen haben fort besteht.

Unser Hauptanliegen ist fundamental: das Überleben der Zivilisation.

Wenn wir jedoch mit diesem Prozess auch eine bessere Welt schaffen, eine Welt, in der die Menschen lernen, Konflikte nicht nur ohne Kampf zu lösen, sondern auch für die Bereicherung unserer Kultur zusammen zu arbeiten, wenn wir in diesem Prozess zu einem Ergebnis kommen, dass Politik auf hohen moralischen Grundsätzen beruhen muss, dass Vertrauen und Liebe grundlegende Elemente menschlicher Beziehungen sind, dann wird dies ein besonderer Bonus sein, ein zusätzlicher Anreiz in unserem Bestreben nach dem Wesentlichen und dem Erfreulichen, dem Praktischen und dem Schönen, dem Zweckmäßigen und dem Guten. Das gestaltet diese Aufgabe für WissenschaftlerInnen mit einem sozialen Gewissen, wie wir es bei Pugwash alle sind, noch lohnender.

Oder anders gesagt: Wir wollen nicht vergessen, dass die Abweichung von anerkannten Normen eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Zivilisation gespielt hat. George Bernhard Shaw hat dies in seinem unnachahmlichen Stil so ausgedrückt: „Der vernünftige Mensch passt sich an die Welt an, der unvernünftige beharrt darauf, die Welt an sich anzupassen. Daher geht aller Fortschritt von den unvernünftigen Menschen aus.“

Bertrand Russell hat die gleiche Idee mit anderen Worten ausgedrückt: „Fürchte nicht, eine exzentrische Meinung zu vertreten, weil jede heute akzeptierte Meinung einmal exzentrisch war.“

In diesem Sinne wollen wir wirken.

Prof. Dr. Joseph Rotblat ist Friedensnobelpreisträger.