Atomenergie: Zugriff zur Bombe

Atomenergie: Zugriff zur Bombe

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Martin B. Kalinowski, Wolfgang Liebert und Lars Pohlmeier

Herausgegeben von Wissenschaft & Frieden in Zusammenarbeit mit den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)

zum Anfang | Nuclear power powers the bomb

von Lars Pohlmeier

Moskau im April 2000: 90 Minuten in Moskau im kleinen Kreis mit Russlands Atomminister Jewgenij Adamov – das stand auf dem Programm unserer kleinen internationalen Delegation der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges). Selbstbewusst berichtete Adamov von der Zukunft der russischen Atomenergie: Mehr als 20 schnelle Plutonium-Brüter für Russland, Export atomarer Mischoxid-Brennstäbe in Konkurrenz zu den USA und westeuropäischen Ländern in alle Welt. Sein Pilotprojekt: der Iran.

Während sich die Öffentlichkeit in Deutschland angesichts der als Atomausstieg verkauften Vereinbarung mit der Industrie einlullen ließ in der Vorstellung, das Atomzeitalter gehe dem Ende zu, war uns in Moskau eindringlich deutlich geworden: Es geht erst richtig los. Das russische Atomministerium ist inzwischen zwar umorganisiert, der »Atomfalke« Adamov längst nicht mehr Minister – doch die ehrgeizigen Pläne bestehen weiter. Dass der Spiegel kürzlich in einer kleinen Notiz meldete, Herr Adamov würde wegen Korruptionsverdacht von den USA international gesucht, zeigt nur noch eine weitere Dimension der zivilen Nukleartechnologie. Das Thema Korruption soll in diesem Dossier von Wissenschaft und Frieden nicht erörtert werden. Dafür aber finden sich tiefe Einblicke in die unglückliche Verbindung zwischen dem zivilen und dem militärischen Einsatz der Atomenergie. So werden etwa die Hintergründe der aktuellen Atomdebatte um den Iran beleuchtet, es wird der wichtige historische Kontext hergestellt, wie sich die internationale Atomenergienutzung so entwickeln konnte, wie sie heute besteht, und es wird der Frage nachgegangen, ob ein nuklearer Terrorismus eine ernstzunehmende Gefahr darstellt.

Die schizophrene Situation, eine angeblich rein zivil nutz- und kontrollierbare Technologie zu fördern, die gleichzeitig so viele ungelöste Fragen hinsichtlich der militärischen Nutzbarkeit aufwirft, spiegelt sich auch in der Geschichte unserer eigenen sozialen Bewegungen wieder. Es ist schon erstaunlich, wie die Haltung zur Atomenergie die Friedens- und Umweltbewegung lange derart spalten konnte. Gerade so als ob beide Themen unabhängig voneinander abgearbeitet werden könnten. In meiner eigenen Organisation hat es lange Jahre gedauert um zu begreifen, dass derjenige Atomwaffen nicht abschafft, der nicht ebenfalls klar Stellung zur gefährlichen Atomenergienutzung bezieht.

Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), nun ebenfalls mit dem Nobelpreis gekrönt, ist vergattert, einen Konflikt zu lösen, den sie mit ihrem eigenen satzungsgemäßen Auftrag gar nicht auflösen kann. Sie soll die Anwendung von Atomtechnologie unparteiisch überwachen und gleichzeitig Fürsprecher und Förderer dieser Problemtechnologie sein. Unbestritten sind die IAEO-Verdienste und die Verdienste ihrer Vertreter in den jüngsten Jahren, denken wir nur allein an die Aufklärungsarbeit um die angeblichen Atomprogramme im Irak. Ohne die IAEO-Expertise bei der internationalen Überwachung der Atomtechnologie wäre es um unsere Sicherheit noch schlechter bestellt. Und doch ist die IAEO selbst verstrickt in den Versuch der (Selbst-)Täuschung der Öffentlichkeit, die Atomgefahr begrenzen zu können, während die gefährliche Atomenergienutzung tatsächlich protegiert wird. Während die IAEO in den Atomwaffenstaaten gleich gar keinen Auftrag hat, bei der Kontrolle der Militärprogramme mitzuwirken, ist sie ansonsten eine Art internationaler Atomfeuerwehr, beauftragt mit dem Versuch, die weltweiten Brandherde mit Wasser aber zugleich eben auch mit Benzin zu löschen. Warum, so fragt man sich, gibt es keine internationalen Initiativen, wenn nicht gar überstaatliche Behörden ähnlich der IAEO, die sicherheitspolitisch harmlose und ökologisch sinnvolle regenerative Alternativen fordern und fördern.

Wir Ärztinnen und Ärzte der IPPNW verurteilen, dass seit 1958 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) keine Daten zu den Folgen der Atomenergienutzung publizieren darf, ohne das Plazet der Atomförderer der IAEO einzuholen. Am Vorabend des 20. Jahrestages des Atomunfalls in Tschernobyl hat sich die WHO erneut gängeln lassen und die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe öffentlich in Bedeutung und Ausmaß heruntergespielt. Auch deshalb werden wir gemeinsam im Netzwerk kritischer Friedens- und Umweltorganisationen vom 7.-10. April 2006 auf dem Kongress »Atomwaffen & Atomenergie in einer instabilen Welt« dieses Thema umfassend aufarbeiten. Und auch in Berlin wird unter Federführung der Gesellschaft für Strahlenschutz in einem internationalen Kongress das Thema Tschernobyl und seine Folgen für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Viele Jahre beschäftigen wir uns nun schon mit vielen unterschiedlichen, zum Teil komplizierten Aspekten der Janusköpfigkeit von Atomenergie und Atomwaffen. Mein persönliches Fazit lässt sich dabei auf zwei einfache Formeln kondensieren: Erstens: Nuclear power powers the bomb. Und zweitens, allen Unbilden zum Trotze: Es gibt nur eine Zukunft für die Atomenergie – abschalten!

Dr. Lars Pohlmeier ist Mitglied des internationalen Vorstandes der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Er ist Arzt und Journalist und arbeitet derzeit im Klinikum Bremen-Ost in der Abteilung für Innere Medizin.

zum Anfang | Atomenergie und Atomwaffen – eine gefährliche Verbindung

von Wolfgang Liebert

Als in den 1930er Jahren klar wurde, dass eine Spaltung (Fission) von Atomkernen möglich ist, begannen in einer Reihe von Ländern sogleich wissenschaftliche Projekte, die Möglichkeiten für technische Anwendungen untersuchten, vorrangig die Möglichkeit für eine völlig neuartige und gewaltige Waffe. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges – ausgelöst durch die deutschen Faschisten – kann als »außerwissenschaftlicher« Trigger für die ersten Atomwaffenprogramme gelten.

Zunächst konzentrierte man sich auf die Möglichkeit einer unkontrollierten Kettenreaktion in ausreichenden Mengen von Uran-235. Da dieses Isotop im Uranerz nur in sehr kleinen Anteilen enthalten ist, mussten Technologien zur Anreicherung von Uran entwickelt werden. Nur wenn das Verhältnis von Uran-235 zu Uran-238 von ursprünglich 1:140 auf mindestens 4:1 erhöht werden konnte und damit die Produktion von hoch angereichertem Uran (HEU) gelang, konnte man sicher sein, dass eine Atomwaffe konstruierbar war. Durch einfaches Aufeinanderschießen von zwei zunächst noch unterkritischen Massen hoch angereicherten Urans entsteht eine überkritische Masse, in der dann eine unkontrollierte Kettenreaktion gestartet wird. Dieses Prinzip reicht für eine Atomwaffe aus. Bekanntlich gelang es in den USA nach gewaltigen Anstrengungen, bis 1945 genügend Uran für die Hiroshima-Bombe anzureichern. Diese einfache Uranbombe konnte ohne vorhergehenden Test eingesetzt werden.

Die Wurzeln: Physik, Nukleartechnologie und die Bombe

Schon 1940 wurde den Physikern klar, dass Uran-238 dazu neigt, Neutronen einzufangen, wobei ein neues Element entsteht, das später Plutonium genannt wurde und sich ebenfalls hervorragend für die Bombe eignet. Bei Verwendung von Plutonium wird sogar deutlich weniger spaltbares Material benötigt: Die notwendige »kritische Masse« liegt – wenn keine weiteren Effekte wie die Kompression durch konventionellen Sprengstoff und bestimmte Designtricks berücksichtigt werden – je nach Isotopenzusammensetzung bei 10-15 Kilogramm anstatt etwa 50 Kilogramm im Falle von HEU. Auf die aufwändige Urananreicherungstechnologie kann in diesem Fall verzichtet werden. Allerdings benötigt man nun eine Neutronen produzierende Anlage, in der Natururan zu Plutonium transmutiert wird. Dies wussten auch die deutschen Atomwissenschaftler um Heisenberg, die sich bis 1945 vergeblich mühten, eine »Uranmaschine« in Betrieb zu setzen. Schneller waren die Konkurrenten in den USA, die schon 1942 einen Uranreaktor »kritisch« machten und erstmals eine kontrollierte Kettenreaktion technisch demonstrieren konnten.

Der alternative Pfad zur Bombe, der über die Plutoniumproduktion im Reaktor eröffnet wurde, brachte neben seinen Vorteilen aber auch neue Schwierigkeiten. Eine (kernchemische) Technologie zur Abtrennung von Plutonium aus dem bestrahlten, nunmehr hoch radioaktiv gewordenen Uranbrennstoff musste erfunden werden. Und wenn es gelingt, Plutonium aus dem Reaktor zu gewinnen, taucht eine weitere Hürde auf. Das entstandene Plutonium setzt sich aus einer ganzen Reihe verschiedener Isotope zusammen, und die geradzahligen Isotope weisen für eine Waffenanwendung problematische Eigenschaften auf. So besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Plutonium-240 und Plutonium-242 sich spontan spalten, ohne Anstoß eines von außen kommenden Neutrons. In einer Waffe kann dies zur Frühzündung führen: Ein Neutron aus Spontanspaltung in Plutonium kann die Kettenreaktion starten, bevor die optimale Kompression des Plutoniums durch den umgebenden konventionellen Sprengstoff erfolgt ist. Das Bombenmaterial fliegt durch die erzeugte Spaltenergie möglicherweise schon so früh auseinander, dass die weitere Spaltung von Plutonium trotz der zunächst lawinenartig wachsenden Neutronenmenge bald wieder zum Erliegen kommt. Insgesamt wächst die Wahrscheinlichkeit, dass nur ein kleinerer Teil des Plutoniums tatsächlich gespalten wird und somit die ungeheure Macht der nuklearen Explosion begrenzt bleibt.

Diese Problematik konnte bewältigt werden, allerdings nur, weil ein im Vergleich mit der Uranbombe weit aufwändigeres Bombendesign entwickelt wurde. Insbesondere mussten technische Vorkehrungen für eine möglichst exakt konzentrische Kompression einer Plutoniumhohlkugel getroffen werden. Am 16. Juli 1945 wurde in der Wüste von New Mexico erstmals eine Plutoniumwaffe erfolgreich getestet und wenige Wochen später gegen die japanische Stadt Nagasaki eingesetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Atomwaffenprogramme in den dominierenden Großmächten ungezügelt weiter. In den frühen 1950er Jahren wurde die zweite Generation von Kernwaffen erfolgreich getestet, die eine noch weit größere Zerstörungskraft besitzt. Diese Technologie basiert auf der Verschmelzung (Fusion) von leichten Elementen (genutzt wird z.B. Lithiumdeuterid und der sog. superschwere Wasserstoff Tritium), die durch die Strahlungsenergie einer unmittelbar zuvor gezündeten Spaltbombe ausgelöst wird. Diese fortgeschrittene thermonukleare Waffentechnologie wurde zur Grundlage für die fürchterlichen Kapazitäten des vielfachen Overkill, die die Vorherrschaft der neuen Supermächte USA und Sowjetunion begründeten.

Tritium kommt in den Kernwaffenprogrammen fortgeschrittener Kernwaffenstaaten noch eine weitere wesentliche Bedeutung zu: Kleinstmengen von 1-2 Gramm können, in geeigneter Weise in die Spaltstoffzone einer Atomwaffe eingebracht, durch die dort entstehenden hohen Temperaturen zur Fusion gebracht werden. So entsteht eine zusätzliche Neutronenlawine, durch die die Spaltausbeute der Waffe erheblich gesteigert wird. Solche Booster-Bomben erzielen ein Vielfaches der Sprengkraft gegenüber den ersten Atombombendesigns und sie öffneten den Weg zur Verkleinerung der Sprengkörper (wichtig z.B. für Raketensprengköpfe) bei gleichzeitiger Effektivierung der Bombenwirkung, der in den etablierten Kernwaffenstaaten konsequent verfolgt wurde.

Atomenergieprogramme

Der Test der ersten Wasserstoffbombe der Sowjetunion brachte die US-Regierung dazu, Ende 1954 das »Atoms for Peace«-Programm zu verkünden. Noch bestand offenbar die Hoffnung, die Verbreitung (Proliferation) der gefährlichen Atombombentechnologie aufhalten und dabei zivile Früchte der militärischen Entwicklungen als weltweites Angebot nutzen zu können. In den späten 1950er Jahren gingen die ersten Reaktoren für die Stromproduktion in Betrieb. In den 1970er Jahren wurden insbesondere Leichtwasserreaktoren zu Exportschlagern in den jeweiligen politischen Lagern. Auch Natururan nutzende Reaktoren – vorrangig aus Kanada -, die besonders gut zur Plutoniumproduktion ohne Notwendigkeit der Urananreicherung geeignet sind, fanden ihren Weg in andere Länder, z.B. Indien.

Heute werden in 31 Staaten Reaktoren für die Stromerzeugung betrieben. Manche Länder haben eine extrem hohe Atomstromquote, aber insgesamt werden fast 50 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Reaktors lediglich 16% des Weltstrombedarfs nuklear erzeugt (das entspricht einem nuklearen Primärenergieanteil von nicht einmal 6%). In der sich entwickelnden Welt konnten oder wollten nur ganz vereinzelt Staaten ernsthaft ins Atomgeschäft einsteigen.

Zum Betrieb von Leichtwasserreaktoren, die bis heute weltweit dominieren, wird Uran in einer schwachen Anreicherung von etwa 3-4% benötigt. Dazu werden Anreicherungstechnologien genutzt, die bereits für Waffenprogramme benötigt worden waren. In den Reaktoren, den »Uranmaschinen«, entsteht beim Abbrand der Uranbrennstäbe – wie oben besprochen – als Nebenprodukt naturnotwendig Plutonium (etwa 250 Kilogramm jährlich pro Gigawatt Reaktorleistung).

Plutonium taugt nicht nur als Spaltstoff für Bomben, sondern kann selbst wiederum als Brennstoff für entsprechend ausgelegte Reaktoren dienen. Allerdings entstehen bei der Produktion plutoniumhaltiger Brennelemente enorme Zusatzkosten, so dass eine wirtschaftliche Attraktivität für die absehbare Zukunft nicht existiert. Die Reaktorbetreiber ziehen daher eigentlich Uranbrennstoff vor. Dennoch wird seit Jahrzehnten in einer Reihe von Ländern Plutonium aus abgebrannten Brennelementen abgetrennt. Basis ist dabei die Wiederaufarbeitung, die für Waffenprogramme entwickelt wurde. Als Grund wird angeführt, dass man um die begrenzten wirtschaftlich sinnvoll ausbeutbaren Uranvorräte der Welt wisse und daher kein potenzieller Spaltstoff verschwendet werden dürfe. Es müsse sogar dafür gesorgt werden, dass zusätzlicher Spaltstoff produziert wird, am besten genug für mindestens tausend Jahre. Dies wäre nur mit Hilfe von Brutreaktoren machbar, denn durch Plutoniumnutzung in Form von Uran-Plutonium-Mischoxid (MOX) in Leichtwasserreaktoren werden die Uranvorräte nur geringfügig gestreckt.

Im Kern schneller Brüter soll Plutonium als Brennstoff dienen. Gleichzeitig soll in einem Brutmantel aus Natururan mehr Plutonium gewonnen werden als für den Betrieb eingesetzt wurde. Das zusätzlich produzierte Plutonium bestünde fast ausschließlich aus Plutonium-239. Dieses Plutonium ist aber auch für Waffenanwendungen besonders begehrt, weil die oben angedeuteten Probleme beim Bau von Plutoniumwaffen deutlich reduziert würden. Für den gewünschten Zugriff auf den Spaltstoff wäre die Wiederaufarbeitung zwingend. Jahrzehntelange Bemühungen zur Realisierung eines funktionstüchtigen Brutreaktors haben aber nirgends zum Erfolg geführt. Über kleinere Versuchsbrüter ist man praktisch nicht hinausgekommen. Die extremen Herausforderungen an die Sicherheits- und Materialtechnik konnten bislang nicht bewältigt werden.

Eine andere nukleare Zukunftsoption, die schon seit Jahrzehnten in aufwändigen und teuren Forschungsprogrammen verfolgt wird, könnte in Fusionsreaktoren bestehen. Fast alle Konzepte sehen Deuterium und Tritium als Brennstoff vor. Fusionsreaktoren hätten einen Bedarf von etwa 100 Kilogramm Tritium pro Jahr, das im Reaktor selbst aus Lithium erbrütet würde. Mit einem ersten kommerziellen Reaktor rechnet man allerdings nicht vor 2050. Die wissenschaftliche und technische Machbarkeit sowie die ökonomische Attraktivität müssen erst noch demonstriert werden.

Die großen Fusionsexperimente, wie das internationale ITER-Projekt, haben allerdings bereits in näherer Zukunft einen Tritiumbedarf, der bisherige zivile Umgangs- und Handelsmargen bei weitem übertrifft. Tritium wird bislang vor allem für die etablierten Atomwaffenprogramme produziert, da es mit einer Halbwertszeit von etwa 12 Jahren zerfällt und daher regelmäßig ausgetauscht werden muss. In einigen Atomwaffenstaaten (wie USA und Frankreich) wird ein Zweig der Fusionsforschung besonders gefördert, der schon jetzt und durch die im Aufbau befindlichen Großexperimente militärischen Nutzen verspricht: Die so genannte Trägheitseinschlussfusion hat so große Nähe zur Physik thermonuklearer Waffen, dass sie für ein grundlegendes Verständnis der Waffenphysik und für Kernwaffen-Simulationsexperimente höchst attraktiv erscheint.

Weiterverbreitung und Dual-use

Zu den fünf »offiziellen« Atommächten sind inzwischen vier weitere hinzugekommen: Israel, Indien, Pakistan und nach eigenen Angaben auch Nordkorea. Wie war das möglich trotz der internationalen Bemühungen um Nichtweiterverbreitung?

Eine wichtige Erklärung ist, dass Atomenergieprogramme nunmehr als Wurzel für militärische Programme dienen können (Dual-use). Ein enger Zusammenhang zwischen Atomwaffen- und Atomenergieprogrammen erklärt sich schon aus der oben knapp skizzierten Entwicklungsgeschichte der Nuklearforschung und Atomtechnologie.

Die genannten Staaten haben sich das offensichtliche Dual-use-Potenzial nuklearer Forschung, von Technologien und Materialien zu Nutze gemacht. Unter dem Deckmantel ziviler Absichten ist vieles möglich, was letztlich einem Waffenprogramm dient. Es hat sich herausgestellt, dass diese Versuchung in den 1960er und 1970er Jahren auch in einigen europäischen und asiatischen Ländern und später in manchen afrikanischen und südamerikanischen Staaten bestand. Diese haben schließlich auf Waffenprogramme verzichtet – manche allerdings nur unter massivem politischen Druck von außen. Dafür waren sicher auch politische Gründe ausschlaggebend, die interessante Aufschlüsse für heutige Bemühungen um Nichtverbreitung geben könnten.

Die nachholende Entwicklung in einigen Ländern setzt häufig auf ambivalente, zivil wie militärisch nutzbare Technologien, was einerseits mit wirtschaftlichen Beweggründen erklärbar ist, aber andererseits auch den Aufbau gefährlicher militärischer Potenziale ermöglicht.

Überall, wo Anreicherungstechnologien beherrscht werden – und noch offensichtlicher dort, wo sie in zivilen Atomenergieprogrammen tatsächlich zum Einsatz kommen -, besteht im Prinzip die Möglichkeit der Hochanreicherung von Uran für Waffen. Wird HEU im zivilen Kontext eingesetzt, ist die Abzweigung für Waffenzwecke grundsätzlich nicht auszuschließen.

Überall, wo die Plutoniumabtrennung beherrscht wird oder kommerzielle Wiederaufarbeitungsanlagen betrieben werden, besteht in Kombination mit dem Betrieb von Leistungs- oder größeren Forschungsreaktoren im Prinzip die Möglichkeit, an Plutonium für die Waffenproduktion heranzukommen. Die Plutoniumnutzung im Bereich der Energiewirtschaft birgt somit erhebliche Proliferationsgefahren. Bereits heute liegen weltweit etwa 250 Tonnen abgetrenntes Plutonium aus zivilen Beständen vor (etwa eben soviel wie in den gewaltigen Waffenprogrammen der Atommächte).

Sensitive Technologien, wie verschiedene Methoden der Urananreicherung oder die Plutoniumabtrennung in Wiederaufarbeitungsanlagen, werden heute in etwas mehr als 20 Staaten prinzipiell beherrscht oder großtechnisch betrieben.

Bereits die gegenwärtige MOX-Brennstoffnutzung muss beunruhigen, da der damit verbundene Umgang mit Plutonium vielfältige Abzweigungsmöglichkeiten für Waffenprogramme schafft. Flächendeckende Brüterprojekte, die gegenwärtig (zum Glück) nicht in Sicht sind, würden diese Problematik dramatisch verschärfen.

Daneben sind alle starken Neutronenquellen – nicht nur Reaktoren, sondern auch moderne, genügend leistungsstarke Beschleuniger für die Forschung – potenziell für die Produktion von kernwaffenfähigen Materialien geeignet.

Hier zeigt sich die Janusköpfigkeit gegenwärtiger Nukleartechnologie. Fortgeschrittene Nuklearforschungs- und Atomenergieprojekte schaffen wesentliche und unverzichtbare Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme und senken damit die Schwelle zum stets denkbaren Zugriff auf die Bombe.

Der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), ElBaradei, zitierte mehrfach Befürchtungen, nach denen bis zu 40 Länder das Know-how für Kernwaffen bereits zur Verfügung hätten. Das mag man für übertrieben halten, aber der Betrieb von Leistungsreaktoren kann als ein Indiz für ausreichende wissenschaftliche und technische Fähigkeiten gelten. Etwa 60 Länder betreiben Forschungsreaktoren. In knapp 40 Ländern wird dabei noch immer mit waffenfähigem HEU hantiert (wenn auch zumeist in kleineren Mengen).

Gefahren verringern

Wenn nach Umgangsweisen mit der bedrohlichen Proliferationsdynamik gesucht wird, muss an erster Stelle die Einsicht stehen, dass die Gefahren bereits durch den Zugang zu sensitiven Technologien und Materialien entstehen. Hier liegt die Wurzel des Problems, neben den stets dem Wandel unterworfenen politischen Zielsetzungen. Mehr noch: Die Erlangung technischer Fähigkeiten ist auf längere Sicht irreversibel, politische Macht und politische Regelungen sind demgegenüber höchst instabil oder verändern sich sogar entsprechend den technischen Möglichkeiten.

Da die Wurzel in der Ambivalenz der Nukleartechnologie liegt, die bereits in ihre Entstehungsgeschichte eingeschrieben ist, kommt man dem Proliferationsproblem letztlich auch nicht durch Sicherungsmaßnahmen (Safeguards) der IAEO bei. Ihre politische Wirkung soll damit nicht völlig in Frage gestellt werden, aber grundsätzlich handelt es sich bei den Safeguards um Maßnahmen, die lediglich nachgeordnet und sehr begrenzt wirksam werden können und überdies fest an die aktuellen politischen Randbedingungen angekoppelt sind, die so wandelbar sind, dass sie sogar zu einem außer Kraft setzen zuvor existenter Safeguards-Vereinbarungen führen können (aktuelles Beispiel Nordkorea). Durchgreifende Verbesserungen sind nur denkbar bei einem bewussten und tief greifenden Souveränitätsverzicht der Staaten und einem völlig veränderten Problembewusstsein bei den Anlagenbetreibern und -entwicklern. Die bloße Existenz von Safeguards als Freibrief für die Arbeit mit sensitiven, proliferationrelevanten Technologien und Materialien zu betrachten, muss jedenfalls auf längere Sicht als fatale Fehleinschätzung angesehen werden.

Auch einseitige Exportkontrollen derjenigen Staaten, die sensitive Technologien bereits selbst beherrschen, können bestenfalls für eine Atempause sorgen. Es hat sich gezeigt, dass Staaten, die von Exportkontrollen betroffen sind, solche Maßnahmen durch Eigenentwicklungen mittelfristig unterlaufen können. Überdies ist höchst fraglich, ob ein System, das einigen Ländern Zugang zu sensitiven Technologien erlaubt, anderen aber verbietet, auf Dauer stabil (und gerecht) ist. Daraus kann umgekehrt sogar ein Stimulus für eigenständige Entwicklungen im sensitiven Bereich erwachsen.

Es ist daher dringlich über Safeguards-Maßnahmen hinaus zu denken. Unter pragmatischer Perspektive, die davon ausgeht, dass eine größere Zahl von Ländern noch für längere Zeit auf Nukleartechnologie setzen, ist vor allem das Konzept der Proliferationsresistenz interessant. Hier liegt eine Chance darin, dass sich nicht jede zivil nutzbare Nukleartechnologie oder jedes Nuklearmaterial gleichermaßen auch für Atomwaffen eignet. Nukleartechnologien, auf deren Nutzung man nicht verzichten will, könnten robust gemacht werden gegen Proliferationsszenarien. Dazu muss die Auslegung der Technologie selbst so verändert werden, dass der Zugriff auf waffengrädiges Nuklearmaterial ausgeschlossen ist.

Ein gutes illustratives Beispiel ist der technisch machbare weltweite Verzicht auf hochangereichertes Uran (HEU) in Forschungsreaktoren. Als Alternative zu HEU stehen schwach angereicherte aber hochdichte Brennstoffe zur Verfügung, die nicht waffengrädig sind. Die notwendige Umrüstung der Forschungsreaktoren muss jeweils konkret bedacht und durchgesetzt werden. Dies gilt gerade auch für den neuen Münchner Reaktor FRM-II. Diese wesentliche Maßnahme zur Reduzierung der Proliferationsgefahren an ihrer Quelle ist nicht-diskriminierend, sie kann und muss demgemäß Gültigkeit für alle Staaten bekommen.

Ob Proliferationsresistenz zum durchschlagenden Kriterium auch für die gegenwärtig in Entwicklung befindlichen Nukleartechnologien werden könnte, ist zur Zeit nicht absehbar. Erste Schritte in diese Richtung können bislang überhaupt nicht überzeugen. Wenn nukleare Technologien eine Zukunft bekommen sollten, müssten zuvor überdies weitere zentrale Gefahrenpotenziale (wie in den Bereichen Anlagensicherheit und Atommüll) durch tragfähige Ansätze der Technikgestaltung beseitigt werden. Dazu gehört zweifellos auch, dass Angriffe auf Nuklearanlagen keine katastrophalen Folgen haben dürfen, was zur Zeit für weit mehr als 500 Anlagen in der Welt nicht gegeben ist.

Die gegenwärtige Atomkraftnutzung stellt aus meiner Sicht eine unübersehbare Gefahr für den Weltfrieden dar. Der klügste Ansatz wäre daher ein Verzicht auf diesen gefährlichen Pfad der Energiegewinnung. Mindestens müssten die für unverzichtbar gehaltenen Nukleartechnologien proliferationsresistent gemacht werden. Ansonsten bleibt nur die Gestaltung von Forschung und Technik in übergreifender Perspektive. Demgemäß geht es bereits heute um eine zukunftsfähige Gestaltung des Energiesystems insgesamt. Eine große Herausforderung für Forschung, Dienstleistungsunternehmen, Industrie und die gesamte Gesellschaft.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.

zum Anfang | Das Nuklearprogramm des Iran – zivil oder militärisch?

von Martin B. Kalinowski

Es gibt keine Beweise für die Existenz eines Kernwaffenprogramms im Iran. Allerdings hat der Iran vor Oktober 2003 seine Verpflichtungen aus dem Safeguards-Abkommen verletzt und zahlreiche verdächtige Aktivitäten betrieben, ohne sie zu melden und überwachen zu lassen. Alle nuklearen Materialien und Anlagen, die im Iran entdeckt wurden, werden heute von Inspekteuren der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) überwacht. Sorge bereitet, dass es möglicherweise weitere geheime Nuklearaktivitäten im Iran geben könnte und dass diese militärischen Zwecken dienen. Diese Sorge gewinnt an Gewicht auf Grund der Erfahrung, dass die IAEO die meisten ungemeldeten Aktivitäten nicht ohne Hilfe von außen aufdecken konnte. Daher werden Bemühungen intensiviert, durch neue Messtechnik die Fähigkeit der Inspektionsbehörde zu verbessern, heimliche nukleare Aktivitäten aufzuspüren.

Der Iran hat nach Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) das uneingeschränkte Recht zur Beschaffung und zum Betrieb ziviler Kerntechnik. Damit stellt sich das Problem der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit dieser Technologie.

Dieser Artikel beschränkt sich auf technische Fakten und versucht sich nicht in einer Analyse politischer Aussagen und Vorgänge, durch die der Iran ins Zwielicht rückte und wegen derer der iranischen Regierung vielfach die Absicht unterstellt wird, das zivile Nuklearprogramm als Vorwand oder Tarnung eines eigentlich militärisch motivierten Vorhabens aufzubauen. Auch ohne derartige Unterstellungen und ohne Misstrauen können deutliche und weitgehende Schlussfolgerungen gezogen werden.

Kein Beleg für Atomwaffenprogramm

Zwar gibt es Indizien, die für mögliche militärische Intentionen des iranischen Nuklearprogramms sprechen. Die IAEO hat jedoch bisher keine Belege dafür gefunden, dass der Iran kernwaffenfähige Spaltstoffe heimlich produziert oder entwendet hätte.1 Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Iran tatsächlich Kernwaffen herstellen würde, und nur dies wäre ein Bruch von Art. II des NVV (siehe Tabelle 1).

Die bisher brisanteste Entdeckung wurde in der Kala Electric Company in Abali bei Teheran gemacht. Die IAEO hat Spuren von hoch angereichertem Uran in Wischproben nachweisen können, die Inspektoren im August 2003 auf der Oberfläche von Maschinenteilen für die Urananreicherung genommen hatten. Der Iran hatte zuvor die Anreicherung von Uran bis maximal 1,2% Uran-235 deklariert. In der Folge blieb zwei Jahre lang umstritten, ob mit dem Nachweis von Spuren hoch angereicherten Urans ein Verstoß gegen den NVV aufgedeckt worden sei. Der Iran erklärte, dass die gefundenen Spuren beim Import der Anlage von Pakistan als Kontamination mit eingeschleppt worden seien. Dies konnte zunächst nicht geklärt werden, da es analytisch schwierig ist, das Alter der gefundenen Uranspuren zu bestimmen. Im August 2005 kam dann jedoch die Entwarnung. Ein internationales Team von Experten konnte den Nachweis erbringen, dass die Isotopenzusammensetzung der im Iran gefundenen Uranspuren mit pakistanischen Proben übereinstimmen, die diesen Experten zur Verfügung standen. Damit war endlich die Erklärung des Iran bestätigt. Diese Nachricht blieb von den Medien weitgehend unbeachtet, und nur wenigen Beobachtern wurde deutlich, dass somit keinerlei Spuren auf eine Hochanreicherung von Uran im Iran hinweisen. Somit kann die IAEO dem Iran also keinen Bruch seiner Verpflichtungen unter Artikel II des NVV vorwerfen.

Verletzungen des Safeguards-Abkommens

Die IAEA wirft dem Iran vor, mehrfach seine Verpflichtungen gegenüber der IAEO nicht eingehalten zu haben, die sich aus dem Safeguards-Abkommen ergeben.2 Sowohl nukleare Materialien als auch Anlagen hätten deklariert werden müssen. Die folgende Aufzählung enthält auch Anlagen, in denen noch kein nukleares Material vorhanden war und die daher nicht unter die Deklarationsverpflichtung des Safeguards-Abkommens fielen, sondern erst durch das im Dezember 2003 unterzeichnete Zusatzprotokoll frühzeitig zu deklarieren waren.

  • In Natanz hat der Iran Uranhexafluorid (UF6) in eine Urananreicherungsanlage eingebracht und angereichert, ohne dies der IAEO zu melden. Dazu wäre der Iran verpflichtet gewesen. Diesen Verstoß hat die IAEO im Februar 2003 entdeckt. Der Iran entschuldigt dieses Verhalten damit, dass nur geringe Mengen UF6 zu Testzwecken verarbeitet worden seien.
  • In Lashkar Abad bei Karaj wurde ab 2000 eine Pilotanlage für Laseranreicherung gebaut, aber der IAEO nicht gemeldet. Die IAEO hat die Anlage 2004 besucht und ihre nukleare Verwendung bestätigt.
  • Die Kala Electric Company in Abali bei Teheran wurde zur Installation von Zentrifugen genutzt, die der Iran aus Pakistan importiert hatte. Weder diese Anlage noch der Bau der Urananreicherungsanlage von Natanz noch der Bau einer Schwerwasserproduktionsanlage bei Arak wurden der IAEO gemeldet.
  • Der Import von Natururan in 1991 war nicht gemeldet worden. Auch die Verarbeitung und der Gebrauch dieses Materials sowie die dabei entstandenen Überträge in Abfall wurden nicht gemeldet.
  • Die Anreicherung von importiertem UF6 in der Kala Electric Company in Abali bei Teheran, die sowohl 1999 und 2002 zu Testzwecken durchgeführt wurde, hätte gemeldet werden müssen.
  • Der Import von Uranmetall in 1993 und dessen Anreicherung in der Laseranreicherungsanlage in Lashkar wurde nicht gemeldet.
  • Die Produktion von Targets3 aus Uranoxid im Nukleartechnologiezentrum Isfahan sowie deren Bestrahlung im Forschungsreaktor von Teheran mit anschließender Abtrennung von 0,2 Milligramm Plutonium zwischen 1988 und 1992 hätte gemeldet werden müssen.
  • Die Produktion verschiedener Uranoxide, Uranfluoride und von Ammoniumuranylkarbonat hätte ebenfalls berichtet werden müssen.

Ähnliche Verstöße und Fehler sind auch von zahlreichen anderen Ländern bekannt geworden, ohne dass dies – mit der Ausnahme vom Irak und Nordkorea – eine nennenswerte internationale Reaktion hervorgerufen hätte. Die Häufung und zeitliche Ausdehnung von derartigen Vorkommnissen im Iran sowie die Intensität und der Umfang seines ehemals versteckten Nuklearprogramms stellen jedoch eine Besonderheit dar.

Nach dem Aufdecken dieser Fehler bemüht sich der Iran seit Oktober 2003, mit reiner Weste zu erscheinen. Die Kooperation mit den IAEO-Inspektoren wurde verbessert und mehr Transparenz hergestellt, wenngleich Hinhaltemanöver und widersprüchliche Angaben zu weiterer Skepsis Anlass geben. Die erforderlichen Deklarationen wurden nachgeholt. Für alle genannten Anlagen wurden die Design-Informationen zur Verfügung gestellt. Inventarlisten, Materialbilanzen sowie Informationen über Importe und Transfers wurden detailliert erstellt. Für alle Materialien und Anlagen wurden IAEO-Inspektionen zur Verifikation des Inventars und des weiteren Betriebes zugelassen. Alles deklarierte Material konnte verifiziert werden, und es wurde keinerlei Entwendung entdeckt.

Der Iran hat das freiwillige Zusatzprotokoll am 18. Dezember 2003 unterzeichnet und bereits vor seinem Inkrafttreten dessen Anwendung erlaubt.4 Sobald Anlagen entdeckt oder vermutet wurden, durfte die IAEO in den meisten Fällen Inspektionen vornehmen oder solche wurden zumindest in Aussicht gestellt. Offene Fragen sieht die IAEO derzeit noch in der Geschichte des Imports von Zentrifugentechnologie direkt und über Mittelsmänner aus Pakistan. Im Fall der Forschungsarbeit zur Laseranreicherung wurden alle Aktivitäten beendet und die Anlagen abgebaut. Nachdem eine Baustelle in Isfahan bekannt wurde, in der angeblich Zentrifugen getestet werden sollten, hat der Iran die Bauarbeiten beendet und eine IAEO-Inspektion dort zugelassen. In Verhandlungen mit der EU-3 Gruppe (Großbritannien, Deutschland, Frankreich) gestand der Iran zunächst zu, alle Nuklearaktivitäten einzufrieren. Ferner gestattet der Iran der IAEO mittels Sondermaßnahmen, die über übliche nukleare Safeguards hinaus gehen, die Einhaltung des eingefrorenen Zustands zu verifizieren.

Vereinbarungen mit der EU

Eine entscheidende Wende nahm die Iran-Krise mit der gemeinsamen Erklärung von Teheran mit den Außenministern der EU-3 im Oktober 2003 und dem Abschluss des Pariser Abkommens zwischen dem Iran und den EU-3 im November 2004. In letzterem verpflichtet sich der Iran,

  • alle zum so genannten Brennstoffkreislauf gehörenden Aktivitäten zu suspendieren,
  • das Zusatzprotokoll zu ratifizieren,
  • alle Anlagen, Aktivitäten und Materialien zu deklarieren und den IAEO-Inspektoren zur Verifikation zu öffnen.

Als Gegenleistung werden dem Iran Kooperation in Fragen der regionalen Sicherheit und der zivilen Nutzung von Kerntechnik sowie ökonomische und technische Unterstützung zugesagt, die noch im Detail auszuhandeln sind. Auch das Angebot der EU-3 für ein langfristiges Abkommen, das dem Iran am 5. August 2005 vorgelegt wurde, bot wenig mehr als wenig spezifische Versprechen sowie die Bestätigung von Zusagen, zu denen ohnehin bereits völkerrechtliche Verpflichtungen bestehen. Ein wichtiger Gewinn für den Iran besteht darin, dass Großbritannien und Frankreich im Angebot vom August 2005 negative Sicherheitsgarantien zusagen (d.h. kein Nuklearangriff der beiden Länder auf Iran).

Dem Iran wird vorgeworfen, seine Zusage, das Nuklearprogramm einzufrieren, gebrochen zu haben. Anfang August kündigte der Iran an, die Produktion von UF6 in der Urankonversionsanlage von Isfahan wieder aufzunehmen. Diese Maßnahme wurde angekündigt und mit den folgenden drei Argumenten begründet:

  • Der Iran hat das Recht auf zivile Nukleartechnik gemäß Artikel IV des NVV, dies sei ihm schon seit den frühen 80er Jahren ungerechterweise vorenthalten und torpediert worden;
  • Der Iran habe seine Verpflichtungen des Pariser Abkommens voll eingehalten, die EU-3 hätten jedoch praktisch nichts gegeben, sie hätten nur Zeit gewinnen wollen, durch lang sich hinziehende Verhandlungen;
  • Die UF6-Produktion fällt nicht unter das in der Teheraner Erklärung von Oktober 2003 vereinbarte Einfrieren, da es selbst keine Anreicherungsaktivität ist. Der Verzicht auf diesen die Anreicherung vorbereitenden Schritt wurde dem Iran erst im Pariser Abkommen vom November 2004 abgerungen.

Die Produktion hat der Iran dann jedoch erst am 16. November 2005 wieder aufgenommen. Die Terminierung der Ankündigung und des Vollzugs deutet daraufhin, dass damit ein klares politisches Signal gesetzt werden sollte. Das Entfernen der Siegel wurde am 1. August, nur wenige Tage vor der geplanten Vorlage eines Angebots der EU-3 entsprechend ihren Verpflichtungen nach dem Pariser Abkommen, angekündigt. So sehr die Terminierung auch provozieren mag, die Handlungen stellen keinen Bruch des NVV dar. Sie können als Bruch des zusätzlichen Zugeständnisses gegenüber den EU-3 im Pariser Abkommen vom November 2004 angesehen werden, wobei der Iran den Standpunkt vertritt, die EU Staaten hätten vorher schon ihre Verpflichtungen aus diesem Abkommen nicht eingehalten.

In seiner Resolution vom 24. September 2005 hat der IAEO-Gouverneursrat festgestellt, dass die schon seit einem bis zwei Jahren bekannten Fehler und Tatbestände der Nichteinhaltung des Safeguards-Abkommens nun als Verstoß im Sinne von Artikel XII.C des IAEO-Statuts zu behandeln seien. Die Resolution droht auch explizit mit der Befassung des UNO-Sicherheitsrates mit den offenen Fragen hinsichtlich der rein friedlichen Intentionen des iranischen Nuklearprogramms.

Militärische Absichten?

Neben den genannten klaren Verstößen gegen Abkommen gibt es Indizien und Vermutungen, die zwar keine Beweise für ein heimliches Kernwaffenprogramm des Iran darstellen, trotz entlastenden Erklärungen erschüttert die große Anzahl von Anhaltspunkten aber die Glaubwürdigkeit des Iran.

  • Derzeit besitzt der Iran kein Kernenergieprogramm, für das angereichertes Uran als Brennstoff benötigt wird. Die Dimensionierung der in Natanz in Bau befindlichen Urananreicherungsanlage wäre nur verständlich, wenn zahlreiche Kernkraftwerke damit versorgt werden sollten. Skeptiker halten das vom Iran geplante Kernenergieprogramm für nicht glaubwürdig, da der Iran über große Erdölreserven verfügt. Allerdings sollte man vorsichtig damit sein, die Glaubwürdigkeit eines Programms in Frage zu stellen, nur weil es nicht als konsistent mit dem nationalen Energieversorgungskontext erscheint.
  • In Arak wird ein 40-Megawatt-Schwerwasserrektor gebaut, der besonders gut für die Produktion von Plutonium geeignet ist.
  • Ein Teil der Urananreichungsbemühungen wird vom Verteidigungsministerium betrieben. Der Iran erklärt das damit, dass das iranische Militär an anderen kommerziellen Industriebetrieben beteiligt sei.
  • Die Gebäude in Natanz, in denen die Urananreicherungsanlage installiert werden soll, wurden komplett unterirdisch gebaut. Die Oberfläche wurde mit Erde bedeckt, als solle die Anlage versteckt werden. Der Iran erklärt dies mit dem Anliegen, die Anlage gegen Gefährdungen aus der Luft zu schützen.
  • Die Firma Kala Electric Company in Abali bei Teheran, in der die von Pakistan gekaufte Uranzentrifuge getestet wurde, war als Uhrenhersteller registriert.
  • Noch bevor Inspektoren im Jahre 2004 im Technologieforschungszentrum Lavizan-Shian eine vermeintliche Biowaffenforschungseinrichtung besuchen konnten, wurde das Gebäude vollständig abgerissen und sogar Boden abgetragen. Der Iran behauptet, das Gelände würde der Stadt gehören und zu einem Park umstrukturiert. Nachprüfungen bestätigten, dass diese Angaben glaubwürdig sind.
  • Als die IAEO im Jahre 2004 die Laseranreicherungsanlage in Lashkar Abad besuchen wollte, wurde sie zunächst zu einem nahe gelegen Ort geführt, offenbar in der Absicht, der IAEO vor Augen zu führen, wie unzuverlässig die Angaben der Oppositionsorganisation NCRI sei. Schließlich führt der Iran die Inspektoren jedoch an den richtigen Ort.
  • Immer noch steht die Inspektion einer militärischen Anlage in Lavizan aus. Dort werden verschiedene Aktivitäten im Zusammenhang mit Urananreicherung vermutet. Unter anderem könnte das in Lashkar Abad demontierte Experiment zur Laseranreicherung dort wieder aufgebaut worden sein.
  • Kleine Proben metallischen Wismuts sind mit Neutronen bestrahlt worden. Dabei entsteht Polonium-210. Dies kann in einem Gemisch mit Beryllium als Neutronenquelle verwendet werden. Diese könnte in Kernwaffen für den Start der Kettenreaktion zum Einsatz kommen. Der Iran erklärte, dass es sich um Forschungen zu zivilen Zwecken gehandelt habe, die nicht abgeschlossen wurden und zudem bereits 13 Jahre zurück lägen. Man hätte das Polonium-210 für die Herstellung von nuklearen Batterien auf der Basis von Radioisotopen verwenden wollen.
  • Noch nicht von der IAEO bestätigt: Der Versuch, Tritium in Südkorea zu beziehen, Beryllium aus China und hochreines Graphit aus Dubai.
  • Wenige Tage vor der IAEO-Gouverneursratssitzung am 24. November 2005 wurde bekannt, dass der Iran technische Unterlagen an die IAEO übergeben hat, in denen die mechanische Bearbeitung von metallischem Uran und insbesondere die Herstellung von Halbkugeln beschrieben wird. Hierfür ist keine zivile Anwendung vorstellbar. Dies ist eine eindeutig militärische Technik, die zur Herstellung der zentralen nuklearen Komponente einer Kernwaffe verwendet werden kann. In den Medien wird die voreilige Schlussfolgerung gezogen, es sei ein neuer und besonders ernst zu nehmender Hinweis auf ein weit fortgeschrittenes Kernwaffenprogramm entdeckt worden. Ganz im Gegensatz dazu wertet die IAEA die Übergabe der Dokumente als einen positiven Schritt zur Erfüllung der geforderten Transparenz und sieht im bekannt werden dieser Unterlagen keinen Vertrauensbruch. Tatsächlich befanden sich die beschriebenen Unterlagen in einem Stoß zahlreicher Dokumente, die der Iran bereits vor rund zehn Jahren vom A.Q. Khan-Netzwerk aus Pakistan unaufgefordert im Zuge der Lieferung von Zentrifugen erhalten hatte. Der Iran beteuert, diese für den Kernwaffenbau wichtigen Informationen weder bestellt noch verwendet zu haben.

Für alle hier aufgeführten Indizien, die vor allem in ihrer Häufung die Vermutung von Kernwaffenambitionen nahe legen, hat der Iran Erklärungen abgegeben, die mit der Unschuldsvermutung vereinbar sind.

Mögliche Positionen

Angesichts der nuklearen Situation im Iran muss jeder Akteur in zweierlei Hinsicht eine Positionsentscheidung vornehmen. Erstens kann man entweder an die Unschuld des Iran glauben, oder man vermutet ein geheimes Atomwaffenprogramm. Zweitens kann man hinsichtlich des NVV entweder den Standpunkt vertreten, der Vertrag sei nicht-diskriminierend anzuwenden, oder man befindet, dass ein Staat der den Vertrag verletzt hat, strenger zu kontrollieren ist und bestimmte Rechte aus dem Vertrag verwirkt hat. Tabelle 2 demonstriert die vier Standpunkte, die sich aus der Kombination dieser zwei antagonistischen Positionen ergeben.

Der Iran sieht sich selber als Opfer eines bereits Jahrzehnte andauernden und sich verschärfenden Verstoßes gegen Artikel IV des NVV, weil ihm der Zugang zu Nukleartechnologien durch die meisten Anbieterländer verwehrt wird.

Sowohl die EU-3 und Russland als auch die USA bestehen auf einer dauerhaften Einschränkung des iranischen Nuklearprogramms. Sie bieten dem Iran nun eine Lösung an, bei der in Russland ein mit dem Iran gemeinsam betriebenes Urananreicherungsprogramm installiert wird. Die Urankonversion in UF6 dürfte der Iran weiter betreiben, müsst aber das UF6-Gas nach Russland liefern. Dort würde Anreicherung und Brennstoffherstellung erfolgen. Der Iran würde an den Gewinnen durch die weltweite Vermarktung beteiligt. Ende Dezember hat der Iran diesen Vorschlag abgelehnt und sein Vorhaben bekräftigt, im eigenen Land Uran anreichern zu wollen.

Dual-Use ist die Quelle der Eskalation

Falls der Iran wirklich ein heimliches Kernwaffenprogramm betreibt oder zumindest betrieben hat, so ist dessen Tarnung aufgrund der Dual-Use-Charakteristik der betreffenden Nukleartechnologien möglich. Dadurch werden eine Entdeckung der wahren Absichten und deren unumstößlicher Beleg zu einer extrem schwierigen Aufgabe.

