2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

Ein Jahr US-Außen- und Militärpolitik unter Obama

von Claudia Haydt, Joachim Guilliard, Regina Hagen, Andreas Henneka, Ali Fathollah-Nejad, Jürgen Nieth, Jürgen Scheffran, Jürgen Wagner und Tobias Lambert

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2010
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

zum Anfang | Hoffnungsträger – Friedensnobelpreis – Kriegsherr

von Jürgen Nieth

Gesundheitsreform, eine andere Klimapolitik, Abzug aus dem Irak, Auflösung Guantanamo, Folterverbot, die Respektierung der Verbündeten und der anderen Regierungen sowie der internationalen Institutionen, die Achtung anderer Religionen und Kulturen – das alles gehörte zu Obamas Wahlkampfthemen. Davor lagen zwei Amtsperioden Bush mit einem unter falschen Vorzeichen begonnenen Irakkrieg, mit Lug und Trug gegenüber Freund und Feind, einer Missachtung der UN, internationaler Organisationen und Vereinbarungen, mit einer kaum zu überbietenden Islamphobie.

Der Redaktionsschluss dieses Dossiers war am 15. Januar 2010; aus diesem Grund konnten zwei Ereignisse nicht mehr berücksichtigt werden, die für die Perspektive Obamas und seiner Politik sehr wichtig werden können:

1. Am 20. Januar 2010 gewann bei einer Nachwahl zum US-Senat in Massachusetts – einer alten Hochburg der Demokraten – ein Republikaner. Die Demokraten verloren hier den 60. Senatssitz und damit die Möglichkeit, auch umstrittene Projekte zügig gegen die Republikaner durchzusetzen. Damit dürfte vor allem die bereits abgespeckte Gesundheitsreform gefährdet sein. Aber auch auf die im Frühjahr stattfindende Konferenz zur nuklearen Nichtweiterverbreitung dürfte dies Auswirkungen haben. Es droht wieder einmal ein fauler Kompromiss – weil mehr in den USA nicht durchzusetzen ist.

2. Nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti haben die USA dort praktisch die Macht übernommen. 15.000 GIs sollen die Sicherheit garantieren, sie kontrollieren den Flughafen, die Ein- und Ausreise, sie bestimmen, welche Flugzeuge mit Hilfsgütern landen können und welche nicht, usw. Anstatt die vor Ort durch das Erdbeben betroffene UNO-Peace-Keeping-Truppe zu stärken, wurden deren Checkpoints handstreichartig übernommen. Selbstverständlich erfordert eine Katastrophe, wie die in Haiti, ein schnelles umfassendes internationales Handeln. Der Einsatz von Militär kann notwendig sein, wenn nur dieses über technische Mittel verfügt, die für Rettungs- und Versorgungsaktionen notwendig sind und die die Hilfsorganisationen nicht haben. Im konkreten Fall aber wurden alle Relationen verschoben, und vor allem lässt das selbstherrliche Auftreten der USA aufhorchen, das an die alte »Hinterhofpolitik« erinnert.

Von allen KandidatInnen hatte Obama das schärfste Kontrastprogramm zu seinem Vorgänger, und zusammen mit dem optimistischen »Yes we can« mobilisierte er Millionen, die sich selbst aktiv und mit Geld im Wahlkampf engagierten und Obama schließlich zum Sieger machten. Obama war Hoffnungsträger, national, vor allem aber auch international. Und wie fast immer: Wenn einer erst mal zum Symbol für Veränderungen geworden ist, verbinden sich damit auch viele unrealistische Erwartungen. Auch bei Obama gab es Erwartungen, die weit über das hinaus gehen, was er im Wahlkampf versprochen hat. Er hat den Abzug aus dem Irak versprochen, aber nie Krieg als Mittel der Politik ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak bekannte er im Oktober 2002: „Ich bin nicht gegen alle Kriege, nur gegen dumme Kriege.“ Obama hat nie eine schnelle Beendigung des Afghanistankrieges in Aussicht gestellt, auch wenn die Kampagnen der Republikaner, die ihn mal als Muslim, mal als Pazifisten oder sogar Sozialisten bezeichneten, diesen Eindruck erwecken konnten. Was ist aus den Wahlkampfversprechen geworden, wie sieht es mit den Erwartungen in Obamas Politik aus, ein Jahr nach seinem Start als Präsident der USA?

Neue Töne aus Washington

In seiner Antrittsrede als Präsident versprach Obama am 20.01.2009 den Rückzug aus dem Irak sowie seinen Einsatz für Frieden in Afghanistan und für ein Ende der atomaren Bedrohung. Zwei Tage später ordnete er die (bis heute nicht erfolgte) Schließung des Gefangenenlagers und Folterzentrums Guantanamo Bay an. Später im Jahr verurteilte er mehrfach Folter, die Verantwortlichen der Bush-Administration für die Folter blieben aber straffrei.

Das Thema Rüstungsbegrenzung und atomare Abrüstung griff Obama das ganze Jahr über immer wieder auf. Bereits am 1. April vereinbarte er mit dem russischen Präsidenten Medwedew Gespräche über eine atomare Abrüstung, und fünf Tage später formulierte er seiner Prager Rede die Vision von einer atomwaffenfreien Welt. Am 17. September erklärte der amerikanische Präsident den Verzicht auf die Stationierung von Abwehrraketen in Polen und den Bau einer Radarstation in Tschechien. Beide Projekte der Bush-Regierung hatte Russland als Provokation und Bedrohung empfunden.

Eine Woche später stellte Obama vor dem UN-Sicherheitsrat seinen Plan für eine atomwaffenfreie Welt vor, der danach einstimmig vom UN-Sicherheitsrat als Resolution verabschiedet wurde. Es ist eine Absichtserklärung, die den Staaten leider keinerlei bindende Verpflichtungen auferlegt.

Auf vielen politischen Handlungsfeldern agiert Obamas anders als sein Vorgänger:

Im April verfügte er, dass alle Reisebeschränkungen für Exilkubaner aufgehoben werden und dass diese ihren Verwandten auf Kuba wieder Geld senden dürfen.

Gleichfalls im April sprach sich Obama in der türkischen Hauptstadt für einen »neuen Dialog« mit der islamischen Welt aus. Seine Formulierung, dass die USA sich »nicht im Krieg mit dem Islam befinden« wird als Bruch mit der Bush-Doktrin »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« verstanden. In seiner Rede an der Universität von Kairo vertiefte er im Juni diese Gedanken. Er rief die muslimische Welt zur Versöhnung mit den USA auf, ging auf die islamische Welt zu, ganz ohne die Arroganz der Hegemonialmacht, die seine Vorgängerregierungen ausgezeichnet hatte. Obama kündigte an, die Hamas in die Gespräche zur Lösung des Nahostkonflikts einzubeziehen, dem Iran sprach er das Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie zu und er bot direkte Gespräche ohne Vorbedingungen an.

Im September erklärte sich die US-Regierung bereit zu direkten Gesprächen mit Nordkorea, die die Bush-Regierung ausgeschlossen hatte. Nach jahrelanger Brüskierung der UN und anderer internationaler Gremien durch die USA kam es unter Obama zur Wende.

Ende Juni verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Klimaschutzgesetz, in dem erstmals Obergrenzen für den Ausstoß von Kohlendioxid festgelegt werden. Auch wenn die in diesem Gesetz festgelegten Obergrenzen deutlich zu hoch und die Klimapolitik insgesamt nach wie vor kritikwürdig ist (siehe J. Scheffran in diesem Dossier), muss festgehalten werden, dass diese Fragen unter Bush kein Thema gewesen waren.

Im September gaben die USA ihren Widerstand gegen den UN-Menschenrechtsrat auf, sie nahmen erstmals als Vollmitglied an einer Sitzung teil.

Gleichfalls im September leitete mit Obama zum ersten Mal nach vielen Jahren ein US-Präsident eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates.

Nach 122 Jahren wurde im Dezember vereinbart, dass die USA den Indianern Entschädigung zahlen für die Landnahme. Die Summe von 3,4 Milliarden US-Dollar klingt läppisch, die damit verbundene Anerkennung, dass Hunderttausenden Indianern Unrecht geschehen ist, hat aber einen hohen symbolischen Wert für die Betroffenen.

Friedensnobelpreisträger Obama

Außen- und militärpolitische Fragen standen auch im Mittelpunkt, als das Nobelpreiskomitee am 9. Oktober 2009 Obama den Friedensnobelpreis zusprach. In der Begründung heißt es: „Barack Obama erhält den Friedensnobelpreis für seinen außergewöhnlichen Einsatz zur Stärkung der internationalen Diplomatie und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Das Komitee hat besonderes Gewicht auf seine Vision und seinen Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen gelegt. Obama hat als Präsident ein neues Klima in der internationalen Politik geschaffen. Multilaterale Diplomatie steht wieder im Mittelpunkt, mit besonderem Gewicht auf der Rolle, die die UN und andere internationale Organisationen spielen. Dialog und Verhandlungen sind hier die bevorzugten Mittel, um auch die schwierigsten internationalen Konflikte zu lösen. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt hat auf kraftvolle Weise Verhandlungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle neu belebt. Durch Obamas Initiativen spielen die Vereinigten Staaten jetzt eine konstruktive Rolle zur Bewältigung der Klima-Herausforderungen, mit denen die Welt konfrontiert ist.

Demokratie und Menschenrechte sollen gestärkt werden. Es geschieht selten, dass jemand wie jetzt Obama die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht und neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft entfacht. Seine Diplomatie fußt auf der Vorstellung, dass diejenigen, die die Welt führen sollen, dies auf der Grundlage von Werten… tun müssen, die von der Mehrheit der Weltbevölkerung geteilt werden…“

Man darf sicher davon ausgehen, dass das Nobelpreiskomitee nicht zu den Institutionen zählt, die illusionäre Erwartungen in die Politik Obamas hatten. Eher sollte wohl mit der Preisvergabe die in der Begründung skizzierte Politik gestärkt werden. Jedoch gerade dieser Effekt wird international stark angezweifelt.

Der »Stern« zitiert über Seiten kritische, ja hasserfüllte Stimmen aus den USA. Er kommt zu dem Schluss: „Mit dem Friedensnobelpreis sind Barack Obamas Sorgen nicht kleiner, sondern größer geworden. Ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten muss er den Gegnern im Land nun erst recht beweisen, dass er Amerikas Interessen vertritt.“ (Stern, 15.10.09, S.24) Ähnliche Stimmungsbilder vermitteln auch die US-Korrespondenten der anderen Zeitungen. Zusammengefasst im »Tagesspiegel« (12.10.09, S.6) mit: „Rechts Häme, links Sorge“. Die FR (10.10.09, S.5) stellt für eine andere Region fest: „In Nahost versteht keiner den Nobelpreis-Entscheid“. Die „Palästinenser beklagen, dass es ihm, dem Hoffnungsträger aller Unterdrückten, im Nahost-Konflikt an Mumm und Nachdruck fehle. Und die Israelis finden sich von Obama nicht genügend gemocht und beachtet.“ (siehe auch C. Haydt in diesem Dossier)

Die wichtigste Kritik geht aber in die Richtung, dass es vor allem Ankündigungen, Versprechen, Reden sind, die in der Begründung der Nobelpreisvergabe gewürdigt werden. Die Schlagzeile auf der Titelseite der »Neuen Zürcher Zeitung« (17.10.09) lautet denn auch: „Der Zauber großer Worte“. Und der »Stern« (15.10.09, S.24) fast zusammen: „Obama ist wie ein Architekt, der für seine Zeichnungen geehrt wird, aber noch kein einziges Haus gebaut hat. Es ist eine Wette auf eine bessere Zukunft. Die Norweger haben »Hope« und »Change« gewählt, wie seine Wähler vor einem Jahr, aber nicht seine Leistungen“ (Stern, 15.10.09, S.24) Auch »Der Spiegel« überschreibt seine Titelstory zum Friedensnobelpreis mit „Die Worte und die Welt“ (12.10.09, S.96). Weiter heißt es: „Der Friedensnobelpreis belohnt nicht sein Handeln, sondern eine Idee und die neue Bescheidenheit der Weltmacht.“

Bescheiden gab sich auch Obama selbst, nachdem er von der Preisvergabe erfuhr. Er sei „beschämt…, er sehe die Auszeichnung nicht als Bestätigung für Erreichtes, sondern als »Aufruf zum Handeln«“ (FAZ 10.10.09, S.2). Eine große Chance zum Handeln hat er jedoch verpasst. Ende November ließ er durch seinen Sprecher Ian Kelly mitteilen, dass die USA entgegen früheren Bekundungen doch nicht dem internationalen Abkommen zur Ächtung der Landminen beitreten. Man habe die bisherige Position noch mal überdacht und sei zu dem Schluss gekommen, „weder unseren nationalen Verteidigungsanforderungen noch unseren Sicherheitsverpflichtungen gegenüber unseren Freunden und Verbündeten genügen zu können, wenn wir diese Konvention unterzeichnen.“ Landminen töten auch noch nach den Kriegen und vor allem Zivilisten. Nach Angaben der »Internationalen Kampagne zur Ächtung von Landminen« (die 1998 den Friedensnobelpreis erhielt) wurden alleine 2008 über 5.000 Todesfälle registriert, ein Drittel davon Kinder.

Die USA sind das einzige NATO-Mitglied, das den »Ächtungsvertrag« bisher nicht unterzeichnet hat. Sie haben zwar seit dem Golfkrieg von 1991 keine Landminen mehr eingesetzt, produzieren auch keine mehr und sind mit 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich der größte Zahler zur Beseitigung dieser heimtückischen Waffen; sie behalten sich aber weiterhin die Einsatzoption offen. Ein Beschluss zur Verschrottung der 10 Millionen in den USA lagernden Landminen wäre auch ein Signal an Russland, China und Israel gewesen, die drei anderen prominenten Nichtunterzeichner. So kommentierte die FR (26.11.09) den Rückzieher mit „Nobel dreht sich im Grabe um“.

Kriegsrechtfertigung zur Friedenspreisvergabe

Die fünf Damen und Herren im Osloer Komitee haben sich zur Preisverleihung wahrscheinlich einen Friedenspräsidenten gewünscht, bekommen haben sie aber den Oberbefehlshaber einer Armee, die in fremden Ländern zwei Kriege führt. Der Abzug aus dem Irak rückt weiter weg (s. J. Guilliard in diesem Dossier), und der Afghanistankrieg eskaliert. Noch bevor Obama zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises noch Norwegen reiste, verfügte er die Entsendung weiterer 30.000 SoldatInnen. Zu Beginn seiner Amtszeit waren 32.000 US-AmerikanerInnen in Afghanistan im Einsatz, nach dieser Aufstockung sind es fast 100.000 (s. J. Wagner in diesem Dossier). Sie bekamen einen Präsidenten, der den Friedenspreis nutzte, um Kriege zu rechtfertigen.

Ja, es gab sie auch diesmal, die sprichwörtliche Bescheidenheit: „Verglichen mit einigen Großen der Geschichte, die diese Auszeichnung erhalten haben – Schweitzer und King, Marschall und Mandela – sind meine Verdienste gering.“ Auch die kritische Sicht des Krieges fehlte nicht: „In den Kriegen von heute sterben mehr Zivilisten als Soldaten; sie säen die Saat künftiger Konflikte, schwächen die Volkswirtschaften, brechen Zivilgesellschaften entzwei, vermehren die Zahl der Flüchtlinge und versetzen Kinder in Angst und Schrecken.“ Der Friedensbegriff in seiner Rede ist ein umfassender. Es geht nicht nur um die Abwesenheit des sichtbaren Konflikts. „Nur ein Frieden, der auf den unveräußerlichen Rechten und der Würde des Einzelnen beruht, kann ein dauerhafter Friede sein… Ein gerechter Friede beinhaltet nicht nur zivile und politische Rechte – er muss wirtschaftliche Sicherheit garantieren.“ Die Vision dagegen blieb eher schwammig, nebulös: „Lasst uns nach einer Welt streben, wie sie sein sollte – danach, dass der Funken des Göttlichen sprüht, der unsere Seelen nach wie vor berührt… Irgendwo jetzt nimmt sich eine Mutter, die von Armut gestraft ist, die Zeit, ihrem Kind beizubringen, dass die grausame Welt auch einen Platz für seine Träume hat.“

Dominierend dagegen die Rechtfertigung von Kriegen: „Es wird Zeiten geben, in denen die Nationen den Einsatz ihres Militärs nicht nur für nötig halten, sondern auch für moralisch gerechtfertigt… Ich sehe die Welt, wie sie ist, und ich kann die Augen nicht verschließen… Das Böse existiert in der Welt. Eine gewaltfreie Bewegung hätte Hitlers Truppen nicht aufhalten können. Verhandlungen können die Anführer der El Kaida nicht dazu bringen, ihre Waffen niederzulegen. Zu sagen, dass Krieg manchmal notwendig ist, ist kein Aufruf zum Zynismus. Es ist die Wahrnehmung der Geschichte, der Unzulänglichkeiten der Menschheit und der Begrenztheit der Vernunft.“

Das ist nicht „Die Friedensbotschaft des Kriegspräsidenten“ (FR 11.12.09, S.2), es ist eher »eine Kriegsbotschaft zur Friedenspreisvergabe«. Selbst für die FAZ (11.12.09., S.1) ist es nur „eine nüchterne, ernüchternde Rede… (mit) wenig… Visionen für eine neue, friedliche Welt“. Und in der FR (11.12.09.) schreibt D. Ostermann: „Zur Frage aber, wie er den Nobel-Vorschusslorbeer in den verbleibenden drei Jahren seiner Amtszeit zu rechtfertigen gedenkt, hat er erstaunlich wenig gesagt. Da war viel Theorie über das Führen gerechter Kriege und wenig Konkretes zum Frieden.“

Reflektierend und differenzierend – wie diese Rede in TAZ und FAZ bezeichnet wird – ist sie eben nur bis zu dieser Kriegsrechtfertigung. Die bedient eher alte Klischees. Wieder einmal wird Hitler bemüht, um Krieg zu rechtfertigen. Das faschistische Deutschland hat fast ganz Europa und Nordafrika überfallen – welches Land hat denn die USA angegriffen, oder von welchem Land aus droht den USA ein Angriff? Die Führung von Al Kaida operierte gestern von Afghanistan aus, heute sitzt sie wahrscheinlich in Pakistan (oder bereits im Jemen?), morgen unter Umständen in Somalia – Krieg ist ganz offensichtlich nicht das geeignete Instrument zur Bekämpfung des Terrors. Im Gegenteil: Vor dem Einmarsch der USA in den Irak hatte Al Kaida dort keine Chance, danach bekamen die Terroristen dort Zulauf. Krieg und Besatzung sind eine gute Voraussetzung zur Rekrutierung in Terrornetzwerke. Obama ist (im Gegensatz zu Bush) nicht zuzutrauen, dass er das nicht weiß, aber er bemüht die alten Klischees.

Fazit

Wenn nach einem Jahr Bilanz gezogen wird, gilt es die Ergebnisse an den tatsächlichen Versprechen zu messen und nicht an den eigenen Wünschen. Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass nach einem Regierungswechsel nicht alle Aufgaben gleichzeitig angegangen werden können – manchmal ganz objektiv innenpolitische Fragen wichtiger sein können als außenpolitische. Hinzu kommt, dass ein angekündigter Politikwechsel Gegenkräfte mobilisiert – manchmal auch in der eigenen Partei. Was ein Präsident will und was er kann, ist also nicht unbedingt identisch.

Obama hat nach acht Jahren Bush ein schweres Erbe angetreten. Die innenpolitischen Herausforderungen sind enorm. Obama selbst hat erklärt, dass er ohne ökonomische Fortschritte, ohne Bewältigung der Krisenfolgen, seine Wiederwahl in drei Jahren gefährdet sieht. Die Wirtschaftskrise hat aber ganze Landstriche in Amerikas Industrieregionen verwüstet, die Arbeitslosenquote ist so hoch wie seit einem Viertel Jahrhundert nicht mehr, der Dollar ist so schwach wie selten zuvor. Lediglich bei der Gesundheitsreform zeigt sich innenpolitisch für Obama Licht am Horizont.

Die außen- und umweltpolitischen Herausforderungen sind riesig. Die USA führen zwei Kriege, die den Handlungsspielraum – auch finanziell – einengen; die Rolle als dominierende Weltmacht bröckelt sichtbar. Obamas Reden machen deutlich, dass vor diesem Hintergrund für ihn eine einfache Fortsetzung der US-Politik der letzten Jahrzehnte nicht in Frage kommt. Die Auftritte in Prag, Kairo und vor der UNO, die aktive Rückkehr in internationale Gremien sind Signale für eine den Realitäten Rechnung tragende und politische Lösungen bevorzugende Politik – in deren Mittelpunkt bei ihm selbstverständlich die Interessen der USA stehen. Nur auf diesem Feld fehlen bisher die Erfolge. Der innenpolitische Widerstand – auch der aus den eigenen Reihen – spielt hier sicher eine wichtige Rolle. Die Nichtkooperation anderer Regierungen – darunter auch verbündeter, wie die Israels – kommt hinzu. Aber auch das eigene Handeln ist oft – zu oft – durch ein Zurückweichen vor dem innenpolitischen Gegner, durch Inkonsequenz gekennzeichnet. Es mehren sich die Stimmen derer, die sich im Wahlkampf für ihn engagiert haben und die jetzt tief enttäuscht sind.

Obamas Wahlkampfslogan hieß »Yes we can« und nicht »Yes I can«. Es war ein beispielloser Wahlkampf, indem sich mehr Menschen engagierten als jemals zuvor, im Internet genauso wie auf der Straße und auch mit Millionen Kleinspenden. Es war eine breite Koalition aus Gebildeten und Künstlern, Gewerkschaftern und Jugendlichen, Frauen, Latinos und Afroamerikanern, die ihm zur Nominierung und später zum Wahlsieg verhalf. Dieses Potenzial ist unverzichtbar für einen wirklichen Politikwechsel. Obama braucht außerparlamentarische Bewegung – national für soziale Maßnahmen und die Beendigung der Kriege, international für erste Schritte Richtung atomarer Abrüstung. Er muss zurück zum »Yes we can«!

Jürgen Nieth, Journalist, ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

zum Anfang | Hoffnungsschimmer oder Realität?

Barack Obama und die atomwaffenfreie Welt

von Regina Hagen

Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Hoffnungsschimmer kein Ersatz ist für tatsächliche Ergebnisse“ erinnerte Jayantha Dhanapala, ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsangelegenheiten, knapp ein Jahr nach Antritt der Regierung Obama die Öffentlichkeit. Seine Mahnung – der Anlass war die Umstellung der Weltuntergangsuhr von »5 vor 12« auf »6 vor 12« – beschreibt die Lage recht treffend.

Schon im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen, sich für eine Welt ohne Atomwaffen stark zu machen. Einige Wochen nach Amtsantritt stellte er im April 2009 in einer programmatischen Rede in Prag seine Pläne für nukleare Abrüstung vor. Die gaben zwar noch keinen Weg zur atomwaffenfreien Welt vor, wurden angesichts von rund 23.000 weiterhin existenten Atomwaffen – 95% davon im Besitz der USA und Russlands – aber positiv aufgenommen. Eine fast schon euphorische Stimmung erfasste kurz darauf viele Diplomaten, die in New York zusammentrafen, um die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages vom Mai 2010 vorzubereiten. Sonst nüchterne Herren klammerten sich im düsteren Sitzungssaal der Vereinten Nationen an die Hoffnung, dass ein Richtungswechsel möglich sei: „Yes, we can!“

Kein Jahr danach weicht die Euphorie der Ernüchterung. Was ist passiert? Hat Präsident Obama seine Vision schon verloren? Erliegt er dem Druck der rüstungsverliebten »Falken« in Repräsentantenhaus und Senat? Sind die Lobbyisten aus Industrie, Militär und Forschungsestablishment einfach zu stark? Oder mit Brecht: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“?

Obamas Rede in Prag

In seiner Prager Rede betonte Obama „…als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung zu handeln. …“ Dieses Eingeständnis war ein Novum, und schon für sich Applaus wert. Obama versicherte ferner, „dass die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“ Eine solche Absicht hatte ein US-Präsident erst zwei Mal bekundet: Harry S. Truman vor den neu gegründeten Vereinten Nationen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (damals arbeitete die Sowjetunion mit Hochdruck an der Entwicklung einer Atombombe und ließ sich nicht auf eine entsprechende Regelung ein) und 1986 Ronald Reagan, als er mit Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, kurz vor dem Abschluss eines Abkommens über die vollständige Abrüstung des gesamten Nukleararsenals stand; dieses Vorhaben scheiterte, weil Reagan nicht auf seinen weltumspannenden Raketenabwehrschirm verzichten wollte.

Obama weiter: „Zunächst werden die Vereinigten Staaten konkrete Schritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen unternehmen. Um die Denkmuster des Kalten Kriegs zu überwinden, werden wir die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren und andere anhalten, dasselbe zu tun. … Um unsere Sprengköpfe und Vorräte zu reduzieren werden wir noch dieses Jahr einen neuen strategischen Abrüstungsvertrag mit Russland abschließen.“ Er sagte aber auch folgende Sätze – und die wurden von vielen Bürgern und Journalisten überhört: „Dieses Ziel wird nicht schnell erreicht werden – möglicherweise nicht zu meinen Lebzeiten. … Täuschen Sie sich nicht: Solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren.“ Und: „Solange eine Bedrohung von Iran ausgeht, planen wir ein kosteneffektives und bewährtes Raketenabwehrsystem zu bauen.“ (Übersetzung der Zitate: Amerikadienst)

Mit dieser Rede hatte Obama das Spannungsfeld vorgegeben, in dem seine Politik jetzt aufgerieben wird: Er skizzierte eine Politik, die sich nur mit Unterstützung sämtlicher demokratischer und etlicher republikanischer Senatoren umsetzen lässt. Und er versprach Fortschritte in der Abrüstung bei gleichzeitiger Wahrung, ja sogar gleichzeitigem Ausbau der unangefochtenen militärischen Stärke der USA.

Der Kongress bestimmt mit

Spätestens am 28. Oktober holte die Realität Obama ein: Er unterzeichnete den »National Defense Authorization Act 2010«, das Gesetz über den Verteidigungshaushalt der USA für das Finanzjahr 2010, das am 1.10.2009 begann.1 Im Gesamtumfang von 680,2 Mrd. US$ sind u.a. 16,5 Mrd. US$ für militärische »Nuklearaktivitäten« und 9,2 Mrd. US$ für Raketenabwehr enthalten.

Ein wichtiges Element des Verteidigungshaushaltes sind die »Sense of Congress«-Texte. In diesen äußert der Kongress seine Ansicht zu bestimmten Themenbereichen. So mischt sich der Kongress etwa in die Verhandlungen über das START-Nachfolgeabkommen mit Russland und die Debatte über den Abzug von Atomwaffen aus Europa ein. „Es ist die Ansicht des Kongresses, dass – (1) der Präsident an der von den Vereinigten Staaten geäußerten Haltung festhalten sollte, dass der Nachfolgevertrag des START-Abkommens ballistische Raketenabwehrsysteme, Weltraumfähigkeiten oder hoch entwickelte konventionelle Waffensysteme der Vereinigten Staaten in keiner Weise einschränken wird; (2) die erweiterte Sicherheit und Zuverlässigkeit des Nuklearwaffenarsenals, die Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes und die Aufrechterhaltung der nuklearen Trägersysteme Voraussetzung sind, um weitere Einschnitte in das Nuklearwaffenarsenal der Vereinigten Staaten zu ermöglichen; …“ (Sec. 1251)

Im Klartext sagen diese sperrigen Sätze, dass Obama nur dann auf die Ratifizierung eines neuen START-Vertrags durch den Senat hoffen kann, wenn die Stationierung von Raketenabwehr, die Militarisierung des Weltraums, der Ausbau der konventionellen Kriegsführungsfähigkeiten sowie die Modernisierung des Atomwaffenarsenals samt Trägersystemen gewährleistet ist. »Fewer and newer« (weniger, dafür besser) hieß der Slogan für dieses Verfahren schon während der Bush-Administration.

Dass sie ihre Forderungen an Obama ernst meinen, zeigten Mitte Dezember 2009 alle 40 republikanischen Senatoren und Joe Lieberman, einer von zwei Parteilosen im Senat. In einem Brief an den Präsidenten forderten sie ein „substantielles Programm zur Modernisierung unserer nuklearen Abschreckung[skapazitäten]“ einschließlich der umfassenden und raschen Aufrüstung der W76- und B61-Sprengköpfe. Die W76-Modernisierung würde zur Entwicklung eines neuen Sprengkopftyps beitragen – ein weiterer Versuch zur Wiederbelegung des eingestampften »Reliable Replacement Warhead«-Programms. Die B61-Bomben sind von den USA im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO in fünf Ländern Europas stationiert, darunter auch in Deutschland. Während die neue Bundesregierung nach zähem Ringen die Vereinbarung traf, dass „wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“, stellten die gewählten Repräsentanten der USA zeitgleich die Weichen für die Modernisierung just dieser Waffen.

Geben und Nehmen

Die Lage des demokratischen Präsidenten Obama ist nicht einfach. Die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages, beispielsweise des START-Nachfolgevertrages oder des seit Jahren überfälligen umfassenden Teststoppabkommens, bedarf im 100-köpfigen Senat einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Folglich muss Obama alle 58 demokratischen, die zwei parteilosen und sieben republikanische Senatoren für die Sache gewinnen. Das ist bei Obamas Partei»freunden« schon schwierig genug und scheint bei den Republikanern fast ausgeschlossen, obschon auch ihr letzter Präsidentschaftskandidat McCain sich mehrfach für die atomwaffenfreie Welt ausgesprochen hat.

Weiter kompliziert wird die Gemengelage durch andere Faktoren.

Der russische Präsident Putin ließ Ende Dezember unmissverständlich wissen, Voraussetzung für ein START-Nachfolgeabkommen sei die Beschränkung der US-Raketenabwehr. Nicht zuletzt deshalb konnten sich die Unterhändler der USA und Russlands bislang nicht auf Details zur Verifikation des neuen Vertrags einigen: Moskau will den USA keine telemetrischen Daten über Raketentests mehr liefern, die Einblick in die Fähigkeiten dieses Arsenals liefern. So verschieben sich der Vertragsabschluss und damit die Ratifizierung immer weiter nach hinten, und inzwischen betonte Russlands Präsident Medwedew, die „strategische nukleare Komponente ist die wichtigste Mission“ für das laufende Jahr.

Präsident Obama und Außenministerin Clinton läuft schon jetzt die Zeit für die Kompromissfindung davon. Im Herbst dieses Jahres werden ein Drittel der Senatoren und das ganze Repräsentantenhaus neu gewählt. Dabei können sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress schon wieder erheblich verschieben und die Durchsetzung von Obamas Gesetzesvorhaben weiter erschweren. Um zu großem Unmut vorzubeugen, wird Obama in seinem Entwurf zum Verteidigungshaushalt 2011, den der Kongress am 1. Februar erwartet, erhebliche Zugeständnisse machen. In der Diskussion sind Milliardensummen für den Ausbau des Nuklearwaffenkomplexes (Forschungs-, Test- und Fertigungseinrichtungen) wie für Entwicklung und Produktion eines neuen Sprengkopftyps.

Fällige Arsenal-, Doktrin- und verteidigungspolitische Berichte

Durch Gesetze bzw. Anweisungen des Präsidenten ist die US-Regierung gezwungen, dem Kongress in nächster Zeit etliche Berichte vorzulegen, in denen Arsenale, Fähigkeiten, Doktrinen und Politiken untersucht und Vorschläge für die Zukunft ausgearbeitet werden. Die Berichte werden parallel erarbeitet und beziehen sich aufeinander.

Quadrennial Defense Review (QDR)

Muss dem Kongress alle vier Jahre vorgelegt werden, und zwar jeweils Anfang Februar gleichzeitig mit dem Entwurf für den Verteidigungshaushalt für das folgende Jahr.

Der QDR soll nationale Verteidigungsstrategie, Struktur der Streitkräfte, Modernisierungsbedarf, Infrastrukturanforderungen, Finanzbedarf und Verteidigungsdoktrine und -politiken beschreiben und auf dieser Basis das Militärprogramm der USA für die nächsten 20 Jahre vorgeben.

Nuclear Posture Review (NPR)

Überprüft Nuklearwaffenpolitik und -fähigkeiten und gibt für die nächsten fünf bis zehn Jahre die Eckpunkte zur nuklearen Abschreckung, Strategie und Arsenalgröße vor. Der NPR sollte dem US-Kongress eigentlich Ende Dezember 2009 vorgelegt werden, Obama war aber nach Insider-Berichten mit den bisherigen Entwürfen unzufrieden und hat erhebliche Änderungen eingefordert.

Neben Zielgrößen für das künftige Arsenal an Sprengköpfen und Trägersystemen soll der Bericht auch die Rolle der Nuklearstreitkräfte in den USA, politische Rahmenbedingungen, den Zusammenhang zwischen Abschreckungspolitik, Zielstrategie und Rüstungskontrolle, die Wechselwirkungen zwischen nuklearen, konventionellen und Raketenabwehr-Kapazitäten, Pläne zur Modernisierung von nuklearen Sprengköpfen und Trägersystemen sowie die Aufrechterhaltung und Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes abdecken.

Der Inhalt des NPR wird maßgeblich mit darüber entscheiden, ob das angestrebte START-Nachfolgeabkommen und weitere Rüstungskontrollverträge eine Chance auf Ratifizierung durch den Senat bekommen.

Ballistic Missile Defense Review (BMDR)

Der Bericht zur Überprüfung der Raketenabwehr-Politik und -Strategie ist im Januar 2010 fällig. Der BMDR soll die Rolle der Raketenabwehr in der nationalen Sicherheits- und Militärstrategie darlegen, den strategischen Kontext für die aktuellen und künftigen Raketenabwehrprogramme und -budgets festlegen und die Raketenabwehr auf strategische Anforderungen abstimmen. Ausgangspunkt ist der Beschluss der Regierung Obama, bei der Raketenabwehr all das umzusetzen, was technisch möglich ist. Das bedeutet Vorrang für den Schutz von „US-Streitkräften und Verbündeten“ vor Kurz- und Mittelstreckenraketen, wofür schon einigermaßen brauchbare Testergebnisse vorliegen. Parallel soll die Entwicklung von Systemen zur Abwehr von Langstreckenraketen, von denen zwar bereits zwei Dutzend stationiert aber noch nie realistisch getestet wurde, weiter betrieben werden. Ausdrücklich einbezogen ist der „schrittweise, anpassungfähige“ Ausbau von Raketenabwehr in und um Europa.

Space Policy Review

Präsident Obama wies vergangenes Jahr seine Behörden an, bis Oktober 2009 die nationale Weltraumpolitik zu überprüfen und auch die Aktivitäten unter die Lupe zu nehmen, die der Geheimhaltung unterliegen. Die Berichterstellung verzögert sich bis mindestens März 2010, es ist aber davon auszugehen, dass der Text Ausgangspunkt wird für eine neue Weltraumstrategie und -politik. Die letzte Weltraumpolitik (Space Policy) der Ära Bush postulierte 2006 die Ablehnung jeglicher vertragsbasierter Rüstungskontrolle, die die Handlungsoptionen der USA einschränken würde.

In allernächster Zeit muss die Regierung eine Reihe von Berichten und Planungen mit erheblichen Auswirkungen auf Verteidigungspolitik und -doktrin abliefern (siehe Kasten). Der »Nuclear Posture Review« wäre ein guter Ansatzpunkt, um, wie von Obama in Prag versprochen, „die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie [zu] reduzieren“. Das erfordert allerdings gewaltigen Mut: Missbilligt der Senat die dort vorgezeichnete Richtung, verspielt Obama jede Chance auf Unterstützung seines Abrüstungskurses durch den Senat.

Fortschritte bei der Nichtverbreitung sind ebenfalls keine zu verzeichnen. Nordkorea spielt weiterhin Katz“ und Maus, Birma scheint sich für Atomwaffen zu interessieren, und die Gespräche mit Iran brachten noch keinen Erfolg. Die »nukleare Energie-Renaissance« mit einer fast ungehinderten Verbreitung nuklearer Technologien und -materialien macht den Versuch der Eindämmung zunehmend schwer.

Im Mai 2010 findet in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag statt. Nach dem Scheitern der Konferenz von 2005 müssen hier Fortschritte her. Kann Obama dann weder START-Nachfolge noch die Zustimmung des Senats zum Teststoppabkommen vorweisen, ist Sand im Getriebe, bevor das Treffen beginnt.

Im September 2009 erregte Präsident Obamas Ankündigung, auf die Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik zu verzichten, große Aufmerksamkeit. Auch hier haben viele aber nicht richtig hingehört. Angekündigt wurde kein Verzicht auf Raketenabwehr per se. Ganz im Gegenteil. Am 19.9.2009 schrieb US-Verteidigungsminister Robert Gates höchstpersönlich einen Kommentar für die »New York Times«. Überschrift: „A Better Missile Defense for a Safer Europe“ (eine bessere Raketenabwehr für ein sichereres Europa). Der Artikel beginnt mit dem Satz „Die Zukunft von Raketenabwehr in Europa ist gewährleistet.“ und endet mit „Damit wird Raketenabwehr in Europa gestärkt, nicht verschrottet.“ Gates erläutert, dass es die für Osteuropa vorgesehenen Systemkomponenten noch gar nicht gibt und eine Stationierung mittelfristig aus technischen Gründen kaum möglich wäre. Jetzt hingegen wird integriert, was es gibt – boden- und seegestützte SM3-Abfangsysteme gegen kurz- und mittelreichende Raketen, luft-, weltraum- und bodengestützte Sensorsysteme, Radarsysteme überall auf der Welt – und gleichzeitig laufen Forschung und Entwicklung der Langstreckensysteme weiter. „Auf jeden Fall sind die Fakten klar: Amerikanische Raketenabwehr auf dem [europäischen] Festland geht weiter, und zwar nicht nur in Mitteleuropa, wo die Stationierung von SM-3 am wahrscheinlichsten ist, sondern hoffentlich auch in anderen NATO-Ländern“ schreibt Gates. Im Blog des Weißen Hauses heißt es dazu „stärkere, schlauere und schnellere Abwehr“ (17.9.2009).

Konnten sich die osteuropäischen NATO-Partner auf diese Neuplanung gut einlassen, so setzen sie dem Wunsch Deutschlands nach Abzug der US-Atomwaffen Widerstand entgegen. Polen ist angeblich gar bereit, die Atomwaffen auf eigenem Territorium zu stationieren. Dies ist Folge des anhaltenden Misstrauens gegen Russland, das seinerseits auf die Bedrohung durch US-Raketenabwehr wie auf die überlegenen konventionellen Kräfte der NATO verweist.

Und wie von kritischen Experten seit Jahren prognostiziert, setzte die Raketenabwehr inzwischen eine eigene Rüstungsspirale in Gang. Mitte Januar 2009 triumphierte China mit einem erfolgreichen Abwehrtest; die gleiche Technologie hatte sich drei Jahre zuvor schon beim Abschuss eines Weltraumsatelliten bewährt. Größere Raketenabwehrprogramme einschließlich ihrer inhärenten Tauglichkeit zum Antisatellitensystem werden außerdem von Russland, Indien und Israel betrieben. Die NATO liegt noch etwas zurück, und Länder wie Taiwan, Japan und Südkorea kaufen einfach US-Technologie ein.

In diesem Bereich rächt sich besonders, dass die Regierung Bush hartnäckig auf Raketenabwehr beharrte, ein Moratorium für Raketentests verweigerte und Verhandlungen über einen völkerrechtlichen Vertrag zum Verbot von Weltraumwaffen ausschloss. Da Raketenabwehr die Erstschlagfähigkeit erhöht, behindert sie überdies die nukleare Abrüstung.

Die Liste ließe sich fortführen, es ist aber auch so schon klar, dass Obama vor einem kaum bewältigbaren Berg von Aufgaben steht und die Hindernisse groß sind. Überdies ist er selbst keineswegs Pazifist und will die unbestrittene (militärische) Führerschaft seines Landes aufrecht erhalten. Da bleibt der friedensbewegten Zivilgesellschaft hier wie andernorts nur eins: Nicht aufgeben, weiter um eine bessere Welt streiten. Und was wir heute nicht schaffen: Morgen ist wieder ein Tag.

Anmerkungen

1) Das Gesetz zum Verteidigungshaushalt steht am Ende eines monatelangen, mühsamen Aushandlungsprozesses zwischen den beiden Kammern des Kongresses, also dem Repräsentantenhaus und dem Senat, zwischen »Tauben« und »Falken«, zwischen nationalen Interessen und Projekten zugunsten einzelner Wahlbezirke und dort ansässiger Unternehmen, und zeichnet sich durch ein erstaunliches Sammelsurium an informativen Details, Meinungsäußerungen des Kongresses, Handlungsanweisungen an Regierung und Verwaltung, Einforderung von Regierungsberichten und sachfremden Ausgabenposten und Gesetzen aus (zu letzteren zählt im aktuellen Fall z.B. ein Strafgesetz, das die Höchststrafen für Gewaltverbrechen gegen Minderheiten ausweitet).

Regina Hagen ist Abrüstungsberaterin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und aktiv im Kampagnenrat „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ sowie Mitglied der W&F-Redaktion.

zum Anfang | Obamas Afghanistan-Strategie:

Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung

von Jürgen Wagner

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte US-Präsident Barack Obama den Einsatz am Hindukusch zur Chefsache erklärt und eine grundlegende Überprüfung der Afghanistan-Strategie angeordnet. Im März 2009 wurden die Kernelemente der neuen US-Strategie präsentiert: Im Detail setzt sie erstens auf eine massive Aufstockung der westlichen Truppen und die Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan (AFPAK); zweitens sollen sich die EU-Verbündeten, allen voran Deutschland, künftig noch stärker beteiligen als dies ohnehin bereits der Fall ist; schließlich soll drittens eine »Afghanisierung« des Krieges über den Ausbau der staatlichen Repressionsapparate (Armee und Polizei) die westlichen Truppen erheblich entlasten.

Nachdem diese Maßnahmen den Krieg wie absehbar noch weiter eskaliert haben, entbrannte in Washington eine heftige Debatte um das weitere Vorgehen. Auf der einen Seite fand sich US-General Stanley McChrystal, Kommandeur der NATO Truppen in Afghanistan, der nachdrücklich eine weitere Truppenaufstockung forderte. Auf der anderen Seite plädierte Vizepräsident Joseph Biden dafür, das Engagement künftig auf die Bekämpfung von Al-Kaida zu beschränken und die Truppen-Präsenz deutlich zu reduzieren. Am 1. Dezember 2009 verkündete Obama seine Entscheidung in dieser Frage, die augenscheinlich auf einen schlechten Kompromiss dieser beiden Ansätze zielt: Zunächst wird Zahl der Soldaten nochmals erhöht, perspektivisch (ab 2011) soll aber die »Afghanisierung« des Krieges eine Truppenverringerung in Richtung der Biden-Lösung ermöglichen.

Allerdings beabsichtigt man keineswegs, vollständig aus dem Land abzuziehen, wie sowohl Außenministerin Hillary Clinton als auch Verteidigungsminister Robert Gates kurz nach Obamas Rede klarstellten (Antiwar.com, 23.12.2009). Vielmehr sollen erhebliche westliche Truppenteile als »Rückversicherung« im Land verbleiben, um bei Bedarf einzugreifen, wenn die afghanischen Regierungstruppen in allzu große Schwierigkeiten geraten. Der vollmundig versprochene (Teil)Abzug ist also eine Mogelpackung: »Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung«, mit dieser Formel lässt sich Obamas Afghanistan-Strategie bündig zusammenfassen.

Truppenaufstockung und Ausweitung der Kampfzone

Als Obama Anfang 2009 sein Amt antrat, befanden sich etwa 32.000 US-Soldaten am Hindukusch. Innerhalb von nicht einmal 12 Monaten wurde diese Zahl im Rahmen der neuen US-Afghanistanstrategie auf 68.000 mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund der – trotz Truppenverdopplung – qualitativ wie quantitativ weiter eskalierenden Kampfhandlungen wurden Obama laut »New York Times« (11.11.2009) vier verschiedene Optionen vorgelegt. Sie sahen einen weiteren Truppenaufwuchs von entweder 20.000, 25.000 oder 30.000 Soldaten vor (die letzte Option wird nicht näher beschrieben, schien aber keine Truppenerhöhungen beinhaltet zu haben). Am 1. Dezember verkündete der US-Präsident seine Entscheidung: 30.000 zusätzliche US-Soldaten sollen „so schnell wie möglich“ entsendet werden, damit wären fast 100.000 US-SoldatInnen im Afghanistan-Einsatz.

Ein weiteres zentrales Element der neuen US-Strategie ist die Ausweitung des Kampfgebietes auf Pakistan: Afghanistan und Pakistan seien nunmehr als einheitliches Kriegsgebiet zu begreifen und der Kampf fortan auf beiden Seiten der Grenzen auszutragen. Seither setzen die USA verstärkt auf den Einsatz unbemannter Drohnen, während gleichzeitig Pakistan massiv dazu gedrängt wird, seine Angriffe gegen tatsächliche oder mutmaßliche Rückzugsgebiete des Widerstands auszuweiten. Laut »Los Angeles Times« (03.08.2009) wurde mittlerweile im Pentagon eine »Pakistanisch-Afghanische Koordinationseinheit« ins Leben gerufen, die die Kampfhandlungen zusammenführen soll. Vor diesem Hintergrund stellt Lothar Rühl, von 1982-1989 Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, zutreffend fest: „Der afghanische Krieg hat sich schon seit längerem über die Grenze ausgebreitet und begonnen, beide Länder zu einem Kriegsgebiet Südwestasien zu verschmelzen.“ (FAZ, 25.05.2009)

Druck auf die Verbündeten

Unmissverständlich macht die US-Regierung deutlich, dass sie nicht gedenkt, die neuerlichen Truppenaufstockungen vollständig im Alleingang zu schultern. So erklärte der amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder Anfang Juli 2009: „Die Vereinigten Staaten erfüllen ihren Teil, Europa und Deutschland können und sollten mehr tun.“ (FAZ, 01.07.2009) Obwohl die EU-Verbündeten allein zwischen Ende 2006 und Frühjahr 2009 ihre Beteiligung an der NATO-Truppe ISAF um über 50% erhöhten, forderte Obama weitere 7.000-9.000 Soldaten.

Allerdings hält sich die Begeisterung dafür in den Reihen der EU-Staaten angesichts der Skepsis in der eigenen Bevölkerung in engen Grenzen. Washington wird jedoch zumindest in anderen Bereichen auf Kompensationsleistungen drängen. Eine Kompromisslösung könnte in einem deutlich erhöhten Beitrag zum Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte liegen, ein Bereich, in dem die Europäische Union bereits heute massiv engagiert ist. So sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates: Ich denke offen gestanden, da wir unsere Anforderungen auf zivile Experten und Polizeiausbilder konzentrieren werden, wird dies für Europäer zu Hause einfacher sein, als die Bitte, mehr Soldaten zu schicken. Die Dinge, um die wir bitten, sind für sie politisch einfacher, so dass sie trotz ihrer Wirtschaftsprobleme diese Anforderungen erfüllen werden.“ (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009)

»Afghanisierung« des Krieges

Das US-Militär hat schon lange vorgerechnet, dass für eine »erfolgreiche« Aufstandsbekämpfung 20-25 Soldaten auf 1.000 Einwohner erforderlich sind. Für Afghanistan wären demnach 640.000-800.000 SoldatInnen notwendig.1 Da ein solch großes Kontingent niemals mobilisiert werden kann, beabsichtigt man die Lücke zwischen verfügbaren Truppen und tatsächlichem Bedarf durch eine massive »Afghanisierung« des Krieges zu schließen.

Für diesen Zweck wurden die Zielgrößen der afghanischen Polizei und Armee drastisch nach oben gesetzt. Sollte die afghanische Armee ursprünglich 70.000 Soldaten umfassen, so wurde diese Zahl schnell auf 134.000 angehoben. Inzwischen hat ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal als neue Zielgröße 270.000 ausgegeben. Auch die afghanische Polizei, de facto Paramilitärs, soll deutlich vergrößert werden. Ursprünglich waren 62.000 anvisiert, nun sind 140.000-160.000 Polizisten vorgesehen (CNN, 04.08.2009).

Baldmöglichst sollen also einheimische Kräfte in der Lage sein, den Großteil der Kampfhandlungen im Alleingang zu schultern. Sehenden Auges wird hierdurch jedoch ein neuerlicher Bürgerkrieg in Kauf genommen – die Szenarien, was passiert, wenn diese »Strategie« weiter verfolgt wird, liegen bereits auf dem Tisch.

Afghanistans Zukunft: Dauerbürgerkrieg

Das »Center for a New American Security«, eine Denkfabrik mit engsten Verbindungen zur Obama-Administration, veröffentlichte im Oktober 2009 ein Papier, in dem drei mögliche Zukunftsszenarien für Afghanistan präsentiert werden.2 Unwahrscheinlich, aber möglich sei eine nachhaltige Stabilisierung des Landes ebenso wie der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung. Vermutlich werde die Entwicklung aber in folgende Richtung gehen: „…die Obama-Regierung (wird) vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt. [..] Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Damit wären dann auch die Präferenzen Joseph Bidens berücksichtigt, der, wie bereits erwähnt, das US-Engagement genau hierauf beschränkt wissen will. Allerdings betont das Papier auch: „Eine kurzfristige Truppenerhöhung wird diesem Übergang vorausgehen.“ Genau dies ist nun ebenfalls eingetreten.

Recht unverblümt wird zudem beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“

Pro-westlicher Militärstaat

Auffällig ist, wie gebetsmühlenartig Barack Obama versucht, jede Gruppierung, die gegen die US-Präsenz vorgeht, unterschiedslos mit den Taliban und – noch absurder – mit Al Kaida gleichzusetzen und hierdurch als religiöse Fanatiker zu diskreditieren. Eine im Oktober 2009 veröffentlichte Untersuchung des US-Militärs über die Zusammensetzung des Widerstands kommt jedoch zu einem vollständig anderen Ergebnis: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen“, so ein Geheimdienstoffizier, der an der Abfassung des Berichts beteiligt war (»Boston Globe«, 09.10.2009).

Noch deutlicher sind die Aussagen des US-Militärs Matthew P. Hoh, der in Afghanistan an prominenter Stelle für den zivilen Wiederaufbau zuständig war. Er quittierte im September 2009 seinen Dienst und begründete diesen Schritt in seinem Rücktrittsschreiben folgendermaßen: „Der paschtunische Aufstand, der sich aus zahlreichen, scheinbar endlosen lokalen Gruppen zusammensetzt, wird durch das gespeist, was die paschtunische Bevölkerung als einen andauernden Angriff auf ihre Kultur, Traditionen und Religion durch interne und externe Feinde ansieht, der seit Jahrhunderten anhält. Die amerikanische und die NATO-Präsenz und Operationen in paschtunischen Tälern und Dörfern stellen ebenso wie die afghanischen Polizei- und Armeeeinheiten, die nicht aus Paschtunen bestehen, eine Besatzungsmacht dar, vor deren Hintergrund der Aufstand gerechtfertigt ist. Sowohl im Regionalkommando Ost als auch Süd habe ich beobachtet, dass der Großteil des Widerstands nicht das weiße Banner der Taliban trägt, sondern eher gegen die Präsenz ausländischer Soldaten und gegen Steuern kämpft, die ihm von einer Regierung in Kabul auferlegt werden, die sie nicht repräsentiert.“ Anschließend schreibt Hoh über die Karzai-Regierung: Sie zeichne sich u.a. durch „eklatante Korruption und unverfrorene Bestechlichkeit“ aus und an der Spitze stehe ein Präsident, „dessen Vertraute und Chefberater sich aus Drogenbaronen und Kriegsverbrechern zusammensetzen, die unsere Anstrengungen zur Drogenbekämpfung und zum Aufbau eines Rechtsstaats lächerlich machen.“ (Antiwar.com, 28.10.2009)

Ausgerechnet dieser, spätestens seit den »Wahlen« im Sommer 2009 vollkommen diskreditierten Regierung gibt man nun also die Repressionsapparate in die Hand, um sich gegen den Widerstand in der eigenen Bevölkerung an der Macht halten zu können. Dies ist umso bedenklicher, da diese »Sicherheits«kräfte bereits heute ein beängstigendes Eigenleben entwickeln und zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unklar ist, woher künftig die Gelder für diesen Repressionsapparat kommen sollen – aus dem derzeitigen (und wohl auch künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht.

Laut Rory Stewart, Direktor des »Carr Center on Human Rights Policy«, dürften sich die Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte auf zwei bis drei Mrd. US-Dollar im Jahr belaufen – ein Vielfaches der gesamten Staatseinnahmen. „Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. …Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“3

Hauptsache die Herrscher in Kabul bleiben weiterhin pro-westlich, alles andere scheint mittlerweile weitgehend egal zu sein. Ein Kommentar von Sven Hansen in der »taz« (13.09.2009) fasste das folgendermaßen zusammen: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der, getreu dem US-amerikanischen Bonmot ›Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‹, die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann »nur« gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“

Anmerkungen

1) Fick, Nathaniel & Nagl, John: Counterinsurgency Field Manual: Afghanistan Edition, in: Foreign Policy Januar/Februar 2009.

2) Exum, Andrew: Afghanistan 2011: Three Scenarios, CNAS Policy Brief, 22.10.2009.

3) Stewart, Rory: The Irresistible Illusion, London Review of Books, 07.07.2009.

Jürgen Wagner ist Politologe, Geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und Mitarbeiter im W&F-Redaktionsteam.

zum Anfang | Irak: Kein Ende der Besatzung in Sicht

von Joachim Guilliard

Offiziell ist das Ende der Besatzung nun eingeleitet. Wie im Truppenstationierungsabkommen (SOFA) vom Herbst 2008 vereinbart, zogen sich im Juni 2009 Tausende US-Soldaten aus den Städten in die umliegenden Militärbasen zurück. Viele Iraker feierten den Abzug überschwänglich und Regierungschef Nuri al-Maliki sprach von einem „großen Sieg“ über die Besatzer. Doch entgegen den großen Hoffnungen, die viele in den Amtsantritt Barack Obamas setzten, ist der vollständige Abzug der Besatzungstruppen noch lange nicht in Sicht. Generell hat sich die Irakpolitik Washingtons seither kaum geändert und auch die Lage vor Ort blieb katastrophal.

Washingtons »Stabilisierungsstrategie«

Zentraler Punkt in Washingtons Irak-Strategie ist, das neue Regime durch eine bessere Beteiligung von oppositionellen Kräften an der Macht zu stabilisieren. Bei jeder Gelegenheit fordern Präsident Obama und die kommandierenden US-Generäle die irakische Regierung auf, endlich die »Aussöhnung« zwischen den Konfessionen und den verschiedenen politischen Kräften in die Wege zu leiten. Genauso gut könnten sie aber auch deren Selbstauflösung fordern. Besteht das Wesen des neuen, von den Besatzern maßgeblich gestalteten, sektiererischen und völlig korrupten Regimes doch exakt darin, dass die Regierungsparteien ihre Ministerien als Pfründe verwalten und dazu nutzen, ihre mit US-Hilfe geschaffenen Machtpositionen dauerhaft zu sichern.

Auch unter Obama setzt die Besatzungsmacht auf den neuen starken Mann im Irak, Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der im Laufe des Jahres seine Machtposition weiter ausbauen konnte. Sukzessive besetzte er – am Parlament vorbei – Schlüsselposition in Regierung, Verwaltung, Polizei und Militär mit Getreuen aus seiner Partei oder seinem Familienclan. Mit US-Hilfe hat er sich zudem einen eigenen Geheimdienst und mächtige militärische Spezialeinheiten zugelegt. Diese, von »Green Berets« ausgebildeten, 4.500 Mann starken »Iraq Special Operations Forces« (ISOF) operieren völlig verdeckt – unter Malikis Oberbefehl und unter Aufsicht der US-Armee, aber ohne sonstige Kontrolle irakischer Institutionen. Die neuen Todesschwadrone gelten mittlerweile als schlagkräftigste Truppe des Landes (»Le Monde diplomatique«, 10.07.2009).

Viele Beamte, Geistliche und Politiker im Irak, so der britische »Guardian« (30.04.2009), sprechen bereits von einer neuen Diktatur und vergleichen Maliki mit Saddam Hussein. Sechs Jahre nach Kriegsbeginn würde das Land nach ziemlich vertrauten Linien aufgebaut, so das Fazit der Zeitung: „Konzentration von Macht, schattenhafte Geheimdienste und Korruption.“

Auch andere Zeitungen, wie »The Economist« (03.09.2009) oder »Der Spiegel« (19.10.2009) charakterisieren den »neuen Irak« immer öfter als Polizeistaat. Typisch bei all diesen Berichten ist, dass sie zwar die irakische Seite sehr kritisch beschreiben, die dominierende Rolle der Besatzer jedoch völlig ausblenden. Dabei sind diese durch unzählige ?Berater« in allen wesentlichen Bereichen involviert und waren auch von Anfang an in hohem Maße in die Korruption verwickelt. Besatzung und »Polizeistaat« sind zwei Seiten einer Medaille.

Der versprochene Truppenabzug blieb aus

Im Wahlkampf hatte Obama versprochen, die im Irak stationierten US-Truppen innerhalb von sechzehn Monaten abzuziehen – beginnend mit seinem Amtsantritt jeden Monat fünf bis zehntausend Mann. Als er Ende Februar 2009 seine Pläne für den Irak vorstellte, war nur noch vom Abzug der Kampftruppen bis August 2010 die Rede. Der Rest, mehr als die Hälfte der ca. 130.000 Soldaten, soll – wie von Amtsvorgänger Bush bereits im Stationierungsabkommen zugesichert – bis 2012 das Land verlassen.

Der Rückzug soll, so Obama, verantwortungsvoll erfolgen, also lediglich dann, wenn es die politische und militärische Lage vor Ort erlaubt. Wirklich verlässlich bei seinen Ankündigungen war somit nur die definitive Verlängerung der Besatzung um drei weitere Jahre.

Die Lage vor Ort verhinderte bisher auch einen nennenswerten Abzug von Truppen. Sie werden zur Absicherung der kommenden Parlamentswahlen und der anschließenden Regierungsbildung noch gebraucht. Letzteres kann sich leicht bis Sommer 2010 hinziehen. Dadurch liegt die Zahl der US-Soldaten zur Zeit im Irak nur geringfügig unter dem Niveau, das sie vor der Anfang 2007 begonnenen Truppenerhöhung hatte. Da ein guter Teil der abgezogenen Soldaten durch private Söldner ersetzt wurde, liegt die Gesamtzahl der bewaffneten Besatzungskräfte sogar noch höher als damals.

Der gefeierte Rückzug aus den Städten ist vielerorts ebenfalls nur Etikettenschwindel. Zehntausende US-Soldaten sind in den Städten verblieben und führen nun als »Trainings- und Unterstützungstruppen« den Kampf gegen die Opposition fort. Offener Krieg herrscht insbesondere noch in den Nordprovinzen, rund um Mosul und Baquba, wo US-Truppen regelmäßig große Militäroperationen durchführen.

Laut Stationierungsabkommen müsste die US-Armee nun ihre Operationen stets mit der irakischen Regierung abstimmen. Auch dies konnten die Iraker bisher nicht durchsetzen. „Mag sein, dass etwas bei der Übersetzung [des Abkommens] verloren ging“, erwiderte der Kommandeur der für Bagdad zuständigen US-Division dreist den Kritikern des vertragswidrigen Vorgehens. Sie hätten auf keinen Fall vor, vollständig aus der Stadt zu verschwinden und würden garantiert auch keine Einschränkungen ihrer Operationsfreiheit hinnehmen. Dies könnte von ihren Gegnern ausgenutzt werden und so ihre Sicherheit gefährden. Seine Truppen würden daher auch weiterhin Gefechtsoperationen im Stadtgebiet von Bagdad durchführen – mit oder ohne Hilfe der Iraker (»Washington Post«, 18.07.2009).

Das Stationierungsabkommen legt an sich klar fest, dass der Abzug der US-Truppen Ende 2011 vollzogen sein muss. Die kommandierenden US-Generäle haben jedoch von Anfang an deutlich gemacht, dass sie diesen Termin keinesfalls für verbindlich halten. Mittlerweile hat auch der irakische Präsident Nouri al-Maliki – u.a. in seiner Rede vor dem »U.S. Institute of Peace« am 24. Juli 2009 – laut über eine Verlängerung der US-Truppen-Präsenz über 2011 hinaus nachgedacht (»Washington Independent«, 23.07.2009). Er weiß, dass sich seine Regierung ohne US-Truppen nicht lange halten kann.

Nicht nur der Abzug der fremden Truppen lässt auf sich warten, sondern auch die Normalisierung der Lebensbedingungen. Noch immer ist die Versorgungslage schlecht, gibt es sauberes Wasser und Strom nur stundenweise und liegt das Gesundheits- und Bildungswesen am Boden. Millionen Iraker hungern und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus, wie die UN-Nachrichtenagentur IRIN am 08.11.2009 vermeldete.

Gründe sind der Rückgang der heimischen landwirtschaftlichen Produktion aufgrund der 2003 erzwungenen Öffnung des Landes für zollfreie Importe und dem Wegfall staatlicher Unterstützung, sowie Inflation, Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen des Systems zur Verteilung verbilligter Nahrungsmittelhilfe, von denen 60% der Bevölkerung völlig abhängig sind. Nach offiziellen irakischen Angaben beträgt die Arbeitslosigkeit noch 18-20%, fast ein Viertel der 25 bis 28 Millionen Iraker lebt unter der Armutsgrenze. Unabhängige Hilfsorganisationen gehen noch von wesentlich höheren Zahlen aus. Nur wenige der mehr als zwei Millionen ins Ausland geflohenen Flüchtlinge wagten unter diesen Bedingungen die Rückkehr.

Besatzung in der Sackgasse

Unabhängig davon, wie viele US-Truppen im Land bleiben, befindet sich die Besatzung in einer Sackgasse. Die USA kommen mit ihren Plänen im Irak nicht voran. Sie sind nach wie vor die dominierende Macht, ihr Einfluss hat sich aber deutlich verringert. Auch das SOFA, obwohl nur halbherzig befolgt, schränkt den Handlungsspielraum der US-Truppen und letztlich auch ihre Autorität im Land spürbar ein.

Obama möchte durchaus die Truppenzahl deutlich verringern – die Rede war oft auf 30.000 bis 50.000 Mann -, um so den sichtbaren Eindruck von Besatzung zu vermindern, die immensen Kosten zu reduzieren und vor allem auch um Kräfte für Afghanistan freizumachen. Doch noch sitzen die verbündeten irakischen Politiker nicht fest im Sattel und die USA haben ihr wesentliches Ziel, die dauerhafte Kontrolle über den Irak, noch nicht erreicht. Nichts zeigt diese Absicht so deutlich, wie die riesige Festung im Zentrum Bagdads, die als US-Botschaft firmiert. Auch Obama machte bisher keinerlei Anstalten, den riesigen Stab von über tausend Mitarbeitern – weit mehr als das britische Empire für das zehnmal so große Indien im Einsatz hatte – zu reduzieren. Dieser Stab aus Diplomaten, Geheimdienstleuten, Verwaltungs-, Wirtschafts- und sonstigen Experten soll auch in Zukunft das eigentliche administrative Herz Iraks bilden, das mit Hilfe der zahlreichen Berater auf allen Ebenen der irakischen Regierung und Verwaltung, alle wesentlichen Entscheidungen im Irak beeinflusst.

Aufgrund des breiten Widerstands in der Bevölkerung, dem auch die Maliki-Regierung Rechnung tragen muss, sind jedoch die meisten Maßnahmen und Projekte blockiert, von der Gründung einer »staatlichen Anstalt für Privatisierung« bis zum neuen Ölgesetz, das eine Privatisierung der Ölproduktion ermöglichen würde. In spektakulären Auktionen bot der Irak ausländischen Konzernen nun zwar Abkommen über die Ausbeutung umfangreicher irakischer Ölfelder an. Diese sind aber weit von den Wunschvorstellungen der westlichen Öl-Multis entfernt, für die die Bush-Regierung nicht zuletzt in den Krieg zog. Es handelt sich um reine Dienstleistungsverträge mit dem Ziel, die Fördermengen von Ölfeldern drastisch zu steigern. Die Auftragnehmer bekommen als Entgelt nur einen festen Betrag zwischen 1,20 und 2,00 US-Dollar für jedes zusätzlich geförderte Barrel Öl. Bei Laufzeiten von 20 Jahren sind dabei durchaus zweistellige Milliardenbeträge zu verdienen. Sie erhalten aber nach wie vor weder Anteile am geförderten Öl noch an den Reserven. Von den großen US-Konzernen kam allein Exxon Mobil zum Zuge, ansonsten dominieren asiatische Firmen, allen voran die staatliche chinesische National Petroleum Corporation CNPC. (siehe »Magere Beute«, junge Welt, 31.12.2009)

Noch sind die Verträge nicht unter Dach und Fach. Im Parlament, das gemäß des immer noch gültigen Gesetzes aus der Baath-Ära alle Verträge mit ausländischen Firmen billigen muss, regt sich Widerstand, und mehr noch in der staatlichen Ölindustrie – vom Management bis zu den Gewerkschaften.

Niemand weiß, wie es nach den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 weitergehen wird. Neue Regierungen könnten die auf wackliger Rechtsgrundlage geschlossenen Verträge jeder Zeit annullieren. Vor allem für die westlichen Konzerne gibt es dagegen nur eine Garantie: die dauerhafte Präsenz der US-amerikanischen Truppen.

Joachim Guillard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher zu diesem Bereich

zum Anfang | Iran: Gescheiterter Auftakt im Atompoker

von Ali Fathollah-Nejad

Der Verhandlungsprozess zwischen dem Westen und dem Iran war in der Vergangenheit nicht von Erfolg gekrönt, vielmehr hat sein Misslingen zur Eskalation des Konfliktes beigetragen. Es war ein vorhersehbares Scheitern, der vom Westen bevorzugte »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Ansatz setzte auf Letzteres, ohne das Erstere ernst zu nehmen.1 Durch die machtpolitisch forcierte rechtliche Diskriminierung Irans im sog. Atomstreit, perpetuiert von den den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) missachtenden Atommächten USA, Großbritannien, Frankreich und Israel, wurde mit der Konstruktion des Schreckgespenstes iranische, »islamische« Bombe politischer Druck auf Teheran erzeugt.

Nach acht Jahren der konfrontativen Bush-Politik, deren neokonservatives Säbelrasseln die Welt an den Abgrund eines Krieges mit Iran brachte, wurden an Obamas versöhnlichere Töne viele Hoffnungen geknüpft. Mit seiner Ankündigung mit Teheran in direkte Verhandlungen zu treten, wurde dann auch formal betrachtet ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen beiden Ländern eröffnet. Die erste Episode begann am 1. Oktober 2009, als in Genf Verhandlungen zur Beilegung des »Atomstreits« zwischen Iran und den G5+1 (den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland) begannen.

Zu der strategischen Notwendigkeit für die USA, angesichts ihrer Kriege im Irak und in Afghanistan mit der Regionalmacht Iran direkte Gespräche zu führen, kam eine nuklearpolitische Dimension hinzu. Für seine von den USA zu Schah-Zeiten erbaute Teheraner Forschungsanlage, die medizinische Radio-Isotope herstellt, benötigt der Iran auf 20% angereichertes Uran. Teheran hatte 23 kg dieses Brennstoffes zwischen 1988 und 1993 von Argentinien erhalten. Da diese Lieferung im Laufe des Jahres 2010 verbraucht sein wird, rief Irans Außenminister Manouchehr Mottaki in einem Schreiben vom Juni 2009 die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) an, um unter deren Aufsicht das benötigte Uran für den weiteren Betrieb der Anlage zu erwerben. Zu den Aufgaben der IAEA gehört es, Mitgliedsländern, wie dem Iran, beim Betrieb ihres zivilen Atomprogramms behilflich zu sein. Dem stehen in diesem Fall jedoch die gegen Iran verhängten UN-Sicherheitsratsresolutionen diametral entgegen. Das ist auch ein Grund dafür, warum Teheran die Legalität dieser UN-Resolutionen anzweifelt.

Iranische Break-Out Capability verzögern

Als Washington von der iranischen Anfrage erfuhr, wurde eine diplomatische Strategie erarbeitet, die darauf abzielte, die iranischen Bestände an leicht angereichertem Uran (low enriched uranium, LEU) zu reduzieren, um somit zu verhindern, dass das Land genügend Brennstoff für eine Atombombe habe (break-out capability). Bei einem Moskau-Besuch im Juli 2009 stellte der Berater des Weißen Hauses für Fragen des iranischen Atomprogramms im Besonderen und nuklearer Proliferation im Allgemeinen, Gary Samore, einen Plan vor, womit Teherans »break-out capability« um ein Jahr verzögert werden würde. Damit sollte Spielraum für Verhandlungen gewonnen werden. Iranisches LEU sollte demnach in Russland in höher angereicherte Brennstäbe umgewandelt werden.

Eine Woche nachdem Iran seine Teilnahme an den Genfer Gesprächen zusagte, wurde der Bau einer bis dato unbekannten Atomanlage in Qom bekanntgegeben. Eine Flut der Empörung setzte insbesondere in westlichen Hauptstädten ein. Eine Untersuchung der Hintergründe – der später von IAEA-Direktor Mohammad El-Baradei als „Loch in einem Berg“ bezeichneten geplanten Atomanlage – deutete auf sicherheitspolitische Motive hin. So bestätigte Irans IAEA-Vertreter, Ali-Asghar Soltanieh, dass die Anlage für den Fall geplant sei, dass Israel die Haupt-Anreicherungsanlage in Natanz zerstöre.2 Kein so unrealistisches Szenario, schließlich hatte auch US-Vizepräsident Biden im Juli 2009 einen Angriff Israels für durchaus möglich gehalten. Gary Samore hatte bereits vor seiner Berufung zum Regierungsbeauftragten dafür geworben, israelische Angriffsdrohungen für die US-Diplomatie gegenüber Iran nutzbar zu machen.

Am Rande der UN-Vollversammlung im September 2009 sagte der EU-Außenbeauftragte Javier Solana, dass die G5+1 bei den geplanten Verhandlungen weiterhin auf einer Beendigung des iranischen Atomprogramms bestehen würden. Anfang Oktober in Genf legten die G5+1 ein Angebot vor.3 Danach sollte 80% des iranischen LEU zur 20prozentigen Anreicherung nach Russland gebracht und danach in Frankreich zu Brennstoff für die Teheraner Anlage weiterverarbeitet werden. Die wieder in den Iran gebrachten Brennstäbe könnten dann nicht mehr bis zu einem waffentauglichen Grade angereichert werden. Für Washington wäre es ein diplomatischer Sieg gewesen, wenn Iran tatsächlich den Großteil seines angereicherten Urans außer Landes geschafft hätte.

Prinzipielle Zustimmung einer geschwächten Regierung

Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung von Mahmoud Ahmadinejad durch die innenpolitische Krise infolge der Präsidentschaftswahlen vom Juni in die Defensive geraten. Sie hoffte, durch einen diplomatischen Erfolg in Form eines Durchbruchs in der Atomfrage, der Opposition im eigenen Land Wind aus den Segeln nehmen zu können. Der dem Präsidenten nahestehende Atomunterhändler und Vorsitzende des Obersten Nationalen Sicherheitsrats, Saeed Jalili, wurde angehalten, sich kooperativ zu zeigen, und er hat denn auch das Angebot der Großmächte nicht ausgeschlagen. Laut Angaben eines hochrangigen US-Vertreters (vermutlich der oberste US-Diplomat William Burns) hatte Iran dem Vorschlag sogar »im Prinzip« zugestimmt und war bereit, von seinem Bestand von ca. 1.800 kg LEU 1.200 kg zur Weiterverarbeitung ins Ausland zu verschicken.4 Zwei Wochen später und somit wenige Tage vor der für den 19. bis 21. Oktober anberaumten zweiten Verhandlungsrunde in Wien dementierte ein iranischer Offizieller die westlichen Medienberichte über eine Zustimmung seines Landes zu dem unterbreiteten Genfer Vorschlag.

Teheraner Konsens versus ideale Lösung des Westens

In der österreichischen Hauptstadt stand ein von Mohammad El-Baradei vorbereiteter Entwurf eines Atomabkommens zwischen den G5+1 und Iran im Zentrum der Gespräche, der den Genfer Vorschlag widerspiegelte. Ein französischer Diplomat bekundete gegenüber der »Washington Post«, dass der Entwurf „nicht sehr weit“ von der für den Westen idealen Lösung liege. Am letzten Tag der Wiener Gespräche meldeten westliche Medien wieder eine Zustimmung Irans. Soltanieh sah den Entwurf „auf dem richtigen Weg“, eine Entscheidung könne aber erst nach sorgfältiger Prüfung erfolgen. El-Baradei selbst unterstrich, dass es keine Einigung gegeben habe, forderte Teheran aber auf, innerhalb von zwei Tagen zu antworten.

Die iranische Antwort ließ jedoch auf sich warten. In den dortigen Machtzirkeln setzte eine Diskussion über das Für-und-Wider des vorliegenden Entwurfs ein, die fast eine Woche dauern sollte. Protest meldete sich auch aus der inneriranischen Opposition, so von den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Mir-Hossein Mousavi und Mohsen Rezai (amtierender Vorsitzender des mächtigen Schlichtungsrates). Die Kritikpunkte umfassten den Vorwurf des Ausverkaufs des Atomprogramms, zumal die Rückkehr des höher angereicherten Urans nicht ohne Weiteres garantiert werden könne. Der ehemalige Atomunterhändler und amtierende Parlamentspräsident Ali Larijani sowie der Vorsitzende des Parlamentsausschusses zu Fragen nationaler Sicherheit und Außenpolitik, Alaeddin Boroujerdi, schlugen stattdessen vor, dass Iran das benötigte Uran aus dem Ausland käuflich erwerben solle. Als am 29. Oktober Mousavis Anprangerung des westlichen Vorschlags veröffentlicht wurde, wonach dieser „alle Anstrengungen von tausenden [iranischen] Wissenschaftlern in den Wind schlägt“, gab Teheran seinen Gegenvorschlag bekannt.5 Dieser spiegelte den drei Tage zuvor dargelegten Vorschlag Boroujerdis wider, der im Kern einen »simultanen Austausch« vorsieht.6 Demnach soll das LEU in mehreren Schritten außer Landes gebracht werden und nicht in einer einzigen Lieferung, sodass ein gleichzeitiger Austausch zwischen Irans LEU mit dem höher angereicherten Brennstoff aus dem Ausland stattfände. Bahman Nirumand erfasst die westliche Perspektive wie folgt: „Ein sofortiger Tausch des niedrig angereicherten Urans gegen höher angereichertes Material, wie es Iran nun offenbar fordert, würde dagegen keinen Spielraum für Gespräche garantieren. Auch eine schrittweise Lieferung des Urans ins Ausland dürfte auf Ablehnung stoßen, weil dadurch die kritische Menge von spaltbarem Material für den Bau einer Atombombe nicht unterschritten werden dürfte.“ 7

Iran will Trumpfkarte nicht aus der Hand geben

Während der Westen durch die signifikante Reduzierung des Bestands an LEU auf iranischem Boden aus einer Position der Stärke verhandeln will, wittert Teheran die Gefahr, dadurch nicht auf Augenhöhe Gespräche führen zu können. Ganz in diesem Sinne führt Gareth Porter ein strategisches Motiv Teherans ins Feld: „Diese [iranische] Ablehnung des Plans spiegelt die Erkenntnis wider, dass der El-Baradei-Entwurf Iran seines Verhandlungsgewichtes entledigen würde, den sie [die Iraner] so schmerzhaft in der Form von LEU-Beständen angehäuft hatten. Hochrangige iranische Offizielle in Fragen nationaler Sicherheit hatten in informellen Gesprächen zugegeben, dass der Hauptzweck der Anhäufung leicht angereicherten Urans darin bestünde, die Vereinigten Staaten dazu zu bringen, sich an den Tisch zu setzen und ernsthaft mit Iran zu verhandeln. Sie hatten beobachtet, dass in der Vergangenheit – bevor das Anreicherungsprogramm begann – die Vereinigten Staaten kein Interesse in Verhandlungen hegten. Von dieser strategischen Perspektive aus ist Iran in einer Position, mit den Vereinigten Staaten in einer Weise zu verhandeln, was unter den Regierungen von Rafsanjani und Khatami der Fall war.“ 8

Der Teheraner Konsens vom »simultanen Austausch« sollte nunmehr die iranische Position wiedergeben, sodass man das für Ende 2009 angesetzte US-Ultimatum bezüglich des IAEA-Vorschlags verstreichen ließ. Nachdem ein Anfang Dezember von Iran unterbreiteter Vorschlag, dieses Tauschgeschäft auf der im Persischen Golf gelegenen Insel Kish vorzunehmen, von den USA (da auf iranischem Territorium) brüsk abgelehnt wurde, zeichnete sich Ende 2009 eine vielversprechende Option ab. Die Türkei, die mit Iran und den USA gute Beziehungen unterhält, soll als Land dienen, in dem der Austausch unternommen werden könnte.9

Washington pokerte zu hoch

Für das vorzeitige Scheitern der Verhandlungen kommt der diplomatischen Strategie Washingtons eine zentrale Rolle zu. Gemeinsam mit seinen EU-Partnern sahen die USA die goldene Möglichkeit, einen diplomatischen Sieg einzufahren, indem man mit einem nebulösen Deal Irans Atomprogramm quasi physisch aushebeln wollte. Diese unrealistische Aussicht machte indes blind dafür, dass Verhandlungen zwischen beiden Seiten Spannungen abbauen und einen Interessenausgleich anstreben sollten. Stattdessen haben die USA und ihre EU-Partner die Erfahrungen aus dem Verhandlungsprozess der letzten Jahre vollkommen ignoriert und nunmehr zu hoch gepokert.10 Und auch nach wie vor setzt man auf das bankrotte »Zuckerbrot-und-Peitsche-Model«, das nur dazu geeignet ist, Fronten zu verhärten und durchaus existente Initiativen zur Konfliktbeilegung außen vor zu lassen.