Falls der Iran wirklich kein heimliches Kernwaffenprogramm betreibt, dann ist die Dual-Use Problematik der betreffenden Nukleartechnologien die Ursache für eine immens friedensgefährdende Eskalation. Im Fall eines unbegründeten Verdachts wütet außerhalb des Iran eine nicht beruhigbare Angst, während innerhalb des Iran eine zunehmende Wut über die ungerechte Behandlung aufsteigt. Wenn die Angst eine Eskalation betreibt, in der sie immer mehr demütigende Behandlungen des Iran einfordert, wird die Wut im Iran unweigerlich einen Trotz heraufbeschwören, der zu einem Ende der Kooperationswilligkeit führt. Die Wiederaufnahme der Urankonvertierung ist bereits ein derartiger Schritt. Im Vorfeld der November-Sitzung des IAEO-Gouverneursrats drohte der Iran mit der Einstellung aller freiwilligen Kooperationen mit den Inspektoren und die Beschränkung auf eine Art Dienst nach Vorschrift gegenüber den Inspektoren, sollte der Fall vor den UNO-Sicherheitsrat gebracht werden.

Was ist zu tun?

Strikte Einhaltung aller Safeguards-Verpflichtungen

Die aufgedeckten Verstöße der Vergangenheit sollten für die IAEO Anlass sein, bei der weiteren Überwachung des Iran alle Möglichkeiten – insbesondere Sonderinspektionen – auszuschöpfen, die das Safeguards-Abkommen und das Zusatzprotokoll bieten. Alle noch bestehenden offenen Fragen und Widersprüche müssen rückhaltlos aufgeklärt werden.

Aber die Erfahrungen zeigen, dass es selbst bei voller Ausschöpfung aller Verifikationsmittel eine äußerst schwierige Aufgabe bleibt, ungemeldete Anlagen und Materialien zu entdecken. Oftmals bedarf es der Hinweise von außen, damit nicht deklarierte Nuklearaktivitäten bekannt werden und inspiziert werden können.

Verbesserung der nuklearen Safeguards

Das Potential bestehender Methoden und Technologien für Safeguards bedarf offenbar bezüglich der Entdeckungschancen nicht-deklarierter Aktivitäten einer weiteren Verbesserung.

Daher hat die Generalversammlung der IAEO im Jahre 2004 beschlossen, die Entwicklung neuer Methoden und Technologien insbesondere zur Implementierung des Zusatzprotokolls zu forcieren. Zur Umsetzung dieses Beschlusses hat die Behörde in 2005 alle Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, sie bei der Suche und Entwicklung neuer Technologien zu unterstützen, durch die undeklarierte nukleare Materialien und Anlagen zu deren Produktion entdeckt werden können. In erster Linie geht es um die Entdeckung des undeklarierten Betriebes von Wiederaufarbeitungs- und Urananreicherungsanlagen.

Eindeutige Zeichen eines Kernwaffenprogramms als Vertragsbruch werten

Ein gravierender Schwachpunkt des NVV-Verifikationssystems liegt darin, dass der Bau von Kernwaffenkomponenten, die nicht spaltbare Materialien beinhalten, offiziell nicht als Beleg für eine Vertragsverletzung verwendet werden können, weil sich die Verifikation ausdrücklich nur auf die nuklearen Materialien bezieht. Die Doppelverwendbarkeit macht es sehr schwer, einen eindeutigen Beleg auf Kernwaffenherstellung zu finden.

Die IAEA darf einschlägige Indizien für ein mögliches Kernwaffenprogramm lediglich zum Anlass nehmen, die ihr zugestandenen Kontrollen der kernwaffenfähigen nuklearen Materialien besonders genau auszuführen. Erst ein Beleg für die Entwendung von Plutonium oder hoch angereichertem Uran darf von der IAEO als Verstoß gegen den NVV angezeigt werden. Wenn ein derartiger Sachverhalt vorliegt, wird allerdings keine Ausrede mehr akzeptiert. Daher würde jegliche nachgewiesene Entwendung von mindestens einer signifikanten Menge waffenfähigen Nuklearmaterials als Verstoß gegen Artikel II des NVV gewertet. Allerdings gibt es Wiederaufarbeitungsanlagen, in denen gelegentlich sogar mehrere signifikante Mengen bei einer Materialbilanzierung unerklärt bleiben. Die Hypothese einer möglichen Entwendung wird nicht ausgesprochen, wenn diese Menge aufgrund statistischer Überlegungen auf Messfehlern beruhen kann.

Verbot oder freiwilliger Verzicht?

Von vielen Seiten wird gefordert, dem Iran den Betrieb von Urananreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen zu verwehren. Neben der Doppelverwendbarkeit gibt es aber noch ein anderes Argument für eine derartige Maßnahme. Sollte ein ziviles Nuklearprogramm existieren, könnte ein geheimes Kernwaffenprogramm weit fortschreiten, bevor es zum Einsatz von spaltbaren Materialien kommt. Sobald der Zugriff auf das Spaltmaterial zum Bombenbau geschieht, wäre es entscheidend, die Materialentwendung sehr schnell zu erkennen. Die IAEO arbeitet mit strikten Zeitvorgaben als Entdeckungsziel, die sich danach richten, wie schnell das Material für den Bau einer Kernwaffe verarbeitet werden kann. Eine zeitkritische Situation möchten manche Beobachter vermeiden, indem im Iran kein direkt verwendbares nukleares Material vorhanden oder produzierbar sein soll.

Ein Verbot bestimmter ziviler Nuklearaktivitäten würde aber gegen Art. IV des NVV verstoßen. Dies sehen manche Experten anders. Sie meinen, dass ein Staat, der in Verdacht steht – und insbesondere wenn er das Safeguards-Abkommen verletzt hat – sein volles Recht nach Art. IV verwirkt hätte. Dem wird sich der Iran nicht beugen.

Das Dilemma zwischen Einhaltung von Art. IV und der militärischen Verwendbarkeit von als zivil deklarierten Anlagen und Materialien könnte gelöst werden, wenn der Iran freiwillig auf deren zivile Nutzung verzichtet. Mittelfristig erscheint es jedoch aussichtslos, einen freiwilligen Verzicht des Iran zu erhalten, selbst wenn er mit Gegenleistungen motiviert wird.

Internationalisierung kritischer Anlagen?

Die Hoffnungen liegen nun auf dem Vorschlag, den Betrieb kritischer Nuklearanlagen zu internationalisieren. Idealerweise soll dann kein einzelnes Land mehr die alleinige physische Kontrolle über das Nuklearmaterial haben. Das ist allerdings in den schon existierenden internationalen Kooperationen zur Urananreicherung wie Eurodif und Urenco nicht realisiert. Sowohl der frühere Vorschlag von Südafrika als auch der neuere von Russland sehen vor, den Iran an der Urananreicherung zu beteiligen, diese jedoch nicht auf seinem Territorium auszuführen.

Man sollte aber nicht vergessen, dass der Iran mit einem ähnlichen Vorhaben schlechte Erfahrungen gemacht hat. Der Iran hat 1974 einen Nuklearkooperationsvertrag mit Frankreich geschlossen und sich als Partner in das europäische Uran-Anreicherungskonsortium Eurodif eingekauft. Als der Iran 1991 angereichertes Uran beziehen wollte, kam es zu einem Rechtsstreit mit Frankreich, weil der Iran seine Zahlungsverpflichtungen in den 1980er Jahren nicht eingehalten hatte. Seither hat der Iran seinen finanziellen Anteil an Eurodif nicht zurück erstattet bekommen und Frankreich hat den USA versprochen, an den Iran kein angereichertes Uran aus dessen Ansprüchen herauszugeben. Wenn Frankreich nun gemeinsam mit anderen Ländern vom Iran verlangt, selbst kein Uran anzureichern, kann man sich vorstellen, wie dies aufgenommen wird. Die offizielle Ablehnung dieses Ansinnens wurde vom Iran Ende Dezember 2005 bekannt gegeben.

Eine internationale Verzichtsnorm

Die einzige Lösung, die über aktuelle Schadensbegrenzungsversuche hinaus geht, besteht darin, eine globale Norm zur Nichtverfügbarkeit von nuklearwaffenfähigen Materialien zu schaffen und die kernwaffenfreie Welt zu realisieren.

Die Technologieverweigerung gegenüber einem einzelnen Land wie dem Iran würde dann weder als Verstoß gegen Artikel IV aufzufassen sein, noch würde ein Land diskriminiert werden.

Das Ziel einer derartigen Verzichtsnorm müsste es sein, den Zugriff auf direkt waffenfähige Nuklearmaterialien über national kontrollierte zivile Programme unmöglich zu machen. Das sollte die folgenden Maßnahmen beinhalten:

  • Keine Wiederaufarbeitung und keine Plutoniumnutzung mehr.
  • Keine Forschungsreaktoren mehr mit HEU betreiben.
  • Die Bestände an unbestrahltem Plutonium durch Abbrand in geeigneten Reaktoren verbrauchen.
  • Die Bestände an HEU durch Vermischung mit Natururan zu niedrig angereichertem Uran konvertieren.
  • Die Urananreicherung auf internationalisierte Anlagen beschränken.
  • Verbliebene Bestände von HEU und Plutonium in mehrfachen Barrieren lagern, die den Zugriff so schwierig wie möglich machen.

Diese Maßnahmen sind bereits früher vorgeschlagen worden, beispielsweise im Konzept für eine Konvention zum umfassenden Ausschluss spaltbarer Materialien (Comprehensive Cutoff Convention)5 und im Modell einer Kernwaffenkonvention (Model Nuclear Weapons Convention).6

Der Aspekt der Nicht-Diskriminierung durch den NVV könnte noch besser realisiert werden, wenn die Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtung aus Artikel VI einlösen würden, ihre Kernwaffen zügig und vollständig abzurüsten.

Zusammenfassung der hier diskutierten Artikel des NVV

Artikel II: Kein Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, darf Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herstellen oder auf andere Weise erwerben.

Artikel III (1) und (2):

Nichtkernwaffenstaaten müssen umfassende nukleare Sicherungsmaßnahmen auf alle Ausgangsmaterialien und alle besonderen spaltbaren Materialien akzeptieren.

Artikel IV:

Zivile Kerntechnik ist ein unveräußerliches Recht für jeden Vertragsstaat und es besteht eine Verpflichtung, die friedliche Nutzung der Kernenergie zu fördern.

Artikel IV des NVV lautet wörtlich: (1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln. (2) Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen…

NVV ohne Diskriminierung * NVV bei Verdacht verschärft anwenden
Irans Nuklearprogramm wird für rein zivil gehalten, bis das Gegenteil erwiesen ist Iran sieht sich als Opfer eines Bruchs von Art. IV des NVV
Kooperation und Transparenz soweit nötig
Kein Verzicht, allenfalls Suspendierung
Bruch von Art. III des NVV
Inspektionen über das vertragliche Maß hinaus
Der Iran wird verdächtigt ein Kernwaffenprogramm zu betreiben, bis alle diesbezüglichen Spuren (Hinweise und Verdachtsmomente) beseitigt sind. Bruch der Art. II und III des NVV
Inspektionen unter voller Ausschöpfung des vertraglichen Maßes
Freiwilligen Verzicht gegen Kompensation aushandeln
Bruch der Art. II und III des NVV
Inspektionen über das vertragliche Maß hinaus
Kein volles Recht mehr auf Art. IV des NVV4
* Gemeint ist hier eine weitere Diskriminierung im Bereich der nuklearen Sicherungsmaßnahmen und bezüglich des Zugangs zu ziviler Nukleartechnik. Dem NVV liegt eine grundsätzliche Diskriminierung der Nichtkernwaffenstaaten gegenüber den durch ihn definierten Kernwaffenstaaten zu Grunde.

Martin Kalinowski wird im März die Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professur für Naturwissenschaft und Friedensforschung an der Universität Hamburg antreten, nachdem er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig war.

zum Anfang | Völkerrechtliche Regelungen zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung

von Regina Hagen

Zur Förderung von Abrüstung und Nichtverbreitung im Bereich nuklearer Waffen, Materialien und Technologien wurden bisher zahlreiche Vereinbarungen abgeschlossen. Dennoch weist das Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregime zahlreiche Lücken auf, die überwiegend dadurch bedingt sind, dass der Bau und Besitz von Atomwaffen – anders als bei biologischen und chemischen Waffen – nicht für alle verbindlich und überprüfbar verboten ist.

Über die völkerrechtliche Illegalität eines Einsatzes von Atomwaffen besteht leider immer noch kein Konsens. Der Internationale Gerichtshof urteilte zwar in einem (ausführlichen und lesenswerten) Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996, dass „die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts« steht.1 Trotzdem betont der Generalstab der US-Streitkräfte in einer 2005 bekannt gewordenen Publikation, dass „weder das Gewohnheits- noch das konventionelle Völkerrecht den Nationen den Einsatz von Atomwaffen in einem bewaffneten Konflikt verbietet.“2 Er leitet daraus das Recht ab, sich den Einsatz von Atomwaffen in einer Vielzahl von Szenarien vor zu behalten (einschließlich der Demonstration des Willens und der Fähigkeiten, Atomwaffen einzusetzen).

Auch die Pflichten aus dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) werden unterschiedlich interpretiert. Während die USA zwar die Verkleinerung, dafür aber auch die Modernisierung und Fortschreibung ihres Atomwaffenarsenals bis zum Jahr 2070 planen und auch alle übrigen Atomwaffenstaaten ihre nuklearen Kapazitäten modernisieren und optimieren, folgerte der Internationale Gerichtshof in seinem Rechtsgutachten aus Artikel VI des NVV einstimmig: „Es gibt eine Verpflichtung, Verhandlungen in gutem Glauben fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“3

Das Versprechen der fünf als offizielle Atomwaffenstaaten anerkannten Länder (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) in Artikel VI des NVV, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“ war Voraussetzung für die Zustimmung der Nicht-Atomwaffenstaaten zu Artikel II, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonst wie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.“4

Weitere Kernpunkte des nur elf Paragraphen umfassenden Vertrags sind das Verbot für Kernwaffenstaaten, Atomwaffen weiter zu verbreiten oder dabei zu helfen (Artikel I), die Pflicht der Nichtatomwaffenstaaten, sich Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation zu unterwerfen, und „das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien (…), unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln“ (Artikel IV).

Der Nichtverbreitungsvertrag wurde 1968 verhandelt, trat 1970 in Kraft und besitzt fast universelle Gültigkeit. Lediglich die (inoffiziellen) Atomwaffenstaaten Indien, Israel und Pakistan haben die Mitgliedschaft in dem Vertragsregime bis heute verweigert. Nord-Korea kündigte 2003 gemäß Artikel X seine Mitgliedschaft im Kontext des eskalierenden Streits über sein vermutetes nukleares Waffenprogramm.

Große Schwierigkeiten bereitet, dass der NVV keinen Zeitpunkt zur Erfüllung der Abrüstungsbemühungen der »Habenden« vorsieht, diese – allen voran die USA – aber eigenmächtig die Rechte der »Habenichtse« definieren wollen und die Verpflichtungen aus dem NVV einseitig in der Nichtverbreitung sehen. Überdies bietet das Recht auf Nutzung der »friedlichen« Kernenergie für ausbruchwillige Staaten den Deckmantel zum Aufbau militärischer Nuklearkapazitäten.

Schon die allererste Resolution der UN-Generalversammlung vom 24. Januar 1946 befasste sich mit der Einrichtung einer Kommission, die Vorschläge ausarbeiten sollte, um einerseits den Austausch wissenschaftlicher Informationen für die »friedliche« Nutzung der neuen Energieform sicherzustellen, andererseits die militärische Nutzung zu unterbinden, vollständige nukleare Abrüstung herbeizuführen und ein Sicherungs- und Inspektionssystem aufzubauen.

Viele Jahre später, 1957, nahm die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) die Arbeit auf. Mit der IAEO wurde der Gedanke von US-Präsident Eisenhower, eine internationale Agentur damit zu betrauen, möglichst vielen Ländern die Vorteile der friedlichen Atomenergienutzung zugänglich zu machen (»Atoms for Peace«), in die Realität umgesetzt. Die IAEO sollte den Spagat versuchen, die Nutzung von Atomtechnologie und den technologischen Transfer zu fördern, die Sicherheit kerntechnischer Anlagen zu erhöhen, und den »Missbrauch« der zerstörerischen Kräfte der Atomenergie zu verhindern.

Der Rolle der IAEO als »watchdog« kam dann ab 1968 noch mehr Bedeutung zu, als sich die Länder mit ihrem Beitritt zum NVV gemäß Artikel III verpflichteten, „mit der Internationalen Atomenergie-Organisation … [Sicherungsmaßnahmen] auszuhandelnden, … damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird.“5

Zur Stärkung dieser »Safeguards« arbeitete die IAEO 1971 das NPT Comprehensive Safeguards Agreement aus, das von der großen Mehrzahl der Nicht-Atomwaffenstaaten unterzeichnet wurde (in 36 Staaten ist ein solches Abkommen bislang nicht in Kraft getreten, 20 davon haben der IAEO noch kein Abkommen zur Genehmigung vorgelegt). Das Safeguards-Abkommen berechtigt die IAEO – nach vorheriger Absprache mit dem betroffenen Staat – zu Routine- und Verdachtsinspektionen vor Ort, zur Entnahme gewisser Proben und zur Installation gewisser Überwachungseinrichtungen. So soll sichergestellt werden, dass ein Mitgliedstaat seine Deklarationspflicht korrekt erfüllt und nicht versucht, Material für militärische Zwecke abzuzweigen.

Als sich im Kontext des Golfkrieges von 1991 herausstellte, dass der Irak seine Deklarationspflichten ignoriert hatte und mit der Produktion waffengrädiger Nuklearmaterialien sowie anderer waffentauglicher Komponenten befasst war, begannen Diskussionen um eine Verschärfung der vorgeschriebenen Sicherungs- und Kooperationsmaßnahmen. Dies mündete 1997 in das Model Additional Safeguards Protocol der IAEO. Dieses Zusatzprotokoll verschärft die Informations- und Deklarationspflichten eines Landes, gewährt IAEO-Inspektoren besseren Zugang zu nukleartechnischen Anlagen über den gesamten Zyklus hinweg (vom Uranbergbau bis zur Abfalllagerung) und erlaubt mehr fest installierte Verifikationssysteme und Probenentnahmen. Die Verhandlungen über das Zusatzprotokoll verlaufen allerdings mit vielen Staaten sehr zäh. In Kraft getreten ist es bislang erst in 69 Staaten, weitere 37 haben das Protokoll unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.

Neben der global ausgerichteten IAEO haben sich über die Zeit auch etliche regionale Vertragssysteme etabliert. Dazu gehören die European Atomic Energy Community (Euratom), die atomwaffenfreien Zonen, die mittlerweile fast die gesamte südliche Erdhalbkugel abdecken, der 2+4-Vertrag, der die ehemalige DDR faktisch zur atomwaffenfreien Zone macht, und die bilaterale Argentine-Brazilian Agency for Accounting and Control of Nuclear Materials ebenso wie multilaterale Vereinbarungen von Staatenbünden, beispielsweise die EU Strategy Against Proliferation of Weapons of Mass Destruction von 2003. Die Zielrichtung dieser Abkommen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Während atomwaffenfreie Zonen den Mitgliedstaaten jeglichen Zugriff auf militärische Nukleartechnologie verwehren, hat Euratom beispielsweise lediglich die Aufgabe, einen fairen Zugang aller Mitgliedstaaten zu Brennstoffen und deren ordnungsgemäße Verwendung sicherzustellen, verbietet aber nicht per se die militärische Nutzung von Nukleartechnologie in den Mitgliedsländern.

Eine Reglementierung der »Anbieterseite« findet ihm Rahmen von Exportkontrollsystemen statt:

  • 1975 schloss sich eine größere Anzahl von Lieferstaaten zur Nuclear Suppliers Group (auch als »London Club« bezeichnet) zusammen, um die Nichtverbreitung zu stärken. Mit Hilfe zweier Richtlinienpakete; eines bezieht sich speziell auf den Export von Nukleartechnologie und -materialien, das andere auf den Export von Dual-use-Gütern, die hier als sowohl für nukleartechnische als auch für andere Zwecke nutzbare Güter definiert werden. Der Gruppe gehören insgesamt 45 Staaten an, darunter auch Deutschland.
  • Eine ähnliche Aufgabe hat das 1972 gegründete Nuclear Exporters Committee, bekannter unter dem Namen Zangger Committee. Das Komitee trifft sich informell, um angesichts der neuesten Entwicklungen im Bereich der Nukleartechnologie die Interpretation von Exportrichtlinien zu diskutieren und zu harmonisieren. Dem Komitee gehören 35 Staaten an, einschließlich der fünf offiziellen Atomwaffenstaaten.
  • Von großer Relevanz für die Nichtverbreitung sind überdies länderspezifische Exportkontrollrichtlinien, die sich in der nationalen Gesetzgebung niederschlagen.

Manche Ländern empfinden die Exporteinschränkungen als diskriminierende Maßnahme, die im Widerspruch zu der in Artikel III des NVV versprochenen »Gleichbehandlung« steht. Besonders gilt das für die von US-Präsident George W. Bush 2003 gestartete Proliferation Security Initiative (PSI), die nach Angaben des US-Außenministeriums inzwischen von mehr als 60 Staaten unterstützt wird (darunter auch Deutschland). PSI will den Transport von Massenvernichtungswaffen, Trägersystemen (vor allem ballistische Raketen) und ähnlichen Komponenten „auf der Erde, in der Luft und zur See zu und von proliferationsverdächtigen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren“ durch aktives Eingreifen in solche Transporte verhindern. Dabei behalten sich die USA das Recht vor, zu bestimmen, wer »verdächtig« ist. Die Problematik wird an folgendem Beispiel deutlich: Würden die USA eine (völkerrechtlich nicht verbotene) Raketenlieferung von Nordkorea an einen Drittstaat abfangen, so wäre diese Handlung juristisch nicht abgedeckt. Sie entspräche dem rechtswidrigen Kapern eines Schiffes.

Viel versprechender scheint da Resolution 1540 des UN-Sicherheitsrates vom April 2004, die geprägt ist von der durch das pakistanische Khan-Netzwerk ausgelösten Sorge, dass die zunehmende „Verbreitung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und ihrer Trägersysteme eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt.“5 Die Resolution untersagt allen Ländern jegliche Unterstützung von Versuchen nicht-staatlicher Akteure, entsprechende Waffen und Trägersysteme „zu entwickeln, zu erwerben, herzustellen, zu besitzen, zu transportieren, weiterzugeben oder einzusetzen.“ Sie schreibt den Ländern zwingend vor, entsprechende Rechtsvorschriften (Gesetze) zu erlassen und verpflichtet sie, generell durch innerstaatliche Gesetze, Vorschriften und Kontrollen die Weiterverbreitung zu verhindern. Über die Maßnahmen zur Umsetzung dieser Resolution müssen die Staaten Bericht erstatten. Sofern sie zur Durchführung der Bestimmungen Hilfe brauchen, sind andere Staaten gehalten, diese Hilfe zu gewähren.

Im Gegensatz zu den multilateralen Abkommen und Initiativen zur Nichtverbreitung (zu denen ich in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber auch die atomwaffenfreien Zonen zähle) wurde die nukleare Abrüstung – mit Ausnahme des vagen Versprechens in Artikel VI des NVV – bislang lediglich bilateral vereinbart, und zwar bis auf einen Sonderfall (Abkommen zwischen Nord- und Südkorea zur Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel von 1992) ausschließlich zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland. Überdies führte lediglich der Mittelstreckenvertrag (INF-Vertrag) von 1987 tatsächlich zur Abschaffung einer kompletten Waffenkategorie und zum Abzug und der Vernichtung sämtlicher auf beiden Seiten stationierten Waffen dieses Typs (Pershing-II, Cruise Missile, SS-20). Alle anderen Abkommen zwischen diesen beiden Ländern – SALT I (1972), SALT II (1979), START I (1991) und SORT (2002) – verpflichten nicht zur Abschaffung von Atomwaffen sondern geben Obergrenzen vor, wie viele strategisch einsetzbare Atomwaffen jeweils im so genannten operativen Status vorgehalten werden dürfen. Folglich sind auf beiden Seiten nach wie vor mehrere tausend ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt und in ständiger Alarmbereitschaft.

Initiativen zahlreicher Gruppen der Zivilgesellschaft, die Staatengemeinschaft zu Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention zu bewegen, die Atomwaffen ausnahmslos verbietet, wurden in den vergangenen Jahren zwar auch auf Ebene der Vereinten Nationen immer wieder aufgegriffen, scheiterten aber an der Weigerung der etablierten Atomwaffenstaaten.

Literatur

Jozef Goldblat: Arms Control. The New Guide to Negotiations and Agreements (mit sämtlichen Vertragstexten auf zugehöriger CD), Sage Publications, 2. Ausgabe, 2002.

www.atomwaffena-z.info

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und Mitglied der Redaktion von W&F.

zum Anfang | Zwei Seiten einer Medaille

Die Rolle der IAEO bei der Verflechtung von Atomwaffen und Atomenergie

von Xanthe Hall

Nach der Entwicklung und den ersten beiden Einsätzen von Atomwaffen schrieb der damalige Kriegsminister Henry Stimson an US-Präsident Truman: „Wenn wir der Sowjetunion versagen, sich uns anzunähern und bloß großtuerisch mit dieser Waffe an der Hüfte weiter verhandeln, werden Verdacht und Misstrauen hinsichtlich unserer Intentionen und Motivationen wachsen. (…) Die wichtigste Lehre meines langen Lebens ist, dass der einzige Weg, einen Mann vertrauenswürdig zu machen, ist, ihm zu vertrauen; und der sicherste Weg, ihn nicht vertrauenswürdig zu machen, ist, ihm nicht zu vertrauen und ihm dieses Misstrauen zu zeigen.“1 Darauf hin teilte Truman in einer Nachricht dem US-Kongress mit: „Die Hoffnung der Zivilisation liegt in internationalen Regelungen, die, wenn möglich, den Verzicht auf den Einsatz und die Entwicklung der Atombombe vorschreiben und alle zukünftigen wissenschaftlichen Informationen in Richtung friedlicher und humanitärer Zwecke lenken und fördern.“

Der Vorschlag führte im November 1945 zu einer Erklärung von US-Präsident Truman und den Premierministern Großbritanniens und Kanadas, Atlee und King, dass neue Erfindungen im Bereich der Atomenergie nicht für destruktive Zwecke sondern zum Vorteil der Menschheit genutzt werden sollten, vorausgesetzt dass effektive und durchsetzbare Kontrollmechanismen gegen einen Missbrauch entwickelt werden könnten.

Dennoch gab es von Anfang an Stimmen, die vor den Gefahren der Verbreitung der Atomenergie für friedliche Zwecke warnten. Beispielsweise das Acheson-Lilienthal-Komitee,2 das für den US-Außenminister zur Vorlage bei den Vereinten Nationen Vorschläge für die Kontrolle der Atomenergie ausarbeiten sollte. Das Komitee schlussfolgerte, dass schon die Idee der friedlichen Nutzung das Risiko der nuklearen Weiterverbreitung von Atomwaffen in sich trüge, weil das Streben nach Atomenergie und das Streben nach Atomwaffen zu einem erheblichen Teil untereinander auswechselbar seien. Ein internationales System, das sich nur auf Gutgläubigkeit stütze, sei zum Scheitern verurteilt:

»(…) Auch wenn Nationen vereinbaren mögen, Atomenergie, die innerhalb ihrer Landesgrenzen entwickelt wurde, nicht in Bomben einzusetzen, wäre die Zusicherung, dass eine Umwidmung für destruktive Zwecken nicht erfolgt, lediglich durch das Versprechen und die Glaubwürdigkeit der Nation selbst abgedeckt. Die nationale Gutgläubigkeit wird dadurch einem enormen Druck ausgesetzt. Ja, sie begründet sogar den Verdacht anderer Nationen, dass das Nachbarland sein Wort nicht einhalten wird.«

(…) Wir sind zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen, dass es keine Aussicht auf Sicherheit gegen atomare Kriegsführung innerhalb eines internationalen Vertragsregimes zum Verbot solcher Waffen gibt, solange zur Kontrolle der Vertragseinhaltung lediglich Inspektionen und polizeiliche Maßnahmen zur Verfügung stehen.“3

Diese Kritik ist heute richtiger denn je, zu einer Zeit, in der sich der Nichtverbreitungsvertrag auf die technischen Werkzeuge der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) stützt, um sich seiner politischen Zielsetzung zu versichern: einen Tausch mit dem Versprechen der Atomwaffenstaaten, ihre Atomwaffen abzuschaffen und Atomtechnologie und -Wissen für die zivile Nutzung zu liefern. Im Gegenzug verzichten die atomwaffenfreien Staaten gänzlich auf Atomwaffen.

Ein weiterer Satz aus dem Bericht des Komitees von 1946 trifft haargenau die heutige Situation. Er zeigt anhand des Problems der Urananreicherung (beispielsweise im Iran), dass das jetzige System nicht funktioniert: „Wir sind davon überzeugt, dass, wenn die Herstellung spaltbarer Materialien durch nationale Regierungen (oder Privatorganisationen unter ihrer Kontrolle) erlaubt wird, Inspektionssysteme alleine keine effektiven Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der beteiligten Staaten gegen die Gefahren durch Verstöße und Hintergehen sein können.“4

»Atoms for Peace«

Die Weitergabe der Atomenergie für zivile Zwecke trieb US-Präsident Eisenhower in seiner bekannten »Atoms for Peace«-Rede vor der UNO im Jahr 1953 noch weiter. Darin schlug er zur Verhinderung der Weiterverbreitung der Atomwaffen vor, dass Atomgeheimnisse zur »Besserung der Menschheit« von allen geteilt werden sollten. Der Kern dieser Idee war eine »Uranbank«, in der die USA und die Sowjetunion ihre militärischen Uranvorkommen für »friedliche« Zwecke zusammenlegen sollten.5

Das »Atoms for Peace«-Programm wurde zu einer massiven Werbekampagne für die Vorteile der zivilen Nutzung der Atomenergie für Medizin, Landwirtschaft und Forschung. Der Medienrummel in den USA führte dort zu einem weitgehend positiven Bild der Atomkraft, während das Programm in der Sowjetunion zu Recht als Propaganda verurteilte wurde. Schwerpunktmäßig war das Programm ein außenpolitisches, das die westlichen Alliierten an die USA und an den Kapitalismus binden sollte. Gleichzeitig demonstrierten die USA damit ihre militärische und atomare Vormacht.

Am Ende hatte das »Atoms for Peace«-Programm wenig mit der Eisenhowerschen Uranbank zu tun. Stattdessen entstand eine Sammlung von Abkommen über die technische Zusammenarbeit auf der Grundlage eines Systems von Sicherungsmaßnahmen, dessen Regelung die IAEO übernahm. Unter dem Schirm des Programms verkaufte die westliche Atomindustrie Forschungsreaktoren und schloss mit vielen Ländern Atomabkommen. Ausländische Wissenschaftler und Ingenieure durften an US-amerikanischen Nuklear-Forschungsprojekten teilnehmen. Indien erhielt z.B. 1955 einen kanadischen Forschungsreaktor und schweres Wasser aus den USA, die zur Herstellung des Plutoniums für Indiens erste im Jahr 1974 getestete Atombombe führten. Mehr als eintausend indische Wissenschaftler nahmen von 1955 bis 1974 an US-Forschungsprojekten teil, und die USA halfen Indien beim Bau der Tarapur-Reaktoren. Aber auch die Sowjetunion lieferte atomares Wissen, insbesondere nach China. Die Lust auf Mitgliedschaft im nuklearen Club war so groß, dass sogar Entwicklungsländer um die Lieferung eines Forschungsreaktors baten, obwohl sie keine Fachleute hatten, um diesen zu betreiben. Nukleare Kompetenz wurde zum Synonym für das Selbstbewusstsein eines Landes.

Es formte sich eine internationale Allianz aus Regierungen, die die Vorteile der zivilen Nutzung der Atomenergie verkaufte. Diese Allianz mündete 1957 in der Einrichtung der IAEO. Die Atomenergiebehörde wurde zum größten Werber für Atomenergie und »Drücker« nuklearer Stoffe und Technologien. In ihrem Statut steht geschrieben, die »friedliche« Nutzung der Atomenergie sei zu fördern, und das tat sie immer wieder, in dem sie z.B. voraussagte, dass Uganda drei und Liberia zwei Atomanlagen für ihren Fortschritt bräuchten.

Die untrennbare Verbindung

Viele Länder verbargen hinter der Tarnung eines zivilen ihr militärisches Programm. Der Hauptgrund für den Enthusiasmus der meisten Regierungen für das »Atoms for Peace«-Programm blieb vorrangig der militärische Aspekt. So haben z.B. Schweden, die Schweiz, Spanien und Italien geheime Atomwaffenprogramme durchgeführt.6 Auch Bonn wollte seine atomare »Option« offen halten, um seinen politischen Einfluss in der NATO zu erhöhen und die Sowjetunion aus Ostdeutschland zu vertreiben.

Weiterhin nutzten Argentinien, Südafrika, Brasilien und Libyen ihre zivilen Programme, um unter diesem Deckmantel Atomwaffenprogramme zu betreiben, auch wenn sie diese schließlich aufgaben. Nordkorea behauptet jetzt Atomwaffenstaat zu sein; auch hier wurde der Atomwaffenkomplex im Rahmen eines zivilen Programms aufgebaut. Indien, Pakistan und Israel besitzen Atomwaffen, die durch zivile Projekte ermöglicht wurden, und sie bauen ihre Arsenale nach wie vor weiter aus.

Heutzutage gibt es nur drei Möglichkeiten, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen: einen bestehenden Atomsprengsatz zu kaufen, zu stehlen oder ihn mit Hilfe eines Atomenergieprogramms zu bauen. Nichtstaatliche Akteure (von manchen Terroristen genannt) würden vermutlich von Staaten, die den dritten Weg bereits beschritten haben, den Sprengsatz kaufen oder stehlen.

Ist die Absicherung der Nichtverbreitung möglich?

Das von der IAEO betriebene Kontrollsystem für die Absicherung der Nichtweiterverbreitung (»Safeguarding«) ist sehr lückenhaft. Heute stehen technische Informationen für den Bau einer Atombombe im Internet oder in Bibliotheken frei zur Verfügung, die im Westen als veraltet gelten, aber dennoch für eine primitive Waffe ausreichen würden. Die Arbeit der IAEO ist zum großen Teil abhängig von freiwilligen Berichten (Deklarationen), gefolgt von Inspektionen. Manchmal führte dies zur Entdeckung heimlicher Programme, wie in Nordkorea und im Iran, wo die Berichte nicht mit den Proben vor Ort zu vereinbaren waren. Solche Differenzen sind aber nie frei von politischer Befangenheit. So kann beispielsweise die geschätzte Menge des Plutoniums in einer Wiederaufbereitungsanlage in Frankreich, Japan oder Großbritannien um bis zu 30% von der gemessenen Menge abweichen. Die IAEO behauptet, dass der internationale Standard nur bei plus/minus ein Prozent liegt. Im Falle der japanischen Tokaimura-Anlage, die MOX-Brennstoff herstellt, konnten jedoch 70 Kilogramm nicht aufgefunden werden. Das ist genügend Spaltmaterial für etwa acht primitive Atomwaffen. Die IAEO musste zwei Jahre über das Abschalten der Anlage verhandeln, um sie durchsuchen zu können, und trotzdem blieben zehn Kilogramm spurlos verschwunden.7

Im Gegensatz dazu waren die Mengen, die im Iran und Nordkorea gefunden wurden, nur im Grammbereich messbar und lösten dennoch internationale Krisen aus. Im Falle Nordkoreas bestätigte diese Behandlung die Paranoia des Regimes und trug zu dem Entschluss Nordkoreas bei, Atomwaffen entwickeln zu wollen oder zumindest deren Besitz zu behaupten. Im Falle des Iran fehlen laut IAEO die stichhaltigen Beweise, dass bereits ein Atomwaffenprogramm besteht. Dennoch treibt die internationale Gemeinschaft unter Anführung der USA und Israels den Iran durch Isolierung und Drohungen immer weiter in Richtung Atomwaffenbau.

Jeder Mitgliedstaat des NVV verpflichtet sich, innerhalb von 24 Monaten nach Beitritt ein umfassendes Safeguards-Abkommen (Safeguards Agreement) mit der IAEO abzuschließen. Die offiziellen Atomwaffenstaaten sind nicht verpflichtet, zivile Anlagen zur Inspektion zu öffnen, können dies aber freiwillig zulassen, was einige auch sporadisch tun. Die Abschlüsse des weiter reichenden Zusatzprotokolls (Additional Protocol) erfolgen im Allgemeinen sehr schleppend, weil es nicht zwingend rechtlich erforderlich ist und vielen Ländern die Motivation zu unterschreiben fehlt. Von den 188 Mitgliedsstaaten des NVV haben sich nur 69 Staaten durch ein in Kraft getretenes Zusatzprotokoll verstärkten Safeguards unterworfen. Ohne dieses Zusatzprotokoll kann die IAEO die freiwillig abgegebenen Erklärungen der Länder nicht verifizieren. Die Finanzierung des Kontrollsystems ist im Vergleich zu den riesigen Summen, die für Atomprogramme weltweit ausgegeben werden, sehr gering.

Das Abkommen der IAEO mit der WHO

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die IAEO schlossen 1959 ein Kooperations- und Konsultationsabkommen und vereinbarten, sich gegenseitig bei all den Themen zu konsultieren, an denen sie ein gemeinsames Interesse haben könnten: „Wenn eine der beiden Organisationen vor hat, ein Programm oder eine Aktivität zu einem Thema zu starten, an dem die andere Organisation ein erhebliches Interesse hat oder haben könnte, konsultiert die erste Partei die andere mit dem Ziel, die Angelegenheit im gegenseitigen Einverständnis abzustimmen.“8

Die Klauseln in Artikel III,2 und III,3 des Abkommens legen Regeln für den Informationsaustausch fest: „Vorbehaltlich solcher Regelungen, die zum Schutz vertraulicher Informationen notwendig sein können, halten sich das Sekretariat der Internationalen Atomenergieorganisation und das Sekretariat der Weltgesundheitsorganisation gegenseitig voll umfänglich informiert über alle Vorhaben und Arbeitsprogramme, die für beide Parteien von Interesse sein könnten“ und regeln, dass „auf Wunsch einer Partei Konsultationen angesetzt werden bezüglich der Übermittlung … spezieller Informationen , die für die jeweils andere Seite von Interesse sein könnten.“

Die Folgen dieses Abkommens wurden besonders nach der Tschernobyl-Katastrophe deutlich, als die IAEO (und nicht die WHO) über die Gesundheitsfolgen der radioaktiven Verseuchung Bericht erstattete. Die IAEO folgt der Vorgehensweise der Internationalen Strahlenschutzkommission und leugnet im wesentlichen, dass die katastrophalen Gesundheitsprobleme der vom radioaktiven Fallout betroffenen Bevölkerung mit der Strahlung aus dem Reaktor zu tun habe. Die IAEO behauptet noch immer, dass bislang nur 59 Menschen an den Folgen des Unfalls gestorben seien. In einer Pressemeldung vom September 2005 über den Bericht des Tschernobyl-Forums listet die IAEO 50 direkte Todesfälle infolge des Unfalls auf, vor allem Rettungsarbeiter, sowie neun an Schilddrüsenkrebs gestorbene Kinder. „Insgesamt«, kommt der Bericht zum Schluss, „könnten bis zu viertausend Personen an der Strahlung sterben, die durch den Reaktorunfall in Tschernobyl vor 20 Jahren freigesetzt wurde.“9

Diese Aussage verharmlost u.a. den massiven Anstieg an Schilddrüsenkrebsfällen bei Erwachsenen und den Anstieg bei den anderen Krebsarten. 1999 war die Inzidenz von Schilddrüsenkrebsen bei Erwachsenen in Weißrussland bereits auf mehr als das Fünffache im Vergleich zum 10-Jahres-Mittelwert vor Tschernobyl angestiegen. Mehrere tausend zusätzliche Schilddrüsenkrebsfälle bei Erwachsenen wurden nachgewiesen. Auch ein Anstieg anderer Krebserkrankungen wurde registriert, ein Anstieg aller Krebserkrankungen in Weißrussland, insbesondere ein Anstieg der Kinderleukämien um 50 % und ein Anstieg von Brustkrebs.

Die WHO hält sich in ihren Aussagen zu den medizinischen Folgen von Tschernobyl bedeckt. Auf ihrer Webseite steht zu lesen: „Der Tschernobylunfall verursachte den Tod von 30 Arbeitern auf dem Reaktorgelände, die Krankenhausbehandlung von 200 weiteren Arbeitern, und er setzte 6,7 Millionen Menschen ionisierender Strahlung durch radioaktive Aerosole im Fallout aus. Dieses verursachte einen Anstieg des Schilddrüsenkrebses bei Kindern in den betroffenen Gebieten um das Zehnfache.»

Wie verhindern wir die Verbreitung von Atomwaffen?

Der Leiter der IAEO, Mohammed ElBaradei, rügte die Atomwaffenstaaten im November 2005 erneut, dass die Abrüstung der Atomwaffen zu schleppend vorangehe. Nach dem Ende des Kalten Krieges gebe es zu wenig Fortschritt bei der Abnabelung von den Atomwaffen, so ElBaradei. Dies fördere eine Atmosphäre des Zynismus. „Das Vertrauen in die Abrüstungsverpflichtungen wäre messbar größer, wenn die Atomwaffenstaaten etwas unternehmen würden, um die strategische Rolle der Atomwaffen zu reduzieren.“10

Solche Aussagen sind wichtig; dafür verdient ElBaradei den Friedensnobelpreis. Auch seine Vorschläge für die Verhinderung der Weiterverbreitung sind sehr hilfreich, insbesondere um weitere Kriege zu vermeiden. Dennoch verhält er sich, als ob das Problem erst durch die Krisen um Nordkorea und den Iran und die Existenz des illegalen Nuklearhandels durch das pakistanische Khan-Netzwerk ausgelöst worden seien.

ElBaradei umschifft damit das Grundproblem der Organisation der er vorsteht: Die Atomenergie wird weiterhin gefördert, Atomtechnologien werden weiterhin an Länder verkauft, und seine Organisation trägt diesen Fehler mit. Zugleich schlägt er Zwischenschritte vor, die scheinbar vernünftig sind, wie z.B. die Einschränkung der Herstellung von spaltbaren Materialien durch Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung, verschärfte Exportkontrollen, mehr Inspektionsrechte und internationale Kontrollen über mehr Anlagen. Dann aber begründet ElBaradei solche Maßnahmen mit der Sicherung des aktuellen Systems, unter dem alle Länder »die Vorteile« der Atomtechnologie weiterhin genießen können sollen.

Das globale Netzwerk für die Abschaffung aller Atomwaffen, »Abolition 2000«, fordert eine Internationale Behörde für erneuerbare Energien als UN-Organ, um der Förderung der Atomenergie entgegen zu wirken. Der Vorschlag des deutschen Politikers und EUROSOLAR-Präsidenten Hermann Scheer, mittels eines Zusatzprotokolls zum NVV Ländern konkrete Hilfsangebote bei der Entwicklung und dem Einsatz erneuerbarer Energien anzubieten, könnte als Alternative zum problematischen, die Nutzung von Atomenergie fördernden Artikel IV des NVV dienen und dazu motivieren, die Finger von der Atomtechnologie zu lassen.

Doch wenn die sicherheitspolitische Lage weltweit weiterhin so angespannt bleibt, werden diese Ideen nicht wirksam werden können. Von den Atomwaffenstaaten muss ein glaubwürdiges Signal an die »Möchtegern-Staaten« ausgehen, dass sie bereit sind, für eine atomwaffenfreie Welt zu arbeiten. Schließlich brauchen wir einen umfassenden Vertrag, der die Abschaffung aller Atomwaffen regelt: eine Nuklearwaffenkonvention entsprechend den Konventionen für chemische und biologische Waffen.

Der Streit um den Friedensnobelpreis an die IAEO verdeutlicht, dass viele Organisationen und Staaten die Verbindung zwischen Atomwaffen und Atomenergie immer noch nicht erkennen wollen. Lieber werden die Kontrollen verschärft, was ein bereits diskriminierend wirkendes System noch ungerechter werden lässt.

Faktisch gibt es Staaten, die Atomwaffen besitzen dürfen, gemäß NVV allerdings nur vorübergehend, während sie einen Modus für deren vollständige Abschaffung ausarbeiten. Weiter gibt es Länder, die Plutonium abtrennen oder Uran anreichern dürfen und damit die Atomwaffenoption besitzen. Schließlich gibt es jene Staaten, die fortschrittliche Atom- oder Dual-use-Technologien zukünftig nicht erhalten werden, weil sie als »unsicher« gelten. Damit ist die nukleare Frage – wieder einmal – eine Frage der Weltordnung und der Macht. Diese Macht definiert sich weiterhin durch die Fähigkeit der Weltzerstörung.

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin bei den deutschen Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in der Geschäftsstelle in Berlin.

Anmerkungen

Kalinowski, Martin B.: Das Nuklearprogramm des Iran – zivil oder militärisch?

1) Die Abtrennung von 0.2 Milligramm Plutonium wird hier aufgrund der geringen Menge nicht als Produktion von Plutonium gewertet, sondern als Test der Plutoniumproduktion. Dieser mögliche Zugang zur kernwaffenfähigem Spaltmaterial wurde jedoch 1992 beendet.

2) Das Safeguards-Abkommen wurde am 15. Mai 1974 zwischen der IAEO und dem Iran abgeschlossen. Ähnliche Abkommen, mit deren Hilfe die Abzweigung atomwaffentauglicher Materialien aus zivilen Nuklearprogrammen ausgeschlossen werden soll, hat die IAEO mit der Mehrzahl aller Staaten vereinbart.

3) Ein Target ist Material, auf das man Strahlung auftreffen lässt, um in der Materie Kernumwandlungen hervorzurufen.

4) Das Zusatzprotokoll (Additional Protocol) wurde von der IAEO zur weiteren Stärkung von Safeguards 1998 eingeführt und ist für die Staaten gedacht, die mit der IAEO zuvor bereits ein Safeguards-Abkommen geschlossen haben. Ein solches Protokoll tritt üblicherweise nach der Ratifizierung in Kraft.

5) Siehe Kalinowski, M.B.: Outline of a Comprehensive Cut-Off Convention. In: Kalinowski, M.B. (Hrsg.): Global Elimination of Nuclear Weapons, Nomos Verlag: Baden-Baden 2000.

6) Siehe Datan, M.; Ware, A.; Kalinowski, M.; Scheffran, J.; Seidel, V.; Burroughs, J.: Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention, herausgegeben von IPPNW/IALANA/INESAP, Übersetzung durch Regina Hagen, Berlin 2000.

Hagen, Regina: Völkerrechtliche Regelungen zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung

1) Absatz 105(2)E des Rechtsgutachtens (Advisory Opinion) des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen vom 8. Juli 1996, im vollen (deutschen) Wortlaut abgedruckt in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation, Analysen, Hintergründe, LIT-Verlag, Münster, 1997.

2) United States Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Publication 3-12, Final Coordination (2), 15 March 2005, S. 1-9.

3) Advisory Opinion, op.cit, Absatz 105(2)F.

4) Die offizielle deutsche Fassung des NVV steht unter www.atomwaffena-z.info/pdf/NPT-Vertrag.pdf.

5) Ibid.

6) Der Text steht in offizieller deutscher Übersetzung unter www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/friedenspolitik/abruestung/resolution1540.pdf.

Hall, Xanthe: Zwei Seiten einer Medaille – Die Rolle der IAEO bei der Verflechtung von Atomwaffen und Atomenergie

1) Memorandum von Henry L. Stimson an Harry S. Truman, 11. September 1945 (eigene Übersetzung).

2) Komiteemitglieder: Dean Acheson, Vannevar Bush, James Conant, Leslie Groves, John McCloy.

3) The Acheson-Lilienthal Report. Report on the International Control of Atomic Energy, 16. März 1946 (eigene Übersetzung).

4) Ibid.

5) Leonard Weiss: Atoms for Peace, in: Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 2003.

6) Roland Kollert: Die Politik der latenten Proliferation, Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 1994.

7) Paul Leventhal: Safeguards Shortcomings – a critique, Nuclear Control Institute, Sept. 1994.

8) Agreement Between the International Atomic Energy Agency and the World Health Organization, Artikel I,3, IAEA INFCIRC/20 von 23. September 1960 (eigene Übersetzung).

9) IAEO-Presseaussendung vom 5. September 2005: Tschernobyl: Das wahre Ausmaß des Unfalls – 20 Jahre später legt ein UN-Bericht definitive Antworten vor und zeigt die Wege zur Rückkehr zu einem normalen Leben. Ein »Digest Report« wurde vorgelegt als: The Chernobyl Forum: Chernobyl´s Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine, September 2005.

10) Reuters: ElBaradei says nuclear states too slow disarming, Washington, 7. November 2005 (eigene Übersetzung).

Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Lothar Liebsch, Ottfried Nassauer, Götz Neuneck, Jürgen Scheffran, Wolfgang Schlupp-Hauck und Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Nuklearer Supermarkt oder nuklearwaffenfreie Welt?

von Regina Hagen

»Wenn die Welt ihren Kurs nicht ändert, riskieren wir die Selbstzerstörung. Der gesunde Menschenverstand wie die jüngsten Ereignisse machen mehr als klar, dass der nukleare Nichtverbreitungsvertrag… an die Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. …Wir brauchen dringend einen Fahrplan für die Abrüstung von Atomwaffen – und anfangen sollten wir mit einer deutlichen Reduzierung der 30.000 Atomsprengköpfe, die es nach wie vor gibt. …Wir dürfen nicht länger dem Irrglauben anhängen, dass das Streben nach Atomwaffen bei einigen Ländern moralisch verwerflich ist, während wir bei anderen moralisch akzeptieren, dass sie für ihre Sicherheit auf Atomwaffen bauen.»

Mohamed elBaradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), kennt sie genau, die alten und die neuen Gefahren des Nuklearzeitalters. Und in der Tat halten Experten die Situation für gefährlicher als auf den ersten Blick erkennbar.

All zu lange setzten wir auf das Prinzip Hoffnung:

  • Hoffnung darauf, dass die USA und Russland schon noch zu substantiellen Abrüstungsvereinbarungen kommen, wenn die absurde Anzahl einsatzbereiter Atomwaffen in ihrer Monstrosität nach dem Ende der Blockkonfrontation noch deutlicher wird;
  • Hoffnung darauf, dass einseitig interpretierte und damit wacklige völkerrechtliche Vereinbarungen halten und die nuklearen Habenichtse sich mit ihrem Status abfinden;
  • Hoffnung darauf, dass Atomwaffen und -materialien gut bewacht und gesichert würden und ein Transfer in »falsche Hände« somit ausgeschlossen sei;
  • Hoffnung darauf, dass Abschreckung weiterhin den Atomkrieg verhindert;
  • Hoffnung darauf, dass ein Wunder passiert und Atomwaffen irgendwann einfach verschwinden.

Das erste nukleare Zeitalter ist noch nicht vorbei

„Aus Protest gegen die Aufrüstung haben mehr als zwei Millionen Demonstranten eine fast 500 Kilometer lange Menschenkette gebildet. Sie reichten sich am Samstag die Hände und riefen Parolen wie »Für Frieden – gegen Raketen«.“ Die Kundgebung richtete sich gegen Raketen des Landes X, die auf Y gerichtet sind.

Lange her und maßlos übertrieben, wird sich jetzt manche/r denken. Die Menschenkette von Stuttgart nach Ulm, 100 Kilometer quer über die Schwäbische Alb, fand schließlich schon vor über 20 Jahren statt und brachte rund eine viertel Million Menschen auf die Beine, die sich gegen Rüstung und »Nachrüstung« wandten. Die US-Mittelstreckenraketen des Typs Pershing-II, damals als Gegengewicht zu den russischen SS-20 auf deutschem Boden stationiert, sind auch schon längst verschrottet.

Gefahr vorbei, Problem gelöst? Weit gefehlt! Die oben zitierte Zeitungsmeldung lief am 29. Februar 2004 über die Ticker der Nachrichtenagenturen. Die Menschenkette fand am Tag zuvor in Taiwan statt und richtete sich gegen einige Hundert chinesische Kurz- und Mittelstreckenraketen, die auf dem Festland stationiert und – zu einem erheblichen Teil mit Atomsprengköpfen bestückt – auf die »abtrünnige« Inselrepublik gerichtet sind. Die Gefahr, sich eines Tages im nuklearen Schlachtfeld wiederzufinden, scheint in Europa verschwunden. In Taiwan ist sie sehr präsent.

Auch wenn US-Präsident George W. Bush betont, „Amerika wird nicht zulassen, dass uns Terroristen und gefährliche Regime mit den gefährlichsten Waffen der Welt bedrohen,« so kann das nicht von der Tatsache ablenken, dass die Welt heute vor allem von den 30.000 Atomwaffen der fünf offiziellen Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA bedroht wird. Diese Länder haben in den letzten 35 Jahren ihre Verpflichtungen aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag hartnäckig ignoriert und ihre Atomwaffen nicht wie versprochen vollständig abgerüstet. Ganz im Gegenteil:

  • Solange die einzig verbliebene Supermacht trotz ihres überwältigenden konventionellen Waffenarsenals und ihrer fast unangefochtenen Möglichkeiten der High-Tech-Kriegsführung in ihren Militärdoktrinen für Atomwaffen eine Schlüsselrolle vorsieht, gibt es keinen Grund für »kleinere« Länder, darauf zu verzichten. Ersteinsatz, Einsatz gegen Nicht-Atomwaffenstaaten, vorbeugender Einsatz zur Verhinderung von Proliferation – die »Optionen« der USA heizen die Rüstungsspirale an. Das Land gibt Milliardensummen für seine Atombewaffnung aus. Die Einsatzbereitschaft des Arsenals wird mit modernsten Technologien garantiert, selbst neue Tests werden nicht mehr ausgeschlossen. »Mini-Nukes« klingen harmlos und sind dennoch gefährlich. »Bunkerknacker« bieten die Illusion eines führbaren Atomkriegs. Die Verteidigungslinie wird in den Weltraum verlagert. Und Raketenabwehr gaukelt den Schutz der eigenen Heimat vor.
  • Russland muss zwar sparen, zur Reaktion reicht es allemal. Modernisierte Langstreckenraketen, mit mehreren Sprengköpfen bestückt, hochmanövrierbar bis zum letzten Augenblick, sollen
  • »Raketenabwehrsysteme durchdringen«. So, verkündet Präsident Putin, „bleibt Russland (eine) große Atomraketenmacht«. Seit Jahren vergammelt das russische Frühwarn- und Kontrollsystem, somit steigt das Risiko von Fehlinterpretation und einem versehentlichen »Vergeltungsschlag«. Kompensiert wird dies mit einer unsinnigen Ersteinsatz-Doktrin.

  • Auch China rüstet zur Überwindung des geplanten amerikanischen Abwehrschirms. 200 statt 20 interkontinentale Raketen sollen die »Zweitschlagfähigkeit« sicherstellen, auch gegen eine US-Raketenabwehr. Modernere Technik ermöglicht bald eine Einsatzbereitschaft rund um die Uhr. Gleichzeitig wird das gegen Taiwan gerichtete Arsenal ständig ausgebaut.
  • Europa hat mit Großbritannien und Frankreich zwei Atommächte in der Union, die ihr Arsenal ebenfalls modernisieren. Hinzu kommt, dass im NATO-Krisenfall europäische Länder ein Mitspracherecht beim Einsatz des US-Arsenals haben.

In den USA ist angesichts der Neudefinition und Verschiebung der weltweiten nuklearen Arsenale nach dem Kalten Krieg die Rede vom zweiten nuklearen Zeitalter – ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass die Gefahren des ersten noch längst nicht überwunden sind.

Von Schlupflöchern und nuklearen Supermärkten

Der bisher eingeschlagene Weg zur nuklearen Abrüstung ist erkennbar gescheitert. Dasselbe trifft auf die Nichtverbreitung zu. Jayantha Dhanapala, bis 2003 stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstung, fürchtet einen weltweiten Wettlauf nach Atomwaffen: »Dann bricht die Hölle los. Es werden sich immer weitere Länder und Terroristen finden, die Atomwaffen einsetzen. Wir befinden uns auf dem Weg nach Armageddon.»

  • Der »nukleare Club« ist größer geworden. Indien, Israel und Pakistan haben sich als Atomwaffenstaaten gemeldet, der Status von Nordkorea ist ungeklärt; Iran gilt als weiterer Anwärter auf die Nuklearoption.
  • Schwellenländer wollen nicht länger verzichten. Atomwaffen haftet der Ruf an, Prestige zu verschaffen und vor »vorbeugenden« Militärschlägen der USA oder Übergriffen feindlicher Nachbarn zu schützen.
  • Der nukleare Schmuggel hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Nach IAEO-Chef el-Baradei geht es trotz gegenläufiger Bemühungen seiner Behörde und der Beobachtung durch diverse Geheimdienste zu »wie im Supermarkt». Gaszentrifugen und Blaupausen nach Iran oder Libyen, Atomwaffendesign nach Nordkorea, Raketentechnologie nach Pakistan – der Handelsumfang des nuklearen Schwarzmarktes erschreckt. Das Interesse von Terroristen an nuklearer Technologie ist vielleicht nicht groß, aber auszuschließen ist es auf keinen Fall.
  • Wer für Forschungszwecke oder zur Energiegewinnung mit fortgeschrittenen Nukleartechnologien hantiert, ist potentiell auch atomwaffenfähig. Auf 40 Länder trifft dies momentan zu. Bei einem Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes könnten auch in Japan, Deutschland und anderen Staaten sehr schnell Atomwaffen produziert werden.
  • Solange in zivilen Atomreaktoren waffengrädiges Nuklearmaterial eingesetzt wird bzw. entsteht, bleibt auch die Gefahr einer Abzweigung für militärische Zwecke erhalten.
  • Die etablierten Atomwaffenmächte mischen bei der Weiterverbreitung häufig mit. Ob Handel mit waffengrädigem Uran durch die USA oder Weitergabe chinesischer Raketentechnologie an Nordkorea – der »Club« kann nicht einfach nur mit dem Finger auf andere zeigen.
  • Das gilt auch für Deutschland. Der Verkauf deutscher U-Boote mit Umrüstpotential zur nuklearen Raketenabschussbasis an Israel und die Beteiligung der deutsch-niederländisch-britischen Holding URENCO an den pakistanischen Deals sind nur zwei Beispiele von vielen.

Tu, was wir sagen, und nicht, was wir tun?

Dieses Bild ist zwar schon reichlich unerfreulich, vollständig ist es trotzdem nicht.

Atomwaffen sind in ein komplexes Geflecht von Politiken, Doktrinen, politischen Ambitionen und militärischen Fähigkeiten eingebunden. Das Regulativ bilden völkerrechtliche Verträge. Doch nicht nur der Nichtverbreitungsvertrag, auch die Rüstungskontrolle insgesamt ist in Gefahr.

Vor allem die Regierung Bush macht aus ihrer Verachtung für Rüstung beschränkendes Völkerrecht kein Hehl. 30 Jahre lang wurde eine neue Rüstungsspirale mit Raketenabwehr und Weltraumwaffen durch den Raketenabwehrvertrag verhindert. Die USA haben ihn gekündigt und »auf den Misthaufen der Geschichte» befördert. Jahrelang wurde um ein vollständiges Verbot von Atomtests gerungen. Die USA verweigern die Ratifizierung. Die Welt soll von der Geisel der Landminen befreit werden. Amerika denkt nicht an einen Beitritt zum Vertrag. Die Weltgemeinschaft möchte Waffen im Weltraum verhindern. Die USA halten das nicht für nötig.

Utopisch erscheint es da, auf den Abschluss weitergehender Verträge zu setzen. Und doch scheint es nur den einen Ausweg zu geben: Beharren auf multilateral organisierter Rüstungskontrolle und dem Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention.

Nur im Rahmen eines vollständigen, dauerhaften und uneingeschränkten Verbots von Atomwaffen für alle Länder der Erde lassen sich Voraussetzungen schaffen, um die nukleare Aufrüstung einzelner Länder zu unterbinden. Erst wenn alle Länder gleich behandelt werden, fallen die Anreize weg, mit der Rüstung des Gegners gleichzuziehen. Erst wenn jegliche Nuklearmaterialien unter internationaler Kontrolle stehen, entfällt die Gefahr eines Ausbruchs aus dem Regime. Nur wenn alle zusammenarbeiten gibt es eine Chance für die atomwaffenfreie Welt. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Atomwaffenstarrende Welt

Die Gefahr eines Atomkrieges wächst

von Xanthe Hall

Im Besitz der acht Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan) befinden sich 30.000 Atomwaffen. Das sind zwar nur halb so viele wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, sie bedeuten aber immer noch einen vielfachen Overkill für die gesamte Menschheit. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und oberster Waffeninspektor, Mohammed al-Baradei, zur Situation: „Noch nie war die Gefahr (eines Atomkrieges) so groß wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, wenn wir uns nicht auf ein neues internationales Kontrollsystem besinnen.“

96% der Atomwaffen gehören den USA oder Russland. Ungefähr 17.500 davon sind jederzeit einsatzfähig. Davon sind etwa 4.000 in ständiger Alarmbereitschaft – sie können ihr Ziel am anderen Ende der Welt in weniger als 30 Minuten erreichen. Der Rest befindet sich in Reserve, im Lager oder ist für die Abrüstung vorgesehen.

USA

Offiziell anerkannter Atomwaffenstaat und von Anfang an Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags (NVV, 1970 in Kraft getreten), in dem sich die Atomwaffenmächte verpflichteten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (Artikel VI). Die USA entwickelten als erste die Atombombe und setzten sie als einzige auch ein, im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki. Seit Beginn des atomaren Zeitalters trieben die USA das weltweite Wettrüsten an. Sie besitzen noch 10.650 Atomwaffen, davon sind 3.000 in »aktiver« Reserve. Seit 1945 produzierten sie etwa 70.000 Atomwaffen; darunter 70 verschiedene Typen, von der kleinen Atommine bis zu riesigen Wasserstoffbomben mit Megatonnensprengkraft.

Zur Zeit überholen die USA ihr komplettes atomares Arsenal, um für »neue Bedrohungslagen« gewappnet zu sein. Dies bedeutet die Modernisierung aller Atomwaffen, die in ihrem Besitz sind, sowie die Entwicklung neuer Atomwaffen, wie z.B. so genannte Mini Nukes und Bunker Busters.

Die USA blockieren seit langem das Inkrafttreten des Atomteststoppvertrags: Sie sind nicht zur Ratifizierung bereit. Gleichzeitig erwägen sie die Möglichkeit, wieder Atomtests aufzunehmen, obwohl sie aufgrund ihrer über 1.000 Tests seit 1945 ausreichend Daten besitzen, um ihr Atomwaffenprogramm ohne Atomexplosionen mit Hilfe von Computern und sogenannten subkritischen Tests fortzuführen.

Großbritannien

Die Briten sind seit 1968 Unterzeichnerstaat des NVV und als offizieller Atomwaffenstaat anerkannt, was ihnen Seite an Seite mit den USA ihre Macht in der Weltordnung sichert. 185 Atomsprengköpfe befinden sich im britischen Arsenal. Bis auf 25 Sprengköpfe, die in Reserve gehalten werden, befinden sich alle strategischen Atomwaffen auf Trident U-Booten. Nur eines von den insgesamt vier U-Booten befindet sich ständig auf dem Meer, bestückt mit bis zu 48 Atomwaffen.

Die Trident-Raketen an Bord tragen Mehrfachsprengköpfe, die gegen unterschiedliche Ziele im selben Zielgebiet eingesetzt werden können. Jeder Sprengkopf hat eine Sprengkraft von 100 Kilotonnen (das entspricht der achtfachen Sprengkraft von Hiroshima mit ca. 200.000 Toten). Manche Trident-Raketen haben aber auch nur einen Sprengkopf für »substrategische Aufgaben«, d.h. für die Bekämpfung einzelner Ziele, z.B. in einem regionalen Konflikt. Anders als im Kalten Krieg können diese Atomwaffen nicht mehr in Sekunden abgefeuert werden: Der Abschuss muss inzwischen einige Tage vorbereitet werden.

Zudem sind in Lakenheath bis zu 66 Atomwaffen der USA gelagert.

Frankreich

Zur »Force de Frappe« der Franzosen gehören insgesamt 350 nukleare Sprengköpfe. Bis auf 60 Luft-Boden-Raketen für Flugzeuge handelt es sich um U-Boot-gestützte Raketen mit einer Reichweite von 6.000 km und einer Sprengkraft von 100-150 Kilotonnen. Auch Frankreich nutzt einzeln zielbare Mehrfachsprengköpfe.

Frankreich ist der einzige Atomwaffenstaat, der sein Atomtestgelände auf Mururoa im Südpazifik nach den weltweiten Protesten gegen Atomtests von 1996 geschlossen hat. Der Atomteststoppvertrag und der Raratonga-Vertrag (siehe »Atomwaffenfreie Zonen«) sichern den französischen Atomteststopp, da Frankreich Vertragspartei ist und das Verbot mit speziellen Überprüfungsmaßnahmen unterstützt.

Zudem erklärte Frankreich 1992 seine Absicht, kein Plutonium mehr für Atomwaffen herzustellen, und schloss 1997 seine Plutoniumfabrik in Marcoule. Dennoch wird in der Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague weiterhin Plutonium für zivile Zwecke produziert.

Südafrika

Südafrika zerstörte seine sechs Atomwaffen kurz vor dem Ende des Apartheid-Regimes, um dem NVV 1991 beizutreten und sich damit wieder in die internationale Gesellschaft eingliedern zu können. Seit 1994 sind alle südafrikanischen Atomwaffenanlagen komplett abgebaut.

US-Atomwaffen in Europa (NATO)

Die USA haben Stationierungsplätze in europäischen Depots für bis zu 348 taktische Atomwaffen vom Typ B-61. Experten gehen davon aus, dass etwa 150-180 Atomwaffen tatsächlich stationiert sind. Diese Atomwaffen stehen unter US-Kommando, dennoch wären im Ernstfall auch europäische Piloten und Flugzeuge am Einsatz beteiligt. Dies geschähe im Rahmen der »nuklearen Teilhabe«, über die alle NATO-Mitglieder in die Planung eines Atomkriegs eingebunden sind. US-Atomwaffen sind in folgenden Staaten stationiert: Belgien (bis zu 22 in Kleine Brogel), Deutschland (bis zu 22 in Büchel, bis zu 108 in Ramstein), Großbritannien (bis zu 66 in Lakenheath), Niederlande (bis zu 22 in Volkel), Italien (bis zu 22 in Ghedi Torre und bis zu 36 in Aviano), Türkei (bis zu 50 in Incirlik). Zusätzlich befinden sich rasch reaktivierbare Atomwaffendepots in Deutschland (Memmingen und Nörvenich), in Griechenland (Araxos) und in der Türkei (Murted und Balikesir). Dort sind momentan jedoch keine Atomwaffen stationiert.

Russland

Die Sowjetunion, Vorgängerstaat von Russland, wurde 1949 Atomwaffenmacht und führte über 700 Atomtests durch. Man schätzt, dass Russland bzw. die Sowjetunion seit 1949 etwa 55.000 Atomwaffen produziert hat. Die Sowjetunion trat dem NVV gleich zu Beginn bei.

Das derzeitige russische Arsenal enthält 8.200 Atomsprengköpfe, darunter 5.000 strategische Atomwaffen. In Lagern befinden sich etwa 4.600 Atomwaffen, zudem sind 5.000 für die Abrüstung im Rahmen der bilateralen Verträge START I und II vorgesehen.

Das Moskauer Abkommen zwischen USA und Russland aus dem Jahr 2002 sieht vor, dass beide Staaten bis 2012 ihr strategisches Arsenal auf 1.700 bis 2.200 aktive Atomwaffen reduzieren, obwohl es für Russland wirtschaftlich schwierig wird, auch nur 1.000 langfristig einsatzbereit zu halten. Das Abkommen enthält jedoch keine Überprüfungsvereinbarungen. Beide Parteien dürfen mit nur dreimonatiger Kündigungsfrist ohne Begründung aus dem Abkommen austreten.

Wahrscheinlich wird es nicht zu weiteren Verhandlungen über strategische oder gar taktische Atomwaffen kommen, obwohl diese bitter nötig wären. Russland hat im Oktober 2003 eine Modernisierung der Atomstreitmacht angekündigt. Um mit den USA mithalten zu können, kündigte das russische Verteidigungsministerium an, eine neue Generation strategischer Atomwaffen und Trägerraketen zu entwickeln. Als Begründung wird u.a. die Notwendigkeit angeführt, den Raketenabwehrschirm der USA zu überwinden.

Weißrussland, Ukraine, Kasachstan

Diese ehemaligen sowjetischen Republiken sind nach der Auflösung der Sowjetunion atomwaffenfrei geworden. Alle Atomwaffen wurden bis 1996 nach Russland abgezogen, und die drei Staaten haben sowohl den NVV als auch den Umfassenden Atomteststoppvertrag unterzeichnet und ratifiziert.

China

China ist erst seit 1992 Mitglied des NVV. Es forderte zwar stets einen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen und unterhält nur eine kleine atomare Abschreckungsmacht, rüstete aber auch nicht ab, sondern modernisiert jetzt seine Streitkräfte, vor allem die Trägersysteme. Im Arsenal befinden sind rund 400 Atomwaffen meist kürzerer Reichweite, stationiert auf U-Booten, Flugzeugen und landgestützten ballistischen Raketen.

Nur maximal 20 chinesische Langstreckenraketen könnten die USA erreichen. Man vermutet, dass China in Zukunft aufrüstet, insbesondere um die geplante Raketenabwehr der USA zu überwinden.

Indien und Pakistan

Diese beiden Staaten sind nicht anerkannte Atomwaffenmächte und treten dem NVV aus diesem Grund auch nicht bei. Sie können nicht als Atommacht beitreten, weil der Vertrag festschreibt, dass Atommacht nur sein darf, wer vor 1967 schon getestet hatte. Obwohl vermutet wird, dass sie bereits seit langem Atomwaffen besitzen, ist ihr Atompotenzial erst seit der beiderseitigen Atomtestreihe 1998 definitiv bekannt.

Indien hat schätzungsweise 30 bis 35 Atomwaffen, Pakistan 24 bis 48, das Arsenal wächst jedoch ständig. In Indien geht die Stationierung offiziell voran und es wird eine Befehlsstruktur aufgebaut, so dass das indische Abschreckungspotenzial »glaubwürdiger« wird. Beide Staaten besitzen ballistische Raketen mittlerer Reichweite und entwickeln diese immer weiter.

Die Bedrohungsrhetorik beider Staaten erreichte im Jahr 2002 erschreckende Ausmaße, als die Welt vor einem Atomkrieg in Südasien bangen musste. Seitdem hat sich die Lage zwar entspannt, sie bleibt jedoch – trotz der jüngsten Gesprächsbereitschaft – höchst gefährlich.

„Das internationale Sicherheitssystem wurde stufenweise unter eine globale nukleare Weltordnung gebracht, die die Hegemonie der fünf Atomwaffenmächte vorsieht. Indien will ein Mitspieler und nicht ein Objekt in dieser Ordnung sein.“ (K. Subrahmanyam, Direktor des Indian Institute of Strategic Studies)

Israel

Israel hat sein Atomwaffenpotenzial nie offiziell zugegeben, droht jedoch in Krisensituationen immer wieder damit, es würde sein »ganzes verfügbares Arsenal« einsetzen. Experten schätzen, dass Israel 75 bis 200 Atomwaffen besitzt; die Arabische Liga behauptet, es habe eher 350 im Arsenal; und der amerikanische Geheimdienst CIA geht von 200-400 Atomwaffen in Israel aus. Um die Diskussion über seine Atomwaffen und eine eventuelle Abrüstung zu umgehen, tritt Israel dem NVV nicht bei.

Nordkorea

Nordkorea hat für Schlagzeilen gesorgt, als es Anfang 2003 aus dem NVV ausgetreten ist. Ungewiss ist, ob Nordkorea bereits im Besitz von Atomwaffen ist. Die US-Geheimdienste behaupten, dass Nordkorea bereits mindestens zwei Atomwaffen gebaut habe und genug Plutonium besitze, um weitere zu bauen. Es wurde auch über Nordkoreas Fähigkeiten zur Urananreicherung spekuliert.

Atomwaffenfreie Zonen

Literatur:

Bulletin of the Atomic Scientists, NRDC Nuclear Notebook 2001-2003, www.thebulletin.org/issues/nukenotes/nukenote.html.

Otfried Nassauer: NATO's Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing? BITS Policy Note, April 2002.

Internet-Seite: Nuclear Weapon Free Zones (www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): SIPRI Yearbook 2001, Oxford University Press, ISBN 0-19-925176-2.

Der Spiegel Nr. 5 vom 26.1.04: Ein Atomkrieg rückt näher, Interview mit Mohammed al-Baradei, S.104.

Xanthe Hall ist Abrüstungsexpertin der deutschen Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges.

zum Anfang | Die Atomkrieger des 21. Jahrhunderts

von Otfried Nassauer

Die USA arbeiten an neuen atomaren Waffen, haben eine neue Nuklearstrategie und pfeifen auf Rüstungskontrolle. Ein guter Grund, sich die Nuklearwaffenpolitik der Regierung Bush einmal genauer anzuschauen.

Neue Atomwaffen

So mancher Abgeordnete im amerikanischen Kongress rieb sich im März 2003 verwundert die Augen, als er den Entwurf für das Verteidigungshaushaltsgesetz 2004 auf den Tisch bekam. Darin fand sich nicht nur – wie erwartet – ein Etatansatz für die Entwicklung einer neuen Atomwaffe, die tief unter der Erde verbunkerter Ziele zerstören soll. Es gab auch einen unscheinbaren Passus, in dem die Aufhebung des »Spratt-Furse Amendement« aus dem Verteidigungshaushaltsgesetz 1994 vorgeschlagen wurde.

Dieser rechtlich bindende Gesetzeszusatz verbot konkrete Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an Nuklearwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als 5 Kilotonnen. Er stellte eine Hürde gegen die Entwicklung und Einführung von Mini-Atomwaffen und Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft dar, obwohl Grundlagenforschung und Konzeptstudien nicht verboten waren. Er war das einzig existente rechtlich bindende Verbot im Bereich der Atomwaffenentwicklung in den USA. Würde er aufgehoben, wäre der Entwicklung neuer US-Atomwaffen Tor und Tür geöffnet.

Genau das ist inzwischen eingetreten. Das Haushaltsgesetz, das der Kongress Ende 2003 verabschiedete, ermöglicht nicht nur den Einstieg in die Arbeit an einer neuen bunkerzerstörenden Atomwaffe sondern auch den Einstieg in die Arbeit an Mini-Atomwaffen.

Seit Jahren hatten ein kleiner Kreis konservativer Republikaner und Nuklearwaffenlobbyisten beklagt, Washington betreibe nukleare Selbstbeschränkung, habe keine geeigneten Nuklearwaffen, um den militärischen Anforderungen der Zukunft gerecht und mit den Gegnern fertig zu werden. Die Nuklearwaffeninfrastruktur – von den Atomwaffenlaboren über die Fertigungsstätten bis hin zu den Testanlagen – veralte und vergammele. Der wissenschaftliche Nachwuchs werde vernachlässigt. All das gelte es schnellstens zu ändern.

Nach dem Machtantritt von George W. Bush im Januar 2001 begann diese Lobby, ihre gegen Ende des Kalten Krieges entwickelten Konzepte und Ideen wieder auszupacken und in die Tat umzusetzen. Der Einsatz von Nuklearwaffen, so die Vorstellung dieser Apologeten, muss glaubwürdig angedroht werden können, da nur dann mit der Drohung eine echte Abschreckungs- und Erpressungswirkung verbunden ist. Die Waffen müssen in der Lage sein, die vorgesehenen gegnerischen Ziele wirklich zerstören zu können. Die Ziele und Gegner aber hätten sich seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich gewandelt, und für jene Ziele, um die es jetzt gehe, seien bislang nicht die richtigen Waffen vorhanden.

Angeregt wurde deshalb die Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Nuklearwaffen. Da sind zum einen die atomaren Bunkerknacker. Heutige konventionelle Bunkerknacker können bis zu sieben Meter Stahlbeton durchdringen, künftige sollen leistungsfähiger sein. Neun, zehn oder mehr Meter werden für möglich gehalten. Die einzige Nuklearwaffe im US-Arsenal, die Bunkerknacker-Qualitäten besitzt, ist die mit einem besonders harten äußeren Mantel umgebene Atombombe B-61 Modell 11, ein relativ großer Nuklearsprengsatz. Tests ergaben, dass diese Waffe ihre Grenzen hat: Sie funktioniert nicht bei allen Bodenbeschaffenheiten. Sie muss in einem bestimmten Winkel auftreffen, dringt nur begrenzt tief ein und es ist – wegen der hohen Sprengkraft – mit sehr viel radioaktivem Fallout zu rechnen. Begonnen werden soll deshalb mit der Entwicklung eines »Robust Nuclear Earth Penetrator« (RNEP), einer Atomwaffe, deren Mantel aus abgereichertem Uran (Depleted Uranium, DU) besteht und die mit zusätzlichen Eindringhilfen ausgestattet sein könnte, um deutlich tiefer in den Untergrund vordringen.

Doch selbst wenn diese Waffe mehr Bunkeranlagen ausschalten könnte als bisherige Waffen, sie kann trotzdem nicht halten, was die Lobbyisten versprechen. Mit dieser Waffe kann weder die Zerstörung besonders gut verbunkerter Ziele glaubwürdig angedroht werden, noch die von Zielen, bei denen es darauf ankäme, den fallout bedingten Kollateralschaden gering zu halten, z. B. weil sie in dicht besiedelten Gebieten liegen. Zudem haben Physiker wiederholt darauf hingewiesen, dass der Entwicklung solcher Waffen quasi-naturgesetzliche Grenzen gesetzt seien, die sich daraus ergeben, dass der Zünd- und Funktionsmechanismus der Waffe beim Eindringen nicht beschädigt werden darf.

Das Problem schwer vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigender Kollateralschäden soll mit einer anderen Neuentwicklung angegangen werden: Der Entwicklung kleiner und kleinster Atomsprengköpfe. Diese Mini-Nukes könnten, wenn sie so zielgenau gemacht werden wie moderne konventionelle Waffen, sogar als Bunkerknacker eingesetzt werden, bei nicht ganz so gut geschützten Zielen oder in besiedelten Gebieten.

Auch hier halten Kritiker entgegen, dass Zweck und Mittel nicht zueinander passen. Eine Waffe, die kaum noch radioaktiven Fallout produziert, könne nicht tief genug in die Erde eindringen, um die angepeilten Ziele zu zerstören. Je tiefer ein Ziel unter der Erde liegt, desto größer müsse der atomare Sprengsatz sein, der es wirklich zerstören kann und desto wahrscheinlicher werde, dass viel radioaktiver Fallout entsteht. Es sei zu befürchten, dass die Einführung solcher Waffen zu der Illusion führe, man sei im Besitz einer »sauberen« Atomwaffe, dass damit die Grenze zwischen der Wirkung der größten konventionellen Waffen und der kleinsten nuklearen verschwimme und ein Atomwaffeneinsatz wahrscheinlicher werde.

Als dritter Grund für den Bau neuer Atomwaffen wird die Notwendigkeit der gesicherten Zerstörung chemischer und biologischer Kampfstoffe genannt. Um diese mit hundertprozentiger Sicherheit rückstandslos verbrennen zu können, sei eine Nuklearexplosion mit ihren extrem hohen Temperaturen der sicherste Weg. Auch das – so haben Kritiker nachgewiesen – stimmt so nicht: Zum einen sind auch wirksame konventionelle Waffen zur Zerstörung denkbar bzw. schon vorhanden. Zum anderen könne die enorme Gewalt einer Nuklearexplosion sogar erst dazu führen, dass Kampfstoffe unabsichtlich freigesetzt werden.

Weitere Gründe, um endlich eine neue Generation atomarer Waffen durchsetzen zu können, werden noch gesucht. So lässt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld durch das Defense Science Board, ein wissenschaftliches Beratungsgremium des Pentagon, untersuchen, ob Atomsprengköpfe ein probates Mittel zur Raketenabwehr sein könnten.

Eine neue Strategie

Mit dem gleichen Elan, mit dem die Regierung Bush den Einstieg in eine neue Generation nuklearer Waffen betreibt, begann sie kurz nach Amtsantritt auf Veränderungen in der Nuklearstrategie hinzuarbeiten. Mit Keith B. Paine, Robert G. Joseph und anderen wurden führende Vertreter der konservativen Nuklearwaffen-Lobby, die seit Jahren an einem Konzept für ein »Zweites nukleares Zeitalter der Abschreckung« gearbeitet haben, auf wichtige Posten berufen. Mit dem Nuclear Posture Review, einer geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials der USA, der im Januar 2002 an den Kongress übergeben wurde, läuteten sie gravierende Veränderungen ein, die in der Folgezeit umgesetzt wurden.

Die Nuklearwaffen Washingtons unterstehen künftig nicht mehr einem gesonderten Nuklearwaffen-Oberkommando, sondern einem neuen, veränderten »Strategischen Kommando«, das für alle, auch die konventionellen, strategischen Angriffsoptionen der US-Streitkräfte und für die Raketenabwehr zuständig ist. Die Planer dieses Oberkommandos sollen der Politik sowohl konventionelle als auch nukleare oder gemischte Optionen zum Erreichen spezifischer Ziele präsentieren.

Dies geschah in der Vergangenheit immer durch konkurrierende Teile der US-Kommandostruktur. Während die Verfechter dieser Idee argumentieren, so werde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes reduziert, dürfte das Gegenteil eintreten. Weil auch mit konventionellen Operationen betraut, könnte sich eine Tendenz einschleichen, Nuklearwaffen als »quasi-normale« Mittel der Kriegführung zu betrachten, deren Einsatz effizienzorientiert zu planen ist. So wurde das seitens des US-Heeres zu Beginn der 1980er Jahre bereits einmal für das europäische Gefechtsfeld geplant, mit der AirLandBattle-Doktrin und dem »integrierten Gefechtsfeld«. Die Aussicht auf reduzierte Kollateralschäden beim Einsatz neuer, kleiner Atomwaffen könnte über die Jahre dazu beitragen, dass der atomare Krieg wieder als führbar erscheint.

Da die Gegner in einem solchen Krieg kaum mehr nukleare Großmächte mit einem substanziellen Vergeltungspotenzial sein werden, sondern eher Terroristen, sogenannte Schurkenstaaten und andere Akteure mit begrenzten Möglichkeiten, dürfte die »Selbstabschreckung« vor dem Einsatz eigener Atomwaffen kleiner ausfallen als bisher. Gleichzeitig könnte mancher hoffen, dass ein Atomwaffeneinsatz gegen solche Gegner auch leichter zu rechtfertigen sei.

Dafür sprechen auch andere Änderungen der Nuklearstrategie Washingtons. Mit der National Security Presidential Directive (NSDP) 17 erklärte die Bush-Administration am 14.9.2002 ganz offen: „Die Vereinigten Staaten werden weiterhin klar machen, dass sie sich das Recht vorbehalten, auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, unsere Streitkräfte im Ausland und unsere Freunde und Verbündeten mit überwältigender Macht zu antworten – einschließlich möglicherweise mit dem Einsatz von Nuklearwaffen.“

Das bedeutet eine Veränderung: Zwar hat Washington den Einsatz nuklearer Waffen zur Vergeltung in der Vergangenheit nie explizit ausgeschlossen. Wohl aber waren die USA – wie auch alle anderen klassischen Atommächte – politisch verbindliche »Negative Sicherheitsgarantien« gegenüber den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) eingegangen und hatten deren Gültigkeit – zuletzt 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz für diesen Vertrag – bestätigt. Diese besagen, dass Washington auf den Einsatz von Nuklearwaffen verzichtet, wenn kein Angriff einer anderen Nuklearmacht oder von mit einer Nuklearmacht verbündeten Staaten auf die USA, deren Streitkräfte und deren Verbündete vorliegt.

Der Unterschied wird offensichtlich: Galt die potenzielle nukleare Drohung Washingtons bislang nuklear bewaffneten Staaten und deren Verbündeten, so gilt sie nun den Besitzern aller Arten von Massenvernichtungswaffen, also auch jenen, die »nur« über biologische und chemische Kampfstoffe bzw. über geeignete Trägersysteme verfügen.

Doch damit nicht genug: In einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie und in der Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom Dezember 2002 macht die US-Regierung deutlich, dass sie zu vorbeugenden militärischen Schlägen gegen Gefahren bereit ist, die von Massenvernichtungswaffen ausgehen. Mit einem konventionellen oder nuklearen Angriff der USA wird nicht länger nur als Vergeltungsmaßnahme gegen einen gegnerischen Angriff gedroht, sondern auch zur Verhinderung eines Angriffs, der unmittelbar bevorstehen könnte (präemptiv) und sogar für den Fall, dass von einem Gegner angenommen wird, dass er sich in Zukunft die Fähigkeit schaffen könnte, mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen (präventiv). Christopher Paine, Nuklearwaffenexperte am Natural Resources Defense Council, erläutert: „Die Bush-Doktrin besagt, dass Länder, die versuchen, biologische oder chemische Waffen zu beschaffen oder einzusetzen, Ziel eines präventiven, atomaren Erstschlages der USA sein könnten.“

Nordkorea, Irak, Iran, Syrien und Libyen waren die Staaten, die die Bush-Administration explizit nannte. Jayantha Dhanapala, damals stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsfragen, warnte deshalb letztes Jahr in der ARD-Sendung Monitor, es könnten „auf diese Weise weitere Staaten ermutigt werden, sich auf geheimen Wegen (…) Atomwaffen zu beschaffen.“ Dhanapala verwies auf die Gefahr, dass das seit Nagasaki geltende Tabu hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen gebrochen werden könnte.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Veränderungen auf die Doktrin der US-Streitkräfte für den Einsatz nuklearer Waffen auswirkt. Diese soll bis April 2004 überarbeitet werden.

Keith B. Paine und Colin S. Gray, der andere intellektuelle Vater des Konzeptes der »Abschreckung im Zweiten Nuklearzeitalter« sind schon wieder einen Schritt weiter: In einem Sonderheft der Zeitschrift »Comparative Strategy« diskutieren sie bereits die nächsten Schritte zur »Reform der Abschreckung«. Colin S. Gray kommt dabei zu der Schlussfolgerung, „dass präventives Handeln immer häufiger und ernsthafter als in der Vergangenheit in Erwägung gezogen werden muss. Wenn, wie wir glauben, die Aufgabe des Abschreckens immer schwieriger wird, dann können sich die politischen Wahlmöglichkeiten auf die Optionen gewaltsame Prävention oder Versuch der »aktiven Verteidigung« (in ihren vielfältigen Varianten) reduzieren. Präventives militärisches Handeln wirft eine Reihe von politischen, rechtlichen und ethischen Fragen auf, die, wenn vernünftigerweise möglich, lieber vermieden werden sollten. Aber in einer Welt, in der mehr und mehr Gemeinwesen über Massenvernichtungswaffen und die entsprechenden Trägersysteme verfügen, in der »Katastrophenterroristen« sichere Zuflucht finden können und in der Abschreckung häufig nicht praktizierbar ist, werden unsere politischen Möglichkeiten zu wählen nicht berauschend sein. (…) Es bleibt die Tatsache, dass Abschreckung nur ein Element unserer Strategie sein kann. Aus offensichtlichen Gründen bedingte das Paradigma der Abschreckung im Kalten Krieg die krasse Alternative zwischen Abschreckung und grenzenloser Katastrophe. Das sind heute nicht mehr die Alternativen.“

Vorläufer unter Bill Clinton

Der Hinweis auf diese gefährlichen Entwicklungen wäre unvollständig, würden die Vorarbeiten dafür unter George Bush Senior und William Bill Clinton verschwiegen. Die Zielplanung für die Nuklearwaffen der USA war gegen Ende der 1980er Jahre vor allem auf die zerfallende Sowjetunion und auf einige Ziele in der Volksrepublik China ausgerichtet. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion hat sich dies rasch geändert. Eine fixe Planung für Tausende von Zielen, die bereits vor Kriegsbeginn feststehen und im Single Integrated Operations Plan (SIOP, integrierte Nuklearzielplanung) genau beschrieben sind, bis hin zur Festlegung, mit welcher Waffe welches Ziel angegriffen werden soll, gibt es in dieser Form nicht mehr.

Anfang der 1990er Jahre begann unter dem Stichwort »adaptive Nuklearplanung« das große Umdenken. Zunächst im Hinblick auf die taktischen oder substrategischen Nuklearwaffen. Zunehmend gerieten Ziele in Staaten in den Blickwinkel der atomaren Zielplaner, die Washington im Besitz von Atomwaffen wähnte oder von denen angenommen wurde, dass sie daran arbeiteten: Libyen, Irak, Syrien, Nordkorea und natürlich verstärkt auch China.

Den regionalen Oberkommandeuren der US-Streitkräfte und auch dem NATO-Oberbefehlshaber wurde aufgetragen, Eventualfallplanungen aufzunehmen. Listen mit den Koordinaten und atomaren Bekämpfungsmöglichkeiten Hunderter, wenn nicht Tausender zusätzlicher Ziele wurden aufgestellt. Ziel war es, die Möglichkeit zu schaffen, binnen kürzester Zeit eine nukleare Planung zur Kriegführung gegen diese oder andere Staaten aufstellen zu können. Mit der wachsenden Bedeutung militärischer Optionen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen – der so genannten »Counterproliferation« – bekam dieser Ansatz Rückenwind. Seither wurde die adaptive Zielplanung verfeinert.

Schon 1995 wurden erstmals »nicht-staatliche Akteure« – gemeint sind zum Beispiel religiöse Extremisten, internationale Terroristen oder auch transnationale Konzerne – in nuklearen Dienstvorschriften der US-Streitkräfte als potenzielle Bedrohung genannt, da sie sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen könnten. Bereits ein Jahr später, 1996, sieht eine andere Vorschrift für den Einsatz taktisch-nuklearer Waffen in ihnen potenzielle Ziele für den Einsatz von Atomwaffen.

Immer wieder wurde indirekt – im Sinne einer freiwilligen Zweideutigkeit – auch unter Präsident Clinton darauf verwiesen, dass Washington sich auch die Möglichkeit einer nuklearen Vergeltung als letztes Mittel gegebenenfalls offen halten müsse.

Von der Intensivstation in die Leichenhalle?

Die neue Nuklearpolitik der Bush-Administration legt die Axt an die Wurzel der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. Die Aussicht, dass für neue Atomwaffen auch neue Nuklearwaffentests erforderlich sein könnten, die Verkürzung der notwendigen Vorbereitungszeit für solche Tests, die Aufkündigung des Raketenabwehr-Vertrages und die direkte Missachtung der Negativen Sicherheitsgarantien durch die nukleare Drohung gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen in der Präsidenten-Direktive NSDP 17 – all das sind schwere Schläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Schon allein die Absicht, in die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen einzusteigen, signalisiert vielen Nicht-Atomwaffenstaaten, dass unter dieser Administration nicht mit substanziellen Fortschritten in der atomaren Rüstungskontrolle zu rechnen ist, dass die Verpflichtung auf das Ziel der Abschaffung aller Atomwaffen, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages verankert ist, zu Lebzeiten dieser Administration keine Chance hat.

Besorgt sehen viele Staaten, dass die Politik unter Bush befördern könnte, was sie zu verhindern vorgibt – die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. So hat z.B. Saudi Arabien nach dem Irak-Krieg angekündigt, seine nuklearen Optionen prüfen zu wollen. Noch mehr besorgt viele, dass dies in ihrer Nachbarschaft geschehen könnte. „Die nukleare Rüstungskontrolle liegt bereits auf der Intensivstation“, meinte Daniel T. Plesch vom Royal United Services Institute in London bereits im vergangenen Jahr. „Die Entwicklung neuer Atomwaffen und erneute Atomtests würden die atomare Abrüstung in die Leichenhalle verlegen.“

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de).

zum Anfang | Hat das zweite Kernwaffenzeitalter schon begonnen?

Die regionale Verbreitung von Atomwaffen

von Götz Neuneck

Beunruhigende Nachrichten lassen die Weltöffentlichkeit aufhorchen. Libyen gibt zu, ein Nuklearwaffenprogramm betrieben zu haben, und im Iran findet die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) Hinweise auf ein ähnliches Programm. Beide Länder sind Mitglieder des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV), während Nordkorea bereits aus dem NVV ausgeschert ist. Pakistan ist als Quelle eines umfassenden Beschaffungsnetzwerkes zur Weitergabe der Uran-Anreicherungstechnologie identifiziert worden, an deren Ende Libyen, Nordkorea und der Iran standen.

Die zur Herstellung von waffenfähigem Material verwendeten Gaszentrifugen sind dazu besonders geeignet, da die dafür notwendigen Komponenten zunächst als zivil deklariert werden können und ein Betrieb schwer zu entdecken ist. Andererseits ist ihr Besitz noch keine Garantie für die Herstellung von nuklearwaffenfähigem Material. Jahrelange Erfahrungen sind dazu nötig. Sogar Details eines Atomwaffendesigns und kleine Mengen Nuklearmaterial sollen an Libyen transferiert worden sein. Im Zentrum dieses wohl größten »(Nicht-)Weiterverbreitungsskandals« steht Abdul Qadeer Khan, Vater der »pakistanischen Bombe«, Direktor der Khan Research Laboratories in Kahuta und nun unter »Hausarrest« stehender Berater der Militärregierung unter General Musharraf. Umfang, Reichweite und Folgen dieses »nuklearen Beschaffungsmarktes« sind bisher nur in Umrissen bekannt.

Angesichts einer jahrzehntelangen selbstzufriedenen westlichen Nichtverbreitungspolitik ist diese Affäre besonders pikant. Pakistan ist nicht Mitglied des NVV, kann also »im Prinzip«, Nukleartechnologie weitergeben, ohne sich dafür besondere Nachteile einzuhandeln. Zwar wurde Pakistan durch die USA immer wieder mit Sanktionen belegt, geholfen hat dies wenig. Diverse Militärregierungen hatten immer wieder versichert, sie würden nicht zur Nuklearverbreitung beitragen. Pakistan, seit 1998 selbst Nuklearmacht, ist heute Hauptverbündeter der USA im Kampf gegen den Terrorismus in der Region. Eine Ächtung der Regierung ist damit ebenso unwahrscheinlich wie eine Bestrafung des »Nationalhelden« Khan.

Dass Khans Verhalten weltweit verurteilt wird, zeigt, dass trotz erheblicher Defizite des NVV-Regimes die nukleare Nichtverbreitung eine hohe normative Basis besitzt. Eine selektive Nichtverbreitungspolitik ohne Abrüstungskomponente stellt jedoch keine gute Grundlage für eine künftige Beendigung der nuklearen Bedrohung im 21. Jahrhundert dar. Nuklearterrorismus, regionale Atomkriege und eine Fortsetzung der nuklearen Überrüstung sind zu gefährlich, als dass sie zu Spielbällen der Politik werden sollten.

Im folgenden werden die Entwicklungen in den vier Ländern kurz vorgestellt. Diese Fälle bilden eine Herausforderung für die Zukunft des NVV und machen eine Universalisierung der Vertragsinhalte sowie weitere nukleare Abrüstung unumgänglich.

Pakistan

Nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden 1976 baute der in Europa ausgebildete »Metallurgiker« Khan auf der Grundlage der Gaszentrifugenpläne für die Urananreicherung, die er von dem deutsch-niederländisch-britischen Konsortium URENCO (Uranium Enrichment Company) entwendet hatte, das pakistanische Nuklearprogramm auf. Deutsche, niederländische und französische Firmen halfen u. a. mit Ausrüstungsteilen und Know-how, teilweise mit offizieller Zustimmung. Das Programm wurde finanziell von Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gestützt.

Der Nuklearstatus Pakistans, der durch die Tests 1998 offensichtlich und mit der militärischen Bedrohung durch Indien legitimiert wurde, ist A. Khan zu verdanken. Pakistan testet zudem Mittelstreckenraketen, die leicht indisches Territorium erreichen können. Die Raketen sind nordkoreanischen Ursprungs und wurden im Austausch gegen Urananreicherungstechnologie erworben.

Anfang 1987 wurde Khan vom Käufer zum Verkäufer. Mit dem Iran wurde der Transfer der Gaszentrifugentechnologie vereinbart. Im Iran wie auch in Libyen wurden fortgeschrittene »PAK-2-Zentrifugen« entdeckt. Allerdings gelang es beiden Ländern bisher nicht, diese Anlagen zuverlässig für den Bombenbau zu betreiben. Dies wäre jedoch eine Frage der Zeit gewesen.