Risiken der geschwächten iranischen Position

Die inneriranische Herrschaftskrise nach den Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 hat dazu geführt, dass die an Legitimität leidende iranische Regierung im andauernden Konflikt mit dem Westen geneigt ist, Zugeständnisse ans Ausland zu machen. Das war bereits bei den Genfer Verhandlungen zu beobachten. Der Westen wiederum hofft, aus eben jener Schwäche Teherans Profit schlagen zu können.11

In Washington ist man parteiübergreifend zuversichtlich, bereits aus der Tatsache, direkte Verhandlungen »versucht« zu haben, politisches Kapital schlagen zu können. Von einem maßgeblichen Teil der strategischen Kreise in den USA wird (Schein-)Diplomatie als notwendiger Schritt der Kriegslegitimation erachtet. Sanktionen – bis hin zu »lähmenden« – werden denn auch angestrebt, um Teherans Weigerung, sich dem US-amerikanischen Willen zu beugen, zu bestrafen. Doch wirtschaftliche Sanktionen gehen in der Regel zu Lasten der Bevölkerung, während sie die Hardliner auf allen Seiten eher stärken.12

In Iran stehen turbulente Monate bevor. Es wird darauf zu achten sein, dass das Ausland diese Situation nicht rücksichtslos zugunsten eigener, wenn auch kurzsichtiger, strategischer Vorteile ausnutzt. Es gilt nach wie vor, dass die vom Westen betriebene Zwangsdiplomatie gegenüber Iran – wie man es in diplomatischen Studien zutreffend formuliert – eine für die Entwicklung des westasiatischen Landes nachteilhafte Dynamik erzeugt. Solange Obamas Iran-Politik dem Bush-Modus verfangen ist – das statt auf einen Ausgleich auf eine Unterwerfung unter US-Interessen abzielt -, ist der sog. Iran-Konflikt weit davon entfernt, beigelegt zu werden.

Anmerkungen

1) Ali Fathollah-Nejad, »Don“t blame the messenger for the message«? Wie die EU-Diplomatie den Weg für einen US-Angriff auf Iran ebnet, Tübingen: Informationsstelle Militarisierung (Studien zur Militarisierung Europas, Nr. 28/2007).

2) Gareth Porter, New Doubt Cast on U.S. Claim Qom Plant is Illicit, Inter Press Service (IPS), 02.10.2009; ibid., Secrecy shrouds Iran“s contingency centers, Asia Times Online, 19.11.2009.

3) Vgl. Jim Lobe, Iran: New Nuke Charges Raise Stakes in Upcoming Talks, IPS, 25.09.2009.

4) Julian Borger, Iran agrees to send uranium abroad after talks breakthrough, The Guardian, 02.10.2009, S.21; Louis Charbonneau, Iran nuclear talks with U.S. and allies eases tension, Reuters, 02.10.2009.

5) Vgl. Yossi Melman, Iran to IAEA: Access to nuclear fuel before uranium deal, Haaretz.com 30.10.2009.

6) Es wird weithin angenommen, dass der Vorsitzende des zuvor genannten Ausschusses, dem Boroujerdi vorsitzt, die Meinung des tonangebenden Staatsoberhaupts Ali Khamenei wiedergibt.

7) Bahman Nirumand, Iran-Report, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, Jg. 8, Nr. 11 (Nov. 2009), S.10.

8) Gareth Porter, The US/Iran Talks: The Road to Diplomatic Failure, CounterPunch 10.12.2009.

9) Vgl. Iran warming to Turkish role in nuke dispute, todayszaman.com 31.12.2009.

10) Vgl. Porter (Fußnote 8).

11) Für ein markantes Beispiel vgl. Jürgen Bätz, Bewegung im Atomstreit? Die innere Instabilität des Iran als Chance für den Westen, Internationale Politik und Gesellschaft Nr. 4/2009, S.65-81.

12) Vgl. Ali Fathollah-Nejad & Miriam Shabafrouz, Zenith – Zeitschrift für den Orient Jg. 11 (2009), Nr. 4, S.38-39.

Ali Fathollah-Nejad ist Politologe und lehrt zurzeit an der University of Westminster/GB. Im Universitätsverlag Potsdam ist von ihm erschienen: Der Iran-Konflikt und die Obama-Regierung – Alter Wein in neuen Schläuchen?; Homepage: fathollah-nejad.com.

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Wenig Hoffnung im Israel-Palästina-Konflikt

von Claudia Haydt

Der ermordete israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin fasste seine Motivation für den Osloer-Friedensprozess in die Worte: „Frieden schließt man nicht mit seinen Freunden. Frieden schließt man mit seinen Feinden.“ Auch der Wahlkampf des nun nicht mehr ganz so neuen US-Präsidenten Barack Obama war von dieser versöhnlichen Rhetorik gegenüber den Konfliktparteien des Nahen und Mittleren Ostens geprägt. Bereits im Sommer 2008 kündigte Obama an, dass er im Nahost-Friedensprozess „eine aktive Rolle“ übernehmen werde: „Ich werde mich persönlich engagieren und alles tun, was mir möglich ist, um die Sache des Friedens vom Beginn meines Amtes an voranzutreiben“ 1

Ein Jahr nach der Amtseinführung Obamas ist es Zeit für eine erste Bilanz der neuen US-Politik gegenüber Israel und Palästina.

Schwerer Start

Zwischen der Wahl Obamas am 4. November 2008 und seiner Amtseinführung am 20. Januar 2009 eskalierte die Situation im Nahen Osten dramatisch. Die israelische Armee starte am 27. Dezember 2008 die Operation »Gegossenes Blei« im Gazastreifen. Bis zum Ende der Invasion starben 1.434 PalästinenserInnen, darunter viele Zivilisten, und 13 Israelis. Der neue US-Präsident hatte noch in seinem Wahlkampf im Sommer 2008 die israelische Stadt Sderoth besucht, die immer wieder Ziel palästinensischer Raketen geworden war, und dort erklärt, auch er würde alles unternehmen, um sein Zuhause und seine Töchter vor drohenden Hamas-Raketen zu schützen. Dies betrachtete die israelische Regierung offensichtlich als Freibrief für den Angriff auf Gaza. Drei Tage vor Obamas Amtseinführung stellte Israel die Kampfhandlungen allerdings ein, vielleicht um ihn nicht allzu stark zu provozieren.

Wohlwollende Kommentatoren sahen in Obamas Schweigen während des Gaza-Krieges eine Rücksichtnahme gegenüber seinem Amtsvorgänger George W. Bush in dessen »Amtsführung der letzten Tage« er sich nicht einmischen wolle.

Bereits am zweiten Tag von Obamas Präsidentschaft schien sich dann die Hoffnung auf eine neue Politik in der Region zu erfüllen. Der neue Präsident machte den erfahrenen Diplomaten und Ex-Senator George Mitchell zum Sondergesandten für den Nahen Osten. Dieser hatte sehr ausdauernd und schlussendlich erfolgreich das Ende des Nordirlandkonfliktes begleitet und ihm war auch die politische Gemengelage im Nahen Osten nicht fremd. Er hatte 2001 den nach ihm benannten »Mitchell-Report« verfasst, der später zur Grundlage der Road-Map wurde.

Doch Mitchells Bilanz ist nach sieben Vermittlungsmissionen im Jahr 2009 äußerst mager. Das liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen. Einerseits haben nach dem Gaza-Krieg die israelischen Parlamentswahlen zu einem weiteren Rechtsrutsch in der israelischen Regierung geführt. Andererseits gibt es auf der palästinensischen Seite eine tiefe Spaltung zwischen der von der Fatah dominierten West-Bank und dem Hamas kontrollierten Gazastreifen. Mahmud Abbas wird als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) faktisch nur noch von außen an der Macht gehalten. Selbst in seiner eigenen Fatah-Partei hat er kaum noch Rückhalt.

Obamas Kairoer Rede

Barack Obama beherrscht den Umgang mit symbolischen Gesten. In einer Rede vor Studierenden an der Universität in Kairo am 4. Juni 2009 sprach er von „neuen Anfängen“ in der Beziehung zwischen den USA und der arabischen Welt, er sprach von „Frieden“ und vor allem von „gegenseitigem Respekt“. Obama verglich in seiner Rede die Situation der PalästinenserInnen mit denen der Schwarzen in den USA oder in Südafrika. Diese Äußerungen wurden in vielen arabischen Ländern positiv aufgenommen, sie wurden als Zeichen für eine neue Ebene der Verständigung gesehen. Gleichzeitig kam es zu starkem Widerspruch aus Israel und auch von vielen US-amerikanischen Politikern (Republikanern wie Demokraten).

Die große Begeisterung nach dieser Obama-Rede verblasste im arabischen Raum, spätestens als klar wurde, dass seine Vertreter in der UN den »Goldstone-Report« ablehnen würden – jenen Report, der im Auftrag der UN erstellt worden war, um eine völkerrechtlich Bilanzierung des Gaza-Krieges vorzunehmen. Der 575 Seiten umfassende Bericht beschuldigte sowohl Israel als auch die Hamas der Kriegsverbrechen. Die israelische Armee sieht sich in dem Bericht jedoch mit deutlich weitergehenden Vorwürfen konfrontiert als ihre palästinensischen Gegner. Dazu gehört die unterschiedslose Tötung von Zivilisten, der Einsatz international geächteter Phosphormunition und die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur – einschließlich Schulen und Krankenhäusern.

Einfrieren des Siedlungsbaus?

»Land für Frieden«, das ist die Formel die dem Oslo-Prozess und der Road-Map zugrunde liegt. Durch einen Verzicht Israels auf die 1967 eroberten Gebiete soll die Grundlage für einen lebensfähigen palästinensischen Staat gelegt werden. Eine vertraglich garantierte friedliche Koexistenz und Friedensverträge mit den arabischen Nachbarn sollen den Friedensprozess absichern. Doch ein großer Teil des Landes, das für einen palästinensischen Staat vorgesehen ist, wird massiv durch Mauerbau, Straßen und Siedlungsbau von Israel in Besitz genommen. 460.000 Siedler leben in den besetzten Gebieten, beinahe 200.000 davon im annektierten Ost-Jerusalem.

Nach internationalem Recht sind die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland illegal. Sie verstoßen gegen das Völkerrecht, das einer Besatzungsmacht verbietet, Bürger aus ihrem eigenen Territorium in besetztes Gebiet zu transferieren (Vierte Genfer Konvention, Artikel 49), und sie befinden sich in Widerspruch zur UN-Resolution 478 von 1980. Bereits in der Road Map wurde deswegen ein Siedlungsstopp festgelegt, doch noch keine US-Administration hat bisher entschlossen auf eine Durchsetzung gedrängt.

Im Gegenteil, George W. Bush hat im April 2004 in einem Briefwechsel mit Ariel Sharon signalisiert, die USA würden die geschaffenen Fakten als „realities on the ground“ 2 anerkennen und von Israel nicht verlangen, die Hauptsiedlungsblöcke zu räumen. Daraus leitet die israelische Regierung bis heute das Recht ab, wenigstens innerhalb dieser Hauptsiedlungsblöcke (einschließlich des annektierten Ost-Jerusalem) neuen Wohnraum für Israelis bauen zu können. Entsprechend groß war die israelische Irritation, als plötzlich unter Obama von Seiten der US-Administration ein totaler Baustopp als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Palästinensern verlangt wurde. Bei einem Treffen Mitchells mit Netanjahu im August 2009 in London wurde allerdings deutlich, dass die Position der USA doch nicht so fest war und die US-Administration einen Kompromiss suchte.

Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Mitchell und der israelischen Regierung war dann ein zehnmonatiges Moratorium, in dem keine neuen Bauten entstehen sollen. Ostjerusalem bleibt von dieser Regelung aber ausgenommen.

Die israelische Friedensgruppe »Peace Now« beobachtet seit Jahren die Entwicklung der Siedlungen und sie wies in einer Studie im Dezember 2009 daraufhin, dass durch Ausnahmen und Tricks während des Siedlungsmoratoriums mit einem höheren Bauvolumen zu rechnen ist als im Jahr zuvor (Lara Friedman, Peace Now, 10.12.2009). Insgesamt wird trotz des offiziell »eingefrorenen« Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten zur Zeit mehr gebaut als im gesamten israelischen Kernland. US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete Netanyahus Siedlungsbaukompromiss dessen ungeachtet als „bisher einmaliges“ Angebot.

Für die Palästinenser und die arabischen Nachbarn Israels ist diese Entwicklung extrem enttäuschend. Dennoch ist durch die Auseinandersetzung um ein Siedlungsmoratorium die internationale öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema stark gewachsen. Folgen dieser erhöhten Aufmerksamkeit jedoch keine konkreten Veränderungen, kann die Situation regional eskalieren, möglicherweise bis hin zu einer dritten Intifada.

Gemeinsame Sicherheitsinteressen

Vor dem Amtsantritt Obamas spekulierte die israelische liberale Tageszeitung Ha“aretz (25.12.2008), dass Obama Israel zwingen könnte, Inspektionen im israelischen Reaktor Dimona zuzulassen. Obama setzte die Frage der atomaren Abrüstung durch seine engagierte Rede in Prag im Vorfeld des NATO-Jubiläumsgipfels Anfang April 2009 dann auch tatsächlich wieder auf die internationale Agenda. Im Nahen Osten hat die Frage der atomaren Bewaffnung eine besondere Brisanz. Israel, das nie dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, verfügt über geschätzte 200 bis 500 atomare Sprengsätze (vgl. Jürgen Rose in W&F, 4/2004, S.51-54). Es wachsen die Spannungen zwischen Israel und Iran, und gleichzeitig nimmt der internationale Druck auf den Iran zu, die Urananreicherung einzustellen, um keine eigenen Atomwaffen produzieren zu können. Unter diesen Umständen ist es sehr zu begrüßen, dass es – wohl auf Druck der US-Administration – Ende September 2009 seit 30 Jahren ein erstes Treffen zwischen Israel und Iran gab (vgl. Silke Mertins in Financial Times Deutschland vom 23.10.2009). Das Geheimtreffen fand im Rahmen einer Konferenz der Kommission zur atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung statt. Bereits im Mai 2009 hatte die US-Regierung sehr deutlich vor einem israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen gewarnt (Aluf Benn in Ha“aretz 14.5.2009), was in Israels rechter Regierung für eine gewisse Verstimmung gesorgt hatte. Allerdings ist damit ein israelischer Angriff auf den Iran nicht ausgeschlossen, sondern lediglich an eine vorherige Koordination mit den USA gekoppelt. Offensichtlich versucht die US-Administration, Israel als treibenden Akteur im Nahen Osten in seine Schranken zu weisen, hält aber gleichzeitig an seiner Politik der Stärke und der »gemeinsamen Sicherheitsinteressen« zwischen Israel und den USA fest.

Nur wenige Tage nach dieser Warnung signalisierte am 21. Mai 2009 die Obama-Administration, dass sie Israel nicht zur Offenlegung seiner atomaren Fähigkeiten zwingen würde, sondern weiterhin die israelische Politik der nuklearen Ambiguität stützen wird.3 Ein Schritt in Richtung eines atomwaffenfreien Nahen Osten sieht anders aus.

Verbal ist bei Obama der Anti-Terror-Kampf aus dem Fokus verschwunden. Er positioniert sich nicht – wie sein Vorgänger – rhetorisch gegen eine »Achse des Bösen«. Dennoch bleibt es bei den wesentlichen Grundlagen des gemeinsamen »Antiterrorkampfes«, und in diesen ist und bleibt Israel eng eingebunden. Bereits in Oktober 2009 gab es gemeinsame Übungen zwischen NATO und der israelischen Marine zur Überwachung des Mittelmeers. Anschließend wurde öffentlich bekannt gegeben, dass Israel an der NATO-Antiterror-»Operation Active Endeavour« (OAE) mit einem Kriegsschiff teilnehmen wird. Dies kann auch als Anzeichen interpretiert werden, dass der Plan einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Israels von den USA ernsthafter als bisher verfolgt wird. Auf jeden Fall beteiligt sich die NATO damit direkt an der seeseitigen Blockade Gazas.

An der Nase herumgeführt?

Viele Kommentatoren urteilen, dass sich der in der internationalen Politik noch unerfahrene Obama von der israelischen Regierung an der Nase herumführen lasse. Sollte das stimmen, dann nur deshalb, weil Obama und seine Berater es akzeptiert haben. Die USA sind alles andere als machtlos gegenüber Israel. Sie können z.B. ankündigen, zukünftig kein Veto mehr gegen Verurteilungen Israels im Sicherheitsrat einzulegen. Ebenso hängt Israel von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung für diese Waffenlieferungen ab.

Nach wie vor erhält Israel Militärhilfe in Milliardenhöhe. Am 23. November 2009 boten die USA die Kooperation bei hochmodernen Kampfflugzeugen an, das Arrow 3 Raketensystem wird vollständig von den USA für Israel beschafft. Und am 21. Dezember hat Obama 202 Millionen Dollar für ein israelisches Raketenabwehrprogramm genehmigt.

Ein weiterer wichtiger Hebel, den die USA in der Hand halten, ist die Kreditgarantie, die die USA regelmäßig für israelische Anleihen im Ausland geben. Unter George Bush Senior wurde dieser bereits erfolgreich gegenüber dem israelischen Premierminister Yitzhak Shamir eingesetzt. Als Shamir Ende 1991 nicht zur Madrider Friedenskonferenz mit der PLO kommen wollte, drohte Bush damit, die Garantien in Höhe von 10 Milliarden Dollar zurückzuziehen. Shamir fuhr nach Madrid. Jetzt hat Mitchell laut überlegt (BBC 10.1.2010), dass die USA diesen Schritt wiederholen könnten. Dass von dieser Drohung aber zur Zeit kein größerer Druck ausgeht, liegt daran, dass im Juni letzten Jahres entsprechende Kreditgarantien für die nächsten zwei Jahre gegeben wurden. Hinzu kommt, dass Stimmen aus dem Weißen Haus zu hören waren, die sich gegen die Streichung der Garantien aussprachen.

2009: Ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess

Das Jahr 2009 war ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess. Wird 2010 besser? „Irgendwann muss die Administration der Tatsache ins Auge sehen, dass die Gräben zwischen beiden Seiten heute größer sind als gestern, und selbst gestern waren sie schon unüberwindba“ 4, schreibt Robert Malley, Direktor des Nahost-Programms der »International Crisis Group« und ehemaliger Nahostberater Bill Clintons.

Am 4. Januar 2010 berichtete die israelische Tageszeitung Ma“ariv von einer neuen Initiative des US-Vermittlers Mitchell, die Verhandlungen auf zwei Jahre zu begrenzen und ohne Vorbedingungen sofort beginnen zu lassen. Ob dies wirklich erfolgversprechend sein wird, hängt neben dem Ende der Belagerung des Gazastreifens von zwei wesentlichen Punkten ab. Zum einen müssen die Vermittler, und da spielen im Nah-Ost-Quartett die USA die wichtigste Rolle, tatsächlich entschlossen sein, auch Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Zum anderen sind auf der palästinensischen Seite dringend Neuwahlen nötig. Abbas hat keine Autorität mehr. Die Wahlen müssen von der PA und der Hamas gemeinsam organisiert werden, wenn die Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht dauerhaft zementiert werden soll. Das Nahost-Quartett muss nach dieser Wahl die Entscheidung der palästinensischen Bevölkerung – wie auch immer diese ausfallen sollte – anerkennen. Nur eine solche repräsentative palästinensische Regierung wird in einen Verhandlungsprozess stark und glaubwürdig agieren können und gleichzeitig auch die Autorität haben, dafür sorgen zu können, dass der Raketenbeschuss auf israelische Städte eingestellt wird.

Es bleibt zu hoffen, dass Obamas angeschlagene Administration die Kraft und vor allem den politischen Willen findet, einen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen, in den alle beteiligten Kräfte einbezogen werden und der einem gerechten Frieden zum Ziel hat.

Anmerkungen

1) http://www.aipac.org/Publications/SpeechesByPolicymakers/PC_08_Obama.pdf

2) Vgl. Settlement Report, Vol. 14 No. 3, May-June 2004.

3) Steve Sheffey, The Huffington Post – 13 Jan 2010.

4) http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-1260/i.html

Claudia Haydt ist Religionswissenschaftlerin und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung.

zum Anfang | Barack Obamas Ostasienpolitik: Eine Zwischenbilanz

von Andreas Henneka

Mit dem Eintritt in den Pazifikkrieg im Dezember 1944 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen sind die USA zu einer ordnungsbestimmenden Kraft in Ostasien geworden. Der Wunsch, eigene Interessen zu wahren, sowie eine Vielzahl von Bündnisverträgen und die machtpolitische Rivalität gegenüber Russland und der VR China sorgen dafür, dass die Entwicklung in der Region unter fortwährender Beobachtung der Entscheidungsträger in Washington steht. Zu den außenpolitischen Herausforderungen der neuen US-Regierung unter Barack Obama zählt deshalb die Ausarbeitung eines klaren Konzepts, das den USA auch in den kommenden Jahrzehnten Handlungsfähigkeit und Einfluss in Ostasien sichert.

Enge Partnerschaft trotz vorhandener Spannungen

Mit Blick auf dieses im Wahlkampf formulierte Selbstverständnis ist zu erwarten gewesen, dass die politische Agenda, mit der Barack Obama sich Anfang November 2009 zu seinem Antrittsbesuch nach Tokio, Beijing und Seoul aufmachte, ambitioniert und couragiert klingen würde. Neben Fragen zur Klima- und Wirtschaftsentwicklung standen sicherheitspolitische Themen im Vordergrund. Grundsätzlich kann die Situation hinsichtlich der US-amerikanischen Außenbeziehungen zu den Staaten in der Region als günstig beschrieben werden. Das strategische Bündnis mit Südkorea, Japan und Taiwan steht ungeachtet mancher Kontroversen auf einem festen Fundament. Auch die Beziehung zur Volksrepublik China hat sich gefestigt, wie sich am Besuch George Bushs jun. während der Olympischen Spiele und einem im Juni 2008 getroffenen Abkommen über Zusammenarbeit in den Bereichen Energie und Umweltschutz zeigen lässt. Gleichzeitig prägt eine Reihe von Konflikten das Verhältnis der USA zur Region und damit ihre Politik. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Auseinandersetzung um das nordkoreanische Raketen- und Nuklearprogramm sowie die Kontrolle über die Meerenge von Taiwan. Ein Blick auf die geostrategischen Gegebenheiten an Ort und Stelle macht deutlich, dass die politischen Leitlinien der in der Region aktiven Akteure von weiteren Konstanten beeinflusst werden.

Für die Vereinigten Staaten gehört Ostasien zu den strategisch wichtigsten Regionen. Festmachen lässt sich das schon an der Stärke der amerikanischen Truppen, die im gesamten Pazifikraum operieren. Laut Selbstauskunft des amerikanischen Oberkommandos im Pazifik, dem »U.S. Pacific Command«, beläuft sich die Zahl des Personals auf annähernd 250.000. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtstärke der amerikanischen Streitkräfte. Allein die Seestreitkräfte unterhalten an Ort und Stelle mehr als 135.000 Personen sowie 180 Schiffe und 1.400 Flugzeuge. Es folgen die Landstreitkräfte mit 50.000 Angehörigen, davon vier Stryker Großverbände, die Luftstreitkräfte mit ca. 39.000 Personen und 350 Flugzeugen, über 13.000 Personen der U.S. Küstenwache sowie 1.200 Angehörige von teilstreitkräfteübergreifenden Spezialeinheiten. Es liegt auf der Hand, dass die ständige Bereitstellung dieser Militärmacht nicht allein der Einhegung des nordkoreanischen Nuklear- und Raketenprogramms bzw. der Sicherung der Schifffahrtswege in der Meerenge von Taiwan gilt. Auch die Ausübung der »Schutzmachtfunktion« gegenüber seinen regionalen Verbündeten macht die Aufrechterhaltung eines solch gewaltigen Militärapparats nicht zwingend erforderlich. Angesichts seiner technischen Fähigkeiten im Militärbereich wäre Washington zweifelsfrei in der Lage, die Sicherheit seiner Verbündeten mit weniger Personal und Gerät an Ort und Stelle zu garantieren. Es liegt deshalb nahe, die Zurschaustellung militärischer Stärke mit dem politischen Willen zu verknüpfen, gegenüber den beiden regionalen Großmächten VR China und Russland Präsenz zu zeigen. Denn ungeachtet mannigfaltiger Zusammenarbeit vertreten Washington, Moskau und Beijing in Ostasien unterschiedliche Interessen. Das Aufgabenfeld der amerikanischen Streitkräfte in der Region lässt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Das Verhindern militärischer Auseinandersetzungen, Schutz der Verbündeten, Sicherung der Handelswege sowie die demonstrierte Fähigkeit, militärisch gegen jeden potentiellen Gegner zu bestehen.

Erwartungen an Obama

Die Kommentare ostasiatischer Tageszeitungen zur Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der USA fielen insgesamt verhaltener aus als die euphorische Berichterstattung ihrer westlichen Pendants. Das mag kulturelle Gründe haben. Zurückhaltung und leises Auftreten sind Attribute, die im Westen mit Blick auf asiatische Eigenschaften häufig auffallen. Sachlich betrachtet ist die Ursache für die gesetzten Reaktionen darin zu suchen, dass die Erwartungshaltung der ostasiatischen Staats- und Regierungschefs an den neuen Mann im Weißen Haus eine völlig andere ist als die der Europäer und der arabischen Welt. In europäischen Hauptstädten ist Erleichterung darüber zu spüren, dass die von der vergangenen US-Regierung gezogene Grenze zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa aufgehoben wurde. Gegenüber der arabischen Welt hat Barack Obama mit seiner versöhnlichen Rede in Kairo politischen Boden gut machen können. In Ostasien waren diese Debatten nie von sonderlichem Interesse, weil man schlicht nicht direkt davon betroffen war. Gleichwohl man das weniger polarisierende Auftreten des neuen Präsidenten wohlwollend zur Kenntnis nimmt, findet die Bewertung Obamas in Ostasien auf einer anderen Ebene statt. Dank wirtschaftlicher und militärischer Prosperität treten die ostasiatischen Länder mit großem Selbstbewusstsein auf. Institutionell rücken sie dank verschiedener Plattformen wie beispielsweise dem »Asean Regional Forum« immer enger zusammen. Die VR China ist mittlerweile zum größten Gläubiger der USA geworden. Und angesichts der politischen Veränderungsprozesse hat sich die Kooperation zwischen der VR China und den traditionellen Verbündeten der USA in der Region verstärkt. Im Mai 2008 stattete Präsident Hu Jintao Tokio einen Besuch ab, in dessen Verlauf eine Vereinbarung geschlossen wurde, die Gasvorkommen im ostchinesischen Meer gemeinsam zu erschließen. In Reaktion auf das Erdbeben in Sichuan leistete Japan große Hilfe. Auch im Militärbereich ist ein wachsender Austausch beider Länder zu beobachten. Verbessert hat sich auch das innerchinesische Verhältnis. Direkte Flüge zwischen der VR China und Taiwan und der wirtschaftliche Handel nehmen zu. Ungelöst bleibt die Einbindung Taiwans in internationale Organisationen, was Beijing wegen seiner Ein-China-Politik weiter blockiert. Im Verhältnis zwischen Südkorea und der VR China haben die Besuche auf höchster politischer Ebene zugenommen. Weitgehende Kooperationsvereinbarungen wurden getroffen, wie z.B. in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Klimaschutz und Freihandelsabkommen. Das beschriebene Bild zeigt, dass Obama in seiner Außenpolitik große Flexibilität und politische Geschicklichkeit an den Tag legen muss, wenn er sich in die wachsende Kooperation zwischen den ostasiatischen Staaten in einer für die USA gleichermaßen vorteilhaften Weise einbringen will. Die Rolle eines bestimmenden Akteurs werden die USA nur dann weiter füllen können, wenn es ihnen gelingt, allen Entscheidungsträgern in der Region das Gefühl zu vermitteln, als Partner ernst genommen zu werden.

Zugpferd oder lahmer Gaul

Barack Obama ist mit dem Versprechen in sein Amt gestartet, die Außenpolitik seines Landes auf ein neues, von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägtes Fundament zu stellen. Damit hat er sich zum Hoffnungsträger jener stilisiert, die den offenen Dialog als eigentliches Werkzeug politischen Handelns verstehen. Ob sich Obama zum Zugpferd oder zum lahmen Gaul entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt, da auch in Washington die Konsolidierung der Wirtschaft im Vordergrund steht und die bevorstehenden Kongresswahlen Barack Obamas politischen Spielraum einschränken, ist es unmöglich, ein sicheres Urteil über seine weitere diese Region betreffende Außenpolitik zu fällen. Hingewiesen sei an dieser Stelle darauf, dass schon vor seiner Wahl Anzeichen zu erkennen waren, die gegen den von Vielen prophezeiten radikalen Neubeginn in der amerikanischen Außenpolitik sprachen. Wahrgenommen wurden sie angesichts der rasch um sich greifenden »Obamanie« kaum. Ein Blick auf die Mitglieder von Obamas engstem Beraterkreis macht deutlich, dass die Mehrzahl zu jenem Teil des politischen Establishments gehört, für den ein starkes Militär einen Eckpfeiler erfolgreicher Außenpolitik bildet. Ungeachtet des Bekenntnisses zur friedlichen Koexistenz wird die Option militärischer Gewalt als ultima ratio weiterhin Bestand haben. Ob sich so Dialogangebote beispielsweise gegenüber Nordkorea glaubhaft vermitteln lassen, ist fraglich. Vor allem zu Hause werfen Kritiker dem US-Präsidenten vor, mit seinem moderaten Auftreten in den vergangenen Monaten Schwäche gegenüber jenen signalisiert zu haben, die gegenüber dem Westen im allgemeinen und den USA im besonderen negativ eingestellt sind. Auch in Ostasien lassen sich Stimmen vernehmen, die Obamas Führungsstil, den seine Befürworter als besonnen, seine Gegner als zögerlich charakterisieren, als nicht angemessen betrachten. Sie warnen davor, dass in ihrer internationalen Bedeutung stetig wachsende Länder wie die VR China den gefälligen, bisher wenig verbindlichen Regierungsstil zum Anlass nehmen, Washingtons Bemühungen nur wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich auf konkrete Zusagen einzulassen. Stattdessen würden sie angesichts ihrer gewachsenen Machtstellung eigene Forderungen und Vorgaben formulieren. Im Westen wie im Osten verbindet die Kritiker die Einschätzung, dass Barack Obama in seiner Leistung durchschnittlich bleiben und nicht die erhoffte Kraft zur Erneuerung entfalten wird.

Mühsamer Start

In Peking ist es dem neuen US-Präsidenten nicht gelungen, seinen Gesprächspartner, Präsident Hu Jintao, in Kernfragen auf verbindliche Zusagen zu verpflichten. Was die Themen Klimaschutz und Wirtschaftskrise betrifft, ist es bei allgemein formulierten Absichtsbekundungen geblieben. Im Umgang mit Iran konnten keine für Washington befriedigenden Zusagen erreicht werden. Und auch in anderen sicherheitspolitischen Fragen, wie dem nordkoreanischen Nuklearprogramm oder der Nutzung des Weltraums, blieb es bei Formulierungen, die eine enge Zusammenarbeit in diesen Bereichen in Aussicht stellen. Immerhin wurde unter Obama der Austausch ranghoher Militärs zwischen beiden Länder wieder aufgenommen, der im Oktober 2008 wegen eines geplanten Waffengeschäfts mit Taiwan auf Eis gelegt worden war. Ob Obama dem Verkauf amerikanischer Waffen zustimmen wird oder nicht, ist auch nach seiner Rückkehr aus Ostasien noch nicht endgültig entschieden. Das bedeutet, dass weder Beijing noch Taipei auf ein klares Konzept Washingtons setzen können. Was die Beziehungen zu Japan betrifft, so stand der Antrittsbesuch in Tokio im Zeichen der neu gewählten Regierung unter Yukio Hatoyama und der wieder entbrannten Diskussion um die Verlagerung des amerikanischen Militärflughafens in Futenma auf Okinawa. Obwohl unter der Vorgängerregierung schon ein Abkommen über die Restrukturierung des Stützpunktes ausgehandelt wurde, hat die neue japanische Regierung durchgesetzt, das Thema in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe nochmals zu diskutieren. Zukünftig möchte Tokio nicht länger als »Juniorpartner« behandelt werden und erwartet in allen bilateralen Bereichen Gespräche auf Augenhöhe. Die Grundlagen des zwischen beiden Ländern bestehenden Sicherheitsvertrags stehen nicht zur Diskussion, beispielsweise aber die Frage, ob mit Nuklearwaffen bestückte amerikanische Zerstörer japanische Häfen anlaufen dürfen. Die in diesem Zusammenhang jüngst bekannt gewordene Existenz eines 1969 zwischen beiden Ländern unterzeichneten Geheimabkommens, das es mit Nuklearwaffen bestückten US-Kriegsschiffen erlaubt, japanische Häfen anzulaufen, hat in der japanischen Bevölkerung für großen Unmut gesorgt. Wie in Beijing, so lässt sich in Tokio der Versuch beobachten, das Ansehen und den politischen Einfluss durch den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen zu stärken und den politischen Spielraum gegenüber den USA zu vergrößern. Manche Kommentatoren haben das Auftreten der chinesischen und japanischen Führung gegenüber Obama als arrogant und unnachgiebig beschrieben. Viele gehen davon aus, dass es dem US-Präsidenten in Tokio und Beijing nicht gelungen ist, sich als willenstarkes und durchsetzungsfähiges Zugpferd zu präsentieren. Demzufolge lässt sich als Höhepunkt seiner Ostasienreise der Besuch in Seoul bewerten, wo Obama keinen substantiellen Widerstand zu gewahren hatte. Das weitere Engagement Seouls in Afghanistan ist in »trockenen Tüchern«, und in Bezug auf Nordkorea scheint man sich über die Politik eines umfassenden Handels mit Pyongyang einig, der die bisherige Schritt-für-Schritt Strategie ablösen soll.

Leerlauf

Im Rückblick lässt sich festhalten, dass sich die Probleme in Ostasien seit Obamas Antritt nicht wesentlich verschärft haben. Konkrete Ergebnisse, geschweige denn Durchbrüche in den hier angerissenen Bereichen, hat es ebenfalls nicht gegeben. Harmonisch scheint unter dem Eindruck der bisherigen Zusammentreffen das Verhältnis zu Südkorea. Auch die Beziehung zu Japan wird stabil bleiben, wenngleich sich in Tokio unter der aktuellen Regierung neue Akzente im Umgang mit Washington abzeichnen. Schwierig bleibt die Politik gegenüber der VR China. Die wachsenden Investitionen in die chinesischen Luft- und Seestreitkräfte beobachtet Washington mit Sorge. Dennoch wird eine abgestimmte Politik mit der VR China allein wegen der wirtschaftlichen Verflechtung beider Länder immer wichtiger werden. In welche Richtung sich dabei die Allianz mit Taiwan bewegt, bleibt offen. Skeptisch ist insbesondere die Entwicklung zwischen Washington und Pyongyang zu sehen. Obamas Ankündigungen im Wahlkampf, sich ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch setzen zu wollen, stehen die Statements ranghoher Mitarbeiter – wie seiner Außenministerin Hillary Clinton – entgegen, dass ein offener und gleichberechtigter Dialog erst in Frage kommt, wenn Pyongyang sein Nuklearprogramm nachprüfbar aufgegeben hat. Dass die nordkoreanische Regierung ihr stärkstes Druckmittel ohne Gegenleistung aus der Hand gibt, ist freilich nicht zu erwarten. Die jüngsten Gespräche zwischen dem amerikanischen Sondergesandten Stephen Bosworth und nordkoreanischen Vertretern hatten die Funktion, die Lage zu sondieren. Konkrete Vorgaben für das weitere gemeinsame Vorgehen sind dabei nicht herausgekommen.

Andreas Henneka ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den Bereichen der Friedens- und Konfliktforschung, Rüstungskontrolle sowie Außen- und Sicherheitspolitik mit dem regionalen Schwerpunkt Ostasien. Er gehört der W&F-Redaktion an.

zum Anfang | Rein rhetorischer Neubeginn

Die Obama-Administration setzt in ihrer Politik gegenüber Lateinamerika auf Kontinuität

von Tobias Lambert

Eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« versprach Barack Obama seinen lateinamerikanischen AmtskollegInnen zu Beginn seiner Amtszeit. Das Verhalten gegenüber den PutschistInnen in Honduras und der Ausbau der militärischen Präsenz der USA in Kolumbien erstickten die Hoffnungen auf gleichberechtigte Beziehungen jedoch im Keim.

Das erste Zusammentreffen mit seinen lateinamerikanischen und karibischen AmtskollegInnen verlief vergleichsweise harmonisch. Auf dem Amerika-Gipfel im April 2009 in Trinidad und Tobago weckte US-Präsident Barack Obama große Hoffnungen auf dem Subkontinent. Bereits im Vorfeld hatte er bezüglich Geldsendungen und Telekommunikation eine leichte Lockerung der mittlerweile in fast ganz Lateinamerika abgelehnten Blockadepolitik gegenüber Kuba bekannt gegeben. Auf dem Gipfel selbst schlug Obama einen ungewohnten Ton an: „Wir haben uns manchmal abgekoppelt und manchmal wollten wir unsere Bedingungen diktieren“, kommentierte er den seit Formulierung der Monroe-Doktrin (1823) praktizierten Hegemonialanspruch der USA gegenüber Lateinamerika. Als künftige Leitlinie kündigte er eine Politik des „gegenseitigen Respekts und Zuhörens“ sowie eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ an.

Neues Selbstbewustsein in Lateinamerika

Noch auf dem vorherigen Amerika-Gipfel in Argentinien 2005 wurde der damalige US-Präsident George W. Bush mit zahlreichen Protestaktionen begrüßt und die US-amerikanische Vision einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) vorerst beerdigt. Das Scheitern von ALCA offenbarte, dass die USA in ihrem »Hinterhof« im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Einfluss verloren haben. Während Bushs Präsidentschaft wurden in den meisten lateinamerikanischen Ländern US-freundliche Eliten abgewählt. Zahlreiche politische Initiativen entstanden unter Ausschluss der USA. Venezuela und Kuba initiierten Ende 2004 einen solidarischen Staatenbund als Gegenentwurf zu ALCA, dem als Bolivarianische Allianz für die Amerikas (ALBA) heute unter anderem Bolivien, Nicaragua und Ecuador angehören. Auf Initiative Brasiliens hin wurde im Mai 2008 zudem die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) gegründet, der alle zwölf unabhängigen Länder Südamerikas angehören. Daneben wurden von Venezuela ausgehend Projekte wie der multistaatliche Fernsehsender »Telesur« und die »Bank des Südens« ins Leben gerufen.

Von den USA dominierte Finanzinstitutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Interamerikanische Entwicklungsbank büßten hingegen an Bedeutung ein. Gleiches gilt für die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in deren Rahmen der Unilateralismus der USA stets als Multilateralismus verkauft wurde, und die militärische Zusammenarbeit mit den USA unter Führung des US-Südkommandos (US-SOUTHCOM).

Das Scheitern von ALCA führte in der Folge zu einer Ausdifferenzierung der US-Lateinamerikapolitik nach Ländern und Regionen. Freihandelsabkommen werden heute bilateral, politische und militärische Bündnisse ad-hoc nach der jeweiligen politischen Konjunktur geschlossen. Grob schematisiert zielt die aktuelle US-Lateinamerikapolitik auf eine politische Isolierung Venezuelas, Boliviens und der übrigen ALBA-Staaten ab. Als Gegenpol sollen sozialdemokratisch regierte Länder wie Uruguay, vor allem aber die aufstrebende Regionalmacht Brasilien nach Möglichkeit in die eigene Politik eingebunden werden. Die neoliberalen Regierungen in Kolumbien, Peru, Panama, Mexiko und Chile genießen hingegen breiten US-amerikanischen Rückhalt bei weiteren Privatisierungen von Staatsunternehmen und Bodenschätzen, die in den Ländern selbst häufig zu gewalttätigen Konflikten führen. Besondere Beziehungen pflegen die USA zu Mexiko und den zentralamerikanischen Staaten, die durch Freihandelsabkommen und Migration eng mit dem Norden verbunden sind. In dem innerhalb Mexikos eskalierenden Krieg zwischen Regierung und verschiedenen Drogenkartellen unterstützt Obama wie sein Vorgänger Bush die massive Militarisierung innerhalb des Nachbarstaates. Doch für eine Kontinuität in der US-Lateinamerikapolitik sprechen am deutlichsten das Verhalten der US-Regierung gegenüber dem Putsch in Honduras und der Ausbau der US-Militärpräsenz in Kolumbien.

Der Putsch in Honduras als erster Test

Der Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya, den die rechten honduranischen Eliten am 28. Juni 2009 mit Hilfe des Militärs durchführten, wurde zum ersten ernsthaften Test für Barack Obama in Lateinamerika. Die Eliten warfen Zelaya unter anderem vor, mittels einer Verfassunggebenden Versammlung eine weitere Amtszeit angestrebt und Honduras durch den Beitritt zu ALBA dem (diesmal chavistischen) »Kommunismus« ausgeliefert zu haben.

Die Haltung der USA gegenüber der international isolierten De-Facto-Regierung blieb dabei von Beginn an abwartend. Obama stellte sich zwar zunächst rhetorisch hinter Zelaya und verhängte geringe Sanktionen. Von einem Putsch sprach er aber offiziell nicht. Das Flugzeug, das Zelaya am 28. Juni nach Costa Rica brachte, hatte zudem einen Zwischenstopp auf der nördlich von der Hauptstadt Tegucigalpa liegenden US-Militärbasis Soto Cano eingelegt.

Letztlich unterstützten die USA mit Nachdruck die Konsolidierung der auf dem Putsch basierenden politischen Machtverhältnisse. US-Unterhändler Thomas Shannon sorgte Ende Oktober dafür, dass ein Abkommen zwischen Zelaya und der de-facto-Regierung zustande kam. Dabei ließ sich die Verhandlungsdelegation von Zelaya offensichtlich über den Tisch ziehen: Dessen Rückkehr ins Präsidentenamt wurde in dem Abkommen nicht verpflichtend festgelegt, sondern dem Parlament überlassen. Anfang Dezember sprach es sich mehrheitlich dagegen aus.

Am 27. November ließ die Putschregierung zudem die bereits vor dem Putsch für diesen Tag geplanten Wahlen durchführen. Obwohl diese in einem Klima der Repression gegen die Widerstandsbewegung sowie unter Einschränkung der Pressefreiheit stattfanden, erkannten die USA neben US-freundlichen Ländern wie Costa Rica, Panama, Peru und Kolumbien Wahlsieger Pepe Lobo von der Nationalen Partei umgehend an.

Am Beispiel Honduras zeigt sich die Umsetzung der von Hillary Clinton bereits vor Obamas Amtsantritt beschworenen Strategie der »smart power« (»intelligente Macht«). Diese stellt eine Mischung aus Elementen der »hard power« (»harte Macht«) und »soft power« (»weicher Macht«) dar. Während »harte Macht« die Durchsetzung politischer Ziele durch militärischen Druck bedeutet, beschränkt sich »weiche Macht« darauf, die Gefolgschaft anderer Staaten mit sanfteren Mitteln wie Diplomatie oder kulturellen Einflüssen herzustellen. »Intelligente Macht« hingegen kann von Fall zu Fall unterschiedlich eingesetzt werden und ist aufgrund der großen Bandbreite möglicher Instrumente schwerer zu durchschauen.

Viele soziale Bewegungen in Lateinamerika und die Regierungen der ALBA-Staaten sehen in dem Putsch in Honduras einen Angriff auf ALBA selbst und die demokratischen Transformationsprozesse in der Region. Ähnliche Bestrebungen mit teils massiver Einflussnahme seitens der US-Regierung unter George W. Bush waren 2002 beim kurzzeitigen Putsch in Venezuela und 2008 bei den sezessionistischen Unruhen im oppositionell dominierten Tiefland in Bolivien gescheitert. Die venezolanische Regierung selbst geht fest davon aus, dass ihr Einfluss in Zukunft auch mit militärischen Mitteln eingedämmt werden soll und der enge US-Verbündete Kolumbien dafür als Brückenkopf herhalten muss.

Kolumbien als Brückenkopf der USA

Am 30. Oktober 2009 unterzeichneten die USA und Kolumbien ein »Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen«, das den US-Streitkräften für die kommenden zehn Jahre die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärstützpunkten ermöglicht. Bereits seit dem Jahr 2000 unterstützten die USA Kolumbien im Rahmen des »Plan Colombia« mit bisher etwa sechs Milliarden US-Dollar. Die Unterstützung wurde mit dem »Krieg gegen die Drogen« begründet, diente aber von Anfang an auch der Bekämpfung der kolumbianischen Guerillagruppen und ziviler linker Strukturen. Das neue Militärabkommen soll laut Obama ausschließlich auf den innerkolumbianischen »Krieg gegen Drogen und Terrorismus« beschränkt sein. Die Nachbarländer Kolumbiens trauen diesen Aussagen allerdings spätestens seit dem gezielten Raketenangriff, den die kolumbianischen Streitkräfte mit Hilfe der USA im März 2007 auf ein Versteck der FARC-Guerilla in Ecuador verübten, kaum.

Fast alle südamerikanischen Staatschefs meldeten auf dem UNASUR-Gipfel Ende August letzten Jahres offen Bedenken hinsichtlich des Militärabkommens an, ohne dass sich die USA und Kolumbien davon abbringen ließen. Die Befürchtungen, dass von den Basen eine Bedrohung für die Region ausgehen könnte, sind dabei keineswegs aus der Luft gegriffen. Als die US-Luftwaffe im Mai 2009 beim US-Kongress 46 Millionen US-Dollar zum Ausbau der kolumbianischen Luftwaffenbasis Palanquero beantragte, hieß es zur Begründung, Palanquero sei „eine einmalige Gelegenheit, umfassende Operationen in einer kritischen Teilregion unserer Hemisphäre durchzuführen, in der Sicherheit und Stabilität ständig durch Rauschgift-finanzierte Aufstände, Anti-US-Regierungen, vorherrschende Armut und wiederkehrende Naturkatastrophen bedroht sind.“

Am deutlichsten protestiert die venezolanische Regierung gegen die Nutzung der Basen. Insgesamt elf Stützpunkte werden die USA künftig in unmittelbarer Nähe des Erdöl-Staates betreiben oder nutzen, darunter zwei Luftstützpunkte auf den Niederländischen Antillen, die nur wenige Kilometer vor der venezolanischen Küste liegen. Zusätzliche Sorge bereitet Venezuela die bereits Mitte 2008 erfolgte Reaktivierung der vierten Flotte des US-Südkommandos. Diese kreuzt an der lateinamerikanischen Atlantikküste und war seit 1950 nicht mehr aktiv. Wie groß die Skepsis gegenüber US-amerikanischer Militärpräsenz in Lateinamerika ist, zeigte sich auch im Zuge des US-Engagements nach dem Erdbeben in Haiti Mitte Januar dieses Jahres. Die Regierungen Venezuelas, Boliviens und Nicaraguas befürchten, dass die Militarisierung der Insel in die Errichtung einer weiteren dauerhaften US-Basis münden könnte.

Die US-Regierung lässt kaum eine Möglichkeit aus, die ihrer Meinung nach »den Fortschritt bedrohende« Rolle Venezuelas und dessen Präsidenten Hugo Chávez in der Region zu kritisieren und bekommt dabei tatkräftige Unterstützung durch die kolumbianischen Verbündeten. Seit letztem Jahr verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Venezuela und Kolumbien rapide. Venezuela rüstet mit Hinweis auf die mögliche Bedrohung weiter auf und vergibt Milliardenaufträge nach Russland, weil die USA bereits seit 2005 keine Waffen mehr nach Venezuela verkaufen. Brasilien gab im vergangenen September sogar noch umfangreichere Waffendeals mit Frankreich bekannt. Hillary Clinton zeigte sich allerdings nur über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Dabei beliefen sich die Militärausgaben Venezuelas im Jahr 2008 auf vergleichsweise geringe 1,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), während sich der Wert in Brasilien auf 1,6 Prozent und in Kolumbien gar auf 5,6 Prozent des BIP belief.

Das State Departement und vor allem das Pentagon verfolgen gegenüber Lateinamerika eine Politik, die den von Obama zu Beginn seiner Amtszeit getroffenen Aussagen teilweise offen entgegen steht und das Konfliktpotenzial in der Region deutlich erhöht. Im Rahmen einer Strategie der »intelligenten Macht« stellt dies womöglich keinen Widerspruch dar. Für einen Neubeginn und eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« reicht ein rein rhetorischer Schwenk jedoch nicht aus.

Tobias Lambert ist Mitarbeiter der Zeitschrift »Lateinamerika-Nachrichten«.

zum Anfang | Die Klimapolitik der Obama-Regierung

von Jürgen Scheffran

Als US-Präsident Barack Obama am 10. Dezember 2009 in Oslo den Friedensnobelpreis in Empfang nahm, wurde seine Rede bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen auf einer Leinwand übertragen. Bald waren zahlreiche Konferenzteilnehmer, darunter internationale Medienvertreter, um das Spektakel versammelt. Nachdem Obama seine Rede beendet hatte, erhielt er mäßigen Applaus. Manchen schien entgangen zu sein, dass er den Friedensnobelpreis zum Anlass genommen hatte, aktuelle und zukünftige Kriege der USA in der Welt zu rechtfertigen.

Als Obama dann eine knappe Woche später am 18. Dezember in Kopenhagen auftrat, waren die Erwartungen groß. Die seit zwei Wochen andauernden Verhandlungen waren festgefahren. Der Konflikt zwischen dem Schutz des Weltklimas und den Interessen an einem anhaltenden Wirtschaftswachstum schienen unüberwindlich. Längst verlief die Trennungslinie nicht mehr nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Aufstrebende Länder wie China und Indien wollten sich ihre nachholende Entwicklung nicht von den reichen Indutrienationen beschneiden lassen, die selbst über Jahrzehnte hinweg ungehemmt die Atmosphäre als Deponie für ihre Treibhausgase benutzt hatten. Das Dilemma wurde besonders für die ärmsten Länder offenkundig: sie haben bislang am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen, werden jedoch am stärksten betroffen sein.

Dass Obama diesen gordischen Knoten auflösen könnte, sahen manche als letzten Hoffnungsschimmer, die Klimaverhandlungen noch zu retten. Sie wurden jedoch enttäuscht. Statt substanzieller Zugeständnisse, die die Fronten hätten in Bewegung bringen können, hatte der Repräsentant des historisch größten Umweltverschmutzers lediglich weitere Rhetorik im Gepäck. Daher konnte der Versuch, die Staats- und Regierungschef der Welt zu einem Deal in letzter Minute zu bewegen, nicht erfolgreich sein. Obamas Strategie, eine Vereinbarung der USA mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien und Südafrika zu erzielen, schloss die Europäer ebenso aus wie die ärmeren Entwicklungsländer, also die Staatengruppen, die am stärksten auf konkrete Verpflichtungen gedrängt hatten. Dementsprechend blieb der weniger als vier Seiten umfassende »Copenhagen Accord« ein Minimalkompromiss der Staaten, die konkrete Klimaschutzmaßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen. Die politische Erklärung sieht vor, die Erderwärmung auf zwei Grad bis Ende des Jahrhunderts begrenzen zu wollen (was für die USA immerhin ein Novum bedeutet), sowie finanzielle Zusagen der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern. Die von vielen geforderten und erwarteten konkreten Reduktionsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen konnten nicht erreicht werden. Zudem blieb die Vereinbarung unverbindlich, da eine Zustimmung anderer Staaten, die bei der Aushandlung nicht beteiligt waren, nach einer teilweise chaotischen Nachtsitzung nicht mehr möglich war. Damit war nach Ansicht der meisten Kommentatoren der Klimagipfel von Kopenhagen gescheitert.

Der amerikanische Präsident, der vor dem Ende der Konferenz bereits abgereist war, bezeichnete das Ergebnis jedoch als „bedeutsamen und beispiellosen Durchbruch“, als ersten Schritt auf dem Weg zu einem rechtlich bindenden Abkommen. Besonders auf die heimische Öffentlichkeit zielte die Aussage, er habe China wichtige Zugeständnisse bei der Überprüfung zukünftiger Emissionsverpflichtungen abgerungen. In Teilen der US-Medien wurde der Eindruck erweckt, erst durch den persönlichen Einsatz des Politstars aus Washington sei es möglich geworden, einer zerstrittenen Weltgemeinschaft den Weg zu weisen. Mit dem Ergebnis zufrieden war, neben China, auch Saudi Arabien, dessen Delegierter sich bemüht hatte, den von einem Meeresspiegelanstieg am stärksten betroffenen kleinen Inselstaaten entgegen zu halten, die Vermeidung von CO2-Emissionen würde für sein Land ein großes Opfer bedeuten.

Nach dem Debakel von Kopenhagen begannen die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dabei wurde von westlichen Politikern und Medien vor allem der seit kurzem größte Emittent China als Hauptverantwortlicher ausgemacht, ungeachtet der Tatsache, dass hier die CO2-Emissionen pro-Kopf ein Vielfaches unter denen der USA liegen (und auch deutlich unter denen Europas). Nicht-Regierungs-Organisationen gingen auch mit der US-Regierung hart ins Gericht, wobei einige US-NGOs aber angesichts der Widerstände im eigenen Land immer noch Verständnis für Obama hatten.

Als frischgebackener Präsident hatte Barack Obama noch große Versprechungen für den Klimaschutz gemacht: „Meine Präsidentschaft wird ein neues Kapitel in der Führerschaft Amerikas zum Klimawandel markieren, das unsere Sicherheit stärkt und in diesem Prozess Millionen neuer Jobs schafft. … Jetzt ist die Zeit, dieser Herausforderung ein für alle Mal zu begegnen. … Aufschub ist keine Option mehr. Leugnung ist nicht länger eine akzeptable Antwort.“ 1 Konkret stellte er in Aussicht, die CO2-Emissionen der USA bis 2050 um 80% zu reduzieren und 150 Milliarden US-Dollar in Technologien zur Energieeinsparung zu investieren.

Wie das erfolgen könnte, haben verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen aufgezeigt. Gerade weil der »American Way of Life« auf einem verschwenderischen Umgang mit natürlichen Ressourcen gründet, gibt es hier große Veränderungs- und Einsparpotenziale, die Spielräume für Politik schaffen. Von dem 80% Reduktionsziel wäre der allergrößte Teil durch technische Effizienzverbesserungen und Einsparungen in Transport, Energieerzeugung und in der Elektrizitätsversorgung zu erreichen, wobei die sogenannten »niedrig hängenden Früchte« wirksamer Maßnahmen besonders kostengünstig zu erreichen wären. Der Rest könnte durch die Umstellung des fossilen Energiesystems auf erneuerbare Energien erreicht werden sowie eventuell auch durch Maßnahmen der CO2-Lagerung, sofern diese kostengünstig und sicher zu realisieren sind. Die Voraussetzungen für ein Umdenken hatte u.a. der Schock durch den Hurricane Katrina im Jahr 2005 geschaffen, der die US-Gesellschaft aufgerüttelt hat. Aber auch der Klimafilm von Al Gore, der unbequeme Wahrheiten ans Licht gebracht hat, das Bewusstsein über die fatale Abhängigkeit vom Erdöl sowie zahllose Aktivitäten in Kommunen, Unternehmen und Bundesstaaten haben Veränderungen bewirkt.

Nach der Wirtschaftkrise von 2008 ist jedoch ein gegenläufiger Trend erkennbar. Eine treibende Kraft bleibt dabei die Lobby aus US-Erdölkonzernen, Kohleindustrie und andere Industriezweigen, die von dem alten ressourcenintensiven System profitieren und lieber auf nachsorgende Konzepte wie »saubere Kohle« (clean coal), Kernenergie und Manipulation des Klimasystems durch Geoengineering setzen. In jüngsten Umfragen hat der Klimaschutz in der US-Bevölkerung unter der Obama-Administration an Priorität verloren. Nur noch knapp die Hälfte aller US-Bürger glaubt an den Klimawandel und dass dieser von Menschenhand verursacht wird – rund 20% weniger als zwei Jahre zuvor.2 Dies überrascht nur bedingt in einem Land, in dem große Teile der Bevölkerung die Evolutionstheorie in Zweifel ziehen und eine Antihaltung zur Wissenschaft zum guten Ton unter Konservativen gehört. Die Enthüllung der E-Mails von britischen Klimaforschern war Wasser auf die Mühlen der Klimaskeptiker, wobei die Substanz dieser E-Mails weniger eine Rolle spielte als vielmehr ihre Nutzbarmachung in einer ideologisch zugespitzten Debatte. Dies wird daran erkennbar, dass republikanische Kongressabgeordnete ankündigten, nach Kopenhagen zu reisen, um dem »wissenschaftlichen Faschismus« entgegen zu treten.3

Angesichts anhaltender Widerstände ist die Realität in der Energie- und Klimapolitik der USA deutlich hinter den Wahlkampfversprechungen Obamas zurückgeblieben. Bedeutsam ist die Erklärung der Umweltschutzbehörde EPA (Environmental Protection Agency), Treibhausgase seien eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt, was es erlaubt, bestehende Gesetze anzuwenden. Bislang wurden einige staatliche Programme zum Umbau des Energiesystems aufgelegt, teilweise aus Extramitteln zur Belebung von Wirtschaft und Infrastruktur (»Stimulus Package«). Die EPA setzt in starkem Maße auf die Unterstützung freiwilliger Maßnahmen der Unternehmen, die im Umbau des Energiesystems einen Wachstumsmarkt der Zukunft erkennen. Hierzu gehören etwa die Programme »Climate Leaders«, »Energy Star« und »Clean Energy-Environment State Partnership«, mit der Energieeffizienz und -einsparung und saubere Energieerzeugung gefördert werden sollen. »WasteWise« ist ein freiwilliges Programm zur Reduzierung und Nutzung von Haushaltsabfällen, um klimaschädliche Methanemissionen aus Abfalldeponien zu vermeiden.

Unter den Gesetzes-Initiativen ist besonders das von den demokratischen Abgeordneten Henry A. Waxman (Kalifornien) und Edward J. Markey (Massachusetts) im Repräsentantenhaus vorgelegte »American Clean Energy and Security Act« (ACES, H.R. 2454) zu nennen, das am 26. Juni 2009 mit 219 gegen 212 Stimmen angenommen wurde. Damit hat erstmals eines der beiden Häuser im US-Kongress der Begrenzung von klimaschädlichen Treibhausgasen zugestimmt und einen rechtlichen Rahmen für die Schaffung eines Emissionshandelssystems vorgelegt. Um rechtlich verbindlich zu werden, bedarf der Entwurf jedoch der Zustimmung im US-Senat. Der von den Senatoren John Kerry (Massachussetts) und Barbara Boxer (Kalifornien) vorgelegte »Clean Energy Jobs and American Power Act« (Senate 1733) sieht die Verteilung von Emissionsrechten auf energieintensive Industriezweige vor, die ab 2012 gehandelt werden können, mit dem Ziel, die Treibhausgas-Emissionen im Zeitraum 2005 bis 2020 um 20% zu reduzieren (und nicht, wie im Kyoto-Protokoll vorgesehen im Zeitraum 1990 bis 2012). Die Kosten seien nach Schätzung der EPA moderat: Pro Haushalt werden zusätzliche Kosten von 80-111 US-Dollar pro Jahr erwartet, also rund 30 Cent pro Tag. Die Demokraten beabsichtigen, dieses Klimagesetz im Frühjahr 2010 im US-Senat durchzubringen, was angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse zu einem Kraftakt werden dürfte.

Während diese und andere Gesetzes-Initiativen in die richtige Richtung weisen, ist eine umfassende und integrierte Strategie, die die langfristig erforderlichen Klimaziele angehen würde, nicht erkennbar. Als Grund wird angeführt, dies sei im US-Kongress angesichts des anhaltenden Fundamentalwiderstandes der republikanischen Partei nicht durchsetzbar, ungeachtet einiger Stimmen, die sich zum Fürsprecher für den Klimaschutz gemacht haben wie der republikanische Gouverneur Kaliforniens, Arnold Schwarzenegger. Dementsprechend hat Präsident Obama der Klimapolitik auf nationaler Ebene bislang keine hohe Priorität gegeben und auch international wenig Engagement gezeigt. Die moderaten nationalen Ziele, die deutlich hinter den für eine internationale Vereinbarung notwendigen Zielen bleiben, müssen erst noch durchgesetzt werden.

Nach Ansicht von Naomi Klein reicht es nicht, das bisherige Versagen der US-Klimapolitik allein durch die Widerstände im US-Kongress zu erklären, denn die Regierung hätte durchaus Steuerungsmöglichkeiten gehabt, die sie aber nicht genutzt hat.4 Zu den verpassten Gelegenheiten gehöre das »Stimulus Package«, mit dem Obama die Chance hatte, Milliardensummen für den Ausbau des öffentlichen Transportsystems und die Schaffung intelligenter und dezentraler Elektrizitätsnetze auf Grundlage erneuerbarer Energien einzusetzen. Statt die Mittel für einen umfassenden Umbau des Energiesystems zu nutzen, machte er Zugeständnisse für Steuersenkungen, um die Unterstützung von Republikanern zu gewinnen, was diese jedoch eher als Schwäche auslegten und dazu nutzten, ihren Widerstand gegen Obama zu organisieren. Ebenso wenig nutzte er staatliche Hilfsprogramme für die danieder liegende Automobilindustrie, um diese zur Herstellung emissionsärmerer Fahrzeuge und Technologien zu veranlassen oder gar vom Auto weg zukommen. Und schließlich investierte die Regierung riesige Geldmittel in die Rettung von Banken, ohne dies etwa mit Auflagen zur Kreditvergabe für umweltfreundliche Unternehmen und Projekte zu verbinden.

Wenn der Staat die Wirtschaft retten muss, warum dann nicht auch zur Durchsetzung staatlicher Umweltziele? Wie Naomi Klein bemerkt, habe kein anderer US-Präsident seit Roosevelt so viele Gelegenheiten gehabt, „die USA in etwas zu transformieren, das die Stabilität des Lebens auf diesem Planeten nicht bedroht.“ Die Chancen für eine Transformation der Industriegesellschaft, für einen »Green New Deal«, seien verpasst worden.

Wäre Obama mit einer entsprechenden weitblickenden Agenda nach Kopenhagen gekommen, so hätte er die Führungsrolle für eine internationale Zusammenarbeit übernehmen können, die er in seinen Reden so gerne beansprucht. Ohne ein gemeinsames Vorgehen der Weltgemeinschaft besteht die Gefahr, dass sich die mit dem Klimawandel verbundenen Probleme und Risiken bestehende Konfliktlinien verschärfen und letztlich zu einem „Kampf aller gegen alle“ (Elinor Ostrom) führen.5 Obama selbst hatte in seiner Nobelpreisrede darauf hingewiesen: „Aus diesem Grund muss die Welt zusammen gegen den Klimawandel vorgehen. Es gibt wenig wissenschaftliche Zweifel daran, dass wir, wenn wir nichts tun, mehr Dürren, mehr Hunger, mehr Massenvertreibungen sehen werden – alles Entwicklungen, die noch jahrzehntelang weitere Konflikte verursachen werden. Aus diesem Grund fordern nicht nur Wissenschaftler und Umweltaktivisten schnelle und umfassende Maßnahmen – sondern auch militärische Befehlshaber in meinem Land und in anderen, die wissen, dass unsere gemeinsame Sicherheit auf dem Spiel steht.“ 6

Hier zeigt sich die Ambivalenz der Debatte über die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels. Wenn das Kind (in diesem Falle die Welt) erst einmal in den Brunnen der Klimakatastrophe gefallen ist, dann könnte Politik zum Katastrophen- und Konfliktmanagement werden. Schon jetzt wird in den USA das Klimaproblem von Think Tanks und Politikern (wie jüngst von Joe Lieberman) als zukünftige Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen. Das dürfte nicht die Lösung des Klimaproblems sein, die Obama im Wahlkampf versprochen hat.

Anmerkungen

1) John Broder: Obama Affirms Climate Change Goals, New York Times vom 18. November 2008.

2) Obamas Problem: Klima ist für US-Bürger Nebensache, 07.12.2009, www.klimaktiv.de/article253_9266.html

3) Republikaner marschieren nach Kopenhagen gegen Obama, ZEIT Online vom 9. Dezember 2009.

4) Naomi Klein, For Obama, No Opportunity Too Big To Blow, http://www.commondreams.org/print/50882.

5) Interview mit Elinor Ostrom, SPIEGEL Online vom 17.12.2009, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,667497,00.html

6) Für eine deutsche Übersetzung siehe: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/obama.html

Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Physiker, lehrt am Klima-Campus und Institut für Geographie der Universität Hamburg. Er ist Mitglied des W&F Redaktionsteams.

„Der Aufstand gegen das Unerträgliche“

Robert Jungk zum Widerstand gegen Atomrüstung, Krieg und Gewalt und für eine humane Zukunft

„Der Aufstand gegen das Unerträgliche“

von Hans Holzinger und Robert Jungk

In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa und der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen

Hans Holzinger: Vorwort

„Wer lange lebt, hat oft genug erfahren, daß sich zwar nicht alles, aber doch vieles mit der Zeit zum Besseren wenden kann. Das eigene Ende ist unvermeidlich, aber von jedem kreativen, aktiven Menschen geht ein Anstoß aus, der auf unvorhersehbare Weise in die Zukunft weitergeleitet wird.“ Mit diesen Sätzen beendet Robert Jungk seine Autobiographie »Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft« (Hanser 1993). Sie lassen vielleicht erahnen, woraus der Ermutiger die Kraft für sein lebenslanges Engagement geschöpft hat.

Zu warnen vor dem blinden »Fortschritts«-Glauben des naturwissenschaftlich – technischen Zeitalters, das im Irrsinn des nuklearen Wettrüstens wohl seine (bislang) gefährlichste Zuspitzung erfahren hat; zu bekräftigen, daß Friede und Abrüstung »von unten«, von den vielen Menschen, die sich einmischen und wehren, erreicht werden müssen; sowie drittens die feste Überzeugung, daß das »Nein« immer auch ein »Ja« brauche, also die Suche nach einer humanen, von den Menschen selbst gestalteten und bestimmten Gesellschaft – so lassen sich die drei großen Ziele in Robert Jungks Wirken festmachen.

Es war schwierig und faszinierend zugleich, aus dem umfangreichen Werk, das Jungk uns hinterlassen hat, Textpassagen auszuwählen, die Aufschluß geben über sein Friedens-, Politik- und Zukunftsverständnis und seine Biographie als Autor, Wissenschaftskritiker und Mitstreiter der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung widerspiegeln. Ich hoffe, daß der vorliegende Band seinem Ziel gerecht und seine Leserinnen und Leser finden wird. Die ausgewählten Texte bleiben notgedrungen fragmentarisch. Sie sollen nicht zuletzt jene, die Jungks Bücher noch nicht kennen, auf diese neugierig machen, und jene, die sie kennen, zum erneuten Lesen anregen. Es lohnt sich allemal.

»Der Aufstand gegen das Unerträgliche« – so lautet der Untertitel jenes Buches »Menschenbeben«, in dem Robert Jungk die weltweite Friedensbewegung der 80er Jahre gegen den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens als Beteiligter und engagierter Beobachter sehr eindrucksvoll beschrieben hat. Er sei dieser Textsammlung als Motto vorangestellt.

Zu danken bleibt dem »Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa« für die Idee zu diesem Projekt und den aufgebrachten Mitteln zu seiner Realisierung.

Hans Holzinger, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen
Salzburg, September 1995

Einleitung

Wir wollen Robert Jungk nicht vergessen. Als uns im letzten Jahr die Nachricht von seinem Tode erreichte, beschlossen wir im Arbeitskreis, durch eine Auswahl aus seinen wichtigsten friedenspolitischen Texten für unsere Mitglieder und die Leserinnen und Leser von W&F sein Andenken lebendig zu erhalten.

Und dies ist mehr als eine bloße Totenehrung. Lest, und ihr werdet seine vielfältig gegenwärtige Bedeutung erkennen. Auch dort, wo wir uns mit Jungk rückbesinnen auf die Anfänge der ungeheuerlichen atomaren Gefahr, hilft es uns, das Ausmaß und die Etappen des Kampfes uns wieder voll zu vergegenwärtigen – jenes Kampfes, denen auch unser Arbeitskreis seinen Namen und sein Wirken verdankt – jenes Kampfes, der durch die größenwahnsinnigen Atomtests des Herrn Chirac gerade in unseren Tagen sich leider wieder als noch völlig aktuell erweist.

Robert Jungk bleibt ein großes Vorbild der Friedensbewegung. Warum? Weil er in schlechthin vorbildlicher Weise die Arbeit des Forschers und des Publizisten mit dem unmittelbaren persönlichen Einsatz des Friedensbewegten verband. Wir haben auch in der Friedensbewegung nämlich viele, die nur lesen, reden und schreiben oder nur an Aktionen interessiert sind. Aber gerade heute, wo die Sachverhalte und die Lösungen komplizierter werden (siehe Jugoslawien!), wo Friedensarbeit mehr denn je mühsame Kleinarbeit ist und selbst Demos meist keine »Massendemonstrationen« mehr sind, ist von uns allen intellektuelle UND Aktionsarbeit gefordert – von jedem/r nach ihren/seinen Kräften.

Und deshalb bleibt Robert Jungk unser großes Vorbild. Er war immer mit dabei, ist immer und immer wieder an der Spitze unserer Demonstrationen mitgegangen, hat uns »einfachen« Bürgerinnen und Bürgern Mut gemacht durch sein Dabeisein, seine mutmachenden Reden, bei denen er kein Blatt vor den Mund nahm, sondern die Herrschaftsverhältnisse, die Rüstungsinteressen, die ideologischen Verharmlosungen des atomaren Abschreckungsdenkens beim Namen nannte.

Dabei war seine größte Leistung, die ihn von den meisten nur-kritischen Linken unterschied, daß er immer auch Wege nach vorn, Auswege, Fortschritte, positive Alternativen und Ansätze aufzeigte. Tief philosophisch verankert war sein Wissen: das bloße Aufzeigen der Misere, der destruktiven Mächte stumpft zuletzt ab, treibt in die Resignation; nur wenn wir auch den Blick und unsere Aktivität auf Ansätze einer humaneren Ordnung richten, bleiben wir wirksam, überzeugen auch andere. Daher erfand er die Methode der »Zukunftswerkstätten«, in denen Menschen sich systematisch bemühen, von der Kritik des Bestehenden zum Entwurf und Inangriffnehmen positiver Alternativen zu gelangen. (Und schon in seiner Emigrationszeit, in den USA, gründete er eine Zeitung, die »good news« verbreitete und damit dem fatalen Trend der Profitpresse entgegenzuwirken suchte, die von der Attraktivität der Horrormeldungen lebt und daher nach dem Prinzip handelt: »bad news are good news and good news are bad news!«)

Heute hätte er mit Emphase auf den weltweiten – nie zuvor so verbreiteten – Widerstand gegen die französischen Atomtests verwiesen und uns zugerufen: Seht den Pyrrussieg Chiracs – er ist in Wahrheit eine große internationale Niederlage Frankreichs!

Fritz Vilmar, Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa

Die Zukunft hat schon begonnen (1952)

Das reiche publizistische Schaffen und politische Wirken von Robert Jungk ist bestimmt vom »Anschreiben« gegen die nukleare Bedrohung sowie gegen die unbedachten Risiken des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts generell. Wenn Günther Anders als »der Philosoph des Atomzeitalters« zu bezeichnen ist, so war Jungk dessen engagiertester und kritischster Berichterstatter. Die Warnungen vor dem nuklearen Wettrüsten leiten auch Jungks Welterfolg als Autor ein. 1952 erscheint das erste Buch »Die Zukunft hat schon begonnen«. Diese Berichte aus amerikanischen Rüstungslaboratorien, über geheime Atomanlagen und Atombombentests erregen Aufsehen weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Doch nicht nur der »Griff nach dem Atom«, sondern auch jener nach der Natur, dem Menschen und dem Weltraum ist Gegenstand dieser Abhandlungen, die vor den Gefahren blinder Technikgläubigkeit warnen, und die der Autor insbesondere im »Nachkriegsamerika« ausmacht.

So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder »verbesserte« Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid.

Sogar die alten dunklen Mythen vom verschleierten Bild, dessen Vorhang niemand heben darf, von Geistern, Dämonen und verwunschenen Regionen, ja von der Hölle selbst, kommen in dieser scheinbar so genau ausgerechneten, rational entstandenen Welt zu neuer Geltung. Denn der Durchschnittsmensch bewegt sich in der zweiten, künstlich aus der Retorte gewonnenen Natur genauso unsicher wie seine prähistorischen Vorfahren in der primären Natur, weil nur die Spezialisten – und oft nicht einmal sie – die Wesen und Kräfte begreifen, die sie in die Welt gesetzt haben.

Diese »neueste Welt« ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. So ist es, wie alle historische Erfahrung zeigt, immer gewesen. Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.

In dieser zukunftsbezogenen »neuesten Welt« haben die Grenzen von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis keine Gültigkeit mehr. Die Tat des ersten biblischen Schöpfungstages wird von den späten Nachkommen des Prometheus annulliert. Damit der moderne Produktionsprozeß keine Unterbrechung erleide, brennen in den Fabriken von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die künstlichen »Sonnen« der elektrischen Scheinwerfer. In fast allen großen Städten Amerikas gibt es Markthallen und Drugstores, die verkünden: WIR SCHLIESSEN NIE! Es ist nur noch ein kurzer Schritt zu dem Augenblick, da der bereits in einem kalifornischen Laboratorium entwickelte künstliche »Nordlichteffekt« dem Himmel für immer sein Nachtgewand herunterreißt.

Und so geht es mit jedem einzelnen im heiligen Buche beschriebenen Schöpfungsakt. Der Mensch schafft künstliche Materie, er baut eigene Himmelskörper und bemüht sich dann, sie am Firmament über uns aufgehen zu lassen, er kreiert neue Pflanzen- und Tierarten, er setzt eigene, mit übermenschlichen Sinnesorganen ausgestattete mechanische Wesen, die Roboter, in die Welt.