Zehn Jahre nach dem Iran begann Khan mit Nordkorea zusammen zu arbeiten. Er soll sich nach 1998 dort 13 Mal aufgehalten und die Zentrifugen-Technologie gegen die nordkoreanische Raketentechnologie eingetauscht haben. Die letzte Lieferung an Libyen erfolgte noch nach dem 11. September 2001, obwohl die pakistanische Regierung immer wieder erklärt hatte, dass sie gegen nukleare Weitergabe vorgehen werde. Es ist nicht vorstellbar, dass das Militär von all den Seitengeschäften des Herrn Khan nichts gewusst hat.

Pakistan ist somit eine zentrale Quelle für die Verbreitung der Urananreicherungstechnologie und Khan der Kopf eines »globalen Schwarzmarktes«, der an den Exportkontrollen, Geheimdiensten und Sanktionen vorbei Nordkorea, Libyen und dem Iran entscheidende Hilfe beim Aufbau von Atomprogrammen geleistet hat. Das Netzwerk verfügte über Mittelsmänner in Malaysia, Dubai und Europa. Beunruhigend ist insbesondere die politische Fragilität des Landes, und damit ist die Frage nach der Sicherheit der bereits vorhandenen pakistanischen Nuklearwaffen gestellt. Ein bekannt gewordenes Treffen zweier ehemaliger pakistanischer Nuklearwissenschaftler mit al Kaida lässt darüber hinaus befürchten, dass auch Terroristen vom nuklearen Know-how in Pakistan profitiert haben könnten.

Iran

Das Nuklearprogramm des Iran, das auf den Schah zurückgeht, wird seitens der Regierung stets mit »zivilen friedlichen« Absichten erklärt. Der Reaktor in Bushir steht vor der Fertigstellung. Ein Vertrag mit Russland sichert das technische Know-how und die Brennstoffversorgung. Der erdölreiche Iran möchte weitere Reaktoren bauen und Brennstoffautonomie durch den Aufbau einer eigenen Urananreicherung erreichen.

Iran ist Mitglied des NVV und versucht zusammen mit der IAEO Ungereimtheiten des iranischen Programms zu klären bzw. ein Sicherungssystem aufzubauen, das die zivile Nutzung sicherstellt. Die Regierung hat sich bereit erklärt, das IAEO-Zusatzprotokoll umzusetzen. Dieses verpflichtet den Vertragsstaat nicht nur zur vollständigen Information über das Nuklearprogramm, sondern gibt der IAEO auch die Möglichkeit, überall im Lande ungemeldete Aktivitäten und Materialien aufzuspüren.

Drei EU-Außenminister hatten im Oktober 2003 in Teheran einen Durchbruch erreicht, nachdem sie u.a. einen Technologieaustausch in Aussicht gestellt hatten. Allerdings hat die iranische Regierung die geplante Urananreicherung nur ausgesetzt und nicht vollständig auf sie verzichtet. Inzwischen hat die Regierung zugegeben, dass sie auch über Pläne für fortgeschrittene Zentrifugen aus Pakistan verfügt.

Solange die Sicherheitsprobleme im Mittleren Osten (einschließlich der Frage der israelischen Atomwaffen) nicht gelöst sind, ist eine vollständige Aufgabe der militärischen Option durch den Iran eher unwahrscheinlich. Der andauernde Machtkampf und Gesellschaftswandel im Iran sowie die Entwicklung der Lage in der Region sind zudem Faktoren, die die zukünftige Entwicklung unvorhersehbar machen.

Libyen

Am 19. Dezember 2003 erklärte Oberst Gaddafi, dass Libyen alle Anstrengungen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, einstellt, insbesondere das geheime Nuklearprogramm. Auch die vorhandenen biologischen und chemischen Waffenarsenale würden zerstört. Das Land wird der Chemiewaffenkonvention beitreten. Tage später stimmte die Regierung zu, das IAEO-Zusatzprotokoll zu unterzeichnen.

Zuvor wurde durch Inspektionen das Ausmaß der Programme deutlich. Es wurden sowohl zivil wie militärisch »doppelverwendbare biologische Substanzen« wie auch produzierte Giftgase im Tonnenmaßstab gefunden. IAEO-Inspektoren wurden zehn unbekannte Orte gezeigt, an denen es geheime Nuklearaktivitäten gab. Der Wüstenstaat verfügte über einige Dutzend moderne Zentrifugen im Labormaßstab, wahrscheinlich pakistanischen Ursprungs. Zudem wurde Uranhexafluorid sowie kleine Mengen von angereichertem Uran geliefert. Sogar kleine Mengen Plutonium soll Libyen hergestellt haben.

Das Atomwaffenprogramm steckte noch in seiner Anfangsphase. Der IAEO-Direktor el-Baradei schätzt, dass das Land zu diesem Zeitpunkt drei bis sieben Jahre von der Fertigstellung eines Atomsprengkörper entfernt war. Dennoch überrascht das Ausmaß und die Kontinuität des Programms, denn Libyen war in den letzten Jahren nicht mehr auf dem »Radarschirm« der Nichtverbreitungsexperten. Es wird die Aufgabe der IAEO sein, sicherzustellen, dass alle Ausrüstungsgegenstände, Dokumente und Materialien vernichtet sind und dass in Zukunft kein militärisches Programm in Libyen betrieben werden kann. Die Motive Libyens für die Aufgabe der geheimen Programme sind wohl darin zu suchen, die US-Sanktionen zu beenden, den Makel der Terrorunterstützung abzuwerfen und in den Kreis der »zivilisierten Völkergemeinschaft« zurückzukehren.

Nordkorea

Die Krise um den nuklearen Status Nordkoreas dauert nun schon recht lange. Es wird angenommen, dass das Land seit den späten 1980er Jahren Plutonium für ca. 2 Sprengköpfe abgetrennt hat. Auch ist durch die pakistanische Hilfe die Grundlage eines Urananreicherungsprogramms offensichtlich geworden. Die nordkoreanische Regierung hatte dies jahrelang bestritten. Die USA kündigten daraufhin das »Agreed Framework«-Abkommen von 1994 und beendeten die vertraglich vereinbarte Lieferung von Heizöl und ziviler Nukleartechnologie.

Im Dezember 2002 hatte Pjöngjang erklärt, dass es die nach dem amerikanisch-nordkoreanischen Abkommen eingefrorene Wiederaufarbeitung wieder aufnehmen werde. Die IAEO-Inspektoren wurden aus dem Land ausgeschlossen. Nordkorea trat am 10. Januar 2003 aus dem NVV aus. In der Nuklearanlage in Yongbyon sollen die vorhandenen 8.000 Kernbrennstäbe bereits wiederaufgearbeitet werden. Einer US-Delegation wurde im Januar 2004 ein leeres Kühlbecken vorgeführt und Pjöngjang erklärte, Nordkorea sei nunmehr Nuklearmacht. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass in den Sechser-Gesprächen zwischen Nordkorea, Südkorea, den USA, Russland, China und Japan eine Lösung gefunden werden kann.

Das nordkoreanische Regime nutzt die Nuklearwaffenfrage für den eigenen Machterhalt. Das Land, das sich mental und faktisch immer noch in einer Art Kriegszustand befindet, hat nicht viel zu verlieren. Wirtschaftliche Anreize haben nur eine begrenzte Wirkung. Die entscheidende Frage ist, ob die Großmächte, insbesondere die USA, bereit sind, gegenüber dem Regime in Pjöngjang eine Art Sicherheits- und Existenzzusage abzugeben. Bleiben die Gespräche ergebnislos, so sind weitaus gefährlichere Entwicklungen möglich. Es ist dabei klar, dass dies alles auf dem Rücken der ohnehin schon notleidenden Bevölkerung ausgetragen wird.

Nuklearer Supermarkt oder nukleare Abrüstung?

Es ist tragisch, dass der Krieg gegen den Irak mit der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen legitimiert wurde, die wirkliche Weiterverbreitung (Proliferation) jedoch von einem Land ausgeht, das US-Verbündeter, Nicht-NVV-Mitglied und Militärdiktatur in einem ist, nämlich Pakistan, das trotz Sanktionen mehrere Länder mit Wissen und Technik zur Herstellung von Nuklearwaffen ausstattete. Der »nukleare Supermarkt«, den Khan und Konsorten aufbauten, wäre ohne Hilfe skrupelloser Geschäftsleute aus dem Westen nicht möglich gewesen. Dritt-Welt-Länder beherrschen nicht nur die Technologie zur Herstellung von waffenfähigem Nuklearmaterial, sondern können dieses Wissen an westlichen Exportkontrollen vorbei auch weitergeben. Dabei ist wieder einmal deutlich geworden, dass Proliferation neue Proliferation erzeugt.

Diese »Proliferationsfälle« zeigen dramatisch auf, wie stark das NVV-Regime unter Druck steht. IAEO-Chef el-Baradei erklärte vor kurzem: „Wenn wir den Kurs nicht wechseln, riskieren wir die Selbstzerstörung«, und Präsident George W. Bush stellte in seiner Grundsatzrede vom 11. Februar 2004 fest, die „größte Gefahr für die Menschheit ist heute die Möglichkeit überraschender Angriffe mit chemischen, biologischen, radiologischen oder atomaren Waffen«. Einigkeit besteht noch bei der Bedrohungsanalyse; wenn es an die Umsetzung geht, sind die vorgeschlagenen Strategien höchst unterschiedlich.

Erfreulich ist zumindest, dass es durch wirtschaftliche Anreize und diplomatischen Druck gelungen ist, Libyen zur Aufgabe seiner Massenvernichtungswaffen zu bringen. Auch der Iran könnte folgen. Dies sind hoffnungsvolle Ansätze, damit im Mittleren Osten längerfristig eine Zone frei von Nuklearwaffen entstehen kann. Dies setzt aber voraus, dass nicht einige Staaten bezüglich des Besitzes von Massenvernichtungswaffen angeklagt werden, während bei anderen Ländern geschwiegen wird. Diplomatisch und konzeptionell muss alles daran gesetzt werden, dass im Nahen und Mittleren Osten sämtliche Massenvernichtungswaffen dauerhaft abgerüstet werden und die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen schon lange geforderte »Zone frei von Massenvernichtungswaffen« entsteht..

Es ist deutlich geworden, dass der NVV an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. Die multinationalen Kontrollen der IAEO könnten ausgedehnt werden. Wie schwierig das ist, zeigt die Tatsache, dass nur weniger als 20% der UN-Mitglieder überhaupt das Zusatzprotokoll abgeschlossen haben, das Libyen und Iran jetzt umsetzen wollen. Die westliche Welt muss hier Führerschaft übernehmen. Die EU hat immer wieder die Universalisierung des NVV gefordert. Der UN-Sicherheitsrat könnte eine Resolution beschließen, die die Entwicklung, den Einsatz und den Besitz von Massenvernichtungswaffen und damit auch Nuklearwaffen ächtet. Darauf aufbauend sollte eine Nuklearwaffenkonvention entwickelt werden, die ähnlich wie die B- und C-Waffen-Konventionen, Entwicklung, Einsatz und Besitz von Nuklearwaffen verbietet. Vorschläge dazu wurden bereits vor Jahren von Wissenschaftlern gemacht.

Dies setzt aber auch voraus, dass die nukleare Abrüstung wieder ernst genommen wird. Die Zahl von 30.000 nuklearen Sprengköpfen ist bei weitem zu hoch. Drastische, verifizierbare und zeitlich bindende Einschnitte sind ebenso nötig wie das Inkrafttreten des Umfassenden Teststoppabkommens. Der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy bemerkte Anfang 2004 in der New York Times: „Die besten Chancen der Menschheit zu überleben liegen darin, ein Tabu gegen Nuklearwaffen zu schaffen.“

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.

zum Anfang | Vom Nichtverbreitungs-Regime zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Der 1968 abgeschlossene und 1970 in Kraft getretene Nichtverbreitungsvertrag (NVV) bildet bis heute den Kern des internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Kernwaffen.

Als Kernwaffenstaaten gelten danach jene Staaten, die vor dem 01.01.1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hatten, also die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Nach Artikel I des NVV dürfen sie keine Kernwaffen an andere Länder weitergeben und bei einer möglichen Beschaffung nicht helfen. Zugleich verpflichten sie sich in Artikel VI, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« sollen den anderen Vertragsparteien zugänglich gemacht werden (Artikel V).

Alle übrigen Vertragsmitglieder verzichten nach Artikel II als Nicht-Kernwaffenstaaten auf den Zugriff auf und die Verfügungsgewalt über Kernwaffen, insbesondere auf die eigenständige Herstellung, aber auch auf die Unterstützung anderer oder die Annahme von fremder Hilfe. Sie garantieren die Durchführung von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) auf alles spaltbare Material und sämtliche entsprechenden Nuklearaktivitäten (Artikel III).

Alle Mitgliedsländer versprechen die Beförderung der weltweiten zivilen Kernenergienutzung, insbesondere durch internationalen wissenschaftlich-technologischen Austausch (Artikel IV und Präambel), dürfen aber spaltbare Materialien und entsprechende Ausrüstungen nur dann an andere weitergeben, wenn sie nuklearen Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).

Dem NVV gehören bis auf die »inoffiziellen« Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel alle Länder der Erde an. Nord-Korea hat allerdings im Januar 2003 seinen Austritt aus dem Vertragssystem erklärt.

Wirksamkeit und Kritik des Nichtverbreitungsregimes

Das bestehende Nichtverbreitungsregime konnte die Verbreitung, Weiterentwicklung und Ausbreitung von Kernwaffen zwar verlangsamen, war und ist aber nicht in der Lage, die nukleare Rüstungsdynamik aufzuhalten oder umzukehren. Verschiedene Mängel begrenzen seine Wirksamkeit:

  • Die Unterscheidung zwischen Kernwaffenstaaten und Nicht-Kernwaffenstaaten wird als Diskriminierung kritisiert. Den offiziellen fünf Nuklearmächten ist im Prinzip alles im Nuklearbereich erlaubt; Kontrollen müssen dem gemäß keine durchgeführt werden. Eine zweite Klasse von Staaten verzichtet auf den Kernwaffenbesitz, hat dafür aber Zugriff auf alle Nukleartechnologien, sofern diese unter den nuklearen Sicherungsmaßnahmen der IAEO zivil genutzt und entwickelt werden. Dagegen wird einer dritten Gruppe von Staaten weder der Kernwaffenbesitz gestattet noch der Zugang zu sensitiven Nukleartechnologien eröffnet. Ein solches Dreiklassen-System mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten ist auf Dauer nicht stabil.
  • Die aktive Verbreitung der Nukleartechnik unter zivilem Deckmantel trägt aufgrund der engen zivil-militärischen Verflechtung zur Verbreitung der Atombombe bei. So liefert die Anreicherungstechnologie für Reaktoruran auch die Möglichkeit, hochangereichertes Uran (HEU) für Waffenzwecke abzuzweigen. Im Reaktorbetrieb wird eine große Menge des Bombenstoffs Plutonium als Nebenprodukt erzeugt (inzwischen weltweit etwa 70 Tonnen pro Jahr, bislang mehr als 1.000 Tonnen). Mindestens 20 Staaten haben bereits Zugriff auf eine sensitive Anreicherungs- oder Wiederaufarbeitungstechnologie, die die Nuklearwaffenoption eröffnet. Um den Abrüstungsprozess irreversibel zu machen, müssen diese Materialien vor jeglichem Zugriff gesichert und dann so unzugänglich wie möglich endgelagert oder gar unbrauchbar gemacht werden.
  • Das Problem der Ambivalenz von Nukleartechnologien lässt sich allein durch die Sicherungsmaßnahmen der IAEO, die eine Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdecken sollen, nicht in den Griff bekommen. Mit den praktizierten Verfahren technischer Überwachung ist eine umfassende Kontrolle nicht zu erreichen, eine sichere Abgrenzung ziviler und militärischer Nutzung nicht zu garantieren. Damit können Mitgliedsstaaten des NVV alle wesentlichen sensitiven Nukleartechnologien im Lande aufbauen, um in einem zusätzlichen geheimen Programm den Weg zur Bombe zu verfolgen, der dann zu einem geeigneten Zeitpunkt auch offen politisch betrieben werden kann. Der NVV bietet sogar die Möglichkeit, die Mitgliedschaft im Vertrag mit dreimonatiger Kündigungsfrist zu beenden. So war es für die NVV-Mitgliedstaaten Irak und Nordkorea möglich, trotz NVV wesentliche Voraussetzungen für ein geheimes Waffenprogramm zu schaffen.
  • Während Artikel VI des NVV nukleare Abrüstung (ja sogar die vollständige und allgemeine Abrüstung) als endgültiges Ziel festschreibt, ist kaum erkenntlich, wie innerhalb des vorgegeben Rahmens der nukleare Abrüstungsprozess ernsthaft beschleunigt oder gar zu Ende gebracht werden könnte. Der NVV selbst enthält keine Umsetzungsbestimmungen. Der Vertrag kann somit der Fortsetzung der Rüstungsdynamik konkret nichts entgegensetzen, solange keine weiteren Verträge zur Umsetzung abgeschlossen werden. Das Umfassende Teststoppabkommen von 1996 verbietet zwar jegliche Nuklearexplosionen – also auch für Kernwaffentests -, schränkt aber die Kernwaffenentwicklung mit fortgeschrittenen Technologien nicht ein. Dies erlaubt es den Kernwaffenstaaten, Laborversuche und Computersimulationen voranzutreiben. In den USA wurden in den vergangenen Jahren mit dem »Stockpile Stewardship Program« (Programm zur Bestandsicherung) die Ausgaben für Kernwaffenforschung sogar noch erhöht.
  • Die Diskriminierung der einen bei fortgesetzter Entwicklung und Modernisierung der Kernwaffenarsenale der anderen hat zum Entstehen neuer Kernwaffenaspiranten beigetragen, die sich einem »Atomwaffensperrvertrag« nicht unterordnen wollen, der allein die horizontale Proliferation (Weiterverbreitung in andere Länder) begrenzt und die Machtstrukturen der Welt repräsentiert. Dies steht im Widerspruch zu UN-Dokumenten der 1960er Jahre. Damals wurde der NVV lediglich als erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen angesehen, die sich nicht auf die damals besonders dringliche Gefahr der Weiterverbreitung beschränken sollten. Indien hat stets gegen die Lesart der Kernwaffenstaaten protestiert und daraus mit der Entwicklung eigener Kernwaffen die Konsequenzen gezogen, gefolgt von Pakistan. Für Israel stand die eigene Kernwaffenoption ohnehin nicht zur Disposition. Sollten die USA und andere Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtungen aus dem NVV weiterhin nicht ernst nehmen, besteht die Gefahr, dass das ganze Nichtverbreitungsregime seine Grundlage verliert.

Die Kernwaffenstaaten sind nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben und die Abrüstungsverpflichtung in die Tat umzusetzen. Der zwar völkerrechtlich nicht verbindliche, aber politisch bindende Katalog von »Prinzipien und Zielsetzungen«, den die NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 1995 in Kombination mit der Entscheidung für die unbeschränkte Vertragsverlängerung akzeptierte, enthält zwar ernstzunehmende Aussagen zur Abrüstungsfrage, die als vorsichtige Konkretisierung von Artikel VI des NVV angesehen werden können. Doch hat sich die Befürchtung, dass mit der Durchsetzung der unbefristeten Verlängerung des NVV auch das Versprechen auf nukleare Abrüstung auf unbestimmte Zeit verschoben werden sollte, leider bestätigt. So sollte im Anschluss an das Umfassende Teststoppabkommen ein weiterer Vertrag ausgehandelt werden, der die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffen verbietet (»cutoff«). Die Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz sind aber seit Jahren festgefahren.

Systematische Anstrengungen zur weltweiten Reduzierung der Kernwaffen mit dem langfristigen Ziel ihrer Eliminierung wurden bislang nicht unternommen. Die zwischen USA und Russland getroffene Vereinbarung über die weitere Reduktion ihrer Kernwaffen (SORT) vom Mai 2002 hat nicht den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages und verzichtet auf explizite Verifikationsvereinbarungen. Wegen der grundlegenden Probleme hilft es auch wenig, dass der Überprüfungsprozess für den Nichtverbreitungsvertrag etwas verstärkt wurde durch die Einführung von praktisch jährlichen Vorbereitungskonferenzen (mit Ausnahme des Jahres nach der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz). Dort sollen Prinzipien und Zielsetzungen nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung sowie Wege zur vollen Umsetzung des Vertrages diskutiert, sowie Arbeitsschwerpunkte und Mittel identifiziert werden, um schließlich zu ausgearbeiteten Empfehlungen zu kommen.

Von einiger Substanz sind die bei der NVV-Konferenz im Jahr 2000 beschlossenen „praktischen Schritte für systematische und progressive Bemühungen“. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten u.a. das Umfassende Teststoppabkommen rasch zu ratifizieren, ein Cutoff-Abkommen zu verhandeln, für die Irreversibilität (Unumkehrbarkeit) sämtlicher Abrüstungsmaßnahmen zu sorgen, die vollständige Abschaffung aller Kernwaffen zügig anzugehen, und die vorhandenen Verträge – insbesondere START II und den Raketenabwehrvertrag – uneingeschränkt umzusetzen. Seither aber wurden nicht nur die Erwartungen in die Umsetzung der Schritte bitter enttäuscht, sondern die USA schlugen mit der Nichtverfolgung von START II und der Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags gerade den entgegengesetzten Weg ein.

Das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs

Das Völkerrecht fordert gleiches Recht für alle Staaten. Es ist auf Dauer nicht tolerierbar, dass einige Staaten für sich das Recht auf Kernwaffenbesitz in Anspruch nehmen und es gleichzeitig anderen verweigern. Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 1996 zufolge steht die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten. Lediglich in dem Fall „einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stünde«, sah sich das Gericht zu keiner einstimmigen Stellungsnahme in der Lage. Doch bietet dies keine Grundlage für die Beibehaltung nuklearer Overkill-Potentiale und Ersteinsatzoptionen, mit denen die Wahrscheinlichkeit für extreme Notwehrsituationen noch erhöht wird. Sie stellen eine klare Verletzung des IGH-Gutachtens dar. Der IGH bekräftigt einmütig die Verpflichtung aller Staaten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“

Die Kernwaffenstaaten haben bislang keine hinreichenden Anstrengungen unternommen, die vom IGH zugespitzte Verpflichtung des NVV zu erfüllen. Im Gegenteil: substanzielle Verhandlungen über die nukleare Abrüstung werden abgelehnt und das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung noch immer als gegenläufig zu den eigenen nationalen Sicherheitsinteressen angesehen. Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen Zweifel an der deklarierten Abrüstungsbereitschaft aufkommen. Für die ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges, USA und Russland, spielen Kernwaffen weiter eine wesentliche Rolle in ihrer Sicherheitspolitik, die sich zunehmend gegen Staaten richtet, die nicht direkt in die Blockkonfrontation verwickelt waren. Alle fünf Kernwaffenstaaten betreiben auch nach der unbefristeten Verlängerung des NVV im Jahre 1995 eine Modernisierung ihrer Kernwaffen. Die Nuklearwaffendoktrin der NATO und vor allem das Festhalten an der nuklearen Ersteinsatzoption steht in deutlichem Gegensatz zum IGH-Gutachten, insbesondere im Kontext einer Verbindung zu »Out-of-Area«-Einsätzen der NATO.

Solange einzelnen Mitgliedern der Völkergemeinschaft der Zugriff auf Kernwaffentechnik erlaubt ist, bleibt die nukleare Bedrohung bestehen. Um diese vollständig und nachhaltig zu beseitigen, bedarf es systematischer Anstrengungen aller Staaten, den Weg in die kernwaffenfreie Welt auszuhandeln und völkerrechtlich zu kodifizieren. Nur mit der vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen würde das Hauptmotiv für die Beschaffung oder die Beibehaltung von Kernwaffen entfallen: Der Besitz von Kernwaffen durch andere Staaten.

Schritt für Schritt zum Ziel: Eine kernwaffenfreie Welt

Nach Ende der West-Ost-Konfrontation und der Ernüchterung bezüglich der Verheißungen der Nuklearenergie ist es an der Zeit, die Transformation des alten Nichtverbreitungsregimes zu einem Regime der kernwaffenfreien Welt anzugehen, das die Nachteile und Mängel des existierenden Regimes beseitigt, ohne seine Vorteile zu gefährden. Parallel zur politisch-deklaratorischen Ebene, die die Legitimität und die Motive der Verbreitung untergräbt, wäre es auf lange Sicht maßgeblich, die Fähigkeiten ernsthaft einzuschränken. Dazu müssen die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich beseitigt werden. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Voraussetzung sind Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind.

Der Transformationsprozess in die kernwaffenfreie Welt umfasst eine Vielzahl einzelner Schritte, die letztlich alle dem Ziel dienen sollen, die Voraussetzungen für den Bau von Kernwaffen zu beseitigen und nukleare Abrüstung nachhaltig und irreversibel zu machen. Auch wenn Kernwaffen nicht mehr »wegerfunden« werden können, so lassen sich doch die Barrieren gegen den Zugriff auf Kernwaffen deutlich erhöhen und die latente technische Kernwaffenoption so weit abbauen, dass eine politische Entscheidung für Kernwaffen nicht auf vorhandene Möglichkeiten zurückgreifen kann.

Wie ein Übergang in die kernwaffenfreie Welt aussehen kann, hat das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) bei der NVV-Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz im April 1995 in New York vorgestellt, unter Mitwirkung von 47 Wissenschaftlern aus 17 Ländern – unter ihnen auch der spätere Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat. In der Studie »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapons-Free World« (Über den Nichtverbreitungsvertrag hinaus: Eine atomwaffenfreie Welt) werden die Argumente für einen direkten und baldigen Weg in die atomwaffenfreie Welt zusammengefasst, und es werden wesentliche Schritte auf dem Weg zum Ziel vorgeschlagen. In später verfassten Studien zur kernwaffenfreien Welt (durch die Canberra-Kommission, das Stimson Center oder die US National Academy of Science) werden ebenfalls verschiedene Schritte diskutiert.

Zur Beendigung des qualitativen atomaren Rüstungswettlaufes müsste vor allem die Neuentwicklung von Kernwaffen unterbunden werden. Ein START-Folgeabkommen, das nochmals die Arsenale der vormaligen beiden Supermächte drastisch reduziert, wäre erforderlich. Dabei müssten endlich auch die kleineren Atommächte in die nukleare Abrüstung einbezogen werden. Um die Besonderheiten in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen, sind regionale Maßnahmen wichtig, insbesondere weitere Verträge über atomwaffenfreie Zonen. Eine gemeinsame Erklärung der Kernwaffenstaaten zum Nicht-Ersteinsatz und Garantien zum Nicht-Einsatz von Kernwaffen (Negative Sicherheitsgarantien) würde zur Verringerung der atomaren Bedrohung beitragen, wie auch die Sofortmaßnahme, die Alarmbereitschaft für alle Atomstreitkräfte zu beenden und anschließend die Gefechtsköpfe von den Trägersystemen zu trennen. Ein anderer Vorschlag ist die Reduzierung der Gesamtsprengkraft nuklearer Arsenale durch die komplette Eliminierung des sprengkraft-verstärkenden Stoffes Tritium. Ebenso sind Maßnahmen im Bereich der Trägersysteme (insbesondere Flugtestverbot für ballistische Raketen und Einführung eines Raketenkontrollsystems) und eine Reform der IAEO dringend geboten – ganz zu schweigen von der Sicherung der spaltbaren Materialien aus der nuklearen Abrüstung.

Letztlich muss eine umfassende Cutoff-Vereinbarung angestrebt werden, die die Produktion und den Gebrauch der wichtigsten waffengrädigen Nuklearmaterialien in signifikanten Mengen bannt und auch die vorhandenen Materiallager mit einbezieht. Dazu gehört insbesondere hochangereichertes Uran, Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium, das in den Arsenalen der fortgeschrittenen Atommächte eine wesentliche Rolle spielt. Nur ohne die unsinnige Einteilung in militärische (und damit verbotene) und zivile (erlaubte) Waffenstoffe kann die mögliche Neuproduktion von Kernwaffen schon an der Quelle abgeschnitten werden. Das existierende Nicht(weiter)verbreitungsregime würde durch Einschränkung der erlaubten zivilen Nukleartätigkeiten deutlich gestärkt und ein irreversibler Übergang in die atomwaffenfreie Welt würde vorbereitet.

Ein strittiger Punkt ist die Frage, wie der Weg in die kernwaffenfreie Welt aussehen soll. Viele westliche Analytiker sind der Überzeugung, dass eher ein evolutionärer, schrittweiser als ein umfassender, geplanter Ansatz zur Erreichung der kernwaffenfreien Welt angebracht und erfolgversprechend ist. Dagegen fordern einige Staaten ein streng geplantes Vorgehen, bei dem schon am Anfang ein Zeitplan für die einzelnen Schritte bis hin zur Abrüstung der letzten verbleibenden Kernwaffen festgelegt und von allen Kernwaffenstaaten als verbindlich anerkannt wird. Ein Beispiel ist das detaillierte Aktionsprogramm für die etappenweise Abschaffung der Kernwaffen, das die große Mehrheit der blockfreien Staaten (G-21) am 08.08.1996 in der Genfer Abrüstungskonferenz vorgeschlagen hat. Ein strenger Zeitplan würde die Hürde für den Eintritt in Abrüstungsverhandlungen erhöhen.

Der Gegensatz beider Ansätze ist unnötig verschärft und vermeidbar, denn umfassende und inkrementelle Ansätze für nukleare Abrüstungsverhandlungen bedingen und ergänzen sich wechselseitig. Es ist wie beim Bergsteigen: Wird nur der nächste Schritt geplant, ohne das Gesamtziel im Auge zu haben, wird dieses womöglich verfehlt oder nie erreicht. Wird andererseits nur das Fernziel angestrebt, ohne auf die möglichen und notwendigen nächsten Schritte zu achten, ist ein erfolgreiches Vorwärtskommen unwahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte gefunden werden, wenn sich alle Staaten grundsätzlich auf die Abschaffung der Kernwaffen einigen könnten und Verhandlungen mit dem Ziel einer Nuklearwaffenkonvention (NWK) beginnen, die als Rahmen dienen könnten, um das bestehende Nichtverbreitungsregime in das Regime einer nuklearwaffenfreien Welt zu transformieren.

Der Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention

Angestoßen durch die INESAP-Studie und das IGH-Gutachten wurde bei der New Yorker Vorbereitungskonferenz zur Überprüfung des NVV im April 1997 von mehreren Nichtregierungsorganisationen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung und Beseitigung von Kernwaffen vorgestellt. Dieser soll die grundsätzliche Machbarkeit einer kernwaffenfreien Welt demonstrieren, die Diskussion über die mögliche Struktur einer umfassenden Konvention anregen und Verhandlungen darüber anstoßen. Ende 1997 wurde der Modellentwurf zu einem offiziellen UN-Dokument und in die anderen fünf UNO-Sprachen übersetzt.

Der Modellentwurf umfasst 19 Artikel und 8 Anhänge/Protokolle. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, Kernwaffen sowie ihre nuklearen Materialien, Trägersysteme und Komponenten nicht zu erforschen, entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren, behalten oder transferieren sowie Kernwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Alle vorhandenen Kernwaffen, ihre Erprobungs- und Produktionsanlagen sowie ihre Trägersysteme, Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) werden zerstört oder konvertiert. »Spezielle Materialien« für Kernwaffen (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium) werden unter internationale Sicherheitskontrollen gestellt. Der Zugriff auf kernwaffenrelevante Materialien muss erschwert oder ausgeschlossen werden (preventive controls). Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen und Deklarationen, einen mehrphasigen Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung (Umsetzung), die internationale Kontrollagentur, nukleare Materialien, Waffen, Anlagen und Trägersysteme, die Ratifizierung, Finanzierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge und Protokolle vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen, Verfahren zur Kernwaffenzerstörung, die Beseitigung nuklearer Materialien und vertrauensbildende Maßnahmen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Wirksamkeit einer NWK ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, die den gesamten nuklearen Abrüstungsprozess überprüfbar machen, heimliche Kernwaffenaktivitäten mit ausreichender Sicherheit entdecken können und zur Vertrauensbildung beitragen. Dabei muss deutlich über die bisherigen Safeguard-Maßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden. Ein Schritt in diese Richtung ist das 1997 verabschiedete 93+2-Abkommen der IAEO, das u.a. erweiterte Inspektionsmöglichkeiten und Verfahren der Umweltüberwachung vorsieht.

Kernwaffenrelevante Nuklearmaterialien sind gemäß der NWK umfassenden Sicherheitskontrollen zu unterwerfen, die heimliche Abzweigungen signifikanter Mengen nicht erst nachträglich entdecken, sondern im Vorfeld deutlich erschweren bzw. praktisch unmöglich machen (auch im zivilen Nuklearsektor). Auch Nuklearmaterialien im zivilen Sektor sind in die Überprüfung einzubeziehen. Für Kernwaffen relevante Anlagen und Aktivitäten sind zu deklarieren.

Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfasst zerstörungsfreie Messverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt (Krypton-85). Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen betreffen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich. Beim Aufbau solcher Systeme kann auf die Vorarbeiten der CTBTO zurückgegriffen werden. Die UN-Behörde zur Umsetzung des Umfassenden Teststoppabkommens ist bereits dabei, ihr Überwachungssystem weltweit zu installieren und zu erproben. Manche Systeme zur Überwachung einer NWK müssten erst noch entwickelt werden. Dies gilt auch für Verfahren zur Sicherung und Beseitigung der Kernwaffenmaterialien, die in möglichst umweltschonender und proliferationsresistenter Weise erfolgen soll.

Um eine adäquate Überprüfung einer NWK zu erreichen, sind nicht nur verbesserte technische Verifikationsmittel zum Einsatz zu bringen und geeignete organisatorische Strukturen für die Verifikation zu schaffen, sondern auch Maßnahmen sozialer Verifikation zu vereinbaren. Eine Internationale Kontrollagentur nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention hätte für die Implementierung der NWK zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten.

Soziale Verifikation würde die potentielle Informationsbasis erweitern und wäre ein Beitrag zur Sicherung bzw. Schaffung demokratischer Rechte in allen Teilen der Welt. Hierbei ist die Partizipation von Nichtregierungsorganisationen bedeutsam. Kein Staat, der heimlich nach Kernwaffen strebt, kann sicher sein, dass nicht ein Mitwisser seine Kenntnisse gegen Belohnung weitergibt und damit eine frühzeitige Reaktion der Völkergemeinschaft ermöglicht.

Veränderung der Sicherheitsstrukturen

Die dramatischen Veränderungen nach Auflösung der Blockkonfrontation in Folge des Falls der Berliner Mauer 1989 müssen sich auch in Veränderungen der Sicherheitsstrukturen niederschlagen. Kernwaffen dürfen darin keine Rolle mehr spielen. Eine kernwaffenfreie Welt, in der mit den Kernwaffen auch die Hauptanreize zur Kernwaffenentwicklung beseitigt werden, bringt allen Staaten Sicherheitsgewinne. Die Verifikation einer Nuklearwaffenkonvention sollte größtmögliche Sicherheit anstreben, nicht jedoch die Illusion perfekter Sicherheit vermitteln. Der Verifikationsaufwand muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen. Das Risiko von Vertragsverstößen ist mit den Sicherheitsgewinnen in einer kernwaffenfreien Welt in Beziehung zu setzen. Um das Risiko zu minimieren, ist ein Verifikationssystem in ein effektives Regime internationaler Sicherheit einzubetten.

Ziel wäre es, die Entdeckungswahrscheinlichkeit von Vertragsverstößen zu erhöhen und Vertragsbrecher zu entmutigen, indem die Nutzbarkeit eventuell verbleibender Kernwaffenkapazitäten begrenzt und das Risiko für den Vertragsbrecher durch entschlossenes Handeln der Völkergemeinschaft inakzeptabel hoch gemacht wird. Angemessen wäre eine abgestufte Reaktion, um einen Vertragsbrecher von seinem Vorhaben abzubringen, ohne ihm die Möglichkeit zu einem gesichtswahrenden Rückzug zu nehmen. Der Einsatz von Gewalt, der eher die Motive für eigene Kernwaffen verstärkt, sollte nicht die erste Priorität haben. Es muss deutlich werden, dass durch heimliche Kernwaffenaktivitäten nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren ist.

Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, sieht in der Abschaffung der Atombombe zugleich einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung des Krieges und zur Errichtung einer friedlichen Weltordnung. Eine Reform der Sicherheitsstrukturen der Vereinten Nationen und parallel dazu stattfindender NW-Verhandlungen könnten sich somit gegenseitig befruchten. Besondere Bedeutung hat die Reorganisation des UNO-Sicherheitsrats, dem nicht mehr nur die Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder angehören dürfen.

Einfluss der NWK auf die offizielle Politik

Die Diskussion um eine Nuklearwaffenkonvention hat auch auf Regierungsebene ihren Niederschlag gefunden. 1996 wurde von Malaysia und anderen Staaten erstmals eine Resolution in die UNO-Generalversammlung eingebracht, die die vom IGH festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung begrüßte und alle Staaten aufforderte, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem baldigen Abschluss einer NWK führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt.“ Seither gehört die Resolution über eine NWK zum festen Diskussionsprogramm der UNO-Generalversammlung. Der Resolution mit dem Titel »Convention on the Prohibition of the Use of Nuclear Weapons« stimmten beispielsweise im Oktober 2003 insgesamt 118 Staaten zu, darunter auch die Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und China. Leider lehnte Deutschland – wie auch die übrigen Länder der Europäischen Union – die Resolution ab.

Mit diesem Abstimmungsverhalten widersprechen die europäischen Regierungen dem Willen der gewählten Europavertreter. Im Februar 2004 verabschiedete das Europäische Parlament eine »Resolution zur nuklearen Abrüstung«, in der im Hinblick auf die NVV-Überprüfungskonferenz 2005 „ein Fahrplan mit einem zeitlichen Stufenplan und Fristen für [nukleare] Abrüstungsschritte» gefordert werden. Ausdrückliche Unterstützung signalisiert das EU-Parlament in seiner Resolution einer neuen, globalen Initiative zur Durchsetzung einer Nuklearwaffenkonvention: der »Emergency Campaign« der international verfassten Mayors for Peace.

Die Dringlichkeitskampagne der schon mehr als 570 Bürgermeister aus über 100 Ländern fordert unter dem Namen »2020 Vision« von der NVV-Überprüfungskonferenz 2005 eine verbindliche Vereinbarung über Verhandlungen für eine NWK bis zum Jahr 2010 und die vollständige Abschaffung von Atomwaffen bis 2020.

Dass bei gutem Willen die Vereinbarung einer NWK machbar wäre, haben Nichtregierungsorganisationen durch die Ausarbeitung des viel gelobten NWK-Entwurfs vor acht Jahren bewiesen. Dass der gute Wille zum Übergang vom lückenhaften Nichtverbreitungsregime hin zur atomwaffenfreien Welt auch bei den politisch Mächtigen entsteht, dafür müssen die Wähler jetzt endlich sorgen. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Redakteur von Wissenschaft & Frieden, Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

Elemente einer Nuklearwaffenkonvention

Präambel: Gefahren und Folgen atomarer Rüstung, Gründe für die Abschaffung der Kernwaffen, bisherige Verträge und Resolutionen

Allgemeine Verpflichtungen: Ächtung und irreversible Beseitigung von Kernwaffen, einschließlich dazu gehöriger Voraussetzungen, Komponenten und Infrastruktur (Forschung, Entwicklung, Test, Produktion, Beschaffung, Besitz, Lagerung, Transfer, Einsatz und Einsatzandrohung von Kernwaffen, Materialien, Trägersystemen, Befehls- und Kontrolleinrichtungen)

Verifikation: Anforderungen und Maßnahmen zur Vertragsüberprüfung; Austausch über Daten und Verifikationsaktivitäten; internationale Kontrollagentur, internationales Überwachungssystem mit Sensoren, Inspektionen, Konsultationen, Vertrauensbildung; soziale Verifikation und Schutz von Informanten (whistleblowing)

Internationale Kontrollagentur: Implementierung der Konvention durch Verifikation, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung; Vertragsstaatenkonferenz, geschäftsführender Rat, Technisches Sekretariat; Trennung von Kontrolle und Verbreitung der Kernenergie

Schrittweise Implementierung und Zeitrahmen: Agenda zur stufenweisen Abschaffung der Kernwaffen mit zeitlichen Vorgaben für Registrierung, Unbrauchbarmachung, Transport, Zerstörung von Kernwaffen, zugehöriger Nuklearmaterialien und Infrastruktur

Inkrafttreten und Geltungsdauer: universelle Gültigkeit; Ratifizierungsoptionen (Minimalzahl von Mitgliedstaaten, Prozentsatz von Staaten, Besitz von Kernwaffen oder Nuklearanlagen, Implementierung des Verifikationssystems)

Vertragseinhaltung und -durchsetzung: Schaffung von Transparenz und Vertrauensbildung; nationale und internationale Verpflichtungen; Rechte und Pflichten von Einzelpersonen; Sanktionen und kollektive Maßnahmen; Mediation durch internationale Agentur; Internationaler Strafgerichtshof

Kontrolle und Beseitigung von Kernwaffenmaterialien: Umfassendes CutOff-Abkommen; Verbot und nachhaltige Beseitigung von kernwaffenfähigen Materialien (Plutonium, HEU, Tritium) und Anlagen (Wiederaufarbeitung, Anreicherung, Mischoxid-Anlagen, Einsatz von hoch angereichertem Uran); Verglasung und Lagerung von Plutonium; internationale Kontrolle nuklearer Materialien

zum Anfang | Auf dem Weg in den Unrechtsstaat?

Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

von Wolfgang Sternstein

Was unterscheidet den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat? Im Rechtsstaat geht Recht vor Macht, im Unrechtsstaat Macht vor Recht. Das ist, zugegeben, eine idealisierte Beschreibung des Verhältnisses von Macht und Recht, denn letztlich ist es die Macht, die das Recht setzt. Das Recht aber wirkt auf die Macht zurück und setzt ihr Grenzen. Der Rechtsstaat unterscheidet sich folglich vom Unrechtsstaat durch die Selbstbindung der Macht an das Recht. Darin besteht seine friedenserhaltende, seine humanisierende Wirkung.

Vertragsnorm und Vertragsumsetzung

Eine uralte Regel des Vertragsrechts lautet »Pacta sunt servanda« (Verträge müssen eingehalten werden). Dieses Gebot bildet das Fundament einer Rechtsgemeinschaft, in der Rechtssicherheit Vertrauen zwischen den Vertragsparteien schafft. Im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV, abgeschlossen 1968, in Kraft getreten 1970) verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragspartei in Artikel II, »Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.» Soweit der Vertragstext. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

In Büchel, nicht weit von Cochem im Moseltal entfernt, lagern zehn US-amerikanischen Atombomben vom Typ B61-11, deren Sprengkraft insgesamt vermutlich etwa 60 Hiroshima-Bomben entspricht. In Büchel sind an Einsatzübungen deutsche Tornadopiloten beteiligt, die die Bomben im Kriegsfall nach einem entsprechenden Einsatzbefehl des US-Präsidenten ins Ziel fliegen würden. In Verbindung mit dem Mitspracherecht in der nuklearen Planungsgruppe der NATO läuft das unter dem Etikett »nukleare Teilhabe der Bundesrepublik«. Damit verstößt Deutschland eklatant gegen Artikel II des Nichtverbreitungsvertrags.

Und weiter: In Art. VI des NVV verpflichten sich die Vertragsparteien, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Diese Selbstverpflichtung gilt in erster Linie für die Atomwaffenstaaten. Sie gilt aber auch für die Bundesrepublik als Vertragspartei des NVV und NATO-Mitglied. Was hat sie in den knapp 30 Jahren seit Inkrafttreten des Vertrages getan, um dieser Selbstverpflichtung nachzukommen und auf die Aufnahme derartiger Verhandlungen zu drängen? – Nichts! Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten vom Juli 1996 zur Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen durch einstimmiges Richtervotum die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung noch einmal eindringlich angemahnt hat (Buchstabe F des Gutachtens).1

Schließlich hat die NVV-Überprüfungskonferenz im Jahre 2000 die Verpflichtung erneut nachdrücklich unterstrichen. Sie hat sogar eine gewisse Zweideutigkeit des Art VI NVV beseitigt. Die Formulierung »sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung» wurde von den Falken in den Atomwaffenstaaten so ausgelegt, als sei die nukleare Abrüstung an die allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Waffen gekoppelt. Das Dokument der Überprüfungskonferenz, ein offizieller Teil der Vertragsumsetzung, unterstreicht die unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abschaffung ihrer nuklearen Arsenale mit dem Ziel der nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsstaaten gemäß Art. VI verpflichtet sind.2

Was ist seitdem geschehen? – Wieder nichts! Die Vertragsstaaten des NVV und insbesondere die Bundesrepublik verhalten sich folglich permanent vertragswidrig. Statt ihre seit 34 Jahren bestehende Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einzulösen, haben sie sich auf ein schädliches und gefährliches nukleares Wettrüsten im Kalten Krieg eingelassen mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Eine dieser Folgen ist die Entstehung weiterer inoffizieller Atomwaffenstaaten, wie Israel, Indien und Pakistan, die nicht Mitglieder des NVV und zudem in Konflikte verwickelt sind, die zu den derzeit virulentesten gehören. Wahrscheinlich werden andere Staaten folgen, so dass es immer schwieriger wird, alle Atomwaffenstaaten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das Ziel des NVV, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern und einen Weg zu ihrer Abschaffung zu eröffnen, rückt damit in unerreichbare Ferne.

Die berechtigte Furcht, Terroristen könnten früher oder später Zugriff auf Atomwaffen erhalten, ist kein Argument gegen, sondern für den NVV. Denn das beste Mittel, dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist ihre Abschaffung. Damit würde die Gelegenheit für Diebstahl, Raub und Schwarzhandel weitgehend beseitigt. Terroristen, soviel ist jedenfalls gewiss, lassen sich durch Gegenterror nicht abschrecken.

Was ist ein Vertrag wert, der nur die schwachen, nicht aber die starken Vertragsparteien bindet? Sind die Nichtatomwaffenstaaten überhaupt noch an einen Vertrag gebunden, dem sie nur unter der Bedingung zugestimmt haben, dass die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erfüllen? – Sage bloß keiner, er sei nichts wert! Er ist viel wert, denn er dient als Instrument, um die schwachen Vertragsparteien, wie z.B. den Iran, zur Einhaltung eben jenes Vertrages zu zwingen, den die starken permanent verletzen. Nicht genug also, dass das Recht im Konflikt mit der Macht gewöhnlich den Kürzeren zieht; es tritt jetzt in den Dienst der Macht. Es wird zum Instrument zynischen Machtmissbrauchs.

Überflüssig zu sagen, dass ich nicht für die Annullierung des NVV plädiere, sondern für seine Einhaltung. Dabei übersehe ich keineswegs die praktischen Probleme, die mit der Umsetzung des Vertrages verbunden sind. Sie im Einzelnen zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Es muss genügen, auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema zu verweisen.3

Rechtsprechung im Geiste der Inhumanität

Es geht aber nicht nur um die Frage der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge, es geht auch um die Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit von Atomwaffen und der Politik der nuklearen Abschreckung. Bereits vor 43 Jahren hat der große Humanist, Arzt und Theologe Albert Schweitzer die Sache, um die es hier geht, auf den Punkt gebracht: »Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung.»4

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in dieser Frage von »weltgeschichtlicher Bedeutung» auf die Seite der Inhumanität geschlagen und damit gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes verstoßen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, der folglich einer sorgfältigen Begründung bedarf.

In den 1980er Jahren hat sich der Zweite Senat im Zusammenhang mit dem Streit um die »Nachrüstung« mehrmals zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Massenvernichtungswaffen geäußert. Er hatte keine Bedenken, Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung für verfassungskonform zu erklären.5

Seitdem hat sich die Völkerrechtslage allerdings durch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8. Juli 1996, das die Drohung mit dem Einsatz und den Einsatz von Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärte, wesentlich verändert. In Buchstabe D des Gutachtens stellen die Richterinnen und Richter des Internationalen Gerichtshofs einstimmig fest: »Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären (Kriegs-) Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.»6

Es liegt auf der Hand, dass Atomwaffen mit den genannten Anforderungen nicht vereinbar sind. Selbst das von Militärs gelegentlich vorgebrachte Argument, ein Atomschlag gegen ein Kriegsschiff auf See oder eine Atomwaffenbasis in der Arktis verstoße nicht gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, erweist sich als nicht stichhaltig. Denn selbst der Einsatz einer »kleinen« Atomwaffe (wobei die Hiroshima-Bombe bei den Militärstrategen als klein gilt) kann in der aufgeheizten Atmosphäre einer kriegerischen Auseinandersetzung einen Dammbruch für den massenhaften Einsatz von Atomwaffen bewirken. Darüber hinaus kann die bei der Explosion freigesetzte Radioaktivität das Leben und die Gesundheit Dritter schädigen.