Nur eines kann er nicht. Es ist ihm nicht gegeben, mit den Worten der Bibel auszurufen: „Und siehe da, es war sehr gut.“ Er darf niemals die Hände in den Schoß legen und sagen, daß seine Schöpfung vollendet sei. Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bleiben mit ihm. „Denn hinter jeder Tür, die wir öffnen, liegt ein Gang mit vielen anderen Türen, die wir abermals aufschließen müssen, nur um dort dann wieder hinter jedem einzelnen Zugang weitere Pforten zu abermals neuen Toren zu finden“, sagte ein chemischer Forscher zu mir, einer der gottgleichen Schöpfer des künstlichen Universums. (…)

Es scheint, als sei hinfort der Sinn all dieses Schaffens nur wieder neues Schaffen. Produktion ruft nach immer mehr Produktion, jede Erfindung nach weiteren Erfindungen, die vor den Folgen der vorhergehenden Neuschöpfung schützen sollen. Der Mensch kommt nicht mehr zum Genuß der Welt. Er verzehrt sich in Angst und Sorge um sie. Kein Glücksgefühl und kein »Hosianna« begleiten den neuen Schöpfungsakt.

Diese Unzufriedenheit mit der menschengeschaffenen »neuesten Welt«, die heute in den Vereinigten Staaten oft schon so deutlich empfunden wird, daß sie zu einem Schwelgen in Furcht- und Untergangsphantasien ausartet, scheint mir eines der hoffnungsvollsten Zeichen für die Zukunft Amerikas. Zivilisationspessimismus ist nicht mehr nur die modische Pose eines kleinen Kreises von Künstlern und Intellektuellen, sondern der weitverbreitete Ausdruck tiefer Besorgnis und überall erwachender Kritik geworden.

Noch lebt allerdings dieser Zweifel meist in der gleichen Brust dicht neben dem alten maßlosen Geist eines übermütigen, vieles wagenden und alles erhoffenden Tätertums. Aber je lauter die Glückspropaganda wird, je provokanter das Lächeln der Zufriedenheit und der betonte Stolz auf den »höchsten Lebensstandard der Welt«, desto quälender werden auch die Bedenken.

Es gibt viele, die sich einfach ins Amüsement, in die Sexualität, den Alkohol oder die Neurose flüchten, um mit dem Unbehagen fertig zu werden, die sogenannten »escapists«. Es gibt andere, die resignieren, und einige wenige, die bewußt gegen die Entwicklung zu einem totalitären, inhumanen, technisierten Massenleben ankämpfen. Bestrebungen zur Vermenschlichung der Arbeit, zur Anpassung der Maschinen an die menschliche Psyche, zur Dezentralisierung und Humanisierung der großen Städte sind im Gang.

Aber all das hat vorläufig noch einen spielerischen oder sektiererischen Zug. Die große Geistesänderung, die sich durch Wiederanerkennung menschlicher Begrenzung und das Wiederfinden des Maßes ausdrücken müßte, ist bisher ausgeblieben. Da hilft kein messianisches Predigen, keine Ungeduld. Diese Wandlung kann wohl nur aus bitterster Erfahrung kommen. Erst wenn der krampfhafte Griff nach der Allmacht sich einmal löst, wenn die Hybris zusammenbricht und der Bescheidenheit Platz macht, dann wird Amerika von dem wiederentdeckt werden, den es vertrieben hat: Von Gott.

Aus: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Hier zit. n. Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 24-27.

Abdankung der Kultur (1955)

In seiner Kritik am naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben war Robert Jungk wesentlich vom Denken Albert Schweitzers beeinflußt, über den er 1955 – was nur wenige wissen – eine Biographie verfaßte. Aufgrund der vertraglichen Bindung an den Verlag des ersten Bucherfolges »Die Zukunft hat schon begonnen« mußte diese unter Pseudonym – Jungk wählte den Namen Jean Pierhal – erscheinen. Im Vorwort, das er unter seinem richtigen Namen verfassen durfte, hebt Jungk Schweitzers Kritik am „Versagen der Philosophie“ und der „Abdankung der Kultur“ im naturwissenschaftlichen Zeitalter hervor, eine Kritik, die das Weltbild des Schweitzer-Biographen wohl nachhaltig geprägt hat.

(…) Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so stellt Schweitzer fest, habe die Abdankung der Kultur gegenüber der Wirklichkeit begonnen. Kampflos und lautlos habe sich dieses schicksalsschwere Ereignis vollzogen, und die meisten Zeitgenossen hätten es nicht einmal bemerkt. „Wie ging dies zu?“ fragt Schweitzer. Seine Anklage lautet klipp und klar: „Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.“

Nie hätte ich gedacht, daß der freundliche Professor mit dem etwas wirren vollen Haar und dem spitzbübischen Augenzwinkern eine so scharfe Klinge schlagen könnte. Schon um die Jahrhundertwende hatte er dem gedankenlosen Optimismus seiner Zeitgenossen nicht getraut, sondern tief beunruhigt die klaren Vorzeichen kommenden Unheils bemerkt. Der Erste Weltkrieg überraschte ihn darum nicht, sondern schien ihm nur die nun jedermann sichtbare Folge des fortschreitenden Kulturverfalls zu sein. Unmittelbar nach dem Kriege kündigte Schweitzer warnend eine zweite Katastrophe an. Die Selbstvernichtung der Kultur gehe weiter, erklärte er. Das, was von ihr noch stehe, sei nicht mehr sicher, ein neuer Erdrutsch könne es mitnehmen.

Und über drei Jahrzehnte später, als auch die zweite schmerzliche Prophezeiung sich erfüllt hat, stößt Albert Schweitzer dann zum dritten Male seine Warnung aus. Er steht, nun fast achtzig Jahre alt, schon sehr müde, aber doch immer noch aufrechterhalten vom Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen, in der Aula der Universität Oslo und ruft aus:

„Wagen wir es, der Situation ins Gesicht zu sehen! Der Mensch ist zum Übermenschen geworden. Er ist nicht nur deshalb ein Übermensch, weil er über angeborene physische Kräfte verfügt, sondern weil er darüber hinaus, dank der Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, die in der Natur schlummernden Kräfte beherrscht und zu nutzen versteht … Aber der Übermensch … hat sich nicht auf das Niveau übermenschlicher Vernunft erhoben, die dem Besitz übermenschlicher Kraft entsprechen sollte … Der Übermensch wird, im gleichen Maße wie seine Macht sich vergrößert, mehr und mehr ein armer, armer Mensch. Um sich nicht der Zerstörung, die von oben auf ihn herunterprasselt, völlig auszusetzen, muß er sich unter die Erde eingraben wie die Tiere des Feldes … Die wesentliche Tatsache, die unser Gewissen aufrütteln muß und der wir schon seit langer Zeit eingedenk sein sollten, ist, daß wir um so unmenschlicher werden, je mehr wir zu Übermenschen emporwachsen.“

Die Größe Albert Schweitzers zeigt sich nun darin, daß es ihm nicht genügte, seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besorgt zu beobachten und zu diagnostizieren, sondern auch intensiv über Mittel zu ihrer Heilung nachzudenken. Woran lag es denn, daß die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ihre führende kulturgründende Stellung eingebüßt hatte? Wie hatte es kommen können, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Riesenkind Technik unmenschlich wurden? Schweitzer glaubte die Ursache des Leidens in einer wichtigen Mangelerscheinung gefunden zu haben: dem Fehlen ethischer Ideen, ohne die keine lebensbejahende, lebenserhaltende und lebensfördernde Kultur gedeihen könne. Aus der Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist – und um diese Erkenntnis haben sich bisher Philosophie wie Naturwissenschaften hauptsächlich bemüht – sei allerdings keine ethische Weltanschauung zu gewinnen. (…)

Aus: Vorwort zu: Albert Schweitzer. Biographie. Hier zit. n. Neuausgabe 1979, S.8f.

Heller als tausend Sonnen (1956)

Wohl als erster hat Robert Jungk die Geschichte der Atombombe und ihrer Träger beschrieben. Die aus intensiven Recherchen und zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Atomforschern zusammengetragenen, 1956 unter dem Titel »Heller als tausend Sonnen« erschienenen Reportagen mach(t)en deutlich, daß sich NaturwissenschaftlerInnen nicht länger auf ihre »Grundlagenforschung« berufen können, sondern Verantwortung zu tragen haben für die technischen, sozialen und politischen Folgen ihres Tuns. »Heller als tausend Sonnen« schildert detailreich den Werdegang der Atomforschung von den ersten Kernspaltungsversuchen über den Bau der ersten Atombombe bis hin zur Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe, zu der Präsident Truman 1950 den Startschuß gab.

Drei Widerstände waren es, die ich in fast allen diesen Unterhaltungen zu überwinden hatte. Erstens die Befürchtung des Befragten, durch seine Äußerungen einen oder mehrere seiner noch lebenden Kollegen zu verletzen. (…) Ein zweiter Einwand, den ich hörte, war der, daß ich als jemand, der selbst der »Familie der Atomphysiker« nicht angehörte, unmöglich ihre wahre Geschichte erfassen könnte. Das mochte am Anfang meiner Recherchen wirklich so sein. Je weiter ich aber in die Materie eindrang, desto klarer wurden mir die persönlichen und historischen Bezogenheiten dieser Menschen, ja es stellte sich heraus, daß ich schließlich mehr Übersicht über den Gesamtablauf dieses Schicksals einer besonders wichtigen und einflußreichen Gruppe besaß als die meisten einzelnen, die mir ihre Erlebnisse und Ansichten anvertrauten. Denn sie hatten ja – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nur den eigenen Abschnitt des Geschehens sehen können, während der Chronist aus seiner Kenntnis zahlloser Einzelheiten die Verknüpfung der Ergebnisse und ihre, den Handelnden selbst meist unbekannte, wechselseitige Einwirkung aufeinander übersah. Oft blieb es daher nicht nur bei einer Unterhaltung mit den Befragten. Ich mußte, geleitet durch die Angaben eines zweiten und dritten, wieder zu meinem ersten Unterredner zurück, um Klarheit über gewisse Punkte zu erhalten, die er selbst aus seiner mangelnden Kenntnis des Gesamtbildes für unwichtig gehalten und daher gar nicht erwähnt hatte.

Eine dritte Schwierigkeit, der ich begegnete, war die bei zahllosen Wissenschaftlern vorherrschende Einstellung, die private, die menschliche Geschichte der Wissenschaftler sei doch unwichtig. Was zähle, sei nur ihre objektive Leistung. Hier zeigte sich eine Haltung, die recht eigentlich viele der in diesem Buche beschriebenen Gewissensqualen und Tragödien heraufbeschworen hat. Der Wissenschaftler, der meint, daß er – oder seine Kollegen – nichts anderes sei als ein »Werkzeug der Erkenntnis«, dessen persönlicher Charakter, dessen Ambitionen, Hoffnungen und Zweifel »nichts bedeuteten«, denkt in Wahrheit unwissenschaftlich. Denn er ignoriert einen wichtigen, vielleicht den ausschlaggebenden Teil des wissenschaftlichen Experimentes, nämlich sich selbst, oder glaubt, ihn willkürlich ausschalten zu können. Nur durch diese künstliche, erzwungene und unnatürliche Loslösung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit von der Wirklichkeit des einzelnen Menschen konnten ja überhaupt Monstren wie die Atom- und Wasserstoffbomben entstehen. (…)

Viele Forscher denken heute nicht mehr so. Sie wissen, daß sie nicht nur »Gehirne«, sondern ganze Menschen mit ihren Schwächen, ihrer Größe und ihrer Verantwortung sind. Dieser großen Gewissenskrise in ihrer Entstehung, im Versuch ihrer Meisterung nachzuforschen und sie dann trotz vieler einander widersprechender Aussagen so wahrheitsgetreu wie möglich aufzuschreiben, das war mein Bemühen.

Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 20-22.

In einer Neuauflage dieses Buches in den 60er Jahren würdigt Jungk insbesondere auch jene, die sich nicht nur sehr bald von der militärischen Nutzung der Atomspaltung distanzierten, sondern vor deren Gefahren auch öffentlich warnten, etwa im Zusammenschluß der von Albert Einstein und Bertrand Russel gegründeten Pugwash-Bewegung.

Im Juli 1957 trafen also hier in diesem altertümlichen Nest an der Meeresenge von Northumberland zweiundzwanzig »Männer guten Willens aus Ost und West« ein, um unter sich, ohne zu starren Stundenplan und vor allem ohne Einsichtnahme der Öffentlichkeit, also ohne Furcht vor Beobachtung, alle möglichen Wege für eine Atomabrüstung zu debattieren. Ähnliche Konferenzen finden seither jährlich ein- bis zweimal statt. Es gab Treffen in Kanada, England, Österreich, aber auch in der Sowjetunion, in Jugoslawien und den USA. Allen war die verhältnismäßig kleine Anzahl von Eingeladenen und die bewußte Ausschaltung von Presseberichterstattern gemeinsam.

An den »Pugwash-Treffen« nahmen aber nicht nur Atomphysiker, sondern auch Biologen, Völkerrechtler, Militärwissenschaftler, Soziologen, Historiker teil. Auf diese Weise werden bei diesen Veranstaltungen nicht nur Brücken von der »offenen Welt des freien Westens« zu der »geschlossenen und dirigierten Welt des Ostens« geschlagen, sondern auch wichtige und fruchtbare Verbindungen zwischen hochspezialisierten Wissensgebieten. Ohne besondere Absicht dienen diese Veranstaltungen damit dem heute überall spürbar werdenden Zug zu einem neuen Universalismus, der den »Fachmann« nur noch als eine besonders überentwickelte Seite des »ganzen Menschen« gelten läßt.

Die Referate und ein Teil der Debatten werden jeweils in einem Band gesammelt, der jedoch nicht in Buchform veröffentlicht, sondern nur als vertrauliches Zirkular an die Regierungen der mit Atomfragen beschäftigten Länder gesandt wird. Dies mag manchen Leuten als ein etwas mageres Resultat erscheinen. Aber geistige Erleuchtung kann nun einmal nicht so geschwind »angeknipst« werden wie elektrisches Licht. Neue Gedanken, die der durch die Kernspaltung und ihre Konsequenzen geschaffenen »radikal veränderten Wirklichkeit« gerecht werden, können nur allmählich entstehen. Auch sie müssen erst sorgfältig auf dem Versuchsfeld der Diskussion »getestet« werden, auch sie haben erst durch eine lange Reihe von Experimenten zu gehen, ehe sich ihre Richtigkeit erweist.

Noch langsamer vielleicht bewegt sich der »Strom«, der in solchen geistigen Zentralen erzeugt wird, durch die »Drähte« der Mitteilung in Zeitung, Zeitschrift, Buch und Gespräch. Ganz allmählich und auf kaum wahrnehmbare Weise dringen Ideen überall ein, werden Allgemeingut, bestimmen die Handlungsweise derer, die an der Macht sind.

Man hat oft ein wenig mitleidig, ja geradezu spöttisch über die Bemühungen der Wissenschaftler gesprochen, die versuchten, den in ihren Laboratorien geborenen Dämon »Atomwaffe« wieder zu zähmen. Aber versuchen wir uns einmal vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die Atomwissenschaftler nach 1945 über die erschütternde Natur ihrer Erfindung geschwiegen hätten oder wenn sie gar auf diese ihre Leistung stolz gewesen wären. Dann hätte die Öffentlichkeit vielleicht den Untergang von Hiroshima fast ebenso schnell vergessen wie den Untergang von Coventry, Hamburg und Dresden. Das Publikum hätte nicht einmal geahnt, in welch neue Ära der unerhörten Gefahren es eingetreten war. Dies aber hätte bedeuten können, daß die Regierungen, ungehindert durch eine erschreckte und daher vorsichtig gewordene öffentliche Meinung, der Versuchung, gewisse »gordische Knoten« der Politik mit atomaren Schwertstreichen zu durchschlagen, nachgegeben hätten. Gewiß, die Atomforscher haben ihr Ziel einer wirklichen Kriegsächtung nicht erreicht. Aber sie haben doch durch ihre wiederholten Warnungen mehr als einmal fatale Ereignisse, die in einen neuen großen Krieg hineinzuführen scheinen, bremsen helfen.

Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 376f.

Strahlen aus der Asche (1958)

„Strahlen aus der Asche«, der 1958 erschienene, in viele Sprachen übersetzte Bericht Robert Jungks über die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wird zum mahnenden Zeugnis wider den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens. Über zahlreiche Gespräche mit Überlebenden, den »hibakusha«, rekonstruiert der Autor das von der US-Army lange Zeit beschönigte Ausmaß der Zerstörung und schildert insbesondere die Langzeitfolgen der radioaktiven Verstrahlung. Drei kurze Textausschnitte sollen Einblick geben in dieses wichtige, im Grunde – so ist aus der Autobiographie Jungks zu erfahren – als Beitrag gegen die Mitte der 50er Jahre einsetzenden Atomwaffenaspirationen Westdeutschlands und das »kollektive Wegschauen« der Bürger verfaßte Buch (Trotzdem, S. 305f.). Der ungeschminkten Beschreibung der »Katastrophe« folgen Reflexionen über die Bedeutung von »Hiroshima« für die Anti-Kriegsbewegung sowie für Jungks weiteres politisches Engagement.

(…) Fotoreporter Haruo Hioshyi von Hiroshimas bedeutendster Lokalzeitung »Chugoku Shimbun« ist damals mit seiner Kamera kreuz und quer durch die verwüstete Stadt gezogen, aber auf den Auslöser drückte er nur ganz selten. „Ich schämte mich, im Bilde festzuhalten, was meine Augen da sehen mußten“, hat er mir später erklärt.

Hätte er seine edle Scheu nur überwunden! Der Nachwelt wäre dann eine zutreffendere Vorstellung von der Wirkung der »neuen Waffe« vermittelt worden, als es jene vielverbreiteten Fotos vermögen, die das Hiroshima nach der Katastrophe fast immer als menschenleere Trümmerwüste zeigen. Denn es war kein schneller, kein totaler Tod, kein Massenherzschlag, kein plötzliches Ende mit Schrecken, dem diese Stadt verfiel. Solch gnadenvoll geschwindes Auslöschen, wie es selbst gemeinen Verbrechern zuteil wird, ist den Männern, Frauen und Kindern von Hiroshima nicht gewährt worden. Sie waren zu qualvoller Agonie, zu Verstümmelung, zu endlosem Siechtum verurteilt. Nein, Hiroshima war während der ersten Stunden und auch noch Tage »danach« kein stiller Friedhof, nicht stumme Anklage nur, wie es die irreführenden Ruinenbilder vermuten lassen, sondern eine Stätte hunderttausendfacher Bewegung, millionenfacher Marter, morgens, mittags, abends erfüllt von Geheul, Geschrei, Gewimmer und verstümmeltem Gewimmel. Alle, die noch laufen, gehen, humpeln oder auch nur kriechen konnten, suchten nach irgend etwas: nach ein paar Tropfen Wasser, nach etwas Nahrung, nach Medizin, nach einem Arzt, nach den jämmerlichen Resten ihrer Habe, nach einem Unterschlupf. Und nach den Unzähligen, die nun nicht mehr leiden mußten, nach den Toten. (…)

(…) Viele Bewohner von Hiroshima können jetzt von sich sagen, ihre »Taschen seien warm« vom frischverdienten Geld. Fast jeden Abend gehen die großen Flutlichtlampen über dem diamantförmigen neuen Baseballstadion strahlend auf, und dennoch sind die Tribünen bei Nachtspielen fast immer ausverkauft. Hiroshima ist mit seinen 51 Lichtspieltheatern die Stadt mit der zweitgrößten »Kinodichte« Japans.

Sollte man, so fragen sich einige der eifrigsten Förderer des »neuen Hiroshima«, nun nicht einmal einen Strich unter die Vergangenheit ziehen und versuchen, »jenen Tag« endlich ganz zu vergessen? Sie würden am liebsten sogar das Symbol des »Pikadon«, das kahle Gerüst der »Atomkuppel« (die bisher nicht unter Denkmalschutz steht) abreißen, damit der Anblick dieser Ruine die zukunftsfreudigen Neubürger Hiroshimas nicht länger auf traurige Gedanken bringe.

Doch eine solche »Zerstörung der Zerstörung« würde gerade in Hiroshima ihren beruhigenden Zweck nicht erreichen. Überall sonst auf der Welt können sie vielleicht so tun, als sei der letzte Krieg schon ein Stück Geschichte, und daher sogar die Möglichkeit eines neuen Krieges in ihre Kalküle einbeziehen. Aber hier in Hiroshima hat die Vergangenheit noch nicht aufgehört, hier bringt sie sich unaufhörlich, mit jedem Strahlenkranken, dessen Leiden nach jahrelanger Gnadenfrist neu aufflackert, wieder in Erinnerung.

Hiroshima mahnt zum Frieden, nicht etwa, weil es das Wort »Heiwa« (Frieden) wie ein Reklameetikett auf alles und jedes klebt, sondern weil es eine ganz schwache Ahnung davon gibt, wie diese unsere Erde nach einem Atomkrieg aussehen würde. Es bliebe vermutlich keine völlig ausgestorbene, menschenleere Wüste zurück, sondern ein einziges, riesiges Spital, eine Welt der Kranken und Versehrten. Noch Jahrzehnte, Jahrhunderte nach dem letzten Schuß müßten die Überlebenden an einem Streit zugrunde gehen, dessen Ursachen sie oder ihre Nachkommen dann vermutlich schon längst vergessen haben.

Nicht die monumentalen Repräsentationsbauten sind Hiroshimas Mahnmale, sondern die Überlebenden, in deren Haut, Blut und Keimzellen die Erinnerung an »jenen Tag« eingebrannt ist. Sie sind die ersten Opfer einer ganz neuen Art von Krieg, der niemals durch Waffenstillstands- oder Friedensverträge abgeschlossen werden kann, des »Krieges ohne Ende«, der, über seine Gegenwart hinausgreifend, auch die Zukunft in den Kreis der Zerstörung hineinzieht. (…)

(…) Der Autor muß bekennen, daß die Bemühung, die Nachkriegsgeschichte Hiroshimas kennenzulernen und aufzuschreiben, auch seinem eigenen Leben einen neuen Sinn gegeben hat. Als ich nach Hiroshima reiste, kam ich als Reporter, der die interessante Geschichte einer fremden Stadt aufschreiben wollte. Aber je länger ich mich mit dieser Story beschäftigte, um so klarer wurde mir, daß ich nicht außerhalb und über ihr stand, sondern ein Teil von ihr war.

Auch ich bin nämlich ein »Überlebender«, der, wenn es das Schicksal nicht zufällig anders gewollt hätte, in einem der Massenvernichtungslager des Dritten Reiches umgekommen wäre. Und nun suchte ich am anderen Ende der Welt, am Rande Ostasiens, Antwort auf eine Frage, die mir mein eigenes Leben gestellt hatte. Diese Frage heißt: „Was haben wir, die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, bisher getan, um unsere Rettung zu rechtfertigen?“ Ich hatte die Tatsache, verschont geblieben zu sein, jahrelang genauso gedankenlos hingenommen wie viele andere. Dann aber traf ich die Atomopfer von Hiroshima und erhielt durch sie eine Vorahnung des neuen Unheils, das auf uns zukommt. Seither weiß ich, daß wir, die Generation derer, die »noch einmal davongekommen sind«, unsere ganze Kraft darauf verwenden müssen, daß unsere Kinder nicht nur so zufällig überleben wie wir. Finde jeder seinen Weg, für die Bewahrung des Lebens zu kämpfen. Nur ernst muß es ihm sein.

Aus: Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe München 1990, S. 30f., S.312f., S. 317.

Drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr (1961)

Immer weniger hält es Jungk am Schreibtisch. Er beteiligt sich an Demonstrationen und Kundgebungen, etwa an der Ostermarsch-Bewegung gegen die Atomrüstung. In unzähligen Versammlungen warnt er vor der atomaren Gefahr und ruft zum Widerstand auf. Der folgende Textausschnitt, der einer in einer JUSO-Broschüre festgehaltenen Rede aus dem Jahr 1960 entnommen ist, argumentiert an einem Beispiel gegen die Resignation der BürgerInnen gegenüber den Herrschenden und ihrer Militärtechnokratie, ein Anliegen, das immer stärker Jungks Äußerungen bestimmt und bereits den »Zukunftsdenker« andeutet. Als die »drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr« benennt er Wissen, Kritik und Widerstand sowie die Gestaltung von Zukunftsentwürfen.

Liebe Freunde, vor allen Dingen auch liebe Freunde aus dem Ausland!

Manchmal kommt man sich sehr alleine vor und dann geschieht so etwas wie heute Abend hier. Das ist einmal, daß Freunde aus dem Ausland hier mit einem sitzen und daß man merkt, daß man nicht so allein ist, daß man Teil eines Freundschaftskreises ist, eines Kreises von Menschen, die es in der ganzen Welt heute gibt, die vernünftig sind und die es wagen, gegen zwei Dinge anzugehen : Einmal gegen die Regierungen, die sie verketzern, zum zweiten aber, und das scheint mir das Wichtigere, gegen die Resignation. Ich glaube, mehr noch als die Atombombe gefährdet uns heute die Resignation. Die Resignation, die uns einflüstert, es hat doch alles keinen Zweck. Die Zukunft entwickelt sich mechanisch, sie entwickelt sich, ohne daß wir etwas dazu tun können, um sie zu gestalten. Sie geht, sie treibt wie ein führerloses, jedenfalls nicht von uns gelenktes Schiff, wie ein Zug, der ins Dunkle rast, einem Ende zu, und wir haben gar keine Macht darüber, wir können nichts tun.

Der Anti-Atomkampf ist erfolgreich

Ich stehe nun hier, weil ich glaube, wir können etwas tun. Es ist nicht einfach, aber wir müssen es versuchen. Und es ist keineswegs so, wie viele Leute glauben, daß die Anti-Atombewegung bisher keine Erfolge hatte. Gäbe es die Anti-Atombewegung in der ganzen Welt nicht, so wären die Dinge heute schon viel weiter auf die Spitze getrieben, so wären wir vielleicht heute schon nicht mehr am Leben. Das klingt wie eine Behauptung nur, und ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, ein historisches Ereignis, das viel zu wenig bekannt ist. Ich selbst verdanke diese Information dem englischen Nobelpreisträger Philipp Noel-Baker. Er hat sie mir vor zwei Jahren auf der sogenannten Pugwash-Konferenz in Kitzbühel erzählt. (…)

Im Indochchina-Krieg war die Festung Dien-Bhien-Phu von Kommunisten belagert, die französische Besatzung war eingeschlossen und stand vor der Kapitulation. Damals hieß es in der ganzen Welt, wenn diese Festung fällt, dann fällt ganz Süd-Ostasien an den Kommunismus. Man sprach davon (in der Zeitschrift »Times« z.B. ), daß diese Festung wie ein Pfropfen in einem bereits unter schwerem Wasserdruck stehenden Damm steckt und daß man alles tun müsse, um zu verhindern, daß dieser Pfropfen herausspringe. Denn dann würde der ganze Damm gegen den Kommunismus zerstört und die Kommunistische Flut würde sich über ganz Asien ergießen. (Das ist nicht der Fall gewesen. Man spricht heute von ähnlichen Dingen im Zusammenhang mit Berlin. Man möchte immer gern übertreiben und behaupten, diese eine Sache hätte den Untergang der freien Welt zur Folge.)

Ein Atomkrieg wurde verhindert

In dieser, von der eigenen Propaganda hochgespielten Situation, in dieser psychologischen Lage, verlangte der französische Oberbefehlshaber, General Ely, von den Amerikanern eine taktische Atombombe zur Entlastung der belagerten Festung. Er wollte sie einsetzen, um dann in die Bresche hineinzuspringen und die Front wieder herzustellen und die Kommunisten wieder zu vertreiben. Sein Vorgesetzter in der Befehlslinie war Admiral Redford, der Chief of Joint Staff. Dieser amerikanische Admiral, ein Heißporn, hat damals von sich aus gleichfalls den Einsatz der taktischen Atombombe empfohlen. Er mußte sich aber glücklicherweise an Präsident Eisenhower wenden, und Eisenhower, an dem man viel kritisieren kann, hat doch in diesem einen Fall gezeigt, daß er ein überlegender Mensch ist. Ich bin nicht sicher, daß Truman so ruhig geblieben wäre. Er war jemand, der zu sehr brüsken Entschlüssen fähig war und manchmal sehr unvernünftige Entscheidungen getroffen hatte. Eisenhower hat sich diese Sache überlegt und sich gesagt, ich muß fairerweise zunächst einmal meine englischen Verbündeten konsultieren. Er hat Eden gefragt, ob die Engländer einverstanden wären, daß eine solche taktische Atombombe in Indochina eingesetzt würde. Und jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Jetzt kommt das, wovon ich sprechen möchte und weshalb bereits Erfolge der Anti-Atombewegung erzielt worden sind. Eden hat damals dem Präsidenten Eisenhower erklärt: „Selbst wenn der Einsatz dieser taktischen Bombe unsere Situation in Asien retten würde, kann ich den Einsatz dieser Bombe vom englischen Standpunkt aus nicht erlauben. Unsere öffentliche Meinung würde den Einsatz dieser Waffe nicht gutheißen können, und ich kann infolgedessen meine Zustimmung nicht geben.“

Ich erzähle Ihnen das, um Ihnen zu zeigen, daß die Atomgegner durch ihren Protest, durch ihren sichtbaren Widerstand gegen die Atomrüstung erreicht haben, daß ein konservativer, also ein ihnen parteimäßig entgegengesetzter Ministerpräsident, nicht wagen konnte, im Namen des englischen Volkes dem Einsatz einer Atomwaffe zuzustimmen. Hätte Eden sich damals einverstanden erklärt, wäre diese Bombe geworfen worden, und wir wären sofort in den Atomkrieg hineingeschlittert.

Aus: Robert Jungk / Fritz Vilmar: In der Todeskurve. Eigenverlag, Frankfurt 1961, S. 5-7.

Den Frieden antizipieren (1970)

Unter Hinwendung zu der in den 60er Jahren an Bedeutung gewinnenden Zukunftsforschung – 1965 gründet Robert Jungk sein erstes Institut für Zukunftsfragen in Wien – fordert der unermüdliche Mahner vor den Gefahren des nuklearen Wettrüstens zivile Lookout-Institutionen und Zukunftsprogramme zur Sicherung des Weltfriedens. „Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg“, heißt es in einem 1970 erscheinenden Aufsatz, in dem Jungk sechs, sein Politikverständnis treffend widerspiegelnde Prioritäten für eine weltweite Friedensgestaltung anführt und einen »aktiven Pazifismus« einfordert.

(…) Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg. Das heißt, der Mensch hat die Reihenfolge der Prioritäten, in denen er auf Grund seiner neuen Weltkenntnis handeln könnte, zu verändern und antizipatorisch Zielmodelle einer besseren Welt sowie Strategien, die zu ihrer Verwirklichung führen können, zu entwickeln: nicht nur mit konstruktiver Phantasie, sondern auch mit einem mit Datendichte, Konkretheit und Präzision befähigten Apparat. Nur wenn derartige konkrete, wahrscheinliche, mögliche, durch Fakten gestützte Modelle als Gegenstücke zu den Modellen der Denkfabriken wie Rand u.a.m. von friedlichen Denkfabriken entwickelt werden, wird es möglich sein, die Vorherrschaft des militärisch-industriellen Denkens wirksam zu bekämpfen. Vergessen wir eines nicht: nur derjenige, der Modelle formt, der sie so genau, so präzise und mit einem solchen Maß an Wissen und Brillianz zu formulieren versteht, wie es die Wirtschafts- und Militärstäbe heute können, deren Fähigkeiten man gar nicht hoch genug einschätzen kann, wird Einfluß gewinnen können. Heute ist es so, daß auf der einen Seite hochentwickelte, in der Technik außerordentlich brilliante und vorwärtsweisende Arbeit getan wird und auf der anderen dem nichts vergleichbares gegenübersteht; dadurch ist es beinahe unausweichlich, daß die Welt in eine große Kaserne verwandelt wird, daß die Welt nichts anderes mehr antizipieren kann als Konflikte (…). Es fragt sich nur: Wo sind die Gegenmodelle, wo die Gegenauffassungen?

Ich möchte hier nur anführen, welche Modelle, welche Zielvorstellungen von zivilen Institutionen von der Art, wie ich sie vorschlage, zuerst erarbeitet werden müßten. Dabei möchte ich eine andere Reihenfolge der Prioritäten anführen, als sie bis jetzt gültig ist.

  1. Die Beseitigung der Armut und des Hungers in der Welt.
  2. Die Weiterentwicklung der dritten Welt.
  3. Die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung weiter Kreise.
  4. Die Möglichkeit einer Hebung des Bildungsniveaus und damit eine Hebung der Entscheidungsfähigkeit vieler.
  5. Die Entwicklung sinnvoller Arbeitsmöglichkeiten in einer Epoche der Automation.
  6. Die Erfindung neuer Methoden der internationalen Zusammenarbeit zur friedlichen Lösung von Interessenkonflikten.

Zu allen diesen Vorschlägen, die von friedlichen Denkgruppen erarbeitet werden sollten, ließen sich ganz konkrete Gedanken äußern. Gewiß wurde darüber schon viel gesprochen, doch was ich vorschlage, ist eine neue Methode, und zwar in folgender Richtung:

1. Die Debatte über diese Themen muß auf einem höheren Niveau der Informiertheit erfolgen als bisher; sie müßte durch Institutionen unterstützt werden, die wie die Planungsstäbe von Industrie und Militär über eigene Möglichkeiten der selbständigen Datenaufnahme und Datenverarbeitung verfügen. Derartige »Lookout«-Institutionen, die ausschließlich nicht-kriegerischen Aufgaben zu dienen hätten, sind die unentbehrliche Voraussetzung konkreter Friedensplanung; sie sind längst überfällig.

2. Bei der Vorbereitung solcher Friedensmodelle und Friedensstrategien dürfte sich die Phantasie nicht von der Fülle der Fakten erdrücken lassen. Das Abhängigkeitsverhältnis des sozialen Erfinders von den Fakten wäre mit der des Bildhauers von seinem Material zu vergleichen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: denn durch die Herausarbeitung, durch die Erfindung neuer Konzepte könnte sich Material zur Verwertung erst anbieten, das bisher überhaupt nicht betrachtet wurde. Ich meine, daß z.B. gewisse psychologische Probleme und psychische Fakten heute von denen, die sich mit der Zukunft befassen, nicht als Fakten anerkannt werden, das ist ihnen zu »luftig«, das nehmen sie noch nicht wahr, und sie sehen nicht, daß sie diese psychologischen Gegebenheiten in ihre Modelle hineinnehmen müßten.

Gerade bei diesem Erfinden, bei dieser Kombination von Phantasie und Fakten bietet sich die Möglichkeit an, radikale, interessante, wenn man will, auch »verrückte« Ideen durchzuspielen mit diesem neuen Apparat, mit all diesen neuen Techniken, mit denen man versucht, zukünftige Situationen heute schon im Spiel, im Studium oder mit Hilfe von neuen Geräten faktisch und nah vorzustellen.

(…)

Aus: Antizipation des Friedens. In: Oskar Schatz (Hg.): Der Friede im nuklearen Zeitalter. Eine Kontroverse zwischen Realisten und Utopisten. München 1970, S. 188-190.

Der Atomstaat (1977)

Die Erkenntnis, daß friedliche und militärische Nutzung der Atomenergie nicht von einander zu trennen sind, macht Jungk zum Fürsprecher auch jener Bewegung, die sich Mitte der 70er Jahre mit dem Widerstand gegen neue Atomkraftwerke in der BRD bildet und unter dem Motto »Atomkraft – Nein danke« den generellen Ausstieg aus der Atomindustrie fordert. Das 1977 erscheinende Buch »Der Atomstaat« – es wurde 1994 übrigens ins Tschechische übersetzt – thematisiert die Risiken von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Uranlagerstätten sowie die Auswirkungen der notwendigen »Schutzmaßnahmen« auf die demokratische Gesellschaftsordnung. »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg« heißt es im Vorwort zu diesem Buch, das nicht nur durch die sich häufenden Fälle des Schmuggels von waffenfähigem Plutonium seine Aktualität behalten hat.

Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, daß es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzusehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, daß jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muß.

Nicht nur würde eine durch technisches Versagen, menschliche Unzulänglichkeit oder böswillige Einwirkung hervorgerufene Atomkatastrophe unmittelbar größten Schaden stiften, sondern über Jahrzehnte, Jahrhunderte, unter Umständen sogar Jahrtausende weiterwirken. Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft, wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit, sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.

Solch dunkle Möglichkeiten müssen auch den Befürwortern der Atomindustrie bekannt sein. Sie sind allerdings überzeugt, sich und ihre Mitbürger schützen zu können, indem sie Sicherheitsmaßnahmen einführen, wie sie es nie zuvor gab. Müßte dieser Schutz nur technischer Natur sein, dann wäre er vor allem ein Problem der Ingenieure und – wegen seiner besonders hohen Kosten – der Ökonomen. Aber diese Erfindung der Menschen muß ja zudem so streng wie keine andere vor den Menschen selbst bewahrt werden: vor ihren Irrtümern, ihren Schwächen, ihrem Ärger, ihrer List, ihrer Machtgier, ihrem Haß. Wollte man versuchen, die Kernkraftanlagen dagegen völlig immun zu machen, so wäre die unausweichliche Folge ein Leben voll Verboten, Überprüfungen und Zwängen, die in der Größe der unbedingt zu vermeidenden Gefahren ihre Rechtfertigung suchen würden.

Diese Konsequenzen klarzustellen und über sie nachzudenken, ist sowohl für die Gesellschaft wie für jeden einzelnen dringlich, da die sozialen und politischen Wirkungen der Kernkraft bisher hinter dem Studium der biologischen und ökologischen Effekte zurückstanden. Die folgende Schrift will dazu den Anstoß geben. Sie ist in Angst und Zorn geschrieben. In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben. Man wird mit Sicherheit den Einwand erheben, über diese Problematik müsse ohne Emotionen geschrieben und gesprochen werden. Das ist die heutige Version der biedermeierlichen Beschwichtigung: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumzukunft mit sich bringen muß, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muß, eine Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.

Auf solch einer irrigen Kalkulation beruhte die Vorstellung, daß die zerstörerische Wirkung der Atombombe – wenn überhaupt – nur in Auseinandersetzungen zwischen Staaten ins Spiel gebracht würde. Seit kurzem aber müssen wir auf Grund eingehender Untersuchungen annehmen, daß auch innergesellschaftliche Konflikte die gefürchtete »nukleare Schwelle« einmal überschreiten könnten. Atomsabotage und Atomterror können nicht mehr ausgeschlossen werden, sobald die Menge der bei der Kernkraftproduktion anfallenden Spaltstoffe immer größer wird. Und das wird schon sehr bald der Fall sein. Besonders erschreckend ist die Einsicht, daß Gangster, Putschisten oder Terroristen mit einer solchen Waffe, wenn sie einmal in ihre Hände geriete, vermutlich viel skrupelloser umgehen würden als Staatsmänner und Generalstäbler. Die radikale Atomabrüstung, die unmittelbar nach den Schreckensstunden von Hiroshima und Nagasaki verlangt wurde, müßte daher jetzt, da die Ausweitung der »friedlichen Kernkraft« das Risiko von Atom-Bürgerkriegen näherbringt, mit noch weitaus berechtigterer Sorge gefordert werden.

Nur wer sich Illusionen über die nukleare Zukunft hingibt, kann alle Gefahren des Mißbrauchs ausschließen. Die Vision von der perfekten inneren Sicherheit ist ein pures Wunschgebilde. (…)

Aus: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Hier zit. nach rororo-TB-Ausgabe, Hamburg 1979, S. 9-11.

Die Sehnsucht nach Frieden (1981)

Frieden kann nur von unten geschaffen werden. Diese tiefe Überzeugung bezieht Robert Jungk insbesondere auf die Entspannung zwischen Ost und West sowie die Überwindung des Kalten Krieges. „Wenn es in den letzten 25 Jahren doch wenigsten Ansätze zu einer Entspannung und erste, wenn auch ganz ungenügende Kontroll- und Begrenzungsabkommen gegeben hat“, so führt er in einem von Stefan Hermlin einberufenen Treffen deutscher SchriftstellerInnen aus Ost und West im Jahr 1981 aus, „dann war dies weitgehend eine Folge all jener Kontakte, Initiativen, Gespräche und Konzepte, die von – und das ist wichtig – Nichtdiplomaten, von politischen Amateuren eingeleitet und fortgeführt wurden“. In seiner Rede bei diesem Treffen, das zu den Geburtsstunden der neuen Friedensbewegung der 80er Jahre zählt, weist Jungk auf die Notwendigkeit einer kritischen Gegenöffentlichkeit in Ost und West hin, er scheut dabei nicht, auch Kritik am Gastgeberland DDR zu üben. Im zweiten hier ausgewählten Ausschnitt der Rede warnt Jungk die Friedensbewegung davor, sich auf die Irrlogik des Raketenzählens der »Westentaschenstrategen« einzulassen.

(…) Die Menschen sind aufmerksamer geworden, sie sind klüger geworden, sie lassen sich nicht mehr irreleiten. Sie wissen, was geschieht, und sie haben Erfahrungen. Und es gibt heute fast niemanden mehr, der das nicht wüßte, der nicht erfahren hätte, daß ein Krieg, wenn er heute stattfinden würde, ein Krieg wäre, der nicht wie die früheren Kriege einmal wieder überwunden werden könnte, sondern dessen Folgen Jahrhunderte, Jahrtausende dauern, ja vielleicht das Ende der Geschichte bedeuten würde. All das wissen die Menschen heute. Und weshalb wissen sie es? Ich glaube, sie wissen es, weil doch in den letzten zehn, zwanzig Jahren eine ganze Reihe von Kommunikationsnetzen über die Erde gespannt worden sind. Es gibt die offiziellen Kommunikationsnetze des Radios und des Fernsehens, es gibt aber auch, und das halte ich für so wichtig, die vielen inoffiziellen Kommunikationsnetze. Es gibt die Kommunikationsnetze der Freunde in Ost und West, es gibt die unsichtbaren Kommunikationsnetze von einem Land zum anderen, in denen man sich zuflüstert, wie es wirklich aussieht.

Es hat sich im Westen – ich kann das nicht in bezug auf Ihr Land beurteilen, aber es wäre gut, wenn es das auch hier geben könnte – so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu entwickeln begonnen, die dadurch, daß sie das sagt, was die offiziellen Kommunikationsnetze nicht wagen zu sagen, echtes Vertrauen bildet, weil sie die unterschlagene Wahrheit bekanntmacht. Wenn ich nämlich das Wort »Vertrauen« höre und gleichzeitig weiß, daß schon ein kritisches Wort bestraft werden kann, dann habe ich zu denjenigen, die ein solches kritisches Wort bestrafen, kein Vertrauen mehr, und das ist doch wohl verständlich. (…)

(…) Ich meine aber, wir würden zu wenig tun, wenn wir hier diese strategischen Spiele weiterspielen würden, wenn wir uns als Westentaschenstrategen verstehen würden. Ich meine, was wir hier entwickeln sollten, wäre doch etwas, was uns immanent fehlt. Es wäre humanistische Phantasie, und es wäre etwas, was in Diskussionen fast überhaupt nicht mehr vorkommt, nämlich Menschlichkeit. Menschlichkeit steckt nicht in Zahlen und Statistiken und Aufrechnungen, die man der einen oder anderen Seite macht. Menschlichkeit bedeutet Mitleid, bedeutet Zärtlichkeit, bedeutet die Beobachtung des Gesichts des Menschen, das bedeutet in der Vorstellung die Vorausnahme des schrecklichen Schicksals der Menschen, wenn wir diese Menschen aus Fleisch und Blut über den Waffen und über dem strategischen Kalkül vergessen. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung sollte der Mensch, sollten die Menschen und ihre Aktionen stehen. Und es tut mir eigentlich leid, daß in einem Land wie der DDR – bei diesem Treffen – es nicht auch zu einer Begegnung mit durchschnittlichen Menschen kommen kann, mit diesen Menschen, mit diesem Volk, das die schwersten Opfer tragen muß, wenn es zu einem Krieg kommt, mit diesem Volk, dessen Sehnsucht nach Frieden so stark ist und dessen Sehnsucht so wachsen muß, daß der Krieg vielleicht verhindert werden kann. (…)

Aus: Berliner Begegnungen zur Friedensförderung. Protokolle des Schriftstellertreffens vom 13./14. Dezember 1981. Hier zit. nach Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Heyne, München 1990, S. 246-249.

Menschenbeben (1983)

Vorne mit dabei ist Robert Jungk auch, als sich der Widerstand gegen die geplante Stationierung neuer atomarer »Mittelstreckenraketen« in ganz Westeuropa zur breiten Massenbewegung formiert. Er setzt große Hoffnungen in diese »Überlebensbewegung«, die sich in den Demonstrationen Hunderttausender in vielen europäischen Städten ebenso manifestiert wie in den gewaltfreien Blockadeaktionen an den Stationierungsorten wie Mutlangen, Greenham Common oder Comiso. »Menschenbeben« lautet der Titel jenes Buches, in dem Jungk sehr ergreifend diesen Widerstand als Beteiligter und engagierter Beobachter dokumentiert. In der Einleitung zu »Menschenbeben« weist Jungk auf das allmähliche Wanken der alten Festungen der Militärtechnokratien hin und hofft insbesondere auf die Abspringer, Umkehrer und Umdenker innerhalb der Herrschaftssysteme.

(…) Ich habe mich auf die Suche gemacht nach all jenen Orten, an denen sich der Protest am eindrucksvollsten manifestierte, wollte Menschen finden, die sich von den scheinbar erstarkten politischen und technischen Machtsystemen nicht länger einschüchtern ließen, hoffte, deutliche Anzeichen für eine mögliche Rettung aus der großen Not zu entdecken.

Jetzt, da ich diesen Erfahrungsbericht niederschreibe, bin ich trotz mancher Enttäuschungen zuversichtlicher als zu Beginn meiner »Expedition«. Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker als sie vermuten. Die Mächtigen von heute sind geplagt von inneren Widersprüchen, verwirrt durch Irrtümer, tief verunsichert von nagenden Zweifeln. Sie können keine anziehenden, glaubhaften Zukunftsbilder mehr entwerfen, weil sie nur noch so tun, als glaubten sie an ihre Schlagworte vom unversiegbaren Reichtum, an ihre Versprechung demokratischer Freiheit, die sie selber ständig verletzen.

Diese innere Gefährdung der Herrschaftsysteme nimmt in dem Maße zu, wie das tägliche Umfeld, in dem sie leben, ihnen feindlicher wird. Die zunehmende Ablehnung der Bevölkerung genügt zwar noch nicht, die Organisationen und Installationen, durch die sie sich gefährdet sieht, zu beseitigen. Aber sie reicht jetzt schon aus, die »weichen Bestandteile« dieser harten Apparate, nämlich ihre denkenden und manchmal auch fühlenden Mitarbeiter, zunehmend zu beeinflussen. Die Ministerien, Verwaltungsgebäude, Kasernen, Kraftwerke, Chemiefabriken, Startbahnen, Manövergelände, Arsenale, Testanlagen, Raketenstellungen, Sende- und Lauscheinrichtungen, Laboratorien und Deponien werden physisch immer stärker befestigt und isoliert. Doch die Insassen dieser heutigen Festungen und Sperrkreise können nicht so vollständig abgeschirmt werden, daß jeder Einfluß von ihnen ferngehalten wird.

Im Brüsseler Hauptquartier der NATO sah ich auffällige Warnplakate angeschlagen, in denen für einen zum internen Gebrauch hergestellten Walt-Disney-Film geworben wurde. Sein Thema: die eindringlichste Warnung an das Personal vor schädlichen Außeneinflüssen. Dieser Isolierungsversuch und viele andere sind ziemlich aussichtslos. Man kann Menschen vielleicht gegen feindliche Ideologien immun machen. Aber ihren Lebensinstinkt wird man nicht dauerhaft betäuben, ihren Überlebenswillen nicht für immer brechen können. (…)

„Eine von uns, die sich kompromißlos für den Frieden einsetzen kann, hat das Gewicht von mindestens zehntausend anderen Frauen, die nicht so weit gehen wollen“, sagte mir eine der Engländerinnen, die seit vielen Monaten den amerikanischen Luftstützpunkt Greenham Common belagern. Das klingt überheblich, aber sie brachte es mit so ruhiger Selbstverständlichkeit hervor, daß ich tief beeindruckt war.

Nicht nur Zerstörer leben unter uns, sondern auch Lebensretter. Wüchse ihre Zahl so sehr, daß sie die künftige Entwicklung entscheidend beeinflussen, dann könnte ihnen glücken, was Revolutionen bisher noch nie gelang: die Besserung der Verhältnisse durch die Besserung der Menschen. Ein großes Beben geht durch die ganze Welt. In immer neuen Stößen erschüttert es das Bestehende. Und wenn es auch vorübergehend zu verebben scheint, irgendwo und irgendwann hebt sich der Boden abermals. Die Angst, der Zorn und die Hoffnung der Bedrohten schaffen unaufhörlich Unruhe. Das ist ein andauerndes und weit umfassenderes Phänomen als die bisherigen Revolutionen. Ich nenne es »Menschenbeben«.

Aus: Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche. Bertelsmann, München 1983, S. 12-14.

Es geht auch ohne Waffenproduktion (1984)

Die Verquickung von Rüstung und Wirtschaftsinteressen sind mehrfach Thema in Robert Jungks Stellungnahmen. So setzt er Hoffnungen in Rüstungskonversionsinitiativen, die nur durch die Einbindung der Arbeiterschaft und Gewerkschaften in die Friedensbewegung gelingen könnte. In einem Beitrag für den Fischer Öko-Almanach berichtet Jungk von ersten, konkreten Konversionsprojekten, zeigt aber auch die Schwierigkeiten der Umsetzung auf. Die Konversion der Waffen könne nur erfolgreich sein, wenn es zugleich zu einer grundlegenden »geistigen Konversion« komme, so der Tenor des folgenden Textausschnitts.

Es geht also bei der »Friedens-Konversion« um mehr als um Abrüstung. Auch um mehr als um wirtschaftliche Umverteilung, nämlich um eine viel umfassendere »Bekehrung« von einem harten an Quantität, Erfolg und Machtzuwachs orientierten Wirtschafts-(und Lebens-)stil zu einer allmählichen Verbesserung der Lebensqualität, die auf einer grundlegend anderen Haltung und Zielsetzung basierend einen Frieden anstrebt, in dem der Krieg des Menschen gegen die Natur, die Aggression des Stärkeren gegen den Schwächeren, die Macht der Wenigen über die Vielen abgebaut wird.

Rüstung wird in diesem Zusammenhang als die unaufhörlich weitergehende Zuspitzung eines in permanenter Unruhe lebenden Systems verstanden, das ohne Drohung, Druck und Zerstörung nicht existieren zu können meint. Solange diese periodisch wiederkehrenden Vernichtungsperioden noch neue Prosperität vorbereiteten und nachfolgende Epochen des Aufbaus und der Regeneration ermöglichten, wurden sie weitgehend hingenommen und nur von Minderheiten bekämpft. Die ganz andere neue und einzigartige Situation im Atom- und Raketenzeitalter ist darin zu sehen, daß nun bei einem größeren Konflikt mit großer Wahrscheinlichkeit unumkehrbare, nie wiedergutzumachende Schädigungen entstehen, so daß das gewohnte Wechselspiel von Krieg und Frieden dann nicht mehr weitergehen kann.

Diese besondere Lage muß bedacht werden, wenn man über die konkreten und praktischen Möglichkeiten der Rüstungskonversion spricht. Sie ist – darüber soll man sich nicht täuschen, darüber auch nicht verzweifeln – bisher noch nicht mehr als zweidimensionale »Wirklichkeit«. Denn sie existiert zwar in Entwürfen und Plänen, im Druck und auf Papier, als Vorstellung und immer häufiger auch als Wille. Wer aber nach greifbaren Resultaten Ausschau hält, das heißt nach einstigen Waffenschmieden, in denen tatsächlich schon Pflugscharen statt Schwerter hergestellt werden, der sucht vergeblich. All die hoffnungserregenden Konversionsmodelle, die in den Büchern, Artikeln und Debatten vorgestellt werden, sind bisher »Luftschlösser« geblieben. Es fehlte zu ihrer Verwirklichung an Geldmitteln, an entschlossenen Promotoren, an weitsichtigen Förderern, an opferbereiten Mitarbeitern. (…)

Ist »Rüstungskonversion« also vielleicht nichts anderes als eine der vielen utopischen Ideen, die an der Praxis scheitern müssen? Das könnte so ausgehen, muß aber nicht. Denn hier kommt den Vorkämpfern dieses Gedankens vielleicht nun die außerordentliche Weltsituation (…) zu Hilfe und zeitigt außergewöhnliche Entwicklungen. Denn die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung hat inzwischen sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber erfaßt. Die einen wie die anderen beginnen sich darüber klar zu werden, daß entweder die durch Rüstung, Nachrüstung, Nachnachrüstung, Nachnachnachrüstung usw. enorm gesteigerte Verschwendung von Geldmitteln und Ressourcen oder ein Versagen der Kontrollen zur Beherrschung der immer komplexeren und potenteren Waffensysteme uns alle – auch die Entscheidungsträger! – in Katastrophen von unerhörter Dimension und praktisch unbegrenzten Nachwirkungen hineinführen müssen. In dem Maße, wie diese dunklen Möglichkeiten immer wahrscheinlicher werden, setzt eine Konversion ganz anderer Art in den großen Herrschaftsapparaten der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber ein. Es handelt sich um eine geistige Konversion, wie sie oft bei einzelnen in besonders kritischen Situationen bei Todeskrankheit oder Todesgefahr plötzlich eintreten kann.

Eine solche »Umkehr« der Machteliten wäre so gut wie sicher, sobald das Furchtbare tatsächlich eintrete. Nur käme sie dann zu spät. Die Hoffnung, daß Einsichtige die Katastrophe antizipierend die »Sachzwänge«, in deren Griff sie zu sein meinen, plötzlich abschütteln, und mit ihren bisherigen Gewohnheiten brechend einen radikal anderen Weg einschlagen, darf nicht in routinierter Skepsis einfach als »unwahrscheinlich« abgetan werden. Vielmehr sollten diejenigen, die schon jetzt erkannt haben, daß es »unmöglich weitergehen kann«, sich besonders um die scheinbar Unbelehrbaren bemühen, wissend, daß auch in vielen von diesen äußerlich so sicher auftretenden heute schon Zweifel rumoren. Davon können ihre Psychiater berichten, weil sie gelegentlich Einsicht in das haben, was »hinter der Maske« vorgeht.

Eine Art Schrittmacherfunktion im Konversionsprozeß hat heute schon die Wirtschaftskrise. Sachverständige bei Unternehmern wie bei Arbeitgebern beginnen zu erkennen, daß Rüstung nicht Arbeitsplätze schafft, sondern vernichtet, weil sie einen wachsenden Teil des finanziellen und geistigen Kapitals der Gesellschaften der Wirtschaft und allen sozialen oder humanisierenden Bemühungen entzieht, um sie an eine letztlich unproduktive Aufgabe zu verschwenden. Wachsende Rationalisierung, die besonders in der Rüstungsindustrie vorangetrieben wird, ist eine der Folgen des Kapitalmangels und führt zu immer unerträglicher werdender struktureller Arbeitslosigkeit. Da die Mittel zur Unterstützung der gewaltig wachsenden Zahl von »Unproduktiven« auf die Dauer nicht ausreichen werden, muß dann endlich ernsthaft über neue »sozial nützliche« Arbeitsbeschaffung nachgedacht werden.

(…)

Eine »Garantie« dafür, daß ein solcher Umschlag tatsächlich eintritt, gibt es selbstverständlich nicht. Denkbar, ja sogar wahrscheinlicher ist die »erprobte Lösung« der Diktatur kleiner Machteliten, die mit der Verelendung und vielleicht sogar dem Untergang zahlloser Menschen in allen Teilen der Welt (UNO-Prognosen sprechen von einer Milliarde Arbeitslosen im Jahre 2000!) bezahlt werden müßte. Ein solcher »Technofaschismus« (im Westen wie im Osten) ist aufgrund der »Verbesserung« der nach innen gerichteten Waffen der Unterdrückung der »inneren Nachrüstung« also durchaus möglich und eine Weile haltbar. Nur dürfte er – wenn geschichtliche Erfahrungen und sozialpsychologische Erkenntnisse richtig sind – durch Konflikte an der Spitze sich dann doch früher oder später selbst ruinieren.

Damit es zu einer solchen Entwicklung nicht erst kommt, wird das von einer Friedensbewegung sich zu einer Überlebensbewegung und Erneuerungsbewegung hin entwickelnde »Menschenbeben« eine Stärke und Dauer entwickeln müssen, die der Größe und Einzigartigkeit der alle heute und in Zukunft Lebenden bedrängenden Gefahren entsprechen sollte. Auch hier müßte eine »Konversion« eintreten, die resignierte, passiv gewordene, verwöhnte, egoistisch, kurzfristig denkende Zeitgenossen so wandelt, daß sie die Prüfungen der Zukunft nicht nur ertragen lernen, sondern hoffend auf Geburtswehen einer menschlicheren Gesellschaft verstehen und durchstehen.

Aus: Es geht auch ohne Waffenproduktion. In: Fischer Öko-Almanach 84/85. Frankfurt 1984, S. 353-359.

40 Jahre Hiroshima (1985)

Mit Recht wird Robert Jungk als Mitbegründer des kritischen Wissenschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum bezeichnet. Einen eindrucksvollen Eindruck in sein Denken geben die Kolumnen, die er seit 1972 regelmäßig für die Zeitschrift »bild der wissenschaft« verfaßt, bis ihm 1987 aufgrund seiner kritischen Beiträge auch gegen die sogenannte »friedliche« Nutzung der Atomenergie die Zusammenarbeit aufgekündigt wird. Stellvertretend für die vielen, unter dem Titel »Und Wasser bricht den Stein« 1986 gesammelt herausgegebenen Berichte und Kommentare, die immer wieder auch zu Rüstungsfragen Stellung nehmen, sind Ausschnitte aus seinen Reflexionen zu »40 Jahre Hiroshima« vorgestellt, in denen Jungk u.a. die sozialpsychologischen Aspekte der Atombombe und ihrer Erbauer analysiert und zugleich eine neue, lebensbejahende Forschung und Technik einfordert.

(…) Von den zahlreichen Büchern, die sich mit den Atomphysikern beschäftigt haben, hat mir das Werk des an der University of Sussex lehrenden Physikers und Psychologen Brian Easlea mit dem Titel »Fathering the Unthinkable« die überraschendste Aufklärung vermittelt. Der Autor, dessen Arbeit von seinen Berufskollegen als »peinlich« verketzert wurde, versucht darin nachzuweisen, daß die Atombombe das Endprodukt des Männlichkeitswahns sei, der sich aus Neid und Schwäche die weibliche Natur unterwerfen wolle. Er zeigt an der Ausdruckswiese der Forscher, die voller sexueller Anspielungen ist, wie sehr ihre ganz privaten Probleme zur Antriebskraft ihrer grandiosen und zugleich monströsen Leistungen wurden.

So ist es für ihn kein Zufall, daß Oppenheimer und Teller als die »Väter« der Atom- und Wasserstoffbombe bezeichnet werden, daß die Hiroshimabombe »Little Boy« getauft wurde und Teller auch die erste erfolgreiche Zündung der H-Bombe mit dem Jubeltelegramm „It's a boy“ („Es ist ein Knabe“) meldete.

Es war also eine Art Geburtstagsfest, das vor vierzig Jahren in Los Alamos gefeiert wurde, und nur wenige unter den Teilnehmern ahnten damals schon, daß letztlich auch sie selber Opfer ihrer ohne weibliche Hilfe zustandegekommenen »Geschöpfe« werden würden. Zunächst allerdings durften sie ihren Triumph, ihren frischen Ruhm, ihre neugewonnene Stellung in der Gesellschaft genießen. Sie wurden gefeiert, umworben, als Angehörige des plötzlich wichtigsten, einflußreichsten Berufsstandes beneidet. Erst nach und nach entdeckten sie, daß man sie auch fürchtete, ja sogar haßte, und daß man ihnen nur schmeichelte, um sich ihrer zu bedienen.

Die Vorstellung einiger der hervorragendsten Rüstungsforscher, daß sie nun nach dieser kriegerischen Episode wieder zu ihrer ruhigen selbstbestimmten Wahrheitssuche zurückkehren könnten, erwies sich sehr schnell als Illusion. Denn der so erfolgreiche neue Forschungsstil, den sie geschaffen hatten, nahm ihnen die alte Freiheit. Individuelle Forschung mit »Wachs und Bindfaden« – das war nicht mehr »in« und nun kaum mehr möglich. Die in den Rüstungslaboratorien entstandenen »Projektwissenschaften« mit ihrem Teamwork, ihren kostspieligen Instrumenten, ihrer straffen Organisation waren ohne staatliche Mittel nicht lebensfähig. Damit aber mußte der Einfluß von Instanzen wachsen, denen es in erster Linie nicht um Wahrheit, sondern um Macht ging, nicht um Erkenntnisse, sondern Erzeugnisse. Für die Freiheit angetreten, hatten die Forscher ihre Freiheit verloren.

Das »Manhattan Project«, dessen erfolgreicher Abschluß die meilenhohen Rauchpilze und Menschenhetakomben von Hiroshima und Nagasaki waren, hatte gezeigt, daß bei gezieltem Einsatz von genügend intelligenten Köpfen, Instrumenten und Geldmitteln Erfindungen in beschleunigtem Tempo erzwungen werden konnten. Diese Einsicht war fast so wichtig – manche meinten, sogar noch wichtiger – wie das Produkt, die neue Superwaffe. Denn diese Entwicklung schien zu verheißen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Zukunft keinem glücklichen Zufall mehr überlassen werden müsse, sondern systematisch erzeugbar sei.

In einer Gesellschaft, deren Entscheidungsträger gewillt wären, diese neue gesellschaftliche Antriebskraft für lebenserhaltende Ziele einzusetzen, könne eine solche geplante und organisierte Kollektivforschung allgemeinen Wohlstand und Frieden bringen – so sah der Traum der Projektforscher in West und Ost aus. Aber sie rechneten in ihrer politischen Unerfahrenheit nicht damit, daß diese perfektionierten »Fortschrittsmaschinen« in ganz andere Richtungen gelenkt würden, nämlich zu jenen Bestimmungen, denen sie ihr Entstehen und ihre ersten Bewährungsproben verdankten: der Herstellung von militärischer, staatlicher, wirtschaftlicher Macht.

So ist vierzig Jahre nach Hiroshima die große Mehrheit derer, die sich der Forschung und Entwicklung widmen, unmittelbar auch in zahlreichen mittleren oder kleineren aus öffentlichen oder industriellen Quellen unterstützten Laboratorien, zu Mitarbeitern an Vorhaben geworden, die sie persönlich nicht gutheißen können. Aber es bleibt ihnen, wenn sie nicht »Aussteiger« oder »Eigenbrötler« werden wollen, nichts anderes übrig, als an Arbeiten mitzuwirken, auf deren Nutzung sie wenig oder gar keinen Einfluß haben, ja deren Zielsetzung sie oft nicht einmal kennen. (…)

Der nukleare Rüstungswettlauf, dessen dröhnendes Startsignal die Katastrophe vom 6. August 1945 war, hat inzwischen ungleich weitergreifende, noch radikaler wirkende Massenzerstörungsmittel hervorgebracht als den »kleinen Jungen« von damals: bösartige Riesen, reißende Ungeheuer, Heuschreckenschwärme und Vernichtung. (…)

Die »Bombe« – und das ist wohl ihre tiefste Wirkung – hat die Menschen so sehr verunsichert wie nichts zuvor. Die Zukunft – seit jeher als Zeit der Hoffnung empfunden – ist nun mit Furcht und Schrecken besetzt. Diese dunkle Wolke am Horizont einer jeden bewußten Existenz kann, ja muß immer wieder zeitweilig vergessen werden. Verschwinden könnte sie nur, wenn etwas ähnlich Einmaliges und Unerhörtes geschähe wie die Entdeckung der Atomkernspaltung und die dann daraus folgende Entwicklung von »endgültigen Waffen«.

Es ist aus solcher Überlegung heraus in Forscherkreisen immer häufiger von einem großen »Projekt« die Rede, das durch eine Zusammenführung von Wissenschaftlern vieler Disziplinen und Nationen in einem »crash program« überzeugende Lösungen zur Verhütung des atomaren Holocaust entwickeln sollte.

Doch halt: Ist dies nicht einmal mehr der Ausdruck jenes Geistes, der alles für machbar hält? Kommt da nicht wiederum jener typisch maskuline Hochmut zum Ausdruck, den Brian Easlea als eine Art »Erbsünde« der neuzeitlichen Wissenschaft ansieht? Ein solches »Anti-Hiroshima-Programm« wird trotz derartiger Bedenken vermutlich nicht in allzu ferner Zukunft versucht werden. Es entspricht eben einer Mentalität, die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts begonnen hat. Und sie hat in der Tat erstaunliche, im letzten halben Jahrhundert allerdings auch immer öfter abscheuliche Resultate gezeitigt.

Kann man denn Geschichte »machen«? Ist das Schicksal beherrschbar? Wird man es beeinflussen, ja sogar steuern können? Ganz auszuschließen ist das nicht. Und wenn die vielfachen Krisen, die unsere »p.h. (post Hiroshima) Welt« erschüttern, als Folge verantwortungslosen Drauflosforschens und ungenügend durchdachten technischen Handelns sich noch weiter verschärfen, werden für einen globalen Krisenstab vielleicht auch die notwendigen Mittel und Vollmachten erteilt.

Wichtiger und wohl letztlich erfolgversprechender wäre es, wenn die zu erwartenden vertieften und vermehrten Krisen nicht nur wissenschaftliche Superprojekte und gewaltige Aktionsprogramme gebären würden, sondern ein grundsätzlich anderes Denken.

Ansätze dazu sind heute schon hier und dort zu finden. Die »Ökophilosophie« des Norwegers Arne Naess (Oslo) und des aus Polen stammenden Engländers Henryk Skolimovski (Oxford) weist, ähnlich wie schon Erich Fromm und vor ihm bereits Albert Schweitzer, darauf hin, daß nur eine ganz entschiedene Abkehr von allen Formen todbringenden Denkens und Handelns Rettung bringen kann.

Es wird das dringendste Projekt einer neuen Generation von Denkern und Forschern sein, solche Ideen im Kontext der heutigen Möglichkeiten weiterzudenken und in Zusammenarbeit mit ihren Zeitgenossen zu konkretisieren. Welch faszinierende Aufgabe! Neben ihr löst sich die »süße Technik« der Gewalt, von deren Verführungskraft Oppenheimer sprach, in eine stinkende, giftige Wolke auf, die dann auf immer verschwinden sollte.

Aus: bild der wissenschaft, Juli 1985; hier zit. nach Und Wasser bricht den Stein. Freiburg 1986, S. 220-223.

Die innere Aufrüstung (1987)

Scharfe Töne gegen die Rüstungsforscher schlägt Jungk angesichts des Bekanntwerdens des Star-War-Programms SDI an, das nicht nur für ihn eine weitere, gefährliche Eskalation des Wettrüstens bedeutet. In einem Vortrag an der Technischen Hochschule in Zürich prangert er die »Todeswissenschaften« und ihre Helfershelfer an, warnt aber zugleich vor der »inneren Aufrüstung« gegen jene, die Widerstand leisten. Der ausgewählte Textabschnitt endet – einmal mehr – mit der Aufforderung, dem »Nein« ein »Ja« folgen zu lassen. Mit seinem Freund Hans-Peter Dürr spricht Robert Jungk von einer »World Peace Initiative« (WPI), die dem SDI-Programm entgegengestetzt werden sollte.

Es ist heute so, daß die Militärs bis in die Grundlagenforschung hinein immer mehr Kontrolle zugestanden bekommen, sie immer mehr benutzen. Auch die offene internationale Grundlagenforschung wird mittlerweile für militärische Zwecke, meist ohne Wissen der Wissenschaftler benutzt. (…)

Wir sollten hier nicht nur über Megatonnen sprechen, nicht nur über die mögliche Zerstörungsstärke, sondern auch fragen: Welche ökonomischen, welche machtpolitischen und welche karrierepsychologischen Motive und Personen treiben den Rüstungswettlauf an? Es wird meiner Ansicht nach zuwenig gefragt: „Wer steckt dahinter, wer will da die Geschäfte machen, welche machtpolitischen Ziele werden damit verfolgt?“ Es ist ja nicht so, daß Herr Reagan oder Herr Gorbatschow wirklich wollen, daß diese Bomben wirklich explodieren, daß ihre Waffen wirklich angewendet werden. Sondern man will das Geschäft immer weiter machen, weil es nichts gibt, was schneller veraltet als diese kostspieligen Waffen, weil es nichts gibt, womit man so schnell und sicher so viel Geld verdienen kann. Und das ist es, was sie wirklich wollen: Sie wollen machtpsychologisch auf diese Art und Weise Druck ausüben auf den Rest der Welt.

Sie rüsten aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen auf. Es wird viel zu wenig gesehen, daß als Parallelentwicklung zur äußeren Aufrüstung in unseren Gesellschaften eine immer stärkere innere Aufrüstung auftritt: Daß man (um die Unbequemen, die diesen Kurs nicht mitmachen wollen, zu überwachen und um diese Leute jederzeit im Griff zu haben), eine ganz neue Technologieentwicklung in Gang bringt. Das eröffnet der Industrie wiederum einen neuen Markt und kann nur gestoppt werden, wenn man das ganze Wettrennen als Fehler erkennt, als Fehlentwicklung der Geschichte. Wenn man fordert, daß das alles endlich aufhört.

Nun meine ich, es genügt nicht nur, nein zu sagen. Der zweite unentbehrliche Schritt ist der Kampf für ein »ja« zu einer ganz anderen Zukunft. Wir müßten einen Wettlauf in die andere Richtung starten, nämlich einen Wettlauf auf eine menschlichere, umweltfreundlichere Welt hin. Man sollte sich zusammensetzen, um unter Mitwirkung von Wissenschaftlern und Technikern große, konstruktive Gegenprojekte zu beginnen und sich zu überlegen: Welches sind die vierzig, fünfzig Probleme der Menschheit, die in die größte Krise der Geschichte geraten ist (z. B. Hunger, Umwelt, menschliche Beziehungen)? Da muß gemeinsame Forschungsarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene geleistet werden, um dem SDI eine WPI – eine (»World Peace Initiative«) entgegenzusetzen. Oder zumindest eine EPI – eine »European Peace Initiative«. Denn ich frage mich, wie viele meiner Freunde in Frankreich, Italien, Skandinavien usw., ob es sinnvoll ist, daß Europa den Amerikanern und Japanern weiterhin hinterherläuft, anstatt einen eigenen Weg mit Hilfe einer umwelt- und menschenfreundlicheren Wissenschaft und Technologie zu gehen?

Ich meine also, man sollte nicht ausschließlich von Waffen und ihren Wirkungen sprechen, sondern auch vom Herzen oder vom Gehirn und von der Frage, ob das Herz oder das Gehirn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen und Zwängen überhaupt noch so funktionieren können. Denn was geschieht mit denen, die sich dem Rüstungswahnsinn entziehen wollen, die noch ein Herz, die noch einen Kopf haben? Sie werden einfach hineingezwungen in die Drohsysteme, sie müssen entweder schizophren sein, indem sie sagen: „Ich mach in diesem System zwar äußerlich mit, versuche aber dennoch im Geheimen oder privat, meinen eigenen Weg zu gehen“, oder aber sie resignieren und machen ganz im System mit. Ich meine, sie sollten Widerstand riskieren und keine Kompromisse machen. Denn die führen nicht weit: Wir haben seit vierzig Jahren gesehen, daß all die kleinen Versuche, die Welt ein bißchen besser zu machen, gar nicht dazu führten, sondern von denjenigen, die die alte Richtung weiter verfolgen, als Entschuldigung benutzt wurden mit dem Argument: „Wir erlauben das ja auch, wir erlauben so ein bißchen Widerstand, wir erlauben so ein bißchen Dissidenz. Wir sind frei, wir sind offen.“ Und so können die Promotoren der Großtechnologie und der Machttechnologie ihr System weiter vorantreiben. Ich bitte alle: Lassen Sie es nicht bei den Worten, sondern handeln Sie!

Aus: Die innere Aufrüstung. In: Paul Feyerabend u.a. (Hg.): Leben mit den acht Todsünden der zivilisierten Menschen? Verlag der Fachvereine, Zürich 1987, S. 207-212.

Zukunftsbezogene Friedensarbeit (1989)

In einem Vortrag vor Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner aus dem Jahr 1989 betont Jungk ebenfalls die Notwendigkeit, der Friedensbewegung eine »Zukunftspolitik« zur Seite zu stellen.

Wir sollten ruhig ein bißchen stolz auf unsere heutigen Erfolge sein und uns nicht immer selber einreden, was wir gemacht haben, sei unwichtig. Wir haben Sand in die Maschinerie geworfen. Wir haben Bewußtsein verändert. Das ist wichtig genug.

Aber noch ist die Friedensbewegung eine Bewegung, die keine Horizonte eröffnet und Zukunftsperspektive gibt, sondern bestenfalls die Perspektive, wir wollen etwas verhindern. Wir wollen etwas aufhalten. Das genügt nicht mehr. Nein, es geht eigentlich um viel mehr. Das ist eben anders als seinerzeit, als ich 1929 mit 16 Jahren Pazifist geworden bin. Da konnte man nur gegen Krieg sein. Heute geht es darum: Haben wir eine Zukunft oder haben wir keine Zukunft? Und wie soll diese Zukunft aussehen?

Das ist die Grundfrage: Wie können wir neben unserem Nein, das so stark sein soll wie immer und sich noch verstärken soll, auch ein Ja entwickeln? Wie können wir erreichen, daß die friedliche Welt so anziehend ist wie das, womit junge Menschen sich heute beschäftigen und begeistern? Zum Beispiel wie Weltraumfahrt, Fußball, technische Spielereien und Computer.

Wir müssen es fertigbringen, den Militaristen und ihren stillschweigenden Anhängern das Monopol auf den Enthusiasmus, das Monopol auf die Zukunftsfreude und die Zukunftsplanung zu nehmen. Wir müssen ganz konkret eine Zukunftspolitik entwickeln. (…)

Wo, wie, was wären die konkreten Ziele einer zukunftsbezogenen Friedensarbeit? Da wäre die Frage nach der Architektur, nach den Ansätzen einer sanften, statt der gigantischen, brutalen Technik; die Versuche Energie zu schaffen, die der Umwelt und den Menschen nicht schadet; andere Energietechnik, Solartechnik, Windtechnik und Biomasse. Das sind gemeinsame Versuche, wo man miteinander arbeiten und basteln kann. In Dänemark können Arbeitslose, die sich für die Entwicklung der Windenergieprogramme einsetzen wollen, zu ihrer Arbeitslosenunterstützung zusätzlich etwas verdienen, weil sie als Pioniere neuer Energieformen nicht mehr als »Rest der Gesellschaft« behandelt werden.

Ich frage mich, ob wir diejenigen, denen man die Arbeit genommen hat, nicht einfach als Reservearmee des Kapitalismus versorgen, sondern als Pioniere in Experimenten neuer Art einsetzten sollten. Ich könnte mir vorstellen, daß aus Arbeitslosen Andersarbeitende werden könnten. Vorläufer einer anderen, humaneren Gesellschaft. Auch das ist eine Frage, mit der sich die Friedensbewegung beschäftigen muß.

Schließlich meine ich, daß die Friedensbewegung in einer ganz anderen Weise als bisher versuchen müßte, auf die Medien Einfluß zu nehmen. Nun werden manche sagen: wir kommen nicht an die Rundfunkanstalten ran und können nicht mit unseren Vorstellungen in die Medienwelt eindringen. Ich glaube, daß das eine Entschuldigung, eine Ausrede ist. Es gibt heute den Anfang von nichtstaatlichem Rundfunk, der bisher ausschließlich vom Kommerz genutzt wird. Es muß möglich sein, daß man in »Offenen Kanälen« mit eigenen Sendern, mit eigenen Videoproduktionen Friedensthemen an die Öffentlichkeit bringt. Wir müssen die Medienfrage ernst nehmen (…).

Wir müssen hier eine Art von Pionierstellung haben. Die Sorge um die Zukunft der Welt besteht auch darin, daß wir Lehrer werden für die, die nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Das ist eine große und wichtige Aufgabe und nicht etwa Arroganz und Anmaßung, wenn wir das versuchen. Es sind einfach zuwenig Menschen, die das tun. (…)

Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk, ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 40-42.

Hoffnung auf Volksdiplomatie (1990)

In einem gemeinsam mit der Bibliothek für Zukunftsfragen herausgegebenen »Katalog der Hoffnung« begrüßt Jungk die beginnenden Reformbestrebungen in den staatssozialistischen Ländern als großen Schritt in Richtung Überwindung des Kalten Krieges, plädiert aber zugleich für die Intensivierung der »Volksdiplomatie«, die allein den Entspannungsprozeß unumkehrbar machen könne.

In einigen Ländern des Ostens haben politische Entwicklungen begonnen, die man vor kurzer Zeit noch für undenkbar gehalten hätte. Die Reformen von oben, wie sie in der UdSSR, in Polen, in Ungarn und nun auch in der DDR begonnen haben, beschleunigen die sozialen Bewegungen in diesen Ländern, vor allem auch in den Teilrepubliken der Sowjetunion, und es will scheinen, als habe die jeweilige Staats- und Zentralmacht alle Mühe, diesen Bewegungen hinterherzukommen. Der Prozeß ist völlig offen, was heute zu beschreiben und zu analysieren ist, kann morgen schon überholt sein, im Guten wie im Bösen. Dennoch erfüllen die Vorgänge Menschen in aller Welt mit Hoffnungen. Dabei scheint uns die Frage, ob das große Zukunftsmodell des Sozialismus »am Ende« ist und »abgewirtschaftet« hat, gar nicht die entscheidende zu sein. Wichtiger ist wohl, daß sich die Reformbewegung »von oben« gar nicht anders erklären läßt, als im Wechselspiel mit den Bewegungen »von unten« – allerdings wissen wir von diesen Bewegungen viel zu wenig. Man kann (und konnte) das Leben auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs« nicht wirklich kennenlernen durch Urlaubsreisen und während einer Einkaufsfahrt, wie sie über die östereichisch-ungarische Grenze seit einiger Zeit möglich ist. Es sind persönliche Begegnungen notwendig, Aufenthalte in Familien, Schüleraustausch, Begegnungen von Sportlern, Studenten, Schriftstellern und Künstlern, von Pfarrgemeinden oder Betriebsgruppen. Erst solche Begegnungen ermöglichen es, die Vorgänge in den sozialistischen Ländern wirklich zu beurteilen und genauer zu erfahren, welche Triebkräfte und welche Gefährdungen in den gegenwärtigen Öffnungs- und Entspannungsprozessen wirksam sind. Und hinzu kommt, daß nur solche Begegnungen es erlauben, wechselseitige Feindbilder abzubauen, Vorurteile und falsche Vorstellungen über das Leben und die Menschen im jeweils anderen Teil der Welt zu korrigieren. Daran läßt sich die Hoffnung knüpfen, daß auch im Prozeß der globalen »Entspannung« zwischen den Machtblöcken ein Wechselspiel zwischen offiziell-diplomatischen Prozessen und einer sozialen Bewegung in den jeweiligen Völkern entsteht, das die immer wieder stockenden, immer von Stillstand und Abbruch bedrohten Verhandlungsrunden der Diplomaten und Minister, der Militärs und Bürokraten vorantreibt. Hoffnung besteht auch, daß in solchen direkten Begegnungen der »Volksdiplomatie« etwas Bleibendes geschaffen wird, Erfahrungen, die eine Neu- und Wiederauflage des »Kalten Krieges« zumindest erschweren werden, sollten die Reformprozesse umschlagen.

Begriffe wie »Volksdiplomatie« und »Entspannung von unten« sind zunächst in bezug auf die Ost-West-Beziehungen geprägt worden. Doch gibt es tief eingefressene Feindbilder auch bei Menschen, die im gleichen Land leben, die einander täglich begegnen können: bei Juden und Arabern in Israel, bei Katholiken und Protestanten in Irland, bei Weißen und Schwarzen in Südafrika. Auch da ist »Entspannung von unten« bitter notwendig; und es gibt Initiativen, die hier Zeichen setzen.

Aus: Katalog der Hoffnung. 51 Modelle für die Zukunft. Luchterhand, Berlin 1990, S. 143f.

Rede gegen den Krieg. Stellungnahme zum Golfkrieg (1991)

Der Golfkrieg war für Robert Jungk die »bisher gefährlichste Episode« im Konflikt zwischen reichem Norden und armem Süden. Während andere über die Rechtmäßigkeit der Militärintervention gegen den Irak debattierten, erinnerte er die Friedensbewegungen daran, sich des größeren Zieles eines weltweiten Verbots der Rüstungsproduktion sowie des Engagements für konstruktive Friedensideen zu besinnen. Die im folgenden wiedergegebene Rede hielt Jungk am 2. Februar 1991 in Wien. Ihr angeschlossen ist eine nachdenkliche Tagebuchnotiz des 78-Jährigen über das Dilemma des ständigen »Zupät-Kommens« von Antikriegsbewegungen wie jener gegen den Golfkrieg.

Acht Thesen

Erste These: Ein hundertjähriger weltweiter Konflikt hat begonnen.

Der Golfkrieg ist die bisher gefährlichste Episode in einem fünfzig-, vielleicht sogar hundertjährigen Konflikt zwischen der armen Mehrheit und der reichen Minderheit einer rapide anwachsenden Weltbevölkerung.

Zweite These: Geduld und politische Phantasie gegen sture Gewalt.

Nur mit sehr viel Geduld, Scharfsinn und politischer Phantasie kann diese weltweite Auseinandersetzung zwischen Süden und Norden gedämpft und einer großen Anzahl von notwendigen Lösungen nähergebracht werden.

Dritte These: Die Friedensbewegung als »dritte Macht“.

In der Friedensbewegung findet sowohl die Angst der Völker wie ihre Sehnsucht nach einer humanen Zukunft ihren Ausdruck. Sie ist nicht nur eine »Anti«-Bewegung, sondern auch eine »Pro«-Bewegung. »Wir sind das Volk« – mit dieser Parole protestierten Millionen.

Vierte These: Waffen und Heere können keinen Frieden gründen.

Nach zwei Weltkriegen, in denen Millionen starben, sind wir nun in den dritten großen Krieg hineingeraten. Solange es Waffen und Streitkräfte gibt, wird eine gute Zukunft nicht möglich sein. Daher ist das Verbot der Rüstungsproduktion und die Kontrolle aller Rüstungen das erste und dringendste Ziel der Friedensbewegungen.

Fünfte These: 1991 ist nicht 1939.

Gegen Hitler hatte der Einsatz von Waffen noch einen politischen Sinn. Aber in den seither vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich die Waffen zu Massenvernichtungsmitteln entwickelt, die einen »Sieg« unmöglich machen, sondern eskalierend zu einer Bedrohung der Menschheit und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen werden müssen.

Sechste These: Die Friedensbewegten als Verteidiger der Zukunft.

Die neuen sozialen Bewegungen (Ökobewegung, Frauenbewegung, Bürgerinitiativen und Friedensbewegung) fühlen sich durch ihre Regierungen nicht mehr vertreten. Sie nehmen ihr Schicksal mehr und mehr in die eigenen Hände. Allein in der Dritten Welt gibt es seit Anfang der siebziger Jahre tausende regionale und lokale Bewegungen, die sich von den zentralen, meist militärisch dirigierten Gewalten ihrer Länder losgesagt haben. Immer mehr Menschen in allen fünf Erdteilen erleben sich als Gestalter einer anderen, lebensfreundlicheren Gegenwart und als Bewahrer der Zukunft.

Siebente These: Österreichs Rolle als Friedensstifter.

In diesen großen Konflikt haben Gemeinden, Regionen und kleine Länder eine besondere Rolle zu spielen. Ihre größere Menschennähe und Überschaubarkeit kann bewirken, daß sie die wirklichen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen besser kennen als die Großmächte. Österreich, das sich wie andere westliche Nationen durch Waffenexporte mitschuldig am Ausbruch des Golfkrieges gemacht hat, muß durch Rückkehr zur integralen Neutralität und das Setzen immer neuer Friedensbeispiele die Schuld seiner skrupellosen Wirtschaftsverbrecher wiedergutzumachen versuchen.

Achte These: Das neue Jahrtausend wird eine neue Zivilisation gründen.

Wir – besonders die jungen Menschen – brauchen begeisternde Ziele. Wir sollten heute schon im Zusammenwirken vieler Bürger und aller Völker gedanklich und experimentell eine neue Zivilisation vorbereiten, die auf Solidarität, Humanität und Kreativität gegründet ist. Dieser Traum kann der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir nicht resignieren, wenn wir nicht aufgeben.

Mit „Gebt nicht, gebt niemals auf!“ enden meine Ausführungen.

Tagebuchaufzeichnung 4. Februar l99l:

Die Friedensbewegung ist wieder da, das war der entscheidende Satz der Rede, die ich eine Woche vor Ablauf des Ultimatums vor Tausenden Demonstrationsteilnehmern am Marienplatz vor dem Münchner Rathaus wagte.

Daß diese Behauptung stimmt, haben seither Hunderte Ereignisse in allen Städten der »ersten Welt« bewiesen. Aber die vorgestrige »Großveranstaltung« am Heldenplatz in Wien war nur durchschnittlich besucht. Und fast überall beginnt der spontane Protest wieder abzuflauen.

Wie kann der Einfluß der vielen, die entsetzt sind über die unintelligente Gewaltpolitik ihrer Regierungen, zu einem stetigeren und verläßlicheren Faktor werden? Oder soll man die Gangart des sporadischen empörten Aufwallens als die echtere, weil nicht gesteuerte Antwort akzeptieren? Mit dieser Frage habe ich mich in der vergangenen Nacht herumgequält und noch keine Antwort gefunden. Da sind auf der einen Seite die »professionals« des Verderbens, die festangestellt unermüdlich »ihre Pflicht tun«. Auf der anderen Seite die vielen Betroffenen, die – fast immer schon zu spät – auf die Straße gehen und dann nach ein paar Wochen schon fast alle zu Hause bleiben. Können sie, können wir diesen Konflikt je für uns entscheiden?

Rede bei einer Veranstaltung in Wien, Heldenplatz, 2.2.1991. Aus: Ich will reden von der Angst meines Herzens. Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Luchterhand-Literaturverlag, Frankfurt 1991.

Schafft Friedensinseln, schafft Friedensschauplätze (1991)

Vielleicht wie eine Antwort auf die Ohnmacht der Proteste gegen den Golfkrieg zu lesen ist der folgende, die Utopie einer weltweiten Arbeit für den Frieden formulierende Text, den Jungk für die Schweizer Zeitschrift »Constructiv« verfaßt hat. Er belegt einmal mehr die Überzeugung des Zukunftsdenkers, daß wir es uns nicht leisten können, im Kritisieren zu verharren, sondern daß es gilt, konstruktive Ideen zu entwickeln und für diese Verbündete zu suchen.

Wir werden überschüttet mit verfälschten Berichten von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten. Was können wir gegen Verzweiflung und Resignation setzen? Wie gelingt es uns mit unserer Ohnmacht fertigzuwerden? Mit Protest! Gewiß, aber genügt das? Jetzt schon bereiten sie einen »Frieden« vor, der wiederum auf Waffen und die langdauernde Präsenz fremder Truppenverbände gegründet sein soll.

Wir sollten uns, wo immer es geht, zusammenfinden und als Gegengewicht jetzt schon Umrisse künftiger friedlicher Zusammenarbeit mit den Menschen im Nahen Osten und darüber hinaus in anderen Ländern der Dritten Welt entwerfen. Von solchen Friedensschauplätzen müßten wir Nachrichten an die vielen Menschen schicken, die nur noch Verbrechen und Unheil von der Zukunft erwarten.

Wir stehen erst am Anfang eines Konfliktes, der Jahrzehnte, vielleicht sogar ein Jahrhundert dauern kann. Konflikt muß aber nicht Krieg bedeuten, sondern kann eine gemeinsame Anstrengung sein, die Gerechtigkeit anstrebt und im Geiste einer Schicksalsgemeinschaft vor sich geht, die weiß, daß die Eskalation der Gewalt den Untergang aller bedeuten muß.

Unter uns und mit uns leben viele Menschen aus anderen Ländern und Erdteilen. Wir sollten sie nicht als Last ansehen, sondern als Helfer zum Verständnis einer kommenden Zeit, in der die Zahl der Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner die der Europäer und Amerikaner um ein Vielfaches übersteigen wird.Mit ihnen sollten wir auf unseren Friedensinseln möglichst konkrete Konzepte entwerfen:

  • für Zukünfte ohne Hunger und Entbehrungen;
  • für Zukünfte, in denen wir unsere Kräfte zur Regeneration der zerstörten Landschaften und Siedlungen zusammenspannen, statt uns gegenseitig aufzureiben;
  • für Zukünfte, in denen nicht nur einige Wenige, sondern möglichst viele mitbestimmen können;
  • für Zukünfte, die dem Leben und der Gesundheit gewidmet, nicht länger von Untergangsangst überschattet sind.

Auch wenn wir mitten in düsterer Gegenwart das zunächst nur sagen und aufschreiben, können doch von solcher friedlicher auf eine gute Zukunft gerichteten gedanklichen Zusammenarbeit Einflüsse ausgehen, die das Handeln vieler, die jetzt noch passiv bleiben, beeinflussen und derart radikal andere Wirklichkeiten vorbereiten.

Solche »Friedensinseln« sind Experimente, die Hoffnung schaffen und damit erste Schritte in eine neue Welt von morgen wagen. Es lohnt sich, gemeinsam diese Versuche zu beginnen, statt in Traurigkeit zu versinken oder sich in ohnmächtiger Wut zu verzehren.

Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk. Ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 48f.

Gemütsfaschismus und Technofaschismus (1991)

Den gefallenen Mauern zwischen Ost und West folgten neue. Wachsende Ausländerfeindlichkeit, zunehmender Rassismus, verschärfte Asylgesetze – und zuletzt – Mordanschläge auf Ausländer und Asylwerber sind traurige Facetten des kalten Friedens nach der großen Wende. In einer Analyse der neuen rechtspopulistischen Bewegungen mit Führern wie Schönhuber oder Le Pen stellt Robert Jungk Bezüge her zwischen unserer kalten, der einseitigen Rationalität verpflichteten Gesellschaft, in der alle »funktionieren« müssen, und einem neuen – sozusagen als Ventil fungierenden – »Gemütsfaschismus«, der von den neuen Rechten salonfähig gemacht werde. Wirksamer Antifaschismus müsse daher, so Jungks Warnung, die Gefühle und Sehnsüchte der Menschen ernst nehmen und diesen konstruktive Artikulationsmöglichkeiten schaffen.

Es ist eines der großen Verdienste des Seelenforschers Wilhelm Reich, daß er 1934 angesichts der Machtergreifung des Nationalsozialismus nicht nur wirtschaftliche und nationale Bedrängnisse für den Erfolg des »Führers« verantwortlich machte, sondern auch seelische Defizite, die der »Retter« Adolf Hitler auszugleichen versprach.

Wenn heute im Zeichen ökonomischer Hochkonjunktur Vertreter faschistischer oder faschistisch beeinflußter Programme Zulauf erhalten, dann sollte man sich an diese – vor allem von der Linken – zu wenig beachteten Erkenntnisse über die »Massenpychologie des Faschismus« erinnern. Weiter verbreitet noch als die durch Rationalisierung und rücksichtslose Strukturveränderungen bewirkte materielle Arbeitslosigkeit ist meiner Ansicht nach die »seelische Arbeitslosigkeit« von Millionen, die in der von Technokraten verwalteten Konsumgesellschaft weder Lebenssinn noch Möglichkeiten eines sie erfüllenden Engagements entdecken. Desillusion und Resignation beherrschen die Stunde. Wer auf überzeugende Weise dem entgegenarbeitet, indem er an Selbstbewußtsein, unterdrückte Wut und so etwas wie einen Gemeinschaftsgeist appelliert, gewinnt Anhänger. Sie brauchen Begeisterung, sei sie auch irregeleitet, dringender als Brot. (…)

Wer je eine Versammlung der Anhänger Le Pens, eine der biergeschwängerten Massenversammlungen zu Füßen von Franz Josef Strauß oder dem »neuen Franz« Schönhuber erlebt hat, weiß, wie hoch da die Gefühle gingen und gehen. Da fühlt sich niemand mehr einsam, unterdrückt, zum vernünftigen Tun vergattert, sondern als Teil einer singenden, brüllenden, klatschenden Gemeinschaft von Patrioten, die ihren »Mann« stellen und von einer weisungsgebenden Figur auf den Heilsweg geführt werden.

Und am nächsten Tag? Da werden sie wieder zu grauen Mäusen, zu gehorsamen Bürokraten, folgsamen Angestellten, fleißigen Lohnbeziehern. Genau wie das Management sich seine Hand- und Kopflanger wünscht. Der Gemütsfaschismus, den die Neuen Rechten zum politisch ernstzunehmenden Faktor gemacht haben, korrespondiert exakt mit dem Technofaschismus der Industriegesellschaft, indem er kompensatorisch befriedigt, was im kalten, rationalen, entfremdeten Alltag der Produktionsuntertanen und ihrer anonymen Manager vernachlässigt wird. (…)

Gegen diese Entwicklung, die dem einzelnen immer weniger Möglichkeit gibt, seine individuelle Persönlichkeit durchzusetzen, und ihn zum Mitmacher, ja zum Mitschuldigen an einer auf künftige Katastrophen hinsteuernden Entwicklung macht, haben die neuen sozialen Bewegungen der letzten zwanzig Jahre gekämpft und zunehmend Anhänger gewonnen. Ihre zunehmend techno-kritische, antikapitalistische Haltung muß den Technokraten Sorgen bereiten. Nachdem sie die Arbeiterbewegung durch Beteiligung an der ökologischen und imperialistischen Ausbeutung der Welt korrumpiert und weitgehend ruhiggestellt hatten, mußten sie gegen die Herausforderungen der Studentenbewegung, Ökobewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Arbeitslosenbewegung eine politische Bewegung finden, die nicht nur den Wirtschaftsinteressen nutzen, sondern auch die Gemüter der von Zweifeln, Angst, Unsicherheit Bedrängten gefangennehmen könnte.

In den neuen faschistischen Bewegungen haben sie nun so etwas entdeckt, und es steht zu erwarten, daß die Mächtigen nach anfänglichen Zweifeln (wie sie übrigens zunächst auch gegen die Nazis bestanden) den neuen »Führern« genügende Finanzmittel zur Verfügung stellen werden, damit sie die vom Technofaschismus um ihre Persönlichkeitskräfte Gebrachten über den Gemütsfaschismus erneut gleichschalten. Während sie selbst, die wahren »Führer«, anonym bleiben, dürfen populäre Massenredner und Agitatoren deutlich hervortreten, Sympathien gewinnen und die Bürger von ihren wirklichen Interessen ablenken.

Ein wirksamer Kampf gegen den Gemütsfaschismus verlangt die kritische Aufdeckung der Macht, die der Technofaschismus heute schon in Arbeits- und Konsumwelt übt. Doch dazu müßte noch etwas Wichtigeres kommen: Die Gegner des Technofaschismus, die Grünen und die Linken, müssen sich darum bemühen, den Bürgern nicht nur materielle oder ökologische Verbesserungen anzubieten, sondern die Visionen einer humanen Gesellschaft, für die sich die Menschen begeistern können. Mit „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ hat die Arbeiterbewegung Millionen in Bewegung gebracht. Mit Tarif- und Lohnkämpfen allein können die Herzen der Menschen nicht gewonnen werden. Wer den »Wärmestrom« des Sozialismus versiegen läßt, kann nicht hoffen, denen, die mit der »heißen Luft« eines verquasten Patriotismus falsche Wärme vortäuschen, erfolgreich Widerstand zu leisten.

Erfolgversprechender Antifaschismus darf die Emotionen der Menschen nicht vernachlässigen. Sie auf ernstzunehmende und ehrliche Weise anzusprechen und politisch einzusetzen, ist die Aufgabe einer nicht nur soziologisch, sondern auch psychologisch denkenden neuen politischen Generation, die lesen und diskutieren, aber auch zuhören und mit den Menschen sprechen kann. Nur so werden wir dem neuen Faschismus widerstehen und ihn überwinden.

Aus: Martin Kirfel und Walter Oswalt (Hg.): Die Rückkehr der Führer. Modernisierter Rechtsradikalismus in Westeuropa. Europa-Verlag, Wien 1991, S. 6-7.

Ausgewählt und kommentiert von M.A. Hans Holzinger.
Er ist wiss. Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (Imbergstr. 2, A-5020 Salzburg. Tel. (00 43-06 62) 87 32 06, Fax: 87 12 96) und seit vielen Jahren in der Friedensbewegung engagiert.

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

von Wolfgang Liebert, Corinna Hauswedell, Otfried Nassauer, Xanthe Hall, Jürgen Scheffran, Martin B. Kalinowski

in Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« e. V.,
der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) und
dem Arbeitskreis für Friedenspolitik – atomwaffenfreies Europa (AKF)

zum Anfang | Atomwaffen abschaffen!

von Wolfgang Liebert

Hoffnung auf nukleare Abrüstung hat gute Gründe. Der alte Ost-West-Konflikt mit seiner nuklearen Aufrüstungsspirale ist beendet. Die Tür zu einer anderen Zukunft ist im Prinzip bereits geöffnet: die Überwindung der nuklearen Bedrohung, die die Welt in Atem gehalten hat, und das Zurückdrehen der Rüstungsspirale ist eine reale Utopie geworden. Die Idee der atomwaffenfreien Welt muß heute von allen ernst genommen werden, denn die grundlegenden Bedingungen für die angebliche Rationalität des Kernwaffenbesitzes haben sich radikal verändert.1

Die Atempause, die sich der reichere Teil der Welt für fünf Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg unter Existenz der Atomwaffe verschafft hat, könnte bald ausgeschöpft sein. Das Vertrauen auf die nukleare Abschreckung war schon immer Laufen über dünnes Eis.2 Die alte Wurzel der Abschreckungsdoktrin war die Drohung mit dem Gebrauch von Atomwaffen, um die »andere Seite« vor dem möglichen Atomwaffeneinsatz abzuschrecken. Es ging dabei bald nicht nur um Abschreckung zwischen Atomwaffenbesitzern, sondern ebenso um den »Schutz« von Verbündeten und Sicherheitsgarantien, ausgesprochen gegenüber Dritten. Nach Ende der Konkurrenz der Systeme ist es höchste Zeit, diese Drohung mit der »wechselseitigen Vernichtung« endgültig in Frage zu stellen. Keiner weiß, ob die nukleare Abschreckung wirklich geeignet ist, den Ausbruch eines mit Kernwaffen ausgetragenen Konfliktes zu vermeiden. Zu oft stand die Welt knapp vor dem nuklearen Holocaust. Auch die Behauptung, nur die Existenz von Kernwaffen würden den Ausbruch eines größeren konventionellen Krieges zwischen industriell hochentwickelten – und damit gegen Störungen der Infrastruktur besonders anfälligen – Staaten glaubhaft ausschließen können, ist durch nichts zu beweisen. Die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Desasters quasi aus Versehen, ausgelöst durch die inhärenten Instabilitäten und Unsicherheiten eines im Prinzip anfälligen C3I-Systems sind in der Zeit der nuklearen Hochrüstung ausreichend thematisiert worden. Diese Gefahr besteht fort.

Die NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionell überlegenen Gegner lebte, ist immer noch gültig. Auch die teilweise bekannt gewordene neue russische Nukleardoktrin ist nun auf diese erweiterte Abschreckungsdoktrin eingeschwenkt. Die fehlende Logik solcher Sicherheitskonzeptionen ist offensichtlich: Kann man wirklich das eigene Land verteidigen durch Einsatz von Nuklearwaffen (möglicherweise sogar innerhalb des eigenen Territoriums), wobei ein massiver nuklearer Vergeltungsschlag zu gewärtigen ist? Wer sich so verteidigen will, nimmt die Vernichtung des eigenen Landes und weiter Landstriche der Erde (oder sogar den Weltenbrand) in Kauf.

In Bezug auf den Atomwaffenbesitz stellt sich die Situation heute so dar: Wer glaubt vorbringen zu können, der Besitz von Nuklearwaffen oder die Einbettung in eine Strategie, die den Atomwaffenbesitz auf dem eigenen Territorien erlaubt oder erfordert, diene dem Erhalt der eigenen Souveränität, muß zugestehen, daß diese Argumentation auch von anderen Staaten, die nicht den Status einer offiziellen Atommacht haben, mit demselben Recht übernommen werden kann. Eine Globalisierung dieser fatalen Argumentationsweise wäre auf die Dauer kaum aufzuhalten. Dies wäre das Ende jeder Bemühung um die Nichtweiterverbreitung der Atomwaffen. Ein Ausweg aus dem Dilemma besteht im Grunde nur in einer Reduktion der Atomwaffenarsenale auf Null, auch wenn man für die Übergangsphase dorthin möglicherweise zugestehen mag, daß eine einseitige Existenz von Kernwaffen eine noch instabilere Situation herbeiführen mag.

Die atomare Bedrohung besteht fort

Aber noch immer sind rund 40.000 intakte atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von mehr als einer Million Hiroshimabomben in der Welt. Mehr als 20.000 davon befinden sich zur Zeit offiziell in den Arsenalen der Atomwaffenmächte – der Löwenanteil davon in Rußland und den USA. Die weiteren offiziellen Atommächte Frankreich, China und Großbritannien besitzen jeweils weniger als 500 Atomsprengköpfe. Israel könnte bereits 100-200 Atomwaffen produziert haben. Aus einer Abschätzung des produzierten Waffenstoffes ergeben sich für Indien und Pakistan mögliche Arsenale von je 40-80 bzw. 10-30 Kernwaffen. Auch in Deutschland sind immer noch Atomwaffen stationiert.

Der nukleare Abrüstungsprozeß zwischen den USA und Rußland ist in der Endphase des Kalten Krieges in Gang gekommen und wird trotz immer neuer Gefährdungen bislang durchgehalten. Die akute Gefahr des nuklearen Weltbrandes ist reduziert worden, u.a. durch die Verbannung der landgestützten Mittelstreckenwaffen, den Rückzug von Atomwaffen von Oberwasserschiffen oder verschiedenste Maßnahmen zur teilweisen Beendigung der Alarmbereitschaft.

Allerdings wurden bis vor kurzem im Bereich der strategischen Arsenale die Zielzahlen des START-II-Vertrages, der immer noch nicht von beiden »Supermächten« ratifiziert ist, als vorläufiger Endpunkt angesehen. Falls der START-II-Vertrag umgesetzt wird, ist mit insgesamt etwa 10.000 nuklearen Sprengköpfen in den offiziellen strategischen und nicht-strategischen Arsenalen Rußlands und der USA im Jahre 2003 zu rechnen. Die strategischen Nuklearstreitmächte von je 3.000 bis 3.500 Sprengköpfen werden dann jeweils zur Hälfte auf Unterseebooten stationiert sein. Die andere Hälfte soll zum größeren Teil in Cruise Missiles für die Bomberflotten und zum kleineren Teil auf landgestützten Interkontinentalraketen bereitgehalten werden. So wird vielleicht im Jahr 2003 wieder in etwa das zahlenmäßige Niveau erreicht sein wie im Jahr 1970, als der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen, der sogenannte Atomwaffensperrvertrag, in Kraft trat. Atomwaffenarsenale mit einem mehrfachen Overkill werden weiter die Welt bedrohen.

Ein Abrüstungsprozeß in Richtung Null ist dies keineswegs. Im Gegenteil: Nach dem Willen der Atommächte und ihrer Verbündeten sollen uns die Atomwaffen und die atomare Bedrohung auf Dauer erhalten bleiben. Dementsprechend gehen auch die Bemühungen kleinerer oder weniger einflußreicher Staaten weiter, in den Besitz der Bombe zu kommen, oder ihre schon vorhandenen, noch sehr bescheidenen Arsenale zu vermehren.

Gefahren der Weiterverbreitung

Wer Atomwaffen produzieren will, braucht geeignete Waffenstoffe. Für einen »Neuling« ist dies die entscheidende Hürde; der volle Waffentest spielt zunächst eher eine untergeordnete Rolle. Wer nuklearen Spaltstoff oder zusätzlich fusionsfähigen superschweren Wasserstoff (Tritium) besitzt, kann im Prinzip Atomwaffen bauen. Wer Waffenstoff produzieren will, der braucht Atomtechnologie: Urananreicherungstechnologie oder Reaktoren in Verbindung mit Wiederaufarbeitungstechnologie zur Abtrennung von Plutonium.

Eine ganze Reihe von Ländern haben bereits Zugriff auf mindestens eine dieser beiden Technologiebereiche. In der Liste dieser Länder finden sich alle offiziellen und inoffiziellen Atomwaffenstaaten wieder, daneben Staaten, die früher Waffenprogramme betrieben, wie Brasilien oder der Irak und Südafrika, das tatsächlich über lange Jahre eigene Atomwaffen besaß. Weiterhin haben eine Reihe von industrialisierten Ländern wie Japan, Deutschland, Belgien, die Niederlande und in einem gewissen Maße auch Kanada, Italien und Spanien durch die Beherrschung von sensitiven Nukleartechnologien, die zur Produktion von Waffenstoffen geeignet sind, eine prinzipielle Atomwaffenfähigkeit erlangt. Argentinien und Nordkorea (in der Vergangenheit auch Taiwan und Schweden) bemühten sich ebenfalls – teilweise erfolgreich –, diesen technologischen Stand zu erreichen.

Die weltweit angehäuften Mengen an Waffenstoff sind enorm: über 2.000 Tonnen hochangereicherten Urans (HEU) und etwa 270 Tonnen Plutonium im militärischen Bereich. Diese Zahlen sind im Vergleich zu sehen mit der für eine einfache Atomwaffe benötigten Menge: 10-20 Kilogramm HEU oder einige Kilogramm Plutonium.

Die einzigen zivilen Nutzer von waffenfähigem HEU sind heute nur noch eine Reihe von Forschungsreaktoren. Durch Umstellung (fast) aller Reaktoren auf schwach angereicherten Brennstoff besteht Hoffnung auf eine weitere Reduktion des Bedarfs bis auf Null und damit einer Eliminierung der Umnutzungsgefahr für Waffenzwecke. Eine gefährliche Ausnahme von diesen international koordinierten Bemühungen stellt der in Bau befindliche Garchinger Forschungsreaktor dar.3

Mindestens 1.000 Tonnen Plutonium liegen bereits im zivilen Bereich auf Halde, zum überwiegenden Teil noch eingebettet in den abgebrannten Reaktorbrennstoff, der so eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Formen der technischen Wiederaufarbeitung überwunden werden kann. 130 Tonnen werden aber bereits in abgetrennter Form im zivilen Bereich gelagert. Der größte Teil davon könnte ohne große technische Schwierigkeiten jederzeit auch für Waffen Verwendung finden. Die Wiederverwertung des Plutoniums als Reaktorbrennstoff wird – auch schlicht aus ökonomischen Gründen – nur sehr zögernd betrieben, so daß die Produktion und Verwertung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennelementen (MOX) mit der wachsenden Wiederaufarbeitungsrate nicht Schritt halten kann. Im Jahr 2010 könnten die im zivilen Bereich gelagerten abgetrennten Putoniummengen die für militärische Zwecke produzierten Mengen bereits deutlich übersteigen.

Es gibt keine absolute Sicherheit, daß die vorhandenen gigantischen Mengen an Waffenstoff nicht militärisch genutzt oder immer vollständig in der Hand der jetzigen Besitzerstaaten bleiben werden. Schon ein Hundertausendstel dieser Mengen in den Händen von terroristischen Gruppen oder machtgierigen Staatenlenkern in anderen Ländern würden erhebliche Gefahren heraufbeschwören. Ebenso ist die Abzweigung von Waffenstoff aus zivilen Programmen für Atomwaffenprogramme eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr. Im Irak ist in den achtziger Jahren genau ein solch zivil-militärisch angelegter Doppelpfad Richtung Atomwaffe verfolgt worden. In Brasilien wurde über viele Jahre ein ziviles Atomprogramm mit deutscher technologischer Unterstützung bei gleichzeitiger Verfolgung eines militärischen, sogenannten »Parallelprogrammes« durchgeführt. Es scheint so zu sein, daß in der Frühzeit der meisten Atomprogramme mit zivilen Deckmänteln und der Parallelverfolgung von offen betriebenen zivilen und geheimgehaltenen militärischen Programmen operiert wurde. In einer Reihe von Fällen läßt sich heute nachweisen, daß die unausgesprochenen militärischen Zielsetzungen die zivile Entwicklung maßgeblich beeinflußt haben.4

Wenn wir die nukleare Proliferationsgefahr ernst nehmen, stehen wir mithin nicht nur vor dem medienwirksam inszenierten Problem, wie mit nuklearen Ambitionen finsterer Diktatoren umzugehen ist, sondern wir sind damit konfrontiert, daß augenscheinlich die angeblich rein zivile Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Industrie im Nuklearbereich selbst im Kern des Problems steht.5 Politisch definierte nukleare Optionen können entstehen und vergehen und sind dem raschen historischen Wandel unterworfen. Für einmal geschaffene technische Optionen mit Relevanz für die Atomwaffe gilt dies in der Regel nicht.

Das nukleare Nichtverbreitungsregime, in dessen Kern der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) steht, der im Mai 1995 nach 25-jähriger Laufzeit auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, bietet nicht die Lösung für dieses Problem. Das Vertragswerk ist mit einigen entscheidenden Mängeln behaftet. Dazu gehört, daß der zivil-militärischen Ambivalenz wesentlicher Nukleartechnologien zu wenig Beachtung geschenkt wird. Man hofft lediglich darauf, daß durch die Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdeckt werden kann. Kann man einem solchen System von Maßnahmen – unterhalb der Schwelle einer echten Kontrolle – Vertrauen schenken? Das ohnehin schwach ausgebildete System von Verfahren technischer Überwachung muß prinzipiell lückenhaft bleiben und kann daher keine wirkliche Gewähr dafür bieten, daß eine sichere Abgrenzung ziviler Programme von möglicher militärischer Nutzung erfolgt.6

Weg in die atomwaffenfreie Welt

Was sind die Ingredienzien einer atomwaffenfreien Welt?

  • Erstens werden alle Atomwaffen demontiert und die darin enthaltenen Waffenstoffe zunächst sicher verwahrt. In längerfristigerer Perspektive müßten sie dann nicht rückholbar beseitigt werden.
  • Zweitens darf es keine schnelle Möglichkeit zum Wiederaufbau von Arsenalen durch vorhandene Technologien und Infrastruktur geben. Verifikationsmaßmahmen werden eingeführt, um den Weg zum erneuten oder erstmaligen Atomwaffenbesitz – insbesondere durch Verlängerung und Verteuerung des Weges dorthin – empfindlich zu erschweren und entdeckbar zu machen.
  • Drittens muß eine stabile Weltfriedensordnung etabliert werden, die das Sicherheitsinteresse aller Staaten sowie aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen befriedigt.
  • Viertens muß die Wissenschafts- und Technikentwicklung auf deutliche und ständig reflektierte Distanz zu atomwaffenrelevanten Bemühungen gehen, um zu vermeiden, daß alte Schleichwege oder neue Schlupflöcher zum Atomwaffenbesitz eröffnet werden.
  • Fünftens muß der zivile technologische und industrielle Bereich so gestaltet werden, daß jegliche Optionen auf Atomwaffenbesitz (latente Proliferation) nachhaltig und eindeutig vermieden werden können.

Es ist kaum vorstellbar das Ende der Weiterverbreitung von Atomwaffen und eine unumkehrbare nukleare Abrüstung auf Null innerhalb des existierenden Systems der Nicht(weiter)verbreitung von Kernwaffen zu erreichen. Die Weiterverbreitung von Kernwaffen kann auf die Dauer nur gestoppt und zurückgenommen werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Denn solange der Besitz von Kernwaffen oder nuklearen Waffenmaterialien in der Hand einiger weniger als legitim angesehen wird, schafft dies Begehrlichkeiten bei anderen. Für den Stopp der Weiterverbreitung wie den unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt ist auf längere Sicht entscheidend, daß auch im zivilen Bereich die Aufrechterhaltung von wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme vermieden wird. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind, müssen gefunden werden.

Die Transformation des Nichtweiterverbreitungregimes zur atomwaffenfreien Welt steht an. Im Zentrum dieses neuen Regimes muß eine Nuklearwaffenkonvention stehen, die wie im Bereich biologischer und chemischer Kampfstoffe bereits geschehen, ein vollständiges Verbot international verbindlich kodifiziert.7

Die Mächtigen der Welt wollen sich bislang nicht auf einen solchen Weg zur Beendigung der atomaren Bedrohung einlassen. Die Bemühungen zur nuklearen Abrüstung in den Gremien der Vereinten Nationen sind momentan blockiert durch die Weigerung der Atomwaffenbesitzer und ihrer Verbündeten, ernsthaft über den Verzicht auf diese ultimative Waffe zu verhandlen.

Dennoch wächst der weltweite Druck, die alten Versprechungen zur nuklearen Abrüstung endlich in die Tat umzusetzen. Von wissenschaftlicher Seite ist die Möglichkeit und der Weg zur Atomwaffenfreiheit durchdacht und es sind entsprechende Vorschläge für die Politik erarbeitet worden.8 Weltweit vernetzte Nichtregierungsorganisationen (NGO) von Medizinern, Wissenschaftlern, Juristen, Bürgerinnen und Bürgern versuchen die öffentliche Debatte und die zähen Bemühungen auf dem internationalen diplomatischen Parkett durch gezielte Aktivitäten voranzubringen.

Nur wenn die Menschen weltweit deutlich machen, daß sie die atomare Bedrohung endlich abschütteln wollen, besteht eine Chance, daß auch die Regierungen aktiv den Weg in die atomwaffenfreie Welt gestalten.

Literatur

Hussein, Bernadette 1997a. Mururoa – the untold story, in: Pacific Islands Monthly, January, 17-18.

Hussein, Bernadette 1997b. Checking the damage, in: Pacific Islands Monthly, January, 14-16.

Grimmel, Eckhard 1985. Die Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik (Auszüge), in: Frieden und Abrüstung; Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion, hrsg. v. d. Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) (Bonn), S.10-14

IPPNW 1995. Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde; Atomtests unter, auf und über der Erde: Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt; Ein Bericht der „Internatonalen IPPNW-Kommission zur Untersuchung der Auswirkungen der Atomwaffenproduktion auf Gesundheit und Umwelt“ sowie des „Instituts für Energie- und Umweltforschung (IEER)“ (Berlin: IPPNW), 2. Auflage.

Worm, Thomas 1995. Muroroas strahlendes Geheimnis, in: die tageszeitung, 12.7.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

zum Anfang | Die »Göttinger 18« und das friedenspolitische Engagement von Wissenschaftlern heute

von Corinna Hauswedell

Mit ihrem öffentlichen Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Jahre 1957 konstituierten die als »Göttinger 18« bekannt gewordenen westdeutschen Physiker einige typische Merkmale für das künftige friedenspolitische Engagement von (Natur)Wissenschaftlern: Ihr inhaltlicher Fokus der »taktischen Atomwaffen« ermöglichte ein Eingreifen in eine aktuelle sicherheitspolitische Auseinandersetzung, ihr verantwortungsethisches Anliegen richtet sich bereits damals auf die allgemeinen Gefahren der Technikentwicklung im Atomzeitalter (obschon die »Göttinger« in ihrer Erklärung die Bedeutung der „friedlichen Verwendung der Atomenergie“ besonders unterstrichen). Vor allem aber signalisierte ihr Wirkungsinteresse, als »Nichtpolitiker« Fachwissen an die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsinstanzen heranzutragen, das Auftreten einer neuen Art von (Gegen)Experten in der sicherheitspolitischen Arena des Kalten Krieges.

Im ideologischen Streit jener Zeit, der auch die »Göttinger Erklärung« begleitete, sah sich einer ihrer Unterzeichner, Carl Friedrich von Weizsäcker genötigt, gegen den Vorwurf des Vaterlandsverrats und der Inkompetenz, der den Wissenschaftlern seitens der damaligen Bundesregierung entgegengebracht wurde, die Ziele der Gruppe zu erläutern:

Erstens: Der Westen schützt seine Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Drohung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen, deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß überzeugt dartun, daß er die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt, wir hätten unseren Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“9

So markierte die »Göttinger Erklärung« auch den Weg vom individuellen Protest zum Gruppenprotest, von der Verweigerung der Mitarbeit einzelner an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu einer politischen Einflußnahme zugunsten von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte fanden sich diese Merkmale friedenspolitischer Expertise in einem zunehmend internationalen Engagement verschiedener Gruppen von »political« scientists wieder.

Die 1957 im gleichnamigen kanadischen Ort initiierten »Pugwash-Konferenzen« einer zunächst kleinen Gruppe US-amerikanischer und sowjetischer Atomwissenschaftler übernahmen eine vetrauensbildende Beratungsfunktion zwischen den Supermächten, im Hintergrund der ersten Rüstungskontrollabkommen (Atomteststop-Vertrag 1963, Nichtweiterverbreitungsvertrag 1968, ABM-Vertrag 1972), sodann bei den biologischen und chemischen Waffen sowie bei der konventionellen Rüstung. Die jeweilige Fokussierung der Pugwash-Arbeit auf einzelne Rüstungsvorhaben (später kamen auch nichtmilitärische globale Konfliktursachen hinzu) half, Bedrohungsvorstellungen der anderen Seite im Ost-West-Konflikt zu relativieren. Es waren vor allem die der »international scientific community« entlehnten Arbeits- und Kommunikationsstrukturen der Pugwash-Gruppe, die dazu beitrugen, in den Köpfen auch der politischen Eliten neben der Abschreckungslogik Platz zu machen für die Rationalität der Rüstungsbegrenzung. Neuere Untersuchungen vollziehen die Wege nach, auf denen die Pugwash-Gruppe und andere friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik der sechziger und der frühen siebziger Jahre gewannen (mit Rückwirkungen auf die US-Politik) und dann in neuem Umfang in den achtziger Jahren auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow.10

Die stärker sozialwissenschaftlich geprägte »Kritische Friedensforschung« in der Bundesrepublik, die spät (1969/70) und auch in Auseinandersetzung mit den US-amerikanischen »arms-control«-Schulen entstanden war, hatte sich ebenfalls im schwierigen Spannungsfeld zwischen radikaler Abschreckungskritik (»Pathologie des Rüstungswettlaufs«), umfassender Konfliktursachenforschung und Policy-Orientierung für die beginnende Ost-West-Entspannung zu bewegen. Anfänglich beteiligte Naturwissenschaftler traten bald in den Hintergrund. Eine von vielen gewollte transdisziplinäre Zusammenarbeit rieb sich in der Praxis an den traditionellen Fächergrenzen und den Herausforderungen normativer Wissenschaftsansprüche. Dabei spielten auch die unterschiedlichen akademischen Traditionen und Selbstverständnisse der »zwei Kulturen« in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften eine gewisse Rolle. Es war nicht leicht, einen gemeinsamen Themen- und Methodenkanon für die »harten« und die »weichen« Felder der jungen Friedenswissenschaft zu entwickeln.

Mit der moralischen Ausstrahlungskraft der (naturwissenschaftlichen) Anti-Atomethik wurde nicht nur die Friedensforschung in den frühen achtziger Jahren erneut konfrontiert, als die Ost-West-Entspannung unter die Räder der Nuklearkriegsdebatte, der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa und des US-Weltraumprogramms SDI zu geraten drohte.

Die im Kontext der Friedensbewegung der achtziger Jahre etablierten neuen Wissenschaftlerinitiativen vor allem aus den Reihen der Natur-, Ingenieur- und Informationswissenschaften sowie der Medizin (die internationale Ärzteorganisation IPPNW erhielt 1985 den Friedensnobelpreis) eröffneten mit ihrer militärkritischen Analyse und Expertise und durch die Art ihres bürgernahen Engagements einen großen öffentlichen Wirkungsradius – im nationalen wie im internationalen Rahmen.11 Sie knüpften in ihrem aufklärerischen Anspruch auch an die atompazifistischen Traditionen der fünfziger Jahre an; die Bildung eigener (Vereins)Strukturen – die Naturwissenschaftler Initiative »Verantwortung für den Frieden« gewann über 1.000 Mitglieder unter Hochschullehrern und Studenten –, ihre kontinuierliche Kongreß- und Publikationstätigkeit sowie die Initiierung von naturwissenschaftlichen Projekten der Abrüstungsforschung an bundesdeutschen Hochschulen wiesen jedoch über den appellativen Ansatz der »Göttinger 18« hinaus.

Während Friedensforscher durch ihre Arbeit an Konzepten einer »Gemeinsamen Sicherheit« neue sicherheitspolitische Rahmenbedingungen für Europa entwarfen, die auch im Osten auf Resonanz stießen, verstärkten friedensengagierte Naturwissenschaftler und Mediziner ihrerseits durch internationale Kommunikation den neuen Spielraum in der Sowjetunion in den achtziger Jahren: Durch Arbeiten an defensiven Verteidigungskonzepten, durch ihre Argumente gegen SDI und die Betonung globaler Überlebensinteressen jenseits der Blockkonstellation förderten sie die Bereitschaft für einseitige Schritte aus dem Rüstungswettlauf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Veränderungen vollzogen, auf die sich ein zeitgemäßes friedenswissenschaftliches Engagement einstellen muß:

  • Die neue Themenvielfalt von Abrüstungsmanagment bis Konfliktpräventation, von Friedensursachenforschung bis Friedenskonsolidierung erschwert zunächst eine politisch wirksame Konsensbildung und Fokussierung kritischer Expertise.
  • An die Stelle einer ideologisierten Nukleardiskussion ist die pragmatische Arroganz der Atomwaffen besitzenden Staaten getreten, die es den Schwellenländern nicht erleichtern, auf dieses (alte und neue) Symbol nationalstaatlicher Macht zu verzichten. Friedenswissenschaftler müssen ein neues strategisches Design entwerfen, in dem gemeinsame Interessen an nuklearer Abrüstung im nationalen und internationalen Rahmen identifiziert werden.
  • Neue diffuse Feindbildkonstellationen behindern die Entwicklung wirksamer Kontrollregime im Bereich der nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen.
  • Als negative Begleiterscheinung des begonnenen Abrüstungsprozesses ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme des weltweiten Handels mit »überschüssigen« Waffen zu verzeichnen – besonders mit Kleinwaffen für die Krisenherde der Dritten Welt. Die UN werden auf diesem prekären Gebiet ohne kompetente unabhängige Politikberatung nicht handlungsfähig werden.
  • Immer schwieriger wird es, militärische und zivile Forschung und Entwicklung von einander abzugrenzen, »Dual-use« erscheint als Allheilmittel bei der Restrukturierung der übergroßen Rüstungs-High-Tech-Komplexe, vor allem in den USA. Das Hereinreichen militärischer Dimensionen in zivile Fragen der Technikfolgenbewältigung könnte eine neue sinnvolle Kooperation von Natur- und Gesellschaftswissenschaften begründen.

Politisches Engagement von (Natur)Wissenschaftlern ist seit den »Göttinger 18« – mit einem deutlichen Schub in den achtziger Jahren – selbstverständlicher geworden. Der politisch-moralische und fachliche Impuls der »Göttinger 18« und anderer engagierter Naturwissenschafter haben dazu beigetragen, daß das nüchterne, auf behauptete Wertfreiheit basierende Image dieser Disziplinen zu erodieren begann. Pugwash und ihrem Präsidenten Joseph Rotblat ist mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 eine späte Würdigung ihrer friedenspolitischen Beiträge zu Teil geworden.

Epistemische Gemeinschaften mit einem erklärten Normen- und Methodenkonsens haben sich anhand zentraler Problemfelder, z.B. in der Ökologie oder der Gentechnik, gebildet. Als wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Thematisierung globaler militärischer und nichtmilitärischer Gefahren können heute die Frühwarnfunktion kritischer Expertise, der Aufbau internationaler Netzwerke und die Arbeit an strategischen Konzepten, die Ad-hoc-Forderungen und längerfristige Perspektive verbinden, gelten.

Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)

zum Anfang | Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn Atomwissenschaftler (12.4.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als „taktisch“ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als „klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, beläd uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

Fritz Bopp • Max Born • Rudolf Fleischmann • Walther Gerlach • Otto Hahn • Otto Haxel • Werner Heisenberg • Hans Kopfermann • Max v. Laue • Heinz Maier-Leibnitz • Josef Mattauch • Friedrich-Adolf Paneth • Wolfgang Paul • Wolfgang Riezler • Fritz Strassmann • Wilhelm Walcher • Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker • Karl Wirtz

zum Anfang | Zur Rolle nuklearer Waffen in der russischen Politik

von Otfried Nassauer

Braucht Rußland heute und morgen Nuklearwaffen? In dieser Frage gibt es nationalen Konsens. Alle – militärische Experten, zivile Forscher und Politiker – fordern einstimmig: Rußland braucht nukleare Waffen – heute so sehr wie in der Zukunft.“ Starke Worte in einer Studie der Russisch-Amerikanischen Universität (RAU), angefertigt im vergangenen Jahr für die russische Duma. Die atomwaffenfreie Welt im Jahre 2000 – für Michail Gorbatschow mag sie ganz oben auf der Tagesordnung gestanden haben, unter Boris Jelzin hat sie kaum Priorität. Die Duma zeigt sich wenig geneigt, den START-II-Vertrag zu ratifizieren; mit der Abrüstung taktischer Atomwaffen geht es langsamer voran als vorgesehen. Der so hoffnungsvoll Geschwindigkeit gewinnende atomare Abrüstungszug droht zum Stillstand zu kommen.

Der Gründe gibt es viele. Die geplante Ausdehnung der NATO nach Osten droht zu einer grundsätzlichen Neubewertung atomarer Waffen für die Sicherheit Rußlands zu führen. Dies gilt für strategische wie für taktische Atomwaffen. Nuklearwaffen, so glauben viele in Rußland, sind die letzte Garantie für den Status der Nation als Großmacht. Sie zwingen den Westen, sich gegenüber Rußland kooperativ zu verhalten. Andere betonen, daß atomare Waffen angesichts der wirtschaftlichen Lage die billigste Form der Abschreckung darstellen – auch gegen einen konventionellen Angriff der NATO mit überlegenen Kräften. So gewinnen Nuklearwaffen angesichts der gegenwärtigen »Schwäche« Rußlands eine neue Legitimation, die weltweit die weitere atomare Abrüstung blockieren kann.

Die russische Opposition gegen START-II

In der russischen Diskussion über die strategischen Atomwaffen dominieren folgende Positionen:

  • Der START-II-Vertrag ist auf Dauer nicht im Interesse Rußlands, da Rußland, wollte es die ihm in diesem Vertrag zugestandenen Höchstgrenzen an Nuklearwaffen auf den jeweils zulässigen Trägersysteme dauerhaft ausschöpfen, bis zu 690 landgestützte Interkontinentalraketen mit je einem Sprengkopf neu bauen, beschaffen und bezahlen müßte. Für die USA bestehe keine vergleichbare Notwendigkeit zur Umstrukturierung ihrer Triade aus land-, see- und luftgestützten Atomstreitkräften. Die Alternative, mittelfristig eine deutliche nukleare Unterlegenheit gegenüber den USA in Kauf zu nehmen oder aber erhebliche finanzielle Ressourcen, die anderweitig viel dringender benötigt werden, in die Aufrechterhaltung nuklearer Parität zu investieren, sei für Rußland unvorteilhaft. Die unter START-II gemachten Zeitvorgaben für die weitere Abrüstung seien für Rußland aus wirtschaftlichen Gründen kaum einhaltbar.
  • Der Vertrag gestatte es sowohl den USA als auch Rußland im Falle eines Ausscherens aus den Vereinbarungen, die Zahl ihrer strategischen Atomwaffen wieder zu vergrößern. Für Rußland sei nachteilig, daß START-II den USA eine viel raschere und umfangreichere Vergrößerung ihres Potentials ermögliche.
  • Das Rußland durch den Vertrag erlaubte Atomwaffenpotential sei erheblich verwundbarer als das amerikanische. Rußlands U-Boote und die kleine Bomberflotte seien technologisch unterlegen und die landgestützten strategischen Interkontinentalraketen seien künftig bei einem Angriff erheblich leichter zu dezimieren.
  • Die Erweiterung der NATO verschlimmere die Lage im Verein mit neuen technischen Entwicklungen erheblich. Zum einen könnten die USA taktische luftgestützte Nuklearwaffen künftig in einer Krise geographisch näher an den russischen Grenzen und den russischen strategischen Atomwaffen stationieren. Den taktischen Atomwaffen der USA komme damit für Rußland künftig strategische Bedeutung zu.12 Zum anderen führe die zunehmende Ausstattung der NATO-Streitkräfte mit konventionellen, luftgestützten präzisionsgelenkten Abstandswaffen dazu, daß auch diese zu einer erheblichen Gefährdung des strategisch-nuklearen Potentials Rußlands werden.
  • Schließlich sei der Versuch konservativer Kräfte in den USA, den ABM-Vertrag auszuhebeln und ab 2003 ein nationales Raketenabwehrsystem zu stationieren, auf eine Reduzierung und späte Ausschaltung der russischen Zweitschlagsmöglichkeit gerichtet.

NATO-Erweiterung, KSE-Vertrag und die Rolle nuklearer Waffen

Große Sorgen macht der russischen Politik darüberhinaus der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Der Vertrag kann als letztes rüstungskontrollpolitisches Kind des Kalten Krieges gelten. In ihm werden für eine der NATO entsprechende westliche Staatengruppe und eine dem ehemaligen Warschauer Pakt entsprechende östliche Staatengruppe Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme wie Panzer, Geschütze, Kampfhubschrauber und Flugzeuge festgelegt. Die Auflösung des Warschauer Paktes und später der Sowjetunion haben aber die sicherheitspolitische Landkarte Europas weitgehend verändert, so daß die Regelungen des KSE-Vertrages angepaßt werden müssen.

Russische Politiker und Militärs betonen immer wieder, daß durch die NATO-Erweiterung eine konventionelle Überlegenheit der NATO in der Größenordnung von drei oder gar vier zu eins entstehe.13 Überlegenheit in dieser Größenordnung schafft – so die Theorie militärischen Denkens – die Gelegenheit, erfolgversprechend Angriffe durchzuführen. Da die NATO zudem – der Golfkrieg gilt in Rußland vielen als Beleg – über qualitativ bessere Waffen verfüge, verschärfe sich aus russicher Sicht das Problem. Rußland könne ohne Ausscheren aus dem KSE-Vertrag und ohne enorme finanzielle Aufwendungen seine konventionelle Unterlegenheit nicht ausgleichen. Taktische Atomwaffen seien deshalb eine relativ preiswerte Alternative zu konventioneller Aufrüstung und Vertragsbruch. Der russische Atomminister Michailov wurde im September letzten Jahres deutlich: Rußland könne, so spekulierte er, auf die Erweiterung der NATO mit dem Bau einer neuen Generation taktischer Atomwaffen kleinster Sprengkraft reagieren und diese bei der Rohr- und Raketenartillerie sowie bei der Luftwaffe stationieren. 10.000 solcher neuen Sprengköpfe, gebaut aus dem recycelten Bombenstoff der zur Abrüstung anstehenden alten Atomwaffen, seien realisierbar. Der Teststopp-Vertrag müsse dafür nicht verletzt werden – lediglich über eine Kündigung des INF-Vertrages müsse vielleicht nachgedacht werden.

Auch wenn Michailov im Kreml für diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Zustimmung finden dürfte: Viele der russischen Argumente sind gute alte Bekannte. Es sind die Argumente der NATO aus den siebziger und achtziger Jahren. Sie prägten die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und das Denken in militärischen Kräftebalancen. Es sind – unter umgekehrten Vorzeichen – die Argumente aus einem gespaltenen Europa. Die Erweiterung der NATO – so wird es von dem größten Teil der russischen Eliten gesehen – wird eine neue Spaltung Europas, neue Trennlinien durch den alten Kontinent hervorrufen.

Nuklearwaffen in der russischen Militärdoktrin

Eine mögliche Neubewertung der atomaren Waffen hatte sich in Rußland bereits 1993 angedeutet. Damals wurde ein Dokument über »Die Grundzüge der Militärdoktrin« durch den Sicherheitsrat der Russischen Föderation gebilligt und veröffentlicht.

Das Dokument weist den Nuklearwaffen im Kern fünf Aufgaben zu: Die Abschreckung gegenüber dem US-Nuklearpotential, die Abschreckung gegenüber den Atomwaffen der anderen erklärten Atommächte, die Abschreckung eines konventionellen Angriffs auf das atomare Potential Rußlands und dessen wesentliche Infrastruktur, die Abschreckung eines großen konventionellen Angriffs sowie die Rückversicherung gegenüber Risiken aus der Proliferation. Detailliertere Forderungen hinsichtlich des erforderlichen Atomwaffenpotentials oder Beschreibungen der Einsatzstrategie sind nicht enthalten. Ebensowenig fordert das Dokument die Fähigkeit, mit Nuklearwaffen einen Krieg führen und gewinnen zu können. Abschreckung mit dem Ziel, einem „Agressor den intendierten Schaden garantiert zufügen“ zu können, steht im Zentrum.

Allerdings wiederholt das Dokument den seit 1982 gültigen deklaratorischen Verzicht der Sowjetunion auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht länger, sondern formuliert vier Ausnahmen, in denen Rußland auch auf einen Ersteinsatz zurückgreifen könnte: gegenüber einer nuklearen Macht, Verbündeten einer Atommacht, die sich an einem Angriff auf Rußland beteiligen, gegenüber anderen Staaten, die sich einem solchen Angriff anschließen und gegenüber Staaten, die dem NPT nicht beigetreten sind.

Implizit werden bereits zu diesem Zeitpunkt die mittel- und osteuropäischen Staaten gewarnt: Die Mitgliedschaft in der NATO oder die Beteiligung an militärischen Aktivitäten gegen Rußland werde sie der russischen Drohung mit dem Ersteinsatz atomarer Waffen aussetzen.

Die Interpretierbarkeit der »Grundzüge der Militärdoktrin« dürfte gewollt sein. Die russische Politik will sich ihre endgültige Entscheidung über Umfang und Funktion ihres Nuklearpotentials offenhalten, bis die grundlegenden Entscheidungen über die künftigen Strukturen europäischer Sicherheit gefallen sind.

Diese Entscheidungen stehen in den kommenden zweieinhalb Jahren an. Ihre Grundlinien sollen – unter dem Druck des NATO-Zeitplans für die Aufnahme neuer Mitglieder – noch bis zum NATO-Gipfel im Juli 1997 festgelegt sein.

Neue Kompromißlinien – neue Abrüstungschancen?

Seit Ende letzten Jahres reagieren die NATO-Staaten erstmals mit signifikanten Veränderungen ihrer Positionen auf die veränderte Diskussion in Rußland. Die hohe Priorität, die Washington und Brüssel der politischen Durchsetzung der Osterweiterung der Allianz zumessen, fordert rüstungskontrollpolitische Kompromisse.

Der damalige US-Verteidigungsminister William Perry signalisierte, über ein START-III Rahmenabkommen könne verhandelt werden, ohne daß Rußland zuvor den START-II-Vertrag ratifiziere. Die Möglichkeit eines solchen Vorgehens wird mittlerweile in bilateralen Gesprächen auf hoher Ebene ausgelotet. Dabei zeigte sich, daß letztlich auch im Bereich der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Europa neue Bewegung enstehen könnte.

Um russischen Befürchtungen entgegenzutreten, die NATO werde taktische Nuklearwaffen auf dem Boden der neuen Mitgliedsstaaten und damit erheblich näher an Rußland und dessen strategischen Atomwaffen stationieren, erklärte der NATO-Rat im Dezember 1996: „die NATO-Länder (haben) nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren (… – und wir sehen dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit.“

Aus russischer Sicht ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung, allerdings kein hinreichender. Zum einen will Rußland, daß die NATO auch in Krise oder Krieg keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert. Indirekt wird damit auch ein Verzicht auf den Aufbau einer Infrastruktur zur Lagerung von Atomwaffen für den Krisenfall gefordert. Zum anderen möchte Rußland den Verzicht der NATO rechtlich bindend verankert wissen. Als Präzedenzfall gilt Rußland dabei der 2+4-Vertrag.

Die letzte Forderung bringt die NATO in eine Zwickmühle. Kann das Bündnis rechtlich verbindlich auf die Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium von Staaten verzichten, die sich das Recht auf eine solche Stationierung und die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der NATO für die Zukunft vorbehalten wollen? Würde die NATO nicht zwei Klassen von Bündnismitgliedern unterschiedlicher Rechte und Pflichten schaffen?

Auch hier deutet sich ein möglicher Ausweg an: Alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen, die in den neuen Mitgliedsstaaten der Allianz stationiert werden könnten, gehören den USA. Als Nationalstaat können die USA eine bindende Zusage abgeben, auf die Stationierung atomarer Gefechtsfeldwaffen in den neu aufzunehmenden NATO-Staaten zu verzichten. In bilateralen amerikanisch-russischen Gesprächen wird deshalb ventiliert, ob eine für Rußland hinlängliche Zusage in den Kontext einer Rahmenvereinbarung über START-III aufgenommen werden kann.

Manche Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter. Wird im Rahmen von START-III erst einmal über taktische Atomwaffen geredet, so könnten dort (oder in entsprechenden Zusatzprotokollen) auch weitere Abrüstungsvereinbarungen über atomare Gefechtsfeldwaffen in Europa und anderswo aufgenommen werden. Damit könnte ein einheitlicher Rahmen für alle nuklearen Abrüstungsbemühungen und einheitliche Obergrenzen für taktische und strategische, aktive und inaktive Atomsprengköpfe entstehen. Auch Zahlen wurden in diesem Zusammenhang bereits genannt: Zwischen 1.000 und 2.500 Atomsprengköpfe würde jede der beiden Seiten behalten.14

Ein solches Vorgehen weist auch aus NATO-Sicht erhebliche Vorteile auf. In Brüssel hegt man seit geraumer Zeit Befürchtungen, daß Rußland die 1991 einseitig versprochenen Reduzierungen und Außerdienststellungen taktisch-nuklearer Gefechtsfeldwaffen bis heute nicht vollständig umgesetzt hat. In Rußland seien – so die NATO – wahrscheinlich weiterhin Tausende, wenn nicht mehr als zehntausend taktische atomare Gefechtsfeldwaffen vorhanden. Gleichgültig, ob Rußland seine zugesagten Reduzierungen aus finanziellen Gründen oder aus Mangel an geeigneten Delaborierungskapazitäten nicht umsetzen konnte oder ob die russische Administration diese Selbstverpflichtungen aus außen- oder innenpolitischen Gründen nicht vollständig umsetzen wollte: Auf diese Waffen wollen jene russischen Militärs zurückgreifen, die mit einer russischen Kopie der NATO-Strategie der flexiblen Antwort auf die konventionelle Überlegenheit der NATO antworten wollen. Sie verweisen damit auch auf ein weiteres Problem: Rußland wird weitreichenden nuklearen Abrüstungsschritten nur dann zustimmen können, wenn die NATO ihm auch bei KSE-2, der konventionellen Abrüstung, deutlich weiter als bisher entgegenkommt.15

Die äußerst enge Verzahnung der Problembereiche NATO-Erweiterung, Aktualisierung des KSE-Vertrages, START-III und NATO-Rußland Verhältnis wird deutlich: Solange die NATO ihr Versprechen einer strategischen Partnerschaft mit Rußland nicht auch aus russischer Sicht erfüllt und solange in Rußland Befürchtungen existieren, die NATO könne sich erneut als Gegner erweisen, solange blockiert die NATO-Erweiterung sowohl die konventionelle als auch die nukleare Rüstungskontrolle. Sicherheit in Europa kann nur mit Rußland, nicht aber gegen Rußland gestaltet werden.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

zum Anfang | IPPNW-Bericht über primitive Kernwaffen

Erneut haben die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) vor dem Risiko nuklearer Erpressung durch terroristische Gruppen gewarnt, da seit dem Ende des Kalten Kriegs Atommaterial immer leichter zu beschaffen sei und aufgrund des ohnehin problemlosen Zugangs zu den für den Bau eines einfachen Kernsprengsatzes erforderlichen Informationen.

Der von der IPPNW vorgestellte Bericht »Crude Nuclear Weapons: Proliferation and Terrorist Threat« analysiert eingehend die Bestandteile und das technische Know-how, die für den Bau der drei Typen von »Mini-Nukes« erforderlich sind, die am leichtesten in die Hand von Terroristen fallen können. Diese Typen wären:

  • Sprengsätze vom Hiroshima-Typ (gun type), die die geringsten Konstruktionsprobleme bereiten, aber große Mengen an hochangereichertem Uran erfordern würden – ein Material, das sich nach wie vor unter strenger militärischer Kontrolle befindet.
  • Implosionsgezündete Sprengsätze nach Art der 1945 über Nagasaki abgeworfenen Bombe wären schwieriger zu konstruieren, und ihre Herstellung wäre mit größeren Risiken verbunden. Man würde für sie jedoch nur umgewandeltes Reaktorplutonium benötigen. Eine Waffe dieser Art herzustellen, so die Einschätzung der Autoren, läge durchaus im Rahmen der Möglichkeiten einer kleinen Gruppe, die über größere finanzielle Mittel verfügt.
  • Der dritte Typ ist ebenfalls ein implosionsgezündeter Sprengsatz, für den jedoch leichter zu beschaffendes Plutoniumoxid verwendet wird. Er wäre am leichtesten zu konstruieren. Doch seine Sprengkraft sei nur schlecht kalkulierbar. Andererseits könnte er gerade durch seine Fähigkeit, weite Flächen mit Plutonium und anderem radioaktivem Material zu kontaminieren, für terroristische Organisationen besonders attraktiv werden.

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß eine terroristische Gruppe, die entschlossen genug ist, sich 55-60 Kilogramm hoch angereichertes Uran oder kleinere Mengen Plutonium oder Plutoniumoxid zu verschaffen, eine primitive Kernwaffe bauen könnte. Die Maßnahmen der Staaten zur Sicherung spaltbaren Materials (u.a. des bei der Verschrottung von Atomwaffen angefallenen) seien „chaotisch und ineffizient“. In Rußland würden Maßnahmen, die das kriminelle Abzweigen von Atommaterial ausschlössen, durch die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zusätzlich erschwert. Und es sei nicht unwahrscheinlich, daß einige terroristische Gruppen einen Kernsprengsatz bauen würden, falls sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet.

In der Zusammenfassung ihres Berichts fordert die IPPNW:

  • Die internationale Kontrolle spaltbaren Materials zu verschärfen und Schritte zu seiner Endlagerung in die Wege zu leiten;
  • das Problem der weltweiten Nachfrage nach spaltbarem Material, sei es ziviler oder militärischer Herkunft, bei seinen Wurzeln anzugehen;
  • internationale Lösungen für die Probleme der Atomproliferation und eines möglichen Atomterrorismus zu entwickeln, die über die eng definierten »nationalen Sicherheitsinteressen« der USA, Rußlands und anderer Atomwaffenstaaten hinausgehen;
  • anzuerkennen, daß die endgültige Abschaffung der Atomwaffen die einzige sinnvolle Möglichkeit ist, langfristig den Gefahren zu begegnen, die von einem möglichen Atomterrorismus ausgehen.

Kein Erpressungsversuch wäre durchschlagender, als wenn es einem Terroristen gelänge, eine ganze Stadt zur Geisel zu nehmen“, meint Bernard Lown, der Mitbegründer und langjährige Co-Präsident der IPPNW in seinem Vorwort. „Kein anderes Zerstörungsinstrument kann einem Gemeinwesen größere Verheerungen zufügen oder einer größeren Zahl von Menschen das Leben kosten. Nur zu bald könnten Terroristen auf den Gedanken kommen, nicht nur ein einzelnes Gebäude in Schutt und Asche zu legen, sondern eine ganze Großstadt zusammen mit ihrem Einzugsgebiet mittels einer Kernwaffe in ein atomares Inferno zu verwandeln.“

(Geschrieben wurde »Crude Nuclear Weapons« von dem Geschäftsführer von IPPNW International, Gururaj Mutalik, dem Kernphysiker und Abrüstungsexperten Frank Barnaby und den wissenschaftlichen Beratern Peter Taylor und David Summer. Der Bericht ist der erste einer neuen Serie von IPPNW-Publikationen mit dem Titel »Global Health Watch Reports«.)

John Loretz, Redaktion Medicine And Global Survival
Übersetzung: Sebastian Scholz
Dieser Artikel wurde erst in „Arzt und Umwelt/Medizin und Globales Überleben“, 1/97 veröffentlicht.
Die volle Studie in englischer Sprache (70 Seiten) oder eine Zusammenfassung auf deutsch (20 Seiten) sind von der IPPNW-Geschäftstelle, Körtestr. 10, 10967 Berlin, zu beziehen.

zum Anfang | Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik

von Steffen Rogalski

Bei der Untersuchung geologischer Folgen und Risiken der französischen Atomtests in Polynesien geht es zum einem um die Folgen von atomaren Explosionen in vulkanischen Atollen generell und zum anderen um die speziellen Folgen für Mururoa und Fangataufa. Dabei ist interessant zu wissen, daß die USA ihre Tests auf pazifischen Inseln unter anderem wegen deren ungünstiger geologischer Strukur einstellten.16 Auch die Untersuchungen des Instituts für Ozeanographische Wissenschaften in South Hampton auf ähnlichen vulkanischen Inseln (Hawaii und Kanaren) bestätigten die besonderen Risiken.17

Bereits 1979 waren die Schäden an der 24 Kilometer langen Riffkrone Mururoas erheblich. In französischen Militärkarten aus dem Jahre 1980 ist eine 3,50 Meter breite und mehrere Kilometer lange Spalte verzeichnet, ebenso wie mehrere Spalten längs und seitwärts. Deswegen warnten bereits 1981 auf dem Atoll arbeitende Ingenieure vor einem weiteren Absinken der Insel. 1987 besuchte der französische Meeresforscher Jacques Cousteau Mururoa. Seine Aufnahmen von meterbreiten Rissen in den Inselflanken unter Wasser, die von einem Forschungs-U-Boot in 200 Meter Tiefe aufgenommen wurden, wanderten um die ganze Welt. Außerdem stellte Cousteau hohe Konzentrationen von radioaktivem Jod 131 im Sediment der Lagune und im Plankton fest. Wegen der geringen Halbwertzeit dieses Stoffes (acht Tage) konnte dies kein Überbleibsel vergangener Atomtests in der Atmosphäre sein, sondern mußte von unterirdischen Explosionen stammen. Cousteau machte sich aber damals die nie offiziel belegte Erklärung zu eigen, daß das Jod 131 durch die defekte Ventilklappe eines Testbohrlochs an die Oberfläche gelangt sei und nicht durch Gesteinsrisse. Das Cousteau-Team wollte diese These allerdings nicht bestätigen. (IPPNW 1995, S. 116)

Die Brüchigkeit des Mururoa-Atolls veranlaßte aber offensichtlich die französischen Militärs dazu, einerseits die Tests aus dem Atollring in den Lagunenboden zu verlagern und andererseits Tests mit größerer Sprengkraft auf Fangataufa durchzuführen.

Am 12. Juli 1995 berichtete die »tageszeitung« über Spalten und Risse in den Atollen und erläuterte die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen. Untersuchungen, die unvollständig blieben, da die unabhängigen Experten nicht länger als ein paar Tage auf den Inseln bleiben durften und ihre Experimente teilweise reglementiert wurden. Der populäre Vulkanologe Haroun Tazieff z.B. weilte ganze drei Tage auf Mururoa. Er kam trotz der Kürze der Zeit zu der Einschätzung, daß bei einer Explosion im Sommer 1979, bei dem ein Sprengsatz in nur 400 Meter Tiefe gezündet wurde, ein eine Million Kubikmeter großer Brocken vom Atollring abgesprengt wurde.

Die Pariser Zeitung Le Monde veröffentlichte am 3. Oktober 1995 eine Skizze des Mururoa-Atolls, die offensichtlich nur für den internen Dienstgebrauch der militärischen Befehlshaber des Versuchszentrums bestimmt war. Danach gab es schon Anfang der achtziger Jahre auf dem Atoll Risse, die sich in Quer- und Längsrichtung bis zu 8,5 Kilometer weit erstreckten. Die Risse, die später mit Zement geschlossen wurden, wurden zu einer Zeit festgestellt, als auf der Insel »nur« etwa 30 unterirdische Atomtests stattgefunden hatten; danach folgten noch etwa 100. Die Direktion des Versuchszentrums bestätigte, daß sich um die Explosionsherde herum immer wieder Risse bildeten, diese würden aber die Haltbarkeit des Atolls nicht tangieren. Die radioaktiven Rückstände blieben bis zu 99 Prozent in dem (in 500 bis 1.000 Meter Tiefe) durch die Hitzeentwicklung der Explosion zugeschmolzenen Hohlraum eingeschlossen.18

Demgegenüber steht unter anderem die Erfahrung von Grenpeace. Die Umweltschutzorganisation stellte im Jahre 1990 außerhalb der Zwölf-Meilen-Sperrzone rund ums Mururoa-Atoll bei Planktonproben eine erhöhte Konzentration des Cäsiumisotops 134 fest. Da dieses Isotop nicht im Fallout von atmosphärischen Atomtests vorkommt, kann es nur aus den unterirdischen Versuchen stammen. Mururoa gibt also heute schon radioaktive Substanzen aus unterirdischen Tests ab.

Über eine zusätzliche Verseuchung der Landfläche von Mururoa durch radioaktiven Müll berichtet eine internationale IPPNW Kommision. Dort heißt es: „Dank dieser Praktiken im Umgang mit Atommüll (auf Mururoa) befinden sich auf dem Grund der Lagune schätzungsweise 20 Kilogramm Plutonium 239. Das Team aus Australien, Neuseeland und Papua-Neuguinea schätzte, daß jährlich 20 Gigabequerel Plutonium 239 aus der Lagune ins Meer gelangen. Diese Aussage stimmt überein mit der Entdeckung des Cousteau-Teams, daß die Konzentration von Plutonium 239 an der Einfahrt der Lagune zehnmal höher ist als in der Lagune selbst. Sie wiesen auch darauf hin, daß die festgestellten Konzentrationen in der Grundschicht der Lagune und im Wasser viel zu hoch sind, um dem globalen atmosphärischen Fallout zugeschrieben werden zu können, und daher lokalen Ursprungs und auf die Remobilisierung sedimentärer Ablagerungen zurückzuführen sind.“ (IPPNW 1995, S.118f)

Beängstigend sind auch zahlreiche Prognosen. Nach einem geothermischen Computermodell (Simulationsprogramm) der Professoren Hochstein und O'Sullivan19 von der neuseeländischen Universität Auckland von 1985 setzt das von Seewasser getränkte Gestein, in dem die Atombombe explodierte, ein künstliches geothermisches System in Gang. Die extrem aufgeheizte Explosionskammer steigt demnach wie in einem Kamin nach oben, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Jahr. Bei einer Sprengtiefe von 500 Metern würden die Radionuklide nach dieser Studie innerhalb von 50 Jahren die Erdoberfläche erreichen und nicht erst nach einem Jahrtausend, wie französische Behörden verlauten ließen.20

Jahrelang wurden Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler zu den Folgen der Atomtests auf den Pazifikinseln be- oder auch verhindert. Selbst ein Untersuchungsteam der EU durfte nach den letzten Explosionen Teile des Mururoa-Atolls und Fangataufa nicht inspizieren.21

Jetzt soll unter der Federführung des Beratungsausschusses der Internationalen Atomenergieorganisation eine Studie über die radiologische Situation der ehemaligen Atomtestgebiete Mururoa und Fangataufa erstellt werden. Eingeladen sind über 75 Wissenschaftler aus 20 Ländern. Die Studie soll allgemein die mögliche Betroffenenheit von Menschen durch das Freiwerden radioaktiver Stoffe und die geologische Situation der Atolle untersuchen, weiter sollen die Wissenschaftler Empfehlungen erarbeiten über die Form, das Ausmaß und die Dauer einer weiteren Beobachtung. Eine Untersuchung der Atomtestfolgen auf den Menschen ist im Rahmen dieser Studie nicht vorgesehen.