Aus diesem Sachverhalt haben drei Richter des Internationalen Gerichtshofes denn auch die Schlussfolgerung hergeleitet, dass Atomwaffen bereits heute ausnahmslos als völkerrechtswidrig gelten müssen. Richter Weeramantry hat in seinem Sondervotum die allgemeinen Regeln des Kriegsvölkerrechts ausdrücklich benannt, gegen die Atomwaffen zwangsläufig verstoßen.7 Die Mehrheit der Richter des Internationalen Gerichtshofs mochte sich dieser konsistenten und stringenten Argumentation nicht anschließen. Sie konstatierten in E (2) eine geringfügige Lücke im Völkerrecht bzw. sahen sich nicht in der Lage, »definitiv die Frage (zu) entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.»8

Auf die Inkonsequenz dieser Feststellung soll hier nicht näher eingegangen werden. In Verbindung mit Buchstaben F ist ohnehin klar, dass diese Lücke im Völkerrecht – so sie denn besteht – durch die vom Gericht angemahnten Verhandlungen über die Abschaffung dieser Waffen geschlossen würde.

Die Völkerrechtslage ist somit weitgehend geklärt. Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen sind generell völkerrechtswidrig. Die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen – nach wie vor offizielle NATO-Strategie – ist folglich eklatant völkerrechtswidrig, denn die vom Gericht angesprochene extreme Ausnahmesituation liegt nicht vor. Das Gleiche gilt für die Bestrebungen der USA, Atomsprengköpfe mit relativ geringer Sprengkraft – sogenannte Mini-Nukes – sowie bunkerbrechende Waffen zu entwickeln und auf dem Gefechtsfeld einzusetzen.

Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung sind aber nicht nur völkerrechtswidrig, sie sind auch verfassungswidrig. Abschreckung wirkt, das wissen wir aus Erfahrung, niemals hundertprozentig. Das Furchtbare, das geradezu Teuflische am Abschreckungsprinzip ist, dass derjenige, der durch Strafandrohung von einem bestimmten Verhalten abzuschrecken sucht, sich damit in der Schlinge der Selbstbindung fängt. Versagt die Abschreckung, so ist er gezwungen, die Strafandrohung wahr zu machen, andernfalls verliert er seine Glaubwürdigkeit. Folglich ist er gezwungen zu tun, was er vielleicht gar nicht tun will.

Wenn das auf lange Sicht unvermeidliche Versagen der Abschreckung die Vernichtung ganzer Völker, ja der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde zur Folge haben kann, dann ist die Politik der nuklearen Abschreckung ethisch, politisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen.

Ich kenne den Einwand: Immerhin hat die nukleare Abschreckung den dritten Weltkrieg zwischen den Supermächten verhindert und insofern zum Frieden beigetragen, ja den nuklearen Holocaust gerade verhindert. Sie wird es folglich auch in Zukunft tun, zumal sich die Gefahr eines Atomkriegs in Mitteleuropa seit dem Ende des Kalten Krieges drastisch vermindert hat. Darauf kann ich nur mit General George Lee Butler, dem Oberkommandierenden der US-amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-94, antworten: »Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.»9

Der Mann weiß, wovon er spricht. Ich nenne den Atomkrieg, gleichgültig ob er ein Zehntel, ein Viertel, die Hälfte oder die ganze Menschheit auslöscht, das denkbar größte Verbrechen. Mord ist zweifellos ein schweres Verbrechen; doch das denkbar größte Verbrechen ist der Mord an der Menschheit, auch wenn wir es juristisch korrekt Menschheitstotschlag nennen, weil es bei den Tätern an den niedrigen Motiven fehlt. Denkt man an die Machtgier der Politiker und die Profitgier der Rüstungsindustriellen, so fehlt es auch an den niedrigen Motiven nicht. Dass dieses Verbrechen legal geplant, vorbereitet und am Ende auch durchgeführt wird, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer.

Kein Zweifel also, die nach wie vor gültige NATO-Doktrin der nuklearen Abschreckung verstößt gegen das Grundgesetz, denn sie bedroht im Fall ihres auf die Dauer unausweichlichen Versagens nicht allein den in Art. 79 Abs. 3 für unveränderbar erklärten Kernbestand der deutschen Verfassung, sondern darüber hinaus ihre Grundlagen mit Vernichtung: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsorganisation. Mag die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa derzeit gering sein, so ist das noch lange keine Garantie, dass das auch künftig der Fall sein wird. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass sich die Weltlage in kurzer Zeit dramatisch verändern kann.

Seit den 1980er Jahren hat es zahlreiche Versuche gegeben, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams kleiner Gruppen von Friedensaktivistinnen und -aktivisten eine Revision der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Atomwaffen zu erreichen.

Seit 1990 haben am US-amerikanischen EUCOM (European Command) in Stuttgart-Vaihingen acht »Entzäunungsaktionen« und am Fliegerhorst Büchel fünf »ehrenamtliche Inspektionen im Namen des Internationalen Gerichtshofes« stattgefunden, an denen über sechzig Personen beteiligt waren. Sie wurden alle zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Siebzehn davon sind ins Gefängnis gegangen, um mit einer »Mahnwache hinter Gittern« zum gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen aufzurufen.

Es kam im Gefolge dieser Aktionen zu einer Richtervorlage (gem. Art. 100 Abs. 2 GG) und insgesamt vier Verfassungsbeschwerden. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wandten wir uns mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Wir machten geltend, dass Art. 25 GG uns nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie sie von Richter Weeramantry angeführt worden waren, zu beachten, denn sie gehen den deutschen Gesetzen – auch den Strafgesetzen! – vor und erzeugen Rechte und Pflichten für jeden Bewohner des Bundesgebietes.10

Das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht dazu durchringen, seine Rechtsprechung aus 1980er Jahren im Lichte des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zu revidieren. Selbst der Wunsch des großen alten Mannes der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes im militärischen Bereich auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden solle, stieß in Karlsruhe auf taube Ohren.11

Fazit: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt offensichtlich völkerrechts- und verfassungswidrig. Die Frage drängt sich auf. Warum hält es dennoch an ihr fest? Ist es die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, seine verhängnisvolle Rechtsprechung zu Massenvernichtungswaffen aus den 80er Jahren zu korrigieren? Mag sein. Bei weitem plausibler aber ist die Vermutung, es handle sich um eine rein politische Entscheidung: Die europäische Einigungsbewegung läuft auf eine Militärmacht Europa zu, die aufgrund des französischen und britischen Atomwaffenarsenals auch Atommacht sein wird. Eine Analyse der vorerst gescheiterten EU-Verfassung ergibt: Die Europäische Union wird, sofern es nach dem Willen Frankreichs und Deutschlands geht, eine Supermacht mit gemeinsamer Außen- und Militärpolitik, die europäische Interessen weltweit vertritt und je nach Interessenlage mal mit, mal ohne und mal gegen die Supermacht USA agiert.12 In einem solchen Europa ist für ein dem Staatsziel der Friedensstaatlichkeit verpflichtetes Grundgesetz und ein dem Grundgesetz verpflichtetes Verfassungsgericht kein Platz. Eine Bundesrepublik, die sich aus verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen dieser Entwicklung verweigern müsste, würde da nur stören.

Wenn Recht zu Unrecht wird…

Alle wirklich großen Verbrechen im vergangenen Jahrhundert, sagte der amerikanische Friedensaktivist Philip Berrigan, waren legal: Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der GULAG, Auschwitz und Hiroshima, und wenn die Menschheit eines Tages im atomaren Inferno zugrunde geht, wird auch dieses denkbar größte Verbrechen legal sein. Gegen die Vorbereitung dieses Verbrechens gewaltfreien Widerstand zu leisten, ist die Pflicht eines jeden Menschen, will er an diesem Verbrechen nicht mitschuldig werden.13

Eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Meines Erachtens gibt es nur noch eine einzige Instanz, die fähig wäre, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen: Die Macht des Volkes, die Macht der öffentlichen Meinung. Das ist gewiss keine neue Einsicht; sie wurde beispielsweise schon 1961 von Albert Schweitzer klar zum Ausdruck gebracht und als friedenspolitische Zielvorstellung artikuliert.14

Wir müssen uns fragen lassen, was wir seither getan haben, um dieses Ziel zu erreichen. Wohl stimmten bei einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts im Jahre 1998, die heute wohl kaum anders ausfallen dürfte, 93 Prozent der Befragten der Forderung zu: »Atomwaffen sind grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen und sollten weder produziert noch gehortet werden dürfen.» Und 87 Prozent der Befragten stimmten der Auffassung zu: »Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden.» Das Gleiche gilt für die Auffassung: »Die Atommächte sollten zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt schnellstmöglich mit der Verschrottung der eigenen Atomwaffen vorangehen.»15

Nun gilt es, aus dieser Meinungsmehrheit eine Willensmehrheit und schließlich eine Entscheidungsmehrheit im Bundestag zu machen. Deutschland hat durch seine Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht unerheblich zur Erfindung und dem Einsatz dieser grausamen Waffen beigetragen. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, uns mehr als andere für ihre Abschaffung einzusetzen.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher und lebt in Stuttgart. Er ist seit 30 Jahren in der Anti-AKW-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv und hat an zahlreichen gewaltfreien Aktionen teilgenommen. Wegen zivilem Ungehorsam stand er mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und saß achtmal im Gefängnis, insgesamt mehr als ein Jahr.

zum Anfang | … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

von Wolfgang Schlupp-Hauck

Von der ersten Atombombenexplosion in den USA am 16. Juli 1945 bis zur letzten Atomwaffendetonation am 30. Mai 1998 durch Pakistan fanden weltweit mindestens 2052 Atomexplosionen statt – im Schnitt alle neun Tage eine. Am 24. September 1996 unterzeichneten die fünf traditionellen Atommächte einen Vertrag, der das Verbot aller Atomexplosionen beinhaltet. Angesichtes des feierlichen Akts der Vertragsunterzeichnung an der UNO in New York mochte ein wichtiger Aspekt leicht aus den Augen verloren gehen: Die Regierungschefs der Großmächte waren buchstäbliche von Tausenden, ja Hunderttausenden von Menschen fast an den Verhandlungstisch »gezerrt« worden, um öffentlich das zu versprechen, was sie von Anfang an hätten tun sollen: die Atomtests endlich vertraglich zu verbieten.“1

Auch wenn der umfassende Teststoppvertrag noch nicht in Kraft ist, das weltweite Netz mit Messstationen zu seiner Überprüfung ist teilweise schon in Betrieb und soll bis 2007 fertig gestellt werden.

Ohne den Druck der internationalen Bewegung wäre es zu diesem Ergebnis mit Sicherheit erst viel später, vielleicht auch gar nicht gekommen. Seit Mitte der 1950er Jahre wehrten sich Bürger mit den unterschiedlichsten Aktionsformen gegen nukleare Rüstung. Wissenschaftler erklärten, dass sie sich nicht an Atomwaffenforschung beteiligen werden; Nichtregierungsorganisationen belagerten Diplomaten und Politiker; wagemutige Zeitgenossen fuhren mit Segelschiffen in die Atomtestgebiete im Pazifik; andernorts drangen Demonstranten auf dem Landweg in die Testgelände vor. Protest und Widerstand erzwangen im Wechsel von Lobbyarbeit, kleinen Aktionen, Massendemonstrationen und zivilem Ungehorsam die Fortschritte der »großen« Politik.

Der intensiven, jahrelangen Lobbyarbeit ist es zu verdanken, dass der Internationale Gerichtshof 1996 sein Rechtsgutachten über die Legalität von Atomwaffen verkündete und erklärte, dass die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtswidrig sind.2 Aus der Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen entstand 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) das internationale Netzwerk für die Abschaffung von Atomwaffen, Abolition 2000, dem über 2.000 Gruppen in 90 Ländern angehören.

Um zu zeigen, dass die im NVV geforderte vollständige nukleare Abrüstung möglich ist, erarbeiteten ausgewiesene internationale Experten der »Atomwaffen abschaffen«-Bewegung einen Vertragsentwurf zur kontrollierten Abschaffung aller Atomwaffen. Dieser Vorschlag einer Nuklearwaffenkonvention wurde 1997 von Costa Rica bei den Vereinten Nationen eingebracht. Er wurde damit UNO-Dokument. Dennoch – der Abschluss einer solchen Konvention scheint in weiter Ferne. Weiteres Bürgerengagement ist unerlässlich, um die Atomkriegsgefahr endlich aus der Welt zu schaffen.

Der Bürgermeister von Hiroshima und Vorsitzende der Mayors for Peace, Tadatoshi Akiba, kündigte im April 2003 bei einem Treffen zur Vorbereitung der nächsten NVV-Überprüfungskonferenz eine Dringlichkeitskampagne von unten an. Er forderte, dass bei der Überprüfungskonferenz 2005 ein konkreter Zeitplan für Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention vereinbart werden müsse. Akiba schlägt einen fünfjährigen Verhandlungszeitraum und eine zehnjährige Abrüstungsphase vor. Die letzen Atomwaffen würden also im Jahr 2020 verschrottet. Einige Monate später wurde die Kampagne unter dem Namen »2020 Vision« in Nagasaki offiziell gestartet.

Zwischen den kommunalpolitischen Repräsentanten der Mayors for Peace und der Friedensbewegung sind neue Bündnisse im Entstehen. Der deutsche Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« startete zur Unterstützung von »2020 Vision« inzwischen die Kampagne »…auf keinem Auge blind! atomwaffenfrei bis 2020« (siehe www.atomwaffenfrei.de). Ziel: die Friedensarbeit vor Ort mit der hohen diplomatischen Ebene der Staatsverhandlungen zu verbinden – wenn möglich, mit dem eigenem Bürgermeister.

Die neue Kampagne eröffnet jedem die Möglichkeit, das Atomwaffenthema lokal aufzugreifen. Beispielsweise indem – sofern noch nicht der Fall – die eigene Gemeinde aufgefordert wird, den Mayors for Peace beizutreten und die Kampagne zu unterstützen. Mit der Aktion »Mal dir den Frieden« schafft der Trägerkreis eine Möglichkeit, die Öffentlichkeitsarbeit vor Ort mit dem internationalen Geschehen zu verbinden. Im April 2005, während der NVV-Überprüfungskonferenz in New York, soll ein Meer von bunten Tüchern mit Abrüstungsvisionen aus aller Welt die Diplomaten und Politiker auf ihrem Weg in die Verhandlungen begrüßen. Der Wunsch der Menschen nach einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen soll auf diese Weise unübersehbar werden. Mehr Nichtregierungsorganisationen als je zuvor sollen sich 2005 in New York einmischen (gehofft wird auf mehr als 2.000) und zu einem »Völkergipfel für nukleare Abrüstung« zusammenkommen. Der Bürgermeister von Hiroshima will die Unterzeichnerstaaten bei dieser Gelegenheit noch einmal dringlich aufrufen, einen Zeitplan für die Abschaffung aller Atomwaffen zu verabschieden.

Sollte die Überprüfungskonferenz ohne Zeitplan enden, will Bürgermeister Akiba einen »Hiroshima-Prozess« initiieren, vergleichbar dem »Ottawa-Prozess«, der außerhalb der üblichen Abrüstungsgremien verlief. Dieser führte Ende der 1990er Jahre zum Verbot von Antipersonen-Landminen. Akiba wird in diesem Falle seine eigene Stadt als Tagungsort anbieten. Die Verhandlungen für eine atomwaffenfreie Welt würden dann am 6. August 2005 in Hiroshima aufgenommen: 60 Jahre nach dem ersten Atombombenabwurf durch die USA.

Wolfgang Schlupp-Hauck ist Mitarbeiter der Pressehütte Mutlangen und dort Mitherausgeber der Zeitschrift FreiRaum (für eine Welt ohne Atomwaffen und die friedliche Nutzung des Weltraums).

zum Anfang | Glossar

von Lothar Liebsch

Atom-, Kern-, Nuklearwaffen:

Die Energie, die von einer Kernwaffe freigesetzt wird, stammt aus dem Atomkern (nucleus). Der bei Atombomben (Fissionswaffen) ablaufende Vorgang beruht auf der Spaltung von Uran- oder Plutoniumkernen in leichtere Bruchstücke, die Spaltprodukte. In einer thermonuklearen Waffe oder Wasserstoffbombe (Fusionswaffe) werden die Kerne schwerer Wasserstoff-Isotope (Deuterium und Tritium) bei sehr hohen Temperaturen miteinander verschmolzen. Dieser Vorgang wird von einem Kernspaltungsprozess ausgelöst.

Bunkerknacker (bunker buster):

Eine erdeindringende Waffe, die unterirdische Anlagen, Kommandobunker oder Massenvernichtungswaffen-Lager zerstören soll. Es gibt bereits konventionelle »bunker buster«, die im Irakkrieg eingesetzt wurden, und eine US-Atombombe mit begrenzten Fähigkeiten dieser Art, die auch in Deutschland stationierte B-61 Modell 11. Bei dem in den USA in Planung befindlichen »Robust Nuclear Earth Penetrator« handelt es sich um eine neue Generation erdeindringender Atomwaffen.

Fallout:

Entsteht hauptsächlich durch verstrahltes Erdreich bei niedrigen Luft- oder Bodendetonationen. Eine Bodendetonation erzeugt immer radioaktive Teilchen. Dabei fallen große und schwere Teilchen innerhalb weniger Minuten nach der Detonation dicht am Nullpunkt zu Boden, so dass hier eine hohe, für Menschen tödliche, Strahlenbelastung entsteht. Die leichteren und kleineren Teilchen steigen mit dem Feuerball und der Explosionswolke zunächst nach oben und fallen dann nach und nach in Windrichtung wieder zu Boden. In der Regel beginnt der radioaktive Niederschlag (Fallout) nach weniger als einer Stunde wieder zu Boden zu fallen und hält ein bis zwei Tage lang an, je nach der Entfernung zum Nullpunkt. Bei Explosionen mit einem hohen Detonationswert werden kleinste verstrahlte Teilchen bis in die Stratosphäre geschleudert und können dort monate- oder jahrelang verbleiben, bevor sie wieder auf den Erdboden sinken. Über Ausmaß und Intensität des radioaktiven Niederschlags entscheiden verschiedene Faktoren, deren wichtigster die Wetterlage ist. Bei unsteten oder umlaufenden Winden in unterschiedlichen Höhen nimmt das Gebiet radioaktiven Niederschlags sehr komplexe Formen an, möglicherweise mit Stellen hoher Konzentration (hot spots) und strahlungsfreien Bereichen, so dass es in der Regel unmöglich ist, eine verlässliche Vorhersage über das Niederschlagsgebiet zu erstellen. Auch kann bei Regen oder Schnee eine Luftdetonation unter den Wolken, die bei klarem Wetter einen unerheblichen radioaktiven Niederschlag verursacht hätte, zu einem beträchtlichen nicht vorhersehbaren lokalen Niederschlag führen, weil die radioaktiven Teilchen durch den Regen oder Schnee konzentriert zu Boden fallen.

IAEO:

Die Internationale Atomenergieorganisation hat ihren Sitz in Wien. Sie wurde 1957 mit dem Ziel gegründet, den „Beitrag der Kernenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der Welt“ zu erhöhen. Gleichzeitig soll sie verhindern, dass die bei der Nutzung von Nukleartechnologie gewährte Unterstützung militärisch genutzt werden kann. Entsprechend dieser Zielsetzung lassen sich die Aufgabenbereiche in die Förderung der Anwendung der Kernenergie, Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung der Abzweigung spaltbaren Materials unterteilen. Der IAEO gehören derzeit 134 Mitgliedstaaten an. Oberste beschlussfassende Organe sind die Generalkonferenz und der Gouverneursrat mit 35 Staaten.

Konventionelle/nicht-konventionelle Waffen:

Kriegswaffen werden nach Massenvernichtungswaffen und konventionellen Waffen unterschieden. Nicht-konventionell sind atomare, biologische, chemische (ABC-) und radiologische Waffen. Bei letzteren kommt es nicht zur Kernspaltung; statt dessen werden radioaktive Materialien freigesetzt und in der Umwelt verteilt (»schmutzige Bombe«). Zu den konventionellen Waffen gehören alle Handfeuerwaffen, Panzer- und Panzerabwehrwaffen, Raketen- und Raketenabwehrsysteme, Flugabwehrwaffen, Artilleriegeschütze, Bewaffnung von Kriegsschiffen, Bewaffnung von Flugzeugen, Munition, Bomben, Minen und pyrotechnische Kriegsmittel. Mit dem am 19. November 1990 auf dem KSZE-Gipfel in Paris unterzeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-I-Vertrag) wurden erstmals drastische Reduzierungen bei den konventionellen Waffen (Panzer, Artillerie, Kampfflugzeuge) zwischen Atlantik und Ural festgelegt. Darüber hinaus gibt es Vereinbarungen zur Ächtung besonders grausamer Waffen, beispielsweise das Protokoll II zum Übereinkommen von 1980 über konventionelle Waffen. Es regelt den Einsatz von Anti-Personenminen, Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtungen.

Miniatomwaffe (mini nuke):

Eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen. (Zum Vergleich: Die Bombe von Hiroshima hatte 13 Kilotonnen). Die Forschung an kleinen, technisch hochentwickelten Atomwaffen hat in den USA begonnen, nachdem ein zehn Jahre bestehendes Verbot der Entwicklung von Miniatomwaffen aufgehoben wurde. Es gibt im US-Arsenal bereits Bomben, die als Mini Nukes einsetzbar sind. Die »Atomwaffen-Familie« B-61 kann mit einer Sprengkraft von 0,3 bis zu 340 Kilotonnen konfiguriert werden.

Nichtverbreitungsvertrag (NVV):

Auch als Atomwaffensperrvertrag bekannt; 1968 vereinbart und 1970 in Kraft getreten. Der Vertrag schreibt fest, dass ausschließlich China, Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion (bzw. später Russland) und die USA Atomwaffen entwickeln und besitzen dürfen. Die Atomwaffenstaaten verpflichten sich in Artikel VI zur Abrüstung ihrer Atomwaffen. Die mehr als 180 Nicht-Atomwaffenstaaten, die dem Vertrag beigetreten sind, verzichten auf Atomwaffen (Artikel II), bekommen im Gegenzug aber Nuklearmaterialien, wissenschaftliches Know-How und Technologien zur Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke (Energie, Medizin, Forschung) zur Verfügung gestellt (Artikel IV). Die Vertragsumsetzung wird alle fünf Jahre überprüft. Die Überprüfungskonferenzen werden jeweils in den drei Jahren zuvor auf speziellen Treffen vorbereitet. 1995 wurde der Vertrag auf unbefristete Zeit verlängert.

Nukleare Teilhabe der NATO:

Die nukleare Teilhabe in der NATO besteht aus zwei Komponenten: Zum einen der technischen Teilhabe, mittels derer Piloten und Flugzeuge der nicht-nuklearen NATO-Staaten im Kriegsfall US-Atomwaffen einsetzen können und dies im Frieden üben. Zum anderen aus der politischen Teilhabe, d.h. dem Recht, über Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und Nuklearwaffeneinsatzplanung in der NATO mitdiskutieren zu können.

Nuklearwaffenkonvention (NWK):

Die Etablierung einer atomwaffenfreien Welt erfordert einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt. Eine solche NWK muss eine zeitlich unbegrenzte Gültigkeit haben. Damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Atomwaffenstaat bekommen und beibehalten, müsste eine NWK unter anderem folgendes vorsehen: Beendigung der Kernwaffenproduktion, Auflösung der vorhandenen Arsenale, Verbot jeglicher Wiederbeschaffung, Verbot jeglicher Kernwaffenforschung, Errichtung eines wirksamen internationalen Kontrollsystems. Eine NWK muss ferner die Rechte und Pflichten ihrer Mitgliedsländer festlegen, mögliche Verletzungen des Vertrages definieren sowie daraufhin erfolgende internationale Reaktionen festschreiben.

Proliferation:

Die Weitergabe von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) bzw. deren Trägersystemen sowie die Mittel und das Know-how zu deren Herstellung an andere Länder.

Sprengkraft:

Die Explosionsenergie einer Bombe (Detonationswert) wird in den Maßeinheiten Kilotonne (KT) und Megatonne (MT) angegeben. Diese Maßeinheiten bezeichnen die Energie, die von 1.000 bzw. 1 Million Tonnen TNT (Sprengstoff Trinitrotoluol) freigesetzt wird. Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von 13 KT. Die Nagasaki-Bombe hatte eine Sprengkraft von 22 KT. (Anmerkung: 200 Gramm TNT reichen aus, um einen Menschen zu töten!)

Strategische, taktische Waffen:

Strategische Atomwaffen sind für den Einsatz in großer Reichweite vorgesehen. Trägersysteme für strategische Einsätze sind Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote. Die Zahl der strategischen Atomwaffen, die tatsächlich eingesetzt werden können, hängt von der Art und Anzahl der Trägersysteme ab. Taktische Atomwaffen sind Kernwaffensysteme, die auf Grund ihrer Reichweite, ihres Detonationswertes und der Art ihrer Stationierung für einen Einsatz gegen militärische Ziele auf einem begrenzten Gefechtsfeld eingesetzt werden können. Solche Waffen sind Artilleriegeschosse, bodengestützte mobile Raketen und Flugkörper, von Flugzeugen eingesetzte Bomben, Raketen und Flugkörper und atomare Bodensprengkörper. Die Seestreitkräfte verfügen in diesem Segment über U-Boot gestützte Marschflugkörper oder U-Boot-gestützte ballistische Raketen, Torpedos und U-Boot-gestützte Kurzstreckenraketen für die U-Boot-Abwehr. Die landgestützten Systeme haben Reichweiten von 15 km (Artillerie) bis zu mehreren 100 km (schwere Raketen).

Trägersysteme:

Bezeichnet die Transportmittel für (Kern-) Waffen.

Umfassender Teststoppvertrag:

Bereits in den 1960er Jahren wurden vertraglich Atomtests unter Wasser, in der Atmosphäre und im Weltraum verboten. Der Umfassende Teststoppvertrag von 1996 verbietet auch unterirdische Tests. Bislang haben 170 Staaten unterzeichnet (zuletzt Libyen). Allerdings bestehen Zweifel, ob der Vertrag jemals in Kraft tritt, da zuerst alle 44 Staaten, die Atomenergie nutzen – und somit auch Atomwaffen herstellen könnten – beitreten müssen. Nicht unterzeichnet haben Indien, Pakistan und Nordkorea. Noch nicht ratifiziert haben USA, China und Israel.

Urananreicherung:

Die Urananreicherung erfolgt derzeit großtechnisch mit den Verfahren der Gasdiffusion und der Gaszentrifuge. Die Gasdiffusion hat einen relativ geringen Trennfaktor, was bei der Anreicherung von Reaktorbrennstoff ca. 1.400 Anreicherungsstufen, entsprechend große Anlagen und einen großen Energieverbrauch zur Folge hat. Das Gaszentrifugenverfahren benötigt demgegenüber nur 10 Anreicherungsstufen, dafür ist der Materialdurchsatz relativ gering. Mit beiden Verfahren kann eine Anreicherung auf hohe Uran-235-Konzentrationen erzielt werden, wie sie für den Bau von Kernwaffen erforderlich sind.

Verifikation:

Eine wichtige Voraussetzung für die Kontrolle und den Abbau von Kernwaffen ist die Verfügbarkeit von geeigneten Mitteln, mit denen überprüft (verifiziert) werden kann, ob sich die Staaten an die zu diesem Zweck getroffenen Vereinbarungen halten. So überwacht die IAEO beispielsweise, dass kein spaltbares Material aus der friedlichen Nutzung zu militärischen Zwecken abgezweigt werden kann.

Zusatzprotokoll:

Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag wurde 1997 von der IAEO beschlossen. Es ergänzt den Nichtverbreitungsvertrag von 1968. Es bietet mehr Kontrollmöglichkeiten (z.B. unangemeldete Kontrollen), die notwendig wurden aufgrund der Erfahrungen mit den Atomrüstungsplänen des Irak nach dem Golfkrieg 1991. Mehr als 80 Länder haben das Zusatzprotokoll unterzeichnet. Nach internationalem Druck und nach einem Ultimatum seitens der IAEO hat auch der Iran im Dezember 2003 das Zusatzprotokoll unterzeichnet.

Dr. Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D., Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal«

Anmerkungen

Sternstein, Wolfgang: Auf dem Weg in den Unrechtsstaat? Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

1) Siehe IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster, Lit-Verlag.

2) Vgl. Rotblat, J.: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt. Frankfurter Rundschau, 6. August 2003, S. 7.

3) Siehe z.B. IPPNW, IALANA, INESAP (Hrsg.) (2000): Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention. Berlin, IPPNW.

4) Schweitzer, A. (1982): Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München, Beck, S 132.

5) Siehe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE) 66, 39-65; 68, 1-111; 77, 170-240; 100, 209-214.

6) Zitiert nach IALANA, op.cit., S. 9.

7) Abgedruckt in IALANA, op.cit., S. 145-279.

8) Ibid, S. 10.

9) Butler, L.: Zwölf Minuten, um über das Schicksal der Menschheit zu entscheiden. Frankfurter Rundschau, 1. September 1999, S. 9; vgl. auch Butler, L.: Wir handelten wie Betrunkene. Der Spiegel, 3. August 1998, S. 138-141.

10) Zur Richtervorlage vgl. Sternstein, W. u.a. (1998): Atomwaffen abschaffen! Idstein/Ts., Meinhardt, S. 87ff.; zur Abweisung der Richtervorlage s. BverfGE 100, 209-214.

11) Vgl. IALANA, op.cit., S. 6.

12) Vgl. Pflüger, T. (2003): Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder Auch die EU ist auf Kriegskurs. IMI-Analyse 2003/036. Verfügbar unter: www.imi-online.de

13) Sinngemäß wiedergegeben nach einem Vortrag von Philip Berrigan in Stuttgart im Frühjahr 1983.

14) In Schweitzer, A. (1961): Menschlichkeit und Friede. Berlin, Berliner Verlagsanstalt-Union, S. 172.

15) Forsa-Umfrage vom 2. Juni 1998 im Auftrag der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW).

Schlupp-Hauck, Wolfgang: … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

1) Mit diesem Gedanken leiten Uwe Painke und Andreas Quartier, zwei Aktivisten der Atomteststoppkampagne, ihr Buch über das Bürgerengagement auf dem Weg zur nuklearen Abrüstung ein. Uwe Painke und Andreas Quartier: Gewaltfrei für den Atomteststopp, Tübingen, 2002, Books on Demand, ISBN 3-8311-2292-X.

2) Das Projekt Weltgerichtshof wurde in Genf von den Organisationen Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), International Peace Bureau (IPB) und International Association Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) gestartet.

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

Complex 2030:

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

von Jacqueline Cabasso

Unter dem Namen »Complex 2030« fassen die beteiligten Ministerien der Vereinigten Staaten – das für alle Nuklearangelegenheiten zuständige Energieministerium, vertreten durch die ihm untergeordnete National Nuclear Security Administration (NNSA),1 sowie das Verteidigungsministerium – ihre Pläne für eine Runderneuerung des Nuklearwaffenkomplexes bis zum Jahr 2030 zusammen. Fester Bestandteil des Planungszenarios ist der komplette Austausch des bestehenden US-Atomwaffenarsenals durch den so genannten Reliable Replacement Warhead (RRW, zuverlässiger Austausch-Sprengkopf). Wird das Projekt realisiert, so belaufen sich die Kosten in den nächsten 25 Jahren auf mehr als 150 Milliarden US$, legen sich die Vereinigten Staaten auf die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals auf unabsehbare Zeit fest und verletzt die Regierung ihre Verpflichtungen aus Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags „zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft“ beizutragen und „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen“ über die vollständige Abrüstung ihres Atomwaffenarsenals.2

Im neuen »Strategic Plan« erläutert das US-Energieministerium, dass die Behörde „eine reiche und vielseitige Geschichte hat, deren Wurzeln bis zum Manhattan Project und dem Wettrennen um die Entwicklung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg zurückreichen.“ 3 Im Los Alamos National Laboratory (LANL) in Neu Mexiko, speziell für das Manhattan Project gegründet, wurden die ersten Atombomben gebaut. 1952 wurde ein Konkurrenzlabor aufgebaut, das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) in Kalifornien. Hier entstand die Wasserstoffbombe, ein Bombentyp mit der vielfachen Sprengkraft der beiden US-Atombomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Heute sind die beiden Nuklearlaboratorien in ein ganz neues Wettrüsten verwickelt: Sie arbeiten an konkurrierenden Entwürfen für einen Sprengkopf, der die 100 Kilotonnen-Bombe W76 ersetzen soll; von diesem Bombentyp werden zur Zeit etwa 1.600 Stück auf U-Boot-gestützten Trident-Raketen einsatzbereit gehalten.4 Die NNSA wird bald eine Entscheidung für einen der beiden Entwürfe treffen und damit die nächste Programmphase einläuten.

Kürzlich wurde die Tabelle »Stockpile Transformation« (Transformation des Arsenals) aus dem Verteidigungsministerium bekannt, die einen Zeitplan für die künftige Gestaltung des Atomwaffenarsenals vorgibt. Für 2010 bis 2020 ist vorgesehen, dass die USA „Sprengköpfe für die nächste Generation Trägersysteme entwickeln.“ 5 Zur Langzeitvision der Tabelle, die bis zum Jahr 2030+ reicht, gehören 2-4 RRW-Typen.

(Neue) Atomwaffen bis an das Ende aller Zeiten

Bei einer Anhörung im Kongress prahlte im April 2006 der stellvertretende NNSA-Direktor für Verteidigungsprogramme, Thomas D’Agostino: „Wir haben mit dem RRW bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Vergangenes Jahr starteten das Verteidigungs- und das Energieministerium einen gemeinsamen RRW-Wettbewerb, in dem zwei unabhängige Entwicklerteams unserer Nuklearwaffenlaboratorien… die Optionen für den RRW erkunden. Einen solchen Wettbewerb hat es seit mehr als 20 Jahren nicht gegeben, und er bietet die einmalige Chance, die nächste Generation Atomwaffenentwickler und -ingenieure auszubilden. Beide Teams sind zuversichtlich, dass ihre Entwürfe den Vorgaben entsprechen und ohne Nukleartests zertifiziert und gefertigt werden können. Das Programm liegt im Terminplan, die Vorentwürfe liegen demnächst vor. In einem intensiven, gründlichen Peer Review werden dann die Entwürfe begutachtet und die Option ausgewählt, die für die ingenieurmäßige Entwicklung am besten geeignet ist.“6

Bei der Anhörung begründete D’Agustino, warum das Szenario von Complex 2030 Unterstützung verdient. Den Plan, der im April 2006 zum ersten Mal öffentlich vorgestellt wurde, beschreibt die NNSA wie folgt: „Der Zukunftspfad der NNSA liegt im Aufbau eines kleineren, effizienteren Nuklearwaffenkomplexes, der sich an die veränderlichen nationalen und globalen Sicherheitsprobleme anpassen kann.“7 Das RRW-Programm wird als Kernelement von Complex 2030 bezeichnet, „um die langfristige Zuverlässigkeit und Sicherheit des Atomwaffenarsenals sicher zu stellen und eine reaktivere Unterstützungsstruktur zu ermöglichen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass die Vereinigten Staaten jemals wieder unterirdische Tests durchführen müssen.“8

Die NNSA behauptet zwar, dass „der RRW keine neue Waffe mit neuen oder anderen militärischen Fähigkeiten bzw. Einsatzoptionen ist“,9 NNSA-Chef Linton Brooks hat aber immer offen zugegeben, dass Tests auch weiterhin nicht ganz vom Tisch seien: „Im Jahr 2030 kann unsere Reaktive Infrastruktur je nach Bedarf auch Waffen mit anderen oder modifizierten militärischen Anforderungen fertigen. Die Waffenentwickler-Community, die durch das RRW-Programm neu belebt wurde, kann eine vorhandene Waffe innerhalb von 18 Monaten modifizieren. Die Entwickler können innerhalb von 3-4 Jahren nach Erteilung eines entsprechenden Auftrags einen neuen Waffentyp konzipieren, entwickeln und in Fertigung geben… Wenn der Kongress und der Präsident entsprechend verfügen, können wir rasch auf veränderliche militärische Anforderungen reagieren.“10

Die NNSA sieht die Sache so: „Ist erst einmal der Nachweis erfolgt, dass die Fertigung von Austauschsprengköpfen in dem Zeithorizont möglich ist, in dem neue geopolitische Gefahren heraufziehen könnten, oder wenn der Nuklearwaffenkomplex zeitnah auf technische Probleme im Arsenal reagieren kann, dann können wir auch die Anzahl nicht-stationierter Sprengköpfe weiter verringern.“11 Diese Zielvorgabe macht den Anspruch, Atomwaffen schrittweise weiter abzurüsten, ganz offensichtlich zu Makulatur.

Der NNSA-Chef erklärte die Funktion der »reaktiven Infrastruktur« genauer: „Der momentane Atomwaffenkomplex wurde in den 1950ern und ’60ern für den Kalten Krieg aufgebaut. Wenn wir diese Infrastruktur nicht verbessern, kann sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden. Im Nuclear Posture Review12 [Überprüfung des Nuklearwaffendispositivs] von 2001 wurde ausgeführt, dass wir uns auf ein kleineres nukleares Abschreckungspotential zu bewegen, das leistungsfähiger ist und besser geeignet, auf die veränderliche Anforderungen zu reagieren. Unser Plan Complex 2030… bringt die NNSA auf einen Weg, der es uns ermöglicht, diese notwendigen nationalen Sicherheitsziele zu erreichen… Kurzum, ich sehe eine zukünftige Welt, in der ein kleineres, sichereres, verlässlicheres und zuverlässigeres Arsenal untermauert wird durch robuste industrielle und Entwicklungskapazitäten, mit denen wir besser auf veränderliche technische, geopolitische oder militärische Anforderungen reagieren können.“13

Bestandsicherung – ein Erbe aus der Ära Clinton

Unter Verweis auf die Zusage, die die Vereinigten Staaten bei der unbeschränkten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages im Frühling 1995 machten, gab Präsident Clinton im August desselben Jahres bekannt, dass er den Abschluss eines umfassenden Teststoppvertrages bis 1996 befürworte, um „die Gefahr einer Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verringern“.14 Gleichzeitig erklärte er die Absicht der USA, „im Rahmen unserer nationalen Sicherheitsstrategie“ die „strategischen Nuklearstreitkräfte aufrecht zu erhalten… In diesem Zusammenhang,“ sagte er, „ist die Aufrechterhaltung eines sicheren und zuverlässigen Atomwaffenarsenals im übergeordneten nationalen Interesse der Vereinigten Staaten.“ Clinton befürwortete energisch das Science Based Stockpile Stewardship-Programm der Nuklearwaffenlaboratorien (wissenschaftliches Bestandsicherungsprogramm) zur Aufrechterhaltung des »nuklearen Abschreckungspotentials« ohne weitere Atomwaffentests.

Etwa zehn Jahre später, im Oktober 2006, ließ die NNSA verlauten, sie plane eine Umweltverträglichkeitsstudie für Complex 2030 als Ergänzung zu der Umweltverträglichkeitsstudie, die 1996 bereits für das Stopckpile Stewardship-Programm erstellt worden war. Das Umweltschutzgesetz der USA schreibt vor, das in der Startphase einer Umweltverträglichkeitsprüfung die Öffentlichkeit zum Umfang (scope) der Studie angehört wird und dass bei der Prüfung »angemessene Alternativen« zu berücksichtigen sind. Folglich finden im Winter 2006/7 in Dutzenden von Gemeinden, die in der Nähe von Nuklearwaffenanlagen liegen, sowie in Washington D.C. sogenannte scoping meetings statt. Laut der Notice of Intent (Absichtserklärung), die im US-amerikanischen Bundesgesetzblatt abgedruckt wurde, soll die Umweltverträglichkeitsstudie „analysieren, wie sich die anhaltende Transformation des Nuklearwaffenkomplexes der USA auf die Umwelt auswirkt, wenn die Vision der NNSA für den Komplex bis zum Jahr 2030 … bzw. Alternativen umgesetzt würden.“15 Zum Planungsszenario von Complex 2030 gehören u.a. vier langfristig ausgelegte Strategieelemente, die diese Version so buchstabieren:

„(1) In Partnerschaft mit dem Verteidigungsministerium das Nuklearwaffenarsenal transformieren durch Entwicklung von Reliable Replacement Warheads, Überholung einer begrenzten Anzahl vorhandener Waffentypen und beschleunigte Demontage des Arsenals aus dem Kalten Krieg;

(2) Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen;

(3) einen vollständig integrierten und interdependenten Nuklearwaffenkomplex gestalten; und

(4) die wissenschaftliche und technologische Basis vorantreiben, die für nationale Sicherheit langfristig unabdingbar ist. Diese Strategien werden durch kurzfristige Maßnahmen ergänzt, um Vertrauen in den Transformationsprozess aufzubauen.“ 16

Und genau diese Aufgaben wurden auch schon mit Stockpile Stewardship angegangen. Der Haushaltsplan der NNSA für das Finanzjahr 200717 listet »Life Extension Programs« auf, also Programme zur Verlängerung der Lebenszeit von Sprengköpfen, um ein zuverlässiges Nuklearwaffenarsenal für die nächsten Jahrzehnte zu gewährleisten. Betroffen sind die Fliegerbombe B61,18 der Sprengkörper W76 für U-Boot-gestützte Raketen und der Atomsprengkopf W80 für Marschflugkörper.19

Bei der Aufstellung des Haushalts orientierte sich die NNSA am Nuclear Posture Review von 2001. Als Teile des geheimen Dokuments im Frühjahr 2002 über die New York Times an die Öffentlichkeit drangen, taten Rüstungskontrollexperten die dort aufgelisteten Vorhaben noch als »Wunschzettel« ab. Jetzt aber ist der Aufbau einer „Nuklearwaffeninfrastruktur, die sich an künftige Anforderungen anpassen kann“, erklärtes Ziel – diese Formulierung wird im Haushaltsplan 2007 wie in Complex 2030 verwendet – und im Budget werden die Mittel für das RRW-Programm erhöht. Das RRW-Programm sieht die Neuentwicklung von buchstäblich jeder einzelnen Sprengkopfkomponente vor, wahrscheinlich auch des »physics package«, also der Plutoniumhohlkugel (Plutoniumkern). Es ist nicht geplant, die neuen Nuklearsprengköpfe zu testen; um aber für alle Fälle gerüstet zu sein, sieht das Budget Mittel für die Betriebsbereitschaft des Atomtestgeländes in der Wüste von Nevada vor.

Überdies sind in den Haushalt Gelder eingestellt, um bis 2007 den Nachweis zu erbringen, dass die USA weiterhin Tritium produzieren können. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop, ist das »H« in der H-Bombe. Und tatsächlich: Am 4. Dezember 2006 ließ die NNSA verlauten, dass in der Atomfabrik von Savannah River Site (South Carolina) eine neue Anlage zur Extraktion von Tritium „den Betrieb aufgenommen hat, so dass jetzt Tritium aus Targets gewonnen werden kann und eine nachhaltige Tritiumversorgung für das Nuklearwaffenarsenal der Nation sichergestellt ist.“20 Somit werden in den USA jetzt wieder Tritium und Plutoniumkerne gefertigt, nachdem aus Umwelt- und Gesundheitserwägungen die Produktion 1988 (Tritium) bzw. 1989 (Plutoniumkerne) eingestellt worden war.

Geht es wirklich um Plutoniumkerne?

Das Nuklearlabor von Los Alamos ließ im April 2003 verlauten, es habe zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder einen Plutoniumkern gefertigt, der den Spezifikationen für das Arsenal der USA entspricht. Dabei handelte es sich um einen W88-Sprengkopf mit 475 Kilotonnen Sprengkraft21 für eine U-Boot-gestützte Tridentrakete, laut Presseerklärung ein „Eckpfeiler des nuklearen Abschreckungspotentials der USA.“22 Jetzt will die NNSA die Fertigungsrate von Los Alamos auf 30-40 neue Plutoniumkerne pro Jahr erhöhen. In ihrem Haushaltsplan für 2007 erklärt die NNSA, dass für die nächsten fünf Jahre Mittel vorgesehen sind, um „die Fertigungskapazität des LANL oder einer langfristigen Fertigungsanlage zu erhöhen.“ Daneben steigen die Mittel für die Fertigung und Zertifizierung von Plutoniumkernen im Livermore Lab.23 Dabei lagern in der Montage- und Demontageanlage Pantex in Texas nach wie vor mehr als 12.000 Plutoniumkerne aus demontierten Atomwaffen, die jederzeit wieder zum Einsatz kommen können.24

Das Labor von Los Alamos ist einer von fünf Standorten, die im Complex 2030 in Frage kommen als »konsolidiertes Plutoniumzentrum« für die längerfristige Forschung, Entwicklung, Kontrolle und Fertigung von Plutoniumkernen, wobei eine Kapazität von 125 »qualifizierten« Kernen pro Jahr angestrebt wird. Die Notice of Intent zur oben bereits erwähnten Umweltverträglichkeitsstudie sieht noch weitere Handlungsfelder vor, um die „Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen“ zu können, darunter die Konsolidierung redundanter Anlagen und Programme, um so die »Betriebseffektivität« von Tritiumforschung und -entwicklung ebenso zu verbessern wie Sprengstofftests und die Nuklearmateriallagerung. Zu den weiteren Prioritäten auf der Liste gehört die Suche nach Gelände für gemeinsame Flugtests, in denen „für vorhandene und künftige frei fallende Bomben die Hardware der NNSA und des Verteidigungsministeriums auf Schnittstellenkompatibilität gestestet wird“25 sowie für die beschleunigte Demontage nicht mehr benötigter Nuklearsprengköpfe. Mit anderen Worten: weniger, aber neuere Atomwaffen bis zum Ende aller Zeiten. Übrigens: Die »Alternative: Keine Aktion« der Umweltverträglichkeitsstudie sieht laut Notice of Intent „den Status Quo von heute vor und ist bereits in Planung.“ Auch bei einer negativen Beurteilung von Complex 2030 ist also kein Ende der Nuklearbewaffnung in Sicht.