Dabei liegt auch die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung auf der Hand. Nach Gabriel Tetiarahi, Koordinator der tahitianischen Nichtregierungsorganisation Hiti Tau leiden ungefähr 90 Prozent von 1.000 interviewten Arbeitern, die auf den Testgeländen beschäftigt waren, an verschiedenen Arten von Krebs (Hussein 1997a, 14). Die UNO schätzte die Anzahl der Strahlentoten infolge der ober- und unterirdischen Atomtests im Pazifik allein bis 1980 auf 15.000 Menschen. (Worm 1995).Doch die Vergangenheit scheint nicht zu interessieren in Französisch-Polynesien, wo in den Statistiken ohnehin nur 60 Prozent der Todesursachen erfaßt wurden.

Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa

zum Anfang | Atomwaffenfreie Zonen – Beispiel für Europa

von Xanthe Hall

Vertraglich abgesicherte, atomwaffenfreie Zonen überziehen fast die gesamte südliche Welthemisphäre. Afrika, Lateinamerika, Antarktis, Südostasien und der Südpazifik zeigen uns damit den juristisch und ethisch einwandfreien Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Die dort abgeschlossenen Abkommen sind über viele Jahre verhandelt worden. Zur Zeit werden weitere derartige Zonen in Südasien, im Nahen Osten und in Ostasien offiziell ins Auge gefaßt. Warum, so bleibt angesichts dieser Entwicklungen zu fragen, sollten nicht auch in Europa atomwaffenfreie Zonen gebildet werden? Es wäre nicht zuletzt auch eine vertrauensbildende Maßnahme zwischen der NATO und Russland.

Seit 1959, als der Antarktis-Vertrag zur Unterschrift freigegeben wurde, sind insgesamt fünf Verträge über atomwaffenfreie Zonen abgeschlossen worden. Letztes Jahr unterschrieben 43 Staaten Afrikas den Pelindaba-Vertrag; ein Jahr davor wurde Südostasien (SEANWFZ) atomwaffenfrei. 1986, mitten im Kalten Krieg, erklärten sich alle Inseln des Südpazifiks, samt Australien und Neuseeland und einschließlich ihrer Meere, für atomwaffenfrei (Raratonga-Vertrag). Die Länder Lateinamerikas mit ihren Gewässern waren die ersten, nach der Antarktis, die 1967 einen Vertrag über Atomwaffenfreiheit abgeschlossen haben, der allerdings erst jetzt in Kraft tritt (Tlateloco-Vertrag).

Das Enstehen und die Verpflichtungen der Zonen

Atomwaffenfreie Zone, das bedeutet nicht nur, daß keine Atomwaffen in der definierten Zone stationiert werden dürfen. Meistens wird vertraglich eine Verpflichtung mit den atomwaffenbesitzenden Staaten vereinbart, Atomwaffen nicht gegen die Staaten in dieser Region einzusetzen oder gar damit zu drohen, sowie keine Atomtests in der Region durchzuführen. (Frankreich hat deshalb auch den Raratonga-Vertrag erst 1996, nach seiner letzten Atomtestreihe, unterzeichnet).

Die fünf Verträge sind vor einem unterschiedlichen Hintergrund entstanden und unterscheiden sich dementsprechend in vielen Punkten voneinander. Der Pelindaba-Vertrag z.B. schließt Afrikas Gewässer nicht ein. Mit dem Vertrag wollten die afrikanischen Staaten den Atomwaffenverzicht der Republik Südafrika absichern. Deshalb beinhaltet er ein Verbot auf Atomwaffenforschung und eine Verpflichtung, alle aus der Zeit vor dem Vertrag existierenden Atomwaffen zu zerstören. Der Raratonga-Vertrag ist aus dem Protest gegen französische Atomtests entstanden. Im Mittelpunkt steht deshalb das Verbot des Testens von Atomwaffen und der Deponierung von Atommüll im Meer. Tlateloco war eine Reaktion auf die Kuba-Krise 1962, nach Hiroshima und Nagasaki sicher der Zeitpunkt, zu dem die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen am größten war. Kuba unterzeichnete den Vertrag übrigens erst 1995.

Atomwaffenfreie Zonen sind vor allem vertrauensbildende Maßnahmen. Sie können helfen, die Spannung in einer Konfliktsituation zu reduzieren und die Unbeteiligten zwischen den Konfliktparteien zu schützen. In Südostasien wollen die Vertragsparteien insbesondere Sicherheitsgarantien von China. Es geht ihnen um die völkerrechtlich verbindliche Zusicherung, daß China nie Atomwaffen gegen sie einsetzen wird. Die SEANWF-Zone gibt gleichzeitig ein Signal an Indien und Pakistan, die beide immer stärker unter Druck geraten, ihre Atomwaffenstrategie zu erklären und aufzugeben.

Die Konferenz der Vertragsparteien des Atomwaffensperrvertrags diskutiert atomwaffenfreie Zonen seit langem als Teil eines Nichtweiterverbreitungs-Regimes. In den letzten Jahren sind u.a. der Nahe Osten, Mittelasien, Südasien, die koreanische Halbinsel und Zentral- und Osteuropa als mögliche neue atomwaffenfreie Zonen ins Gespräch gekommen.23 Ich möchte auf das letztere fokussieren: Warum eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa bilden?

NATO-Osterweiterung

Die geplante Osterweiterung der NATO hat sowohl in der russischen Bevölkerung als auch bei Regierungs- und Parlamentsvertretern in Moskau für Verstimmung, teilweise sogar für neue Vorbehalte gegenüber dem Westen gesorgt. Dies berichteten Kollegen unserer russischen Sektion der »Ärzte gegen Atomkrieg« (IPPNW) schon 1995 während eines internationalen Workshops in Berlin.

Die Befürchtung der Russen wird genährt durch die Tatsache, daß NATO-Mitgliedsstaaten in aller Regel verpflichtet sind, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren. Aus diesem Grund könnten neue Mitgliedsstaaten der westlichen Verteidigungsallianz dazu benutzt werden, nukleare Sprengköpfe aus westlichen Arsenalen dichter an die Grenzen Rußlands heranzuführen.

Vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Szenarios entschieden die Teilnehmer des Berliner Workshops, sich in der Öffentlichkeit massiv für eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa einzusetzen und damit präventiv gegen die Stationierung westlicher Atomprojektile an Rußlands Grenzen anzugehen. Seitdem haben viele Friedensorganisationen, Forschungsinstitute sowie Vertreter der russischen, weißrussischen und ukrainischen Regierung dazu aufgerufen, diese Initiative zu unterstützen.

Vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee

Der Vorschlag, eine atomwaffenfreie Zone in der Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einzurichten, ist nicht neu.24 Er reicht zurück in die fünfziger Jahre und wurde 1990 von Weißrußland wiederaufgegriffen. Die Initiative wurde seitdem wiederholt bei internationalen Treffen thematisiert.25 Aber ausgerechnet die Staaten, die zum Kernland einer solchen atomwaffenfreien Zone gehören müßten, die geplanten neuen NATO-Mitgliedsländer Polen, Tschechien26 und Ungarn, erklärten sich öffentlich bereit, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren.

Die NATO hingegen hat in dieser Frage bisher keine eindeutige Position erkennen lassen. Es gebe, wie es heißt „keine a-priori-Pläne für eine Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern“. Für die Zukunft läßt das westliche Verteidigungsbündnis diese Option allerdings offen und besteht darauf, daß die mittel- und osteuropäischen Staaten mit NATO-Affinität ausdrücklich Bereitschaft zur Stationierung von Atomwaffen signalisieren.27

Als Folge dieser neuen Sicherheitslage drohte Rußland mit allen möglichen Sanktionen, einschließlich einer Neubewertung bereits abgeschlossener Abrüstungsabkommen, wie des START-II- und des ABM-Vertrages, falls die NATO die Osterweiterung in die Tat umsetzt.28 Sogar Weißrußland zog noch einen Pfeil aus dem Köcher, indem es wegen der atomaren Stationierungspläne der NATO die bereits angelaufene Verschrottung weißrussischer Arsenale wieder stoppen wollte.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre besuchte im Mai 1996 eine internationale IPPNW-Delegation das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Gegenüber den IPPNW-Emissären bestätigte Botschafter von Moltke, daß die NATO weder eine atomwaffenfreie Zone unterstütze, noch Atomwaffenfreiheit für die neuen Mitgliedsstaaten garantieren würde. Und dies, obwohl im Bündnis bereits Präzedenzfälle existieren: Die NATO-Mitglieder Norwegen29, Island und Dänemark haben sich vorbehalten zumindest in Friedenszeiten atomwaffenfrei zu bleiben, auch wurde vertraglich festgelegt, daß die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung atomwaffenfrei bleiben muß.30

Auf Anregung von NGO- und IPPNW-Vertretern befürwortete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Juli 1996 bei einem Treffen in Stockholm die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen in Europa. Erst durch Initiativen dieser Art war es möglich, daß die NATO während des OSZE-Gipfels vom Dezember vergangenen Jahres in Lissabon ihren Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten erklärte. Diese Erklärung kann einen völkerrechtlich bindenden Vertrag allerdings nicht ersetzen.

Schlußfolgerungen

Ein Großteil Europas muß, ähnlich wie der Nahe Osten oder Südasien, in denen Regierungen mittlerweile Abkommen über atomwaffenfreie Zonen einfordern, zu einer dauerhaft nuklearwaffenfreien Zone werden. Verträge, die die Zahl der Kernsprengköpfe in bestimmten Gebieten auf Null herunterschrauben, können insgesamt auch zur dauerhaften Reduktion der weltweiten Atomarsenale führen und den »Druck« zur Modernisierung der veralteten Systeme auf diese Weise reduzieren. Atomwaffenfreie Zonen sind insofern ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne nukleare Schreckensszenarien.

Rußland kann in diesem technologischen Waffenwettbewerb ohnehin kaum mehr Schritt halten. Es könnte sich allerdings bei einer Stationierung von NATO-Atomwaffen auf den Territorien seiner Nachbarländer veranlaßt sehen, das eigene Kernwaffenarsenal unter größten finanziellen Kraftanstrengungen beizubehalten und zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund wäre eine atomwaffenfreie Zone in Mittel-und Osteuropa genau das richtige politische Signal, um die gespannte Atmosphäre im Verhältnis zwischen Rußland und dem westlichen Verteidigungsbündnis zu entkrampfen. Mit einem entsprechenden Abkommen wären sowohl die Länder West- als auch Osteuropas in der Lage, eine wirklich neue Sicherheitspartnerschaft – ohne Bauchschmerzen wegen atomarer Altlasten – einzuleiten.

Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.

zum Anfang | Mit Recht für eine atomwaffenfreie Welt. Vom Weltgerichtshof zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, daß „die Drohung und der Einsatz von Atomwaffen generell in Widerspruch steht zu den Regeln des Kriegsvölkerrechts und insbesondere zu den Prinzipien und Regeln der Menschenrechte“. Am 10. Dezember stimmten mehr als zwei Drittel der Staaten in der UNO-Generalversammlung für eine Resolution, in der die im IGH-Rechtsgutachten festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung zum Anlaß genommen wird, unverzüglich Verhandlungen über eine Konvention zur Ächtung und Abschaffung der Kernwaffen (Nuklearwaffenkonvention) zu fordern. Damit erhöht sich der Druck auf die Kernwaffenstaaten, die in Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen einzulösen.

Nukleare Abrüstung stand bei den Vereinten Nationen schon seit ihrer Gründung ganz oben auf der Tagesordnung. In der ersten Resolution der UNO-Generalversammlung von 1946 trat die Staatengemeinschaft einmütig ein für „die Beseitigung von Atomwaffen aus den nationalen Waffenarsenalen“. In den folgenden fünf Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte, abgesehen vom NVV und bilateralen Verträgen zwischen den beiden Supermächten, dieses Ziel nicht weiter konkretisiert werden. Ein erster Durchbruch wurde mit der UNO-Resolution 50/70 P vom 12. Dezember 1995 erzielt, in der Verhandlungen über die Abschaffung von Kernwaffen innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens gefordert werden.

Noch weiter gehen die drei 1996 verabschiedeten UN-Resolutionen. Die schon 1995 vorgelegte Resolution wurde mit 110 Ja-Stimmen erneut angenommen, diesmal jedoch mit dem Vorschlag eines „zeitlich gebundenen Rahmens durch eine Nuklearwaffenkonvention“. Auch eine von Indien vorgelegte Resolution für das Verbot des Einsatzes von Kernwaffen wurde erneut angenommen, ebenfalls mit der zusätzlichen Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention.

Die Zusätze in beiden Resolution sind zurückzuführen auf die von Malaysia vorgelegte Resolution 51/45M »International Court of Justice Advisory Opinion on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«, die schon am 14. November bei der Vorabstimmung im First Committee der UNO-Generalversammlung eine deutliche Mehrheit erzielt hatte und bei der Endabstimmung am 10.12. von allen Resolutionen die größte Unterstützung fand (115 Staaten dafür, 22 dagegen, 32 Enthaltungen). Der Erfolg ist zum Teil zurückzuführen auf die Verbindung zwischen IGH-Rechtsgutachten und Nuklearwaffenkonvention (NWK), die in zwei Paragraphen zum Ausdruck kommt:

Paragraph 3: Die Schlußfolgerung des Internationalen Gerichtshofs wird unterstützt: „Es gibt eine Verpflichtung, in gutem Vertrauen Verhandlungen durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Paragraph 4: Es werden alle Staaten aufgerufen, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem frühen Abschluß einer Nuklearwaffenkonvention führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt“.

Aufgrund der Autorität des IGH konnte die Resolution und damit auch die weitreichende Forderung nach einer NWK nicht nur bei fast allen Entwicklungsländern Unterstützung finden, darunter auch der Kernwaffenstaat China und inoffizielle Kernwaffenstaaten wie Indien und Pakistan (Israel enthielt sich der Stimme). Auch einige westliche Staaten votierten für die Resolution (Schweden, Irland, San Marino), und die NATO-Staaten Island, Dänemark und Norwegen enthielten sich immerhin der Stimme. Damit wurden Widersprüche im zuvor homogenen westlichen Block erkennbar, die bis in die NATO hineinreichen.

Bemerkenswert war auch die Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) beim Zustandekommen der Resolution. Dies betrifft zum einen das IGH-Urteil, das seit mehreren Jahren vom World Court Project initiiert und vorbereitet worden war. Zum zweiten war die Konzeption einer NWK seit Ende 1993 durch das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) in die öffentliche Diskussion getragen worden. Im April 1995 wurde die Forderung nach einer NWK während der New Yorker NVV-Konferenz in das Gründungsdokument des globalen Netzwerks für die Abschaffung der Atomwaffen »Abolition 2000« übernommen, das nunmehr von fast 700 Organisationen weltweit unterstützt wird. Schließlich basiert die Resolution Malaysias auf einem Vorschlag des New Yorker Lawyers Committee on Nuclear Policy (LCNP), der in der NWK-Arbeitsgruppe von Abolition 2000 angeregt worden war.

In Deutschland konnten die im Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen« zusammengefaßten Friedensorganisationen die NWK auf die politische Tagesordnung bringen. In einer Erklärung vom 15. November 1996 wurde die Vorabstimmung im First Committee der UNO begrüßt und die Bundesregierung zur Unterstützung der Malaysia-Resolution aufgefordert. Am 22.11.1996 schrieb der abrüstungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Friedbert Pflüger, in »Die Zeit«, daß die Idee einer Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen ernsthaft in Erwägung gezogen müsse. Von derartigen Erwägungen war jedoch in der von der PDS-Fraktion initiierten Bundestagsdebatte vom 5. Dezember 1996 nichts mehr zu hören. Pflüger nannte dort eine Welt ohne Atomwaffen unter heutigen Bedingungen utopisch, während der FDP-Sprecher Günther Friedrich Nolting die derzeitige NATO-Strategie als vereinbar mit internationalem Recht ansah, trotz des IGH-Rechtsgutachtens. Angelika Beer (Bündnis 90 / Die Grünen) und Manfred Müller (PDS) sprachen sich dagegen für die Abschaffung der Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention aus, während Gernot Erler (SPD) einem schrittweisen Vorgehen zum letztlichen Ziel der atomwaffenfreien Welt den Vorzug gab. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, unterschied zwischen der Zustimmung der Bundesregierung zum Paragraphen 3 der UN-Resolution, womit das IGH-Rechtsgutachten weitgehend akzeptiert wurde, und der Zurückweisung der Forderung nach NWK-Verhandlungen in Paragraph 4.

Umfassend oder schrittweise zur nuklearen Abrüstung?

Ob das Konzept einer NWK weitere Unterstützung findet, hängt maßgeblich davon ab, ob die nach der NVV-Konferenz eingesetzte politische Kettenreaktion für die Abschaffung der Kernwaffen anhält. Ausdruck der gewachsenen politischen Basis ist, neben dem IGH-Urteil, dem Netzwerk »Abolition 2000« und den UNO-Resolutionen, der Bericht der Canberra-Komission sowie eine Erklärung von fast 60 Generälen und Admirälen vom 4. Dezember 1996, die sich für eine Welt ohne Kernwaffen einsetzen (siehe Seite 19).

Die von Australiens Regierung eingerichtete Canberra-Kommission schlägt in ihrem Bericht vom 14. August 1996 eine Reihe konkreter Schritte zur nuklearen Abrüstung vor, läßt aber offen, ob die atomwaffenfreie Welt besser zu erreichen sei durch einen „inkrementellen Ansatz einer Reihe separater Rechtsmittel oder durch einen umfassenden Ansatz, der alle relevanten Rechtsmittel in einem einzigen völkerrechtlichen Instrument zusammenfaßt, einer Nuklearwaffenkonvention“.

Der schrittweise Ansatz baut auf existierenden Verträgen auf und ergänzt diese um weitere Einzelmaßnahmen nuklearer Abrüstung, Rüstungkontrolle und Nichtverbreitung. Der umfassende Ansatz fordert Verhandlungen über eine Konvention zum vollständigen Verbot und zur Beseitigung der Kernwaffen.

Jedes der Konzepte in seiner »reinen« Form hat Vor- und Nachteile. Für Anhänger des inkrementellen Ansatzes ist der umfassende Ansatz politisch unrealistisch oder sogar schädlich. Kritisiert wird, daß der umfassende Ansatz realistische Schritte verhindern oder hinauszögern könnte, die schon vor einer Konvention politisch möglich wären. Für Befürworter des umfassenden Ansatzes bieten Verhandlungen über Einzelschritte keinerlei Garantien, daß das Ziel der atomwaffenfreien Welt jemals erreicht wird und daß sich die einzelnen Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Die Defizite des schrittweisen Ansatzes sind ein wesentlicher Grund für Indien, den Teststopp-Vertrag nicht zu unterzeichnen, da er keine Abrüstungsverpflichtungen der Kernwaffenmächte enthalte und diesen sogar weitere Kernwaffenentwicklungen erlaube. Ähnliche Probleme und Asymmetrien sind derzeit für den Stillstand bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen über ein Produktionsverbot für Spaltmaterialien mitverantwortlich.

Schrittweise und umfassende Ansätze sind jedoch keine unversönlichen Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Ein schrittweise-umfassender Ansatz behält die Abschaffung der Kernwaffen im Blick und formuliert ein Konzept aus abgestimmten Einzelschritten zu diesem Ziel, die in verschiedenen Foren ausgehandelt werden können. Solche Schritte wären etwa ein Verbot der Herstellung und Nutzung von Kernwaffenmaterialien (Cut-Off), ein Abkommen über den Nicht-(Erst-)Einsatz von Kernwaffen, die Trennung der Trägersysteme von den Sprengköpfen oder die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen. Eine integrierte Strategie würde einseitige Maßnahmen und Erklärungen, bilaterale Verhandlungen zwischen USA und Rußland und multilaterale Verhandlungen zwischen den fünf Atommächten, in der Genfer CD oder im NVV-Überprüfungsprozeß kombinieren, alles jedoch unter dem Dach der NWK-Rahmenverhandlungen. Mit der Realisierung jedes Einzelschritts werden die noch zu lösenden Aufgaben und Probleme immer weiter eingegrenzt, der gesamte Verhandlungsprozeß gestärkt und die Schwelle für die Vollendung der umfassenden Konvention gesenkt.

Auch wenn die Staaten sich vor Beginn der Verhandlungen nicht auf einen zeitlichen Rahmen für die Beseitigung der Kernwaffen einigen können, darf dies kein Grund sein, den Beginn von Verhandlungen über eine NWK zu verzögern. Die meisten Abrüstungsabkommen enthielten zeitliche Vorgaben, und die Frage des Zeitplans für die nukleare Abrüstung wird unweigerlich auf die Tagesordnung der NWK-Verhandlungen kommen. Ein Beispiel für einen Dreistufenplan zur atomwaffenfreien Welt wurde von den blockfreien Staaten (G-21) im August 1996 bei der CD in Genf vorgelegt.

Ein so beschriebenes inkrementell-umfassendes Konzept für die NWK-Verhandlungen könnte einen Beitrag dazu leisten, die derzeitige Krise der CD zu überwinden und die notwendige Transformation des unbefriedigenden nuklearen Nichtverbreitungsregimes in ein Abrüstungsregime zu erreichen.

Der Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention

Seit März 1996 wird von einem durch LCNP organisierten Komitee aus JuristInnen, NaturwissenschaftlerInnen, AbrüstungsexpertInnen und FriedensaktivistInnen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention ausgearbeitet, nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention (Arbeitstreffen fanden in New York und Darmstadt statt). Ein erster Diskussionsentwurf lag bis September 1996 vor, ein öffentlicher Modellentwurf wird anläßlich der Überprüfungskonferenz zum NVV am 7. April in New York präsentiert.

Der derzeitige Modellentwurf (März 1997) umfaßt 26 Artikel und zwölf Anhänge, die zusammen über 100 Seiten ausmachen. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, keine Kernwaffen zu entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren oder zu behalten sowie Atomwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Forschung mit dem Ziel der Kernwaffenentwicklung ist untersagt, nicht jedoch für Abrüstung erforderliche Forschung oder die Nutzung von Wissen für die Aufklärung über die Gefahren von Kernwaffen. Die Beschränkungen gelten auch für Komponenten und Infrastruktur von Kernwaffen, insbesondere für kernwaffenfähige Materialien (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium), für Trägersysteme sowie Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) für Kernwaffen. Damit verbundene Kapazitäten sind irreversibel zu beseitigen oder zu konvertieren.

Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen, Deklarationen, den Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung, die internationale Agentur, nukleare Materialien und Anlagen, Trägersysteme und C3I, Ratifizierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen und Verfahren zur Kernwaffenzerstörung.

Von kritischer Bedeutung für die Wirksamkeit der Konvention ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, insbesondere für spezielle kernwaffenfähige Nuklearmaterialien, wobei über die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden muß und auch zivile Materialien in die Überprüfung einzubeziehen sind. Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfaßt Inspektionen sowie zerstörungsfreie Meßverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt. Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen umfassen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich.

Eine Internationale Kontrollagentur, analog zur Chemiewaffenkonvention, hätte für die Implementierung der Konvention zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten. Die Konferenz der Vertragsstaaten würde auf regelmäßigen oder außerordentlichen Sitzungen die wesentlichen Entscheidungen treffen, während das »Executive Council« für die Implementierung und Durchführung der Konvention zuständig wäre. Das »Technical Secretariat« schließlich würde das Executive Council bei speziellen Aufgaben der Implementierung und Verifikation unterstützen.

Aufgrund der Komplexität des Übergangs zur kernwaffenfreien Welt ist eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Industrien und NGOs über Ländergrenzen hinweg erforderlich. Der NWK-Entwurf selbst schlägt entsprechende Mechanismen und Institutionen vor und knüpft an bestehende Regime an. Diese betreffen die nationale Implementation ebenso wie die soziale Verifikation, kollektive Maßnahmen der Vertragseinhaltung, Anreize zur Teilnahme am Regime, Forschung und Entwicklung für die Abschaffung von Kernwaffen und Nuklearmaterialien oder Vorschriften zur Minimierung heimlicher Aktivitäten.

Zur Ausgestaltung dieser und anderer Aufgaben sind noch viel Detailarbeit und wissenschaftliche Untersuchungen zu leisten. Auf alle Fragen hat der Modellentwurf keine Antwort; er möchte im Gegenteil eher die wesentlichen Fragen bewußt machen. Daher ist der aktuelle Entwurf nur als ein Zwischenergebnis in einem längerfristigen Prozeß anzusehen, der nach Bedarf und aktuellem Kenntnisstand modifiziert werden soll.

Literaturauswahl zur NWK

Liebert, W./Scheffran, J./Kalinowski, M. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen, erscheint in einem von D. Deiseroth und P. Becker herausgegebenen Buch zum IGH-Urteil im agenda-Verlag, Münster.

Datan, M./Ware, A./Scheffran, J. (1996): Nuclear Weapons Convention on Track, INESAP Bulletin No.11, December 1996, S. 4-8.

Scheffran, J./Datan, M./Ware, A. (1997): Working Toward a Nuclear Weapons Convention, Vital Signs, 1/97.

Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln, in: Schindler-Saefkow, B./Strutynski, P. (Hg.): Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110.

INESAP-Studie (1995): Beyond the NPT, A Nuclear-Weapon-Free World, INESAP-Study-Group-Report, April 25, New York, Darmstadt.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt

zum Anfang | Es gibt keine Alternative zu einer kernwaffenfreien Welt

Auszüge aus einer öffentlichen Erklärung von 57 Generälen und Admirälen aus 17 Ländern:

(…) Aufgrund unserer Berufserfahrung mit Waffen und Kriegen in den Streitkräften vieler Nationen haben wir uns eine eingehende, vielleicht sogar einzigartige Kenntnis der gegenwärtigen Sicherheits- bzw. Unsicherheitslage unserer Länder und Völker erworben. (…)

Das Ende des Kalten Krieges hat Bedingungen geschaffen, die eine Abrüstung der Kernwaffen begünstigen. (…) Die unbeschränkte Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Jahre 1995 sowie die Annahme des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1996 bilden (…) wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt. (…)

Unglücklicherweise ist jedoch eine echte Kernwaffenabrüstung trotz der erwähnten positiven Schritte nicht erreicht worden. Die Verträge schreiben lediglich die Vernichtung der Trägersysteme, nicht jedoch der Kernsprengköpfe vor. (…)

Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die folgenden Maßnahmen dringend notwendig sind und jetzt eingeleitet werden müssen:

Erstens, die bereits vorhandenen und die in der Planung vorgesehenen Kernwaffenvorräte sind bei weitem zu groß und sollten einschneidend reduziert werden.

Zweitens, die dann noch verbleibenden Kernwaffen sollten stufenweise und in voller Transparenz aus der Alarmbereitschaft herausgenommen sowie ihre Einsatzbereitschaft wesentlich verringert werden, sowohl in den offiziellen als auch in den De-facto-Kernwaffenstaaten.

Drittens, die langfristige Nuklearpolitik muß auf dem erklärten Grundsatz beruhen, Kernwaffen kontinuierlich, vollständig und unwiderruflich abzuschaffen.

Die Vereinigten Staaten und Rußland sollten – ohne jegliche Herabsetzung ihrer militärischen Sicherheit – den von START bereits begonnenen Reduktionsprozeß vorantreiben. (…) Die Verteidigung der territorialen Integrität einzelner Länder ist mit dem Fortschritt auf dem Weg zur Abschaffung der Kernwaffen durchaus vereinbar.

Man kann heute die genauen Umstände und Bedingungen für die endgültige Abschaffung dieser Waffen nicht vorhersehen oder vorschreiben. Eine Voraussetzung wäre zweifellos ein weltweites Programm der Überwachung und Inspektion, das Maßnahmen zur Buchführung und Kontrolle des Inventars an Kernwaffenmaterial einschließt. (…) Wesentlich ist auch ein abgesprochenes Vorgehen, um – wenn nötig – zwangsweise international intervenieren und geheime Aktivitäten zuverlässig und rechtzeitig unterbinden zu können.

Desweiteren ist es wichtig, kernwaffenfreie Zonen in verschiedenen Teilen der Welt zu schaffen, sowie Maßnahmen der Vertrauensbildung und der Transparenz auf dem Gebiet der Verteidigung im allgemeinen zu ergreifen. Schließlich ist es äußerst wichtig, alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge strikt zu erfüllen und sich beim Abrüstungsprozeß gegenseitig zu unterstützen, um auf diese Weise eine kernwaffenfreie Welt zustande zu bringen. Der Aufbau regionaler Systeme kollektiver Sicherheit unter Einschluß praktischer Maßnahmen zur Zusammenarbeit, Partnerschaft, Interaktion und Kommunikation sind wesentlich für die örtliche Stabilität und Sicherheit.

(…) Klar ist (…), daß Nationen, die im Besitz von Kernwaffen sind, nicht bereit sein werden, diese preiszugeben, solange sie nicht davon überzeugt sein können, daß es zuverlässigere und weniger gefährliche Mittel zur Gewährleistung ihrer Sicherheit gibt. Als Konsequenz davon ist ebenfalls klar, daß die Kernwaffenmächte im Augenblick nicht bereit sein werden, einem festgelegten Zeitplan für die Abschaffung zuzustimmen.

Ähnlich klar ist auch, daß es unter den Nationen, die gegenwärtig keine Kernwaffen besitzen, einige geben wird, die nicht für immer auf deren Beschaffung und Bereitstellung verzichten wollen, es sei denn, ihre Sicherheit wird auf andere Weise gewährleistet. Und sie werden auch nicht darauf verzichten, sie zu beschaffen, sollten die derzeitigen Nuklearmächte ihr nukleares Monopol für immer und ewig aufrecht erhalten wollen.

Schritte in Richtung auf die Abschaffung müssen in erster Linie von den offiziellen Kernwaffenstaaten (…) in gemeinsamer Verantwortung unternommen werden. Sie sollten aber auch von den De-facto-Kernwaffenstaaten (…) mitgetragen werden sowie von den größeren Nichtkernwaffenmächten wie Deutschland und Japan. (…)

Uns hat sich eine Herausforderung von höchster historischer Bedeutung geboten: Die Schaffung einer kernwaffenfreien Welt. Das Ende des Kalten Krieges macht es möglich.

Die Gefahren, die der Welt durch die Verbreitung von Kernwaffen, durch den Nuklearterrorismus und durch ein erneutes Kernwaffenwettrüsten drohen, machen es notwendig. Wir dürfen nicht versäumen, unsere Chance zu nutzen. Es gibt keine Alternative.

Unterzeichnet wurde diese Erklärung unter anderem von:

Brigade-General a.D. Henry van der Graaf; Direktor des Zentrums für Rüstungskontrolle und Verifikation, Mitglied des UN-Konsultationsrates für Abrüstungsangelegenheiten.

General a.D. Boris Gromov; Vizepräsident des parlamentarischen Ausschusses für internationale Angelegenheiten, ehemaliger Kommandeur der 40. Sowjetarmee in Afghanistan, ehemaliger stellv. Minister im russ. Auswärtigen Amt.

General a.D. Charles A. Horner; Kommandeur der alliierten Luftstreitkräfte während der Militäraktion »Wüstensturm« gegen den Irak 1991.

Generalmajor a.D. Alexander Lebed; russischer Präsidentschaftskandidat in 1996.

General a.D. Andrew O'Meara, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa.

Übersetzung: Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Handlungsbedarf – Hier und jetzt! Deutschlands Beitrag zur kernwaffenfreien Welt

von Martin B. Kalinowski

Die Mehrzahl der Staaten hat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Dezember 1996 beschlossen, daß in diesem Jahr Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen werden sollen. Damit würde der Forderung aus dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 8. Juli 1996 entsprochen, einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Abschaffung der Kernwaffen auszuhandeln. Anfang des Jahres 1997 zeigte sich aber bei der Genfer Konferenz für Abrüstung, wie tief der Graben zwischen den blockfreien Ländern auf der einen Seite und den anerkannten Kernwaffenstaaten und deren Verbündeten auf der anderen Seite ist. Die 61 in Genf vertretenen Staaten konnten sich nicht einmal auf ein Verhandlungsprogramm einigen und es wird bezweifelt, ob sie dies bis Mitte des Jahres schaffen.

Indien und einige andere blockfreie Staaten bestanden auf einem festen Zeitplan für nukleare Abrüstung bis auf Null. Nur unter dieser Bedingung wäre Indien bereit, in den Abrüstungsprozeß selber einzusteigen. Vier der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (außer China) sowie ihre Verbündeten – darunter auch Deutschland – wollten aber nicht einmal einen Ausschuß zur Verhandlung über nukleare Abrüstung einrichten. Sie wollten lediglich über einen Produktionsstopp für spaltbare Kernwaffenmaterialien (Cut-off) verhandeln.

Um die gegenwärtige Konfrontation in Genf zu überwinden, sind neue Vorschläge notwendig. Ein solch neuer Vorschlag beinhaltet die Erweiterung des Verhandlungsmandats für den Cut-off-Vertrag auch auf das fusionierbare Kernwaffenmaterial Tritium. Damit würde dieser Vertrag eine deutliche Abrüstungskomponente bekommen, da Tritium mit einer Halbwertszeit von zwölf Jahren zerfällt. Der Tritiumzerfall könnte ein Schrittmacher sein für einen weichen Zeitplan zur Abrüstung von Kernwaffen. Vorräte aus vergangener Produktion müßten nicht unbedingt in die Verhandlungen einbezogen werden. Tritiumlose Kernwaffen gelten als dysfunktional und wären somit symbolisch abgerüstet. Da sie andererseits durch Neuproduktion von Tritium leicht wieder komplettierbar sind, wäre ein Tritiumproduktionsstopp (Cut-off) das entscheidende Signal für die Bereitschaft zur weitgehenden nuklearen Abrüstung.

Letztlich müssen aber Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen und der Cut-off als ein dazugehöriges Element betrachtet werden. Mit einer Kernwaffenkonvention muß, ähnlich den Bio- und Chemiewaffenkonventionen, die letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen vollständig verboten werden.31

Abzug der Kernwaffen aus Deutschland

Deutschland besitzt zwar keine eigenen Kernwaffen, befindet sich aber unter dem »Nuklearschirm« der NATO, hat damit eine nukleare Teilhabe, unterhält geeignete Trägersysteme und bildet die Bundeswehr für den Einsatz von Kernwaffen aus.

Nach dem Urteil des Internationalen Gerichstshofes in Den Haag ist weder ein Kernwaffeneinsatz zur Unterstützung Verbündeter noch die Drohung mit demselben mit dem geltenden Völkerrecht zu vereinbaren, auch nicht im Notfall. Demzufolge sind auch alle Aktivitäten völkerrechtswidrig, die eine derartige »Nothilfe« vorbereiten oder ermöglichen. Daraus die Schlußfolgerungen zu ziehen heißt:

  • Deutschland muß seine nukleare Teilhabe an Kernwaffen der USA oder anderer Verbündeter vollständig aufgeben. Die noch in Deutschland stationierten Kernwaffen der USA in Büchel, Memmingen, Nörvenich und Ramstein müssen ebenso abgezogen werden, wie es für die letzten britischen Kernwaffen in Brüggen für 1998 fest geplant ist.
  • Die deutsche Politik muß sich klar abgrenzen von einer Beteiligung an einer irgendwie geteilten Verantwortung für einen europäischen »Nuklearschirm« (z.B. »concerted deterrence«). Insbesondere muß Deutschland auf die bilateralen Gespräche über Kernwaffen mit Frankreich verzichten, zu denen sich beide Länder im gemeinsamen Sicherheitsabkommen vom 9. Dezember 1996 in Nürnberg bereit erklärt haben.
  • Deutschland sollte sich für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Europa einsetzen. Als erster eigener Schritt zu diesem Ziel sollte die bereits in den neuen Bundesländern bestehende kernwaffenfreie Zone auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden.
  • Im Zuge der geplanten NATO-Osterweiterung sollte Deutschland darauf drängen, daß in neuen NATO-Mitgliedsstaaten nie Kernwaffen stationiert werden dürfen.
  • Schließlich darf Deutschland keine eigenen technischen Fähigkeiten zum Bau einer Kernwaffe schaffen oder aufrechterhalten. Für ein Land wie Deutschland, das eine komplexe Nuklearindustrie, aber keine Produktion von Kernwaffen hat, ist die entscheidende Frage, welche Regelungen im zivilen Bereich zu treffen sind. Insbesondere sollte Deutschland keinen direkten Zugriff auf kernwaffenfähiges Material haben (mehr dazu siehe unten).

Innovationen bei der Kontrolle ziviler kernwaffenfähiger Materialien

Das in Genf vorliegende Verhandlungsmandat für einen Cut-off-Vertrag ist auf den Minimalkonsens reduziert. Gemäß der vorangegangenen Diskussionen ist davon auszugehen, daß zunächst nur die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke sowie außerhalb von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO) einbezogen werden. Das Mandat weist aber ausdrücklich daraufhin, daß weitere Punkte in den Verhandlungen vorgeschlagen und diskutiert werden dürfen. Das betrifft vor allem die Vorräte aus vergangener Produktion, deren Einbeziehung für einige Staaten wie Pakistan Bedingung ist. Verschiedene Staaten haben vorgeschlagen, auch die zivilen spaltbaren Materialien in die Verhandlungen miteinzubeziehen.

In diesem Punkt ist Deutschland besonders gefordert, da es als eines der wenigen Nichtkernwaffenländer in der Produktion und Nutzung von kernwaffenfähigen Materialien engagiert ist. Zwar ist seit Jahren die Entscheidung gegen eine Wiederaufarbeitungsanlage und gegen den Schnellen Brüter in Deutschland gefallen und auch die Produktion von Mischoxidbrennelementen (MOX) ist aufgegeben worden, dennoch bleiben deutsche Unternehmen im Plutoniumgeschäft, indem die EVUs ihre abgebrannten Brennelemente in Sellafield und La Hague aufarbeiten lassen (erst ein einziger Vertrag zur Wiederaufarbeitung mit Sellafield ist gekündigt worden) und indem Siemens Unteraufträge zur MOX-Fertigung für deutsche Reaktoren in Belgien und Frankreich erteilt. Das ist unökonomisch und radioökologisch schädlich. Zudem steht spätestens seit der Änderung des Atomgesetzes im Frühjahr 1994 die Option der direkten Endlagerung als Alternative zur Wiederaufarbeitung offen.

Im Rahmen des internationalen Nichtverbreitungsregimes hat sich seit des Inkrafttretens des Nichtverbreitungsvertrages ein Konsens entwickelt, nach dem die Erfüllung des Artikels IV über den Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht in einer Weise geschehen darf, die das Ziel der Nichtverbreitung selber beeinträchtigt. Die notwendigen Einschränkungen für nukleare Technologien werden unter dem Stichwort »Proliferationsresistenz« diskutiert. So kam etwa die INFCE (International Fuel Cycle Evaluation) Konferenz 1979 zu dem Schluß, daß keine Forschungsreaktoren mehr gebaut werden sollten, die mit hochangereichertem Uran betrieben werden. Derartige existierende Reaktoren sollen umgerüstet werden. Zu dem Zweck wurde sowohl ein umfangreiches internationales Konversionsprogramm aufgelegt als auch ein spezielles für Deutschland vom Forschungsministerium finanziert.

Solange die kernwaffenfähigen Materialien nicht vermieden oder beseitigt werden können, sollten sie dem nationalen Zugriff entzogen werden. Die proliferations-resistentesten derzeit denkbaren Optionen sind sofortiger Verkauf und In-Treuhand-Legung auf internationalisiertem Territorium bei einer internationalen Organisation, die das Material nur lagert und nicht verwenden kann, oder die baldige Konditionierung als radioaktiver Abfall verbunden mit einer Überstellung des Materials unter internationale physische Kontrolle, die über die heutigen Safeguards hinausgeht.

In Drucksache 12/7472 antwortet die Bundesregierung auf den letzten Vorschlag: „Die Bundesregierung hat in ihrer 10-Punkte-Initiative vom 15. Dezember 1994 ein internationales Plutonium-Kontrollsystem gefordert, in dem vor allem auch das aus der Abrüstung von Kernwaffen freiwerdende Plutonium in allen Staaten internationalen Kontrollen unterworfen wird, so wie es für deutsches Plutonium bereits seit vielen Jahren der Fall ist.

Die Diskussionen um ein »International Plutonium Storage« gehen jedoch über den derzeitigen Kontrollstandard hinaus. Wesentlich ist das Ziel, den unkontrollierten nationalen Zugriff auf das Kernwaffenmaterial zu unterbinden.

Die Bundesregierung gab weiterhin die Auskunft:“Nach Artikel 80 des EURATOM-Vertrages kann die Kommission die Hinterlegung von überschüssigem Spaltmaterial verlangen, das nicht tatsächlich verwendet oder bereitgestellt wird. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit bisher keinen Gebrauch gemacht“.

Demnach wäre es vielleicht ein denkbarer Weg, das noch im Ausland lagernde Plutonium aus der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente bei der EURATOM zu hinterlegen, um so deutlich zu machen, daß es nicht in Kernwaffenprogramme anderer Länder gelangen soll. Denkbar wäre auch, das noch in Hanau verbleibende Plutonium der EURATOM zur Hinterlegung zu übergeben. Damit könnte ein Pilotprojekt einer internationalisierten Plutoniumlagerung von Deutschland initiiert werden, das in anderen Ländern – auch mit Plutonium aus der Abrüstung – übernommen werden könnte. Konkret vorstellbar wäre, daß das verbleibende deutsche Plutonium auf internationalisiertem Territorium gelagert wird, die physische Kontrolle an Personal der EURATOM oder IAEO abgegeben und der alleinige nationale Zugriff Deutschlands durch ein Zweischlüsselsystem aufgegeben wird.

Eine Verstärkung der Proliferationsresistenz muß nicht unbedingt im Rahmen der Cut-off-Verhandlungen in Genf geschehen. Deutschland könnte durch unilaterale Maßnahmen mit gutem Beispiel vorangehen. Weitreichender wäre sicherlich ein koordiniertes Vorgehen gemeinsam mit den anderen Ländern, die mit zivilem Plutonium umgehen oder dies von abgebrannten Brennelementen abtrennen. Eine gute Basis dafür bieten neben der Abrüstungskonferenz in Genf die in Wien seit drei Jahren geführten Verhandlungen unter dem Titel »Internationales Plutoniumregime«. Daran sind neben den fünf Kernwaffenstaaten die wichtigsten im zivilen Geschäft mit Plutonium engagierten Länder vertreten: Belgien, Deutschland, Japan und die Schweiz. Ziel dieser Verhandlungen ist es, gleiche Standards für die sichere Behandlung von Plutonium in denjenigen Staaten zu erreichen, die diesen Stoff nutzen oder produzieren. Insbesondere ist beabsichtigt, eine größere Transparenz über Plutoniummengen in der Öffentlichkeit zu schaffen und jährliche Plutoniumbilanzen herauszugeben. Bereits Anfang 1995 hatte sich die Bundesregierung gemeinsam mit sechs anderen Ländern darauf geeinigt.32 Mit der Verabschiedung eines Schlußdokuments zum Internationalen Plutoniumregime wird aber erst für Mitte 1997 gerechnet. Großbritannien veröffentlicht eine derartige Bilanz seit neun Jahren, Japan hat seine erstmals in einem »Weißbuch zur Atomenergie« am 25. November 1994 dargestellt und die USA haben im Februar 1996 eine Bilanz für die vergangenen 50 Jahre vorgelegt. Von deutscher Seite ist zu hören, daß eine eigene Plutoniumbilanz erst vorgelegt werden könne, wenn man sich auf einen Standard geeinigt habe. Dabei scheint eine wichtige Frage zu sein, auf welchem Niveau man die Zahlen rundet.

Im Rahmen der Wiener Gespräche werden auch Vorschläge zur Begrenzung der Produktion und Nutzung von Plutonium diskutiert. Von deutscher Seite wird dies zurückgewiesen. Mehr Zwänge könnten der kerntechnischen Industrie nicht auferlegt werden. Eine ähnlich bremsende Wirkung ging von Deutschland bei den Bemühungen der IAEO aus, im Rahmen des sogenannten 93+2 Programms die Safeguards-Maßnahmen zu effektivieren. Ein wichtiges Argument der Bundesregierung und anderer Länder mit starker Nuklearindustrie ist, daß sich die Kernwaffenländer mehr Kontrollen unterziehen müßten, bevor wieder die ohnehin bereits am meisten kontrollierten Länder noch stärker belastet werden. Dagegen ist zu halten, daß die zusätzlichen Belastungen nicht groß sind. Und natürlich ist dem beizupflichten, daß die Kernwaffenländer selber stärker kontrolliert werden müssen. Eine Möglichkeit dafür stellt das Abkommen zum Produktionsstopp von Waffenmaterialien dar, das bei der Abrüstungskonferenz in Genf verhandelt werden soll. Um mit dem genannten Argument gegen Verschärfung der Safeguards glaubhaft zu bleiben, sollte sich Deutschland in dieser Richtung stärker einbringen, was nicht nur aus Gründen der Bündnistreue schwerfällt, sondern insbesondere, solange der »Nuklearschirm« nicht aufgegeben ist.

Kriterien für die Erhöhung der Proliferationsresistenz

Als Kriterien für nationale Verzichtserklärungen und für einen internationalen Bann bezüglich Materialien und Technologien im zivilen Bereich werden vorgeschlagen:33

  • Beschränkungen für sensitive Nukleartechnologie und -materialien sollen nicht diskriminierend sein.
  • kein Umgang mit waffenfähigen Materialien, es sei denn innerhalb abgebrannter Brennelemente. Urananreicherung und – sofern als notwendig erachtet – Plutoniumseparation nur innerhalb internationaler Zentren und ohne die Möglichkeit des nationalen Zugriffs.
  • Bemühung um Nichtentstehung von waffenfähigem Material, auch nicht innerhalb internationaler Zentren.
  • sichere Lagerung abgebrannter Brennelemente, die waffenfähige Stoffe enthalten, nur innerhalb internationaler Zentren ohne nationale Zugriffsmöglichkeit.
  • Abbau der vorhandenen Vorräte an waffenfähigem Material, sofern dies technisch möglich und sinnvoll ist. Anderenfalls die Errichtung technischer Barrieren, die den Zugriff auf das Material erschweren.
  • Auslegung nationaler Nuklearprogramme so, daß waffenfähige Materialien weder genutzt werden können noch entstehen.

Konkrete Aufgaben für verschiedene Materialien

Plutonium:

  • Die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in ausländischen Anlagen sollte unverzüglich eingestellt werden. Plutonium sollte nicht mehr als Kernbrennstoff betrachtet werden, der nach dem Atomgesetz als Wertstoff zu verwerten ist, sondern es sollte als radioaktiver Abfall gelten.
  • Die Produktion von MOX-Brennelementen für deutsche Reaktoren im Ausland sollte eingestellt werden.
  • Es muß erforscht werden, ob und wie die direkte Entlagerung ggf. nach Verglasung des Plutoniums mit hochradioaktiven Abfällen möglich ist.34
  • Eine genaue Plutoniumbilanz von Deutschland muß veröffentlicht werden, um Spekulationen über heimliche Vorräte vorzubeugen.
  • Technologie für die Verwendung von Plutonium, insbesondere zur Fertigung von Mischoxid-Brennelementen soll nicht exportiert werden.
  • Das bei der Firma Siemens und im Bundesbunker in Hanau lagernde Plutonium sollte dem nationalen Zugriff entzogen werden. Ähnliches gilt für Plutonium, das sich noch in Abfällen in der stillgelegten Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe befindet. Radioaktive Abfälle mit signifikanten Mengen Plutonium, d.h. insbesondere abgebrannte Brennelemente, sollten ebenfalls dem nationalen Zugriff entzogen und einer internationalen physischen Kontrolle unterstellt werden.
  • Das im Ausland lagernde separierte Plutonium sollte einer internationalen Organisation zur Hinterlegung übergeben werden.

Hochangereichertes Uran:

  • Die wesentliche zivile Anwendung von hochangereichertem Uran stellt Brennstoff für Forschungsreaktoren dar. Seit Anfang der achtziger Jahre laufen internationale Bemühungen zur Reduzierung dieses Bedarfs. Der Bau des in Planung befindlichen neuen deutschen Forschungsreaktors FRM II in Garching wäre weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff gebaut würde. Dies wäre das falsche Signal und ein Rückschlag für die internationalen Konversionsprogramme von HEU auf LEU.35
  • Mehrere deutsche Forschungsreaktoren arbeiten noch immer mit HEU, obwohl für die meisten bereits ein Konversionsprogramm entwickelt worden ist. Diese geplanten Umstellungen müssen zügig durchgeführt werden.36

Tritium:

  • Die größte Menge separierten Tritiums in Deutschland befindet sich im Tritiumlabor Karlsruhe (etwa 4 Gramm). Es unterliegt einer Überwachung durch die EURATOM. Die Überwachung sollte für die Öffentlichkeit transparenter durchgeführt und auf andere Tritiumbestände ausgeweitet werden.

Fazit

Einer der nächsten wichtigen Schritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt ist ein Bann auf kernwaffenfähige Materialien, um die nukleare Abrüstung unumkehrbar zu machen und um die Nichtverbreitung solider abzusichern. Die Aufgaben von Deutschland für diesen Schritt liegen im Bereich der zivilen Materialien. Da die weiteren Nutzungen von Plutonium und hochangereichertem Uran verzichtbar sind, könnte Deutschland international Zeichen setzen, mit unilateralen Maßnahmen voranschreiten und internationale Bemühungen maßgeblich unterstützen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Anmerkungen

1) Rotblat, J. (1996): Eine atomwaffenfreie Welt: Phantasievorstellung oder Wirklichkeit?, in: Albrecht, U./Beisiegel, U./Braun, R./Buckel, W. (Hg.): Der Griff nach dem atomaren Feuer, Frankfurt, S.127-146. Zurück

2) Vgl. Liebert, W. (1995): Wege zur atomwaffenfreien Welt nach Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, in: Sicherheit und Frieden 13.Jg., Nr.3, S.176-183. Zurück

3) Vergl. Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU <196> Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht, in: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

4) Kollert, R. (1997): `Atoms for Peace', der politische Betrug <196> oder: Wie Regierungen in Westeuropa ihre militärisch orientierten Atomenergieprogramme tarnten, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

5) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W (1994): Ambivalenz im Bereich nuklearer Forschung und Technologie, in: Liebert, W/Rilling, R./Scheffran, J. (Hg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, S. 163-179. Zurück

6) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W. (1997) Läßt sich die Kernenergienutzung gegen militärischen Gebrauch sichern?, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

7) Vgl. Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln!, in: Schindler-Seafkow, B./Strutynski, P. (Hg.), Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110. Zurück

8) Rotblat, J./Steinberger, J./Udgaonkar B. (Hg.), (1993): A Nuclear-Weapon-Free World <196> Desirable? Feasible?, Oxford: Westview Press. Liebert, W./.Scheffran, J. (Hg.), (1995): Against Proliferation <196> Towards General Disarmament, Münster. International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP),(1995): Document »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World«, New York/Darmstadt, 25. April 1995 (Deutsche Zusammenfassung in Wissenschaft und Frieden 13. Jg., Nr. 2/1995, S.102-106). Zurück

9) Carl Friedrich von Weizsäcker (1957): Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen. Zurück

10) Vgl. Metta Spencer (1995): »Political« Scientists. In: The Bulletin of the Atomic Scientists, July-August 1995, S. 62-68. Bernd W. Kubbig (1996): Kommunikatoren im Kalten Krieg: Die Pugwash-Konferenzen, die US-Sowjetische Studiengruppe und der ABM-Vertrag, HSFK-Report 6, Frankfurt/M. Zurück

11) Vgl. Corinna Hauswedell (1996): Friedenswissenschaften im Kalten Krieg, Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Dissertation, Hamburg. Zurück

12) Die NATO stationiert im Frieden in sieben Ländern Europas derzeit noch maximal 200 US-Atombomben des Typs B-61. In Krise oder Krieg kann diese Zahl vergrößert werden; zudem können seegestützte Marschflugkörper der NATO zugeordnet werden. Vgl. BASIC-BITS-Research Note 97.1, U.S.-NATO Nuclear Arsenals 1996-97, Berlin, 1997. Zurück

13) Zudem verlor Rußland bei der Auflösung der UdSSR viele seiner besten Waffen an die neuen unabhängigen Nachbarn. Laut NATO verblieben bei Rußland beispielsweise nur 37% der MIG-29 und 23% der SU-27-Kampflugzeuge (Spiegel 11/97.S.161). Zurück

14) Vgl. Carter, Ashton/Deutch, John (1997): No Nukes, Not Yet. In: Wall Street Journal 4.3.97 und Meier, Oliver/Nassauer, Otfried (1997): Next START by CART, BITS-Policy Paper 97.1, Berlin. Zurück

15) Der NATO-Vorschlag vom 20.2.1997 ist noch unzureichend, da er z.B. keine oder unzulängliche Angebote in den Bereichen Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Verstärkungskräfte und qualitative Rüstungskontrolle enthält. Zurück

16) Süddeutsche Zeitung, 5.10.1995: Das schreckliche Geheimnis der Risse. Zurück

17) Trust and Verify. The Bulletin of the Verification Technology Information Centre, No.60, September 1995, S.2. Zurück

18) Frankfurter Rundschau, 4.10.1995: Paris testet trotz Rissen im Atoll. Zurück

19) Hochstein, M.P./O'Sullivan, M.J. (1985): Geothermal systems created by underground nuclear testing, in: Proceedings of the 7th New Zealand Geothermal Workshop. Nach den Ergebnissen des Cousteau-Teams ist der Prozeß des Durchsickerns radioaktiver Substanzen sogar noch schneller, nämlich ab sechs Jahren! (IPPNW, 1995, S. 117) Zurück

20) Die Ergebnisse von Hochstein/O'Sullivan (1985) sind genauer zusammengefasst in: IPPNW, 1995, S. 116f. Zurück

21) Die Tageszeitung, 5.10.1995: Ende der atomaren Ignoranz. Zurück

22) Das »Information Bulletin« des internationalen Netzwerks der Ingenieure und Wissenschaftler gegen Proliferation gibt einen sehr guten Überblick über die gegenwärtigen und zukünftigen atomwaffenfreien Zonen der Welt, »Steps towards a nuclear-weapon-free world«, INESAP Information Bulletin, No. 10, August 1996. Zurück

23) Bericht des NGO Committee on Disarmament, UN General Assembly Disarmament Debates, November 1996, »Nuclear Weapon Free Zones«. Zurück

24) Die Palme-Kommission schlug 1982 eine 300 Kilometer breite entmilitarisierte Zone vor. Andere Vorschläge reichen bis 1957 zurück, als der polnische Außenminister Adam Rapacki eine atomwaffenfreie Zone bestehend aus der Tschechoslowakei, Polen, DDR und BRD vorschlug. Vorher schlugen Sir Anthony Eden (1955) und Hugh Gaitskell (1956) andere Zonen vor. Zurück

25) Auf der Konferenz zur Verlängerung und Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages, New York 1995, Document NPT/Conf.1995/SR.3, p.3; auf der Abrüstungskonferenz, Genf, UN-Presseerklärung DC/96/40, Conference on Disarmament, 29.8.96. Zurück

26) »Czechs lift nuclear arms ban«, The Times, 22.8.96. Zurück

27) »Study on NATO Enlargement«, NATO, September 1995; »Intensified dialogue with interested partners on the enlargement study: Questions for partners«, NATO document, DPA(96) 346 (3rd revise), 4.4.96; »Czech Republic: Solana to E. Europe – NATO means shared nuclear role« Reuters News Service, 29.4.96. Zurück

28) Zum ersten Mal erwähnt bei einem Gespräch zwischen dem russischen Minister für Atomenergie Victor Michailow und Friedensnobelpreisträger Prof. Joseph Rotblat, März 1996; die Drohung wurde dem US-Außenminster William Perry bei seinem Besuch in Moskau Oktober 1996 wiederholt, »Moskau will START-II Vertrag nachverhandeln«, Berliner Zeitung, 16.10.96; »Falsche Signale aus Ost und West«, Tagespiegel, 18.10.96. Zurück

29) Aus einer Erklärung der norwegischen Regierung, Dezember 1960, Stortingsmeldung nr. 28, 1960-61, die später vom Parlament verabschiedet wurde. 1982 erklärte Außenminister Frydenlund im Parlament, daß Atomwaffen weder von den norwegischen Streitkräften eingesetzt werden könnten, noch könnten sie dafür trainiert werden. Das Konzept einer nordischen atomwaffenfreien Zone wurde erst vom finnischen Präsidenten Kekkonen 1963 vorgeschlagen. Zwanzig Jahre später verabschiedete das »Nordic Council« die Empfehlung, für die Einrichtung einer nordischen atomwaffenfreien Zone (Nordiska rådet, 43:e sessionen 1993, Mariehamn, p.778.). Zurück

30) Der Russiche Außenminister Primakov erklärte der OSZE, daß eine Nato-Osterweiterung gegen den 2+4-Vertrag verstoßen würde, weil die Auflösung des Warschauer Paktes abhängig von der Verpflichtung war, daß die NATO sich nicht erweitern würde. Zurück

31) Scheffran, J./Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen. In: Peter Becker (Hrsg.): Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität von Kernwaffen. Zurück

32) Nucleonics Week, 26. Januar 1995, Seite 5. Zurück

33) Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1996): Proliferationsgefahren durch Nukleartechnologienutzung und Proliferationsresistenz als Auswahlkriterium für Energiesysteme. In: Bender, W. (Hrsg.): Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft. THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik, Darmstadt. Zurück

34) Liebert, W. (1996): Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen? In: Wissenschaft und Frieden, 14. Jg., Nr.2, S.60-66. Zurück

35) Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU – Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht. In: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

36) Colschen, L./Kalinowski, M. B. (1991): Tritium. Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung. In: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 9. Jg., Heft 4, Seiten 10-14. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.
Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)
Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)
Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa
Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.
Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt
Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Verbreitung von Atomwaffen. Der NPT-Vertrag 1995

Verbreitung von Atomwaffen. Der NPT-Vertrag 1995

von Richard Guthrie, Wolfgang Liebert, Martin Kalinowski

zum Anfang | Die Ausbreitung von Kernwaffen verhindern. Der Nichtverbreitungsvertrag und seine Verlängerung im Jahr 1995

von I. Richard Guthrie et al

I. Einleitung

Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen steht im Mittelpunkt des herrschenden Systems atomarer Begrenzung, das sich seit Beginn des Atomzeitalters entwickelt hat. Als der Vertrag Ende der sechziger Jahre ausgehandelt wurde, beschloß man, daß er zunächst 25 Jahre lang gelten solle. Die Konferenz, auf der über die Zukunft des Nichtverbreitungsvertrags entschieden werden soll, wird 1995 stattfinden, aber noch gibt es keine Garantie für seine Verlängerung.

Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Welt ohne den Nichtverbreitungsvertrag ein weitaus gefährlicherer Ort wäre. Doch das Ergebnis der 1995 stattfindenden Konferenz hängt zum großen Teil davon ab, wie die politischen Standpunkte Großbritanniens und der anderen Kernwaffenstaaten von den anderen Verhandlungspartnern, insbesondere den weniger industrialisierten Staaten, akzeptiert werden.

Obwohl sich beinahe alle Nationen darüber einig sind, daß das Funktionieren des Nichtverbreitungsvertrags jedem einzelnen von ihnen zugute kommt, ist er doch nicht unumstritten. Viele Nichtkernwaffenstaaten sind der Meinung, daß sie durch den Vertrag diskriminiert werden und daß die Kernwaffenstaaten mit zweierlei Maß messen – „macht das, was wir sagen, aber nicht das, was wir tun“.

Als Gegenleistung für den Verzicht auf Kernwaffen nach dem Nichtverbreitungsvertrag erwarten die Nichtkernwaffenstaaten folgendes:

  • Waffenkontrollverhandlungen zur Reduzierung der Atomwaffenlager auf der ganzen Welt,
  • Verhandlungen über einen Stopp von Kernwaffenversuchen,
  • Sicherheitsgarantien zum Schutz gegen atomare Angriffe, und
  • freien Zugang zur friedlichen Nutzung von Kernenergie.

Die Auffassungen der Nichtkernwaffenstaaten darüber, inwieweit diese Erwartungen erfüllt wurden, werden die Ziele und Verhaltensweisen vieler dieser Staaten auf der 1995 stattfindenden Konferenz beeinflussen. Diesen Themen sollte man sich jetzt widmen. Als Verwahrerstaat des Nichtverbreitungsvertrags spielt Großbritannien dabei eine wesentliche Rolle.

Angesichts der Ereignisse der letzten zwei Jahre im Nahen Osten ist die Öffentlichkeit allgemein der Meinung, daß der Nichtverbreitungsvertrag gegen die atomaren Schwellenstaaten unwirksam ist und daher verschärft werden muß. Welche Schritte soll Großbritannien in dieser Hinsicht unternehmen? Dieser Aufsatz untersucht, welche Handlungsoptionen es gibt.

II. Die Bedeutung des Nichtverbreitungsvertrags

Der Vertrag über die Nichtverbreitung atomarer Waffen, allgemein als Nichtverbreitungsvertrag bekannt, ist das wesentliche Element der globalen Kontrolle über die Verbreitung atomarer Waffen. Die verschiedenen Maßnahmen zur Begrenzung der Verbreitung von Kernwaffen umfassen ein System von internationalen Verträgen, Ausfuhrkontrollen, weltweitem politischen Druck und regionalen Verträge und Organisationen.

1. Veränderungen in der Betrachtungsweise

Während der ersten Verhandlungen wurde der Nichtverbreitungsvertrag in erster Linie als Instrument zur Verhinderung der Ausbreitung atomarer Waffen innerhalb Europas betrachtet. Die wesentliche Sorge der Großmächte war zu jener Zeit die Furcht vor einem Wiedererstarken Deutschlands und, in geringerem Ausmaß, Japans.

Obwohl man sich einig war, daß die weniger industrialisierten Staaten eines Tages technologisch genügend weit entwickelt sein würden, um ihre eigenen Kernwaffen zu bauen, war das kein wesentlicher Gesichtspunkt, bis Indien 1974 eine eigene Atombombe zur Explosion brachte.

Die historischen Grundlagen des Nichtverbreitungsvertrags stimmen nicht mit den Ansichten überein, die in der Weltöffentlichkeit über ihn herrschen. Wie der Golfkrieg gezeigt hat, glauben die meisten Menschen, der Nichtverbreitungsvertrag existiere, um die Verbreitung atomarer Waffen in der »Dritten Welt« zu unterbinden. Ironischerweise ist er gerade darin nach Meinung vieler am wenigsten wirksam.

Etwa 60 Prozent des Budgets, das der Internationalen Atomenergie-Organisation für Sicherungsüberwachungen zur Verfügung steht, wird nur in zwei Staaten ausgegeben – Deutschland und Japan. Kanada verwendet etwa 10 Prozent und die europäischen Länder, sowohl im Osten wie im Westen, verbrauchen den größten Teil dessen, was noch übrig ist.

2. Die Geschichte der Überprüfungskonferenzen

Alle fünf Jahre findet, wenn es die Mehrheit der Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages wünscht, eine Konferenz statt: „… zu dem Zweck, die Wirkungsweise dieses Vertrags zu überprüfen, um sicherzustellen daß die Ziele der Präambel und die Bestimmungen des Vertrages verwirklicht werden.“ (Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Nichtverbreitungsvertrag), Artikel VIII, Paragraph 3)

Überprüfungskonferenzen wurden bisher 1975, 1980, 1985 und 1990 abgehalten.

Wie später in diesem Bericht noch erläutert wird, gibt es international unterschiedliche Auffassungen über die Absichten in der Präambel und die Maßnahmen des Vertrages, und über die Fortschritte, die bei ihrer Durchsetzung gemacht wurden. Die Ergebnisse der Konferenzen spiegeln diese Tatsache.

Auf den Konferenzen von 1980 und 1990 gelang es nicht Einigkeit über ein Abschlußdokument zu erzielen. 1990 waren die Kernwaffenversuche der Hauptstreitpunkt.

Die Zukunft des Nichtverbreitungsvertrags hängt von einer Beschlußfassung über einige, wenn nicht sogar alle strittigen Gebiete ab und von der Angleichung der dazu existierenden unterschiedlichen Standpunkte.

III. Die Bedeutsamkeit des Jahres 1995

Die Ereignisse des Jahres 1995 werden die Entscheidung über die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags und die nächste fällige Überprüfungskonferenz sein. Die Verwahrerstaaten haben gegen Ende 1992 entschieden, daß die beiden Konferenzen als Konferenz über den Nichtverbreitungsvertrag 1995 gemeinsam abgehalten werden. Dennoch dienen diese beiden Ereignisse unterschiedlichen Zwecken, was im folgenden erläutert werden soll.

1. Die Konferenz über die Verlängerung

Die Bezeichnung »Konferenz über die Verlängerung« ist eigentlich irreführend. Artikel X (2) des Nichtverbreitungsvertrags lautet wie folgt: „Fünfundzwanzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrags wird eine Konferenz einberufen, die beschließen soll, ob der Vertrag auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird. Dieser Beschluß bedarf der Mehrheit der Vertragsparteien.“

Leider gibt es mehr als eine Meinung darüber, wie dieser Artikel zu verstehen ist.

»Entscheidungen, die von der Konferenz getroffen werden müssen«

Insbesondere herrscht Uneinigkeit darüber, in welcher Form über diese Verlängerung entschieden werden soll. Es gibt zwei wesentliche Standpunkte:

  • Der am wenigsten komplizierte ist der, daß der Vertrag 1995 ausläuft und die Konferenz darüber entscheidet, ob er verlängert wird oder nicht. Wenn die Konferenz zu keiner Entscheidung gelangt, dann verliert der Nichtverbreitungsvertrag seine Wirkung.
  • Eine rechtlich einwandfreie Auslegung besagt, daß die Konferenz nicht zu entscheiden hat, ob der Nichtverbreitungsvertrag verlängert werden soll, da die Verlängerung automatisch geschieht. Die Konferenz hat lediglich darüber zu entscheiden, für wie lange der Nichtverbreitungsvertrag verlängert werden soll. Eine solche Verlängerung kann für einen Tag oder auf ewig sein. Nach dieser Auslegung wäre der Nichtverbreitungsvertrag noch immer gültig, auch wenn die Konferenz 1995 ohne formale Einigung endet, und eine weitere Konferenz (oder Konferenzen) müßte dann später einberufen werden, um erneut den Versuch zu einer Einigung zu machen. In diesem Fall könnten einige Staaten die Zukunft des Vertrags anzweifeln und, gedeckt durch Artikel X (1) ihre Unterschrift zurückziehen.

Es ist von größter Wichtigkeit, daß das Vorbereitungskomitee diese Angelegenheit prüft und die Standpunkte der Teilnehmerstaaten hört. Damit wird abseits vom Scheinwerferlicht der Konferenzöffentlichkeit 1995 eine Diskussion ermöglicht und hoffentlich so bald wie möglich eine Übereinstimmung erzielt werden.

»Die Mehrheit der Unterzeichner«

Artikel X (2) legt fest, daß jede Entscheidung über eine Verlängerung von „einer Mehrheit der Unterzeichner des Vertrages“ gefällt werden soll. In anderen Worten, nicht nur von einer Mehrheit jener Unterzeichner, die an der Konferenz 1995 teilnehmen.

Die Bedeutung dieser Vorschrift zeigt sich, wenn man einen Blick auf die Teilnehmerliste der alle fünf Jahre abgehaltenen Überprüfungskonferenzen wirft. 1990, als der Nichtverbreitungsvertrag 140 Unterzeichner hatte, nahmen nur 84 Staaten an der Überprüfungskonferenz teil – nur 13 mehr als eine Mehrheit der Unterzeichner.

Hätte die Konferenz 1995 dieselbe Anzahl an Teilnehmern, dann würden 14 Stimmenthaltungen, Gegenstimmen oder Stimmen für eine andere Form der Verlängerung bereits bedeuten, daß ein Verlängerungsbeschluß nicht die Bedingungen von Artikel X (2) erfüllt. Man kann nur hoffen, daß 1995 mehr Staaten teilnehmen werden.

2. Die Überprüfungskonferenz 1995

Zusätzlich zur Entscheidung über die Verlängerung wird auf der Konferenz 1995 auch eine der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenzen abgehalten werden. Die Vor- und Nachteile dieser Tatsache wurden bisher kaum diskutiert.

Die Konferenzen werden gemeinsam abgehalten, wobei die Entscheidung über die Verlängerung sehr wahrscheinlich als Teil der Schlußerklärung eingebaut werden wird. Endet allerdings die Doppelkonferenz ohne Schlußerklärung, wie das bei den Überprüfungskonferenzen 1980 und 1990 der Fall war, dann wäre die Entscheidung über die Verlängerung verloren.

3. Vorbereitungen

Das erste Treffen des Vorbereitungskomitees für die Nichtverbreitungsvertrags-Konferenz 1995 ist für Mai 1993 in New York angesetzt.

IV. Strittige Bereiche

Innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft wird der Nichtverbreitungsvertrag weitgehend unterstützt. Dennoch gibt es viele strittige Bereiche. Beinahe alle von ihnen haben ihren Grund in der »Zweiklassen«-Natur des Nichtverbreitungsvertrags, die manchen Staaten die Entwicklung atomarer Waffen verbietet, während es anderen erlaubt wird, sie zu behalten.

Langfristig habe ich die Hoffnung, daß es uns gelingt, einen gerechteren und einsichtigeren Ansatz zur verantwortlichen Atomwaffenkontrolle zu finden, nicht nur bezüglich der Kernsprengkörper, sondern auch bezüglich der Trägersysteme langer Reichweite und mehrfach nutzbarer Technologien. Solche Kontrollen müssen, um voll wirksam zu sein, gleichgewichtig und fair sein; sie dürfen die friedliche Nutzung von Wissenschaft und Technologie nicht unnötig behindern; und sie sollten die Welt nicht in »Besitzende« und »Nicht-Besitzende« aufteilen. (Überblick über die Durchführung der von der Generalversammlung auf ihrer 10. Sondersitzung angenommenen Empfehlungen und Entscheidungen, Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, anläßlich der Woche der Abrüstung, A/C.1/47/7, Paragraph 29.)

1. Artikel VI

Der Hauptstreitpunkt zwischen den Kernwaffenstaaten und den Nichtkernwaffenstaaten ist, ob die von Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags festgelegten Verpflichtungen von den ersteren erfüllt worden sind.

Artikel VI lautet: „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Dies wird von einem Abschnitt in der Präambel verstärkt: „… in dem Wunsch, die internationale Entspannung zu fördern und das Vertrauen zwischen den Staaten zu stärken, damit die Einstellung der Produktion von Kernwaffen, die Auflösung aller vorhandenen Vorräte an solchen Waffen und die Entfernung der Kernwaffen und ihrer Einsatzmittel aus den nationalen Waffenbeständen auf Grund eines Vertrags über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle erleichtert wird, …“

Einige argumentieren, daß diese Verpflichtungen teilweise durch die Unterzeichnung des Vertrags über atomare Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag), den Vertrag über konventionelle Waffen in Europa (VKSE) und durch die amerikanisch-russischen Abkommen über strategische Kernwaffen erfüllt worden seien. Dennoch decken diese Vereinbarungen nur einige der in Artikel VI und der Präambel genannten Verpflichtungen ab, und sie schließen außerdem die Kernwaffen Großbritanniens, Frankreichs und Chinas nicht ein. Viele der Nichtkernwaffenstaaten fordern von den Kernwaffenstaaten den Abbau ihrer sämtlichen Atomwaffen, oder wenigstens den Eintritt in Verhandlungen, die dazu führen sollen.

Nicht nur der Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet die Atomwaffen-Staaten dazu, ihre sämtlichen Massenvernichtungswaffen einschließlich der Kernwaffen abzuschaffen: „Entschlossen, Fortschritte in Richtung einer generellen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu machen, einschließlich des Verbots und der Abschaffung aller Arten von Massenvernichtungswaffen …“ (UN-Resolution zur Unterstützung der Chemiewaffen-Vereinbarung, Dezember 1992, unterstützt von Großbritannien)

Der sichtbarste Streitpunkt im Zusammenhang mit Artikel VI sind die Kernwaffenversuche.

2. Kernwaffenversuche

Das Thema der Kernwaffenversuche beschränkt sich nicht auf Streitigkeiten über die Verpflichtungen aus Artikel VI. In der Präambel des Nichtverbreitungsvertrag findet sich eine verbindliche Aussage zu einem Vertrag über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen. „… eingedenk der in der Präambel des Vertrags von 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser durch dessen Vertragsparteien bekundeten Entschlossenheit, darauf hinzuwirken, daß alle Versuchsexplosionen von Kernwaffen für alle Zeiten eingestellt werden, und auf dieses Ziel gerichtete Verhandlungen fortzusetzen, …“

Obwohl die Präambel die Unterzeichner nur zu Verhandlungen über eine Reduzierung der Kernwaffenversuche und nicht zu einem Vertrag verpflichten, hat Großbritannien seit 1980 nicht mehr an solchen Verhandlungen teilgenommen und zählte zu der Minderheit von zwei Staaten – der andere waren die Vereinigten Staaten – die 1991 gegen die Umwandlung des Vertrags über ein teilweises Kernwaffenversuchsverbot in einen umfassenden Vertrag gestimmt hat.

Das Ziel der meisten Nichtkernwaffenstaaten ist ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen. Dieser Punkt hat mehr als jedes andere Thema, auf der Überprüfungskonferenz 1990 für Uneinigkeit gesorgt.

International gewinnt dieses Thema an Bedeutung, wie sich 1991 an der Konferenz zur Verbesserung des Vertrags über ein teilweises Kernwaffenversuchsverbot und 1992 an der Wahl zur Unterstützung eines umfassenden Kernwaffenversuchsverbots im Kongreß der Vereinigten Staaten gezeigt hat (siehe unten).

Die Politik Großbritanniens

Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Haltung der britischen Regierung zu einem umfassenden Kernwaffenversuchsverbot geändert.

1980 hieß es: „Wir glauben, daß die weitere Ausbreitung atomarer Waffen die Spannungen verschärfen und die internationale Sicherheit und Stabilität aufs Spiel setzen würde. Die im August stattfindende Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag ist ein wichtiger Schritt auf der Suche nach einem Weg, die weitere Verbreitung atomarer Waffen zu unterbinden und zugleich dem weitverbreiteten Wunsch einzelner Nationen nach der Nutzung von Kernkraft nachzukommen. Die weitere Verbreitung atomarer Waffen würde auch durch ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen verhindert, über das wir mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion Verhandlungen geführt haben.“ (Hervorhebung nachträglich hinzugefügt) (Statement on the Defence Estimates 1980, Cmnd. 7826-I, para.135)

Die gegenwärtige britische Politik lautet, daß ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen ein langfristiges Ziel sei, das durch eine »Schritt-für-Schritt«-Annäherung erreicht werden soll. So eine wachsende Annäherung kann international nur dann glaubwürdig sein, wenn auf jeder Stufe der nächste Schritt oder das nächste Ziel deutlich gemacht wird. Aber die britische Regierung hat bis jetzt noch nicht einmal angedeutet, wie der erste Schritt aussehen könnte.

Die Vereinigten Staaten von Amerika

Am 2. Oktober 1992 unterschrieb Präsident Bush das Energie- und Wassergesetz, das die Kernwaffenversuche der Vereinigten Staaten faktisch begrenzt. Präsident Bush hat angedeutet, daß er mit dieser Begrenzung nicht einverstanden ist. Allerdings enthält das Gesetz auch andere Vorschriften, von denen die wichtigste die erste Teilzahlung von 8 Milliarden Dollar für das Supercollider-Projekt in Texas ist, das Bush nach Kräften unterstützt.

Präsident Clinton hat seine Bereitschaft erklärt, eine internationale Überwachung von Kernwaffenversuchen, die zu einem umfassenden Verbot führen könnten, zu unterstützen.

Die Vorschriften über die Kernwaffenversuche sind nicht eindeutig formuliert. Wenn sie in Kraft treten, könnte es einige Auseinandersetzungen darüber geben, wie sie zu deuten sind.

Unter anderem schreibt das neue Gesetz vor:

  • Höchstens 15 sicherheitsbezogene Tests in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1993 und dem 31. Dezember 1996, wobei eine Höchstzahl von fünf Tests für jeden der drei jährlichen Berichtszeiträume gilt. Der Kongreß hat das Recht, jeden Jahresbericht, und damit auch den darin festgelegten Terminplan für die Kernwaffenversuche, abzulehnen.
  • Höchstens einen Zuverlässigkeitstest in jedem der jährlichen Berichtszeiträume, wenn der Präsident innerhalb von 60 Tagen nach Beginn dieses Zeitraums versichert, daß ein solcher Test notwendig ist. Der Kongreß kann einen solchen Test ablehnen.
  • Überhaupt keine Tests mehr nach dem 30. September 1996, außer ein anderer Staat führt noch nach diesem Datum einen Test durch. Sollte das geschehen, so würden die Tests unter den oben genannten Einschränkungen bis zum 31. Dezember 1996 fortgeführt, nach diesem Datum würden die Tests dann ohne Beschränkung wiederaufgenommen.
  • Großbritannien erhält die Genehmigung für einen Test pro jährlichem Berichtszeitraum, der zur Gesamtzahl der US-Test gerechnet wird.

Jeder Jahresbericht an den Kongreß sollte folgende Punkte enthalten:

  • Einen Terminplan für Verhandlungen über einen Teststopp und einen Plan zur Verwirklichung eines „multilateralen, umfassenden Verbots von Kernwaffenversuche am oder bis zum 30. September 1996“
  • Schätzungen über die Kernsprengkörper in den aktiven und inaktiven Lagern der Vereinigten Staaten.
  • Beschreibungen der Sicherungsmaßnahmen bezüglich der Sprengköpfe in den aktiven Lagern.
  • Schätzungen über die Tests, die zur Einrichtung moderner Sicherungsmaßnahmen für die Sprengköpfe, die noch nach dem 30. September 1996 in den aktiven Lagern verbleiben, benötigt werden.
  • Ein Terminplan für die Tests während des Berichtszeitraums.
Russisches Test-Moratorium

Nachdem nun die Situation in den Vereinigten Staaten deutlicher wird, gewinnt das russische Test-Moratorium neue Bedeutung. Dieses einjährige Moratorium, das von Präsident Gorbatschow verkündet und von Präsident Jelzin beibehalten wurde, sollte am 26. Oktober 1992 auslaufen.

Inzwischen hat man zu erkennen gegeben, daß dieses Moratorium bis Mitte 1993 ausgedehnt wird.

Französisches Moratorium

Die französische Regierung hat im April 1992 verkündet, daß sie die Tests bis zum Ende dieses Jahres aussetzen würde. Eine Entscheidung über die Fortsetzung wird in nächster Zeit erwartet.

3. Vertikale Ausweitung

Vertikale Ausweitung ist die quantitative und/oder qualitative Steigerung der vorhandenen Waffentechnologie in Lagerung, Herstellung und Entwicklung durch einen einzelnen Staat, der bereits über gewisse Fähigkeiten in diesem Bereich verfügt. Der Begriff beschreibt in der Regel die Steigerung der Atomwaffen- oder Raketen-Kapazitäten. (Horizontale Ausweitung ist die Ausbreitung solcher Fähigkeiten auf neue Staaten.)

Nach Ansicht vieler Nichtkernwaffenstaaten verstößt eine derartige quantitative und qualitative Verbesserung von Kernwaffen gegen die Verpflichtungen, die die Kernwaffenstaaten unter Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags eingegangen sind. Die Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten bestärkt diese Ansicht noch.

Die britischen auf U-Booten stationierten Kernwaffen werden qualitativ durch die Einführung des Trident-Systems verbessert, das das Polaris/Chevaline-System ersetzen soll, eine quantitative Verbesserung bedeutet die Erhöhung der Anzahl der Sprengköpfe von 192 auf 512.

Die britische Regierung vertritt den Standpunkt, daß das Trident-Programm nicht gegen die Verpflichtungen von Artikel VI verstößt: „Die zukünftige Einführung von Trident verstößt nicht gegen Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags und ist die Minimalkapazität, die zur Abwehr von Angriffen nötig ist. Durch diesen Vertragsartikel sind wir weiterhin verpflichtet, uns um den Abschluß von Abkommen zur wirksamen Atomwaffenkontrolle zu bemühen. Priorität muß in erster Linie ein ausgeglichener und verifizierbarer Abbau in den großen Arsenalen der Supermächte haben.“ (Richard Luce, FCO, Written Answer, 19. März 1985, Hansard, c437)

4. Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten

Artikel I des Vertrages lautet: „Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.“

Dieser Artikel gab Anlaß für Auseinandersetzungen: Was genau ist eine mittelbare Weitergabe von Kernwaffen oder eine mittelbare Weitergabe der Kontrolle über Kernwaffen? Bedeutet die Zusammenarbeit auf nuklearem Gebiet zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einen Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag? Der Vertrag über die Zusammenarbeit der USA und Großbritanniens wurde bereits 1958 geschlossen, zehn Jahre vor dem Nichtverbreitungsvertrag.

1981 vertrat Frank Cooper, der Permanent Under-Secretary beim Verteidigungsministerium die Ansicht, bestimmte Handlungen, die nach dem Vertrag von 1958 erlaubt sind, könnten einen Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag darstellen: „Wir erhalten von den Vereinigten Staaten auf dem gesamten Gebiet der Kernwaffen sehr warme und offenherzige Unterstützung. Ich glaube nicht, daß es darüber irgendwelche Zweifel geben kann … Wir hätten sie [die USA] nicht um die Durchführung des gesamten [Chevaline-] Programms bitten können, denn wegen dem Nichtverbreitungsvertrag und auch aus anderen Überlegungen heraus können nur wir selbst den Sprengkopf machen. Es war daher nötig, daß wir Teile des Programms selbst übernehmen. (Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt) (Sir Frank Cooper, GCB, CMG, Permanent Under-Secretary of State, MoD, mündliche Aussage vor dem Public Accounts Committee, 9. Dezember 1981, in Chevaline Improvement to the Polaris Missile System, Ninth Report of Session 1981-82, HC 269, Q.248)

5. Sicherheitsgarantien

Als Gegenleistung für den Verzicht auf atomare Waffen fordern viele Nichtkernwaffenstaaten Garantien gegen einen atomaren Angriff.

Es gibt zwei Kategorien von Sicherheitsgarantien – negative und positive. Bei einer negativen Sicherheitsgarantie garantiert ein Kernwaffenstaat, daß er auf keinen Fall oder unter bestimmten Umständen nicht Kernwaffen gegen einen Nichtkernwaffenstaat einsetzen oder ihn damit bedrohen werde; eine positive Sicherheitsgarantie hingegen ist es, wenn ein Kernwaffenstaat garantiert, im Fall eines angedrohten oder tatsächlichen Angriffs mit Kernwaffen Maßnahmen zur Unterstützung eines Nichtkernwaffenstaates zu unternehmen.

Aus der Perspektive eines Nichtkernwaffenstaats ist eine positive Sicherheitsgarantie von sehr viel größerem Wert.

Am 28. Juni 1978 erklärte der Vertreter Großbritanniens bei der Sondersitzung der Vereinten Nationen über Abrüstung: „Weisungsgemäß gebe ich im Namen meiner Regierung die folgende Garantie an Nichtkernwaffenstaaten, die Unterzeichner des Vertrags zur Nichtverbreitung von Kernwaffen sind und sich anderweitig international bindend verpflichtet haben, keine atomaren Sprengvorrichtungen herzustellen oder zu erwerben: Großbritannien wird gegen solche Staaten keine Kernwaffen einsetzen außer im Falle eines Angriffs auf Großbritannien, die von ihm abhängigen Gebiete, seine Truppenverbände oder Alliierten durch einen solchen Staat in Verbindung oder Allianz mit einem Kernwaffenstaat.“ (Official Records of the General Assembly, Tenth Special Session, Plenary Meetings, 26. Sitzung, Paragraph 12)

Diese negative Garantie bleibt im Belieben der britischen Regierung. 1968 verkündete Großbritannien die »Absicht«, jeden Nichtkernwaffenstaat, der den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichne, bei einem atomaren Angriff zu unterstützen, gab aber keine Verpflichtungserklärung ab. Viele betrachten diese Absicht nicht als positive Sicherheitsgarantie.

China forderte bei seinem Beitritt 1992 positive Sicherheitsgarantien und einen rechtlichen Rahmen für eine Vereinbarung der Kernwaffenstaaten, weder Nichtkernwaffenstaaten noch atomwaffenfreie Zonen anzugreifen.

6. Produktion von spaltbarem Material

Die Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen findet in Großbritannien weiterhin in Anlagen statt, die nicht den Sicherungsüberwachungen unterliegen. Es gab viele Forderungen nach einer weltweiten Einstellung dieser Produktion, ein Thema, das in jüngster Zeit von den Vereinigten Staaten aufgegriffen wurde.

Die Idee eines Produktionsstopps für spaltbares Material ist sehr einfach: die Kernwaffenstaaten sollten aufhören, spaltbares Material zu militärischen Zwecken herzustellen und solche Produktionsanlagen unter internationale Kontrolle stellen. Eine Vereinbarung über einen Stopp der Produktion militärischen spaltbaren Materials wurde 1964 erreicht, wurde aber später fallengelassen zugunsten eines Vorschlags zur unilateralen Schließung von Produktionsanlagen durch die Kernwaffenstaaten.

Der Unterschied zwischen »zivilem« und »militärischem« Material ist abhängig vom Ausgangmaterial und der Verwendung, weniger vom Besitzer des Materials. In Großbritannien unterliegen alle zivilen Materialien der Sicherungsüberwachung. In manchen Kreisen wird militärisches Material auch als »nicht-zivil« bezeichnet.

Viele Nichtkernwaffenstaaten würden einen solchen Stopp als positiven Schritt betrachten und als wirksamen Weg, die vertikale Ausweitung zu reduzieren.

Am 13. Juli 1992 verkündete US-Präsident George Bush, daß die Vereinigten Staaten die Produktion von militärischem spaltbaren Material einstellen würden. Auch die Russen haben Schritte in diese Richtung unternommen.

Der Standpunkt der britischen Regierung wird in zwei schriftlichen Antworten vom Juli 1992 zusammengefaßt. Das Verteidigungsministerium wurde nach der Bedeutung gefragt, die eine britische Beteiligung bei einer solchen Vereinbarung für die Verteidigung hätte: „Anders als die atomaren Supermächte hat Großbritannien keine umfangreichen Lager überzähligen spaltbaren Materials, auf das es zurückgreifen könnte. Aber die Produktion in Großbritannien wird weiterhin auf dem Mindestlevel laufen, der nötig ist, um die Bedürfnisse unserer nuklearen Abschreckungswaffen und der U-Boot-Antriebe zu erfüllen.“ (Jonathan Aitken, Minister of State for Defence procurement, Written Answer, 16. Juli 1992, Hansard, c932-3)

Das Außen- und Commonwealth-Ministerium wurde nach der britischen Politik bezüglich eines solchen Produktionsstopps gefragt: „Die britische Regierung begrüßt die Entscheidung vom 13. Juli, die Produktion von waffentauglichem spaltbarem Material zu beenden. Sie ist die Antwort auf eine bilaterale Initiative der Russen und hängt nicht von der Zustimmung Großbritanniens ab. Die Produktion in Großbritannien wird weiterhin auf dem Mindestlevel laufen, der nötig ist, um die Bedürfnisse unserer nuklearen Abschreckungswaffen und der U-Boot-Antriebe zu erfüllen.“ (Douglas Hogg, Minister of State, FCO, Written Answer, 16. Juli 1992, Hansard, c963)

Interessanterweise werden die Russen weder in Bushs Erklärung vom 13. Juli noch in dem Hintergrundmaterial, das vom Weißen Haus dazu ausgegeben wurde, erwähnt.

Wirklich benötigt wird spaltbares Material in der Zukunft nur als Treibstoff für atomgetriebene Unterseeboote. Wie öffentlich zugängliches Material zeigt, ist es höchst unwahrscheinlich, daß die gegenwärtigen Vorräte von spaltbarem Material die geplanten Atomwaffenprogramme in Schwierigkeiten bringen könnten.

Wenn kein weiteres waffentaugliches Plutonium benötigt wird, könnte dann die britische Regierung nicht einen Produktionsstopp für Plutonium vorschlagen?

Ausschluß aus Sicherungsüberwachungen

Ein britischer Produktionsstopp für militärisches spaltbares Material wäre wenig sinnvoll, wenn es wirksame Möglichkeiten gäbe, ziviles Material in den militärischen Kreislauf einzuspeisen – wie es bereits geschieht.

Nach dem EURATOM-Vertrag unterliegen alle zivilen Atomanlagen in Großbritannien seit Januar 1973 den EURATOM-Sicherungsüberwachungen. Diese Anlagen und sämtliches ziviles spaltbare Material in Großbritannien unterliegen auch einem freiwilligen EURATOM-Überwachungsabkommen zwischen Großbritannien und der Internationalen Atomenergie-Organisation, das am 14. August 1978 in Kraft getreten ist (INFCIRC/153). Die Grundlage dieser Vereinbarung ist, daß Großbritannien „unter den Bedingungen dieses Vertrages Sicherungsüberwachungen für sämtliches Ausgangs- und besonderes spaltbares Material in Anlagen oder Teilanlagen innerhalb Großbritanniens, abgesehen von solchen, die aus Gründen der nationalen Sicherheit gesperrt sind, zu erlauben, um der Behörde die Feststellung zu ermöglichen, daß solches Material nicht vom zivilen Einsatz abgezogen wird, außer wie in dieser Vereinbarung festgelegt.“ (Artikel 1 (a))

Dennoch hat die Vereinbarung besondere Vorkehrungen für den Entzug von nuklearem Material aus Gründen der nationalen Sicherheit getroffen. Artikel 14 (Ausschließung aus Gründen der nationalen Sicherheit) lautet: „Wenn Großbritannien plant, aus Gründen der nationalen Sicherheit spaltbares Material aus dem Geltungsbereich dieser Vereinbarung entsprechend Artikel 1 (c) abzuziehen, sollten die Gemeinschaft und die Atomenergie-Organisation vor einem solchen Ausschluß informiert werden. Falls spaltbares Material zur Aufnahme in den Geltungsbereich dieser Vereinbarung zur Verfügung steht, weil sein Ausschluß aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht länger notwendig ist, sollten die Gemeinschaft und die Atomenergie-Organisation entsprechend Artikel 62 (c) von Großbritannien informiert werden.“ (Hervorhebung nachträglich hinzugefügt)

1985 wurde festgestellt, daß »Artikel-14-Ausschlüsse« aus Gründen der nationalen Sicherheit geschehen mußten: „Nukleares spaltbares Material, das in Berufung auf Artikel 14 der Vereinbarung zwischen Großbritannien, Euratom und der IAEA den Sicherungsüberwachungen entzogen wird, wird für Zwecke der nationalen Sicherheit verwendet.“ (Alastair Goodlad, Parliamentary Under-Secretary of State, Department of Energy, Written Answer, 16. Mai 1985, Hansard, Vol. 79, c181)

Dennoch wurden bis 1988 andere Ausschlüsse gemacht, die diese Bedingungen nicht erfüllten: „Im Zeitraum vom 1. Juli 1986 bis zum 31. Dezember 1987 gab es fünf [Artikel 14-]Ausschlüsse von Plutonium, die umfangreicher als lediglich Gramm-Mengen waren. Ein Ausschluß war auf Dauer und betraf Material aus Calder Hall/Chapel Cross. Vier betrafen die zeitweise Entfernung von den Sicherungsüberwachungen unterliegendem Material zur Behandlung mit Spezialausrüstung in einer nicht-zivilen Anlage. Das sind rein technische Bewegungen, die aus Sicherheitsgründen notwendig sind. Sämtliches Material wird nach Abschluß der Behandlung wieder an die Sicherungsüberwachungen übergeben.“ (Michael Spicer, Parliamentary Under-Secretary of State, Department of Energy, Written Answer, 12. Februar 1988, Hansard, Vol. 127, c393)

Die Anzahl der Ausschlüsse steigt rapide an. Die folgende Anfrage bezieht sich auf den Zeitraum von zweieinhalb Jahren: „Seit dem 1. Januar 1990 wurden einundvierzig Ausschlüsse von spaltbarem Material nach Artikel 14 des Sicherungsüberwachungsabkommens gemacht.“ (Tim Eggar, Minister for Energy, Department of Trade and Industry, Written Answer, 3. Juli 1992, Hansard, Vol. 210, c761)

Die Anzahl der Ausschlüsse ist von 5 in einem Zeitraum von 18 Monaten auf 41 in einem Zeitraum von 30 Monaten gestiegen.

7. Artikel IV und Ausfuhrkontrollen

Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrag lautet folgendermaßen: „(1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.

(2) Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen. Vertragsparteien, die hierzu in der Lage sind, arbeiten ferner zusammen, um allein oder gemeinsam mit anderen Staaten oder internationalen Organisationen zur Weiterentwicklung der Anwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke, besonders im Hoheitsgebiet von Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, unter gebührender Berücksichtigung der Bedürfnisse der Entwicklungsgebiete der Welt beizutragen.“(Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt.)

Nachdem den westlichen Staaten die wahren ökonomischen und sozialen Kosten von Kernkraft bewußt wurden, wurden die westlichen Kernkraftprogramme erheblich beschnitten. Das hat viele zu der Annahme verführt, Artikel IV sei nun überflüssig geworden. Viele Entwicklungsländer, die noch immer auf freien Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie hoffen, sehen das allerdings anders. Diese Technologien sind nicht auf Kraftwerke begrenzt, sondern umfassen auch Anwendungen in Medizin und Industrie.

Die Themen, die hier strittig sind, wurden im Westen nur selten öffentlich debattiert. Wurde den Verpflichtungen aus Artikel IV genug Aufmerksamkeit geschenkt, als im Anschluß an die Enthüllungen im Irak die Ausfuhrkontrollen in Bezug auf nukleare Technologien verschärft wurden?

Das ist ein weiterer Fall einer Gegenleistung für Nichtkernwaffenstaaten, die auf atomare Waffen verzichten. Haben die Atomwaffen-Staaten im Gegenzug dazu ihre Verpflichtungen erfüllt?

V. Die Stärkung des Systems der Nichtverbreitung nuklearer Waffen

Welche Möglichkeiten hat Großbritannien, auf politischem Wege das von der Internationalen Atomenergie-Organisation geführte Sicherungsüberwachungssystem zu stärken?

1. Erhöhung des Budgets für Sicherungsmaßnahmen

Das einfachste Mittel, um der IAEA bei der Verstärkung der Sicherungsüberwachungen zu helfen, wäre eine Erhöhung des Budgets. Gegenwärtig leistet Großbritannien jedes Jahr einen Beitrag von etwa 6 Millionen Pfund an die IAEA, von dem etwa die Hälfte für Sicherungsüberwachungen ausgegeben wird. Im Vergleich dazu umfaßt der britische Verteidigungshaushalt jährlich 24 Milliarden.

Sicherungsüberwachungen sind nicht nur ein Mittel der Verifikation, sondern auch eine vertrauensbildende Maßnahme. Eine Erhöhung des Budgets würde eine internationale Vereinbarung erfordern. Einige Staaten, insbesondere die in Osteuropa, sind vermutlich nicht bereit oder nicht in der Lage, ihren Beitrag zu erhöhren.

Der Einsatz von Sonderüberwachungen, der weiter unten erläutert wird, ist möglicherweise nur mit einer Erhöhung des Budgets für Sicherungsüberwachungen möglich.

2. Korrektur des Ungleichgewichts in den Sicherungsüberwachungen

Es gibt Argumente, daß die Mittel, die der IAEA zur Durchführung von Sicherungsüberwachungen zur Verfügung stehen, nicht gleichmäßig ausgegeben werden, so daß es zu einer sehr unterschiedlichen Dichte von Sicherungsüberwachungen kommt. Dieser Punkt wird als »Ungleichgewicht in den Sicherungsüberwachungen« diskutiert.

Aus historischen Gründen legt das Sicherungsüberwachungssystem mehr Nachdruck auf Material als auf Länder, wobei die Anzahl der Sicherungsüberwachungen in der Hauptsache aus der Menge des vorhandenen Materials bestimmt wird und nicht an anderen Bewertungsgrundlagen für die Ausweitungsfähigkeit des einzelnen Landes. Soll das weiterhin der Fall sein? In den meisten Fällen war die IAEA die wesentliche Behörde für die Materialüberprüfung der Sicherungsüberwachungen. Könnten nicht beispielsweise regionale Organisationen, wie etwa EURATOM, mehr Verantwortung für die Sicherungsüberwachungen übernehmen und der IAEA lediglich über die Ergebnisse Bericht erstatten?

Das System zur Festlegung der Anzahl der Sicherungsüberwachungen hängt auch ab von der Anzahl von Anlagen, in denen atomares Material gelagert ist. Ein Staat, der ein Kernkraftprogramm mit einer relativ kleinen Menge von spaltbarem Material hat, kann die Gesamtzahl der Inspektionen verringern, indem er das atomare Material auf mehr Anlagen verteilt.

Von wem kann man wohl eher eine Ausweitung erwarten, von einem demokratischen Staat, dessen Brennstoff-Kreislauf ständig von einer regionalen Organisation überwacht wird oder von einem nicht-demokratischen Staat mit einem sehr viel kleineren Brennstoff-Kreislauf, der nur wenige Male im Jahr von Inspektoren besucht wird? Obwohl regionale Organisationen von verschiedenen Seiten mit Mißtrauen betrachtet werden, sollte man bedenken, daß jedes Land einer Region Interesse daran hat, die Verbreitung von Kernwaffen in seinen Nachbarländern zu verhindern.

Das auf Material basierende System führt dazu, daß 60 Prozent des Sicherungsüberwachungs-Budgets in Deutschland und Japan ausgegeben werden, 10 Prozent in Kanada und der größte Teil des Restes in Europa. Der Irak hat mit seinen relativ geringen Mengen von spaltbarem Material, das allerdings umfangreich genug war, um eine Bombe zu entwickeln, trotz der Sicherungsüberwachungen erstaunliche Fortschritte in der Entwicklung von Kernwaffen gemacht.

3. Einsatz von Sonderinspektionen

Die Modellvereinbarung über Sicherungsüberwachungen zwischen Nichtkernwaffenstaaten und der IAEA wurde im IAEA Information Circular 153 (INFCIRC/153) veröffentlicht. Die darauf basierenden Vereinbarungen wurden als »INFCIRC/153«-Vereinbarungen bekannt.

Artikel 73 von INFCIRC/153 lautet: „Die Vereinbarung soll sicherstellen, daß die Behörde entsprechend den in Paragraph 77 beschriebenen Verfahren spezielle Überprüfungen durchführen kann.

(a) Um Informationen aus speziellen Berichten zu verifizieren; oder

(b) falls die Behörde der Ansicht ist, daß die vom Staat zur Verfügung gestellten Informationen einschließlich der Erläuterungen durch den Staat und der durch Routineinspektionen erhaltenen Informationen nicht ausreichen, damit die Behörde ihre Aufgaben entsprechend dieser Vereinbarung erfüllen kann.

Eine Inspektion wird als speziell bezeichnet, wenn sie entweder zusätzlich zu den in Paragraph 78-82 beschriebenen Routineinspektionen stattfindet, oder für Sonder- oder Routineinspektionen oder für beide den Zugang zu Informationen oder Orten verlangt, die über den in Paragraph 76 genannten Zugang hinausgehen.“

Artikel 77 lautet: „Die Vereinbarung sollte festlegen, daß beim Eintreten von Umständen, die eine Sonderinspektion zu den in Paragraph 73 erläuterten Zwecken notwendig machen könnten, sich der Staat und die Behörde zunächst beraten sollten. Als Ergebnis solcher Beratungen könnte die Behörde Inspektionen, zusätzlich zu den in den Paragraphen 78-82 festgelegten Routineinspektionen, durchführen und in Absprache mit dem Staat Zugang zu Informationen oder Anlagen erhalten, die über den in Paragraph 76 für Sonder- und Routineinspektionen festgelegten Zugang hinausgehen. Jede Uneinigkeit bezüglich der Notwendigkeit zusätzlichen Zugangs soll entsprechend Paragraph 21 und 22 geregelt werden; falls das Eingreifen des Staates wesentlich und dringend ist, soll Paragraph 18 Anwendung finden.“

Diese Anordnungen für Inspektionen wurden nie angewendet, auch wenn sie bekannt sind: „Ich freue mich mitteilen zu können, daß das Gremium im letzten Jahr verschiedene Schritte unternommen hat, um die Informationsbasis des Sicherungsüberwachungssystems zu stärken und das Recht der Behörde für die Durchführung von Sonderinspektionen unter den Bedingungen umfassender Sicherungsüberwachungsabkommen (z.B. INFCIRC/153 d.V.). Sollte ein Mitgliedsstaat, mit dem ein solches Abkommen geschlossen wurde, diese Forderung verweigern, könnte der Generaldirektor die Angelegenheit an den Ausschuß weitergeben. Falls der Ausschuß das beschließt, könnte die Angelegenheit an den Sicherheitsrat gehen.“ (Bericht von Hans Blix, Generaldirektor der IAEA, an die 36. Sitzung der Generalkonferenz der IAEA, 21. September 1992)

Im selben Bericht stellt Blix außerdem fest: „Im vergangenen Jahr habe ich mit großer Befriedigung die Verpflichtungserklärungen mehrerer Staaten erhalten, jeden Standort und jede Anlage für die Behörde zu öffnen – unabhängig davon, ob diese Standorte und Anlagen von den Sicherungsüberwachungen betroffen sind. In manchen Fällen hat die Behörde von solchen Verpflichtungserklärungen Gebrauch gemacht. Sie sind von großen Wert für die Vertrauensbildung – vorausgesetzt, daß sie auch in der Praxis vollständig anerkannt sind.“ Wird die britische Regierung eine solche Verpflichtungserklärung abgeben?

4. Einsatz anderer Verifikationsmethoden zur Ergänzung der Sicherungsüberwachungen

Als der Nichtverbreitungsvertrag ausgehandelt wurde, waren die internationalen Ansichten über Verifikationsmöglichkeiten noch ganz anders als heute. Durch die Zunahme der Waffenkontrollverträge ist die Verifikation intensiver und umfangreicher geworden.

Der vor kurzem unterzeichnete Vertrag über Chemische Waffen enthält beispielsweise ein ausgeklügeltes Verifikationssystem mit Routineinspektionen und kurzfristig angekündigten Probeinspektionen bei nicht gemeldeten Anlagen. Anders als die Sonderinspektionen der IAEA hat der Überprüfte kein Recht, die Inspektion abzulehnen, obwohl er sie verzögern und den Bereich in gewisser Weise begrenzen kann.

Der Einsatz von Satellitenbildern oder Luftaufnahmen von Anlagen könnte sicherstellen, daß die Anlagen genau nach den der IAEA übermittelten Plänen gebaut wurden. Die Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrags könnten aufgefordert werden, Luftaufnahmen ihrer Anlagen einzureichen. Die IAEA könnte kommerzielle Satellitenphotographie einsetzen und die Bedingungen des multilateralen Vertrags über den »Offenen Himmel«, der noch nicht in Kraft getreten ist, könnten so ausgeweitet werden, daß die Daten und Photographien, die von einem Staat in Auftrag gegeben werden, als Nachweise gültig sind.

Der Einsatz eines globalen seismographischen Netzes und anderer Methoden würden sicherstellen, daß kein Staat sicher sein könnte, unentdeckte Atomwaffentests, nicht einmal unterirdische, durchführen zu können. Wenn die Tests nicht ohne die Möglichkeit einer Entdeckung durchgeführt werden können, bedeutet das eine deutliche Abschreckung, um mit der Entwicklung von Waffen zu beginnen. Atmosphärische Tests können auch durch Satelliten entdeckt werden.

Ein intensiverer Abgleich der Informationen über die atomaren Aktivitäten eines Staates würde eine bessere Einschätzung seiner Absichten ermöglichen.

Im Fall des Irak haben mehrere Staaten Einzelteile oder Material geliefert, die für die atomare Entwicklung des Iraks wesentlich waren. Da es aber keinen Überblick über den Handel mit diesen bedeutsamen Waren gibt, waren die Fortschritte des Iraks der Internationalen Staatengemeinschaft nicht bewußt. Wenn die IAEA oder eine andere Organisation ein Register über solche Handelsbeziehungen führen würde, könnte die Vorwarnzeit für ein ähnliches, anderswo entwickeltes Programm verlängert werden.

5. Erweiterung der Anzahl der Unterzeichner- und Befolgerstaaten

Die Erweiterung der Anzahl der Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrags wirkt mit Sicherheit stärkend. Unter den Staaten, die in letzter Zeit den Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben haben, zählen im internationalen Nukleargeschäft so bedeutsame Handelsnationen wie Frankreich und China, und andere Staaten, die Anlaß zur Besorgnis wegen einer möglichen Ausweitung gaben, wie Nordkorea und Südafrika.

Zu den Staaten, die zu einer Unterzeichnung ermutigt werden sollten, zählen Israel, das bei vielen Gelegenheiten zu Besorgnis Anlaß gab; Indien, das 1974 eine »friedliche« atomare Vorrichtung zur Explosion brachte, und Pakistan, bei dem es Präsident Bush nicht gelang, eine sichere Aussage darüber zu erhalten, ob es den Versuch zu einer Entwicklung atomarer Waffen unternimmt. Der Fall von Pakistan gibt insbesondere Anlaß zu Besorgnis, da die Bevölkerung offenbar die Entwicklung solcher Waffen unterstützt.

Schlußfolgerungen

  • Der Nichtverbreitungsvertrag ist das wichtigste Mittel internationaler Kontrolle über die Verbreitung atomarer Waffen. Der Vertrag und die damit zusammenhängenden Sicherungsmaßnahmen sollten verschärft werden. Auf der Nichtverbreitungsvertrags-Konferenz 1995 sollte die unbegrenzte Gültigkeit für die britische Regierung eine vorrangige Angelegenheit sein.
  • Möglichst früh sollte überlegt werden, welche Standpunkte die britische Regierung in den Vorverhandlungen und während der Konferenz 1995 bezüglich der vermutlich strittigen Themen einnehmen will. Dazu zählen Abrüstungsverhandlungen, Verhandlungen über Kernwaffenversuche, die Produktion von spaltbarem Material, die vertikale Ausbreitung, die Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten und die Sicherheitsgarantien.
  • Vor der Konferenz 1995 und noch vor der Einrichtung von Vorbereitungskomitees sollten mit den Unterzeichnerstaaten Gespräche über den Nichtverbreitungsvertrag stattfinden, um für 1995 Probleme und Auseinandersetzungen möglichst zu reduzieren.
  • Die Unterzeichnerstaaten müssen ermutigt werden, an der Konferenz 1995 teilzunehmen, um das Erreichen einer »Mehrheit der Vertragsparteien« wahrscheinlicher zu machen.

Um den Nichtverbreitungsvertrag und die damit zusammenhängenden Maßnahmen zu verschärfen, könnten folgende Schritte in Betracht gezogen werden: Die Anhebung des Budgets der Internationalen Atomenergie-Organisation für Überwachungsmaßnahmen; Die Veränderung des Systems, nach dem die Anzahl der Sicherungsinspektionen in jedem Land berechnet wird, damit diese Anzahl nicht direkt von der Menge nuklearen Materials in den Produktionsanlagen des Landes abhängig ist, sondern auch durch andere Faktoren beeinflußt werden kann.

  • Der Einsatz von Sonderüberwachungen durch die Atomenergie-Organisation an nicht gemeldeten Anlagen eines Landes;
  • Der Einsatz weiterer Verifikationsmethoden zur Ergänzung der Sicherungsinspektionen, wie Satellitenüberwachungen und intensiveren Datenabgleich auf internationaler Ebene;
  • Verstärkte Bemühungen um den Beitritt von »Schwellen«-Staaten zum Nichtverbreitungsvertrag.
Die Verfasser dieses Berichts

Dieser Bericht ist das Ergebnis von Arbeiten, die im Anschluß an die Zusammenstellung von unterstützenden Informationen für politische Akteure und Meinungsführer zur Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrags 1990 geleistet wurden. Dabei wurden Informationsmaterialien über den Nichtverbreitungsvertrag und damit zusammenhängende Themen zusammengestellt und verteilt. Dieses Memorandum soll über den Nichtverbreitungsvertrag und die Konferenz über seine Verlängerung 1995 informieren und über Themen, die im Vorfeld dieser Konferenz zur Sprache kommen können.

An diesem Projekt sind folgende Gruppen beteiligt:

British American Security Information Council (BASIC), London

Dfax Associates Ltd., Leeds

International Security Informatin Service (ISIS), London

Verification Technology Information Centre (VERTIC), London

Der Joseph Rowntree Charitable Trust hat dieses Projekt finanziell unterstützt.

Verfaßt wurde dieser Bericht von Richard Guthrie von BASIC, unter Mithilfe fester und freier Mitarbeiter der oben genannten Gruppen. Die in diesem Memorandum geäußerten Standpunkte sind diejenigen des Autors und entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten der oben genannten Gruppen oder mit ihnen in Verbindung stehender Personen oder Organisationen. Übersetzung von Uta Angerer.

zum Anfang | Nukleare Nonproliferation – eine naturwissenschaftliche Betrachtung

von Wolfgang Liebert, Martin Kalinowski

1.

Häufig wird behauptet, nukleare Proliferation, also die Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Weiterentwicklung von Kernwaffenarsenalen, sei im wesentlichen ein politisches Problem. Richtig an dieser Behauptung ist, daß politische Machtinteressen Proliferationsgefahren antreiben und daß es keine vollständige Lösung des Problems durch technische Sicherungsmaßnahmen gibt. Richtig ist auch, daß Maßnahmen auf der politischen Ebene ergriffen werden müssen, um die Proliferation zum Ende zu bringen. Falsch an der These ist, daß der existente und persistierende wissenschaftlich-technologische Kern des Problems schlicht übersehbar und verdrängbar gemacht wird. Wissenschaftlich-technische Möglichkeiten beeinflussen (häufig irreversibel) die Möglichkeiten politischer Macht. Dies fällt insbesondere auf in Zeiten instabiler politischer Verhältnisse (man betrachte beispielsweise die Situation in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) oder wenn eindeutige Begehrlichkeiten im Felde der Politik erkennbar werden (man denke beispielsweise an Franz Josef Stauß' Politik im Deutschland der fünfziger Jahre oder an die Politik der irakischen Führung in den letzten 15 Jahren). Das Problem hat seine Wurzeln im wissenschaftlich-technologischen Bereich; auch dort muß angesetzt werden. Für eine langfristige Perspektive und eine dauerhafte Tragfähigkeit von Non-Proliferations-Aktivitäten ist dieser Aspekt von hoher Bedeutung.

2.

Die Probleme der vertikalen Proliferation (Weiterentwicklung von Kernwaffenarsenalen) und der horizontalen Proliferation (Weiterverbreitung von Kernwaffen) sind eng miteinander verknüpft. Sie können nur simultan einer Lösung zugeführt werden.

Ein Ende der horizontalen Proliferation ist nicht zu erwarten ohne ein Ende der vertikalen Proliferation. Dies ist nochmals besonders deutlich geworden bei der letzten im Jahr 1990 abgehaltenen Überprüfungskonferenz des Non-Proliferationsvertrages (NPT), der im Jahre 1995 nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung ansteht. Eine Reihe von Vertretern der sich entwicklenden Länder forderten eine starke Kopplung zwischen dem Entschluß für eine Verlängerung des NPT über das Jahr 1995 hinaus mit einem eindeutigen Ende der vertikalen Proliferation in den etablierten Kernwaffenstaaten. Umgekehrt sind die politischen Hintergründe für eine Fortsetzung der vertikalen Proliferation inzwischen auch mit der Angst vor einer zunehmenden Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen verknüpft. Gründe für eine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von großen Atomwaffenarsenalen sind nach Ende des Ost-West-Konfliktes kaum mehr zu begründen, wenn die horizontale Proliferation gestoppt und hoffentlich die bereits erfolgte Weiterverbreitung rückgängig gemacht werden kann.

Nicht nur politische Kopplungen existieren zwischen der horizontalen und der vertikalen Proliferation. Hochtechnologische Optionen werden ungeachtet ihrer möglichen militärischen Relevanz in den industrialisierten Ländern der nördlichen Hemisphäre ohne ausreichende Beschränkungnen auf industrieller Skala genutzt. Schwellenländer folgen gewöhnlich zehn oder zwanzig Jahre später mit importierten, nachgeahmten, selbst- oder weiterentwickelten Versionen dieser Technologien. Solche Entwicklungen rufen dann allgemein Befürchtungen über Proliferationsgefahren hervor. Beispielsweise ist die kernwaffenrelevante und höchst effektive Technologie der Ultrazentrifugen zur Urananreicherung eigenständig in Brasilien entwickelt worden oder mit kräftiger Unterstützung aus einigen Industrieländern (darunter Deutschland) im Irak. Diese Technologie wurde lange zuvor in nördlichen Industrieländern entwickelt und ist dort wohl etabliert. Ohne Kontrolle des Gebrauches ist diese Technologie auch die Grundlage für die Produktion hochangereicherten Urans für Kernwaffen. Dieselbe Geschichte könnte sich mit anderen Anreicherungstechnologien wiederholen. Verfahren der Laserisotopenseparation, die insbesondere für die Abtrennung von Uran-, Plutonium- und Wasserstoffisotopen interessant sind, wurden in einigen Industrieländern und Kernwaffenstaaten bereits weit entwickelt. Ihre zivile Nutzung im Rahmen der Nuklearindustrie ist noch völlig ungewiß und fragwürdig, die militärischen Interessen an dieser Technologie sind aber klar erkennbar.

3.

Die zivil-militärische Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie ist eine der wesentlichsten Quellen für die Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation. Die weltweit betriebenen »zivilen« Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen. Die Größenordnung des Problems wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, daß zur Zeit weltweit über 400 Kernreaktoren mit einer elektrischen Leistung von mehr als 300 Gigawatt in Betrieb sind. Dies macht eine jährliche Anreicherungskapazität von wenigstens 10000 Tonnen schwach angereichtern Urans notwendig. Etwa 70 Tonnen Plutonium werden jährlich in diesen zivilen Leistungsreaktoren produziert. Die Überwachungsmaßnahmen der seit 1957 arbeitenden Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) reduzieren die daraus erwachsende Problematik erheblich. Ein Teil des produzierten sogenannten »Reaktor-Plutoniums«, das gleichwohl waffenfähig ist, wird aus dem nuklearen Abfall mit chemischer Wiederaufarbeitungstechnologie abgetrennt (bislang etwa ein Fünftel) und größtenteils zunächst gelagert, verbunden mit der Option einer späteren Wiederverwertung im nuklearen Brennstoffkreislauf. Vielfältige Abzweigungsmöglichkeiten für Waffenzwecke ergeben sich daraus. Eine minimale Konsequenz wäre daher die ausschließliche Verwendung von möglichst proliferationsresistenten Brennstoffkreisläufen als conditio sine qua non einer denkbaren Weiternutzung von Kernenergie.

Theoretische Analysen der »Proliferationsresistenz« von Kerntechnologien und Komponenten des Brennstoffkreislaufes sind bereits vor Jahren begonnen worden. Eine Analyse, die den Blick auf die zivil-militärischen Ambivalenz von nuklearer Forschung erweitert, wäre dringend erforderlich. Damit sollte geklärt werden, in welchem Maße zivile Nuklearprogramme (inklusive Forschungsanstrengungen) eine Quelle für Kernwaffenprogramme sein können oder bereits waren. Insbesondere sollte die bundesdeutsche Nutzung von Kernenergie und Kernforschung unter dem Gesichtspunkt aufgearbeitet werden, inwieweit altbekannte oder zum Teil international vereinbarte Forderungen (beispielsweise innerhalb von INFCE) zur Vermeidung horizontaler Proliferationsgefahren in der Bundesrepublik selbst befolgt wurden und werden. Weiterhin sollten in unserem Land weitere Empfehlungen zur Vermeidung horizontaler und vertikaler Proliferationsrisiken erarbeitet und beispielhaft umgesetzt werden. Ohne die Entwicklung von Strategien zur grundsätzlichen Vermeidung von Proliferationsrisiken bei der Nutzung der Kernernergie und entsprechenden Forschungsprogrammen, ist eine Fortführung der zivilen Kernenergieprogramme unvertretbar und unverantwortlich.

4.

Der 1968 unterschriftsreife und 1970 in Kraft getretene Non-Proliferations Vertrag (NPT) sollte die sichtbaren Gefahren der horizontalen Proliferation minimieren und der vollständigen weltweiten Abrüstung dienen. Die Befürchtungen der sechziger Jahre, die Anzahl der Kernwaffenstaaten werde sich explosionsartig vermehren, hat sich Dank des NPT zum Glück nicht bewahrheitet. Mehr als 150 Länder haben den Vertrag inzwischen unterzeichnet. In den letzten Jahren sind einige wichtige Länder hinzugekommen. Erfolge des NPT sind demnach offensichtlich. Dennoch sollten die Schwächen des NPT klar benannt werden.

Im Kern war der NPT ein doppeltes »Geschäft«. Ein Hauptaspekt war der Verzicht der »Entwicklungsländer« auf eigene Kernwaffen (Artikel II und III) gegen Unterstützung bei der »zivilen« Nutzung der Kernenergie bei gleichzeitigem Versprechen der Kernwaffenstaaten auf Stopp der Kernwaffenweiterentwicklung und Einleitung von Schritten zur vollständigen Abrüstung (Präambel und Artikel VI). Mindestens genauso wesentlich, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, war der Verzicht der industrialisierten Nationen, wie Deutschland, Japan, Canada, Schweden, auf Zugang zu Kernwaffen bei gleichzeitiger unbeschränkter Nutzung der Kernenergie im »zivilen« Bereich und bei Zulassung eines exzessiven (kontrollierten) nuklearen Exportgeschäfts. Diese doppelte Strategie, die deutlich erkennbar nicht nur Sicherheitsinteressen sondern ganz entscheidend auch Geschäftsinteressen diente, hat großenteils nicht zum Erfolg geführt. Einige Tatsachen sprechen für diese Sichtweise:

  • Seit 1970 ist keine nennenswerte Stromproduktion aus Nuklearenergie in Ländern der sogenannten Dritten Welt zu verzeichnen. 1991 waren weniger als vier Prozent der weltweiten Reaktorleistung in den sich entwickelnden Ländern (unter Ausschluß der Kernwaffenstaaten China und Indien) installiert.
  • Obwohl eine Reihe sich entwickelnder Länder Zugriff zu einigen Nukleartechnologien (auch teilweise ohne Energieproduktion) bekommen haben, ist darüber nicht der erwünschte Anschluß an die Hochtechnologie der Industrieländer erreicht worden, ganz zu schweigen davon, daß sie auch kaum den Entwicklungsinteressen dienlich wären. Solche Konzeptionen sind als weitgehend gescheitert anzusehen.
  • In den siebziger und achtziger Jahren ging die vertikale Proliferation beschleunigt weiter. Zuwächse in der Größe und militärischen Schlagkraft nuklearer Arsenale, fortgesetzte Forschung und Entwicklung für Kernwaffen, eine Vielzahl nuklearer Tests resultierten in einer Fülle neuer nuklearer Sprengköpfe. Gleichzeitig wurden neue Typen lang- und kurzreichweitiger Raketen und Cruise Missiles mit erheblich verbesserter Zielgenauigkeit entwickelt, produziert und in Dienst gestellt.
  • Einige Kernwaffenstaaten sind seit den ersten Unterschriften unter den NPT im Jahre 1968 hinzugekommen. Es bestehen kaum noch Zweifel, daß in den Staaten Israel, Indien, Pakistan, die dem NPT nicht beigetreten sind, und vermutlich auch in Südafrika Kernwaffen produziert wurden und z.T. noch produziert werden, wobei Kenntnisse und Technologien von früher gestarteten »zivilen« Nuklearprogrammen verwandt wurden. In anderen nicht NPT-Mitgliedsländern, wie Argentinien und Brasilien, wurden Technologien entwickelt (zum Teil unter Nutzung internationaler Kooperationsprogramme), die Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme sind. Diese Staaten standen einige Jahre unter starkem und berechtigtem Verdacht, Kernwaffen entwickeln, testen und produzieren zu wollen. Daß die Mitgliedschaft im NPT allein noch nichts aussagt über eine mögliche Verfolgung von Forschungs- und Technologieprogrammen, die in Kernwaffenprogrammen münden, zeigt unter anderem der berechtigte Verdacht, unter dem die NPT-Mitgliedsstaaten Taiwan, Irak und Nordkorea standen und teilweise noch stehen. Der Iran kommt neuerdings hinzu.
  • Die Exportkontrolle ist den jeweiligen potenten Mitgliedsländern in eigener Regie überlassen worden, ohne daß sie von der IAEO hätte beeinflußt werden können. Koordinationsbemühungen der stärksten Exportländer, wie sie sich in den Nuclear Suppliers Guidelines und der Zangger Trigger List ausdrücken, existieren nur auf freiwilliger Basis und sind in der Regel durch wechselnde wirtschaftliche Interessen stark beeinträchtigt. Tatsächlich hat in der Vergangenheit der Technologietransfer aus Deutschland und anderen industrialisierten Ländern durch Exporte und Beratungsaktivitäten erheblich zu Kernwaffenprogrammen, wie beispielsweise im Irak, beigetragen.

5.

Die aktuellen Gefahren der horizontalen Proliferation sind unübersehbar und müssen ernst genommen werden. Der Argwohn gegenüber einigen Schwellenländern im islamisch-arabischen Raum und gegenüber Nordkorea ist wohlbegründet bei Betrachtung der dortigen Nuklearaktivitäten. Auch einige südamerikanische Länder sollten nicht frühzeitig einer kritischen Betrachtung entzogen werden, nur weil sie sich den demokratischen, diplomatischen und überwachungstechnischen Standards der westlichen Industriewelt annähern. Die gefährliche Entwicklung im süd-ost-asiatischen Raum muß schon eher in Kategorien der vertikalen Proliferation beschrieben werden, da hier nach Produktion von Kernspaltwaffen der ersten Generation bereits die Weiterentwicklung zu Kernwaffen mit thermonuklearen Wirkungen angestrebt wird.

Das Problem der horizontalen und latenten Proliferation drückt sich auch darin aus, daß inzwischen mindestens 19 Länder Zugriff auf mindestens eine der sensitiven Nukleartechnologien Unrananreicherung oder Wiederaufarbeitung erreicht haben, die eine Produktion waffenfähiger, spaltbarer Materialien prinzipiell ermöglicht. Sensitive Nuklearanlagen in Verbindung mit größeren Forschungsreaktoren sind in manchen Ländern eher als Indizien für die Ermöglichung von Kernwaffenoptionen zu werten als daß darin erfolgreiche Grundlagen für größere zivile Nuklearprogramme zu sehen wären. Neue sensitive Nukleartechnologien werden sich im Nachvollzug der Hochtechnologieentwicklung der Industrieländer weiter verbreiten und wachsende Proliferationsrisiken auslösen.

Insbesondere nach dem Zerfall der Sowjetunion werden vagabundierende Nuklear(waffen)experten als zusätzliche Gefahr benannt. Es sollte beachtet werden, daß solche sogenannten Technosöldner ebenfalls aus westlichen Industrienationen, die ebenfalls Einschränkungen in ihren Nukelar(waffen)komplexen vornehmen müssen, abwandern können und in Einzelfällen bereits sensitives Wissen im »zivilen« Bereich weitergegeben haben. Die Furcht vor einem Schwarzmarkt für waffenfähige spaltbare Materialien kann nicht mehr als utopische Schreckensvision gebrandmarkt werden nachdem eine ganze Reihe von Nuklearschmuggelfällen bekannt geworden sind, wobei in Europa bislang allerdings glücklicherweise keine direkt waffenfähigen Materialien aufgetaucht sind, wenngleich sie bereits angeboten wurden.

Das Anwachsen der Reaktor-Plutonium-Lager, der Gebrauch dieses Plutuniums in zivilen Nuklearprogrammen wirft Fragen der latenten Proliferation auf, da in dieser Weise einige industrialisierte Länder eine Option auf Nuklearwaffen aufrecht erhalten können, auch wenn die politischen Erklärungen heute eindeutig eine andere Sprache sprechen. Auch der dazu notwendige Transport und die Verarbeitung von Plutonium birgt eindeutige Proliferationsrisiken in sich.

6.

Aktuelle Gefahren der vertikalen Proliferation sind ebenfalls eindeutig konstatierbar. Die nuklearen Abrüstungmaßnahmen in den beiden START-Verträgen sind sicher sehr zu begrüßen. Allerdings ist bislang nicht klar, ob alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die noch Kernwaffen besitzen, diese Verträge mit unterzeichnen werden. Es zeichnet sich die Gefahr ab, daß die Ukraine dauerhaft als drittstärkste Nuklearmacht der Welt fortexistieren könnte. Überdies bleibt den USA und Rußland, wenn denn tatsächlich die Reduzierung auf je 3500 bzw. 3000 Sprengköpfe im strategischen Waffenbereich im Jahre 2003 verwirklicht sein sollte, eine mehrfache »Overkill«-Fähigkeit erhalten. Das Konzept der nuklearen Abschreckung wird mitnichten ad acta gelegt.

Die noch immer fortgesetzte nukleare Aufrüstung und die nicht gestoppten Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in den kleineren, aber teilweise wohl etablierten Kernwaffenstaaten Frankreich, Großbritannien, China, Israel und Indien gilt es zu beachten. Allgemein ist nicht das Ende der Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen für Kernwaffen erreicht. Die kurzfristig ausgesprochenen Moratorien sollten nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß auch das seit langem geforderte Ende des nuklearen Testens nicht erreicht ist. Der kürzliche Beschluß des US-Kongresses, nach einer reduzierten Testserie im Jahre 1996 den vollständigen Teststopp zu wollen, ist an die Kautele gekoppelt, daß bis dahin alle anderen Kernwaffenstaaten ebenfalls ihre Tests einstellen. Besonderes hartnäckig stellt sich dem China entgegen, das einen »Nachholbedarf« gegenüber den Supermächten als Rechtfertigung für weitere Nukleartests meint ins Feld führen zu können.

Auch Forschungs- und Entwicklungsprogramme für neue proliferationsrelevante Technologien wie Trägheitseinschlußfusion, Laserisotopentrennung oder Teilchenbeschleungereinsatz zur Produktion spaltbarer oder fusionsfähiger Materialien sind nicht ausgesetzt. Dies gilt für die USA, Frankreich und eine Reihe anderer Länder. Ebenso ist ein vollständiges Ende der Produktion von wesentlichen spaltbaren und fusionsfähigen waffenfähigen Materialien, wie Plutonium, hochangereichetem Uran und Tritium nicht durchgesetzt und international überprüfbar vertraglich vereinbart.

Mehr als 500 Tonnen hochangereicherten Urans aus abgerüsteten Sprengköpfen steht zur Vernichtung an. Unklar ist, wie das auf mehr als 250 Tonnen angehäufte »Waffen«-Plutonium wieder aus der Welt geschafft werden soll. Hinzu kommen bereits jetzt mehr als 120 Tonnen abgetrennten sogenannten »Reaktor«-Plutoniums, das ebenfalls waffenfähig ist bzw. mithilfe spezieller Laseranreicherungstechnologien zu besonders gut waffentauglichem Material umgewandelt werden könnte. Für die nächsten 10 bis 20 Jahre wird man diese schwelenden Probleme, die jederzeit neue Kernwaffen generieren können, kaum los werden.

Zu allem Überfluß ist das SDI-Programm der achtiziger Jahre mit GPALS (Global Protection Against Limited Strikes) in eine neue gefährliche Phase getreten.

7.

Die traditionellen Mittel zur Eindämmung der horizontalen Proliferation sind teilweise fragwürdig geworden und sind teilweise ineffektiv. Es gibt keine vollständige Sicherheit bei der Überwachung und Kontrolle des Betriebs und Exports von Nuklearanlagen und Nuklearanlagenteilen. Der rein zivile Gebrauch ist nicht auf Dauer sicherstellbar.

Das Überwachungs-(Safeguard-)System der Internationalen Atomernergieorganisation (IAEO) ist unzureichend in Anbetracht der zu lösenden Problemstellungen. Ohnehin ist die IAEO keine »Nuklearpolizei«. In ihrem Selbstverständnis will sie lediglich dafür Sorge tragen, daß die Abzweigung von für signifikant gehaltenen Mengen von Nuklearmaterial aus dem zivilen Brennstoffkreislauf in für angemessen gehaltenen Entdeckungszeiträumen detektiert werden kann. Gemäß dieses Selbstverständisses konnte die IAEO beispielsweise die jahrelangen Bemühungen des Irak in seinem verdeckt geführten Kernwaffenprogramm nicht wahrnehmen. Die IAEO war und ist dazu institutionell und bedingt durch ihr Grundverständinis der Problematik nicht fähig. Ein besonderes Hindernis dabei ist – in Anlehnung an die Doppelfunktionen des NPT – die Doppelrolle der IAEO als Kernenergiepromotor und Kernenergie-„Kontrolleur«. Eklatant wird diese gefährliche Schizophrenie – neben der erwähnten mit Blindheit geschlagenen Haltung gegenüber dem Irak – bei der Beschönigung der fürchterlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe durch eine IAEO-Expertenkommission oder die unbelehrbare Anpreisung eines weltweiten Ausbaus der Kernergie als Ausweg aus der Umweltproblematik auf der RIO-Konferenz durch den IAEO-Generalsekretär Hans Blix. Die Safeguards-Praxis der IAEO ist zur Zeit überdies wesentlich schwächer als es ihre aus diplomatischem Kalkül beschränkten Statuten zulassen würden.

Exportbeschränkungen und Exportkontrollen durch die Hauptlieferländer im Nuklearbereich werden gemeinhin als dringend notwendig und unvermeidlich angesehen. Gleichwohl notwendig bergen sie in ihrer Einseitigkeit die Gefahr in sich, daß die im NPT festgeschriebene Asymmetrie zwischen den »Habenden« und den »Nicht-Habenden« noch verstärkt wird.

Auch wenn die NPT-Mitgliedsstaaten, die nicht Kernwaffenstaaten sind, laut Artikel IV technologische Unterstützung im Bereich der zivilen Nutzung der Kernenergie zugesagt bekommen haben bei Annahme von Sicherungsmaßnahmen der IAEO (Artikel III), so erlauben sich die Kernwaffenstaaten dennoch, jegliche technologische Entwicklung geheim zu halten, die sie für kernwaffenrelevant halten, und sind nicht verpflichtet, ihre sensitiven Nuklearanlagen ebenfalls einer Überwachung durch die IAEO zu öffnen. Insofern besteht bereits innerhalb des Rahmens des NPT ein »Technologieembargo« und eine Asymmetrie. Gegenüber den Nichtmitgliedstaaten des NPT nehmen sich alle Mitgliedstaaten heraus, die Beschränkung des technologischen Austausches mehr oder weniger scharf auszulegen, was sich besonders stark in den einseitigen Vereinbarungen einiger wesentlicher Exportstaaten widerspiegelt.

Dieser nicht zu leugnende doppelte diskriminierende Charakter (intern und extern) des Non-Proliferations-Regimes wird mit der heraufbeschworenen Gefahr eines möglichen Technologieembargos des »Nordens« gegen den »Süden« zugespitzt verdeutlicht. Zumindest ist klar, daß solange eine Eindeutigkeit der Haltung auf der Geberseite zeit- und interessenabhängig wandelbar ist (man denke an die vielfachen Wandlungen und Widersprüchen unterworfenen Verhaltensweisen gegenüber Brasilien, Irak, Pakistan,…), auch die existenten Möglichkeiten der Proliferationsbeschränkung durch Exportkontrolle nicht allgemein akzeptiert werden. Erschwerend kommt hinzu, daß die Maßnahmen der Exportkontrolle konterkarrierbar sind durch eine wachsende Süd-Süd-Kooperation (und diese möglicherweise sogar regional anheizt) und die Berücksichtigung des breiten Marktes der sogenannten Dual-use-Güter entweder zur unhaltbaren Situation eines äußerst weit interpretierbaren Exportverbots oder – im anderen Extrem – jeglicher Unterlaufung der in der aktuellen Situation im Grunde vernünftigen Beschränkungen Tür und Tor öffnet.

Gegenwärtig sind Bemühungen um einen internationalen Angleich der Exportkontrollbestimmungen und ihre institutionell abgesicherte Durchführung wesentlich, um gefährliche Schlupflöcher zu schließen. Auch wenn die Überwindung der laschen Behandlung der Exportkontrolle der Vergangenheit in einigen Industrieländern positiv vermerkt werden muß, scheint offensichtlich, daß einseitige Exportkontrolle auf lange Sicht nicht das Mittel der Wahl sein kann.

Festzuhalten bleibt, daß militärische Eingriffe noch fragwürdiger sind und eher mehr Schaden anrichten, als sie vorgeblich an Problemen lösen können. Eine fatale Konsequenz des Fehlschlagens von aktuell notwendigen Exportkontrollbemühungen und Inspektionen wäre eine erhöhte Kriegsgefahr. Militärische Schläge unter Einbeziehung des Angriffs auf Nuklearanlagen, deren internationale Ächtung von einigen westlichen Militärmächten seit mehr als 12 Jahren bei der Konferenz für Abrüstung in Genf blockiert wird, müssen dringend ausgeschlossen werden.

8.

Die traditionellen Mittel zur Eindämmung der vertikalen Proliferation sind völlig unzureichend. Die über 20 Jahre alten Formulierungen im NPT, betreffend die nukleare Abrüstung, die Beendigung des nuklearen Testens und sogar die vollständige weltweite Abrüstung, werden immer noch von einigen Kernwaffenstaaten eher als (unverbindlich gemeinte) Absichtserklärungen interpretiert ohne jegliche Verbindlichkeit oder zeitliche Verpflichtung – und dies trotz des absehbaren Endes der vorläufigen Laufzeit des Vertrages in zwei Jahren.

Die Entwicklung von Maßnahmen zur qualitativen Rüstungskontrolle steckt noch immer in den Kinderschuhen. Dies gilt allgemein, nicht nur für den Nuklearbereich. Selbst der SALT Vertrag und die meisten weiteren Rüstungskontrollabkommen der Vergangenheit wurden ausgehandelt mit den Umgehungstechnologien der Zukunft im Hinterkopf. Sicher ist insbesondere auch das vorliegende Verhandlungsergebnis des START II Vertrages begrüßenswert, aber auch hier werden Hintertüren offengehalten, um mehr Qualität auf vereinbart niedrigerem Niveau erreichen zu können. Beispiele sind die zugestandenen Weiterentwicklungen im Bereich der »Unverwundbarkeit« der U-Boot-Flotten, und der fortführbaren Cruise Missile Entwicklung.

Die gemachten Vorschläge, statt eines vollständigen Teststoppvertrages eher nur die Anzahl und die Energieausbeute erlaubter Tests zu reduzieren, sind ungeeignet, die Fortentwicklung von Kernwaffenkonzepten erfolgreich zu beenden. Über einen absoluten Teststopp hinaus sind weitere Maßnahmen im Bereich der bislang beispielslosen Beschränkung von Forschung und Entwicklung notwendig, wenn jegliche wissenschaftlich-technische Innovation im Kernwaffenbereich nachhaltig verhindert werden soll.

9.

Maßnahmen zur Stärkung der Bemühungen zur Eindämmung der horizontalen Proliferation sind dringend erforderlich. Die Infragestellung traditioneller Werthaltungen und »erprobter« Vorgehensweisen insbesondere im Bereich der IAEO darf nicht mehr unter Denkverbot gestellt werden. Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) ist was ihre Rolle und die von ihr ausführbaren Maßnahmen angeht dringend reformbedürftig. Mittelfristig wäre es wünschenswert, die IAEO aufzutrennen; zu einen in eine echte, ausreichend finanziell und personell ausgestattete Kontrollbehörde im Bereich der Nuklearforschung, der Nukleratechnologie und des entsprechenden internationalen Transfers zu anderen in eine Internationale Energiebehörde, die sich der Förderung der Kooperation in der Entwicklung und Verbreitung von benötigter, der Umwelt angepaßter und Entwicklung ermöglichenden Energietechnologien widmet. Zur Erhöhung der Sanktionsfähigkeit könnte die Kontrollbehörde den Vereinten Nationen unterstellt werden und eng mit dem (ebenfalls reformbedürftigen) UN-Sicherheitsrat kooperieren.

Ein Maßnahmenkatalog der nuklearen Kontrollbehörde müßte so entwickelt werden, daß er bestimmte Mängel des praktizierten und überholten IAEO-Systems zu überwinden sucht. Zur Liste der Maßnahmen, die sich nicht ausschließlich nur auf die Vermeidung der horizontalen Proliferation beschränken sollte, gehört:

  • Durchführung von Verdachtsinspektionen jederzeit, überall und mit jeglicher Befugnis (ohne Diskriminierung bestimmter Länder);
  • keine Beschränkung auf den Brennstoffkreislauf und lediglich spezifisch auf betriebsfähige Anlagen bezogene Verträge, sondern Einbeziehung von Anlagenteilen und auf Anlagen und Wissensbereiche bezogenen waffenrelevanten Technologien und Kenntnisse, soweit möglich;
  • teilweiser Erweiterung der reinen Spaltstoffflußbuchführung und -kontrolle durch zusätzliche Inspektionsmaßnahmen auch außerhalb sogenannter Schlüsselmeßpunkten, um mögliche Abzweigungspfade an der gängigen Spaltflußkontrolle vorbei abdecken zu können;
  • Erweiterung der Spaltflußkontrolle um geeignete Maßnahmen zur Senkung der unvermeidlichen Fehlermargen;
  • realistisch niedrigerer Ansatz der signifikanten Mengen kernwaffenfähiger Materialien (etwa 10 Kilogramm für hochangereichertes Uran, etwa 3 Kilogramm für Plutonium und Grammmengen für Tritium);
  • Berücksichtigung von Synergismen in nationalen Nuklearprogrammen und internationalen Kooperationen;
  • technische Verbesserung der Safeguards-Methoden (beispielsweise zur Beschleunigung der Auswertung von Meßergebnissen, zur direkten Übermittlung von Ergebnissen an die Kontrollbehörde, zur technisch möglichen Dauerüberwachung);
  • Entwicklung und Implementierung von neuen Monitoring-Methoden, so zum Beispiel von Möglichkeiten der Fernerkundung (Kryptonemissionsmessungen wären beispielsweise geeignet zur Überwachung einer Plutoniumproduktion);
  • Erweiterung der nuklearen Safeguards um Entdeckung heimlicher Tritiumproduktion;
  • ausreichende Frequenz von Inspektionen mit dem Ziel, die Vorwarnzeiten für Anlagenbetreiber zu verringern;
  • Beginn der Überwachung nicht erst mit offiziellen Datum der Ankunft nuklearer Betriebsmaterialien und Ende der Überwachung nicht bereits mit offiziellen Abtransport der genutzten nuklearen Materialien;
  • Maßnahmen zur Aufdeckung möglicher geheimer Anlagen und Programme;
  • keine Geheimhaltung der gesammelten Erkenntnisse (beispielsweise Veröffentlichung des Safeguards Implementation Reports).

Kurzfristig wäre daran zu denken, zumindest die Statuten der IAEO positiv zu verändern. Es sollte nicht gezögert werden eine dringend notwendige Erhöhung in der finanziellen Ausstattung der IAEO durch Beiträge von Industrieländern wie Deutschland an entsprechende Bedingungen zu knüpfen.

Darüberhinaus sind weitere Maßnahmen denkbar:

  • Einrichtung regionaler atom(waffen)freier oder massenvernichtungswaffenfreier Zonen unter Einschluß des Verbots sogenannter friedlicher Nuklearexplosionen und Abschluß weiterer internationaler Verträge zur Stärkung des NPT-Regimes ohne den NPT selbst tangieren zu müssen;
  • vollständiges Ende der Produktion höher angereicherten Urans und weltweites Ende des Betriebs von (Forschungs-)Reaktoren mit Uran eines Anreicherungsgrades oberhalb von 20%;
  • Konterkarrierung der Exportkontrollen durch Süd-Süd-Kooperation und Export sogenannter Dual-use-Güter konstruktiv bearbeiten;
  • Entwicklung neuer Angebote der weltweiten wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit dem Ziel nachhaltiger, ökologisch dauerhafter und sozial tragfähiger Entwicklung (die Richtung ist mit der vorgeschlagenen Einrichtung einer Internationalen Energiebehörde angedeutet).
  • Exportländer müssen nicht nur eine eindeutige, von wirtschaftlichen und anderen kurzfristigen Interessen unabhängige Haltung allen Empfängerländern gebenüber an den Tag legen, sondern auch intensiv über Selbstbeschränkung nachdenken, um ein überzeugendes Beispiel zu geben. Das Infragestellen des Sinns von Nuklearprogrammen (global und bei uns selbst) kann mehr zur Vermeidung von Proliferationsrisiken beitragen als die künstliche Beschränkung des Exports. Solange weitentwickelte Industrieländer auf dem sogenannten »vollständigen« Brennstoffkreislauf unter Einbeziehung von Plutoniumabtrennung aus dem nuklearen Abfall und seiner Wiederverwertung bestehen, kann kein Land der sich entwickelnden Welt nachhaltig davon überzeugt werden, daß dies kein anzustrebender Entwicklungspfad ist.
  • Die Idee einer Internationalisierung von bestimmten Teilen des nuklearen Kreislaufes, etwa im Bereich der Produktion schwach angereichtern Urans, sollte wieder neu in Betracht gezogen werden. Dem trägt auch Rechnung, daß die Kontrolle im Bereich der Produktion schwach angereicherten Urans leichter und erfolgversprechender durchführbar ist als bei der Wiederaufarbeitung des nuklearen Abfalls.

10.

Maßnahmen zur Beendigung der vertikalen Proliferation müssen dringend entwickelt und so schnell wie möglich ergriffen werden. Dabei sollte entsprechend Artikel VI des NPT das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt – als Etappenziel zur umfassenden weltweiten Abrüstung – ins Auge gefaßt werden. Wesentliche Punkte wären:

  • Exportkontrollen müssen in symmetrischer Weise durchgeführt werden und sollten sich im Prinzip auf alle waffenrelevanten Exporte beziehen. Nicht nur die vieldiskutierten Nuklearexporte von Deutschland und anderen Ländern in den Irak sind äußerst fragwürdig und gefährlich, sondern auch Exporte zur Unterstützung nuklearwaffenrelevanter Programme beispielsweise im US-amerikanischen Lawrence Livermore National Laboratory (Export optischer Einrichtungen der deutschen Firma Zeiss für das militärische Trägheitseinschlußfusions-Programm).
  • Eine gründliche Analyse der zivil-militärischen Ambivalenz avancierter Forschungs- und Entwicklungsprogramme sollte zu Konsequenzen für die Forschungs- und Technologiepolitik führen. Förderbeschränkungen und die möglichst irreversible Konversion von Forschung und Entwicklung sollte von Fall zu Fall erfolgen.
  • Ein Vertrag über das endgültige Ende des nuklearen Testens sollte sofort und vorbehaltslos ausgehandelt werden.
  • Der Verzicht auf die Entwicklung von Laserisotopentrennungs- und Trägheitseinschlußfusions-Technologien, auf Weiterentwicklung von Cruise Missiles und weiteren Verbesserungen der Zielgenauigkeit von Waffensystemen sollte einseitig erklärt werden und anschließend vertraglich abgesichert werden.
  • Ein verifizierbarer Produktionsstopp für alle spaltbaren waffenfähigen Nuklearmaterialien unter Einschluß des fusionierbaren Materials Tritium sollte schnell ausgehandelt werden in Verbindung mit entsprechenden Monotoring-Maßnahmen.
  • Eine internationale Vereinbarung über die Registrierung und Kennzeichnung aller vorhandenen Kernwaffen sollte erzielt werden, um eine eindeutig überprüfbare Abrüstungsstrategie erreichen zu können.
  • Die Nuklearwaffenstaaten sollten sofort der IAEO (oder ihrer Nachfolgeorganisation) erlauben, alle ihre nuklearen Anlagen unter Überwachung zu nehmen (full-scope Safeguards auch in den Kernwaffenstaaten).
  • Alles waffenfähige hochangereicherte Uran sollte alsbald zu leicht angereichertem reaktortauglichen Uran verschnitten und dem zivilen Markt zugeführt werden, um in Kernreaktoren verbrannt zu werden. Egoistischer wirtschaftlicher Protektionismus westlicher Industrieländer in dieser Frage verhindert die schnelle und unumkehrbare Abrüstung dieser Waffenmaterialen in unverantwortlicher Weise. – Optionen für die Unbrauchbarmachung und Zerstörung von »Waffen«-Plutonium müssen dringend geklärt werden.
  • Die Internationalisierung von Lagern spaltbarer Materialien ist dringend anzuraten. Dies schafft Zeit für die Auswahl einer besten Strategie zur Zerstörung waffenfähiger Materialien.
  • Ein einseitiger Verzicht auf Nutzung sensitiver Nukleartechnologien im nationalen Rahmen könnte erklärt werden von Kernwaffenstaaten und von Ländern, die große Nuklearprogramme besitzen. Deutschland sollte beispielsweise den endgültigen Verzicht auf Wiederaufarbeitungstechnologien, der landesintern zur Zeit de-facto besteht, öffentlich erklären und die Nutzung von Plutonium im Brennstoffkreislauf beenden.
  • National und international sollte die Frage aufgeworfen werden: Wie lange noch und in welchem Maße brauchen wir große kommerzielle Nuklearprogramme? Eine Strategie des Ausstiegs scheint ratsamer als die einer Expansion angesichts der ansonsten weltweit wachsenden Proliferationsgefahren.

11.

Die Probleme des zivilen und militärischen Gebrauchs der Kernenergie konvergieren im Müllproblem. Was mit dem hochradioaktiven Müll aus abgebrannten Brennelementen geschehen wird ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wie am sinnvollsten abgerüstetes Plutonium auf Dauer unbrauchbar gemacht werden kann. Zwei Seiten derselben Medallie, mit dem der faustische Pakt bezahlt werden muß.

Vordringlich ist die Frage nach den Kriterien und Methoden der Behandlung abgerüsteten Waffenplutoniums, um die mit seiner Existenz verbundenen latenten Proliferationsgefahren (horizontal wie vertikal) in den Griff zu bekommen. Sorgfältig zu evaluierende Methoden, die zum Teil noch mit ungelösten naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen behaftet sind, wären:

  • Verwendung für die Produktion von Mischoxid- (MOX-) Brennelementen und Umwandlung in zivilen Kernreaktoren
  • Endlagerung vermischt mit Atommüll (eventuell nach vorheriger Verglasung), wobei noch unklar ist wo dies geschehen könnte
  • Nutzung als Brennstoff für sogenannte Actiniden-Brenner, die den Schnellen Brutreaktoren verwandt sind
  • Umwandlung (Transmutation) in hohen Neutronenflüßen, die durch Teilchenbeschleuniger oder Fusionsanlagen erzeugt werden können
  • in die Sonne oder andere Gestirne unseres Planetensystems schießen
  • Zerstörung in einer unterirdischen Kernexplosion.

Bei den Bewertungskriterien wäre abzuwägen die Vor- und Nachteile bezüglich

  • des erzeugten Ergebnisses (Zerstörung des Plutoniums, mehr oder minder reversibel einzuschätzende Unbrauchbarmachung oder irreversible Umwandlung in eine mehr oder minder militärisch nutzbare Isotopenzusammensetzung);
  • der Proliferationsresistenz der verwendeten Technologien (entstehen neue waffenrelevante Optionen?; sind Abzweigungen von spaltbaren Materialien möglich?);
  • der Umweltaspekte der verwendeten Methoden und Technologien;
  • der Nachhaltigkeit des Ergebnisses (Reversibilität/Irreversibilität, Notwendigkeiten der lang- oder kurzfristigen Nachsorge);
  • der Zeitskala (wie schnell greift die Methode);
  • der Kosten (Entwicklung, Konstruktion, Anlagenbetrieb, Abfallnachsorge);
  • des Einflusses auf Konversionsbemühungen (Beschäftigungsmöglichkeiten von Wissenschaftlern, Technikern des alten Nuklearwaffenkomplexes; Nutzungsmöglichkeiten von Anlagen);
  • der Konvergenzaspekt (sind die verwendeten Technologien auch einsatzbar für einen sinnvollen Umgang mit hochradioaktiven Abfällen der zivilen Kernenergienutzung?).

12.

Als Fazit zeigt sich, daß die Problematik der nuklearen Proliferation dauerhaft nicht mit kurzfristig angelegten Maßnahmen beizukommen ist, sondern eher unter dem Oberthema „Abrüstung und Neuorientierung der naturwissenschaftlich-technischen Determinaten unserer industrialisierten Weltkultur“ einer nachhaltigen Lösung näher zu bringen ist. Natürlich darf dabei das Feld der Poltik, der erkennbaren Absichten, der Machtinteressen, etc. nicht außer Acht bleiben. Die These bedeutet ebenfalls nicht, daß rein technischen Lösungen (beispielsweise SDI/GPALS) das Wort geredet wird. Es ist überdeutlich, daß das Vertragswerk des NPT nicht leichtfertig geopfert werden darf. Gleichwohl ist es interpretationsfähig und interpretationsbedürftig, in Hinblick auf vollständige (nukleare) Abrüstung und Verhinderung der militärischen Nutzung der Kernenergie. Diese Chance sollte in den anstehenden Verhandlungen zur Verlängerung des NPT genutzt werden. Dies kann beispielsweise durch entsprechende klärende Zusatzprotokolle geschehen und durch parallele Bemühungen zur Reform bzw. Umgestaltung der IAEO.

Als Fragen bleiben offen: Wie kann auf Dauer Ländern der dritten Welt der Zugriff auf Kernwaffen verweigert werden, wenn weiterhin an die Rationalität von Kernwaffenarsenalen innnerhalb der NATO und in anderen Regionen der Welt geglaubt wird? Wie kann auf Dauer der Verzicht auf sensitive Nukleartechnologie in Schwellenländern gefordert werden, während gleichzeitig auf den eigenen Zugriff auf diese Technologien bestanden wird? Kann auf Dauer das horizontale Proliferationsproblem eingedämmt werden, wenn weltweit die Nuklearprogramme auf heutigen Niveau erhalten bleiben bzw. weiter expandieren? Wenn über einen »Energiekonsens« in unserem Land diskutiert wird, wäre es dann in Hinblick auf die anstehende Diskussion um die Verlängerung des NPT und über die Verbesserung der Anstrengungen zur Vermeidung von Proliferationsrisiken nicht dringend erforderlich auch eine breitere Konsensdebatte unter Einschluß der Proliferationsproblematik zu führen?

Wolfgang Liebert und Martin Kalinowski sind Mitarbeiter in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.

Wissenschaftler für den Frieden

50 Jahre Göttinger Erklärung – 50 Jahre Pugwash-Konferenzen

Wissenschaftler für den Frieden

von Klaus Gottstein, Andreas Henneka, Martin Kalinowski, Götz Neuneck und Ulrike Wunderle

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)

zum Anfang | Remember your Humanity

50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

von Götz Neuneck

Das Jahr 2007 markiert den 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung und 50 Jahre Arbeit der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, zwei Ereignisse an denen Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen in besonderer Weise beteiligt waren und die einen starken Einfluss auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Beendigung des Wettrüstens der Supermächte hatten. Bereits im Juli 1955 hatten Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrer später berühmt gewordenen Erklärung die Gemeinschaft der Wissenschaftler aufgefordert, sich angesichts des Wettrüstens und der globalen Kriegsgefahr mit Fragen der nuklearen Abrüstung zu beschäftigen. Die Wissenschaftler sollten sich „zur Aussprache zusammenfinden, um die Gefahren, die aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind, abzuschätzen“ und sie sollten Wege zur Konfliktbeilegung, Abschaffung der Nuklearwaffen und letztlich zur Beseitigung des Krieges an sich diskutieren und beschreiten.1 Dies war der Beginn weltweiter Initiativen, denen sich Naturwissenschaftler, aber später auch andere Berufszweige wie Mediziner oder Ingenieure, anschlossen. Naturwissenschaftler waren in besonderer Weise gefordert, da einige von ihnen selbst am Zustandekommen der Nuklearwaffen beteiligt waren und über das technische und institutionelle Wissen verfügten, um die Verbreitung und den Einsatz dieser monströsen Waffen zu verhindern bzw. die anwachsenden Arsenale abzurüsten. Wissenschaftler erfreuen sich zudem einer gewissen Reisefreiheit, sehen sich öfters bei Tagungen, sprechen oft eine gemeinsame Sprache und sind zu Objektivität, Humanität und Internationalität verpflichtet.