Damit noch immer nicht genug. Das Pentagon und seine Subunternehmer drängen zusätzlich zur o.g. Runderneuerung der Nuklearwaffen auch auf die Entwicklung einer neuen Generation weitreichender Trägersysteme, wahlweise für konventionelle oder nukleare Bewaffnung. Solche Systeme, mit denen die USA vor allem ihre deutliche Überlegenheit bei der konventionellen Rüstung ausbauen wollen, könnten sich auf lange Sicht als noch gefährlicher erweisen als die beabsichtige Modernisierung nuklearer Sprengköpfe.26

Im November 2006 erregten die Ergebnisse einer Regierungsstudie zum Alterungsverhalten von Plutonium erhebliches Aufsehen. Die Studie wurde von Nuklearwissenschaftlern der Laboratorien von Livermore und Los Alamos durchgeführt und von der unabhängigen JASON-Gruppe überprüft und kam zu dem Schluss, dass Plutoniumkerne viel langsamer altern als gedacht. Die Experten fanden heraus, dass das Plutonium im Kernwaffenarsenal der USA bis zu 100 Jahre lang nutzbar sei – das ist mehr als doppelt so lange wie bisher angenommen. Einige Kritiker von Complex 2030 folgerten, damit sei „bewiesen“, dass die neuen Fertigungsanlagen und -konzepte für Plutoniumkerne „vollkommen unnötig“ seien.27 Ganz anders die demokratische Kongressabgeordnete des Wahlkreises vom Livermore Lab, für die das Alterungsverhalten von Plutonium nur ein Nebenaspekt ist, der die Entscheidung über das RRW-Programm nicht beeinflussen sollte. Letzteres beschrieb sie als „eine Gelegenheit zur Verjüngung des Komplexes“ und als Chance, die „cleversten Wissenschaftler der Welt“ an die Waffenlabors zu holen.28 Kaum überraschend also, dass die NNSA zwei Tage später bekannte, das RRW-Programm sei die beste Strategie „um das Nuklearwaffenarsenal der Nation auf lange Sicht ohne unterirdische Atomwaffentests aufrecht zu erhalten.“29

Die einzige sinnvolle Alternative: nukleare Abrüstung

Es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, dass das vorhandene Atomwaffenarsenal nicht »einsetzbar« sei. Ein Planungsdokument aus dem US-Verteidigungsministerium vom August 2006 belehrt uns da eines Besseren:

„Im Global Strike-Konzept30 tragen die Nuklearstreitkräfte der USA einzigartig und grundlegend zur Abschreckung bei… Atomwaffen bieten dem Präsidenten das ultimative Mittel, einen Konflikt innerhalb kürzester Zeit zu beenden, und zwar zu Bedingungen, die für die USA vorteilhaft sind… Atomwaffen drohen mit der Zerstörung der Anlagen, die für ihn den größten Stellenwert genießen, darunter seine Massenvernichtungswaffen, kritischen Industrieanlagen, Schlüsselrohstoffe sowie die Einrichtungen zur politischen Organisation und Kontrolle (einschließlich der gegnerischen Führerclique selbst). Dies schließt die Zerstörung solcher Ziele ein, die konventionellen Angriffen standhalten könnten, z.B. tief und hart verbunkerte Anlagen, Ziele mit ungenauen Positionsangaben, usw. Atomwaffen erschüttern das Vertrauen der gegnerischen Entscheidungsträger, dass sie die Kriegseskalation selbst kontrollieren könnten.“31

Die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals für weitere hundert Jahre, sei es nun in der Form vorhandener oder neuer Waffen, vom einzigen Land, das bislang je Atomwaffen einsetzte, ist eine unannehmbare und ungesetzliche Alternative. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von den Zwängen spitzfindiger technischer Argumente zur »Notwendigkeit« austauschbarer Atomsprengköpfe befreien und statt dessen die einzige vernünftige Alternative einfordern: nukleare Abrüstung. Die Vereinigten Staaten sollten gemäß ihrer Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag bis spätestens zum Jahr 2030 ihr vollständiges Atomwaffenarsenal beseitigen. Dazu sollten sie wie bei Vertragsbeitritt versprochen schleunigst Verhandlungen in Gang bringen „über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Anmerkungen

1) Die National Nuclear Security Administration (NNSA) wurde im Jahr 2000 als neue Behörde im US-Energieministerium gegründet. Dies geschah als Reaktion auf das Mandat des US-Kongresses, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern.“ Zitiert nach: Office of Defense Programs, National Nuclear Security Administration und U.S. Department of Energy, Complex 2030. An Infrastructure Planning Scenario for a Nuclear Weapons Complex Able to Meet the Threats of the 21st Century. »Getting the Job Done«, 23. Okt. 2006; www.complex2030peis.com/Complex%202030%20-%20October%2023%202006.pdf.

2) Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag) vom 1. Juli 1968, in Kraft getreten 1970; http://www.atomwaffena-z.info/pdf/NPT-Vertrag.pdf.

3) U.S. Department of Energy: Strategic Plan, 2. Okt. 2006, S.6; www.doe.gov/media/2006_DOE_Strategic_Plan.pdf.

4) Stephen I. Schwartz: Nukes: Betcha Can’t Make Just One!, 27. Juli 2006; www.defensetech.org/archives/002613.html.

5) Office of the Deputy Assistant to the Secretary of Defense for Nuclear Matters: Stockpile Transformation, undatiert; www.acq.osd.mil/ncbdp/nm/stockpiletransformation.html.

6) Thomas P. D’Agostino, Deputy Administrator for Defense Programs, National Nuclear Security Administration: Statement Before the House Armed Services Committee Subcommittee on Strategic Forces, 5. April 2006, S.9; www.nnsa.doe.gov/docs/congressional/2006/2006-04-05_HASC_Transformation_Hearing_Statement_(DAgostino).pdf. D.Ü.: Am 6. Jan. 2007 meldete die New York Times, dass US-Präsident Bush innerhalb weniger Tage seine Entscheidung bekannt geben werde, die vermutlich vorsieht, dass die jeweiligen Stärken der beiden Entwürfe zu einem gänzlich neuen Entwurf verarbeitet werden sollen.

7) Future of the Nuclear Weapons Complex, undatiert; www.nnsa.doe.gov/docs/Future_of_the_Nuclear_Weapons_Complex.pdf.

8) Ibid.

9) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program; Modernizing the Nuclear Weapons Complex Today to Make it More Responsive to the Challenges of Tomorrow, Mai 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/factsheets/2006/NA-06_FS03.pdf.

10) Ambassador Linton F. Brooks, Administrator, National Nuclear Security Administration: Speech to the East Tennessee Economic Council, 3. März 2006, S.4; www.nnsa.doe.gov/docs/speeches/2006/speech_Brooks_East-Tenn-Economic-Counil-03March06.pdf . D.Ü: Am 4. Jan. 2007 gab US-Energieminister Samuel Bodman bekannt, dass er Linton Brooks wegen schwerwiegender Sicherheitsmängel in Los Alamos zum Rücktritt aufgefordert habe. Nachfolger von Brooks wird Thomas D’Agostino.

11) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program, op.cit. D.Ü.: Nicht stationierte Sprengköpfe im Arsenal zählen zur sog. Reserve.

12) D.Ü.: Der Nuclear Posture Review vom 31. Dezember 2001 unterliegt weiterhin der Geheimhaltung. Im März 2002 kamen aber wesentliche Teile des Dokuments über die New York Times an die Öffentlichkeit und sind seither im Internet zugänglich: www.globalsecurity.org/wmd/library/policy/dod/npr.htm.

13) Presseerklärung, 28. Juni 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-06-28_NA-06-20.htm.

14) The White House, Office of the Press Secretary: Statement by the President: Comprehensive Test Ban Treaty, 11. Aug. 1995.

15) U.S. Department of Energy: Notice of Intent to Prepare a Supplement to the Stockpile Stewardship and Management Programmatic Environmental Impact Statement – Complex 2030, Federal Register (Bundesgesetzblatt), Vol. 71, No. 202, 19. Okt. 2006, Notices, S.61731; www.complex2030peis.com/NOI%20Oct%2019%2006.pdf.

16) Complex 2030, op.cit., S.2.

17) Department of Energy: www.mbe.doe.gov/budget/07budget/Content/Volumes/Vol_1_NNSA.pdf.

18) D.Ü.: B61 ist der in Deutschland und anderen europäischen Ländern stationierte US-Atombombentyp.

19) Das »Stockpile Life Extension Program« dient der Verlängerung der Lebensdauer des bestehenden Atomwaffenarsenals der USA. Dazu werden potentielle technische Probleme identifiziert und behoben sowie in jeder Waffe bestimmte Komponenten ausgetauscht. Außerdem sollen vorhandene Waffen neue oder verbesserte Funktionalitäten erhalten. So wird z.B. ein Subsystem im Wiedereintrittskörper (Gehäuse) des Sprengkopftyps W76 so verändert, dass die Waffe mit einer »Bodenexplosion« auch »gehärtete Ziele« zerstören kann. Der W76 ist der erste Sprengkopftyp, der im Rahmen des RRW-Programms umkonstruiert wird. Am Ende sollen komplett neue Sprengkopfvarianten gefertigt werden.

20) Presseerklärung, 4. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-04_NA-06-48.htm.

21) D.Ü.: Die Bombe von Hiroshima hatte etwa eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen (das entspricht 13.000 Tonnen TNT-Sprengstoff.)

22) Los Alamos National Laboratory: Presseerklärung, 22. April 2003; www.lanl.gov/news/releases/archive/03-054.shtml.

23) Alliance for Nuclear Accountability: Fact Sheet, 2006; www.ananuclear.org/dc_days06/PitProduction2006.pdf.

24) Robert S. Norris und Hans M. Kristensen: Global nuclear stockpiles, 1945-2006, Bulletin of the Atomic Scientists, Juli/August 2006 (vol. 62, no. 4), S.64-66; www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=ja06norris.

25) Joint Flight Test Program, Nov. 2006; www.complex2030peis.com/Flight%20Test%20Program.pdf.

26) Eine ausführliche Analyse der neuen Entwicklungen bei US-Trägersystemen und deren Konsequenzen siehe in: Andrew M. Lichterman: Missiles of Empire: America’s 21<^>st<^*> Century Global Legions, Western States Legal Foundation, Information Bulletin, Herbst 2003; www.wslfweb.org/docs/missiles03.pdf.

27) So argumentierte z.B. der AP-Korrespondent H. Josef Hebert: Study: Warhead plutonium long-lasting, 29. Nov. 2006; www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/n/a/2006/11/29/national/w161905S84.DTL.

28) Ian Hoffman: Report: Nukes not so rusty. Oakland Tribune, 29. Nov. 2006; www.insidebayarea.com/search/ci_4738283.

29) Presseerklärung, 1. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-01_NA-06-47.pdf.

30) D.Ü.: »Global Strike« ist ein US-Konzept, das die Möglichkeit vorsieht, innerhalb kürzester Zeit (etwa 30 Minuten) jeden Punkt auf der Erde angreifen zu können, u.a. mit unterschiedlichen Waffensystemen (Bomber, Raketen oder eine Art Weltraumflugzeug mit nuklearen, konventionellen oder auf anderen Wirkungsprinzipien basierenden Waffensystemen), Cyber-Operationen oder Sondereinsatzkommandos.

31) www.dtic.mil/futurejointwarfare/concepts/do_joc_v20.doc.

Jacqueline Cabasso ist Geschäftsführerin der Western States Legal Foundation in Kalifornien. Übersetzung – einschließlich der Zitate: Regina Hagen.

Die »Tempelwaffen«

Die »Tempelwaffen«

Israel: fünfstärkste Nuklearmacht

von Jürgen Rose

Zweifellos stellen Massenvernichtungswaffen eine existentielle Bedrohung dar. Folgerichtig räumen sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Europäische Union dem Kampf gegen diese Geißel der Menschheit in ihren jeweiligen Sicherheitsstrategien hohe Priorität ein. Umso mehr muss der äußerst selektive Umgang mit dieser Bedrohung irritieren. So finden die jeweils etwa 10.000 Atomsprengköpfe allein in den Arsenalen der USA und der Russischen Föderation kaum mehr Beachtung. Die Bush-Administration hat den Terminus »nukleare Rüstungskontrolle« aus ihrem Wortschatz getilgt, ganz zu schweigen von nuklearer Abrüstung. Mit den Bemühungen um Rüstungskontrolle auf dem Gebiet der chemischen und biologischen Waffen verhält es sich nicht anders – selbstredend nur, soweit die USA und ihre Verbündeten betroffen sind. Zu denen zählt auch Israel, das mit seinen »Tempelwaffen«1 mittlerweile zur fünfstärksten Nuklearmacht der Welt aufgestiegen ist.

Wurde zur Zeit des Kalten Krieges die US-Sicherheitspolitik noch von der Maxime bestimmt, was zählt sind Sprengköpfe, nicht Absichten, so gilt heute in Washington das Gegenteil: Von Bedeutung sind nicht vorhandene Kapazitäten, sondern Unterstellungen und Vermutungen über »das Böse« schlechthin. Die Quintessenz solch irrationaler und manichäischer Politik gipfelt darin, dass einerseits gegen virtuelle Massenvernichtungswaffen ein Präventivkrieg entfesselt, andererseits real existierenden Massenvernichtungswaffenpotentialen keine Beachtung geschenkt wird, auch wenn sie sich in Händen von Regierungen befinden, die sich nicht gerade durch eine friedliche und völkerrechtskonforme Außenpolitik hervortun. Auch Israel gibt in dieser Hinsicht Anlass zu größter Besorgnis, liegt dieser Staat doch im Brennpunkt des Nahost-Konflikts.

Das israelische Atomwaffenprogramm

Aus Gründen der Staatsraison hat Israel Produktion und Besitz von Massenvernichtungswaffen zwar niemals offiziell bestätigt und verfolgt diesbezüglich seine sogenannte »Politik der Ambiguität«. Indessen folgt aus in den vergangenen Jahrzehnten stetig in die Öffentlichkeit durchgesickerten geheimdienstlichen Erkenntnissen, politischen Indiskretionen, umfangreichen Forschungen wissenschaftlicher Institute und nicht zuletzt erfolgreichen Bemühungen investigativen Journalismus’, dass Israel über ein umfangreiches Nuklearwaffenpotential verfügt. Dieses umfasst klassische Kernspaltungs-, thermonukleare Fusions- sowie Neutronenwaffen – insgesamt schätzungsweise 400 bis 500 Sprengsätze, deren Gesamtsprengkraft auf etwa 50 Megatonnen geschätzt wird.2 Mit diesen sind Atomminen, Artilleriegranaten, Torpedos, Marschflugkörper, Raketen und Flugzeugbomben bestückt.3 Hergestellt werden die israelischen Nuklearwaffen seit 1962 in Dimona, wo sich das »Israelische Kernforschungszentrum« (Kirya Le‘Mechkar Gariini – KAMAG) befindet.4 Dort wird in dem mit französischer Hilfe errichteten EL-3 Atomreaktor, der eine Leistung von mindestens 150 Megawatt aufweist, das zur Nuklearwaffenproduktion benötigte Plutonium erbrütet. Daneben befinden sich dort Anreicherungsanlagen für waffenfähiges Uran sowie eine unterirdische Wiederaufbereitungsanlage zur Plutoniumextraktion. Die Konstruktion der Gefechtsköpfe erfolgt in zwei Forschungslaboren, nämlich beim Nuklearforschungszentrum Nachal Schurek (Merkaz Le‘mechkar Gari‘ini – MAMAG) und bei der »Abteilung 20« der Waffenentwicklungsbehörde (Rashut Le‘pituach Emtzaei Lechima – Rafael). Montiert werden die Atomsprengsätze in einer Nuklearfabrik in Jodfat. Getestet wurden die Kernwaffen mehrfach: Mitte der 60er Jahre in der Negev-Wüste nahe der israelisch-ägyptischen Grenze sowie im Rahmen französischer Versuche in Algerien, außerdem dreimal gemeinsam mit Südafrika in der Atmosphäre über dem Indischen Ozean, zuletzt am 22. September 1979, als ein amerikanischer VELA-Satellit die Detonation zufällig registrierte.5

Um die Nuklearwaffen zum Einsatz bringen zu können, verfügt die »Israeli Defense Force« über ein breites Spektrum von Trägersystemen, das die gesamte Triade aus land-, luft- und seegestützten Waffenplattformen umfasst.6 So dienen amerikanische Artilleriegeschütze (175 mm M-107 und 203 mm M-110) für den Gefechtsfeldeinsatz. Im Kurzstreckenbereich verfügt Israel seit 1976 über US-Raketenartilleriesysteme MGM-52 C Lance, die eine Reichweite von rund 130 Kilometern haben. Über große Distanzen hinweg können unterschiedliche Typen von Boden-Boden-Raketen eingesetzt werden. Die YA-1 Jericho I hat eine Reichweite von 500 Kilometern.7 Etwa 50 dieser Raketen sind in Silos bei Kfar Zekharya, rund 45 Kilometer südöstlich von Tel Aviv disloziert. Die YA-3 Jericho II ist eine Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von bis zu 1.800 Kilometern. Ihre Gefechtsköpfe sollen eine Sprengkraft von 20 Kilotonnen besitzen und mit einer radargesteuerten Endphasenlenkung nach dem Muster der US-amerikanischen Pershing II präzise ins Ziel gebracht werden können.8 Ebenfalls etwa 50 Raketen sind auf mobilen Werferfahrzeugen in den Kalkhöhlen bei Kfar Zekharya untergebracht. Darüber hinaus produziert Israel die auf der Jericho basierende dreistufige Trägerrakete Shavit, mit der seit 1988 mehrere Ofek-Aufklärungssatelliten auf eine Erdumlaufbahn geschossen wurden. Die Shavit ließe sich mit geringem konstruktivem Aufwand zu einer Interkontinentalrakete von über 7.000 Kilometern Reichweite modifizieren.9

Sehr flexibel kann die israelische Luftwaffe Nuklearwaffen mit diversen Kampfflugzeugen, deren Reichweite sich mittels Luftbetankung nahezu beliebig vergrößern lässt, einsetzen.10 Diese wurden von den USA geliefert und von der hochentwickelten israelischen Rüstungsindustrie teilweise erheblich kampfwertgesteigert. Für nukleare Missionen infrage kommen primär die F-16 Fighting Falcon, deren modernste Version F-16I seit letztem Jahr zuläuft, sowie die F-15I Ra’am, die ab 1998 in Dienst gestellt wurde. Letztere hat ohne Luftbetankung einen Einsatzradius von etwa 5.500 Kilometern und ist mit modernsten Navigations- und Zielerfassungssystemen ausgerüstet. Nuklearwaffenfähige Jagdbomber sollen auf den Fliegerhorsten Tel Nof, Nevatim, Ramon, Ramat-David, Hatzor und Hatzerim stationiert sein, einige von ihnen mit Atombomben beladen rund um die Uhr zum Alarmstart in Bereitschaft gehalten werden.11

Seit 2003 besitzt auch die israelische Kriegsmarine die Fähigkeit zum Nuklearwaffeneinsatz. Als Plattform dienen drei von Deutschland in den Jahren 1999 und 2000 gelieferte Dolphin U-Boote im Gesamtwert von rund 655 Mill. Euro, nahezu komplett vom deutschen Steuerzahler finanziert.12 Diese sind mit Marschflugkörpern (Bezeichnung Popeye Turbo II bzw. Deliah) bestückt, deren Reichweite nach Beobachtungen der U.S. Navy im Verlaufe von Flugkörpertests vor Sri Lanka im Mai 2000 mindestens 1.500 Kilometer beträgt.13 Entwickelt wurden diese Marschflugkörper entweder eigenständig von der israelischen Rüstungsindustrie oder mit diskreter ausländischer Hilfe. Mit welchem Nachdruck Israel seine Aufrüstung auf dem maritimen Sektor betreibt, ließ sich dem Jerusalem-Besuch von Verteidigungsminister Struck Anfang Juni 2004 entnehmen, als der Wunsch nach der Lieferung zweier weiterer U-Boote der Klasse 212A – ausgestattet mit dem weltweit einmaligen Brennstoffzellenantrieb neuester Technologie, der es ermöglicht, ähnlich wie ein strategisches Atom-U-Boot lautlos und wochenlang getaucht zu operieren (!) – laut wurde.

Auch B- und C-Waffen im Arsenal

Neben atomaren komplettieren biologische und chemische Waffen das israelische Potential an Massenvernichtungswaffen. Aufgrund akribischer Geheimhaltung sind die Informationen hierüber indessen sehr spärlich.14 Eine im Auftrag des US-Kongresses angefertigte Studie des »Office for Technology Assessment (OTA)« subsumiert Israel unter diejenigen Staaten, die „nach allgemeiner Auffassung inoffizielle Potentiale zur chemischen Kriegführung besitzen“ und „nach allgemeiner Auffassung ein inoffizielles Programm zur Herstellung von biologischen Waffen durchführen.“15 Als gesichert gilt, dass sich in Nes Ziona südlich von Tel Aviv das israelische Institut für biologische Forschung (IIBR) befindet, dessen Aktivitäten ein hoher israelischer Geheimdienstmitarbeiter mit den Worten beschreibt: „Es gibt wohl keine einzige bekannte oder unbekannte Form chemischer oder biologischer Waffen …die im Biologischen Institut Nes Ziona nicht erzeugt würde.“16 Darüber hinaus wird vermutet, dass israelische Wissenschaftler dort seit den 90er Jahren unter Nutzung von Forschungsergebnissen aus Südafrika an einer sogenannten »Ethno-Bombe« arbeiten.17 Bei dieser Entwicklung wird versucht, Ergebnisse der Genforschung zur Identifizierung eines spezifischen Gens zu nutzen, das ausschließlich Araber tragen. Ist dies gelungen, ließen sich mit Hilfe der Gentechnik tödliche Bakterien oder Viren herstellen, die nur Menschen mit diesen Genen attackieren.

Chemische Waffen, unter anderem die Nervengase wie Tabun, Sarin und VX, werden in einer unterirdischen Produktionsstätte im Nuklearforschungszentrum Dimona hergestellt.18 Die indirekte Bestätigung für israelische C-Waffen-Programme lieferte der Absturz einer EL AL Frachtmaschine auf dem Amsterdamer Flughafen am 4. Oktober 1992, bei dem mindestens 47 Menschen ums Leben kamen und mehrere Hundert Menschen sofort oder verzögert an mysteriösen Leiden erkrankten. Ein Untersuchungsbericht von 1998 erbrachte die Erkenntnis, dass die Maschine Chemikalien an Bord hatte, darunter 227,5 Liter Dimethylmethylphosphonate (DMMP).19 Diese Menge genügt, um 270 kg Sarin herzustellen. Das DMMP war im Übrigen von der Firma Solkatronic Chemicals Inc. aus Morrisville in Pennsylvania geliefert worden – ein Indiz dafür, dass es US-Unternehmen gab, die es verstanden, am Geschäft mit den Massenvernichtungswaffen in Nahen Osten mehrfach zu verdienen: Durch Lieferungen in den Irak während des ersten Golfkrieges zwischen 1980 und 1988 – und an die israelische Armee.

Im Gleichklang mit der Entwicklung des israelischen Arsenals an Massenvernichtungswaffen vollzog sich die Evolution der Strategie zu deren Gebrauch.20 Den Ausgangspunkt für die Entscheidung zur Entwicklung der Massenvernichtungswaffen bildete die Überlegung, dass nur diese das absolute und endgültige Abschreckungsmittel gegenüber der arabischen Bedrohung darstellten. Nur mit deren Hilfe konnten vorgeblich die Araber dazu gebracht werden, alle Pläne für eine militärische Eroberung Israels fallen zu lassen und einem Friedensvertrag zu israelischen Konditionen zuzustimmen. Insbesondere die Nuklearwaffen sollten als ultima ratio sicherstellen, dass es nie wieder zu einem Massaker am jüdischen Volk kommen würde. Als symbolische Metapher hierfür diente die »Samson-Option«.21 Diese rekurriert auf einen biblischen Mythos. Demzufolge war Samson nach blutigem Kampf von den Philistern gefangen genommen worden. Sie stachen ihm die Augen aus und stellten ihn in Dagons Tempel in Gaza öffentlich zur Schau. Samson bat Gott, ihm ein letztes Mal Kraft zu geben, und rief: „Ich will sterben mit den Philistern!“ Er schob die Säulen des Tempels beiseite, das Dach stürzte ein und begrub ihn und seine Feinde unter sich. Treffenderweise truagen die israelischen Nuklearwaffen daher den Decknamen »Tempelwaffen«.

A-Waffen-Einsatz mehrfach erwogen

Mindestens viermal hat die israelische Regierung ernsthaft den Einsatz dieser Waffen erwogen:22

  • Während des 6-Tage-Krieges im Juni 1967 hatte Israel die beiden ersten Uran-Atombomben für den Fall zum Einsatz vorbereitet, dass der Erfolg des konventionell geführten Präventivkrieges gegen seine arabischen Nachbarn ausgeblieben wäre.
  • Während des Yom-Kippur-Kriegs wurde von der israelischen Regierung ein Nuklearwaffenangriff nicht nur erwogen, sondern am 8. Oktober 1973 tatsächlich der Befehl erteilt, 13 Atomwaffen für den Einsatz gegen die militärischen Hauptquartiere der Angreifer in Kairo und Damaskus scharf zu machen, nachdem Verteidigungsminister Moshe Dayan den Zusammenbruch der israelischen Defensivoperationen im Zweifrontenkrieg prognostiziert hatte. Mit dieser nuklearen Mobilmachung gelang es der israelischen Regierung unter Golda Meir, zum einen von den USA massive Nachschublieferungen an Munition und Rüstungsmaterial zu erpressen. Zum anderen entfaltete die nukleare Abschreckung gegenüber Ägypten und Syrien ihre Wirkung, die in der Folge mit ihren Panzertruppen nicht weiter vormarschierten. Nachdem am 14. Oktober die nukleare Alarmbereitschaft zunächst aufgehoben worden war, machten die Israelis wenige Tage später erneut ihre Atomwaffen scharf, nachdem die US-Regierung ihr Strategisches Bomberkommando in Alarmbereitschaft versetzt hatte, um die Sowjetunion von einer Intervention in den Krieg abzuhalten. Die Krise endete erst, als die Kampfhandlungen mit Inkrafttreten eines Waffenstillstandes eingestellt wurden.
  • Während des Angriffes auf den Libanon 1982 (Operation Oranim) schlug der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon vor, man solle Syrien mit Nuklearwaffen angreifen.
  • Als am 18. Januar 1991 die irakischen Streitkräfte im Golfkrieg erstmals Al Hussein-Raketen auf Israel abfeuerten, wurde das israelische Militär inklusive der Nuklearstreitkräfte in volle Gefechtsbereitschaft versetzt. Für den Fall eines irakischen Angriffs mit chemischen oder biologischen Gefechtsköpfen existierte eine unverhüllte nukleare Gegenschlagsdrohung Israels.

Israel nutzt sein Atomwaffenarsenal indes nicht nur im Kontext der Abschreckung oder der direkten Kriegführung, sondern hat jenes unter dem Rubrum »Nonconventional Compellence« untrennbar in seine allgemeine militärische und politische Strategie integriert. Schimon Peres – einer der entscheidenden Drahtzieher des israelischen Massenvernichtungswaffenprogramms – charakterisierte dieses Konzept mit den Worten: „Ein überlegenes Waffensystem zu beschaffen, bedeutet die Möglichkeit, es für die Ausübung von Druck zu nutzen – das heißt die andere Seite zu zwingen, Israels Forderungen zu akzeptieren, was wahrscheinlich die Forderung einschließt, dass der traditionelle Status quo akzeptiert und ein Friedensvertrag unterzeichnet wird.“23 Darüber hinaus garantiert das Nuklearwaffenpotential die uneingeschränkte Unterstützung des amerikanischen Verbündeten einerseits und verhindert eine unangemessene Parteinahme Europas zugunsten der arabisch-palästinensischen Position andererseits. Sehr aufschlussreich diesbezüglich sind die Ausführungen des israelisch-niederländischen Militärhistorikers Martin van Creveld, Professor an der hebräischen Universität in Jerusalem, Anfang letzten Jahres. Dieser merkt in einem Interview mit dem niederländischen Magazin ELSEVIER zu der hinter dem aktuellen Teilrückzugsplan des israelischen Premierministers Ariel Scharon steckenden Strategie an, dass diese darauf abzielt, eine unüberwindliche Mauer um Israel zu errichten und die Palästinenser außerhalb der israelischen Grenzen zu halten. Scharons Plan bedeute in letzter Konsequenz, dass alle Palästinenser aus der dann errichteten »Festung Israel« deportiert würden. Auf die Frage, ob die Welt eine derartige ethnische Säuberung zulassen würde, antwortet van Creveld: „Das liegt daran, wer es macht und wie schnell es geht. Wir haben einige Hundert von Atomsprengkörpern und Raketen und können sie auf Ziele überall werfen, vielleicht selbst auf Rom. Mit Flugzeugen sind die meisten europäischen Hauptstädte ein Ziel.“24

Die von van Creveld vertretene Position mag extrem erscheinen, aber da sich die israelische Gesellschaft mehr und mehr polarisiert, wird der Einfluss der radikalen Rechten stärker. Gerade aus deren Reihen rekrutiert der israelische Sicherheitsapparat zunehmend seine Mitarbeiter. Es lässt sich daher keineswegs ausschließen, dass Gush Emunim oder einige säkulare rechte israelische Fanatiker oder einige wahnsinnige israelische Armeegeneräle die Kontrolle über die israelischen Nuklearwaffen bekommen.25 So wird beispielsweise der pensionierte Stabschef der Israeli Defense Force, Lieutenant General Amnon Shahak, mit den Worten zitiert: „All methods are acceptable in withholding nuclear capabilities from an Arab state.“26 Sekundiert wird er hierbei von Israels Oppositionsführer Schimon Peres, der in Bezug auf das angebliche Nuklearwaffenprogramm Irans propagiert: „Es bleiben drei Optionen, um den Iran von der Erreichung seiner nuklearen Ambitionen abzuhalten: politischer Druck, ökonomische Sanktionen und militärisches Eingreifen.“27 Bezeichnenderweise keine Rede ist von Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen wie sie sich während des Kalten Krieges und in anderen Regionen dieser Welt ja durchaus bewährt haben. Zwar wurde während der Nahost-Konferenz von Madrid im Anschluss an den Golfkrieg von 1991 auch eine Arbeitsgruppe »Arms Control and Regional Security (ACRS)« installiert. Diese tagte indes 1995 das letzte Mal und hatte nach vier Jahren keinerlei greifbare Ergebnisse gebracht. Ursache hierfür war die strikte Weigerung Israels, die nukleare Frage auf die Tagesordnung zu setzen – denn nach dessen Auffassung setzt jegliche Einschränkung der israelischen Nuklearfähigkeit (und erst Recht ein Verzicht darauf) eine umfassende und erprobte Friedensregelung in der Region voraus.28 Konsequenterweise straft die israelische Regierung auch die jahrelange Resolutionspraxis der UN-Generalversammlung zum Risiko der nuklearen Proliferation im Mittleren Osten sowie zur Schaffung einer nuklearwaffenfreien Zone in dieser Region ebenso mit Verachtung wie die einschlägigen Resolutionen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Angesichts israelischer Intransigenz sieht die Prognose düster aus: „Beim gegenwärtigen Stand der Dinge in Nahost scheint es illusionär, auf Verhandlungen allein zu setzen, wenn es darum geht, Waffen bei den zum Waffenbesitz legitimierten Staaten und Streitkräften zu monopolisieren. Das gilt für Kleinwaffen ebenso wie für Massenvernichtungswaffen.“29 In Anbetracht der brisanten Zuspitzung des Palästina-Konfliktes reicht es nicht, wenn sich Europa über nicht vorhandene oder allenfalls marginal einsatzfähige Massenvernichtungswaffen in der islamischen Welt sorgt, es muss sich vielmehr mit dem real existierenden und in Verbindung mit einer brandgefährlichen Militärstrategie operativ jederzeit einsetzbaren Massenvernichtungspotential eines Staates befassen, welcher der Weltgemeinschaft permanent demonstriert, dass er, wenn es um seine reale oder vermeintliche Sicherheit geht, jederzeit bereit ist, Völkerrecht und Menschenrechte zu mißachten.

Anmerkungen

1) Diese Tarnbezeichnung für die israelischen Nuklearwaffen nennt Seymour M. Hersh in seiner nach wie vor unverzichtbaren Abhandlung: Atommacht Israel. Das geheime Vernichtungspotential im Nahen Osten, München 1991, S. 233. Sehr aufschlussreich ist auch die Analyse von Lieutenant ColonelWarner D. Farr, U.S. Army: The Third Temple‘s Holy of Holies: Israel‘s Nuclear Weapons, Counterproliferation Paper No. 2, USAF Counterproliferation Center, Air War College, Air University, Maxwell Air Force Base, Alabama, September 1999; im Internet unter: http://www.au.af.mil/au/awc/awcgate/cpc-pubs/farr.htm (29.08.2004).

2) Vgl. Sammonds, Neil: Israel: die vergessenen Massenvernichtungswaffen; im Internet unter: http://www.kritische-stimme.de/Vermischtes/greenleft_waffen.htm (27.08.2004); Mellenthin, Knut: Israel rüstet deutsche U-Boote mit Atomraketen aus. Ein Spiegel-Bericht, ein Dementi und ein Hintergrundartikel; im Internet unter: http://uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/u-boote.html (27.08.2004) sowie Steinbach, John: Israels Massenvernichtungswaffen: eine Bedrohung des Friedens; im Internet unter: http://www.antikriegsforum-heidelberg.de/palest/frameset.htm (27.08.2004); englisches Original: ders.: Israeli Weapons of Mass Destruction: a Threat to Peace, Centre for Research on Globalisation (CRG), 3 March 2002; im Internet unter: http://www.globalresearch.ca/articles/STE203A.html (27.08.2004).

3) Vgl. Gerhard Piper: antimilitarismus information: Israels Atomstreitkräfte; im Internet unter: http://userpage.fu-berlin.de/~ami/ausgaben/2001/3-01_2.htm (27.08.2004);Steinbach, John: a. a. O.; Norris, Robert S./Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M./Handler, Joshua: Nuclear Notebook – Israeli nuclear forces, 2002, in: Bulletin of the Atomic Scientists, September/October 2002, S. 73ff sowie Hough, Harold: Israel reviews its nuclear deterrent, in: Jane’s Intelligence Review, November 1998, S. 11ff.

4) Zum Nuklearkomplex von Dimona und Umgebung vgl. Gerhard Piper: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O.; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O.; Duval, Marcel: Einem Geheimnis auf der Spur: die israelische Atombombe, in: Défense Nationale, April 1998, S. 91 – 102 sowie sehr detailliert Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 204ff.

5) Vgl. Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 281ff.; Farr, Warner D.: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O. sowie Gerhard Piper: a. a. O.

6) Zu den diversen Trägersystemen vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O.; Hough, Harold: a. a. O., Duval, Marcel: a. a. O. sowie Steinbach, John: a. a. O.

7) Vgl. Federation of American Scientists: Israel Special Weapons Guide (created by John Pike, maintained by Steven Aftergood, updated August 2, 2004); im Internet unter: http:// www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/jericho-1.htm (27.08.2004).

8) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 74; Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/jericho-2.htm [27.08.2004] sowie Hough, Harold: a. a. O., S. 13.

9) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 75; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Duval, Marcel: a. a. O., der von der Entwicklung einer Jericho III-Rakete auf Basis der Shavit-Trägerrakete berichtet.

10) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 73f; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

11) Vgl. Schwarz, Eugen Georg: Angst vor der Apokalypse, in: Focus, 9/1998, S. 222; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 73f sowie Gerhard Piper: a. a. O.

12) Vgl. Mellenthin, Knut: a. a. O.; Karr, Hans: U-Boote der DOLPHIN-Klasse, in: Marineforum, Nr. 6/2000, S. 30f; Nassauer, Otfried / Steinmetz, Christopher: Israelische Atomwaffen und deutsche U-Boote. Eine Gefahr für den Weltfrieden?; im Internet unter: http://uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/u-boote2.html (27.08.2004); Gerhard Piper: a. a. O.;; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 75 sowie Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/sub/index.html (27.08.2004).

13) Vgl. Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/popeye-t.htm (27.08.2004); Mellenthin, Knut: a. a. O.; Nassauer, Otfried / Steinmetz, Christopher: a. a. O. sowie Gerhard Piper: a. a. O.

14) Vgl. zu dieser Thematik U.S. Congress, Office of Technology Assessment (ed.): Proliferation of Weapons of Mass Destruction: Assessing the Risk, OTA-ISC-559, Washington, D.C., August 1993; Sammonds, Neil: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O.; sowie Steinbach, John: a. a. O.

15) U.S. Congress, Office of Technology Assessment (ed.): a. a. O., S. 65.

16) Steinbach, John: a. a. O.

17) Vgl. Steinbach, John: a. a. O.; dieser zitiert den linken Knesset-Abgeordneten Dedi Zucker, der diese Forschung seines Landes mit den Worten anprangerte: „Eine solche Waffe ist, wenn wir von unserer Geschichte, unserer Tradition und Erfahrung ausgehen, moralisch ungeheuerlich und muss geächtet werden.“ Der renommierte Mikrobiologe und B-Waffen-Experte Jan van Aken bezeichnete in einem kürzlich erschienenen Beitrag Meldungen über derartige Forschungsprogramme in Israel als „vor allem Propaganda“ – seine ansonsten bestechende Argumentationsführung ist aber gerade in diesem Punkt wenig überzeugend und widerspricht seiner eigenen Grundthese hierzu; vgl. Aken, Jan van: Wenn Buchstaben zu Waffen werden. Biologische Waffenführung. Ethnobomben gibt es noch nicht – doch die Entwicklung von genetischen Waffen ist möglich, in: Freitag, Nr. 29/30, 9. Juli 2004, S. 22.

18) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

19) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

20) Vgl. zu dieser Thematik Hersh, Seymour M.: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Hough, Harold: a. a. O.

21) Vgl. hierzu Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 144f und S. 233.

22) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O.; Farr, Warner D.: a. a. O.; Johannsen, Margret: Dynamit und Atom. Rückblicke und Ausblicke auf Entwaffnungsszenarios im Nahen Osten, in: S+F Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 3–4/2003, S. 160 sowie Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 233ff und S. 370.

23) Zit. n. Steinbach, John: a. a. O.

24) Biedermann, Ferry (Interviewer): »„Wir vernichten uns selbst“. In Israel zeichnet sich ein fluchbeladenes Szenario ab. Gespräch mit dem geschmähten israelisch-niederländischen Militärhistoriker Martin van Creveld«, Interview im niederländischen Magazin ELSEVIER; deutsche Übersetzung in: Unabhängige Nachrichten 1/2003; im Internet unter: http://www.fk-un.de/UN-Nachrichten/UN-Ausgaben/2003/UN1-03/artikel2.htm (27.08.2004).

25) Vgl. hierzu Steinbach, John: a. a. O. sowie Farr, Warner D.: a. a. O.

26) Farr, Warner D.: a. a. O.

27) Peres, Schimon: Irans Nuklearprogramm stoppen. Israels Oppositionsführer plädiert für sofortige Sanktionen, in: Die Welt, 21. August 2004; vgl. hierzu auch Johannsen, Margret: a. a. O., S. 160.

28) Vgl. Johannsen, Margret: a. a. O., S. 159f.

29) Johannsen, Margret: a. a. O., S. 161.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen

Schöne neue nukleare Welt

Schöne neue nukleare Welt

von Zia Mian und Alexander Glaser

Der Traum einer wunderbaren Zukunft, in der die Energie vom Atom geliefert wird, reicht nun schon mehr als 100 Jahre zurück. Fredrick Soddy und Ernest Rutherford stellten 1901 fest, dass beim Übergang eines Atomtyps in einen anderen Radioaktivität und Energie freigesetzt werden. Bald darauf schrieb Soddy in populären Zeitschriften, Radioaktivität sei möglicherweise eine „unerschöpfliche“ Energiequelle, und er beschwor die Vision einer atomaren Zukunft mit der Möglichkeit „einen Wüstenkontinent umzuformen, die Eiskappen an den Polen aufzutauen und die ganze Erde in einen lächelnden Garten Eden zu verwandeln.“1 Seither sind die Versprechungen eines »atomaren Zeitalters«, in dem die Kernenergie als globale, Zukunft verheißende Technologie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse garantiert, nie abgerissen.

Soddy erkannte aber auch, dass Atomenergie möglicherweise den Weg zur Herstellung schrecklicher neuer Waffen bereiten könnte. Und es ist vielleicht bezeichnend, dass in einem von konkurrierenden, waffenstarrenden Nationalstaaten beherrschten internationalen System Atomenergie zum ersten Mal praktisch eingesetzt wurde, als die Vereinigten Staaten 1945 die ersten Atomwaffen bauten und über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz brachten. Die Bombe war, so die US-amerikanische Regierung damals, die „Waffe des Sieges“.

Diese Demonstration der Zerstörungskraft der Atomtechnologie belebte und stärkte aber auch die Visionen, dass wirtschaftliche und soziale Probleme atomar lösbar seien. Amerikanische Zeitungen beispielsweise prophezeiten ein nukleares Utopia, „eine Welt mit unbegrenzter Energie und unendlichem Überfluss – eine Welt, deren einzige Einschränkung das menschliche Vermögen ist, sich neue Wünsche und Bedürfnisse auszudenken.“2 Lewis Strauss, damaliger Leiter der Atomenergiekommission der Vereinigten Staaten, erlangte Berühmtheit mit seiner Prophezeiung von 1954, Atomenergie bedeute, dass „unsere Kinder zu Hause in den Genuss elektrischer Energie kommen, die so billig ist, dass es sich nicht lohnt, Zähler einzubauen“ (to cheap to meter).3

Vor den Augen der Welt wurden in den vergangenen 60 Jahren riesige Anlagen zur Herstellung von hoch angereichertem Uran und Plutonium für Atomwaffen errichtet. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion stellten zehntausende Atomwaffen her, und nacheinander traten Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien und Pakistan und vor kurzem vermutlich auch Nordkorea dem nuklearen Club bei. Etliche weitere Staaten hatten in der Vergangenheit Ambitionen zum Bau von Atomwaffen. Aus unterschiedlichen Gründen ließen sie davon wieder ab. Iran allerdings hält derzeit an seinem Programm fest.

Gleichzeitig hat die friedliche Nutzung der Atomenergie bei weitem nicht das halten können, was sie ursprünglich versprochen hatte. Vielmehr führte sie zu anhaltenden Sicherheitsproblemen, hohen Kosten, nuklearer Weiterverbreitung und Protesten in der Bevölkerung. In den Pionierstaaten der Atomtechnologie wie den USA, Großbritannien und Russland stagniert die Nuklearindustrie seit langem. Andere Länder haben den Atomausstieg bereits beschlossen. Die wenigen neuen Anlagen wurden in Ländern wie China und Indien gebaut, die erst relativ spät in die zivile Nutzung der Kernenergie eingestiegen sind.

Trotzdem propagieren jetzt einige Interessengruppen den gewaltigen Ausbau der Atomenergie als Mittel gegen den Klimawandel, der sich nach etwa 100 Jahren der ungebremsten Verbrennung fossiler Energieträger abzeichnet. Bei aller Diskussion über die »Renaissance der Kernenergie« setzt sich langsam aber auch die Erkenntnis durch, dass die nukleare Zukunft vielleicht doch eher düster sein könnte.

Im Folgenden gehen wir beispielhaft auf einige besonders kritische Aspekte der Weiterverbreitung von Atomwaffen ein und folgern, dass der massive globale Ausbau von Atomenergie neue Gefahren birgt, ohne zur Verhinderung eines Klimawandels einen wesentlichen Beitrag zu leisten.

Normale Proliferation von Atomwaffen

Recht früh schon rückte in das Bewusstsein, dass ein Atomenergiekomplex für friedliche Zwecke eingerichtet, dann aber zum Bau von Atomwaffen genutzt werden kann. Robert Oppenheimer, Leiter des US-amerikanischen Manhatten-Projekts, das 1945 die ersten Atombomben herstellte, vermerkte 1946, was im Falle eines vollständigen Verbots von Atomwaffen passieren würde: „Wir würden keine Atomwaffen herstellen, zumindest nicht gleich, aber wir würden riesige Anlagen bauen, und wir würden diese Anlagen so auslegen, dass sie mit minimalem Aufwand und innerhalb kürzester Zeit für die Herstellung von Atomwaffen umgerüstet werden könnten, und würden behaupten, dass wir das nur für den Fall tun, dass uns jemand hintergeht; wir würden Uranvorräte anlegen; wir würden möglichst viele Entwicklungen geheim halten; wir würden unsere Anlagen nicht dahin bauen, wo sie optimal für die Erzeugung von Strom eingesetzt werden können sondern dahin, wo sie am besten gegen feindliche Angriffe geschützt werden können.“4

Dabei ist der Größenunterschied zwischen zivilen und militärischen Nuklearprogrammen wichtig. Ein 40-MW(th)-Reaktor wie der CIRUS in Indien produziert genug Plutonium für etwa zwei Atomwaffen pro Jahr, während bei einem von Indiens kleineren 700-MW(th)-Leistungsreaktoren, der etwa 220 MW elektrische Leistung liefert, etwa zehn Mal so viel Plutonium pro Jahr anfällt. Ähnliches gilt für die Urananreicherung. Zur Herstellung des niedrig angereicherten Uranbrennstoffs für einen 1.000-MW(e)-Leistungsreaktor sind bis zu 150 tSWU pro Jahr (oder 150.000 Separative Work Units – SWU –, ein Maß für die geleistete Trennarbeit bei der Urananreicherung) erforderlich,5 während bereits mit einem Zehntel dieser Kapazität 100 kg Uran hoch angereichert werden können – das reicht für mehrere Atomwaffen.

Schon immer haben die Staaten ihre zivilen und militärischen Ambitionen und Fähigkeiten im Bereich Atomtechnologie miteinander gekoppelt. Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien und Pakistan bauten ihre Atomwaffenprogramme auf der Infrastruktur auf, die sie vorgeblich für Atomenergie entwickelt hatten. Irak, Nordkorea und Iran, sämtlich Unterzeichnerstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), versteckten ihre militärischen Ambitionen hinter Programmen für »friedliche« Zwecke. Und die USA haben vor kurzem damit begonnen, Tritium für ihr Atomwaffenarsenal in zivilen Leistungsreaktoren herzustellen.6

Als Antwort auf den inhärenten »Dual-Use«-Charakter der Kerntechnologie wurde seit den 1950er Jahren das Sicherungssystem für zivile Atomanlagen aufgebaut. Insbesondere müssen Nicht-Atomwaffenstaaten des später verhandelten NVV alle ihre zivilen nuklearen Anlagen deklarieren und internationale Inspektionen zulassen. Sie würden so riskieren, dass die Abzweigung signifikanter Mengen von Nuklearmaterial für heimliche Atomwaffenprogramme aufgedeckt würde.7 Diese Bemühungen waren nicht immer erfolgreich. Vor allem die Vereinigten Staaten wollen daher dem Irak, dem Iran, Nordkorea sowie vielen anderen Ländern zentrale Elemente des nuklearen Brennstoffzyklus vorenthalten und schlagen vor, in Zukunft den Zugang zur Urananreicherung und Wiederaufarbeitung auf wenige Staaten zu begrenzen, obwohl der NVV allen Unterzeichnerstaaten das Recht zu spricht, diese Technologien zu entwickeln und zu nutzen. Diese Bestrebungen sind ein klares Zeichen dafür, wie real die Proliferationsgefahr der zivilen Atomenergie ist und welche Probleme insbesondere mit der Urananreicherung, der Wiederaufarbeitung und den damit verbundenen Fähigkeiten verbunden sind.

Die nukleare Zukunft

Nun heißt es, dass Atomenergie dem Treibhauseffekt und damit dem Klimawandel entgegenwirken könnte. Um den Ausstoß von Treibhausgasen deutlich zu verringern müsste die Atomenergie allerdings um ein Vielfaches ausgebaut werden. Daher stellt sich auch die Frage, was dies für die Weiterverbreitung von Atomwaffen bedeuten würde. Dabei lassen wir für den Moment außer Acht, ob der Klimawandel damit tatsächlich aufgehalten würde und ignorieren auch die politischen und wirtschaftlichen Hürden, die ein solches Expansionsszenario ohnehin als unrealistisch erscheinen lassen.

Zur Verdeutlichung gehen wir hier davon aus, dass die Erzeugung von Atomenergie auf 1.500 GW(e) ansteigt, was etwa einer Vervierfachung gegenüber heute entspricht. Im Jahr 2050 würden dann rund 28% des weltweiten Strombedarfs in Atomanlagen erzeugt, was weniger als eine Verdopplung des nuklearen Marktanteils darstellt. Diese 1500 GW(e) entsprechen der Obergrenze, die von der Studie »The Future of Nuclear Power« des Massachusetts Institute of Technology (MIT) angenommen wurde.8

Die meisten Studien zur zukünftigen Entwicklung der Atomenergie gehen aus Bequemlichkeit meist davon aus, dass Kapazitäten für 1.000 GW(e), 1.500 GW(e) oder sogar 10.000 GW(e) »einfach da« wären — so als seien die entsprechenden Reaktoren und Anlagen nirgendwo konkret zu finden. Eine Ausnahme stellt hier die MIT-Studie dar, deren Autoren nicht davor zurückschreckten, Vorhersagen über die tatsächliche Verteilung von Nuklearkapazitäten für ein solches globales Expansionsszenario zu machen. In dem 1.500-GW(e)-Szenario der Studie würden 56 Länder kommerzielle Atomanlagen betreiben, darunter auch viele, die bisher keinen Atomstrom produzieren, wie z.B. Vietnam, Indonesien, die Philippinen, Malaysia, Thailand, Australien, Neuseeland, Österreich, Polen, die Türkei, Venezuela, Portugal, Israel, Libyen, Algerien, Usbekistan, Marokko, Kyrgystan, Kasachstan, oder Ägypten.9

Einfache Hochrechnungen erlauben Aussagen über die Infrastruktur, die zur Aufrechterhaltung des Brennstoffzyklus in so vielen Atomstrom produzierenden Ländern benötigt würde. Wir gehen hier davon aus, dass vorwiegend die momentan vorherrschende Druckwassertechnologie mit niedrig angereichertem Uran und ohne Wiederaufarbeitung zum Einsatz käme. Diese Kombination wäre aus Gründen der Nichtverbreitung klar all den Szenarien vorzuziehen, die auf die Wiederaufarbeitung und Abtrennung von Plutonium setzen, da sich Plutonium ohne weitere Bearbeitung für den Atomwaffenbau eignet. Zum Betrieb dieses Reaktorparks würden weltweit aber – nach heutigem Maßstab – gigantische Anreicherungskapazitäten benötigt (siehe Abbildung 1, S. 33).10

Die dafür erforderliche Infrastruktur ist gewaltig, sowohl im Umfang als auch in der Verteilung. Länder, die momentan keine oder vernachlässigbare kleine kommerzielle Atomstromprogramme unterhalten – wie beispielsweise der Iran, Pakistan, Mexiko oder Indonesien – würden in diesem Szenario großindustrielle Anreicherungsanlagen errichten und betreiben. Es ist nicht schwer vorher zusagen, dass dies regelmäßig zu Verdächtigungen, Anschuldigungen und internationalen Krisen führen würde. Schon Irans Pläne für die Anlage in Natanz mit einer maximalen Kapazität von 250 tSWU/Jahr haben international Bedenken ausgelöst; bei dem hier skizzierten Ausbau der Atomenergie würde Iran aber Anreicherungsanlagen mit einer Gesamtkapazität von über 3.000 tSWU/Jahr betreiben, nur um seinen Eigenbedarf an Brennstoff zu decken. Zum Vergleich: Im Prinzip kann schon mit weniger als 5 tSWU genug hochangereichertes Uran für eine Atomwaffe pro Jahr hergestellt werden.

Um die Entscheidung über Endlagerstätten für den Atomabfall hinaus zu schieben, würden vermutlich auch mehr Länder abgebrannte Brennelemente wieder aufarbeiten (und als »Abfallprodukt« dabei Plutonium abtrennen), obwohl diese Technik wirtschaftlich keineswegs attraktiv ist und erhebliche Umwelt- und Proliferationsgefahren birgt. Diese rücksichtslose Strategie, den nuklearen Ball der nächsten Generation zu zuspielen, wird schon heute von einigen Ländern verfolgt, darunter Japan und im Rahmen der neu propagierten Global Nuclear Energy Partnership (GNEP) voraussichtlich auch bald die Vereinigten Staaten.

Da mit einer Ausweitung der Atomenergie wie hier beschrieben auch erheblich größere Mengen Uran und Plutonium im Umlauf und in den Lagern gehalten würden, müssen neue Atomenergieprogramme wohl überlegt werden. Dies um so mehr, als jegliche Ausweitung der globalen Atomenergieproduktion unweigerlich auch mit einer Vielzahl größerer oder kleinerer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten einhergeht. Bezogen auf die Proliferation stellt uns die Atomenergie hier vor das wichtigste Dilemma: Ein Atomprogramm, das aus kommerzieller Sicht klein oder sogar vollständig zu vernachlässigen ist, ist in der Regel durchaus groß genug, um ein ansehnliches Atomwaffenprogramm zu unterstützen.

Sollte die Atomenergie also rasch global ausgeweitet werden, so wächst auch die Gefahr von nuklearer Weiterverbreitung, da viele Länder mit neuen Technologien experimentieren werden. Selbst wenn die Atomenergie dann doch nicht in dem heute prognostizierten Ausmaß wächst, würde doch das ständige »Proliferationsrauschen« im internationalen Sicherheitssystem erheblich zunehmen und es schwieriger machen, »echte« Proliferation zu erkennen und zu bekämpfen sowie zwischen legitimen und grundlosen Ängsten vor heimlichen Militärprogrammen zu unterscheiden. Wie der Irakkrieg klar gemacht hat, kann die Angst vor Proliferation zuerst geschürt und dann zum Vorwand für einen Krieg genommen werden.

Atomenergie und Klimawandel

Könnte eine globale Expansion der Kernenergie dem Klimawandel prinzipiell entgegenwirken? Die Möglichkeiten sind begrenzt, denn die Atomenergie dient vor allem der Stromproduktion und hat auf die zwei Drittel der globalen CO2-Emissionen, die beim direkten Verbrauch von Brennstoffen (im Englischen: Fuels-Used-Directly, FUDs) für Verkehr, Heizung, Industrie und Gewerbe entstehen, gar keinen Einfluss.11 Das heißt, für den Großteil der Treibhausgase wäre damit immer noch keine Lösung gefunden.

Atomenergie könnte also bestenfalls den Einsatz von Kohle substituieren, da Strom vor allem aus diesem fossilen Brennstoff erzeugt wird. Kohle gibt es aber im Überfluss. Sie ist billig und wird es auch auf viele Jahrzehnte bleiben. Es ist daher naiv anzunehmen, dass global auf Nutzung von Kohle verzichtet werden wird. Länder mit großen Vorkommen billiger Kohle und raschem Wirtschaftswachstum werden auf jeden Fall von ihren Kohlevorkommen Gebrauch machen. So will China z.B. sowohl die Kohlenutzung als auch die Atomstromproduktion ausweiten, wobei in den nächsten zwanzig Jahren der Kohleeinsatz für die Erzeugung von Strom und Wärme verdoppelt werden soll.12 Bedenken über die Klimafolgen können diesen Prozess höchstens verlangsamen oder nur unwesentlich eindämmen.

Offensichtlich bleibt der Klimawandel also ein ungelöstes Problem, solange keine Lösung für das »Kohleproblem« gefunden werden kann. Verglichen mit den direkt verbrauchten Brennstoffen ist die fast vollständig CO2-freie Stromproduktion allerdings relativ einfach und mit vorhandenen nicht-nuklearen Technologien machbar.13 Diese Variante erscheint attraktiver als Investitionen in einen erheblichen Ausbau der Atomenergie.

Dieser Sicht folgt auch ein umfangreicher Bericht, den die Sustainable Development Commission der britischen Regierung 2006 vorstellte. Der Bericht konstatiert, dass der Bau neuer Atomanlagen nicht die Antwort auf den Klimawandel ist und dass selbst eine Verdoppelung der Nuklearkapazität von Großbritannien bis zum Jahr 2030 den Kohlendioxidausstoß kaum verringern würde.14 Er identifiziert fünf Hauptprobleme, sollte die Nutzung von Atomenergie fortgesetzt oder ausgebaut werden: das Fehlen bewährter Verfahren für die sichere Endlagerung von Atomabfällen; die ungewissen aber hohen Kosten für Atomenergie in der Zukunft; die unabdingbare Größe und Zentralisierung der Stromerzeugungs- und Verteilersysteme für Atomenergie, die die Entwicklung kleiner Systeme für die Produktion und Verteilung erneuerbarer Energie in der Zukunft behindern; die negativen Auswirkungen dieser großindustriellen, anbieterorientierten Technologien auf die Förderung von Energieeffizienz und schließlich die mit der nuklearen Proliferation verbundenen Sicherheitsrisiken.15 Diese Probleme dürfen bei der Debatte über die Zukunft von Atomenergie in keinem Land ignoriert werden.

Außerdem gibt es Alternativen. So wurde etwa im Jahr 1998 in einer Studie für die Europäische Union ein Szenario für ein europäisches Energiesystem entwickelt, das auf erneuerbaren Energien basiert und bis 2050 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um 80% reduziert, obwohl es gleichzeitig den vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie vorsieht.16 Eine zentrale Schlussfolgerung dieser und ähnlicher Studien ist, dass es keine einfache, allgemeingültige technologische Lösung für die Energieerzeugung gibt. Vielmehr werden äußerst heterogene Energiesysteme identifiziert, die stark von länderspezifischen Bedingungen abhängen: Offshore-Windanlagen dominieren in Dänemark, während in Spanien und anderen südeuropäischen Ländern die Solarthermik und Photovoltaik naheliegenderweise einen Standortvorteil haben. Diversifizierung bei der Stromerzeugung muss unbedingt einhergehen mit einem verringerten Verbrauch von Primärenergien in allen Sektoren unserer modernen Gesellschaften. Die Liste notwendiger Schritte ist lang, und diese Schritte müssen rasch eingeleitet werden. Mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, entstehen weitere Engpässe und werden die Kosten des notwendigen Politikwechsels erhöht.

Schlussfolgerungen

Die Hoffnungen, die in die Nukleartechnologie gesetzt werden, sind so alt wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihr zugrunde liegen. In den vergangenen 60 Jahren hat sich gezeigt, wie viele Probleme die Atomtechnologie aufwirft. Besonders erheblich sind die Risiken und Folgen eines Atomunfalls, die wir hier nicht diskutiert haben, sowie die Gefahr, dass Anlagen, Materialien und Know-how für die vermeintlich »friedliche« Nutzung von Atomenergie für Atomwaffenprogramme genutzt werden. Das Festhalten an oder ein erheblicher Ausbau von Atomenergie würde diese Gefahren nur fortschreiben und vergrößern. Und sogar die MIT-Studie von 2003 kommt zu dem Schluss, dass keine technologische Lösung für diese Probleme in Sicht ist:

„Wir können nicht feststellen und auf der Basis unseres momentanen Wissens auch nicht glauben, dass realistischerweise mit neuen Reaktor- und Brennstoffzyklustechnologien zu rechnen ist, die eine Antwort auf die Kosten-, Sicherheits-, Abfall- und Proliferationsprobleme geben würden.“17

Zudem würde schon ein einziger größerer Unfall höchst wahrscheinlich jeden Versuch zunichte machen, Atomenergie auf dem momentanen Stand zu halten oder weiter auszubauen. Würde sich ein entsprechender Unfall in den USA oder Westeuropa ereignen, würde das mit Sicherheit das endgültige Ende der Atomenergie in diesen Regionen bedeuten. Die bis dahin getätigten Investitionen in eine teure und unflexible Technologie wären für immer verloren und der Beitrag zum Klimaschutz quasi »negativ«, da erneuerbare Energien dementsprechend vernachlässigt wurden. Nur die globalen Proliferationsgefahren würden zunächst weiterbestehen.

Angesichts dieser Perspektiven stellt sich die Frage, warum Atomenergie heute überhaupt als Lösung des Energie- und Klimaproblems in Erwägung gezogen wird. Noch immer scheint Nukleartechnologie mit technologischem Fortschritt gleichgesetzt zu werden. Andere haben darauf hingewiesen, dass die Befürworter der Atomenergie immer im »Futur« reden, d.h. „darüber, was sie in Zukunft bringen wird anstatt darüber, was sie schon hinterlassen hat oder was die Aufrechterhaltung der Infrastruktur der Gesellschaft abfordert.“18 Auch deshalb bleiben Öffentlichkeit und Eliten weiterhin einer Ideologie des »Fortschritts« verhaftet, die bequeme Gewohnheiten mit hohem und ineffizienten Energieverbrauch bevorzugt.

Die Zerreißprobe zwischen der Angst vor dem Atom und dem Unwillen, Gewohnheiten zu ändern, kommt in einer Meinungsumfrage zum Ausdruck, die 2006 in 18 Ländern mit und ohne größere Nuklearindustrie für die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) durchgeführt wurde. Sie ergab, dass die meisten Menschen gegen den Bau neuer Kernreaktoren sind (59%), gleichzeitig aber den Weiterbetrieb vorhandener Reaktoren befürworten (62%).19 Daraus lässt sich schließen, dass die Uhr für die nukleare Zukunft langsam abläuft, wenn nun bald alte Kernkraftwerke weltweit abgeschaltet werden, der Bau neuer Anlagen aber keine Unterstützung findet.

Anstatt also das allmähliche Verschwinden der Atomenergie abzuwarten, sollte die internationale Gemeinschaft aus der Not lieber eine Tugend machen. Wir brauchen umfassende Pläne, wie wir unsere Abhängigkeit vom Atomstrom reduzieren, wie wir in Stromeinsparung, Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren und wie wir unser Sozialleben und die Wirtschaft sicherer und ökologisch nachhaltig gestalten können.

Anmerkungen

1) Spencer R. Weart: Nuclear Fear: A History Of Images, Harvard University Press, 1988, S. 6.

2) Paul Boyer: By The Bomb’s Early Light: American Thought And Culture At The Dawn Of The Atomic Age, University of North Carolina Press, 1985, S. 111-113.

3) Arjun Makhijani und Scott Saleska: The Nuclear Power Deception: U.S. Nuclear Mythology From Electricity ‘Too Cheap To Meter’ To ‘Inherently Safe’ Reactors, Apex Press, 1999, S. xix.

4) J. Robert Oppenheimer: Failure to Achieve International Control of Atomic Energy, in: Morton Grodzins and Eugene Rabinowitch (Hrsg.), The Atomic Age, Simon and Schuster, 1963, S. 55.

5) Die Produktionsmenge von Urananreicherungsanlagen wird in Kilogramm oder Tonnen »Urantrennarbeit« (kg bzw. t SWU, Separation Work Unit) ausgedrückt.

6) Kenneth Bergeron: Nuclear Weapons: The Death of No Dual-use, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Januar/February 2004, S. 15-17, www.thebulletin.org/ article.php?art_ofn=jf04bergeron.

7) Als signifikante Menge gelten die für den Bau einer Atomwaffe ausreichende Menge Plutonium (8 kg) bzw. hochangereichertes Uran (25 kg).

8) Massachussetts Institute of Technology: The Future of Nuclear Power: An Interdisciplinary MIT Study, 2003, http://web.mit.edu/nuclearpower. Würde die Vervierfachung der Atomenergie erst etwa 2100 erreicht, käme die Atomenergie dann etwa auf den selben Prozentanteil wie heute, sofern der Energieverbrauch wie prognostiziert ansteigt.

9) Die MIT-Studie verteilte die Kapazitäten auf der Basis von „verschiedenen länderspezifischen Faktoren“ auf die einzelnen Länder, „so z.B. anhand von bereits vorhandener Atomenergie, Urbanisierung, wirtschaftlicher Entwicklungsstufe und dem Rohstoffaufkommen.“ MIT-Studie, op.cit., S. 111.

10) Die weltweite Verteilung der Anreicherungskapazitäten in Abbildung 1 basiert auf der Annahme, dass nur solche Länder Anlagen zur Urananreicherung betreiben werden, die selbst über einen Reaktorpark von mindestens 10 GW(e) verfügen. Zudem würden die wichtigsten Uranexporteure (Australien, Kanada und Süd Afrika) Urananreicherungsanlagen betreiben. Ohne die Länder Westeuropas einzeln zu zählen, würden so 16 Länder über diese sensitive Technologie verfügen. Alle übrigen Länder wären reine »Reaktor-Staaten«.

11) International Energy Agency: CO2 from Fuel Combustion – Fact Sheet, 2005; www.iea.org/textbase/papers/2005/co2_fact.pdf.

12) He Youguo: China's Coal Demand Outlook for 2020 and Analysis of Coal Supply Capacity,International Energy Agency; www.iea.org/Textbase/work/2003/beijing/4Youg.pdf.

13) Robert H. Williams: Advanced Energy Supply Technologies, in: UNDP, World Energy Assessment: Energy and the Challenge of Sustainability, 2000, S. 274-329.

14) UK Sustainable Development Commission:The Role of Nuclear Power in a Low Carbon Economy,2006; www.sd-commission.org.uk/pages/060306.html.

15) Ibid.

16) LTI-Research Group (Hrsg.): Long-Term Integration of Renewable Energy Sources into the European Energy System, Physica-Verlag, 1998.

17) Op.cit., S. 76.

18) John Byrne und Steven Hoffman: The Ideology of Progress and the Globalization of Nuclear Power, in: John Byrne and Steven Hoffman (Hrsg.): Governing The Atom: The politics of risk, New Brunswick: Transaction Publishers, 1996, S.12.

19) IAEA: Global Public Opinion on Nuclear Issues and the IAEA – Final Report from 18 Countries, 2006; www.iaea.org/Publications/Reports /gponi_report2005.pdf.

Zia Mian und Alexander Glaser sind Physiker und Mitarbeiter des Program on Science and Global Security der Universität Princeton. Beide sind zudem Mitglieder des International Panel on Fissile Materials (IPFM) und im International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), das an der TU Darmstadt angesiedelt ist. Übersetzt von Regina Hagen

Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

Die nukleare Teilhabe der NATO und Incirlik

von Aslihan Tümer

Im Rahmen der so genannten »nuklearen Teilhabe« der North Atlantic Treaty Organisation (NATO) stationieren die USA als einziger Staat Atomwaffen auch außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets. Die 480 taktischen Atomwaffen würden von Flugzeugen ins Ziel gebracht. Damit sind sie nicht nur besonders flexibel einsetzbar und in die konventionellen Streitkräfte integriert, sondern sie gehören auch zu der Waffenkategorie, für die noch keine einzige Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarung ausgehandelt wurde. Zur furchtbaren Realität gehört auch die Definition dieser Atomwaffen als »einsetzbar“.

Als »nukleare Teilhabe« wird die Stationierung von US-Atomwaffen in etlichen NATO-Ländern bezeichnet.1 Außer Großbritannien, das selbst Atomwaffenstaat ist, sind folgende Länder in die nuklearen Kooperationsprogramme der NATO eingebunden: Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei. Sie haben mit den USA jeweils bilaterale (und geheim gehaltene) Stationierungsabkommen abgeschlossen. Die nukleare Teilhabe umfasst unter anderem die Bereitstellung von Flugzeugen, die für einen Atomwaffeneinsatz zertifiziert sind, sowie das Training von Piloten des Gastgeberlandes für den Ernstfall.

Die Zahl 480 ist das Ergebnis einer ausführlichen Studie, die im Frühjahr 2005 von der US-amerikanischen Organisation Natural Resource Defense Council veröffentlicht wurde.2 Der Studie zu Folge sind 90 dieser Waffen in der Türkei stationiert, allerdings können sie nur auf Befehl der US-Führung einsatzbereit gemacht werden. Im Kriegsfall aber könnten, so eine Aussage des damaligen Oberbefehlshabers des US-Militärs von 1969, diese Waffen zum Einsatz durch die kooperierenden Staaten freigegeben werden. In ihrem Strategischen Konzept von 1999 hat die NATO die nukleare Teilhabe ausdrücklich bestätigt.

Ein Grundprinzip der NATO ist die »kollektive Verteidigung«. Das bedeutet, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat automatisch als Angriff auf alle NATO-Länder gilt. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wurde vereinbart, „dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs“ jede Vertragspartei „die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“

Zur neuen Politik der USA gehört die ausdrückliche Bereitschaft, Atomwaffen als erste einzusetzen, auch als Antwort auf einen konventionellen Angriff.3 Folglich könnten die NATO-Mitgliedstaaten bei jeder militärischen Auseinandersetzung der USA in einen nuklearen Konflikt hineingezogen werden.

Aufgrund des Demokratiedefizits innerhalb der NATO können die BürgerInnen der Länder, die in die nukleare Teilhabe eingebunden sind, die Nuklearpolitik des Bündnisses offiziell weder hinterfragen noch ablehnen. Das hindert allerdings viele Menschen nicht daran, kreative Wege der Informationsbeschaffung zu finden und gegen diese Nuklearpolitik zu protestieren. Auch BürgerInnen und Nichtregierungsorganisationen der Türkei nutzen informelle Wege der Aufklärung und des Protests, und Umfrageergebnisse zeigen, dass dieser eigenständige Umgang mit demokratischen Rechten mehrheitlich auf die Zustimmung der türkischen Bevölkerung trifft.

Im Juni 2004 führte die türkische Meinungsforschungsagentur Infakto Research Workshop im Auftrag von Greenpeace Türkei eine Umfrage durch, um herauszufinden, wie die türkische Öffentlichkeit über Atomwaffen denkt. Dazu wurde ein repräsentativer Querschnitt der türkischen Bevölkerung in 629 Telefoninterviews befragt.

45% der Befragten gaben an, dass in der Türkei Atomwaffen stationiert sind. Etwa 30% verneinten diese Aussage, und 26% konnten oder wollten die Frage nicht beantworten. Es zeigte sich, dass der Bildungsstand bei der Beantwortung dieser Frage keine Rolle spielte.

Als diejenigen, die von einer Stationierung in der Türkei ausgingen, danach gefragt wurden, wem diese Atomwaffen gehören, sagte die Hälfte, die Atomwaffen seien unter türkischer Kontrolle. Etwa ein Drittel beantwortete die Frage nicht, und nur 10,5% der Befragten ordneten diese Waffen den USA oder der NATO zu.

Etwa die Hälfte der Befragten äußerte, dass sie der Stationierung von Atomwaffen in der Türkei mit dem Argument, die Sicherheit der Türkei und anderer NATO-Mitglieder zu gewährleisten, „überhaupt nicht“ zustimmen. Die Umfrage ergab auch, dass die Ablehnung der Atomwaffen mit steigendem Bildungsgrad zunimmt.

Bezeichnenderweise äußerten 57% der Befragten ihre Unterstützung, wenn die türkische Regierung den Abzug der Atomwaffen fordern würde. Nur 34% sprachen sich gegen eine solche Maßnahme aus, wobei die Ablehnung bei den Männern größer ist als bei den Frauen (40% bei den Männern, 28% bei den Frauen).

Die Umfrage ergab außerdem, dass eine Entscheidung, die Türkei zur atomwaffenfreien Zone zu erklären, mit hoher Unterstützung rechnen könnte. Insgesamt sprachen sich 72% für einen solchen Vorschlag aus, nur 22% lehnten ihn ab.

Und schließlich äußerten mehr als 80% der Befragten Zustimmung, sofern die türkische Regierung eine internationale Kampagne zur vollständigen und weltweiten Abrüstung sämtlicher Massenvernichtungswaffen initiieren würde. Auch hier stiegen die Zustimmungsraten mit wachsendem Bildungsniveau.

Diese Umfrageergebnisse zeigen, dass die türkische Politik einer aktiven nuklearen Teilhabe von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, obgleich viele Menschen über die nuklearen Rolle der Türkei in der NATO im Dunkeln gehalten werden. Bemühungen der türkischen Regierung, bei der Abrüstung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen eine Vorreiterrolle zu spielen, finden hingegen deutliche Zustimmung.

Der Atomwaffenstandort Incirlik

Incirlik – die wörtliche Übersetzung des Wortes ist »Feigengarten« – war ursprünglich ein kleines Dorf außerhalb der Zwei-Millionen-Stadt Adana im Süden der Türkei. Bekannt wurde Incirlik durch den Luftwaffenstützpunkt in unmittelbarer Nachbarschaft, der teilweise mehr Bewohner hatte als das Dorf selbst. Nach Eröffnung des Standorts im November 1954 vergrößerte sich das Dorf unaufhörlich, insbesondere im Kontext des ersten Golfkrieges, als die Basis für das US-Militär zum wichtigen Drehkreuz wurde. Incirlik entwickelte sich zu einer kleinen Stadt mit 20.000 Einwohnern; zahlreiche Geschäfte tragen englische Namen, und fast jeder Einwohner kann Englisch sprechen.

Incirlik machte auf Grund der Anwesenheit des US-Militärs immer wieder Schlagzeilen und wurde auch in der Öffentlichkeit heftig diskutiert, besonders wenn es um die Nutzungsgenehmigung oder ein Nutzungsverbot für bestimmte Militäroperationen ging. So gab es gegen die Nutzung von Incirlik im Irakkrieg 2003 heftige Proteste, und die Bewegung gegen den Krieg wurde zur größten Massenbewegung in der Türkei seit mehreren Jahrzehnten.

Heute hat Incirlik keine Feigenbäume mehr, birgt aber ein wenig bekanntes Geheimnis, nämlich die Tatsache, dass dort 90 Atomwaffen gelagert sind, deren Sprengkraft der von 1.000 Hiroshima-Bomben entspricht. Greenpeace eröffnete in Incirlik eine »Friedensbotschaft«, um Zeugnisse der Atomwaffenstationierung nach Adana zu tragen und das Bewusstsein bei der dortigen Bevölkerung zu schärfen. Die Wahrnehmung der Atomwaffen ist in Adana – wie in der ganzen Türkei – sehr gespalten. Zwar gibt es keine offizielle Bestätigung für die Stationierung, und viele wissen auch nichts davon, sie haben aber „schon immer den Verdacht“ gehabt, dass dort etwas vor sich geht.

Andererseits will die Bevölkerung von Adana am liebsten nichts davon hören. Die Stadt hängt wirtschaftlich von der Luftwaffenbasis ab, daher werden Negativinformationen über den Standort als direkte Bedrohung des wirtschaftlichen Wohlergehens von Incirlik eingestuft. Mit der Aussage konfrontiert, dass auf dem Stützpunkt Atomwaffen stationiert sind, wird diese Möglichkeit einfach ausgeschlossen. Und wenn es so ist, dann haben die USA diese Waffen nur zum Schutz der Menschen dort stationiert. Viele Menschen in Incirlik haben früher auf der Basis gearbeitet und sie halten Atomwaffen auf der Basis für undenkbar, schließlich haben sie nie etwas davon gehört, und hinter ihrem Rücken könne so etwas ja wohl kaum passieren. Egal, wie die einzelnen Menschen reagieren, eines ist unverkennbar: Keiner will zugeben, dass es die Waffen dort gibt.

Exkurs in die Geschichte: Die Kubakrise

Den Wenigsten ist bewusst, dass die Kubakrise auch ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen der Türkei und den USA war.

Ende 1960 stationierten die USA Mittelstreckenraketen des Typs Jupiter in der Türkei, also unweit der sowjetischen Grenzen. Die Raketen wurden mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet. Dies löste eine internationale Krise aus – die sich zur Kubakrise auswachsen sollte – und verdeutlichte die Gefahr, dass Atomwaffen tatsächlich eingesetzt werden könnten.

Nachdem die Jupiter im April 1962 einsatzbereit wurden, reagierte die Sowjetunion zunehmend schärfer. Im Mai 1962 verurteilte Chruschtschow die Stationierung der Raketen, und im Herbst 1962 stationierten sowjetische Truppen als Gegenreaktion nuklear bestückbare SS-4-Mittelstreckenraketen auf Kuba.

Die Sowjetunion verlangte den Abzug der Jupiter-Raketen aus der Türkei. Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Ankara, Raymond Hare, wollte die Türkei aber keinen Rückzug der Atomwaffen, sondern hielt diese für einen Schutz vor der sowjetischen Bedrohung.

Die türkische Öffentlichkeit war damals gespalten, sowohl die Opposition als auch die Medien verfolgten die Diskussionen sehr genau. Manche Artikel wussten zu berichten, dass die USA zu Verhandlungen bereit seien (was gegen Ende der Krise auch der Fall war, die Türkei wurde davon aber nicht informiert). Viele kritisierten die türkischen Politiker aber auch für ihre zu große Amerika-Nähe.

Am 24. Oktober 1962 gab der türkische Präsident Cemal Gursel bekannt, dass die Türkei in der Kubakrise an der Seite ihres amerikanischen Verbündeten stehe, und Premierminister Inönü bestätigte die enge Zusammenarbeit mit den USA. Die türkische Bevölkerung hingegen beobachtete die Entwicklung mit großer Sorge.

Am 27. Oktober schließlich einigten sich die USA und die Sowjetunion auf den gegenseitigen Rückzug ihrer Raketen aus der Türkei und von Kuba. Das Abkommen wurde allerdings geheim gehalten, und die Türkei lobte die USA für ihre Standfestigkeit und dafür, dass sie die Sicherheit der Türkei nicht zur Disposition gestellt habe – was sich nachträglich als falsch herausstellte.

Als die USA 1963 dann den Abzug der Jupiter-Raketen ankündigte, verknüpfte sie dies mit der Ankündigung, die Mittelstreckenraketen würden durch modernste Atom-U-Boote ersetzt. Die türkische Regierung hielt still, in der Öffentlichkeit begann aber allmählich die Debatte darüber, dass die Türkei während der Kubakrise Verhandlungsmasse war.

Die Oppositionsparteien stellten im Parlament entsprechende Fragen, und Außenminister Erkin erklärte, dass die Türkei durch die modernen U-Boote an Wichtigkeit gewänne und die Türkei und die USA durch die Krise enger aneinander gerückt seien. Er betonte, die Türkei würde gestärkt, weil ihr strategischer Wert in einem konventionellen Krieg steige. Die Jupiter wurden im April 1963 aus der Türkei abgezogen.

Während der Kubakrise war Ismet Inönü Premierminister der Türkei, und er unterstütze die USA. Acht Jahre später sagte er in einer Rede im Parlament: „Die Amerikaner erklärten uns, die Jupiter würden abgezogen, weil sie veraltet seien. An ihrer Stelle würden Polaris-U-Boote stationiert. Erst später erfuhren wir, dass der Abzug Teil der Verhandlungen mit den Sowjets war. Dieser Vorfall zeigt, dass die türkische Staatsführung nicht zulassen sollte, dass die Amerikaner die Türkei unversehens in eine Krise mit hineinziehen, und wir sollten vorsichtig sein…“

Die damalige Krise hatte für die Türkei mehrere Konsequenzen, die wichtigste davon war eine erhebliche Beschädigung der Beziehungen mit den USA. Die anti-amerikanischen Gefühle wuchsen, und in der Türkei wurde erkannt, welche Nachteile aus einer einseitigen Politik erwachsen können.

Die Gefahr heute

In letzter Zeit liest man häufiger Meldungen, dass die iranische Sahab-3-Rakete sich zum Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Incirlik eigne, und Zeitungen berichten immer wieder über Pläne von El Kaida, die Basis anzugreifen. Solche Meldungen gehören in den weiteren Kontext der Diskussion, ob die Atomwaffen von Incirlik für die Türkei eine Gefahr darstellen.

Die Stationierung von NATO-Atomwaffen in sechs europäischen Ländern ist ein Zeichen, dass weiterhin in Kategorien des Kalten Krieges gedacht wird. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, und Russland ist heute keine Gefahr mehr (sofern dies jemals der Fall war). Durch die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat erkennt die NATO Russland als gleichwertigen Partner an, und beide Parteien arbeiten inzwischen eng zusammen. Als Gefahr wird heute nicht mehr Russland, sondern der Nahe Osten wahrgenommen. Allerdings ist die Stationierung von Atomwaffen direkt an der Außengrenze der NATO eine Provokation, und sie erhöht die Gefahren für die regionale und globale Sicherheit.

Auf jeden Fall wird die Region um Incirlik und damit auch die lokale Bevölkerung durch die Stationierung von US-Atomwaffen zum potentiellen Zielpunkt. Die Atomwaffen von Incirlik sollten dringend in die USA zurück gezogen und unschädlich gemacht werden. Ein solcher Schritt würde nicht nur zur Sicherheit der Türkei und des Nahen Ostens beitragen, sondern auch ein positives Signal aussenden, da er die Bereitschaft der Türkei bestätigen würde, eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten durch Worte und Taten zu fördern. Damit hätte die Türkei die einzigartige Chance, einen positiven Einfluss auf die Region und somit die globale Sicherheit auszuüben. Der Abzug der US-Atomwaffen und eine Umorientierung der NATO auf die Friedenswahrung würden den Pfad zu Frieden und wahrer Sicherheit eröffnen.

Anmerkungen

1) Otfried Nassauer: Nuclear Weapons in Europe – A Question of Political Will, Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS), Policy Note 05.4, Juni 2005, erstellt im Auftrag von Greenpeace Deutschland.

2) Die komplette Studie wurde durchgeführt von Hans M. Kristensen: US Nuclear Weapons in Europe. A Review of Post-Cold War Policy, Force Levels, and War Planning, Februar 2005, Natural Resource Defense Council; Washington D.C.; http://www.nrdc.org/nuclear/euro/contents.asp. Eine Zusammenfassung findet sich in Robert S. Norris und Hans Kristensen: NRDC Nuclear Notebook. U.S. nuclear weapons in Europe, 1954-2004, Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 2004, S. 76-77 (vol. 60, no. 6); http://www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=nd04norris.

3) „Die Nutzung einer nuklearen Option, auch nur einer Teiloption, wäre ein deutliches Signal der Entschlossenheit der Vereinigten Staaten. Daher müssen die Optionen sehr sorgfältig und gezielt ausgewählt werden, so dass der Angriff hilft sicherzustellen, dass der Gegner das ‘Signal’ richtig interpretiert und nicht davon ausgeht, dass die Vereinigten Staaten eine Eskalation hin zum allgemeinen Atomkrieg betreiben. Allerdings ist diese Wahrnehmung nicht garantiert.“ US-Generalstab, Entwurf für eine »Doctrine For Joint Nuclear Operations«, 15. März 2005; das Dokument wurde angeblich im Oktober 2005 zurückgezogen, nachdem es in der Öffentlichkeit bekannt geworden war; http://www.bits.de/NRANEU/docs/3_12fc2.pdf.

Aslihan Tümer ist Campaigner für Nuklearfragen bei Greenpeace Türkei. Übersetzt von Regina Hagen

Das Gewissen der Wissenschaft für die Abschaffung der Nuklearwaffen

Das Gewissen der Wissenschaft für die Abschaffung der Nuklearwaffen

Nachruf auf Sir Joseph Rotblat (1908-2005)

von Götz Neuneck

In der Nacht zum 1. September 2005 ist in London der Friedensnobelpreisträger Sir Joseph Rotblat, Mitbegründer der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« und vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler im Alter von 96 Jahren friedlich eingeschlafen.

Joseph Rotblat wurde 1908 als fünftes von sieben Kindern in einer Warschauer Handelsfamilie geboren. Seine ersten Forschungen zur Atomphysik machte er im Warschauer »Strahlenlabor«. 1939 ging er zunächst ohne seine Frau Tola Gryn nach Liverpool, um mit J. Chadwick an einem Zyklotron zu arbeiten. Als die politische Lage sich zuspitzte, fuhr er im Sommer 1939 nach Warschau zurück, um seine Frau nach England zu holen. Aufgrund einer Krankheit sollte sie ihm Tage später folgen. Der Beginn des Krieges verhinderte dies, Jo sah seine Frau nie wieder. Er heiratete nicht mehr.

In England beschäftigten sich die Physiker damals zunehmend mit Kriegsforschung. Die Atomphysiker waren durch die Arbeiten der Otto Hahn–Gruppe zur Kernspaltung alarmiert. Ebenso wie seine britischen Kollegen sollte sich auch Rotblat am Manhattan-Projekt beteiligen, doch bürokratische Hemmnisse führten dazu, dass er erst im März 1944 nach Los Alamos kam. Antriebskraft für die Arbeit im Manhattan-Projekt war die Befürchtung, dass Hitler über eine Bombe verfügen könnte. Doch Rotblat wurde Zeuge der Aussage General Groves, die Arbeiten an der Bombe seien nicht auf Deutschland, sondern auf Russland bezogen. Als ihm Ende 1944 klar wurde, dass die Deutschen das Bombenprojekt fallen gelassen hatten, war seine Anwesenheit in New Mexiko für ihn überflüssig geworden. Er stellte einen Rückreiseantrag und wurde zu Stillschweigen verpflichtet.

Obwohl auch viele seiner Kollegen den Hitler-Faktor als Hauptmotiv ansahen, arbeiteten sie weiter. Warum? Wohl aus wissenschaftlicher Neugierde, Karrieredenken, der Hoffnung auf schnelle Kriegsbeendigung und dem Glauben, über den Einsatz der Bombe könne man nach dem ersten Test debattieren. Rotblat schrieb 1985 in einem Artikel des Bulletin of the Atomic Scientists: „…Die Mehrheit ließ sich nicht durch moralische Skrupel stören; sie waren sehr zufrieden, es anderen zu überlassen, zu entscheiden wie ihre Arbeit genutzt werden würde.“

1946 begann er damit die britische Öffentlichkeit über die nuklearen Gefahren aufzuklären und für die Kontrolle nuklearer Energie einzutreten. Er organisierte eine mobile Ausstellung, den »Atomic Train«, und er wechselte sein Fachgebiet. Fortan widmete er sich der Erforschung und Nutzung radioaktiver Strahlung in Medizin und Biologie. 1954, unter dem Eindruck der Wasserstoffbombentests, kam Rotblat in Kontakt mit B. Russell, der im Juli 1955 der Weltpresse das »Russell-Einstein-Manifest« vorstellte. Als jüngster Unterzeichner des berühmten Dokuments widmete Rotblat sich der Umsetzung der Schlüsselpassagen, der Abschaffung der Nuklearwaffen und des Krieges als solchem. 1957 fand in dem kleinen Fischerdorf Pugwash/Nova Scotia die erste Konferenz statt, zu der sich mitten im Kalten Krieg 22 führende Wissenschaftler aus Ost und West trafen. Seitdem hat es ca. 300 weitere Pugwash-Treffen gegeben, auf denen wichtige Grundlagen für Rüstungskontrollverträge gelegt und Kontakte zwischen Regierungen und Wissenschaftlern angebahnt wurden. Joseph war viele Jahre Generalsekretär und später Präsident der Pugwash-Konferenzen. Unter seiner Führung wuchs die Organisation und zog immer mehr Wissenschaftler an. Heute gibt es über 50 nationale Pugwash-Gruppen (siehe z.B. www.pugwash.de).

Erst der Friedensnobelpreis von 1995 lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit auf das Wirken von J. Rotblat. In seiner Nobelpreisträgerrede wandte er sich gegen die »Elfenbeinturm-Mentalität« der Wissenschaft: „Von den frühesten Tagen an hatte ich eine Leidenschaft für Wissenschaft. Aber Wissenschaft, die Ausübung höchster Kraft menschlichen Denkens, war meiner Auffassung nach immer verbunden mit dem Nutzen für die Menschen. (…) Ich habe mir nicht vorgestellt, dass ich die zweite Hälfte meines Lebens mit Anstrengungen zubringen muss, um eine tödliche Gefahr zu verhüten, die durch Wissenschaft selbst hervorgebracht wurde.“

Joseph Rotblatt war eloquent, unermüdlich, fordernd und leidenschaftlich der Schaffung einer Welt verpflichtet, die sicherer, gerechter und humaner ist. Für Pugwash und für viele andere, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlen, war er ein großartiger Mentor und ein steter Inspirator für aktive Schritte zur nuklearen Abrüstung. In den letzten Jahren hat er sich besonders für die Initiierung einer Kampagne zur Aufklärung nuklearer Gefahren eingesetzt (Nuclear Awareness, siehe: www.comeclean.org.uk).

Joseph, war nicht nur einer der ersten nuklearen Kritiker, sondern »das Gewissen« einer Wissenschaft, das für die Abschaffung der Nuklearwaffen eintritt. Seine Botschaft ist klar: „Entweder die Welt wird die Nuklearwaffen eliminieren, oder wir werden mit der Aussicht konfrontiert, dass solche Waffen uns eliminieren.“

Sein Ziel, die Eliminierung der Nuklearwaffen, ist nicht erreicht. Wir müssen beharrlich und entschieden die Anstrengungen vervielfachen, um dieses Ziel zu erreichen. Wir sind es nicht nur ihm schuldig.

Seine deutschen Freunde trauern um einen überaus liebenswerten Menschen, einen hervorragenden Wissenschaftler, einen großen Humanisten und einen unermüdlichen Friedensaktivisten.

Dr. Götz Neuneck

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

Die Atomteststoppbehörde

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

von Oliver Meier

Die internationale Atomteststoppbehörde (Comprehensive Test Ban Treaty Organization, CTBTO) befindet sich fast acht Jahre nach ihrer Gründung in einem eigenartigen politischen Schwebezustand. Aufgabe der Organisation ist es, die Einhaltung des Vertrags über das Umfassende Verbot von Nuklearversuchen (Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, CTBT) zu überwachen. Aber das Abkommen, das seine Mitglieder verpflichtet „keine Versuchsexplosionen von Kernwaffen und keine andere nukleare Explosion durchzuführen“1, kann nicht in Kraft treten, obwohl es mittlerweile 176 Staaten gezeichnet und 125 ratifiziert haben.

Damit der Atomteststoppvertrag völkerrechtliche Verbindlichkeit erhält, müssen alle 44 Staaten, welche bei Vertragsabschluss 1996 Mitglieder der Genfer Abrüstungskonferenz waren und über Atomprogramme verfügten, den CTBT ratifizieren. Von diesen Staaten haben den Vertrag bisher

  • weder unterschrieben, noch ratifiziert: Indien, Nordkorea und Pakistan,
  • unterschrieben aber noch nicht ratifiziert: Ägypten, China, Indonesien, Iran, Israel, Kolumbien, USA und Vietnam.

Diese elf Staaten verhindern damit, dass die Ergebnisse der Arbeit der CTBTO auch tatsächlich und völkerrechtlich verbindlich zur Teststopp-Verifikation genutzt werden können.

Der Aufbau des Überwachungssystems für den Teststopp-Vertrag durch eine Vorbereitungskommission und das Provisorische Technische Sekretariat (PTS) in Wien hat trotz dieser politischen und rechtlichen Hängepartie gute Fortschritte gemacht. Mittlerweile beschäftigt die CTBTO fast 270 Mitarbeiter aus 69 Staaten. Wenn man von der ungewissen Zukunft des Vertrags selbst absieht, arbeitet die Organisation schon jetzt wie eine normale Abrüstungsbehörde.

Die amerikanische Abwendung

Die klare Ablehnung des CTBT durch die gegenwärtige US-Regierung bildet das größte Hindernis auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrages. Solange die größte Militär- und Nuklearwaffenmacht der Welt nicht auf die Option zur Wiederaufnahme von Kernwaffentests verzichtet, werden auch andere Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder verfügen möchten, sich die Möglichkeit zur Durchführung von Atomexplosionen offen halten wollen.

Präsident Bill Clinton unterzeichnete noch voller Stolz als erster Staatschef am 24. September 1996 den CTBT am Sitz der Vereinten Nationen. Damit schien der jahrzehntelange Kampf der USA um einen überprüfbaren Teststopp-Vertrag erfolgreich zum Abschluss gebracht. Aber die Hoffnung auf ein dauerhaftes Verbot aller Kernwaffentests geriet bald ins Wanken. Im Oktober 1999 weigerte sich der republikanisch dominierte Senat, den vom verhassten demokratischen Präsidenten favorisierten CTBT zu ratifizieren. Seitdem hat sich Washington kontinuierlich vom Vertrag distanziert.

Amerikanische CTBT-Gegner halten den Vertrag für nicht verifizierbar und befürchten, dass ein dauerhafter Verzicht auf Atomtests das eigene Nuklearwaffenarsenal gefährden könnte. Alterungsprozesse in vorhandenen Atomwaffen könnten Kernwaffentests zur Prüfung von Sicherheitsmängeln notwendig machen, so amerikanische Teststopp-Kritiker. Aber auch die Entwicklung neuartiger Atomwaffen wie »Mininukes« oder bunkerbrechende Kernwaffen soll möglich bleiben.2

Die USA bleiben durch die Unterschrift Clintons an den CTBT gebunden, bereiten aber einen möglichen vollständigen Rückzug aus dem Teststopp-Vertrag vor. Amerikanische Diplomaten weigern sich, jedem internationalen Dokument zuzustimmen, das den CTBT auch nur erwähnt. Und im August 2003 wies Präsident Bush das Energieministerium an, die Vorbereitungszeit für eine mögliche Wiederaufnahme von Kernwaffentests von ehemals 2-3 Jahren auf 18 Monate zu verkürzen.

Die Ablehnung des Teststopp-Vertrages durch Washington behindert auch den Aufbau der CTBTO. Seit August 2001 kürzt Washington den eigenen finanziellen Beitrag und behält eigenmächtig die Kosten für die Vorbereitung von Vor-Ort-Inspektionen ein. Begründung: solche Inspektionen, die die CTBTO nach einer vermuteten Vertragsverletzung zur Klärung des Sachverhalts durchführen könnte, würden erst nach Inkrafttreten des Vertrages durchgeführt werden – und genau dieses Inkrafttreten des Vertrags lehnt Washington ab.3

Aus Sicht der CTBTO ist die Kürzung finanziell noch zu verkraften weil sie bisher nur rund 5% (rund US$ 1 Millionen jährlich) des veranschlagten amerikanischen Beitrags beträgt. Aber möglicherweise stehen bald noch weitere Kürzungen ins Haus. Der US-Senat hat insgesamt US$ 7,5 Millionen aus dem diesjährigen Beitrag in Höhe von US$ 22 Millionen herausgeschnitten. Derartige Kürzungen, die vom US-Repräsentantenhaus in dieser Form abgelehnt werden, wären ein schwerer Rückschlag für die Arbeit der CTBTO auch wenn Außenministerin Condoleezza Rice am 16. Februar beteuerte, dass eine weitere Kürzung der US-Beiträge „… keine Änderung der US-Politik gegenüber dem CTBT“ bedeuten würde.4

Um den Aufbau des Systems zu vollenden und fertig gestellte Stationen zu betreiben, ist eine stabile Finanzierung notwendig. Jährlich benötigt die CTBTO etwa US$ 100 Millionen. Bisher wurden rund 95% der Beiträge von den Unterzeichnern des Vertrages eingetrieben. Dies ist eine im Vergleich zu anderen UN-Organisationen gute Quote. Einzelne Staaten, wie Brasilien und Argentinien, zahlen allerdings seit Jahren ihre Beiträge nicht. Damit schwächen sie die CTBTO auch wenn die Arbeit der Behörde (noch) nicht gefährdet ist.

Der Aufbau des Internationalen Überwachungssystems

Trotz der politischen Ablehnung des CTBT unterstützen die USA den Aufbau des internationalen Überwachungssystems (International Monitoring System, IMS) voll und ganz. Ein Grund für diese schizophrene Politik liegt im Interesse amerikanischer Geheimdienste an den IMS-Daten. Für die amerikanische Regierung dürften vor allem Daten aus Regionen interessant sein, in denen sie selber nicht über ausreichend hochwertige Überwachungsstationen verfügt, wie etwa in Zentral- und Südasien. Die USA sind als größter Abnehmer von IMS-Daten sogar bereit, der CTBTO für die Übermittlung aller verfügbaren Daten mehr zu zahlen als den regulären Satz. Das US-Interesse an den Daten der CTBTO ist ein eindrucksvoller Beleg für deren Qualität.

Das IMS selbst ist bereits zu zwei Dritteln fertig gestellt. Zweihundertundneun der insgesamt 321 Überwachungsstationen sind errichtet. Das seismische Netzwerk, das darauf ausgelegt ist, Signale von unterirdisch durchgeführten Atomtests aufzunehmen, ist das Herzstück des Überwachungssystems. Fünfzig Stationen werden kontinuierlich Daten nach Wien übermitteln, weitere 120 Hilfsstationen können bei Bedarf zugeschaltet werden. Elf im Meer an Bojen verankerte Hydrophone oder in der Nähe von steil abfallenden Küsten stationierte Hochfrequenz-Seismometer können Explosionen in den Ozeanen oder auf kleinen Inseln feststellen. Das Infraschall-Überwachungsnetzwerk von 60 landgestützten Stationen dient dem Ziel, die von atmosphärischen Nukleartests verursachten Schallwellen festzustellen und diese Tests so zu lokalisieren. Achtzig Radionuklidstationen werden rund um die Uhr radioaktive Aerosole und Edelgase in der Atmosphäre messen, die von atmosphärischen Atomtests stammen oder von unterirdischen Tests, die ausgasen.

Von den Stationen werden die Daten an das International Data Centre (IDC) in Wien und von dort zügig an die Mitgliedstaaten übermittelt. Ein groß angelegter Dauertest im April und Mai diesen Jahres hat belegt, dass der für eine erfolgreiche Vertragsüberwachung notwendige Dauerbetrieb, inklusive sicherer Datenübertragung aus Wien gewährleistet werden kann.5

Die CTBTO bewertet und analysiert IMS-Daten nicht. Es obliegt den Mitgliedstaaten festzustellen, ob ihrer Meinung nach ein Vertragsverstoß vorliegt. Nach Inkrafttreten des Vertrags kann jeder Mitgliedsstaat eine Sitzung des Exekutivrats der Organisation beantragen, wenn er vermutet, dass ein anderes Mitglied gegen den Vertrag verstoßen hat. Stimmen 31 der 50 Mitglieder des Exekutivrats zu, wird eine Vor-Ort-Inspektion zur Klärung des Sachverhalts angeordnet. Klare Vertragsverstöße kann die Vertragsstaatenkonferenz an den UN-Sicherheitsrat melden.

Während der Aufbau des Überwachungssystems Fortschritte macht, bleibt die Vorbereitung der Vor-Ort-Inspektionen schwierig. Der Vertrag selbst beschreibt nur die groben Parameter künftiger Inspektionen, wie etwa Dauer und Umfang. Seit Jahren verhandeln Mitgliedstaaten in Wien über ein Handbuch zu Vor-Ort-Inspektionen, das Einzelheiten über die Rechte und Pflichten künftiger Teststopp-Inspekteure festlegen soll.