Das Russell-Einstein-Manifest warnte Regierungen und Öffentlichkeit vor den Gefahren des Einsatzes von Nuklearwaffen und stellte die Frage: „Sollen wir der Menschheit ein Ende setzen oder soll die Menschheit dem Krieg entsagen?“ Das Dokument verweist auf die Chancen und Gefahren, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt für Krieg und Frieden mit sich bringt: „Vor uns liegt, wenn wir es wählen, stetiger Fortschritt in Glück, Wissen und Weisheit. Sollen wir statt dessen den Tod wählen, weil wir unseren Streit nicht vergessen können?“ Albert Einstein hatte noch wenige Tage vor seinem Tod am 18. April 1955 die Erklärung unterzeichnet, ebenso wie zehn bedeutende Wissenschaftler, darunter Max Born, Joseph Rotblat und Frédéric Joliot-Curie.2 Trotz aller Warnungen beschleunigte sich der Kalte Krieg: Wasserstoffbomben mit der tausendfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe wurden entwickelt und ein Ressourcen verschleißendes Wettrüsten setzte ein, das in seinen immer gewaltigeren Dimensionen erst durch das Ende des Ost-West-Konfliktes 1989 gestoppt wurde. Seit dem Manifest aber wird der Aufruf »Scientists should assemble in conferences« durch Tagungen, Workshops und Treffen konkret in die Tat umgesetzt und wach gehalten.

Das Russell-Einstein-Manifest ist das Gründungsdokument der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, bei denen schließlich im Juli 1957 zum ersten Mal Wissenschaftler in dem kleinen Fischerdörfchen in Neuschottland/Kanada zusammen kamen, um zu beraten, wie die durch das Russell-Einstein-Manifest vorgegebene Agenda umzusetzen sei. Das Treffen wurde durch einen kanadischen Großindustriellen ermöglicht. Joseph Rotblat spielte bei den Vorbereitungen eine wesentliche und treibende Rolle, wie auch in den darauf folgenden Jahrzehnten.3 Einige Tage diskutierten 22 hochrangige Wissenschaftler aus zehn Nationen in drei Arbeitsgruppen, darunter Leo Szilard, Victor Weisskopf, Alexander V. Topchiev und Hideki Yukawa.4 Die Themen des ersten Treffens waren die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler, die Gefahren der Nuklearenergie und die Kontrolle der Nuklearwaffen.

Seit dem ersten Treffen kamen in über 320 international besetzten Konferenzen und Workshops renommierte und einflussreiche Wissenschaftler und Politikberater zusammen, um Beiträge zu Fragen der atomaren Bedrohung, zu bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. »Pugwash International« veranstaltet neben Jahrestagungen verschiedene Workshops zu Themen wie der nuklearen Abrüstung, den B- und C-Waffen, regionalen Konflikten der Weiterverbreitung von Waffentechnologien und der sozialen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Durch die vertiefte Behandlung des jeweiligen Themas, die Möglichkeit, vertraulich mit regierungsnahen Beratern und Politikern zusammenzutreffen gelang es oft, Dialoge in Gang zu setzen oder zumindest Verständnis für die unterschiedlichen Positionen zu wecken. Während des Kalten Krieges gelang es insbesondere, die Beratereliten der USA und der Sowjetunion zu vertraulichen Gesprächen zusammenzubringen. Jerome Wiesner, später Wissenschaftsberater unter John F. Kennedy und maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des begrenzten Teststoppabkommen (1963), war ebenso Teilnehmer wie Hans Bethe, Isidor Rabi oder Freeman Dyson. Auch russischen Physikern wie Andrej Sacharow oder Jevgenij Velichov kommt ein großer Anteil an den rüstungskontrollpolitischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zu. Auf den Konferenzen wurden wichtige Beiträge zu Rüstungskontrollverträgen wie dem Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag, 1972), den Kernteststoppverträgen (1963 und 1996) oder den Übereinkommen zur Begrenzung von B- und C-Waffen (1972 und 1993) sowie dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE, 1990) geleistet. Verfahrensvorschläge zur Verifikation von Rüstungskontrollabkommen wurden ebenso erarbeitet wie alternative Vorschläge zur strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Streitkräften. Herauszuheben sind auch die Bereiche Kriegsfolgen und internationale Sicherheit, strategische Analysen, Technologiefolgenabschätzung, Weiterverbreitung und Konversion. In diversen Monographien und Berichten wurden Wirkungen und Leistungen von Pugwash aufgearbeitet.5

Während sich die amerikanischen Kernphysiker auf internationaler Ebene zusammenschlossen, wandten sich 1956/57 die deutschen Atomphysiker zunächst an die eigene Regierung, später an die Öffentlichkeit.

Pugwash und die Göttinger Erklärung

Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieb das Zustandekommen der Göttinger Erklärung6 so: „Im Herbst 1956 wurde uns deutschen Atomforschern klar, dass erste Vorbereitungen getroffen wurden, die Bundeswehr atomar auszurüsten.“ 7 Die deutschen Atomwissenschaftler schrieben im November 1956 einen Brief an Minister Franz-Josef Strauß, und am 29. Januar 1957 kam es zum Gespräch mit ihm. Der Minister hatte zuvor eine Atombewaffnung der europäischen NATO-Mitglieder befürwortetet, auch bestand die Gefahr, dass die Atomphysiker in militärische Forschungen hineingezogen würden. Für von Weizsäcker war außerdem die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen in kleinere Staaten ein wichtiger Aspekt. Vor allem wurde den deutschen Wissenschaftlern klar, dass ein Abrüstungsappell alleine nicht ausreichen würde: „Deshalb mussten wir auch insbesondere öffentlich sagen, dass keiner von uns persönlich bereit wäre, Bomben zu machen, zu erproben oder anzuwenden.“ 8 Am 12. April 1957 forderten die »Göttinger 18« auf Initiative von Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg in der »Göttinger Erklärung« den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Atomwaffenbesitz. (Siehe Beitrag von Martin Kalinowski). Die Unterzeichner erklärten auch ihre Entschlossenheit, sich nicht „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Ihre Motivation bezogen die Physiker aus der Tragweite ihrer eigenen Forschung und der Wirkung einer Atomwaffenexplosion. Als sicher darf gelten, dass die Erfahrungen im »Dritten Reich« einen wichtigen Hintergrund für die öffentlich ausgesprochene Verweigerung darstellten. Eine eigene nukleare Bewaffnung der Bundeswehr war, nachdem sich die führenden Kernphysiker für solche Zwecke öffentlich verweigert hatten, extrem schwierig geworden. Die Erklärung hatte eine weit reichende innenpolitische Wirkung aber auch internationale Reaktionen zur Folge.9 Die Debatte über die Nuklearbewaffnung und ihre Konsequenzen für Deutschland und Europa sollte bis in die 1980er Jahre andauern.

Die deutschen Pugwash-Aktivitäten

Zwischen der sich formierenden Pugwash-Bewegung und der Gruppe der »Göttinger 18« kam es zu intensiven Kontakten.10 Von Weizsäcker reiste im März/April 1958 in die USA, nach Kanada und England, um u.a. an der zweiten Pugwash-Konferenz in Lac Beauport bei Quebec teilzunehmen. Hier wurde er im Kreise international tätiger Wissenschaftler mit neuen Ideen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle (Arms Control) konfrontiert. Ergebnis dieser Reise ist der mehrteilige Aufsatz »Mit der Bombe leben«, der im Mai 1958 in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« veröffentlicht wurde. Wichtige Ideen zur Abrüstung wie die Abschaffung der Atomwaffen oder Vorschläge zur Rüstungskontrolle wie das Nukleartestverbot, die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen oder die Verifikation wurden in einen längerfristigen, politischen Kontext gesetzt und in die deutsche Debatte eingeführt. Am 1. Oktober 1959 wurde zudem nach dem Vorbild der »Federation of American Scientists« die »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler« (VDW) gegründet. An der deutlich größeren und mehr an die Öffentlichkeit gerichteten dritten Pugwash-Konferenz in Kitzbühl und Wien nahm neben westdeutschen Wissenschaftlern wie Max Born, Helmut Burkhardt und Werner Kliefoth auch zum ersten mal ein ostdeutscher Vertreter, der Sekretär der Akademie der Wissenschaften der DDR Günter Rienäcker, teil. Offiziell wurde die Pugwash-Gruppe der DDR 1963 gegründet und bei der Akademie der Wissenschaften angesiedelt, entsprechend kam es in den Folgejahren am Rande von Pugwash-Konferenzen immer wieder zu Kontakten zwischen west- und ostdeutschen Wissenschaftlern. Schon in dieser Anfangsphase lassen sich unterschiedliche Orientierungen in der Arbeit der Pugwash-Gruppen ausmachen: Die eher »regierungsnahe« Linie wurde vor allem von v. Weizsäcker, Heisenberg und der Mehrheit der »Göttinger 18« vertreten. Sie wollten ihre politische Unabhängigkeit als Wissenschaftler wahren und eher als beratende Experten für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen wirken. Die stärker »öffentliche« Linie, wie sie von Born, Burkhardt und Kliefoth vertreten wurde, setzte stärker darauf, die öffentliche Meinung durch entschiedenes Auftreten zu beeinflussen und so politischen Druck für abrüstungs- und friedenspolitische Initiativen zu entwickeln. Ohne die Kombination von öffentlichem Druck und tiefgehender technischer Analyse wären sicher viele Abrüstungsentwicklungen, die sich nach einiger Zeit durchgesetzt haben, nicht möglich gewesen.

In den 1960 und 1970er Jahren wurden in der neu gegründeten Hamburger VDW-Forschungsstelle wichtige Studien veröffentlicht, so das Memorandum »Ziviler Bevölkerungsschutz« (1962) oder die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« (1971), die erstmalig mit systemanalytischen Methoden arbeitete. Das Ergebnis war eindeutig: Im Falle eines Atomkrieges auf deutschem Boden würde das zerstört, was eigentlich geschützt werden soll: das Territorium Deutschlands. Aus diesen Arbeiten entsprangen später weitere sicherheitspolitische Arbeiten des 1970 gegründeten »Starnberger Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, deren Direktor von Weizsäcker zwischen 1970 und 1980 war.

In Deutschland bildeten die Göttinger Erklärung und die Starnberger Arbeiten immer wieder den Bezugspunkt für Wissenschaftler, auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung und der Rüstungskontrolle aktiv zu werden. Im Jahr 1983 wurde von 23 Naturwissenschaftlern und Ärzten der Mainzer Appell »Verantwortung für den Frieden« beschlossen, der auf die Folgen eines Atomkrieges in Europa, die Beschleunigung des Wettrüstens durch neue Waffentechnologien und die daraus entstehenden ökonomischen Folgen hinwies. Die »Naturwissenschaftler-Initiative« hat in den Zeiten des so genannten Nachrüstungsbeschlusses durch Kongresse wichtige Beiträge zu gesellschaftlicher Aufklärung geleistet und eine wesentliche Rolle in der Friedensbewegung gespielt.

In den Jahren nach Gründung der VDW wurden die Pugwash-Aktivitäten in der Bundesrepublik vor allem durch VDW-Mitglieder wie Horst Afheldt, Helmut Glubrecht, Siegfried Penselin, Klaus Gottstein (siehe seinen Beitrag in diesem Dossier) oder Hans-Peter Dürr weiter betrieben. In Westdeutschland wurden acht Workshops und zwei Jahrestagungen (München 1977; Berlin 1992) veranstaltet. In der DDR fand der erste Workshop 1971 in Leipzig statt, drei weitere folgten, insbesondere zur C-Waffenproblematik. Vor allem Hans-Peter Dürr, seinen Mitarbeitern und der Workshop-Serie »Conventional Forces in Europe« gelang es Mitte der 1980er Jahre, wesentliche Beiträge zur Beendigung der konventionellen Überrüstung in Europa zu leisten, indem das von der Starnberger Gruppe entwickelte Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Präsident Michail Gorbatschow aufgegriffen und neue Stabilitätskriterien zur Grundlage für konventionelle Abrüstungsinitiativen wurden. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist im Wesentlichen durch die Bereitschaft konventioneller Abrüstung durch den Warschauer Pakt und einen neuen Abrüstungsrahmen zustande gekommen. Er half einen Rahmen für die Umbrüche in Osteuropa zu kreieren. Pugwash erhielt 1995 gemeinsam mit Joseph Rotblat den Friedensnobelpreis »für ihre Bemühungen, den Anteil, den Atomwaffen in der internationalen Politik spielen, zu verringern und längerfristig diese Waffen zu eliminieren.“ Es ist sofort einsichtig, dass diese Mission nur zum Teil umgesetzt wurde. Hervorgehoben wurde in Oslo aber auch die »Pugwash-Methode«: „Sie brachten Wissenschaftler und Entscheidungsträger zusammen, um jenseits politischer Trennungen durch konstruktive Vorschläge die nukleare Gefahr zu reduzieren.“11 Angesichts tief liegender Konflikte u.a. im Mittleren Osten oder Asien, die zu einem Nuklearwaffeneinsatz führen können, ist die Pugwash-Methode weiterhin gefragt.

Die Pugwash-Bewegung heute

Liest man also die erwähnten Dokumente genau, stellt man fest, dass viele Forderungen bis heute nicht vollständig umgesetzt sind. Michail Gorbatschow stellte in seinem Statement zum 50. Pugwash Jubiläum fest: »Wir benötigen eine intellektuelle Grundlage für Abkommen, die drastisch die Nuklearwaffenarsenale auf dem Weg zu ihrer vollständigen Eliminierung reduzieren und einen Rüstungswettlauf im All verhindern.»12 50 Jahre nach dem ersten historischen Treffen wurde bei einer Zusammenkunft von 25 internationalen Wissenschaftlern in Pugwash eine Erklärung verabschiedet, die deutlich aufzeigt, dass die Gefahren nuklearer Zerstörung keinesfalls gebannt sind: »Wenn Nuklearwaffen existieren, werden sie eines Tages auch eingesetzt werden“, so der Tenor des Workshops, an dem auch Hiroshimas Bürgermeister Tadatoshi Akiba teilnahm. Vor dem Hintergrund der Krise des Nichtverbreitungsvertrages, eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen durch Terroristen und übervoller Nukleararsenale (ca. 27.000 Nuklearwaffen) fordern die Teilnehmer eine „Wiederbelebung der Kampagne, die sich dafür einsetzt, Nuklearwaffen als »illegal und unmoralisch« einzustufen und sie zu reduzieren bzw. endgültig abzuschaffen«. Sie schlagen den Politikern u.a. folgende konkrete Schritte vor:13

  • sofortiges »De-alerting«, d.h. Rückstufung der Alarmbereitschaft tausender Nuklearwaffen und Aufbau wirksamer Frühwarnsysteme,
  • offizielle Erklärung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen (»No First Use«), und verbindliche Abgabe von »negativen Sicherheitsgarantien« durch die Nuklearwaffenstaaten,
  • unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur Abrüstung auf 1.000 oder weniger Nuklearwaffen,
  • verstärkte Bemühung zur Vernichtung überflüssigen Nuklearmaterials und Beginn von Verhandlungen zu einem globalen Verbot der Produktion von Spaltmaterialien,
  • vollständiges Verbot von Weltraumwaffen,
  • politisches Übereinkommen der NATO, die US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen,
  • volle Finanzierung und Implementierung des umfassenden Teststoppvertrages schon vor seinem offiziellen Inkrafttreten und
  • die Zustimmung aller Staaten für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen durch ein multilateral verifizierbares Instrument wie eine »Nuklearwaffenkonvention«.

Nach Meinung der Teilnehmer kann nur aufeinander abgestimmter politischer Wille und öffentlicher Druck „die unvermeidbare Katastrophe“ eines Nuklearwaffeneinsatzes verhindern.

Schwerpunkt der Pugwash-Aktivitäten war in den vergangenen fünf Jahren insbesondere der Mittlere Osten und Südasien. Neue Anstrengungen durch Workshops, Dialogprojekte und öffentliche Aufklärung sind nötig, um die Agenda, die das Russell-Einstein-Manifest und die Göttinger Erklärung gesetzt haben, in die Tat umzusetzen.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR²) am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, Mitglied des Pugwash Councils und Deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

zum Anfang | 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung

Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

von Martin Kalinowski

Die Göttinger Erklärung von 1957 war ein Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung von Verantwortung durch Naturwissenschaftler, und sie wird als ein Startpunkt für die Bürgerbewegung gegen Kernwaffen wahrgenommen, denn ein Jahr nach ihrer Publikation bildete sich die Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die 1959 gegründet wurde, sieht in der Göttinger Erklärung ihren Ausgangspunkt und hat sich deren Thematik zu eigen gemacht.

Die NATO begann Mitte der 50er Jahre unter dem Stichwort »Umrüstung« die Ausrüstung ihrer in Europa stationierten Soldaten mit so genannten taktischen Kernwaffen. Deutsche Politiker sahen die Notwendigkeit, dass sich Deutschland der geplanten Stationierung von taktischen Kernwaffen in europäischen Mitgliedstaaten der NATO anschließen müsse.

Der zweite und dritte Absatz der Göttinger Erklärung stellen einige Fakten richtig, die von interessierter Seite oft falsch dargestellt wurden. Der Verharmlosung taktischer Kernwaffen wird mit einer Beschreibung ihrer zerstörenden Wirkung entgegen gewirkt. Dann wird verdeutlicht, dass ein Schutz großer Bevölkerungszahlen vor der von Kernwaffen verbreiteten Radioaktivität nicht möglich wäre. Die Fragen um die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes und die begrenzten Möglichkeiten für Zivilschutz, aber auch die Kernenergienutzung und die Verantwortung der Wissenschaftler im Allgemeinen wurden später in detaillierten wissenschaftlichen Studien untersucht, die Carl Friedrich von Weizsäcker1 und die VDW2 durchgeführt und publiziert haben.

Die politischen Aussagen sind der »unerhörte« Teil des Textes. Hier wagen es Wissenschaftler, Aussagen außerhalb ihres fachlichen Kompetenzgebietes zu machen. Für diese mutige Grenzüberschreitung wurden sie heftig angefeindet. Gerade damit haben sie aber ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen und eine Forderung aus den vorher genannten Fakten abgeleitet. Sie beschränken sich auf eine explizite Forderung, die sie bewusst auf das eigene Land beschränken: Deutschland soll „ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichten.“

Die Erklärung enthält aber noch eine zweite bemerkenswerte politische Aussage: „Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Erhaltung der Freiheit in einem Teil der Welt leistet.“ Damit werden die Abschreckungsdoktrin und die dafür bereit gestellten Kernwaffen grundsätzlich positiv bewertet. Die Erklärung hat also einen Doppelcharakter, da zum einen Kernwaffen in deutschem Besitz abgelehnt werden, andererseits die strategischen Kernwaffen befürwortet werden. Der Zuspruch wurde jedoch im unmittelbar folgenden Satz relativiert: „Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.»

Die Erklärung enthält am Ende eine weitere Forderung, nämlich „die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“ Mit diesem Satz gewinnt der Text eine zweite Ambivalenz, die mit der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit von nuklearen Materialien und den zu ihrer Produktion geeigneten Technologien zusammen hängt.

Der dritte Bestandteil der Göttinger Erklärung ist die darin enthaltene Selbstverpflichtung: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Dieser freiwillige Verzicht verlieh der Erklärung eine besondere Glaubwürdigkeit. Mit ihrer persönlichen Gewissensentscheidung stellen sich die Kernphysiker als Vorbilder für eine politische Entscheidung gegen Kernwaffen dar.

Die Selbstverpflichtung wurde eingehalten. Die zivile Nutzung der Kernenergie wurde umfangreich realisiert, jedoch später wieder zurück gefahren. Deutschland unterzeichnete den Nichtverbreitungsvertrag und gelangte nicht in den Besitz eigener Kernwaffen. Aber taktische Kernwaffen der NATO-Partner USA und Großbritannien wurden in Westdeutschland stationiert, und unser Land wurde im Rahmen der nuklearen Teilhabe in deren Einsatz mit einbezogen. Man musste davon ausgehen, dass Deutschland in einem nuklear geführten Krieg weitgehend zerstört und radioaktiv verseucht würde.

Nach dem Ende des Kalten Krieges zogen Großbritannien und Russland alle Kernwaffen aus Deutschland wieder ab, die USA hält noch heute geschätzte 20 Kernwaffen in unserem Land am Standort Büchel stationiert. Ramstein und Nörvenich sind nach wie vor bereit, Kernwaffen jederzeit wieder aufzunehmen. Im Falle eines Einsatzes würden diese Kernwaffen auch mit Trägersystemen der Bundeswehr, den Tornados, und von deutschen Piloten ins Ziel gebracht. Die Piloten werden auch in Friedenszeiten dafür ausgebildet. Deutschland wird im Rahmen der nuklearen Planungsgruppe in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Nur die Kernwaffen selbst sowie die Kontrolle über deren Zündung verbleibt bei den US-Streitkräften.

Dass es keinen dritten Weltkrieg gab und dass nach Hiroshima und Nagasaki keine Kernwaffen im Krieg mehr eingesetzt wurden, ist kein Beweis für die These, dass die nukleare Abschreckung funktioniert und den Frieden garantiert hat.

Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag von 1996 zufolge ist der Einsatz von und sogar die Drohung mit Kernwaffen völkerrechtswidrig.3 Mit jeder Stationierung ist die Drohung eines Einsatzes verbunden. Damit ist auch die nukleare Teilhabe Deutschlands nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.

Schon Adenauer hat darauf hingewiesen, dass Deutschland keinen Alleingang durchführen könne. Auch heute können die in Deutschland lagernden Kernwaffen nicht isoliert betrachtet werden. Die Standardantwort der Bundesregierung auf die Aufforderung, die US-Kernwaffen abziehen zu lassen, bezieht sich auf die NATO-Verpflichtungen: „Am 20. April 1999 wurde das Strategische Konzept der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten verabschiedet. Es enthält eine umfassende Darstellung der Bündnisstrategie, die alle Bündnispartner bindet und die auch von der Bundesregierung ohne Einschränkung mitgetragen wird.“4

Heute dürfte sich eine Göttinger Erklärung diesen internationalen Verknüpfungen gegenüber nicht entziehen und müsste die Forderung nach Abrüstung der Kernwaffen auf alle Länder beziehen, die Kernwaffen besitzen. Sie dürfte allerdings auch nicht zulassen, dass sich die Bundesregierung hinter den Bündnisverpflichtungen versteckt. Es macht durchaus Sinn, im Alleingang mit gutem Beispiel voran zu gehen, so wie Griechenland das vor einigen Jahren bereits erfolgreich getan hat.

Die Selbstverpflichtung in der Göttinger Erklärung ist sehr kräftig formuliert: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Gleichzeitig wird in der Erklärung betont, „dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“

Diese beiden Forderungen sind nicht miteinander vereinbar. Aufgrund der Doppelverwendbarkeit (dual use) von Kernmaterialien und -technik für zivile und militärische Zwecke kann es nicht gelingen, eine nukleare Proliferation zu verhindern, wenn man die zivilen Anwendungen uneingeschränkt mit allen Mitteln betreibt. Die zivile und militärische Verwendbarkeit der Kerntechnik sind nicht trennbar. Dieser Umstand wird gegenwärtig am eskalierenden Streit um das vorgeblich rein zivile Nuklearprogramm des Iran deutlich.

Aufgrund der vorstehenden Betrachtungen zur zweifachen Ambivalenz der Göttinger Erklärung soll nun skizziert werden, welcher Aufklärungsbedarf und welche politischen Forderungen heute von einer Erklärung thematisiert werden müssten, die sich in der Tradition der Göttinger 18 sieht und einen Doppelcharakter vermeiden will.

Ganz im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker wird heutzutage von engagierten Naturwissenschaftlern nicht nur Aufklärung geleistet, sondern auch naturwissenschaftlich orientierte Friedensforschung betrieben.5 Als konkrete und aktuelle Themen können genannt werden:

  • Fehlende Transparenz über die Menge deutscher Plutoniumbestände und die offene Frage, ob diese angesichts der vorgesehenen Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch vollständig in Form von MOX-Brennelementen bestrahlt und damit einem direkten Zugriff für Waffenzwecke entzogen werden können.
  • Umrüstbarkeit des Münchener Forschungsreaktors FRM II von hoch angereichertem Uran (HEU) auf nicht waffenfähigen niedrig angereicherten Brennstoff (LEU). Die Konzepte dafür liegen vor und die politischen Vorgaben erfordern die Umstellung. Nur die Realisierung ist nach wie vor fraglich..
  • Die Modernisierungen der Arsenale der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten; insbesondere sei auf die immer wieder in den USA ins Gespräch gebrachten so genannten »mini nukes« hingewiesen.
  • Die aktuellen Gefahren von Kernwaffen, beispielsweise die Risiken eines Nuklearkrieges »aus Versehen« aufgrund der nach wie vor aufrecht erhaltenen Alarmbereitschaft; auch das Szenario eines »nuklearen Winters« ist aufgrund des Umfangs der nuklearen Arsenale sogar bei einem begrenzten regionalen Nuklearkrieg immer noch möglich.
  • Wenn es bei der Abrüstungskonferenz in Genf endlich zu Verhandlungen über einen Produktionsstopp für Kernwaffenmaterialien (Fissile Materials Cut-off Treaty, FMCT) kommen sollte, entsteht Bedarf an Informationen über die Verifizierbarkeit und den notwendigen Umfang des Verbotes.
  • Neue technische Mittel zur Entdeckung von heimlichen Nuklearaktivitäten.
  • Proliferationsgefahren neuer Nukleartechnologien wie Spallationsneutronenquellen und Fusionsreaktoren.
  • Die technischen Probleme von neuen Raketenabwehrsystemen: Einerseits funktionieren sie nicht effektiv und andererseits bringen sie neue Risiken mit sich.
  • Die Gefahren eines Wettrüstens im Weltraum.

Die konkreten politischen Forderungen, die heute zu stellen wären, sind vor allem,

  • den Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland zu veranlassen und
  • den Forschungsreaktor FRM II umzurüsten auf niedrig angereichertes Uran.

Mit der Erfüllung der ersten Forderung würde Deutschland zur Abrüstung von Kernwaffen einen Beitrag leisten, mit der zweiten Forderung würde sich Deutschland wieder einreihen in die internationale Norm zur Nichtverbreitung durch eine Minimierung der zivilen Bestände von kernwaffenfähigen Materialien.

Von grundsätzlicherer Art wären zwei Zielsetzungen. Die erste bezieht sich auf die nukleare Abrüstung, die zweite reagiert auf die zivil-militärische Doppelverwendbarkeit von Nukleartechnik und nuklearen Materialien.

Die völkerrechtliche Verpflichtung, Kernwaffen abzurüsten, muss baldmöglichst umgesetzt werden. Die deutsche Außenpolitik sollte sich dafür einsetzen, dass Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention begonnen werden.6 Konkrete Schritte in diese Richtung sind

  • das Inkrafttreten des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages,
  • Verhandlungen über ein Verbot zur Produktion von nuklearen Kernwaffenmaterialien,
  • tiefe Einschnitte in nukleare Arsenale,
  • Abschalten der Alarmbereitschaft von Kernwaffen,
  • verbindliche Erklärungen zum Nicht-Ersteinsatz,
  • Verzicht auf Raketenabwehrsysteme
  • und die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen.

Mit der somit zunehmenden Marginalisierung von Kernwaffen kann der Boden bereitet werden für die Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen.

Die Proliferationsrisiken sollten bei der Diskussion über die zukünftige Nutzung von Kernenergie zur Sicherung des zukünftigen Energiebedarfs und zur Reduktion der CO2-Emissionen ernsthaft bedacht werden. Zur Minimierung dieser Risiken gibt es das Konzept der Proliferationsresistenz. Die sicherste Methode ist die Vermeidung von kernwaffenfähigen Materialien. Insbesondere bedeutet dies den Verzicht auf die Nutzung von Plutonium. Bei einer längerfristigen Nutzung von Kernenergie und einer Ausweitung der derzeitigen Kapazitäten würde man jedoch nicht ohne die Produktion von Plutonium in Schnellen Brütern auskommen. Durch die dann deutlich umfangreicher werdende Plutoniumwirtschaft würden die Risiken erheblich steigen. Die damit verbundenen größeren Vorräte an Kernwaffenmaterial, die vielen involvierten Anlagen und die zahlreichen Transporte würden die Risiken von Proliferation, Nuklearschmuggel und möglichen Zugriff durch Terroristen drastisch erhöhen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist Kernphysiker und Friedensforscher. Er ist seit März 2006 Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professor für Naturwissenschaft und Friedensforschung und Leiter des gleichnamigen Zentrums an der Universität Hamburg. Zuvor war er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf der Festveranstaltung von VDW und IALANA zum 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung am 14. April 2007 in Berlin gehalten hat.

Weitere Informationen zur Pugwash Bewegung

  • Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007. In dem englischsprachigen Buch »Joseph Rotblat – Visionary for Peace« beschäftigen sich prominente Autoren wie Martin Rees, Michail Gorbachow, Jack Steinberger, Mohamed ElBaradei, Paul J. Crutzen, und Mairead Corrigan mit Wirken, Leben und Thesen des britischen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Sir Joseph Rotblat (1908-2005), der als einziger Wissenschaftler aus moralischen Gründen das Manhattan-Projekt zur Fertigung der ersten Nuklearwaffen verlassen hatte und zu einem der profiliertesten Kritiker des nuklearen Wettrüstens wurde. Rotblat war ein entscheidender Gründer der Pugwash Konferenzen.
  • Götz Neuneck/Michael Schaaf (Hrsg.): Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland, Preprint 332, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2007, 93 Seiten. Die Geschichte der deutschen Pugwash-Gruppe wurde im Rahmen eines Symposiums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) am 24. Februar 2006 im Harnack-Haus durch Vorträge beleuchtet. Die Vorträge von D. Hoffmann, K. Gottstein, U. Wunderle, Götz Neuneck u.a. wurden in dem Tagungsband zusammengefasst, der im Rahmen der Preprint Reihe des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Nr. 332 erschienen ist. Er kann unter folgender Internet-Adresse als PDF-Version geladen werden: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P332.PDF
  • Waging Peace. The Story of Joseph Rotblat and 50 Years of the Pugwash Conferences on Science and World Affairs, DVD von Hero´s Stone Productions in association with The Pugwash Conferences on Science and World Affairs, 2007. 21 Minuten, PAL-Version. Der Film erzählt in Rückblenden, Interviews und Dokumentaraufnahmen die Geschichte von Pugwash und Joseph Rotblat, dem Mitgründer von Pugwash und späteren Friedensnobelpreisträger. Die DVD kann gegen eine Spende bei G. Neuneck, c/o IFSH, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, bestellt werden. Das Video ist auch als Podcast auf dem Internet zugänglich: http://www.pugwash.org/media/wage.htm.
  • Wichtige Internet-Adressen zu Pugwash Internationale Homepage mit vielen Materialien und aktuellen Nachrichten: http://www.pugwash.org. Homepage der Deutschen Gruppe: http://www.pugwash.de

Kontakt: Prof. Dr. Götz Neuneck · c/o IFSH Beim Schlump 83, D-20144 Hamburg · neuneck@ifsh.de

Atomwissenschaftler gegen deutsche A-Bombe

Die Göttinger Erklärung von 1957

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

12. April 1957

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

zum Anfang | Erinnerungen

Wenn es die Pugwash-Konferenzen nicht gäbe, müssten sie erfunden werden

von Klaus Gottstein

Wenn ich darstellen soll, welche Erinnerungen ich an die Frühzeit der Pugwash-Konferenzen habe, dann muss ich zunächst gestehen, dass die 42 Pugwash-Konferenzen, -Workshops und -Symposien, an denen ich teilgenommen habe, alle in den Jahren 1976 bis 2002 stattfanden, während die Serie der Pugwash-Konferenzen schon 1957 in dem inzwischen berühmten kanadischen Fischerdorf Pugwash begann und seitdem ununterbrochen fortgesetzt wurde. Ich wurde allerdings bereits 1962 in die mir bis dahin unbekannte Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), also in die deutsche Pugwash-Gruppe aufgenommen, nachdem ich Carl Friedrich von Weizsäcker eine im Sommerurlaub verfasste Denkschrift überreicht hatte, der ich den Titel »Über die Wissenschaft von der Politik« gab und in der ich zu dem Schluss kam, dass es die Pflicht der Wissenschaft sei, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden, frei von machtpolitischen Einflüssen und sachfremden Ideologien, an der Lösung der bedrohlichen Probleme unserer Zeit zu arbeiten. Ich hatte nämlich in meinem Fach, der Elementarteilchenphysik, die Möglichkeiten ideologiefreier internationaler Zusammenarbeit kennen gelernt, die es Wissenschaftlern aus Ost und West und aus so genannten Entwicklungsländern gestattete, auch während des Kalten Krieges friedlich und erfolgreich an gemeinsamen Projekten zur Erforschung der kosmischen Strahlung und der Eigenschaften der Elementarteilchen zu arbeiten. Woran also lag es, dass die Politiker diese erfolgreichen Methoden noch nicht entdeckt hatten, wenn ihnen wirklich, wie sie ja behaupteten, an Frieden und am Wohlergehen der Menschheit gelegen war? Ich schlug vor, eine selbständige und unabhängige internationale »Gelehrtenrepublik« zu gründen, um wirklich unbeeinflusste Untersuchungen und Stellungnahmen zu den zu lösenden Problemen zu ermöglichen. In der Physik gab es eine solche »Gelehrtenrepublik« ja bereits, warum also nicht in der regierungsberatenden Politikwissenschaft?

C. F. von Weizsäcker befürchtete nach der Lektüre, dass eine solche »Gelehrtenrepublik« auch nicht in der Lage sein würde, Lösungen für die schweren politischen Konflikte der Zeit zu finden, befürwortete aber meinen Eintritt in die VDW, in der ich Gesprächspartner für die mich beschäftigenden Probleme finden würde. So nahm ich in der VDW, bald in deren Arbeitsausschuss, später im Vorstand, an den Diskussionen teil, die u.a. die Beteiligung an den Pugwash-Konferenzen und an den dort auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Friedenserhaltung betrafen. Dabei waren natürlich auch die nicht immer übereinstimmenden Meinungen zu den auf den Pugwash-Konferenzen abzugebenden Stellungnahmen zu diskutieren, wenn es auch Prinzip der Pugwash-Konferenzen war und ist, dass jeder Teilnehmer nur seine eigene Meinung vertritt und nicht Delegierter einer Organisation oder gar seiner Regierung ist. Während Wissenschaftler aus westlichen Ländern nicht selten die Politik ihrer eigenen Regierung scharf kritisierten, befanden sich die »Privatmeinungen« der Wissenschaftler aus der Sowjetunion und aus den Ländern des Warschauer Paktes allerdings stets in völliger Übereinstimmung mit den letzten Stellungnahmen ihrer Regierungen, und es war ein offenes Geheimnis, dass einige der sowjetischen »Wissenschaftler« den Apparaten des Geheimdienstes und des Zentralkomitees angehörten und die echten Wissenschaftler überwachten. Dies wurde hingenommen, wobei man sogar den positiven Aspekt sah, dass auf diese Weise jede Verlautbarung und Empfehlung der Pugwash-Konferenzen in erwünschter Weise wortgetreu zur Kenntnis der maßgeblichen Stellen in Moskau gelangen würde. Auch war mit den »echten« Kollegen bei Spaziergängen, Kaffeepausen, Busfahrten usw. manchmal ein unkontrolliertes Wort möglich. Natürlich berichteten auch die westlichen Teilnehmer ihren Regierungen. Das war ja der Zweck der Übung.

Für mich hatte die Teilnahme an den Pugwash-Konferenzen selbst zunächst keine hohe Priorität. Mein Beruf als Abteilungsleiter im Max-Planck-Institut für Physik ließ mir nicht genug Zeit für andere Aktivitäten größeren Umfangs. Ich erinnere mich, dass ich 1964 zur 13. Pugwash-Konferenz nach Karlsbad hätte reisen können, aber absagte. Erst als ich 1974 nach meiner Rückkehr aus Washington, wo ich drei Jahre lang als Wissenschaftsattaché an der Deutschen Botschaft gearbeitet hatte, von Prof. Penselin, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der VDW, gefragt wurde, ob ich nicht als Pugwash-Beauftragter der VDW die Vorbereitung der für 1977 geplanten großen Pugwash-Konferenz in München übernehmen wolle, sagte ich zu. Von da an war ich ein regelmäßiger Teilnehmer an fast allen Veranstaltungen, die von Pugwash in aller Welt ausgerichtet wurden.

Die Konferenz in München, bei deren Vorbereitung und Durchführung ich viele fleißige Helfer hatte, war mit 223 Teilnehmern die bis dahin größte. Sie wurde erst 1992 durch die von Frau Falter im Namen der VDW organisierte Konferenz, ebenfalls eine Quinquennial Conference, mit 274 Teilnehmern übertroffen. Die Konferenz wurde durch Bundesforschungsminister Matthöfer eröffnet, dessen Haus für die VDW die Finanzierung der Konferenz übernommen hatte. Der Bundespräsident (Walter Scheel), der Bundeskanzler (Helmut Schmidt) und der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Kurt Waldheim) sandten Grußbotschaften. Acht parallel tagende Arbeitsgruppen befassten sich sodann mit sämtlichen Themen, die sich zu der Zeit auf der Bearbeitungsliste von Pugwash befanden. 1977 waren das die folgenden Themen, die bis heute aktuell geblieben sind:

  • nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung
  • Rüstungskontrolle und Abrüstung im nicht-nuklearen Bereich
  • Koexistenz, Entspannung und Kooperation zwischen Nationen und Systemen
  • Sicherheit von Entwicklungsländern
  • Entwicklungsprobleme ökonomisch schwacher Länder
  • Energie, Weltressourcen und Trends beim Bevölkerungswachstum
  • Umweltgefahren mit globalen Auswirkungen
  • Wissenschaft, Wissenschaftler und Gesellschaft

Was die Pugwash-Konferenzen für mich besonders erfreulich und attraktiv machte, war zum einen die streng wissenschaftliche Atmosphäre, an welche die teilnehmenden, oft sehr prominenten Wissenschaftler von Hause aus gewöhnt waren und die es erlaubte, ohne diplomatische Rücksichten »laut zu denken« und nach praktikablen Lösungen für die heiklen politischen Probleme zu suchen, um die sich die Politiker vergeblich bemühten. Zum anderen waren es die nahezu freundschaftlichen Beziehungen, die sich im Laufe der Jahre und nach vielen heißen Diskussionen auch zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Systeme und Weltanschauungen entwickelt hatten und die es gestatteten, offen zu sprechen und zu fragen. So konnten Wege aufgezeigt werden, die die Politiker später in ihren Abrüstungsverhandlungen beschritten haben, natürlich ohne sich auf Pugwash zu beziehen. In Deutschland haben das Auswärtige Amt (AA), das Verteidigungsministerium (BMVg) und die einschlägigen Ausschüsse des Bundestags die Berichte über die Ergebnisse der Pugwash-Veranstaltungen immer gern entgegengenommen. Ich selbst habe mich bemüht – darin dem Vorbild von C.F. von Weizsäcker folgend – vor Pugwash-Workshops deren Tagesordnung mit leitenden Vertretern des AA und des BMVg zu besprechen, um bei den nachfolgenden Pugwash-Diskussionen die Positionen der Regierung und die sich daraus ergebenden Hindernisse, für deren Überwindung eine Lösung gesucht werden müsse, erläutern zu können. Schon Bundesaußenminister Willy Brandt hatte einige VDW-Vorstandsmitglieder zum Meinungsaustausch empfangen, bevor diese zu einer Pugwash-Konferenz abreisten. Ich konnte mit General Altenburg, damals Generalinspekteur der Bundeswehr, im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe die deutsche Haltung zu Abrüstungsfragen besprechen, um auf einer damals bevorstehenden Pugwash-Konferenz in Polen von der konkreten Lage ausgehen zu können. Mehrfach hatte ich Gespräche mit Referatsleitern des Auswärtigen Amtes, und in einem Fall nahm einer von diesen als Gast an einem Pugwash-Workshop in Genf teil, um seine Gedanken dort in die Diskussion einbringen und die Ansichten insbesondere der Ostblock-Teilnehmer direkt zur Kenntnis nehmen zu können. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Meyer-Landrut, vorher – und später noch einmal – Botschafter in Moskau und Staatssekretär des Bundespräsidialamtes zur Zeit von Bundespräsident Richard v. Weizsäcker, gab für den gesamten Vorstand der VDW ein Arbeitsessen in den Räumen des Auswärtigen Amtes und brachte auch dadurch das gute Arbeitsverhältnis zwischen der Beratung suchenden Regierung und den deutschen Pugwash-Vertretern zum Ausdruck. Im Ausland besuchte ich, wenn immer möglich, die deutschen Botschaften in den Gastländern der Pugwash-Konferenzen – so in Ottawa, Mexico City, Moskau, Warschau, Sofia – , deren Mitarbeiter im allgemeinen sehr an den Mitteilungen über die Konferenzergebnisse interessiert waren.

Abschließend darf ich als kurze Schlussfolgerung aus meinen Erinnerungen an eine jahrzehntelange Mitarbeit bei »Pugwash« festhalten: Wenn es die Pugwash-Konferenzen noch nicht gäbe, müssten sie erfunden werden, natürlich in der optimalen Form, in der kompetente Wissenschaftler Brücken schlagen, die sich dann als begehbar für die politischen Entscheidungsträger erweisen. Die zu überbrückenden Probleme werden leider niemals ausgehen, denn der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam und wird nicht nur Segen bringen sondern stets unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und – wie alle menschliche Tätigkeit – die Möglichkeit zu falscher Anwendung und Missbrauch schlimmsten Ausmaßes in sich tragen. Die soziale Verantwortung der Wissenschaft, für die Pugwash eintritt, wird immer gefordert bleiben.

Prof. Dr. Klaus Gottstein war Mitglied der Direktion des Max-Planck-Institut für Physik, Werner Heisenberg Institut, München und Sprecher der Pugwash-Gruppe der BRD von 1975 bis 1987

zum Anfang | Junge WissenschaftlerInnen in der Pugwash Bewegung

von Ulrike Wunderle und Andreas Henneka

Die »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« ermöglichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den internationalen und zunehmend interdisziplinären Austausch über Probleme internationaler Sicherheit und friedlicher Konfliktregulierung. In ihrem Ansatz ist die Pugwash-Bewegung dem Russell-Einstein-Manifest von 1955 verpflichtet: Angesichts der Gefahr einer thermonuklearen Konfrontation zwischen den Blockführungsmächten des Kalten Krieges appellierten elf führende Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete nicht nur an die politisch Verantwortlichen, die bestehenden Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen und auf die Abschaffung von Atomwaffen hinzuwirken, sondern auch an die Wissenschaftler selbst, sich untereinander – und über Konfliktgrenzen hinweg – mit der neuen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auseinanderzusetzen. Damit wurde das Russell-Einstein-Manifest zum geistigen Fundament und Bezugspunkt der seit 1957 stattfindenden »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«.

Schon bald interessierten sich auch junge WissenschaftlerInnen, die im Zuge ihrer akademischen Ausbildung mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaft konfrontiert wurden, für die Arbeit der Pugwash-Bewegung. In den späten 1970er Jahren formierten sich in den USA und Kanada die ersten Student-Pugwash-Gruppen. Joseph Rotblat, der langjährige Vorsitzende der Pugwash-Bewegung, und die nationalen Pugwash-Gruppen unterstützten dieses Engagement, so dass sich bis heute mehr als 30 nationale Student-Pugwash-Gruppen herausbildeten, die sich – gewissermaßen parallel zur Pugwash-Bewegung – unter dem Dach der »International Student/Young Pugwash« (ISYP) zusammenschlossen. Im Umfeld der Pugwash-Jahrestagung findet auch die »Student/Young Pugwash Conference« statt, für die sich StudentInnen und DoktorandInnen aus allen Ländern der Welt bewerben können.

Auf der Pugwash-Jahrestagung 2005 in Hiroshima – 60 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – erarbeitete ISYP ein eigenes »Mission Statement«, in der sie sich deutlich auf das Russell-Einstein-Manifest bezieht, zugleich aber darüber hinaus geht: „Geleitet vom Einstein-Russell-Manifest führt ISYP internationale Studenten und junge Wissenschaftler zusammen, die sich mit globalen Problemen und der gesellschaftlich verantwortungsvollen Anwendung von Wissenschaft und Technologie beschäftigen. Durch die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen und Weltsichten entwickeln die ISYP-Mitglieder schon früh in ihrer akademischen Ausbildung gemeinsame Ansichten und Arbeitsweisen und motivieren sich gegenseitig in ihrem Engagement für die Ideale der ISYP.“ Gemeinsam mit der »Senior«-Pugwash-Bewegung wendet sich ISYP folglich den grundlegenden Problemen und Symptomen globaler Sicherheitsrisiken zu.

In Deutschland geht die formale Gründung einer Studenten-Pugwash-Gruppe auf das Jahr 1984 zurück, die zuerst unter dem Engagement von Martin Kalinowski und später von Ulrike Jordan große Aktivität entwickelte. Im Jahr 2003 fanden sich schließlich wieder StudentInnen und DoktorandInnen zusammen, die die »Bundesdeutsche Studenten Pugwash« (BdSP) neu belebten. Regelmäßige Treffen in Berlin und Hamburg führten zu einer kontinuierlichen Diskussion unter den beteiligten StudentInnen über Wissenschaft und Frieden. In den Jahren 2005 und 2006 fanden erste organisierte Gesprächskreise in Berlin statt. Zum Überprüfungszyklus des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages und dem iranisch-amerikanischen Verhältnis wurden Referenten aus dem Umfeld der Pugwash-Bewegung und ein weiterer Kreis interessierter StudentInnen und DoktorandInnen eingeladen. In Hamburg arbeiten Studenten der BdSP an einem deutschen Beitrag zur »Nuclear Awareness Campaign«. Seit Beginn 2007 bemüht sich der BdSP-Vorstand verstärkt, durch Veranstaltungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen die Basis für ein nachhaltiges Engagement junger Wissenschaftler in Deutschland für Abrüstung und Frieden zu schaffen. Der BdSP-Gegenstandpunkt »Zur Diskussion um das Für und Wider der amerikanischen Raketenabwehrpläne« zeugt hiervon ebenso wie die Akademie »Ansätze zu einer gerechten Energieverteilung im Kontext sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessenskonflikte: Probleme und Lösungsoptionen«, welche die BdSP in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und mit Unterstützung des VDW-Vorstands vom 31. August bis 1. September 2007 in Berlin organisierte. Ziel war es, StudentInnen und DoktorandInnen unterschiedlicher Fachrichtungen, Forschungsinstitutionen, Organisationen und Firmen zusammenzubringen, um die Chancen des interdisziplinären Dialogs über Sicherheit und Frieden aufzuzeigen. Die Anregungen der geladenen Referenten und die problemorientierte Gruppenarbeit unterstützte die intensive Diskussion zu Fragen der gerechten Energieverteilung, an welche die BdSP nun anknüpfen kann.

Die Aktivitäten der Bundesdeutschen Studenten Pugwash Gruppe sind in der Entstehung begriffen. Daher bieten sich vielfältige Möglichkeiten für StudentInnen, DoktorandInnen und weitere Interessierte, Ideen einzubringen und deren Realisierung aktiv mitzugestalten. Beiträge sind herzlich willkommen!

Ulrike Wunderle, VDW-Beauftragte BdSP (Kontakt: ulrike.wunderle@uni-tuebingen.de); Andreas Henneka, 1. Vorsitzender BdSP (Kontakt: gistar@zedat.fu-berlin.de). Weitere Informationen zu International Student/Young Pugwash finden sich im Internet unter www.student-pugwash.org

Anmerkungen

Neuneck, Götz: Remember your Humanity: 50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

1) Siehe Text unter http://www.pugwash.org/about/manifesto.htm.

2) Zur Geschichte der Manifestes siehe: The Origins of the Russell-Einstein Manifesto, by Sandra Ionno Butcher, Pugwash History Series, Number One May 2005

3) Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007.

4) Mehr Informationen zur ersten Pugwash-Konferenz unter http://www.pugwash.org/about/conference.htm

5) Siehe z.B. M. Evangelista: Unarmed Forces oder Joseph Rotblat: The Early Days of Pugwash, in: Physics Today 54/6 2001.

6) Siehe dazu das an Materialien reiche Buch von Elisabeth Kraus: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung, Würzburg 2001 und die Kurzfassung »Atomwaffen für die Bundeswehr?« In: Physik Journal Vol. 6, 2007 Nr.4 S.37-41.

7) Die Atomwaffen, Vortrag »Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter«, Bonn 29. April 1957, abgedruckt in: Der bedrohte Friede, S.31-42, hier S.34.

8) Ebenda, S.39.

9) Siehe dazu ausführlich Friedensinitiative Garchinger Naturwissenschaftler: 30 Jahre Göttinger Erklärung. Nachdenken über die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft, Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden Nr.11, Oktober 1997

10) Kraus 2001: S.66 und S.311.

11) Nobelpreis Homepage: http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1995/press.html

12) Zitiert nach International Herald Tribune, 8.Juli 2007.

13) Revitalizing Nuclear Disarmament: Policy Recommendations of the Pugwash 50th Anniversary Workshop Pugwash, Nova Scotia, 5-7 July 2007http://www.pugwash.org/reports/nw/pugwash-mpi/Pugwash-MPI-Communique.htm

Kalinowski, Martin: 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung – Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

1) Als Autor: Atomenergie und Atomzeitalter, Fischer Bücherei 1957; Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Vandenhoeck & Ruprecht 1957; als Herausgeber: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

2) Ziviler Bevölkerungsschutz heute. Frankfurt 1972.

3) Literaturangaben zu Veröffentlichung über das Gutachten finden sich unter » http://www.ialana.de/veroeffentlichungen.html«.

4) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/424). Deutscher Bundestag Drucksache 16/568 vom 8. Februar 2006.

5) Siehe Forschungsverband Naturwissenschaft, Technik und Internationale Sicherheit (FONAS), www.fonas.org

6) Einen Vertragsentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention legten bereits 1997 etliche Nichtregierungsorganisationen vor. Bei der Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai 2007 wurde den Delegierten eine überarbeitete Fassung des Textes vorgestellt. IALANA, INESAP, IPPNW (Hrsg.), Securing our Survival (SOS). The Case for a Nuclear Weapons Convention, 2007, 206 Seiten; ISBN 978-0-646-47379-0.

NATO und taktische Nuklearwaffen: Vor einer neuen Rüstungsrunde?

NATO und taktische Nuklearwaffen: Vor einer neuen Rüstungsrunde?

von Paul Schäfer, Wolfgang Zellner

Der Vertrag über die Verschrottung der landgestützten Mittelstreckenraketen der USA und der UdSSR war noch lange nicht unter Dach und Fach, da begann in den Führungsstäben der westlichen Allianz die Debatte über „Kompensationsmaßnahmen“. Margaret Thatcher sprach von einer „Brandmauer“, die es zu errichten gelte. Nunmehr ist von konkreten Modernisierungsplänen die Rede. Was steckt dahinter? Womit ist in den nächsten Jahren zu rechnen? Wir wollen eine erste Sichtung des öffentlich zugänglichen Materials vornehmen und eine vorläufige Übersicht über die neuen Rüstungspläne liefern.

Im ersten Schritt behandeln wir die unmittelbaren Versuche, die durch das INF-Abkommen sukzessive zu verschrottenden Waffensysteme zu „kompensieren“. In den nächsten Abschnitten versuchen wir nachzuzeichnen, was bei der NATO-Tagung 1983 in Montebello festgelegt wurde und wie sich die Nuklearplanung der NATO seitdem entwickelt hat. Kapitel IV gibt eine Übersicht über die gegenwärtigen Modernisierungs- bzw. Aufrüstungspläne. Schließlich nehmen wir die Haltung der Bundesregierung unter die Lupe und leiten daraus Schlüsse für die Friedensbewegung ab. Fest steht: Die Friedensbewegung muß sofort mit der Aufklärungsarbeit über diese Pläne beginnen. Nach der Unterzeichnung des ersten wirklichen Abrüstungsabkommens in der Geschichte darf es nicht zugelassen werden, daß diese Entwicklung zurückgedreht wird. Im Gegenteil: Weitere Abrüstungsschritte stehen auf der Tagesordnung.

I. Kompensation

Erste Weichenstellungen wurden offensichtlich auf der 42. Sitzung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO im November 1987 in Monterey vorgenommen. Ober diese Beratungen weiß die britische Zeitschrift „Observer“ am 8.11.1987 zu berichten:

„Es werden Entscheidungen innerhalb der nächsten Monate über „kompensatorische Maßnahmen“ erwartet, die angetan sind, Kontroversen in der europäischen Öffentlichkeit hervorzurufen, denn die NATO könnte am Ende mehr Nuklearwaffen besitzen, als sie haben würde, wenn ein INF-Abkommen nicht unterzeichnet worden wäre.

Eine Liste der Optionen wurde den Verteidigungsministern hier letzte Woche in einem geheimen Bericht der Nuklearexperten der High Level Group der NATO präsentiert und wird von den Nato-Regierungen erörtert werden.

Die Optionen umfassen die Stationierung von mehr nuklearfähigen Flugzeugen, Raketen kürzerer Reichweite und Marschflugkörpern, die sich von den bisher in Europa dislozierten unterscheiden – alle würden sich außerhalb der Grenzen des Geltungsbereichs eines INF-Vertrages über landgestützte Raketen bewegen. Eine Entscheidung wird wahrscheinlich bei dem nächsten nuklearen Planungstreffen der NATO im Mai 1988 in Dänemark getroffen werden

Die Militärplaner insistieren darauf, daß die NATO (…) genug Waffen haben müsse, die eine Reichweite besäßen, um die Sowjetunion von Westeuropa aus zu schlagen, wie es Cruise und Pershings konnten.“

Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet über die 42. Tagung der NPG wie folgt: „Mit dem Hinweis auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit der Materie begründen die Verteidigungsminister (…) ihr Bemühen, die Details dessen zu verbergen, was mit „Modernisierung“ der verbleibenden Atomwaffen gemeint ist (…)

Schon seit längerem ist bekannt, welche Waffensysteme als künftige Träger der Abschreckung von den Verantwortlichen intern im Gespräch sind: eine Nachfolgerakete für die 88 „Lance“-Raketen, deren Reichweite von nur 120 Kilometern unter den veränderten Bedingungen nicht mehr reicht und durch eine Rakete mit einer Reichweite von knapp unter 500 Kilometern ersetzt werden soll. Dabei denken die Verbündeten an die Stationierung von weit mehr als 88 Nachfolgeraketen. Die Vorstellungen reichen zum Teil über 500 Raketen hinaus. Sie wären vor allem in der Bundesrepublik zu stationieren. Außerdem sind luftgestützte Raketen in die Erwägungen einbezogen, die von Flugzeugen aus gestartet werden können (…)“ (FAZ v. 6.11.1987) Als sicher kann gelten, daß die nukleare Zielplanung seitdem angepaßt wird:

„Der Oberbefehlshaber von Amerikas Strategischem Bomberkommando (SAC), General Chaim, dem sämtliche landgestützten Interkontinentalraketen und die strategische Bomberflotte unterstehen, prüft zur Zeit, wie die Lücke, die das INF-Abkommen für die Verteidigung Westeuropas aufreißt, geschlossen werden könne (…)“

Chaim hebt hervor, daß sein Kommando die Ziele der Pershing II-Raketen und der landgestützten „Cruise Missiles“ künftig mit B 52-Bombern, die mit Marschflugkörpern ausgerüstet sind, den in England stationierten F-111, aber auch den strategischen Interkontinentalraketen weiter erfassen könne. Die amerikanischen Generalstabschefs (JCS) haben den Planungsstab von „SAC“ beauftragt, die neue Zielplanung zu entwickeln.“ (Jan Reifenberg, Was wird aus der Strategie der Abschreckung?, in: FAZ v. 8.12.87)

Um welche Maßnahmen könnte es sich im Einzelnen handeln?

F 111

„Eine Option, um die Nuklearkapazitäten zu vergrößern, könnte die Stationierung von zusätzlichen F-111-Bombern in Europa besonders in Großbritannien – sein. Diese Option wird favorisiert durch den (britischen) Verteidigungsminister George Younger (s. Guardian vom 3.11.1987 und Independent v. 18.12.1987). Die USA haben etwa 60 F-111, bestückt mit kurzreichweitigen Angriffsraketen, die auf Basen stationiert werden könnten, die bereits für die F-111 zur Verfügung stehen wie Lakenheath oder Upper Heyford oder auf zusätzlichen Plätzen wie Boscombe Down, wo sie des öfteren zeitweilig stationiert sind während regulärer NATO „Chequered Flag“-Übungen.“ (Dan Plesch, NATO's New Nuclear Weapons, The British-American Security Information Council, BASIC REPORT 88-1, S. 15)

Seegestützte Marschflugkörper

Dabei handelt es sich vor allem um die sog. Tomahawk cruise missiles. Die US-Navy will ingesamt 4000 Marschflugkörper beschaffen, davon 758 nuklear bestückt. Diese Marschflugkörper haben eine Reichweite von 2500 Kilometern. Die nuklear bestückten Schiffe und U-Boote sind zu etwa gleichen Teilen im Atlantik und im Pazifik stationiert, so daß ungefähr 380 „nukleare“ SLCMs in europäischen Gewässern Mitte 1990 vorhanden sein werden (s. Dan Plesch, a.a.O., S.11/12).

Auch in dem oben zitierten Bericht des Observer wird über solche Pläne berichtet: „Ein anderer Vorschlag des HLG-Reports richtet sich auf das anwachsende Arsenal der US-Flotte an seegestützten Marschflugkörpern, das der NATO assigniert werden könnte.“ (Oberserver, a.a.O.)

Einige Zeitschriften haben hier darauf hingewiesen, daß die US-amerikanische Marine nicht glücklich darüber ist, ihre Schiffe dem NATO-Kommando zu überstellen – womöglich für Landkriegsoperationen (s. dazu u.a. Bulletin of the Atomic Scientists, Dec.1987).

Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, daß dem SACEUR neue Marschflugkörper, die auf U-Booten oder Schiffen stationiert würden, zugeteilt werden (s. E. Bonnart in: International Herald Tribune v. 14.4.1988).

B-52

„General Chaim ,Oberkommandierender des Strategischen Luft

Kommandos der USAF, hat vorgeschlagen, 150 B-52-Bomber umzuwandeln, sie mit konventionellen Cruise Missiles zu bestücken und in Europa zu stationieren. (New York Times v. 18.9.1987) Die B-52-Bomber werden verfügbar sein, wenn sie durch das Strategie Air Command durch B-1- und den Advanced Technology- oder „Stealth“-Bomber ersetzt sein werden. Gegenwärtig sind die strategischen ALCMs auf US B-52- und B-1-Bombern stationiert.“ (Dan Plesch, a.a.O., S.15)

Plesch weist aber zu Recht darauf hin, daß dieser Plan unwahrscheinlich ist. Erstens wären diese Bomber gegenüber sowjetischen Attacken dann verwundbar. Zweitens wären die riesigen B-52 wegen ihrer „politischen Sichtbarkeit“ ein guter Anknüpfungspunkt für politische Oppositionsbewegungen, und drittens könnten die B-52 mit nur geringem Zeitverzug Einsätze in Europa auch von ihren Dislozierungsplätzen in den USA fliegen.

Am ehesten dürfte also mit der Stationierung zusätzlicher F-111 in Großbritannien zu rechnen sein. Auch ist die britische Regierung von dieser Maßnahme sehr angetan (s.o.).

II. Montebello

Im Kommunique der NATO-Ratstagung vom 27./28.10.83 heißt es nur karg:

„Damit dieser auf ein Mindestmaß zurückgeführte Bestand (an Nuklearwaffen – die Red.) den bestmöglichen Beitrag zur Abschreckung leisten kann, müssen sowohl die Trägersysteme als auch die Gefechtsköpfe überlebensfähig, reaktionsfähig und wirksam sein. In dieser Erkenntnis haben die Minister sich über eine Reihe von möglichen Verbesserungen verständigt.“ (Bulletin, 3. November 1983, Nr. 115, S. 1047).

Die Frage stellt sich, welche Maßnahmen gemeint sind. Wir erfahren es mit einer zeitlichen Verzögerung von fünf Jahren:

In Montebello wurde nicht nur der Abzug von 1400 veralteten Atomsprengköpfen festgelegt, sondern auch die weitreichende Modernisierung des verbleibenden Bestandes.

a. Carlucci:

„Auch in der INF-Ära können wir die in Europa stationierten Nuklearsysteme nicht vernachlässigen Es ist unsere Aufgabe, das geplante Modernisierungsprogramm für diese Systeme durchzuführen und ihre Überlebensfähigkeit zu verbessern. Diese Anforderungen ergeben sich aus der Montebello-Entscheidung der NATO von 1983, die europäischen Nuklearwaffenbestände um 1400 Gefechtsköpfe zu verringern und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß die verbleibenden Bestände überlebensfähig und effektiv sind. Modernisierungsprogramme von hohem Vorrang für die NATO sind unter anderem: ein Nachfolger für die „Lance“-Boden-Boden-Rakete, die Entwicklung einer taktischen Standoff Luft-Boden-Rakete; und die Modernisierung der nuklearen Artillerie der NATO, Flugzeuge mit konventioneller sowie nuklearer Kapazität und Atombomben.“ (Der US-Verteidigungsminister auf der diesjährigen Wehrkunde-Tagung, in: Europäische Wehrkunde (WWR) 3/88, S. 156 f.)

b. Bundesregierung:

Die Abgeordnete Frau Katrin Fuchs (SPD) fragte im Deutschen Bundestag: „Welche atomaren Kurzstreckensysteme und Gefechtsfeldwaffen im einzelnen sollen laut dem Beschluß der NATO von Montebello modernisiert werden?“

Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Würzbach vom 26. Februar 1988: „Der Beschluß von Montebello hat als Perspektiventscheidung für die Notwendigkeit, das verbleibende Nuklearpotential überlebensfähig, reaktionsfähig und wirksam zu halten, keine detaillierten Festlegungen zu konkreten Modernisierungsmaßnahmen getroffen. Er spricht vielmehr das gesamte Spektrum des Verteidigungsdispositivs des Bündnisses als verbesserungsbedürftig an und stellt fest, daß sich dazu die Minister auf eine Reihe möglicher Verbesserungen verständigt haben. Auf Grund der Feststellungen der Nuklearen Planungsgruppe in Montebello hat SACEUR die Modernisierung der nuklearen Gefechtsköpfe der nuklearen Rohrartillerie sowie die Ablösung des Raketensystems. LANCE durch ein Nachfolgesystem vorgeschlagen.“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 11/1940, 11. Wahlperiode, S. 18)

c. Galvin:

In einem Interview mit der FAZ erklärte Galvin bezüglich seiner Aussage vor den Anschlüssen des US-Kongresses, die sich mit der Ratifizierung des INF-Vertrages befassen:

„Ich werde aussagen, daß die Modernisierung des gesamten Waffenspektrums der Allianz (…) stattfinden muß und daß die Beschlüsse, die wir schon 1983 faßten (Hervorhebung durch die Red.), verwirklicht werden müssen.“

„Daher brauchen wir nukleare Artilleriegeschosse, Kurzstreckenraketen wie. die „Lance“, Flugzeuge wie die F-111, die F-16A, die Tornado statt der Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, die jetzt fortfallen, sowie see- und luftgestützte Marschflugkörper.“ (General Galvin fordert die Modernisierung der Waffen der Allianz, Jan Reifenberg, in: FAZ,9.1.88)

d: Andere:

„In Montebello stimmten die NATO-Minister zu, eine neue Luft-Boden-Rakete mit einer Reichweite von ungefähr 400 Kilometern (248 Meilen) zu entwickeln und zu beschaffen.“ (Bulletin of the Atomic Scientists, Dec. 1987)

Auch Dan Plesch schreibt, daß es Teil der Beschlüsse war, die Einführung eines neuen Sprengkopfes gutzuheißen, „speziell des in der Entwicklung befindlichen W82 für 155mm Geschütze (US Senate Appropriations Committee FY 86 Energy and Water Development Appropriations part 2 p. 1457).“ (Dan Plesch, a.a.O., S.20)

Mit Sicherheit wurde also damals über die „Lance-Nachfolge“ geredet wie auch über die Entwicklung von Abstandsflugkörpern. Planungen für die Entwicklung neuer Systeme wurden vorgelegt und unterstützt. Die Modernisierung der nuklearen Artillerie (s.u.) wurde festgeklopft.

Der Herausgeber der Militärzeitschrift „NATO's Sixteen Nations“ Frederick Bonnart hat jetzt in einem Beitrag für die International Herald Tribune den bisherigen Planungsverlauf wie folgt umrissen. In Montebello aktzeptierten die NATO-Minister das Projekt des Oberbefehlshabers (SACEUR), das Arsenal der nuklearen Sprengköpfe zu verringern, das verbleibende Potential zu modernisieren und beauftragten ihn, diesen Plan konkreter auszuarbeiten. „Er präsentierte diese Pläne dem Treffen der Nuklearen Planungsgruppe im März 1985 in Luxemburg, wo sie angenommen wurden. Sie wurden erneut durchgesehen im Lichte des bevorstehenden INF-Vertrages bei der Tagung in Monterey (Kalifornien) letzten November. Der westdeutsche Verteidigungsminister nahm an all diesen Treffen teil.“ (International Herald Tribune v.14.4.1988)

III. Gleneagles

Die vierzigste Sitzung der Nuklearen Planungsgruppe verabschiedete im Oktober 1986 ein wichtiges Grundsatzdokument: Die Allgemeinen Politischen Richtlinien zum Einsatz von Nuklearwaffen. Sie lösten die „provisorischen Richtlinien“ ab, die ab 1969 galten. Die Annahme der Richtlinien beendeten vorläufig einen langwährenden in der NATO über die Strategie des Atomwaffeneinsatzes in Europa. Die „Europäer“, in Sonderheit die Bundesdeutschen, sollen darauf gedrängt haben, ein größeres Gewicht bei der Einsatzplanung auf die Waffen zu legen, die das sowjetische „Sanktuarium“ bedrohen. Im Falle eines bewaffneten Konflikts sollten ggf. recht schnell Atombomben gegen die UdSSR eingesetzt werden, mit der rascheren Eskalation sollte dem Gegner ein größeres Risiko aufgebürdet werden. Die Richtlinien von Gleneagles tragen dieser Zielsetzung Rechnung (s. dazu: „Bulletin“ Nr. 128, 24.10.86, S. 1079 ff.; FAZ v. 23.10.86; Stuttgarter Zeitung v. 21.10.86). Nach dem INF-Vertrag, der eben die längerreichweitigen Systeme verbietet, steht allerdings das Problem, wie die alte Planung realisiert werden kann. Die Zauberformel könnte lauten: seegestützte Marschflugkörper plus mit Abstandsflugkörpern versehene Flugzeuge. An Gleneagles soll jedenfalls festgehalten werden.

Frank Carlucci: „Was zu nuklearen Abschreckung gebraucht wird, sind überlebensfähige, militärisch wirksame Systeme, die in der Lage sind, die entsprechenden Ziele zu zerstören, selbstverständlich einschließlich solcher, die tief im sowjetischen Hinterland liegen.“ (Europäische Wehrkunde (WWR) 3/88, S. 156).

IV. Laufende und geplante Modernisierungen

a. Artillerie

Gegenwärtig gibt es zwei Typen nuklearer Artilleriegeschütze: Geschütze mit 203 mm und mit 155 mm. Ein neuer Sprengkopf für die 203 mm-Geschütze wurde 1981 produziert, aber nicht in Europa stationiert: es war die sog. Neutronenbombe (Enhanced Radiation Weapon). Der Sprengkopf wurde in eine non-ER-Version umgewandelt, blieb aber konvertierbar, und etwa 200 dieser neuen Sprengköpfe wurden ab 1985 in Europa stationiert. Der US-Kongreß genehmigte die Produktion von insgesamt 925 Projektilen beider Arten. Eine Beschaffungsnachfrage von etwa 625 Geschossen für 155 mm-Munition von 1989 an wird erwartet; 400 davon werden nach Europa gehen.

Wie der Sprengkopf W-79, der für die 203 mm-Geschütze ausgelegt ist, ist auch der W-82 (155 mm) geeignet für die Umwandlung von einer Kernspaltungswaffe zu einer Spaltungs-/Fusions-Waffe, die geringe Explosionskraft, aber eine ungeheure Strahlungswirkung hat. Die US-Armee wird weiter darauf drängen, daß der Kongreß Sprengköpfe mit ER-Fähigkeit (Neutronenbombe) genehmigt.

Der W-82 wird eine Reichweite bis zu 30 km haben und eine Sprengkraft bis zu 2 Kilotonnen. Im Vergleich die Waffen, die er ersetzt: 0,1 Kilotonnen und 14 km. Diese „Verbesserung“ macht die Reduzierung der Sprengkopf-Anzahl möglich. (s. Dan Plesch, a.a.O., S. 19/20)

„Seit 1985 schafften die Amerikaner zunächst an die 200 Atomwaffen einer neuen Generation vom Kaliber 203 Millimeter nach Europa; in den nächsten zwölf Monaten sollen die neuen Atomgranaten für Geschütze vom Kaliber 155 Millimeter über den Atlantik gebracht werden. Sie fliegen doppelt so weit (30 Kilometer) wie das Vorgängermodell.“ (Der SPIEGEL, Nr.14/1988, S. 19)

b. Lance

In Westeuropa stehen derzeit 88 Lance-Abschußrampen. Der Bestand an nuklearbestückten Raketen wird auf 600 geschätzt. Die Lance-Systeme sind nachladefähig; vier Flugkörper können pro Stunde verschossen werden. Ihre Reichweite beträgt 120 km.

„Es wird erwartet, daß die Wehrbeschaffungsbehörde der USA (Defense Acquisition Board) die beginnenden Arbeiten an einem Folgesystem der Lance-Raketen der Army innerhalb der nächsten Monate genehmigen wird. Das Haushaltsbudget des Defense Departments 1989 enthält die Nachfrage nach 15 Millionen Dollar, um Forschung und Entwicklung des Lance-Nachfolgers beginnen zu können. Eine nuklearfähige Version des taktischen Raketensystems der Army wird als erster Kandidat für diese Rolle angesehen. Andere Systeme, die in Betracht gezogen werden, sind eine modifizierte Martin Marietta Patriot Rakete und eine modifizierte französische HADES-Rakete.“ (Aviation Week & Space Technology, March 7,1988, p.15)

„Frankreich wird in diesem Frühjahr Testflüge der taktischen Rakete HADES beginnen, die eine Reichweite von etwa 500 km haben wird. Der Zeitplan sieht die Stationierung von HADES für die 90er Jahre vor.“ (Aviaton Week & Space Technology, January 18, 1988, p. 30)

Als voraussichtlich wichtigstes Projekt muß derzeit das Army Tactical Missile System (ATACMS) angesehen werden. Es ist in der Planung am weitesten fortgeschritten.

„Die Unternehmensgruppe LTV Missiles and Electronics plant die ersten Raketentests im Rahmen des Army'sTactical Missile System Programms auf der Raketenbasis White Sands in New Mexico am 26. April. Damit beginnt ein achtzehnmonatiges Testprogramm.“ (Aviation Week & Space Technology, April 18,1988, p. 20; alle folgenden Angaben und Zitate ebd.)

Für die erwartete Produktion von 1000 Raketen ist bereits eine neue Fabrik (Kosten: 7 Mio. $) in Horizon City in der Nähe von El Paso errichtet worden.

„Das Army TACMS Programm ist dazu ausgelegt, die Artillerie-Befehlshaber mit einer neuen, längerreichweitigen Boden-Boden-Rakete zu versehen, die gegnerische Ziele weit hinter der Frontlinie zerstören und den feindlichen Nachschub unterbrechen kann.“

Der Projektmanager bei der US Army, Col. Thomas Kunhart, sagte bei der Eröffnung der neuen Fabrik: „Dieses System ist dabei, uns zu erlauben, jeden konventionellen Konflikt, dem sich die USA in Zukunft ausgesetzt sehen, zu beeinflussen und – nach meiner Meinung – zu gewinnen.“

ATACMS ist zunächst als Rakete mit konventioneller Sprenglast konzipiert. Seine Reichweite: annähernd 200 km. Eine Bestückung mit nuklearem Sprengkopf ist prinzipiell möglich. Dadurch könnte die Reichweite (wegen des geringeren Gewichts) erheblich ausgedehnt werden! Verschossen würde ATACMS vom neuen Raketenwerfer der US-Army MLRS (Multiple Launch Rocket System). Schon heute wird an neuen Sprengköpfen für ATACMS gearbeitet.

Die Produktion und Stationierung der ersten Systeme kann – nach einer zweijährigen Entwicklungsphase – 1990 beginnen. ATACMS könnte mit atomarem Sprengkopf versehen also bis spätestens 1995 einsatzbereit sein.

c. F-15E Strike Eagle

„Zukünftige Erhöhungen der nuklearfähigen Luftwaffe der NATO schließen die Stationierung des nuklear bestückten F-15E Strike Eagle-Bombers in Europa ein. Der F-15 Strike Eagle wird den „nicht-nuklearen“ F-15C/D ersetzen, der gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland ist, und den Tornados, F-16 und F-111 hinzugefügt werden. Es ist vorgesehen, den F-15 E Strike Eagle ab 1992 zu stationieren; dies könnte aber auch schon 1989 bewerkstelligt werden, denn das erste Geschwader wird 1988 einsatzfähig sein. Die Air Force plant den Bau von 392 F-15E Strike Eagle

Maschinen (…) Es hat eine Reichweite – ohne Wiederauftanken – von 1200 Meilen und trägt 5 freifallende Atombomben. Die 392 Maschinen werden gebaut mit einer Jahresrate von 42 Stück bis 1997, vier Geschwader werden mit jeweils etwa 90 Flugzeuge bestückt werden. Wahrscheinlich werden zwei Geschwader auf Flugzeughasen in Großbritannien und der Bundesrepublik stationiert werden.“ (Dan Plesch, a.a.O., S. 16)

d. Abstandsflugkörper

Bis Mitte der 90er Jahre werden wahrscheinlich drei verschiedene Raketentypen den Luftwaffeneinheiten der NATO hinzugefügt werden. In welcher Mischung dies sein wird, ist gegenwärtig unklar. Neben noch offenen technologischen Fragen – die Waffen befinden sich noch in der Entwicklungsphase – geht es auch um politische Prioritätensetzungen. Als vordringlich werden natürlich Waffen angesehen, mit denen man die Sowjetunion erreichen kann.

Es handelt sich um folgende Projekte:

  1. die modulare Abstandswaffe (Modular Stand Off Weapon/MSOW)
    Mit dieser Waffe würden die F-16, die Tornados und andere Kampfflugzeuge der USA und der NATO ausgerüstet werden.
  2. ein luftgestützter Marschflugkörper in englisch-französischer Gemeinschaftsproduktion für Tornado und Mirage
  3. ein nuklear armiertes neues Raketensystem, Joint Tactical Missile System (JTACMS)
  4. und die Short Range Attack Missile 2 (BRAM 2)
    Der F-111 und der F-15E Strike Eagle könnten damit bestückt werden.
Modularer Abstandsflugkörper MSOW

Der MSOW wird gegenwärtig als ein Kooperationsprojekt zwischen den USA und den europäischen NATO-Alliierten entwickelt. Im September 1987 vergab die NATO Studien, die in knapp dreieinhalb Jahren abgeschlossen sein sollen. Mitte der 90er Jahre soll die Waffe einsatzfähig sein. Das modulare Design des MSOW macht die Bestückung mit verschiedenen nuklearen und konventionellen Sprengladungen möglich. Auch die Reichweite soll variabel sein. Leichtere Sprengköpfe ermöglichen größere Tankmodule und daher größere Reichweiten. Drei Versionen werden gegenwärtig entwickelt:

„Version A: Eine Submunition ausstreuende Waffe mit einer Reichweite zwischen 30 und 50 km, die zur Geländeabriegelung, zur Zerstörung von Fluchtwegen und zur Bekämpfung der Luftabwehr am Boden eingesetzt werden soll.

Version B: Eine Waffe, die, mit Submunition oder einem einzelnen Sprengkopf versehen, eine Reichweite zwischen 185 und 600 km hat. Der Auftrag für diese Waffe würde einschließen den Angriff auf Flugplätze, Depots der Zweiten Staffel und auf statische Einrichtungen wie Brücken. Dieses Programm ist ein Abkömmling des long-range-standoff-missile-Programms (LRSOM).