Der amerikanische Boykott der Vorbereitungen für Vor-Ort-Inspektionen stellt den Wert der Verhandlungen über ein Inspektionsregime insgesamt in Frage. Aber auch andere Staaten, wie etwa Israel, achten mit Argusaugen darauf, dass künftige Inspektoren nicht zu weitreichende Rechte erhalten. Sie fürchten, dass Inspektionen dazu missbraucht werden könnten vertragsfremde Einrichtungen auszuspionieren, etwa die geheime Atomanlage in Dimona.

Wie andere Verifikationssysteme, kann auch das IMS keine hundertprozentige Sicherheit bieten, dass alle Vertragsverletzungen aufgedeckt werden. Das System zielt eher darauf ab, Vertragsbrüche mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen, und potenzielle Vertragsverletzer dadurch abzuschrecken.

Ein Unterlaufen des Überwachungssystems durch einen geheimen Kernwaffentest – ein Szenario das CTBT-Kritiker in den USA immer wieder als Schwachpunkt des Vertrages angeführt haben – dürfte ausgeschlossen sein. Militärisch relevante Tests haben eine Sprengkraft von mehreren Kilotonnen TNT-Äquivalent. Das IMS ist aber darauf ausgelegt, weltweit Explosionen mit einer Sprengkraft von mindestens einer Kilotonne zu entdecken. In vielen Gegenden kann das IMS schon jetzt Explosionen von wesentlich kleinerer Sprengkraft – in einzelnen Fällen von 10-25 Tonnen – feststellen und in den meisten Fällen auch lokalisieren.6

Zusätzliche Nutzung des IMS?

Schon seit Jahren gibt es Vorschläge, die Daten des IMS auch für andere Zwecke als zum Aufspüren von Kernwaffentests zu verwenden,. Das Überwachungssystem ist weltweit einmalig, nicht nur auf Grund seiner globalen Reichweite sondern auch wegen der schnellen Datenverfügbarkeit und der sicheren Übertragung an Empfänger weltweit. So könnten z.B. die Daten aus dem Infraschallnetzwerk dazu verwendet werden, die Luftfahrt vor Vulkanausbrüchen zu warnen. Möglich wäre es auch, bestimmte IMS-Daten zur Überwachung anderer internationaler Abkommen, insbesondere Rüstungskontrollabkommen, zu nutzen. Das Netzwerk von Radionuklidstationen etwa könnte auch geheime Produktionsanlagen für Kernwaffenmaterialien aufspüren.

Jahrelang scheiterten solche Vorschläge zur Nutzung von Synergieeffekten jedoch an den Ängsten einiger Staaten wie China, die eine Aufweichung der Regeln zum Schutz »vertraulicher« Informationen befürchten. Sie bestanden darauf, dass nur staatliche Datenzentren IMS-Daten empfangen dürfen. Erst die Tsunami-Katastrophe vom letzten Jahr hat solche Bedenken hinweg gespült. Achtundsiebzig IMS-Stationen hatten das Seebeben am 26. Dezember 2004 registriert und die Daten schon nach zwei Stunden an alle Mitgliedstaaten übermittelt. Dies schloss auch betroffene Staaten in der Region ein, wie etwa Indonesien und Thailand.7 Diese Daten wurden dort allerdings nicht entsprechend ausgewertet und damit eine wichtige Chance zur Frühwarnung vertan.

Im März diesen Jahres beschlossen die Vertragsmitglieder, dass das PTS auf Probebasis Daten an zwei Tsunami-Frühwarnorganisationen der UNESCO übertragen soll. Ob dieser wichtige Schritt zur Öffnung des Systems auch weitere Möglichkeiten für eine Nutzung der Daten zur Frühwarnung und Katastrophenhilfe eröffnet, muss allerdings abgewartet werden.8

Wie weiter?

Trotz beeindruckender Fortschritte beim Aufbau des Überwachungssystems liegt die Frage des Inkrafttretens des Vertrages wie ein dunkler Schatten über der Arbeit der CTBTO. Alle zwei Jahre beraten die Mitgliedstaaten, was unternommen werden kann, um das Inkrafttreten des Teststopp-Vertrags zu beschleunigen. Auf der vierten, nach dem entsprechenden CTBT-Paragrafen benannte Artikel XIV-Konferenz, die vom 21.-23. September 2005 in New York stattfand, wurde erneut deutlich, dass ein stetiges und druckvolles Drängen auf Vertragsbeitritt bei den noch außerhalb des CTBT stehenden Staaten ohne politische Alternative ist. Je kürzer die Liste der Blockierer ist, desto größer wird der politische Druck auf die noch ausstehenden Verweigerer und desto stärker ist die internationale Norm gegen Atomtests.

Der Sonderbeauftragte zur Förderung des Ratifizierungsprozesses, Jaap Ramaker, berichtete von seinen weitgehend erfolglosen Bemühungen weitere Annex II-Staaten von einem Vertragsbeitritt zu überzeugen.9 Die chinesische Regierung beteuerte gegenüber Ramaker, dass sie guten Willens sei, den CTBT zu ratifizieren und »nur« noch auf den Abschluss des parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens warte. Gleichlautende Beteuerungen gibt es allerdings seit Jahren aus Peking. Pakistan erklärte, dass ein Beitritt zum Teststopp-Vertrag gegenwärtig keine Priorität besäße und die indische Regierung empfing Botschafter Ramaker erst gar nicht. Der wichtigste Schlüssel zum politischen Erfolg liegt aber weiterhin in Washington.

Der Fortschritt beim Aufbau des Verifikationssystems durch die Wiener Teststoppbehörde ist dabei ein wichtiges Seismometer für die politische Unterstützung für den CTBT insgesamt. Auch deshalb ist es wichtig, dass diejenigen Regierungen, die an den Zielen des Teststopp-Vertrags festhalten, die CTBTO weiter nach Kräften unterstützen. Nur dann ist gewährleistet, dass „bei Inkrafttreten des Vertrages … das Verifikationssystem in der Lage [ist], den Verifikationsanforderungen des Vertrages zu genügen.“10

Anmerkungen

1) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel I (1).

2) Eine Diskussion dieser Argumente findet sich in dem Report des CTBT-Sonderbeauftragten General John M. Shalikashvili (USA Ret.): Report on the Findings and Recommendations Concerning the Comprehensive Test Ban Treaty, January 4, 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_01-02/ctbtreport.asp

3) Philipp C. Bleek: White House to Partially Fund Test Ban Implementing Body, in: Arms Control Today, September 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_09/ctbtsept01.asp.

4) Daryl G. Kimball: The Status of CTBT Entry Into Force: the United States, Presentation at the VERTIC Seminar on the Comprehensive Test Ban Treaty on the Occasion of The Fourth Article XIV Conference on Accelerating Entry Into Force, New York, September 22, 2005, http://www.armscontrol.org/events/20050921_VERTIC.asp.

5) Background Document by the Provisional Technical Secretariat of the Preparatory Commission for the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization prepared for the Conference on Facilitating the Entry into Force of the CTBT, CTBT-Art.XIV/2005/3/Rev.1, 7 September 2005.

6) Einschätzungen zur Verifizierbarkeit des Vertrages finden sich unter anderem im Bericht der Unabhängigen Kommission zur Verifizierbarkeit des Teststopp-Vertrages, London 7. November 2000, http://www.ctbtcommission.org/germanreport.htm und Ben Mines: The Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty: virtually verifiable now, VERTIC Brief 3, London, April 2004, http://www.vertic.org/assets/BP3_Mines.pdf.

7) Northern Sumatra Earthquake and the Subsequent Tsunami on 26 December 2004, CTBTO Press Release, 5. Januar 2005.

8) Oliver Meier: CTBTO Releases Test Ban Monitoring Data for Tsunami Warning, in: Arms Control Today, Vol. 35, No. 2, April 2005, S. 39-40.

9) Report of Ambassador Jaap Ramaker, Special Representative to promote the ratification process of the CTBT to the Conference on Facilitating the Entry into Force of the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, New York, 21-23 September 2005.

10) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel IV (1).

Dr. Oliver Meier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sowie Internationaler Repräsentant und Korrespondent der Arms Control Association in Berlin.

Strahlende Strategen

Strahlende Strategen

Irans Nuklearprogramm und transatlantische Interessenlagen

von André Bank

Irans Atomprogramm beschäftigt zur Zeit die Außen- und Militärpolitiker von Teheran bis Tel Aviv, von Washington bis Berlin, Paris und London: Wie und mit welchen Mitteln kann der Bau iranischer Nuklearwaffen verhindert werden? André Bank über die längerfristigen Interessen und Strategien der wichtigsten am Atomkonflikt beteiligten Akteure: Irans pragmatische Konservative, die zweite Bush-Administration und die drei EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die seit 2003 als »Vermittler« auftreten.

Anders als die Atommächte Israel, Pakistan und Indien hat der Iran den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), auch Atomwaffensperrvertrag genannt, 1970 ratifiziert und damit sein Atomprogramm der Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) unterstellt. In den 1960er und 70er Jahren hatte das pro-westliche Schah-Regime Zugang zu ziviler Nukleartechnologie erhalten – nicht zuletzt aus der Bundesrepublik. Nach der islamischen Revolution von 1979 ruhte dann das iranische Atomprogramm; es wurde erst 1984 – während des Kriegs mit dem Irak – wieder aufgenommen. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die iranische Führung besonders Russland, China und Nordkorea in Fragen der Atomtechnologie zugewandt.1

Die Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms

Die aktuellen Auseinandersetzungen wurden dadurch eingeleitet, dass die IAEA im August 2002 eine geheime Anlage zur Urananreicherung in Natanz und eine geheime Schwerwasserproduktionsstätte in Arak entdeckte. Die einsetzenden Meinungsverschiedenheiten zwischen der iranischen Führung und der IAEA verschärften sich, als der Direktor der iranischen Atomenergieorganisation, Reza Aghazadeh, im Mai 2003 – zeitgleich mit amerikanischen Drohungen gegen den Iran nach dem formellen Ende des Irak-Kriegs – erklärte, dass es nicht nur Teherans Intention sei, mit Unterstützung Russlands bis Ende 2005 den Leichtwasserreaktor in Bushehr am Persischen Golf fertig zu stellen, sondern auch den vollständigen Nuklearkreislauf zu entwickeln. Die nationale Unabhängigkeit beinhalte das Recht auf die zivile Nutzung der Nukleartechnologie. Eine umfassende Implementierung dieser Pläne würde den Iran in die Lage versetzen, Nuklearwaffen herzustellen und den Atomwaffensperrvertrag aufzukündigen.2

Die Drohung der iranischen Führung und die harschen Gegenreaktionen aus Washington riefen Mitte 2003 die drei EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien als Vermittler auf den Plan. Die intensiven Verhandlungen zwischen der EU-3 und der iranischen Führung mündeten am 21. Oktober 2003 in der »Teheraner Erklärung«. In dieser verpflichtet sich der Iran zur kompletten Offenlegung des Nuklearprogramms sowie zur Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Atomwaffensperrvertrag, das restriktivere IAEA-Inspektionen erlaubt. Von den EU-Staaten wurde dem Iran dafür der Zugang zu moderner Technologie in Aussicht gestellt.3 Die einsetzende Phase der Entspannung war jedoch nur von kurzer Dauer, da IAEA-Chef Muhammad al-Baradei bereits Ende Februar 2004 eindeutige Hinweise auf iranische Geheimexperimente zum Auslösen einer atomaren Kettenreaktion mit Polonium vorlegte.4 Dieser Verstoß sowie iranische Versäumnisse, wie die bis dato noch ausstehende Ratifizierung des Zusatzprotokolls, wurden in der IAEA-Resolution vom 13. März 2004 aufgeführt. Im Gegenzug kündigte der iranische Chefunterhändler Hassan Rouhani an, die IAEA-Inspektionen der iranischen Atomanlagen vorerst auszusetzen.5

Dieses Katz-und-Maus-Spiel zwischen der iranischen Führung auf der einen, der EU-3 und der IAEA auf der anderen Seite, setzte sich bis Anfang 2005 fort.6 Mitte Juni 2004 legte Rouhani dem IAEA-Gouverneursrat dann eine mehr als tausendseitige Dokumentation vor, mit der nachgewiesen werden sollte, dass Irans Atomprogramm ausschließlich friedlichen Zwecken dient. Die IAEA widersprach und wies auf die unbekannte Herkunft von waffenfähigem Uran in Natanz sowie auf die ungemeldete Existenz moderner Gaszentrifugen hin. In ihrer Resolution vom 18. September 2004 drohte sie der iranischen Führung, bei Missachtung der Vereinbarungen den UN-Sicherheitsrat anzurufen, was ein verschärftes Sanktionsregime nach sich hätte ziehen können.7 In einer Absichtserklärung zwischen der EU-3 und Iran vom 15. November 2004 verpflichtete sich der Iran zur temporären Aussetzung der Urananreicherung. Im Gegenzug erklären die drei EU-Staaten, Irans Beitritt zur Welthandelsorganisation zu unterstützen, bei der zivilen Nuklearnutzung zu kooperieren und der Islamischen Republik eindeutige Sicherheitsgarantien zu gewährleisten.8 Seit der November-Erklärung ist es zwar zu mehreren iranisch-europäischen Gesprächsrunden gekommen, die jedoch bis Februar 2005 keine größeren Ergebnisse zeitigten. Das Tauziehen um Details und Verfahrensfragen geht also vorerst weiter.

Irans Atomprogramm und die pragmatischen Konservativen

Seit Mitte der 1990er Jahre bestimmt die Nuklearfrage die interne Strategiedebatte im Irak.9 Zwischen den Konservativen unter Revolutionsführer Khamene‘i und den Reformern unter Präsident Khatami herrscht Konsens über Irans Recht auf den Besitz moderner Nukleartechnologie und die strategische Bedeutung des Atomprogramms als defensive Sicherheitsgarantie. Unterschiede bestehen in der Art der öffentlichen Rechtfertigung des Nuklearprogramms, etwa wenn Khamene‘i die nationale Sicherheit und Unabhängigkeit herausstellt, während Khatami stärker ökonomische Aspekte betont.10

Die lose Fraktion der so genannten pragmatischen Konservativen ist ein weiterer zentraler Entscheidungsträger.11 Ihre beiden wichtigsten Vertreter sind der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats und enge Vertraute Khamene‘is, Hassan Rouhani, der als heißester Präsidentschaftskandidat für die Wahlen am 17. Juni 2005 gilt, sowie Ali Akbar Hashemi Rafsanjani, der Chef des Schlichtungsrats und ehemalige Staatspräsident. Als Repräsentant der einflussreichen Handelsbourgeoisie pocht Rafsanjani auf eine wirtschaftliche Öffnung, vor allem gegenüber der EU, sowie auf einen weiteren Ausbau der Handelsbeziehungen zu Russland, Indien und China. Gerade China hat für ihn Vorbildcharakter, da es wirtschaftliche Öffnung mit autoritärer Herrschaft verbindet und damit an weltpolitischer Bedeutung zu gewinnen scheint. Trotzdem teilt Rafsanjanis mit den anderen Teilen des Establishments die Ansicht, dass Regimesicherheit nur mit einer defensiven Atomwaffenoption zu erreichen ist.

Offensichtlich geht es darum, unter dem Deckmantel eines zivilen Nuklearprogramms relativ kurzfristig ein atomares Abschreckungspotenzial gegen mögliche US-Angriffe zu entwickeln. Dabei wird eine Doppelstrategie verfolgt, die einerseits darauf abzielt, das eigene Nuklearprogramm nach und nach auszubauen und sich andererseits durch Verhandlungen mit den drei EU-Staaten und der IAEA vor Sanktionen oder Militärschlägen zu schützen. Daneben könnte sich das iranische Atomwaffenprogramm in zukünftigen Verhandlungen mit den USA, die angesichts des anti-amerikanischen Selbstverständnisses der Islamischen Republik (noch) ein Tabu darstellen, zudem als entscheidender »bargaining chip« im Austausch gegen eine umfassende Sicherheitsgarantie erweisen. Spätestens in diesem Stadium würde dann auch die von Rafsanjani geforderte, umfassende wirtschaftliche Öffnung auf die Agenda kommen.

Transatlantische Befindlichkeiten

In den letzten Monaten ist die Haltung der drei EU-Staaten gegenüber dem Iran fordernder geworden. Ursache ist sicher nicht nur der schleppende Verhandlungsverlauf, sondern auch das Bemühen, der transatlantischen Aussöhnung über einen gemeinsamen Schulterschluss im iranischen Atomkonflikt ein Stück näher zu kommen.12 Schließlich dürften die USA und die drei EU-Staaten darin übereinstimmen, dass eine iranische Atombombe verhindert werden muss, da sie die atomare Vormachtstellung Israels im Nahen und Mittleren Osten beenden und eine nukleare Rüstungsspirale forcieren würde. Allerdings haben die EU-Staaten auch eigene regional- und wirtschaftspolitische Interessen. So sind sie an der Aufrechterhaltung der Rolle der Islamischen Republik als regionalem Stabilitätsanker sowie als Garant europäischer Energiesicherheit interessiert. Zudem besitzen europäische Unternehmen bisher auf dem iranischen Markt einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber US-Firmen, die aufgrund der umfassenden Sanktionen außen vor bleiben. Angesichts dieser vielschichtigen Interessenlage verfolgen die EU-3 im Atomkonflikt eine Strategie des »konditionierten Engagements«, die aus Anreiz- (Hilfe bei ziviler Nukleartechnologie) und moderaten Sanktionsmechanismen (Verhandlungsstopp bei Handels- und Kooperationsabkommen) besteht und auf die graduelle Veränderung der iranischen Position abzielt.13

Die US-Administration geht ihrerseits davon aus, dass eine iranische Atombombe unter allen Umständen verhindert werden muss.14 Da ihr primäres Interesse der Zementierung des regionalen Nuklearwaffenmonopols Israels und der eigenen hegemonialen Stellung im Nahen und Mittleren Osten gilt, hält sie sich alle Optionen offen, Militärschläge gegen iranische Atomanlagen und Raketenfabriken inklusive.15 Ob diese durchgeführt werden, hängt dann nicht zuletzt davon ab, welche Kräfte sich in der Bush-Administration durchsetzen. Zur Zeit lassen sich – vereinfacht gesagt – zwei einflussreiche Positionen unterscheiden: Neokonservative Hardliner wie Michael Ledeen vom American Enterprise Institute fordern als schnellstmögliche Lösung des Atomkonflikts einen gewaltsamen Regimewechsel in Teheran.16 Sie stehen Vizepräsident Cheney sowie Teilen des Pentagon nahe und koordinieren ihre Stimmungsmache in der »Coalition for Democracy in Iran«, der unter anderem auch Ex-CIA-Chef James Woolsey angehört.17 Die Gegenposition wird am prominentesten von Kenneth Pollack von der moderateren Brookings Institution vertreten. Pollack spricht sich aus historischen, militärischen, innen- und regionalpolitischen Gründen eindeutig gegen eine Iraninvasion der USA aus. Stattdessen fordert er eine mehrstufige Politik der Vereinbarungen in direkten bilateralen Verhandlungen zwischen der US-Regierung und der iranischen Führung.18

Die teilweise divergierenden Interessenlagen zwischen den EU-Staaten und der Bush-Regierung erschweren die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie im iranischen Atomkonflikt. Trotzdem wird aber seit der iranisch-europäischen Absichtserklärung vom 15. November 2004 zunehmend eine »Good-Cop, Bad-Cop«-Arbeitsteilung deutlich.19 Die drei europäischen Staaten bieten positive Kooperationsanreize, die US-Regierung sorgt für die militärischen Drohgebärden.

Strahlende Aussichten

Nach Betrachtung der längerfristigen Interessenlagen und Strategien der drei zentralen Parteien in der iranischen Nuklearfrage zeigt sich, dass eine nachhaltige Konfliktlösung – im Sinne einer nuklearwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten – von keiner Seite angestrebt wird. Kurzfristig geht es Irans pragmatischen Konservativen um die Sicherung des eigenen Regimes durch Nuklearwaffen. Die möglicherweise einzige Chance, sie hiervon abzubringen, wäre eine amerikanische Nichtangriffsgarantie. Diese steht jedoch in einem unvereinbaren Widerspruch zum primären Interesse der US-Regierung, die gegenwärtig existierende regionale Machtasymmetrie und somit letztlich die eigene Hegemonialstellung aufrechtzuerhalten. Und schließlich kann auch die Rolle der EU-3 im iranischen Atomkonflikt angesichts vielschichtiger Eigeninteressen und der zuletzt aggressiveren Rhetorik gegenüber Teheran nicht als »unparteiisch vermittelnd« angesehen werden. Die Gefahr »strahlender Aussichten« bleibt wohl weiter real .

Anmerkungen

1) Vgl. Akbari, Semiramis: Iran zwischen amerikanischem und innenpolitischem Druck – Rückfall ins Mittelalter oder pragmatischer Aufbruch? Frankfurt/Main, HSFK-Report 1/2004, S. 26-28.

2) Vgl. Thränert, Oliver: Stopping the Unstoppable? European Efforts to Prevent an Iranian Bomb, in: Reissner, Johannes / Whitlock, Eugene: Iran and its Neighbors: Diverging Views on a Strategic Region – Vol. II, Berlin, SWP, März 2004, S. 43.

3) Vgl. Statement by the Iranian Government and visiting EU Foreign Ministers, 21.10.2003 (www.iaea.org).

4) Vgl. Implementation of the NPT Safeguards Agreement in the Islamic Republic of Iran, Report by the Director General, 24.2.2004 (www.iaea.org).

5) Vgl. Bank, André: Atempause für Irans Führung – Äußerer Pragmatismus und innere Kontrolle sichern den Status Quo, in: Ausdruck – Das IMI-Magazin, April 2004, S. 18-19.

6) Vgl. Nirumand, Bahman: Iranisches Katz-und-Maus-Spiel, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober 2004, S. 1171-1174.

7) Vgl. Implementation of the NPT Safeguards Agreement in the Islamic Republic of Iran, Resolution adopted by the Board, 18.9.2004 (www.iaea.org).

8) Vgl. Massarrat, Mohssen: Iran: Atom-Konflikt auf Raten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Januar 2005, S. 25.

9) Vgl. Chubin, Shahram: Whither Iran? Reform, Domestic Politics and National Security, Oxford, Adelphi Paper 342, 2002, S. 71-85.

10) Es ist ziemlich offensichtlich, dass das iranische Atomprogramm aus energie- und wirtschaftspolitischer Sicht wenig Sinn macht. Vgl. Massarrat, Mohssen: Teherans Atompolitik – Die Balance of Power und das regionale Sicherheitsdilemma, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2004, S. 473-475. Allerdings ist eine solche Begründung im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags rechtlich kaum zu beanstanden.

11) Vgl. Taykeyh, Ray / Gvosdev, Nikolas K.: Pragmatism in the Midst of Iranian Turmoil, in: The Washington Quarterly, Autumn 2004, S. 33-56.

12) Vgl. Einhorn, Robert J.: A Transatlantic Strategy on Iran‘s Nuclear Program, in: The Washington Quarterly, Autumn 2004, S. 21-32.

13) Vgl. Reissner, Johannes: Europas Beziehungen zu Iran, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2004, S. 48-54.

14) Vgl. Massarrat, Mohssen: a.a.O., April 2004, S. 476.

15) Seymour Hersh zufolge hat das US-Pentagon hierzu spätestens seit Sommer 2004 geheime Kommandos zur Bestimmung von mindestens drei Dutzend Angriffszielen (nukleare und chemische Arsenale sowie Raketenfabriken) in den Iran entsandt. Vgl. sein: The Coming Wars – What the Pentagon can now do in secret, in: The New Yorker, 24.-31.1.2005. Ali Akbar Dareini spricht davon, dass unbemannte US-Spionagedrohnen seit 2004 iranischen Atomanlagen sowie Luftabwehrstellungen inspizieren. Vgl. sein: Iran rejects demand on nuclear reactor, in: Washington Post, 13.2.2005. Möglicherweise könnte ein Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen aber auch von Israel ausgehen. Ein Indiz hierfür wäre die Lieferung von 500 BLU-109 Sprengköpfen, so genannten Bunkerknackern, durch die USA an Israel im September 2004. Vgl. Wagner, Jürgen: US-Waffenhilfe für israelische Präventivschläge gegen den Iran?, in: Ausdruck – Das IMI-Magazin, Oktober 2004, S. 19-20.

16) Vgl. exemplarisch Ledeen, Michael: Faster, Please – Iran needs change. We need to help – now, in: National Review Online, 7.2.2005.

17) Vgl. www.c-d-i.org.

18) Vgl. Pollack, Kenneth M.: The Persian Puzzle – The Conflict Between Iran and America, New York 2004, S. 374-432.

19) Vgl. Sanger, David E.: A ,Good-Cop, Bad-Cop‘ Approach on Iran, in: New York Times, 21.11.2004.

André Bank ist Doktorand am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und Beirat der Informationsstelle Militarisierung.

Hoch gepokert

Hoch gepokert

Nordkorea: Kleines Land, große Chuzpe

von Rainer Werning

2002 von US-Präsident Bush als Teil einer »Achse des Bösen« gescholten, setzt Nordkoreas Regime mit Beginn der zweiten Amtszeit seines Erzrivalen ebenfalls auf Stärke und den Besitz von Atomwaffen. So weit sind die führenden Politiker und Diplomaten der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) bislang noch nicht gegangen. Beharrte Pjöngjang zuvor lediglich auf seinem Recht, auch über eine »militärische Abschreckungskraft« zu verfügen, so erklärte das nordkoreanische Außenministerium in einer am 10. Februar von der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA verbreiteten Stellungnahme: „Wir haben Nuklearwaffen zur Selbstverteidigung hergestellt, um mit der immer unverhohleneren Politik der Bush-Regierung zur Isolierung und Erstickung (Nordkoreas) fertig zu werden. (…) Die gegenwärtige Realität beweist, dass nur mächtige Stärke Gerechtigkeit und Wahrheit schützen kann.“ Zugleich gab die Regierung der Volksrepublik bekannt, der sogenannten Sechser-Runde, den von Beijing initiierten und seit 2003 in der chinesischen Hauptstadt stattfindenden internationalen Verhandlungen, über Nordkoreas Atomprogramm einstweilen fern zu bleiben. Neben Nordkorea und der VR China nahmen an den Gesprächen in Beijing auch Südkorea, Japan, Russland und die USA teil.

Seit dem 10. Februar ist somit der – aus westlicher Perspektive – dritte Atomkonflikt auf der koreanischen Halbinsel eingeläutet. Unabhängig davon, ob Nordkorea nunmehr tatsächlich im Besitz von Atombomben und technisch ausgereiften Trägersystemen ist, was selbst Siegfried Hecker, einst Direktor des Atomwaffenlabors in Los Alamos, New Mexico, nach einem Besuch des nordkoreanischen Reaktorkomplexes Yongbyon im vergangenen Jahr bezweifelte, pokert Pjöngjang diesmal hoch.

Eins, zwei, drei Atomkonflikte

Der erste Atomkonflikt (1993/94) war durch die Vermittlung des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter beigelegt worden. Im Oktober 1994 vereinbarten die USA und Nordkorea in Genf das »Agreed Framework«. Gemäß diesem Rahmenabkommen verzichtete Pjöngjang auf sein laufendes Nuklearprogramm. Als Gegenleistung sicherten die USA zu, den Nordkoreanern bis zur Fertigstellung zweier Leichtwasserreaktoren zwecks ziviler Nutzung im Jahre 2003 jährlich 500.000 Tonnen Schweröl zu liefern und die Souveränität des Landes anzuerkennen. Eine Sicherheitsgarantie also, was Nordkorea als Vorstufe einer möglichen friedensvertraglichen Regelung mit den USA werten konnte. Denn seit dem Ende des Koreakrieges (1950-53) existiert lediglich ein Waffenstillstands-, jedoch kein Friedensabkommen für die koreanische Halbinsel. Zur Umsetzung des »Agreed Framework« wurde eigens im März 1995 von den USA, Südkorea und Japan die Korean Peninsula Energy Development Organisation (KEDO) gegründet, an der sich auch die EU von 1996 bis 2000 mit damals umgerechnet rund 150 Millionen DM beteiligte. Aufgrund dieser Vereinbarung kehrte Nordkorea wieder vollumgänglich unter das Kontrollsystem der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien zurück.

Zwar erregte damals in Washington das von der nordkoreanischen Führung mehrfach praktizierte Junktim – erhöhte Nahrungsmittellieferungen im Austausch für IAEA-Inspektionen – Ärgernis. Das jedoch hielt die Clinton-Administration nicht davon ab, den früheren Verteidigungsminister William Perry mit der Ausarbeitung von Richtlinien einer künftigen US-amerikanischen Nordkoreapolitik zu beauftragen. Nach intensiver Ostasien-Shuttle-Diplomatie kam Perry in seinem am 12. Oktober 1999 veröffentlichten Report zu dem Ergebnis, dass das »Agreed Framework« unbedingt Bestand haben müsse, wenngleich kooperative und konfrontative Elemente im Umgang mit Pjöngjang fortan stärker aufeinander abgestimmt werden sollten. Die Bedeutung des Perry-Reports lag darin, dass er auf der Basis intensiver, für sämtliche Protagonisten in der Region Gesicht wahrender Gespräche verfasst wurde, die ursprünglich angenommene Prämisse eines kurz- bis mittelfristigen Zusammenbruchs Nordkoreas revidierte, die von Südkoreas Präsidenten Kim Dae-Jung seit 1998 verfolgte »Sonnenscheinpolitik« vis-à-vis Pjöngjang ausdrücklich befürwortete und das seit dem Koreakrieg wichtigste Entspannungssignal aussandte. Konkretes Ergebnis dieses Berichts war ein für beide Seiten zeitweilig immerhin vorteilhaftes Arrangement. Erklärte sich Nordkorea zum Verzicht weiterer Raketentests bereit, lockerte Washington im Gegenzug einige seiner Wirtschaftssanktionen und setzte sich für die Fortführung und Aufstockung von Hilfslieferungen an die Volksrepublik ein. Die Normalisierung zwischen beiden Ländern verlief auf einmal so reibungslos, dass sich US-Außenministerin Madeleine Albright und General Cho Myoung-Rok, damals die Nummer drei in der Nomenklatur der Volksrepublik, gegenseitige Besuche in Pjöngjang und Washington abstatteten. In beiden Hauptstädten waren sogar Vorbereitungen für US-Präsident Clintons letzten Auslandsbesuch vor Ablauf seiner Amtszeit im Januar 2001 getroffen worden. Diese Reise hätte Clinton nach Nordkorea führen sollen, was zumindest im Anschluss von Albrights Besuch in der Volksrepublik Ende Oktober 2000 avisiert war.

Seitdem George W. Bush ins Weiße Haus einzog, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Washington und Pjöngjang ebenso rasch wie tiefgreifend. Ausschlaggebend dafür waren zunehmende Konflikte zwischen dem State Department und dem Pentagon über die Richtlinienkompetenz in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Oberhand behielt das Pentagon, dessen harte Linie dann sowohl von der damaligen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Vizepräsident Dick Cheney unterstützt und schließlich von George W. Bush vollumfänglich mitgetragen wurde. Bereits im Frühjahr 2001 nannten Rice und Bush die Volksrepublik China eine „aufstrebende Macht“ beziehungsweise einen „strategischen Gegner“, während der innerkoreanische Entspannungsprozess konterkariert wurde. Südkoreas Präsident Kim Dae-Jung wurde Anfang März 2001 anlässlich seines USA-Besuchs buchstäblich vorgeführt und brüskiert. Während dieses ersten Staatsbesuchs eines asiatischen Regierungschefs beim neuen Mann im Weißen Haus nannte Präsident Bush Nordkorea am 7. März 2001 ohne Umschweife einen Bedrohungsfaktor in Ostasien, mit dem weitere Gespräche ausgesetzt und erst nach einer kompletten Neubestimmung der US-amerikanischen Asienpolitik wieder aufgenommen würden. Als er dann auch noch den innerkoreanischen Dialog ernsthaft in Zweifel zog und signalisierte, die USA würden dessen Unterstützung einstellen, ließ das den südkoreanischen Staatsgast als naiven Eiferer und seine Entourage wie begossene Pudel dastehen. Noch einen Tag zuvor hatte US-Außenminister Colin Powell den noch zuversichtlich gestimmten Gästen aus Seoul versichert, sein Land werde die „vielversprechenden Elemente“ der Nordkorea-Politik seiner Vorgängerin weiterführen und da anknüpfen, wo die Clinton-Administration aufgehört habe.

Bushs Ende Januar 2002 erstmalig aufgestellte Behauptung, Nordkorea sei Teil einer „Achse des Bösen“, erboste die politische Führung in Pjöngjang. Dort fuhr man derbe Retourkutschen, schimpfte den US-Präsidenten einen „Schurkenbandenchef“ und warf den USA vor, von „moralischer Lepra“ (allesamt O-Töne der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA) befallen zu sein. Der zweite Atomkonflikt war programmiert, als der Abteilungsleiter für Ostasien-Angelegenheiten im Außenministerium, James A. Kelly, im Oktober 2002 Pjöngjang besuchte. Entgegen den Erwartungen der Gastgeber, sein Besuch könnte endlich eine Wende in den bilateralen Beziehungen einleiten, hinterließ das Treffen zwischen Kelly und dem stellvertretenden Außenminister Kang Suk-Ju einen Scherbenhaufen. Kelly legte »Beweise« vor, die angeblich das heimliche Atombombenprojekt in Nordkorea belegten. Diesen Vorwurf wies Kang scharf zurück und warf Kelly einen „arroganten Verhandlungsstil“ vor.

Nach dem Treffen im Oktober 2002 forderten die USA Nordkorea zum sofortigen Stopp des Nuklearprogramms auf. Im Dezember 2002 kappte Washington seine zugesicherten Heizöllieferungen an Pjöngjang, was dessen Führung in einem drastischen Gegenzug dazu bewog, am 10. Januar 2003 endgültig die Zusammenarbeit mit der IAEA aufzukündigen und deren Mitarbeiter des Landes zu verweisen. Zuvor hatten Pakistan und Indien (beide Nichtunterzeichner des Atomwaffensperrvertrags) erklärt, Atomwaffen zu besitzen. Während die USA selektiv ihren Druck auf den Irak ständig erhöhten, kochte die Bush-Administration ihren Konflikt mit Nordkorea zwischenzeitlich auf Sparflamme, obgleich Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die USA in der Lage wähnte, zwei Kriege – im Irak und gegen Nordkorea – gleichzeitig führen und gewinnen zu können.

Angst vor Straßenräubern …

Im Sommer 2003 konstatierte ein Autorenkollektiv des (staatlichen) Instituts für die Wiedervereinigung des Vaterlandes in Pjöngjang: „Die USA verprügeln wie ein Straßenräuber rücksichtslos schwache Gegner im Kosovo, in Afghanistan und im Irak, nur gegenüber Nordkorea vermeiden sie den ‚Präventivschlag’. Dies geschieht nicht etwa aus Gnade, sondern aufgrund des Besitzes militärischer Abschreckungskraft durch Nordkorea. Im Übrigen garantiert dies Eigenständigkeit und den Frieden auf der koreanischen Halbinsel und widerspricht auch nicht der von Nord- und Südkorea 1992 unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung zur Denuklearisierung, die ja ihrerseits den vollständigen Abzug der in Südkorea dislozierten US-amerikanischen Atomwaffen zur Voraussetzung hat.“ Als der »Präventivschlag« gemäß der seit September 2002 gültigen National Security Strategy (NSS) gegen den Irak näher rückte, vertraten die »Falken« in den USA lautstark das Argument, Nordkorea sei für den Weltfrieden weitaus bedrohlicher als der Irak. Einige Hardliner im Pentagon und in den Medien (z.B. das Wall Street Journal) befürworteten gar eine totale Seeblockade Nordkoreas sowie einen „chirurgischen Eingriff“ in die umstrittene Atomanlage in Yongbyon. Doch: Nordkorea besitzt keine Erdölvorkommen wie der Irak, und zu dem Zeitpunkt waren gut 37.000 GIs in Südkorea stationiert, die sich – gemeinsam mit den Bewohnern der nur knapp 50 Kilometer von der Demarkationslinie entfernt gelegenen Metropole Seoul – in Reichweite nordkoreanischen Artilleriefeuers befunden hätten. Gary E. Luck, einst kommandierender General der US-Streitkräfte in Südkorea, äußerte in Hearings des US-Kongresses und – Senats die Befürchtung, dass im Falle einer Irak-ähnlichen Operation gegen Nordkorea mit Hunderttausenden Toten gerechnet werden müsste.

Ein solches Risiko war der Bush-Regierung dann doch zu hoch. Selbst deren Verbündete in Tokio und Seoul zeigten sich alarmiert. In Südkorea setzt die politische Führung des Landes unbeirrt auf intensiven Dialog mit dem Norden und profitiert auch wirtschaftlich von einer regulierten Kooperation auf Staatsebene. So entstand erst vor wenigen Wochen der mit finanzieller sowie technischer Hilfe aus Seoul gebaute Industriepark Kaesong in Nordkoreas südlichster Stadt nahe der »entmilitarisierten Zone« am 38. Breitengrad, wo nunmehr eine Art kleiner Grenzverkehr täglich pendelnder Fachkräfte aus dem Süden existiert. Der Architekt der »Sonnenscheinpolitik«, der dafür im Jahre 2000 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Ex-Präsident Südkoreas, Kim Dae-Jung, hatte noch Mitte Juni 2003 unverblümt erklärt, dass sich Nordkoreas Atomwaffen, besäße es sie denn tatsächlich, im Vergleich zum US-amerikanischen Atomwaffenarsenal wie Spielzeuge ausnähmen. Und der in Pjöngjang für Südkoreafragen zuständige ranghohe Parteikader Ahn Byung-Ho hat mehrfach und deutlich die Position seines Landes bekräftigt, in dem Moment endgültig und definitiv aus dem Atomwaffenprogramm auszusteigen, sobald die USA das Existenzrecht Nordkoreas mit einem Nichtangriffsabkommen garantierten. Diese Position bezeichneten die chinesischen Gastgeber der Sechser-Gespräche in Beijing noch Anfang 2004 als „neues mutiges Angebot“.

… und einem erzwungenen Regimewechsel

Was also steckt hinter der weit reichenden Erklärung des nordkoreanischen Außenministeriums? Warum wurde sie zu diesem Zeitpunkt lanciert? Beabsichtigt Pjöngjang, den von Beijing gesponserten Sechser-Gesprächen tatsächlich fern zu bleiben?

Zeitpunkt und Inhalt der Erklärung stehen in direktem Zusammenhang mit Präsident Bushs zweiter Amtszeit. Wenngleich er in seiner Antrittsrede direkte Attacken gegen Nordkorea vermied, nährten seine weiteren Ausführungen, „die Fackel der Freiheit in alle Winkel der Welt zu tragen“, in Pjöngjang die Auffassung, dass Washington auf Kontinuität setzt, direkte bilaterale Verhandlungen kategorisch ablehnt und auch in den kommenden vier Jahren an seiner kompromisslosen Politik gegenüber »Schurkenstaaten« festhält. Schließlich bezeichnete die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice Nordkorea als einen „Vorposten der Tyrannei“. Spekulierten die USA lange Zeit auf das Zusammenbrechen oder eine Implosion der Volksrepublik, vergleichbar den Prozessen in der DDR und anderen realsozialistischen Regimes, so arbeitet die Bush-Regierung entsprechend ihrem Postulat des »Systemwechsels« weiterhin aktiv auf den Bruch der »Achse des Bösen« hin. Der Besitz oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist da, wie im Irak eindeutig demonstriert, von untergeordneter Bedeutung. Wäre Nordkorea militärisch so schwach wie der Irak, hätte vielleicht bereits vor dem Irak ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel stattgefunden. Dass den unilateral handelnden USA weder mit Logik, Bitten, Goodwill, Reaktorinspektionen und internationalem Recht beizukommen ist, bestärkt das ohne militärische Schutzmacht und ohne »atomaren Schutzschild« allein dastehende Regime in Pjöngjang in seinem Kalkül, unter allen Umständen anzustreben, mit den USA auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Und das schließt die Drohung mit beziehungsweise den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Besitz von »starker militärischer Abschreckungskraft« ein – ein risikoreiches Unterfangen.

Auch innenpolitisch verfehlt die Strategie des Pjöngjanger Außenministeriums ihre Wirkung nicht. Erklärtes Ziel ist seit Jahren die Politik des »starken Staates« und das Postulat »Die Armee zuerst!« Im Interessenkonflikt zwischen militärischer Stärkung des Landes und der Verbesserung der regional desolaten Lebenssituation der Bevölkerung hat sich die Führung eindeutig für die erste Option entschieden. Obgleich die Volksrepublik nach westlichen Schätzungen einen exorbitanten Anteil – etwa 30 Prozent – ihres Bruttoinlandprodukts in den Militärsektor investiert, entspricht diese Summe gerade mal einem Drittel der entsprechenden Ausgaben in Südkorea, wo überdies noch mit modernsten Waffen ausgerüstete 37.000 GIs stationiert sind. Atomare Abschreckungsmittel hätten aus Pjöngjanger Sicht den Vorteil, weitaus kostengünstiger als konventionelle Waffen zu sein. So könnten Ressourcen verstärkt für die Wiederbelebung der – streckenweise maroden – Wirtschaft mobilisiert werden. Weil es dazu auf die Erdöllieferungen aus der VR China angewiesen ist, wird sich Nordkorea (notfalls) politisch-diplomatischem Druck aus Beijing nicht verschließen (können), dorthin erneut an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Pjöngjang weiß letztlich nur zu gut, dass es momentan keinen besseren Vermittler zwischen den USA und Nordkorea gibt als den »älteren Bruder« China. China ist nicht daran gelegen, an seinen Grenzen mit Nordkorea einen Dauerkonflikt schwelen zu lassen, der zudem die Stabilität und Sicherheitslage in Nordostasien gefährdet. Solange international auf den »nordkoreanischen Sack« eingedroschen wird, ist damit auch und gerade der »chinesische Esel« gemeint. Schon deshalb hat China ein handfestes Interesse daran, sich als erfolgreicher diplomatisch-politischer Krisenbroker zu empfehlen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, in der gesamten Region langfristig und strategisch zur wirtschaftlichen, politischen und militärischen Führungsmacht aufzusteigen.

Schließlich beging der »Geliebte Führer« Kim Jong-Il am 16. Februar seinen 63. Geburtstag – im Jahre Sechzig nach dem Ende des Krieges und langjähriger japanischer Kolonialzeit. Da hat der Verweis auf Antikolonialismus und Antiimperialismus hohen symbolischen Gehalt, um das (Über-)Leben von Staat und Gesellschaft zu garantieren. Gleichzeitig stärkt dies Nordkoreas wichtigste Institution, nämlich das Militär, dessen Stellung Kim Jong-Il zu würdigen weiß. Wenn immer er öffentlich auftritt und ausländische Gäste empfängt, tut er dies in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, ist Vorstandsvorsitzender des Korea-Verband e.V. im Asienhaus (Essen). Gemeinsam mit Hyondok Choe und Du-Yul Song ist er Ko-Herausgeber des Buches Wohin steuert Nordkorea? Soziale Verhältnisse, Entwicklungstendenzen und Perspektiven (Köln 2004: PapyRossa Verlag), aus dem auch die im vorliegenden Text verwendeten Zitate stammen.


Nordkorea und der Atomwaffensperrvertrag

Der Atomwaffensperrvertrag von 1968, offiziell Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation Treaty/NPT) genannt, ist das wichtigste internationale Regelwerk zur Kontrolle von Nuklearwaffen. Er trat 1970 in Kraft und verbietet die Weitergabe von Atomwaffen und atomwaffenfähigem Material. Nach Artikel 3 des Vertrags soll die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sicher stellen, dass die Nichtkernwaffenstaaten kein spaltbares Material zum Bau von Atombomben abzweigen oder aus anderen Ländern beschaffen. Über die Einhaltung des Vertrags wacht die in Wien ansässige IAEA.

Dem NPT gehören 189 Staaten an. Von den Staaten mit Atomwaffenkapazitäten sind nur Indien, Pakistan und Israel nicht beigetreten. Nordkorea trat dem Atomwaffensperrvertrag 1985 bei und ratifizierte im Jahre 1992 umfangreiche Sicherheitsvereinbarungen mit der IAEA. Im Dezember 2002 kündigte Pjöngjang an, sein Atomprogramm zur friedlichen Nutzung wieder aufzunehmen, weil die USA ihren Verpflichtungen aus dem 1994 geschlossenen »Agreed Framework« nicht nachgekommen seien. Nachdem Pjöngjang bereits 1993/94, auf dem Höhepunkt des ersten Atomkonflikts, mit einem Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag gedroht hatte, scherte es im Januar 2003 endgültig aus. Ein sehr weitreichender Schritt, denn kein anderes Land zuvor gemachte hat.

Seit August 2003 trafen sich bislang dreimal Diplomaten aus Nord- und Südkorea, Japan, Russland, China und den USA – die sogenannte Sechser-Runde – unter der Schirmherrschaft der VR China zu Gesprächen in Beijing, um den Atomkonflikt mit Pjöngjang beizulegen.


Schöne heile Feindwelt

Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist die Demokratische Volksrepublik Korea für die Vereinigten Staaten von Amerika geblieben, was es in der Sicht Washingtons immer war – »das Böse« schlechthin. Die US-Regierung sieht in der Volksrepublik nicht nur einen »Schurkenstaat«. Im Jahre 2002 erklärte Präsident George W. Bush das Land sogar als Teil einer »Achse des Bösen«. Auch cineastisch sorgte der letzte James Bond-Film »Stirb an einem anderen Tag« – dafür, dass dieses Feindbild nicht nur intakt bleibt sondern noch kräftig geschürt wird. Die USA, konterte prompt die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA, wollten das Land „absichtlich verspotten und beleidigen.“

Pjöngjang und Washington waren nie zimperliche im Umgang miteinander. Das ist einerseits das Resultat des Koreakrieges, der zwischen 1950 und 1953 das Land verwüstete und als erster »heißer Konflikt« in der Ära des Kalten Krieges fast einem neuen Weltkrieg entfesselt hätte. Zum anderen ist es die bis heute in Washington nicht verwundene Schmach über den so genannten USS Pueblo-Vorfall, der sich Ende der sechziger Jahre, auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, in nordkoreanischen Gewässern ereignete.

Am 23. Januar 1968 nämlich griffen nordkoreanische Patrouillenboote das US-amerikanische Schiff USS Pueblo vor der Küste Nordkoreas auf, nahmen die gesamte 83-köpfige Besatzung gefangen und bezichtigten sie der Spionage. Zwölf Tage zuvor hatte die Pueblo, einst ein Frachtschiff, das die U.S. Navy für ihre Zwecke umbauen ließ, den Hafen im japanischen Sasebo verlassen, um im Ostmeer, das die Japaner das Japanische Meer nennen, routinemäßig Erkundungstrips durchzuführen und ozeanographische Daten zu sammeln. So jedenfalls stellte es der damalige Marineminister John Chafee dar. US-amerikanischen Berichten zufolge sei die Pueblo nicht mit der neuesten Navigationstechnik ausgestattet und die junge Besatzung unerfahren gewesen, so dass das Schiff möglicherweise irrtümlich die international anerkannte 12-Seemeilen-Zone überschritten habe.

Für die US-Marine war das Ganze eine herbe Schlappe. Mit der Pueblo nämlich fielen den Nordkoreanern strategisch sensible Daten in die Hände, die es unter anderen der damals mit ihnen befreundeten Sowjetunion ermöglichte, nachrichtendienstlich relevante Kodes zu knacken. Die Pueblo wurde in die nordkoreanische Hauptstadt geschippert und dort auf dem Taedong-Fluss wie eine Trophäe ausgestellt und zur Besichtigung freigegeben. Während in den USA die Stimmen lauter wurden, die auf Rache sannen und ein offensives militärisches Vorgehen gegen Nordkorea befürworteten, setzte die damalige US-Administration unter Präsident Lyndon B. Johnson auf eine politisch-diplomatische Lösung des Konflikts. Gegenüber Pjöngjang räumte die US-Regierung ein, die Pueblo habe die Hoheitsrechte der Volksrepublik verletzt und entschuldigte sich dafür. Johnson wollte ein weiteres Fiasko in Asien vermeiden.

Jedenfalls landeten Heiligabend 1968 – nach elfmonatiger Gefangenschaft – 82 Mann der Pueblo-Besatzung – einer war seinen Verletzungen erlegen, die er während des Schusswechsels beim Aufgreifen der Pueblo erlitten hatte – im kalifornischen San Diego.

Rainer Werning