Version C: Eine Submunitions-Waffe mit einer Reichweite von 15 bis 30 km, die gegen armierte Ziele eingesetzt würde.“ (Aviation Week & SpaceTechnology, June 22,1987, p. 27; s.a. Washington Post vom 3. Nov.1987) V.a. die F-16 und der Tornado sollen mit solchen Abstandswaffen bestückt werden.

Verschiedene Firmen wie Boeing und Rockwell International sind gegenwärtig in die Entwicklung solcher Waffensysteme involviert.

ASMP-Nachfolgesystem

Frankreich (Aerospatiale) plant die Weiterentwicklung von ASMP, einer Luft-Boden-Rakete, die z.Zt. eine Reichweite von 300 Kilometern hat. Möglicherweise wird sich die British Aerospace diesem Projekt anschließen. (Aviation Week & Space Technology, January 18,1988, p.30)

Joint Tactical Missile System und Advanced Cruise Missile

1981 beauftragte der US-Kongreß die Armee und die Luftwaffe mit der Entwicklung eines neuen Raketensystems (JTACMS) in Verbindung mit einem neuen Radarsystem (Joint Surveillance and Target Acquisition System/JSTARS). Das Radarsystem sollte Bodenziele in einer Distanz von einigen hundert Kilometern ausfindig machen und „Zielinformationen“ an die in der Luft befindlichen Piloten oder an die am Boden befindlichen Kommandierenden, die den Befehl zum Abschuß der Raketen zu verfügen hätten, geben. Die entsprechenden Flugkörper, die aus der Luft oder vom Boden abgefeuert werden sollten – mit einer Reichweite von 300 km -, sollten bewaffnete Einheiten, Radarstationen, Kommunikationseinrichtungen und Transportzentren weit hinter der ersten feindlichen Linie treffen. (s. F.A.S. Public Interest Report. Journal of the Federation of American Scientists, Volume 37, No. 5, May 1984, p.3 ff.: „The New Weapons“)

Inzwischen handelt es sich wohl um zwei von der Army und der Air Force relativ eigenständig durchgeführte Programme.

Seit 1986 ist JTACMS ein geheimgehaltenes „Black“-Programm und muß in enger Verbindung gesehen werden zum Projekt der neuen strategischen „Stealth“-Marschflugkörper AGM 129 (ACM). Seit 1983 ist die Advanced Cruise Missile bei General Dynamics in der Entwicklung. Sie soll über „Stealth“-Eigenschaften verfügen, d.h. vom gegnerischen Radar nicht mehr geortet werden können. Das Waffensystem soll in den frühen 90ern operationsfähig sein (s. Janes Weapon Systems 1987-88). Es würde mit konventionellen Sprengköpfen ausgerüstet werden; aber die Hinzufügung von nuklearen Sprengladungen wäre technisch kein Problem. Während die ACM mit einer Reichweite bis zu 3000 Meilen versehen ist, soll das JTACMS Ziele im Umkreis von 1000 Meilen erreichen können. Mit dem Joint Tactical Missile System würden die schwereren, taktischen Flugzeuge der US Air Force wie die F-111 und die F-15E Strike Eagle ausgerüstet werden. (Vgl. Dan Plesch, a.a.O.)

Short Range Attack Missile II

Eine andere Rakete wird bei Boeing Aerospace entwickelt. Am 8.12.1986 wurde die Firma ausgewählt, eine zweite Generation der Kurzstrecken-Angriffsrakete SRAM auf den Weg zu bringen. SRAM ist eine nuklear armierte Luft-Boden-Rakete, die Luftverteidigungseinrichtungen auf dem Wege zu, oder um Bodenziele herum, ausschalten soll. Eine der wichtigsten Neuerungen soll das Anvisieren von beweglichen Zielen (rapid targeting) sein. Die Pläne beinhalten die Produktion von 1633 SRAM II, die anfänglich auf den B- B und den Advanced Technology („stealth“) Bombern stationiert werden sollen. Beginn: März 1992. (Bulletin of the Atomic Scientists, 1/2-88, p. 55; Dan Plesch, a.a.O., p. 14/15).

V. Die Haltung der Bundesregierung

Führende Vertreter der derzeitigen Bundesregierung haben die doppelte Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen mit der These bekämpft, die Errichtung einer „Brandmauer“ gegen weitere Abrüstung im Reichweitenbereich unter 500 km käme für sie nicht in Betracht:

„Ich wiederhole noch einmal: Wir lehnen es ab, Lücken in der europäischen Verteidigung, die durch Null-Lösungen bei Reichweiten über 500 km entstehen, durch Aufrüstung bei Reichweiten unter 500 km auszugleichen. Dies ist uns Deutschen nicht zumutbar.“ (Alfred Dregger, 16. Sitzung des Deutschen Bundestages, 4. Juni 1987 (11. Wahlperiode))

„Nach einer Null-Lösung im Bereich von über 500 km müßten neue Waffensysteme zwischen 250 und 400 km Reichweite entwickelt und aufgestellt werden. Ist es eine antiamerikanische Haltung, wenn ich sage, mit mir nicht?“ (Volker Rühe, 10. Sitzung des Deutschen Bundestages, 7. Mai 1987 (11. Wahlperiode))

Inzwischen liest sich das etwas anders:

So erklärt V. Rühe, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, in einem Gespräch mit der ZEIT: „(…) es gibt eine Reihe von Modernisierungsentscheidungen, die im Kurzstreckenbereich und bei den Flugzeugen anstehen. Sie sind 1983 in Montebello von der nuklearen Planungsgruppe angesprochen worden (…) Wir brauchen ein neues Gesamtkonzept, das alle Nuklearwaffen in Westeuropa in den Blick nimmt. Dann sind (…) zahlenmäßige Reduzierungen in Verbindung mit Modernisierung möglich (…) Modernisierungen müssen als Option also möglich sein.“ (Die ZEIT v. 5. Februar 1988, S. 6)

In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterstreicht Rühe ebenfalls: „Deshalb müsse die Modernisierung von Atomwaffen grundsätzlich möglich bleiben, sie dürfe nicht tabuisiert werden. Es gehe jedoch darum, in diesem unverzichtbaren Minimum an Atomwaffen den Akzent auf solche Nuklearsysteme zu legen, die eine größere Reichweite hätten, so daß sie sich nicht gegen Ziele in Deutschland richten müßten.“ (FAZ v. 15.3.88)

Auch Alfred Dregger, der in der Öffentlichkeit schon bisweilen in die Nähe von Egon Bahr gerückt wurde, ist bereit, mitzuziehen. Dem „Protokoll“ der Wehrkundetagung entnehmen wir: „Alfred Dregger (…) mochte einer Modernisierung von Kernwaffen nach den Montebello-Beschlüssen nur in beschränktem Umfange und auch nur dann zustimmen, wenn der Nutzen einer solchen Maßnahme eindeutig nachgewiesen werde; er erkundigte sich zudem nach einer Modernisierung jener amerikanischen Waffensysteme, die sowjetisches Terrain zu erreichen vermögen, womit insbesondere Kampfmittel für Flugzeuge gemeint wurden.“ (Europäische Wehrkunde (WWR) 3/88, S.128)

Die Position des Bundeskanzlers ist in der Presse inzwischen mehrfach formuliert worden: „Kurzstreckenraketen sollten nach Kohls Ansicht nicht gänzlich beseitigt werden. Der Kanzler will Reagan eröffnen, der Bundesregienung liege nicht vorrangig an der Bildung eines „Verhandlungsforums“ für dieses Teilgebiet schon im Jahr 1988, sondern an der Ausarbeitung eines „Gesamtkonzeptes“, mit dem die NATO klarstellen solle, wie die atomaren Kurzstreckenraketen behandelt werden sollten. Eine „dritte Null-Lösung“ komme für Bonn nicht in Betracht.“

Eine Modernisierung der Kurzstreckenraketen solle zurückgestellt werden. „Erst müsse man beurteilen können, welche Rolle ein Gesamtkonzept welchen Waffensystemen zuweise und wie die „Struktur“ der atomaren Abschreckung aussehen solle. Dann trete der Beschluß in Kraft, alle atomaren Systeme, welche die NATO erhalten wolle, „wirksam zu halten“ – mit diesem Begriff wurde in Kohls Umgebung die Möglichkeit einer Modernisierung offengelassen. Da die Industrie zwei bis drei Jahre Vorlauf vor dem Inkrafttreten einer Modernisierung brauche, sei ein Beschluß auch unter diesem Gesichtspunkt jetzt nicht erforderlich.“ (FAZ v. 17.2.88)

Weiter heißt es: „indessen müsse die Möglichkeit einer Modernisierungsentscheidung gegeben bleiben, damit sie je nach Verlauf der Verhandlungen über Kurzstreckenraketen genutzt werden könne. Die schließlich verbleibenden Atomwaffen des Westens müßten ohnehin – lautet die Bonner Formel – wirksam gehalten werden.“ (FAZ v. 19.2.88)

Im Klartext: Die Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen ist für maßgebliche Teile der Bonner Regierungskoalition zwar an bestimmte Bedingungen geknüpft (s.u.), aber soll durchaus vollzogen werden. Der Besuch in Washington und der NATO-Gipfel wurden jedoch von Kanzler Kohl zur Täuschung genutzt – man will in der Öffentlichkeit Zeit gewinnen. Die Angst vor der hiesigen Friedensbewegung scheint groß (…)

Fragen der Abgeordneten Katrin Fuchs SPD) an die Bundesregierung, Bonn, 11.03.88:

  1. „Beabsichtigt die Bundesregierung, in den USA in der Entwicklung befindliche Raketensytem ATACMS für die Bundeswehr zu beschaffen?
  2. Für welche der drei Reichweitenvarianten der Modularen Abstandswaffe (MSOW) interessiert sich die Bundesregierung?
  3. Prüft die Bundesregierung die Option, im Rahmen der nuklearen Teilhabe mit der Modularen Abstandswaffe (MSOW) ein nukleares Trägersystem zu erwerben?“

Für den Bundesrninister der Verteidigung antwortet Staatssekretär Lothar Rühl mit Datum vom 24.3.1988:

  1. „Die Bundesregierung hat in ihrer Bundeswehrplanung keine Mittel für eine Beschaffung des derzeit in den USA in der Entwicklung befindlichen Raketensystems ATACMS eingestellt.
  2. Die Bundesregierung interessiert sich für alle drei aufgabenbezogenen Varianten der Modularen Abstandswaffe (MSOW). Ein entsprechendes Phasendokument für den Einstieg in die Definitionsphase liegt im BMVg vor.
  3. Das vorgenannte Phasendokument bezieht sich ausschließlich auf Modulare Abstandswaffen (MSOW) mit konventionellen Gefechtsköpfen.“

Nota bene.

Im geheimen Bundeswehrplan 1987, S. 2l0, Rubrik 395 war laut einer Veröffentlichung der Neuen Presse Hannover vom 20.6.86 zu lesen: „(…) im Rahmen der Entwicklung des Long Range Stand Off Missile (…) zu prüfen sei, ob dieses Trägersystem eine neue ressourcensparende Nuklearoption sein kann.“

Der NATO-Gipfel vom 2.-3.3.88 und die Irreführung der deutschen Öffentlichkeit

Das semantische Spielchen, ob „up-do-date“ mit „wirksam halten“ übersetzt werden darf, verschleierte, daß der jüngste NATO-Gipfel eine grundsätzliche Option zur Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen bejaht und damit frühere Entscheidungen bekräftigt hat. In dem bereits zitierten Artikel von E Bannart in der International Herald Tribune heißt es denn auch glasklar: „Die wertvollste Leistung war die Formulierung einer Übereinkunft über die vitale Frage der Modernisierung der Nuklearwaffen kurzer Reichweite.“ (International Herald Tribune v.14.4.1988)

Auch die Ausführungen der britischen Regierungschefin nach dem Gipfel (s.u.) belegen, daß hierzulande ein falsches Spiel getrieben wird.

„In der NATO besteht derzeit kein Bedarf, die atomaren Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen zu modernisieren. Zu dieser übereinstimmenden Ansicht kamen Bundeskanzler Helmut Kohl und seine US-Gesprächspartner, Präsident Ronald Reagan und Außenminister George Shultz, während des zweitägigen Arbeitsbesuchs der Kanzlers in der US-Hauptstadt (…)

Kohl und Außenminister Genscher machten während des Besuchs deutlich, daß sie „nicht prinzipiell“ gegen eine Modernisierung der atomaren Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen sind. Ebenso lehnten sie eine dritte Null-Lösung und atomwaffenfreie Zonen in Europa ab. Allerdings könne nicht „isoliert“ über atomare Modernisierung entschieden werden, vielmehr müsse das westliche Verteidigungsbündnis baldmöglichst konventionelle Abrüstungsverhandlungen beschließen. Im Rahmen dieser Verhandlungen und einer neuen nuklearen Gesamtstrategie müsse dann über die Kurzstreckensysteme entschieden werden.“ (Frankfurter Rundschau v. 20.2.88)

Kohl selber erklärte: „In der Frage der nuklearen Flugkörpersysteme der Großmächte mit Reichweiten unter 500 km wurde die Position unseres Bündnisses, so wie in Reykjavik und Brüssel festgeschrieben – bestätigt. Im Zusammenhang mit der Herstellung konventioneller Stabilität in Europa und der weltweiten Beseitigung chemischer Waffen sollen auch diese Systeme mit dem Ziel gleicher Obergrenzen reduziert werden (…)

Unsere Forderung, daß es keine isolierten Entscheidungen über einzelne Waffensysteme geben darf, traf auf viel Verständnis. Mit meinen Gesprächspartnern war ich darin einig, daß sich unser Bündnis jetzt auf ein Gesamtkonzept der Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle konzentrieren muß und daß die fälligen Entscheidungen nur im Rahmen dieses Gesamtkonzepts zu treffen sind.“ (Bulletin, 26.2.88, S. 248)

Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs formuliert:

„(…) gibt es für die absehbare Zukunft eine Alternative zur Strategie der Kriegsverhinderung. Dies ist eine Abschreckungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist (…)

Unsere Vertreter beim Nordatlantikrat arbeiten aktiv an der Weiterentwicklung eines Gesamtkonzepts für Rüstungskontrolle und Abrüstung, mit der sie in der Erklärung unserer Minister im Juni 1987 in Reykjavik beauftragt wurden (…)“

Zu diesem Gesamtkonzept gehört u.a.: „(…) in Zusammenhang mit der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts und einer weltweiten Beseitigung chemischer Waffen deutliche und überprüfbare Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen.“ (Bulletin des Presse- und Informationsamt des Bundesregierung, 7.3.88, S. 285 ff.)

Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat auf der Pressekonferenz nach dem Gipfel klipp und klar erklärt, sie betrachte die Formulierung „als eine klare Weisung an die NATO-Verteidigungsminister“, bei ihrer nächsten Tagung als nukleare Planungsgruppe die nötigen Entscheidungen zu treffen, weil die Lance-Raketen zwischen 1992 und 1994 durch modernere Systeme ersetzt werden müßten, wofür eine lange Vorlaufzeit nötig sei. (Frankfurter Rundschau v. 4.3.88)

Die nächste Tagung der Nuklearen Planungsgruppe ist Ende April in Brüssel. Wir sind gespannt.

In der Bundesregierung drei „Fraktionen“

Innerhalb des Regierungslagers lassen sich inzwischen drei Positionen ausmachen: Die Nibelungen. Sie wollen den Modernisierungswünschen der USA bedingungslos und jederzeit folgen. Dazu sind zu rechnen der zukünftige NATO-Generalsekretär M. Wörner, BMVg-Staatssekretär L. Rühl, relevante Teile der militärischen Spike, Fraktionen der rechtskonservativen Presse und Abgeordnete wie Todenhöfer.

Am 5. April gibt die FAZ ein Gespräch mit Henning von Sandrart wieder, der seit Herbst 1987 Oberbefehlshaber Europa Mitte ist. Darin heißt es:

„(…) In dieser Kategorie (der Reichweiten über 500 km – die Red.) sind nach dem Abzug der Mittelstreckenraketen die für den Atomwaffeneinsatz ausgerüsteten Flugzeuge der NATO die wichtigsten Waffen. Sie müssen, so sagt Sandrart, wie vorgesehen mit weit reichenden Abstandswaffen ausgerüstet werden. Die Sowjetunion müsse von Westeuropa aus nuklear verwundbar sein – falls sie militärisch angreifen sollte. „Wer Kriegsverhütung durch nukleare Abschreckung will, muß sicherstellen, daß ein Krieg in Europa ein großer Krieg wäre, sagt Sandrart (…)

Der Beschluß von Montebello, die in Europa verbleibenden 4600 Atomsprengköpfe zu modernisieren, darf nicht zerredet werden.“ (Karl Feldmeyer, Es bröckelt im NATO-Gebälk. In: FAZ v. 5.4.88)

In einer vertraulichen Studie für Minister Wörner hat Staatssekretär L. Rühl geschlußfolgert, daß die Modernisierung der Atomwaffen „nicht zur Disposition neuer Rüstungskontrollverhandlungen gestellt werden“ sollte (Der SPIEGEL, Nr. 14/1988, S. 17).

Manfred Wörner auf der Wehrkundetagung am 7.2.88 in München: „Europabezogene Nuklearwaffen (boden-, see- und luftgestützt) bleiben unverzichtbar. Solange wir sie brauchen, müssen sie wirksam gehalten und zu gegebener Zeit modernisiert werden. Die Entscheidung von Montebello bleibt gültig.“ (Europäische Wehrkunde (WWR) 3/88, S. 148 ff.)

„Offene Enttäuschung über den Gipfel äußerte der CDU-Abgeordnete Todenhöfer. Er habe die historische Chance verpaßt, ein klares Bekenntnis zur dringend erforderlich gewordenen Modernisierung konventioneller wie nuklearer Waffen abzugeben (…) Insbesondere fehle ein Bekenntnis zur Notwendigkeit, besonders jene Atomwaffen zu modernisieren, mit denen von Westeuropa aus sowjetisches Territorium getroffen werden könne.“ (FAZ v. Z3.88)

Die bedingt Willigen. Der Gruppe um Kanzler Kohl, Dregger und Rühe geht es im wesentlichen um drei Dinge:

  1. Um eine zeitliche Verzögerung. Erst sollen die nächsten Wahlen gewonnen werden.
  2. Um die Einflußnahme auf die Struktur der zu modernisierenden Nuklearwaffen. Hinter dem vielfach Geschworenen „Gesamtkonzept“ verbirgt sich v.a. die Diskussion über die zu wählenden Reichweiten der neuen Waffen. Die Rühe/Dregger-Fraktion will den eindeutigen Akzent auf die längerreichweitigen Systeme, die die UdSSR treffen sollen, legen.
  3. Die Einbindung der Modernisierung in rüstungskontrollpolitische Initiativen. Nachtigall (…) Ein neuer Doppelbeschluß steht ins Haus! Die Aufrüstungsentscheidung soll also garniert werden mit dem Angebot zu Vorverhandlungen und quantitativen Reduzierungen der Sprengkopfzahlen. Gerade hier gibt es bis dato eine deutliche Differenz zu den USA, Großbritannien und dem NATO-Apparat. Aber wie die mühselige Entwicklung bis zum NATO-Doppelbeschluß 1976-79 gezeigt hat, sind Kompromisse möglich (…)

In der Wiedergabe der Frankfurter Allgemeinen von 28.3.88 sind die Bestandteile des Konzepts von Helmut Kohl erkennbar.

„Wegen der amerikanischen Präsidentschaftswahl im November rechnet die Bundesregierung mit dem Vorliegen eines Gesamtkonzepts frühestens in einem Jahr. Darin soll nach Bonner Vorstellungen ein für den Schutz der NATO-Staaten unentbehrliches Mindestmaß atomarer Waffen einschließlich Kurzstreckenraketen definiert werden (…) Bei Verhandlungen mit der Sowjetunion müsse eine Verminderung auch der Kurzstreckenraketen angestrebt werden. Diejenigen Waffen, auf die das Bündnis aber in keinem Fall verzichten könne, sollten dann allerdings nach Ansicht der Bundesregierung auch modernisiert werden. Da eine Modernisierung der Lance-Raketen in Westeuropa erst 1995 fällig werde, bleibe Zeit.“ (FAZ v. 28.3.88)

Also: Gesamtkonzept bis 1989, bis dahin endgültige Klärung der Struktur der verbleibenden Nuklearpotentiale; dann können angegangen werden Reduzierungen bei den Systemen kürzerer Reichweite, aber andererseits Modernisierung und Aufstockung der längerreichweitigen Waffen; gleichzeitig Verhandlungen mit der Sowjetunion mit dem vorgeblichen Ziel „gleiche Obergrenzen“.

Die relativ Unwilligen. Große Teile der FDP müssen nach den Erfahrungen um die doppelte Null-Lösung dazu gerechnet werden. Der Außenminister Hans Dietrich Genscher hat sich bislang zurückgehalten und lediglich die Notwendigkeit betont, die Abrüstungsverhandlungen im Kurzstreckenbereich fortzuführen. Die FDP setzt auf Zeit:

Für die FDP verwies deren stellvertretender Fraktionsvorsitzender Ronneburger auf die Frist, die bis zur Beseitigung der letzten Mittelstreckenraketen und zum Auslaufen der Einsatzbereitschaft der Lance-Kurzstreckenwaffen noch gegeben sei. In dieser Zeit solle man sich auf konventionelle Verhandlungen konzentrieren. Die „Option“ einer Modernisierung in den neunziger Jahren müsse aufrechterhalten werden.“ (FAZ v. 15.4.88)

Gerade die letzte Bemerkung macht deutlich, daß die FDP ein unsicherer Kantonist ist; dennoch dürfte Genscher klar sein, daß die Zustimmung zu dem Modernisierungspaket die FDP in eine bedrohliche Lage bringen würde. Außerdem entspricht eine neue Aufrüstungsrunde tatsächlich nicht seinen Zielvorstellungen. Nicht umsonst schossen sich auf der Münchener Wehrkundetagung die rüstungsfixierten US-Cowboys auf den „Genscherismus“ ein. Die Liberalen sind ein Stolperstein für die NATO-Pläne. Damit sie standhaft bleiben, bedarf es jedoch des Drucks der Öffentlichkeit. Hier ist die eigenständige Arbeit der Friedensbewegung gefragt.

Inzwischen haben weitere Fakten erhärtet, daß die Kohl-Regierung die deutsche Öffentlichkeit hinters Licht führen will:

John R. Galvin:

„Besondere Sorge bereitet mir der Gedanke, das Abkommen könnte eine Euphorie erzeugen, die zu einer weiteren Denuklearisierung Europas führt oder dazu, daß die NATO-Länder aufgeben, planmäßig die Streitkräfte der Allianz zu modernisieren. Reduzierungen des nuklearen Potentials der NATO, die über den Abbau der Mittelstreckenraketen hinausgehen, hätten schwerwiegende Folgen (…) Deshalb sollte wir nicht auf weitere Reduzierungen bei den verbleibenden nuklearen Gefechtswaffen blicken – zumindest nicht bevor die konventionellen und chemischen Ungleichgewichte beseitigt sind (…) Unsere Abschreckungsfähigkeit könnte auch geschwächt werden, wenn die Mitgliedsstaaten nicht fortfahren, die verbleibenden Nuklearwaffen und konventionellen Kräfte zu modernisieren (…) Um Abschreckung zu erzeugen, müssen die nuklearen Einsatzmittel Europas deutlich sichtbar, auf verschiedene NATO-Länder verteilt, unverwundbar gegen Überraschungsschläge und geeignet sein, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß ihr Boden im Kriegsfall kein Sanktuarium sein wird (…) Dabei wird in Übereinstimmung mit früheren Vereinbarungen der Verbesserung der nuklearfähigen Flugzeuge der NATO ganz besondere Bedeutung zuzumessen sein.“ (ebd., S. 169 f.)

Vogel in Washington: Die Wahrheit über die US-Pläne

„Den Optimismus des Bundeskanzlers, die Geschichte sei von der Tagesordnung, den habe ich nicht bestätigt gefunden.“ Vielmehr werde im kommenden US-Haushaltsjahr bereits die Vorentscheidung für die Modernisierung fallen, wenn die Mittel für neue Kurzstreckenraketen bewilligt würden, die dann allerdings nahe an die erlaubte Höchstgrenze von 500 Kilometern fliegen sollen (…)“ (Frankfurter Rundschau v. 26.3.88)

In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte Vogel:

„Wir haben hier gelernt, erstens Modernisierung bedeutet nicht, daß man die vorhandenen Lance-Raketen ein bißchen repariert oder aufpoliert, sondern, daß man sie wegnimmt und durch neue Raketensysteme mit größerer Reichweite ersetzt, das ist sehr schwerwiegend. Zum zweiten haben wir gelernt, daß die Entscheidungsprozesse, die inneramerikanischen und die im Bereich der NATO, im Jahre 1989 aktuell werden.“ (SPD-Presseerklärung vom 25.3.1988)

Karsten D. Voigt, Mitglied der Delegation, formulierte es wie folgt:

„1. In den USA wird bereits heute an der Entwicklung einer Rakete unter dem Kürzel ATACM gearbeitet, die ungefähr die Reichweite der bisherigen Lance-Raketen besitzen wird. Die Lance-Raketen haben sowohl nukleare wie konventionelle Sprengköpfe. Der US-Kongreß hat bisher nur Mittel für einen konventionellen Sprengkopf für die neue Rakete bewilligt. Der NATO-Oberbefehlshaber Galvin drängte am 27 Januar vor dem Kongreß auch auf einen nuklearen Sprengkopf. Der Kongreß hat nun auch Mittel für Studien für einen nuklearen Sprengkopf bereitgestellt, die Entwicklung und Produktion derartiger nuklearer Sprengköpfe aber noch nicht bewilligt.

2. Die USA drängen auf eine Stationierung eines neuen Raketentyps von ca. 400 km Reichweite, die im Jahre 1995 die bisherigen Lance-Raketen von ca.150 km Reichweite ersetzen sollen. Die USA behaupten im Gegensatz zu Bundesaußenminister Genscher, daß die Entscheidung über die Entwicklung einer derartigen neuen nuklearen Kurzstreckenrakete bereits im Jahre 1983 in Montebello getroffen worden sei (…) Damit wie geplant im Jahre 1995 mit der Stationierung begonnen werden könne, müsse der US-Kongreß spätestens im Jahre 1989 Gelder zur Planung und zur Entwicklung dieser Rakete bewilligen. Der US-Kongreß würde aber nur Haushaltsmittel bewilligen, wenn sich zumindest die Bundesregierung zur künftigen Stationierung dieser Raketen bereiterklärt habe und die NATO insgesamt entsprechende Planungen unterstützen.“ (Pressemitteilung der SPD-Bundestagsfraktion v.30.3.88)

Die Lance der Luftwaffe überstellt?

Erwin Horn: Werden atomare Waffen schon „modernisiert?“ (Frankfurter Rundschau v. 16.3.1988) Nach Informationen des Abgeordneten Erwin Horn, des Obmanns der SPD im Verteidigungsausschuß, sollen die Lance-Raketenbatterien aus der Obhut des Heeres in die der Luftwaffe übergehen. „Das bedeutet“, sagte Horn der FR, „daß ein Nachfolgesystem Für die Lance) nicht mehr in den Heeresreichweiten liegt.“

Die Reichweite der Lance beträgt laut offiziellen Angaben 120 Kilometer. Wenn jetzt im Zuge der neuen Bundeswehrplanung das Bedienungspersonal für die Lance nicht mehr vom Heer, sondern von der Luftwaffe gestellt würde, dann bedeutete das, daß eine Verlängerung der Reichweite auf über 350 Kilometer „vorgeplant“ sei, vermutete der sozialdemokratische Wehrexperte. Weiterhin bedeute dieser Schritt, der in den nächsten beiden Jahren vollzogen werden soll, eine Änderung der Zielplanung. Horn nannte Flugplätze auf dem Territorium des Warschauer Pakts als neue Ziele.

P-Ia-Verbände werden nicht aufgelöst

Die Erklärung der Bundesregierung, daß über eine Modernisierung sprich: Nachrüstung – atomarer Kurzstreckenraketen noch nicht entschieden sei, ist offensichtlich nur eine Hinhaltetaktik. Tatsächlich hat sich der Verteidigungsminister hinter dem Rücken der Öffentlichkeit bereits auf eine Nachrüstung eingestellt.

Der Beleg dafür ist die bisher unter der Decke gehaltene Entscheidung, daß die Pershing 1a-Einheiten der Bundeswehr nach dem Abzug der Pershing 1a nicht aufgelöst werden. Stattdessen sollen diese Einheiten in einer Größenordnung von 3.900 Soldaten bereitgehalten werden für das Nachfolgesystem der Kurzstreckenraketen vom Typ Lance. Daß es sich bei diesem Nachfolgesystem um eine atomare Waffe handeln soll, zeigt sich daran, daß diese Planung unter dem Stichwort „Nukleare Teilhabe am Bündnis“ steht.“ (Hermann Scheer in einer Presseerklärung der SPD-Bundestagsfraktion vom 18.3.1988)

Noch einmal: Klarstellungen

„Der amerikanische NATO-Botschafter Alton Keel erwartet, daß in etwa einem Jahr das angestrebte Gesamtkonzept der Allianz für die Abrüstung und die künftige Zusammensetzung des westlichen Waffenarsenals fertiggestellt sein wird. Zu der mit dem Konzept verknüpften Frage der Modernisierung von atomaren Kurzstreckenraketen unterhalb 500 Kilometer Reichweite sagte Keel in Bonn, ebenfalls in einem Jahr würden die USA in der Lage sein zu entscheiden, welches System der Lance-Rakete folgen solle. Der Botschafter wies darauf hin, daß bereits an einer Studie gearbeitet werde. Der Senat habe das Geld dafür inzwischen bewilligt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 16./17.4.1988)

„Bei der NATO nimmt ein Generalplan Gestalt an. Er wird eine weitere, größere Reduzierung des europäischen Nukleararsenals beinhalten, vielleicht auf 2500 Sprengköpfe von den in Monterey akzeptierten 4000. Ein großer Teil davon wird aus modernen, landgestützten ballistischen Raketen dicht unter der 500 km-Grenze, wie sie der INF-Vertrag setzt, bestehen. Die meisten davon wären in Westdeutschland zu stationieren.“ (International Herald Tribune v. 14.4.1988)

Diese Information deckt sich mit Aussagen von G. Gillessen in der Frankfurter Allgemeinen: „Die Verbündeten sind bereit, einen großen Teil dieser 4000 Sprengköpfe aufzugeben: deutlich weniger insgesamt, aber neue und auch mehr Waffen für die wichtiger gewordene Reichweite bis zu 500 Kilometern.“ (Günther Gillessen: Verdrängte Entscheidung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6.4.1988, S.1)

Dan Plesch kommt in seiner Studie zu folgendem Resultat:

Das mögliche Nuklearwaffenarsenal in Europa Mitte der 90er Jahre

Diese Stationierungen würden der NATO eine weitere Reduzierung des gesamten gegenwärtigen Potentials von 4600 auf 3500 erlauben; veraltete Bestandteile würden ausgemustert; dafür würden 2300 neue, nukleare Waffen eingeführt!

„Es wird besonders darauf ankommen, daß die Vereinigten Staaten – die führende Nuklearmacht des Bündnisses – ihre Pläne für die Modernisierung ihrer in Europa stationierten Nuklearstreitkräfte ausführen. Dazu gehört in erster Linie die Entwicklung einer „standoff“ Luft-Boden-Rakete mit Nukleargefechtskopf. Ferner ist die Weiterentwicklung unserer nuklearfähigen Flugzeuge wichtig (…) Um unsere Gegner davon abzuhalten, sich nur auf die Zerstörung unserer Flugzeuge zu konzentrieren, sollten wir auch eine Modernisierung der Lance-Rakete sowie unserer nuklearfähigen Artillerie anstreben.“ (General John R. Galvin: Der INF-Vertrag: Keine Entlastung von der Verteidigung. In: NATO-Brief Januar/Februar 1988, S. 7)

SPD, Grüne, Friedensbewegung gegen die neue Nachrüstung

Die SPD-Bundestagsfraktion hat in einem Entschließungsantrag formuliert: „(…) Nach dem INF-Vertrag streben wir in Europa eine Null-Lösung für die nuklearen Kurzstreckensysteme unter 500 km Reichweite und für die nuklearen Gefechtsfeldwaffen sowie konventionelle Stabilität an. Über die nuklearen Gefechtsfeldwaffen muß im Zusammenhang mit konventionellen Waffen verhandelt werden. Während der Verhandlungen soll keine der beiden Seiten eine Modernisierung dieser nuklearen Waffensysteme vornehmen.“ (Dt. Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/1870, 24.2.88)

Auch die Grünen haben sich gegen neue Aufrüstungspläne ausgesprochen. In einem Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion heißt es:

„Der Deutsche Bundestag wolle beschließen,

1. Der Deutsche Bundestag lehnt die Modernisierung der vorhandenen oder die Stationierung neuer atomarer oder konventioneller Kurzstreckenraketen entschieden ab. Er spricht sich für eine weitere Null-Lösung auch für die landgestützten Kurzstreckenraketen aus (…)“ (Bundestagsdrucksache 11/1875 v. 24.2.88)

Die Friedensbewegung hat diesmal bessere Karten, die Auseinandersetzung ohne zeitweilige Niederlage zu gewinnen:

  • der INF-Vertrag hat deutlich gemacht, daß einschneidende Abrüstung möglich ist; der Widersinn einer neuen Rüstungsrunde dürfe schwer zu vermitteln sein;
  • die Sowjetunion tritt grundsätzlich für das längerfristige Ziel der Beseitigung aller taktischen Nuklearmittel ein;
  • wenn die Friedensbewegung unverzüglich ihre Aufklärungsarbeit intensiviert, kann sie die ohnehin sensibilisierte Öffentlichkeit im Vorfeld neuer Rüstungsentscheidungen beeinflussen;
  • die Friedensbewegung hat diesmal von vornherein mehr gesellschaftliche Kräfte auf ihrer Seite (SPD, Gewerkschaften etc.); zudem ist die Regierung uneins.

Schlußfolgerungen

  1. Die Modernisierung der nuklearen Potentiale der NATO in Europa ist bereits im Gange.
  2. Es gibt klare Pläne für die Entwicklung und Dislozierung neuer Waffensysteme in den neunziger Jahren.
  3. Diese Modernisierung ist kein bloßes Ersetzen veralteter Waffen durch neue Modelle – es geht um qualitativ neue Waffen und sogar um eine Erhöhung der Anzahl der hier stationierten Raketen und Flugzeuge.
  4. Besonders die Regierungen der USA, Großbritanniens und das NATO-Establishment sind entschlossen, diese Pläne durchzusetzen.
  5. Die konkreten Entscheidungen über wichtige Bestandteile des Aufrüstungsplans stehen in den nächsten Monaten an. Definitive Festlegungen sind möglicherweise von der NATO-Ratstagung im nächsten Frühjahr zu erwarten.
  6. Die Bundesregierung versteckt sich hinter dem sog. „Gesamtkonzept“. Die CDU/ CSU ist im Prinzip für die neue Aufrüstung.
  7. Die Bundesregierung wird sich daher in den nächsten Monaten entscheiden müssen.
  8. Nach dem Abschluß des INF-Abkommens haben es die Aufrüstungsbefürworter schwerer denn je. Die Friedensbewegung kann dazu beitragen, die anstehende „Modernisierung“ der Nuklearwaffen zu verhindern – wenn sie jetzt ihre Aktivitäten verstärkt.

Nichts mit der Gnade der späten Geburt (…)

NATO Alerts Network

Interview von Jon Snow mit Premierministerin Margaret Thatcher am 3. März 1988

Jon Snow: „ Do you understand the misgivings that the Germans express about being left as the only obvious battlefield, in which these modernised battlefield nuklear weapons might be used?“

Margaret Thatcher: „If you are on the front line then, if they cross that frontline, of course you would be the first victim unless you won every battle. You would still be…“

Jon Snow: „So it´s bad luck being German, in a sense?“

Margaret Thatcher: „No, no, no, look, look at history; you can´t deny that it was Hitler that created the last world war and who had to be defeated and the German freedom started the day the West won. They know that.“

Paul Schäfer ist Redakteur des Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden. Wolfgang Zellner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro von Katrin Fuchs (MdB, SPD)

Atomteststopp

Atomteststopp

von Barbara Sabel, Michael Kalman

Der Kalte Krieg scheint zu Ende. In den osteuropäischen Staaten wurden die kommunistischen Regime gestürzt. Mehrparteiensysteme nach westlichem Vorbild etablieren sich. Der Warschauer Pakt ist militärisch nicht mehr funktionsfähig. In der DDR desertieren NVA-Soldaten scharenweise. Der große Frieden ist in Europa ausgebrochen. Meint man. Und doch wird ein Relikt der neuesten Kriegsgeschichte diesen historischen Umbruch des Jahres 1989 noch lange überdauern: die atomaren Massenvernichtungsmittel, die nach wie vor in Ost und West nicht nur gehortet, sondern immer weiter modernisiert und perfektioniert werden. Nukleare Versuchsexplosionen zur Entwicklung neuer Kernwaffen werden von den Regierungen der Atommächte weiter für nötig befunden. Ein weltweites Ende der Atomtests ist nicht in Sicht.

I. Historischer Rückblick

Am 16. Juli 1945 gelang in der Wüste Alamogordo (New Mexico, USA) der erste Atomtest. Damit fand eine Vernichtungswaffe mit bis dahin nicht gekannter Zerstörungswirkung Eingang in eine von tiefgreifenden Machtgegensätzen und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Staatenwelt. Schon der zweite und dritte »Test« brachten besonders »authentische« Ergebnisse. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 töteten mindestens 156.000 Menschen auf der Stelle.

Trotz warnender Stimmen wurde die neue Waffe rasch Bestandteil der raison d'etre internationaler Politik. Das angebrochene Nuklearzeitalter offenbarte eine erschreckende Ungleichzeitigkeit zwischen dem traditionellen Politikverständnis der Staatsmänner und der völlig neuen Qualität der Kernwaffen. Herkömmliche Ziel-Mittel-Analysen, das überkommene Denken in Sieg und Niederlage, der selbstverständliche Grundsatz, Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – all diese klassischen Überzeugungen und Methoden internationaler Politik und Diplomatie hätten eigentlich eine tiefgreifende Revision erfahren müssen. Die Chancen, der atomaren Rüstungsdynamik wirksam Einhalt zu gebieten, sind jedoch schon in den Kindertagen des Nuklearzeitalters verspielt worden. Die USA nutzte ihr Kernwaffenmonopol als Mittel »atomarer Diplomatie« gegen die Sowjetunion im Zuge des sich allmählich herausbildenden Kalten Krieges. Wie in einer Art Vorspiel zur globalen Eindämmungspolitik (Containment) gegen den – so sahen es die wichtigsten amerikanischen Politiker – aggressiven und expansionistischen Weltkommunismus “entschied sich die Truman-Administration 1946 definitiv, der Sicherung durch Wahrung des Atomwaffen-Monopols Priorität vor der Vermeidung atomaren Wettrüstens einzuräumen” (Wilfried Loth, Die Teilung der Welt, München 1985, S. 136).

Der Kalte Krieg: Entfesselung der Rüstungsdynamik

Auch »gutgemeinte« amerikanische Vorschläge zur Eliminierung des drohenden nuklearen Aufrüstungsprozesses waren vor dem Hintergrund des immer deutlicher hervortretenden gegenseitigen Mißtrauens im Ost-West-Verhältnis zum Scheitern verurteilt. Der bekannte Baruch-Plan etwa sah eine Internationalisierung der Atombombe (besser Kernenergie) in drei Schritten nach folgendem Muster vor: nach dem Austausch aller wissenschaftlichen Informationen sollte eine supranationale Behörde unter Aufsicht des UN-Sicherheitsrats nach und nach alle mit Atomfragen befaßten wissenschaftlichen Einrichtungen kontrollieren. Danach sollte alles spaltbare Material kaserniert und auf die ausschließliche Verwendung zu friedlichen Zwecken hin kontrolliert werden. Diese an sich vernünftige Vorgehensweise war jedoch von den Sowjets nicht akzeptiert worden, da nicht ausgeschlossen werden konnte, daß die USA aus dem Plan einseitige Vorteile hätte ziehen können. Denn bis zur vollständigen Errichtung eines Kontrollsystems behielt sich Washington das Recht vor, weiter Bomben zu bauen. Die Sowjetunion hingegen – die 1946 noch keine Atomwaffen besaß – wäre bei ihrem Atomprogramm blockiert gewesen, was im Fall eines möglichen Scheiterns des Plans erhebliche Rückschläge für Moskau bedeutet hätte. So wie dieser Abrüstungsinitiative sollte es noch vielen gehen: die atomaren Massenvernichtungswaffen in einer von Machtrivalitäten der Blöcke geprägten Welt konnten nicht mehr eliminiert werden, weil jeder Vorschlag in diese Richtung von der Gegenseite nur als Täuschungsmanöver und als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretiert wurde. Als Konsequenz aus diesem Dilemma wurden Atomwaffen zum sich selbst reproduzierenden fait accompli; sie wurden und werden gefährlicherweise wie früher Gewehre und Schwerter in traditionelle Kosten-Nutzen-Kalküle der internationalen Politik einbezogen. Damit war und ist einer entfesselten nuklearen Rüstungsdynamik Tür und Tor geöffnet.

Die USA begannen mit dem Ausbau ihrer nuklearen Infrastruktur, der forciert wurde, als die Berlin-Blockade den Kalten Krieg auf einen neuen Höhepunkt trieb. Das Lawrence Livermore Laboratorium wurde eingerichtet, als man nach dem Bruch des amerikanischen Atomwaffenmonopols durch die Sowjetunion (Oktober 1949) – zu Beginn der Kommunisten-Hysterie der McCarthy-Ära – glaubte, die »Superbombe« entwickeln zu müssen. Die 1952 erstmals gezündete Wasserstoffbombe überstieg die Zerstörungskraft der A-Bomben noch um ein Vielfaches. Gleichzeitig wurden die Nuklearwaffen nach und nach in die Teilstreitkräfte – vor allem die Luftwaffe – integriert. Zu Beginn der fünfziger Jahre war die UdSSR durch einen Ring amerikanischer Militärstützpunkte umschlossen, auf denen B-29 (später B-52)-Bomber des SAC (Strategic Air Command) rund um die Uhr in Bereitschaft gehalten wurden. Sie alle waren in der Lage, jeden Punkt der Sowjetunion mit Atombombern zu bedrohen.

Diese militärische Option forderte zusammen mit der Entwicklung und Verbesserung der H-Bombe einen steigenden Testbedarf. Die Gegenseite schlief – wie zu erwarten war – nicht. Der sowjetische Ministerpräsident Malenkov konnte schon im August 1953 den erfolgreichen Test einer sowjetischen H-Bombe bekanntgeben. Schon in den »Kindertagen« des Nuklearzeitalters ist also ganz deutlich geworden, daß es aussichtslos ist, mit der Weiterentwicklung der Nuklearwaffen einseitige Vorteile zu erzielen.

Gleichwohl erhielt sich diese Illusion weiter am Leben – gekoppelt mit einem geradezu mythischen Vertrauen in die Segnungen des technischen Fortschritts. Im Hinblick darauf bildeten die beiden Supermächte in Ost und West tatsächlich eine Art »unheilige Allianz«. Und schon kündigte sich eine ganz neue Gefahr an: die Proliferation. Im Oktober 1952 gelang Großbritannien der erste erfolgreiche Nukleartest. 1957 konnte die erste britische Wasserstoffbombe gezündet werden.

Wachsende Kritik an Atomtests

Aber das Bewußtsein um die menschheitsbedrohende Wirkung der Nuklearwaffen wuchs. Die zahlreichen Tests, besonders der USA, begannen die kritische Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu wecken. Bis 1957 fanden alle Versuche oberirdisch statt – mit zum Teil verheerenden Folgen für Gesundheit und Umwelt.

Unter dem Eindruck des verheerenden Wasserstoffbomben-Tests »Bravo« im Pazifik, der zahlreichen Insulanern und 23 japanischen Fischern Gesundheit oder Leben kostete, appellierte der indische Premierminister Nehru am 2. April 1954 an die Kernwaffenmächte, ihre Nuklearversuche einzustellen. 1954 wurde auch die internationale Wissenschaftler-Organisation Pugwash und die britische »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) gegründet.

Allmählich fand die Testproblematik auch Eingang in die Abrüstungsinitiativen der Atommächte. Am 10. Mai 1955 legte die Sowjetunion dem Unterausschuß der UNO-Abrüstungskommission ein ganzes Bündel von Abrüstungsvorschlägen vor, wobei dem Kernwaffenteststopp eine vorrangige Bedeutung zukam. Der umfassende Abrüstungansatz, den Moskau in den Folgejahren immer wieder in abgewandelter Form vortrug, war jedoch wegen seiner Vielschichtigkeit und Ausgedehntheit nicht konsensfähig. Er enthielt immer wieder zu viele Punkte, die der Westen als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretierte. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vollzog sich die allmähliche Separierung des »test ban issue« von den umfassenden Ansätzen, ein Prozeß, der einen allgemeinen Paradigmenwechsel in der internationalen Sicherheitspolitik deutlich machte: Ansätze vollständiger Abrüstung resignierten zur Rüstungskontrolle voneinander isolierter Rüstungsbereiche. Damit kann man zwar eher Übereinkünfte erzielen, der entfesselten Rüstungsdynamik wird aber keinerlei Einhalt geboten, weil nur Symptome, nicht aber Ursachen beachtet werden.

Die Vorgeschichte des Partiellen Teststoppvertrages (1958-1963)

Im Jahre 1958 bewegten sich die Atommächte aufeinander zu. Am 31. März 1958 wählte Moskau erstmals das Mittel eines einseitigen Teststopp-Moratoriums, um die Sache voranzubringen. Chruschtschow forderte die Atommächte im Westen auf, seinem Beispiel zu folgen, andernfalls würde er “sich der übernommenen Verpflichtung zur Einstellung der Kernwaffenversuche für enthoben … betrachten” (zit. nach Franz Seiler, Die Abrüstung. Eine Dokumentation der Abrüstungsbemühungen seit 1945, München 1974, S. 98). Eisenhower lehnte die sowjetische Initiative zunächst ab. Nach dem Insistieren Chruschtschows schlug der amerikanische Präsident jedoch immerhin eine Expertenkonferenz zur Möglichkeit der Verifizierung eines Teststopps vor. Schließlich wurde diese Konferenz vom 1. Juli bis 21. August 1958 unter Teilnahme von acht Ländern – vier West, vier Ost – auch tatsächlich abgehalten. Das Ergebnis war bemerkenswert. Durch ein weltweites Netz von 160 bis 180 Kontrollposten, die seismische, akustische und Radiosignale im Zusammenhang mit Atomexplosionen entdecken und radioaktive Trümmer sammeln sollten, sei man in der Lage, selbst kleinere Explosionen von 1-5 Kilotonnen (Kt) zu registrieren. Kritisch sei die Kontrolle vor allem bei sorgfältig verborgenen tiefen unterirdischen Tests.

Relativ rasch konnten sich die Atommächte auf dreiseitige Verhandlungen einigen, die im November 1958 in Genf begannen und von einem Moratorium begleitet wurden. Damit ist die direkte Vorgeschichte zum »Partiellen Teststoppvertrag« (Partial Test Ban Treaty, ptbt) eingeleitet worden, der 1963 geschlossen wurde.

Die folgenden vier Jahre jedoch waren immer wieder überschattet von Krisen, die die Verhandlungen zum Stocken brachten oder unterbrachen. Durch den Abschuß des amerikanischen Aufklärungsflugzeugs U-2 über sowjetischem Territorium im Mai 1960 lagen die Gespräche bis zum Amtsantritt Präsident Kennedys, Anfang 1961, auf Eis. Die Berlin-Krise im August 1961 hatte schließlich den Abbruch des dreiseitigen Moratoriums zur Folge. Die Sowjetunion führte dann in der kurzen Zeit bis Ende 1961 sage und schreibe 50 oberirdische Tests durch, wovon einer die ungewöhnliche Ladungsstärke von 50-60 Mt erreichte! Die radioaktive Belastung der Umwelt durch Atomversuche erreichte in diesen Jahren ihren absoluten Höhepunkt.

Die Kuba-Krise im Oktober 1962 führte jedoch den politischen Entscheidungsträgern und der Weltöffentlichkeit die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zwischen Moskau und Washington drastisch vor Augen. Schon 1959 hatte man sich im Grundsatz darauf geeinigt, alle unterirdischen Tests mit einem Ausschlag über 4,75 auf der Richter-Skala zu verbieten; dies entspricht einer Schwelle von 20 kt.

Der PTBT von 1963

Am 5. August 1963 konnte nun tatsächlich nach nur 20-tägiger Verhandlungsdauer in Moskau der »Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser« (Partieller Teststopp-Vertrag, Partial Test Ban Treaty, PTBT) zwischen den USA, der UdSSR und GB unterzeichnet werden. Dies war ein großes Hoffnungszeichen – welches allerdings aus der Retrospektive betrachtet praktisch alle Probleme der ungehemmten nuklearen Aufrüstung ungelöst ließ. Denn zum einen konnte man sich nicht auf einen Umfassenden Teststopp-Vertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) einigen – Moskau hätte dabei nur drei Vor-Ort-Inspektionen gebilligt, die westlichen Vertragspartner forderten aber sieben – zum anderen beherrschten die USA bereits seit 1957, die UdSSR seit 1962 die Technik unterirdischer Atomversuche. Zudem mußte Präsident Kennedy dem Kongreß als Gegenleistung zu dessen Ratifikation des PTBT eine drastische Erhöhung des unterirdischen Testprogramms versprechen. Es läßt sich unschwer rekonstruieren, daß die Sprengköpfe fast des gesamten strategischen Nuklearraketenprogramms beider Supermächte in unterirdischen Versuchsreihen nach 1963 entwickelt wurden. Sämtliche noch folgende nukleartechnologische Revolutionen wie Mehrfachsprenköpfe (MIRV, MARV) sollten auf Tests zurückgehen, die vom ptbt unberührt blieben. Die Präambel des begrenzten Teststopp-Abkommens hatte nicht umsonst die rasche Verwirklichung eines CTBT eingefordert.

Das Problem der Weiterverbreitung der Kernwaffen

Die Weiterverbreitung von Kernwaffen (Proliferation) konnte nun ungezügelt weitergehen. Frankreich konnte seine erste Atombombe bereits 1960 zünden. China zog 1964 nach, was angesichts der verbalaggressiven Nukleardoktrin Pekings nicht gerade beruhigend wirkte. Was aber, wenn nun immer mehr Staaten nach der Bombe griffen? Wie sollten die Atommächte den »nuklearen Habenichtsen« erklären, daß sie gefälligst auf Nuklearwaffen zu verzichten hätten, sie selbst aber unablässig weitertesten? Kein Zweifel: nun zeigte sich der Zusammenhang zwischen einem Umfassenden Teststopp und einer wirksamen Vorkehrung gegen nukleare Proliferation. Aber Frankreich und China traten noch nicht einmal dem PTBT bei. Immerhin kam 1968 der Nichtweiterverbreitungsvertrag (Non-Proliferations-Treaty, NPT) zustande. Auch dieses Abkommen betonte die Notwendigkeit eines umfassenden Teststopps. Sein Regime bleibt jedoch bis heute bedroht. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Schwellenländern, die die technologische Fähigkeit der Kernspaltung besitzen.

Keine Fortschritte (1963-1974)

Die Jahre nach Abschluß des begrenzten Teststopp-Abkommens brachten in Bezug auf einen CTBT keine Annäherungen. Von 1962 bis 1969 wurde die Frage eines Umfassenden Teststopps Jahr um Jahr im Achtzehn-Nationen-Ausschuß für Abrüstungsfragen in Genf behandelt. Doch die unterirdischen Versuche warfen – wie oben bereits angedeutet – auch neue Verifikationsprobleme auf. In der Kontrollfrage wurde der Dissens zwischen der USA und der Sowjetunion denn auch am deutlichsten. Moskau vertrat den altvertrauten Standpunkt, daß staatliche Aufklärungsmittel (National Technical Means, NTM) zur Überwachung völlig ausreichten. Vor-Ort-Inspektionen wurden als überflüssig erachtet. Die USA und Großbritannien wollten jedoch gerade auf diese Inspektionen unter keinen Umständen verzichten, da die seismischen Meßmethoden trotz Verbesserung nicht ausreichten. Die unterschiedliche Interpretation der Wirksamkeit von Meßverfahren war selbstverständlich nur vordergründig eine wissenschaftliche Kontroverse; sie war und ist eine Agentur politischer Interessen und Ängste. Das wirkliche Interesse an einer Beendigung der Tests war bei den Atommächten wohl sehr gering. Die Denkvorstellung und die Struktur nuklearer Abschreckung hatte sich im Westen eingeschliffen; man bemühte keinerlei politische Phantasie für eine alternative Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund einer Beendigung der Tests. Das Mißtrauen Moskaus gegenüber westlicher Spionage war die Hauptursache für die notorische Ablehnung der Vor-Ort-Kontrollen. Vermittelnde und abgestufte Verifikationsvorschläge von Nichtkernwaffenstaaten wie Schweden blieben praktisch ohne Resonanz.

Die Verträge von 1974 – eher kontraproduktiv

In den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der ersten Ost-West-Entspannungsperiode, konnte im Juli 1974 auch ein sogenannter Test-Bann-Schwellenvertrag (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) geschlossen werden. Diese Übereinkunft verbietet den Parteien (USA, UdSSR) Tests mit einer Ladungsstärke von über 150 kt. Ergänzt wurde dieses Abkommen durch den »Vertrag über Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken« (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET), der 1976 paraphiert wurde. Beide Verträge sind bis heute nicht ratifiziert worden. Gleichwohl haben sich die beiden Supermächte im Großen und Ganzen bis heute daran gehalten. Vom Standpunkt des verbal immer wieder beschworenen Endziels CTBT haben sich die Schwellenverträge jedoch eher als kontraproduktiv erwiesen. Der breiten Öffentlichkeit wurde eine aktive Rüstungskontrollpolitik suggeriert, die in Wirklichkeit alles beim Alten ließ. Der nuklearstrategische Trend in Richtung »kleinere«, dafür treffgenauere Sprengköpfe war auch ohne Schwellenvertrag längst beschritten.

Neue Impulse unter Jimmy Carter

Die internationalen Abrüstungsperspektiven erhielten jedoch neue Impulse als Jimmy Carters Präsidentschaft begann. In einem Interview am 23. Januar 1977 bekannte er: “Ich möchte rasch und energisch mit einem umfassenden Versuchsverbotsvertrag vorankommen; ich bin für die Einstellung der Erprobung aller Kernwaffensprengsätze, und zwar sofort und völlig”. (Heinrich Siegler, Dokumente zur Abrüstung 1977, S.7) So konnten im Juli 1977 Verhandlungen über den CTBT zwischen USA, Großbritannien und UdSSR beginnen. Am 30. Juli 1980 wurde dem Abrüstungsausschuß (Comitee on Disarmament, CD) ein entsprechender Plan vorgelegt. In Fragen der Kontrolle eines dementsprechenden Abkommens wurden bemerkenswerte Fortschritte und Übereinkünfte erzielt. So sollten zehn seismische Meßstationen auf dem Gebiet der Gegenseite installiert werden. Sogar Vor-Ort-Inspektionen wurden prinzipiell eingeschlossen. Den Vertragsparteien blieb aber ein Verweigerungsrecht derartiger Kontrollen noch zugestanden. Im November 1980 vertagten sich die Gesprächspartner.

Reagans Politik der Stärke und Gorbatschows Moratorium

Mit Ronald Reagan folgte Carter ein Mann ins Weiße Haus, der den Gedanken einer Politik der Stärke mit der Vision verband, das bestehende nukleare Abschreckungssystem durch eine weltraumstationierte Raketenabwehr zu ersetzen. Es war nur folgerichtig, daß der neue Präsident keine Neigung verspürte, die trilaterale Verhandlungsrunde neu zu beleben. Im Juli 1982 erklärte die US-Administration offiziell, die Verhandlungen über einen CTBT nicht wiederaufnehmen zu wollen. Im März 1983 teilte Reagan der Welt seine »Vision« einer friedlichen Welt, gestützt auf eine Raketenabwehr im Weltraum mit. Diese »Strategic Defense Initiative« (SDI), deren Kern die Entwicklung von Nuklearwaffen der sogenannten »Dritten Generation« ist, erfordert einen riesigen Testbedarf. Ein Report der US-Rüstungskontroll- und Abrüstungsbehörde (ACDA) sprach sich 1983 denn auch für Atomtests auf unbeschränkte Zeit aus. Bis Gorbatschows Amtsantritt als Generalsekretär im März 1985 gab es keinerlei Bewegung beim test ban issue, obwohl sich der internationale Druck für einen CTB vergrößerte. Der neue Generalsekretär Gorbatschow bediente sich im ersten Jahr seiner »Amtszeit« eines alten-neuen Mittels, um Bewegung in die Testbann-Frage zu bringen. Am 29. Juli 1985 verkündete er ein einseitiges Moratorium, beginnend mit dem 40. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August 1985. Dieses Moratorium, zu dem der Generalsekretär die USA einlud, beizutreten, war bis zum 31. Dezember 1985 befristet. Die amerikanische Administration weigerte sich jedoch, ebenfalls die Tests einzustellen. Im Jahre 1986 verlängerte Gorbatschow diese einseitige Maßnahme daher noch dreimal. Die USA blieben bei ihrer ablehnenden Haltung. Im Januar 1987 schließlich kündigte die Sowjetunion an, sie werde nach dem ersten amerikanischen Versuch ihre Tests wieder aufnehmen. Mit dem 26. Februar 1987 war dann tatsächlich das Ende des sowjetischen Moratoriums markiert.

Die USA bedienten sich unterschiedlicher Argumente, um ihre Position vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen. Nach Gorbatschows erster Ankündigung sprach Reagan von “reiner Propaganda”, lud jedoch als Zeichen guten Willens immerhin sowjetische Spezialisten ein, amerikanische Tests in Nevada vor Ort zu beobachten. Im Laufe des Jahres 1986 war aus amerikanischen Regierungskreisen zu hören, ein umfassender Teststopp, worauf Gorbatschows Moratorium abzielte, sei überhaupt nicht verifizierbar. Dieses Argument wurde selbst von Testbefürwortern als ungeschickt qualifiziert (siehe z.B. Thomas Enders, Verbot von Kernwaffen-Versuchen – nützlich oder schädlich für die Sicherheit?, Europäische Wehrkunde 10/1985), da die Experten in ihrer überwältigenden Mehrheit bereits eine ausreichende Kontrolle der Einhaltung eines CTBT für möglich halten.

Schließlich wurde Washington deutlicher: die Tests seien für die Sicherheit der Vereinigten Staaten unerläßlich, da ohne sie die Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung nicht garantiert werden könne.

Die Fronten geraten in Bewegung – aber noch kein Teststopp in Sicht (1986-1990)

Trotzdem gingen vom Moratorium vertrauensbildende und rüstungskontrollpolitische Impulse aus. Denn der Druck in der Weltöffentlichkeit wie auch innerhalb der Vereinigten Staaten zur Beendigung der Tests wuchs. Bereits Ende 1985 hatten 30 Kongreßmitglieder gegen einen Atomversuch protestiert, der der Erprobung eines nuklear »gepumpten« Röntgenlasers diente. Anfang 1986 forderten bereits 63 Kongreßmitglieder (darunter viele Republikaner) eine Verschiebung des ersten Tests jenes Jahres – er wurde gleichwohl am 24. März 1986 durchgeführt. Im Mai 1986 wurde ein informelles Abkommen zwischen der US-Umweltschutzorganisation »Natural Resources Defense Council« (NRDC) und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften über die gegenseitige Beobachtung und seismische Kontrolle der Tests geschlossen. Bald darauf durften amerikanische Seismologen in der Umgebung des Testgebietes von Semipalatinsk (Kasachstan) ihre Meßgeräte zur Kontrolle des Moratoriums aufstellen. Das Abkommen wurde im Juni 1987 verlängert. Im Juli 1986 konnten bilaterale Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über alle Aspekte der Kernwaffentests beginnen. Freilich gab es kein Mandat zur Aushandlung eines Abkommens. 1986 und bis weit in das Folgejahr hinein versuchte die sowjetische Diplomatie durch Herstellung bestimmter Junktims die USA von ihrer orthodoxen Haltung in der Teststoppfrage abzubringen. Nach der Kernreaktor-Katastrophe von Tschernobyl wurde eine verstärkte internationale Zusammenarbeit bei Reaktorunfällen von Fortschritten in der Teststoppfrage abhängig gemacht. 1987 wurde ein ähnlicher Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (INF) hergestellt. Die USA ließen sich im Kern aber darauf nicht ein. Im Frühjahr 1987 erklärten sie, daß die Fortsetzung der Versuche für die vorhersehbare Zeit unerläßlich sei.

Gleichwohl konnte Reagan die trotz ihres Scheiterns überaus wirkungsvolle sowjetische Abrüstungsoffensive kontern. Er lenkte das Augenmerk auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge von 1974 und 1976.

Im Dezember 1987 kam es tatsächlich zu bilateralen Verhandlungen mit dem einvernehmlich formulierten “Endziel” eines “vollständigen Verzichts auf Nukleartests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses.” Das klang gut, war aber im Prinzip eine »Niederlage« für die Sowjetunion und ihre proklamierte Linie eines direkten Zusteuerns auf einen Umfassenden Teststopp.

Der Dissens zwischen beiden Parteien über die angeblich notwendige Verbesserung der Verifikation führte zu einem Gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE), das vorsah, je einen nuklearen Sprengsatz auf den test-sites beider Länder in Nevada und Kasachstan zu Überprüfung der Meßmethoden zu zünden.

Diese Testexplosionen wurden im August und September 1988 durchgeführt. Der »symbolische« und vertrauensbildende Aspekt solcher Art von Zusammenarbeit sollte nicht unterschätzt werden und wurde vor allem von US-Seite breit ausgeschlachtet. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das »Endziel« wieder einmal aus dem Blick geriet.

Anfang 1990 zeichnet sich die Ratifikation der Schwellenverträge ab. Aber was hat die Ratifizierung von Abkommen, die rüstungskontrollpolitisch (oder sagen wir deutlicher: abrüstungspolitisch) schon zum Zeitpunkt ihrer Paraphierung überholt waren, für einen Sinn? Selbst die positive Ausstrahlung eines formellen Inkrafttretens der Schwellenverträge für die Erreichung eines CTB muß eher als gering eingestuft werden. Denn die von den Amerikanern favorisierte CORRTEX-Methode, deren Überprüfung im JVE soviel Zeit und Geld gekostet hat, ist für niedrige Ladungsstärken ungeeignet.

II. Atomtests und aktuelle Rüstungsdynamik

Die nuklearen Arsenale der beiden Supermächte haben sich in den letzten 40 Jahren in erheblichem Maße ausdifferenziert. Heute werden die 22.500 amerikanischen Sprengköpfe aus 27 verschiedenen Typen gebildet (U.S. nuclear weapons stockpile, in: Bulletin of the Atomic Scientists, fortan zitiert: BAS; June 1989, S. 49). In der Sowjetunion verteilen sich gar über 50 verschiedene Sprengköpfe auf 67 nukleare Waffensysteme; die 32.000 sowjetischen Sprengköpfe übersteigen das amerikanische Arsenal um 45 % (Estimated Soviet nuclear stockpile, July 1989, in: BAS, July/August 1989, S. 56). In diesen »nuklearen Wucherungen« hat sich der Kalte Krieg als (ehemaliger) Kampf zweier einander ausschließender Weltordnungsmodelle materialisiert. Die fortlaufende Modernisierung und Perfektionierung dieser Arsenale wird jedoch auch zu Beginn der neunziger Jahre mit strategischer Analytik rationalisiert. Es ist bei den Atommächten kein Trend zur dauerhaften Einstellung der Tests erkennbar.

Den USA fiel mit Einschränkungen die Vorreiterrolle bei der Entwicklung immer modernerer nuklearer Waffensysteme zu. Die nuklearen Fähigkeiten haben in den letzten Jahrzehnten in Ost und West immens zugenommen. Aufgrund der jahrzehntelangen Testerfahrung hat sich das Know-How über atomare Sprengköpfe in den USA, der UdSSR, aber auch in Frankreich, Großbritannien und selbst in China außerordentlich verbessert. Seit langem sind die gesamten Verteidigungsstrukturen in Ost und West nuklearisiert, greifen nukleare und konventionelle Waffensysteme in den Großverbänden nahtlos ineinander über. Auf bundesdeutschem Boden ist ein breites Sprengkopfsortiment gelagert, beginnend mit der notfalls von einem Soldaten zu transportierenden »Rucksack«-Bombe mit 0,1 kt Sprengkraft (die allerdings in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wieder abgezogen wurde) bis zur Atombombe im Megatonnenbereich. Sämtliche dieser für den Einsatz auf dem mitteleuropäischen Gefechtsfeld bestimmten Gefechtsköpfe sind auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada getestet worden.

Die Strategien und aus ihnen abgeleitete taktisch-operative Einsatzpläne formulieren Anforderungen an die nuklearen Waffensysteme, die einen erheblichen Atomtestbedarf mitbedingen. Die NATO-Doktrin der flexible response erfordert eine nukleare »Reaktionsfähigkeit« auf allen Ebenen eines bewaffneten Konflikts, von dem »nuklearen Warnschuß« über atomare Schläge gegen Truppenkonzentrationen des Warschauer Pakts bis zur »allgemeinen nuklearen Reaktion«.

Die Relation des Sprengkopfs zu seinem Träger wird in zunehmend zielsicheren Versionen erprobt. Anfang der fünfziger Jahre gab es nur einen Trägertyp, den strategischen Atombomber, wie die amerikanische B-29. Durch die Entwicklung ballistischer Mittel- und Langstreckenraketen kamen bodengestützte Abschußrampen hinzu. 1960 wurde in den USA das erste mit seegestützten Nuklearraketen ausgerüstete Unterseeboot in Dienst gestellt.

Atomare Sprengköpfe in der Bundesrepublik
Sprengkopf Sprengkraft Entwicklung Einführung System
W 31 1 kt NIKE
W 33 1-12 kt (2 Versionen) 1954 1956 Haubitzen 203 mm
W 45 1-15 kt (3 Versionen) seit 1956 (LANL) 1965 MADM
W 48 0,1 kt 1957 1963 Haubitze 155 mm
W 54 0,01-1 kt (LANL) seit 1960 1964 SADM
W 70 1-100 kt (4 Versionen) 1969 1973 LANCE
W 79 1981 Haubitzen 203 mm
W 82 2/1990 Haubitze 155 mm
B 57 unter 20 kt 1960 1964 Bombe
B 61 u. 1-345 kt 1975 Bombe
Durch den INF-Vertrag wieder abgezogen:
W 50 60-200 kt (3 Versionen) Pershing 1A
W 84 0,2-150 kt CM
W 85/W 80 0,3-80 kt Pershing II
Abkürzungen:
MADM – Medium Atomic Demolition Munition (Mittlere Atommine)
LANL – Los Alamos National Laboratory
SADM – Spezielle Atommine »Tornister- oder Rucksackbombe«, sind in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abgezogen worden.
NIKE HERCULES MIM 14 B – in der Nuklearversion (Luftabwehrrakete); die W 31 ist 1984 abgezogen worden.
W 79 – ist ein Neutronensprengkopf und in den USA gelagert.
W 70 – gibt es als A- und Neutronensprengkopf.

Laut Mechtersheimer/Barth, a.a.O., S. 370 besitzen die verschiedenen in der Bundesrepublik
gelagerten Atombomben eine Sprengkraft zwischen 5 und 1.450 kt (= 1,45 Mt oder die
120fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe!).
Das Jahr der Entwicklung bezeichnet das Jahr der ersten Planungs- und Designphase (Phase I
und II). Die eigentliche Atomtestphase (III) schließt sich ungefähr ein bis zwei Jahre
später daran an.

Quelle: Cochran, Arkin, Hoenig, Nuclear Weapons Databook, Vol. I U.S. Nuclear forces
and Capabilities, Cambridge (Mass.) 1984; Mechtersheimer, Barth, Militarisierungsatlas der
Bundesrepublik, Neuwied, Berlin 1988 (3. Auflage); Bulletin of the Atomic Scientists,
verschiedene Ausgaben 1989

Konsequenz der Abschreckung: Diversifizierung der Atomwaffenprofile

Schon die unterschiedlichen Trägersysteme erzwingen unterschiedliche Sprengkopfprofile, deren Entwicklung Atomtests erforderlich machen. Die Ausdifferenzierung allein des Raketenarsenals erfordert weitere Sprengkopfvarianten. Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen unterscheiden sich mindestens hinsichtlich fünf Kriterien:

1. Wurfgewicht. Die Nutzlast der Raketen. Sie definiert sich als Summe der Gewichte aus Gefechtsköpfen (Wiedereintrittsflugkörper, Re-Entry-Vehicles, RV), Einrichtungen zur Freigabe, zum Ausstoß oder der Flugführung der RV's und Eindringhilfen. Das Wurfgewicht der strategischen bodengestützten Interkontinentalrakete Minuteman III mit ihrem aus 3 W-78-Sprengköpfen bestehenden MK-12A Mehrfachsprengkopf beträgt über eine Tonne (1.087,2 kg). Die modernere MX-Rakete erreicht durch ihren Zehnfachsprengkopf MK-21, W 87, hingegen 3.578,7 kg, die Kurzstreckenrakete Lance mit einem Gefechtskopf 211 kg.

2. Flugbahn. Die Wiedereintrittsflugkörper einer ICBM werden nach dem Brennschluß der Startrakete von einem sogenannten Bus herausgestoßen und erreichen während der Hauptflugphase eine Höhe von 1.200 km weit oberhalb der Atmosphäre. Lance-Raketen haben eine viel niedrigere Flugbahn und erreichen je nach Reichweite eine Flughöhe zwischen 1.350 und 45.700 Metern.

3. Reichweite. Lance 5-125 km, Minuteman III über 14.000 km, Trident II D 5 7.400 km

4. Einfallswinkel. Nach der maximal nur 60 Sekunden dauernden Zielanflugphase treffen die Raketen-Gefechtsköpfe je nach Art der Flugbahn bzw. der Reichweite in unterschiedlichen Einfallswinkeln am Erdboden auf. Cruise Missiles haben im Gegensatz dazu noch einmal prinzipiell andere Auftreffwinkel, weil sie anders als Raketen in Bodennähe fliegen und ihren Flugweg nach vorprogrammierten Landmarken korrigieren. CM's sind auch erheblich langsamer als ballistische Flugkörper und erreichen ca. 1.000 km/h. Auch (strategische) Bomben verlangen völlig andere Sprengkopfprofile, da sie über feindlichem Territorium abgeworfen werden und nach freiem Fall auftreffen.

5. Geschwindigkeit. Lance 3 Mach, Minuteman III nach Brennschluß 19,7 Mach oder 24.000 km/h, Pershing II 8 Mach.

Die Innovationsschübe in der Sprengkopftechnologie werden mit der angeblichen Notwendigkeit gerechtfertigt, die Zweitschlagfähigkeit zu verbessern. Dieser second-strike-capability wird eine stabilitätsfördernde und kriegsverhindernde Wirkung zugeschrieben. Der extrem dynamische Charakter der nuklearen Rüstungsentwicklung mit seinen unentwirrbaren Prozessen der Vor- und Nachrüstung gibt dieser Rechtfertigung einen zweifelhaften Charakter: jede »stabilisierende« Rüstungsentscheidung ist auch als Versuch der Verbesserung der Erstschlagkapazität interpretierbar.

Dem extensiv und offensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff der NATO gemäß dürfen keine »Sanktuarien« auf dem Gebiet der Sowjetunion entstehen. Jedes strategisch wichtige Ziel soll bedroht werden können. Was der amerikanische Luftwaffenminister Aldridge auf den sogenannten »Tarnkappen-Bomber« Stealth münzte, gilt auch für neue Sprengkopftypen, die jetzt in Nevada getestet werden: mobile und gehärtete Ziele in der Sowjetunion sollen “unter Risiko” gehalten werden (zitiert nach: Ulrich Albrecht, Stealth, Dossier Nr. 2, Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, 1989). Verteidigungsminister Carlucci hat gegen Ende seiner Amtszeit die Entwicklung von Erddurchdringungssprengköpfen (»earth penetrating warheads«) mit bislang unerreichter Durchschlagskraft genehmigt (National Resource Defense Council -NRDC-, Phasing Out Nuclear Weapons Tests. A Report to the President and Congress from Belmont Conference on Nuclear Test Ban Policy, o.O. 1989, S. 27). Der neue Sprengkopf soll sich nach dem Abwurf in die Erde bohren können, um erst dann zu explodieren. Seine “Wirkung solle so verheerend sein, daß…(er) die Wände der tiefsten unterirdischen Bunker durchdringen und im Kriegsfall die gesamte sowjetische Führung auslöschen” könnte (FAZ, 24.7.1989). Es sind aber die anderen anvisierten Eigenschaften dieses Sprengkopfes (möglicherweise vom Typ B-61, model 7, siehe Kasten), die einen nicht geringen Testbedarf erfordern werden: reduzierte Druck- und Hitzeeffekte.

Die neue Waffe dürfte zum Einsatzprofil des B-2-Bombers passen, der im Tiefflug weit ins sowjetische Territorium eindringen und neben Kommandozentralen die mobilen Interkontinentalraketenstellungen der SS-24 und SS-25 bekämpfen soll. Dies wird den Waffenspezialisten in den drei US-Waffenlaboratorien noch eine weitere Leistung abverlangen: die Entwicklung eines verzögerten Zündsatzes, der bewerkstelligen soll, daß die Detonation erst dann erfolgt, wenn der tieffliegende B-2-Bomber schon in sicherer Entfernung ist (Holger Mey, Europa-Archiv Nr. 6/1988).

Die modernsten Sprengköpfe des amerikanischen Arsenals
Sprengkopf Sprengkraft Spezifikation
B-61 1-500 kt Strategische Bombe
B-83 u. 1-1.200 kt Strategische Bombe
W-80-1 5-150 kt ALCM
W-84 0,2-150 kt GLCM
W-87 300 kt MX
W-88   Trident II
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben die USA mindestens sechs verschiedene Sprengkopftypen entwickelt, die 1988, den einschlägigen Hearings des Kongresses zufolge, produziert wurden:

Derzeit werden mindestens drei Sprengkopftypen getestet:

  • B-90 Nuclear Depth Bomb (Anti-Submarine Warfare Standoff Weapon, ASW/SOW). Diese Abstandswaffe zur U-Boot-Bekämpfung soll im Haushaltsjahr 1993 in das Arsenal aufgenommen werden (BAS, Juli 1989)
  • SRAM-2 (Short-Range Attack Missile), ein luftgestützter Abstandsflugkörper.
  • B-61 (model 7). Diese Bombe ist seit Anfang der siebziger Jahre in verschiedenen Versionen im amerikanischen Nukleararsenal. Die jetzt getestete Version ist wahrscheinlich ein Erddurchdringungssprengkopf.

Modernisierung der Arsenale

Die Testserien in Nevada dienen jedoch nicht nur der zukünftigen Modernisierung der strategischen Nukleararsenale; sie betreffen auch in den neunziger Jahren geplante Nuklearsysteme für Europa. Einschlägige Militärexperten bestätigen, daß die verbliebenen Kernwaffenkräfte der NATO einer Modernisierung bedürften, um den Erfordernissen der »Flexible Response« gerecht zu werden. Die Sprengköpfe folgender Waffensysteme werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren auf der NTS getestet:

  • Nachfolgemodell Kurzstreckenrakete Lance, evtl. als Army Tactical Missile System (ATACMS) in der Nuklearversion, von Mehrfachraketenwerfern (MLRS) abzuschießen.
  • Entwicklung einer Luft-Boden-Abstandswaffe SRAM-T könnte in Europa die abzuziehenden Pershing II und Cruise Missiles ersetzen.
  • Modernisierung nuklearer Artilleriegranaten mit W-82-Sprengköpfen
  • Modernisierung Nuklearbomben der dual capable Kampfflugzeuge (siehe ami 1/90, S. 3).

Im Haushaltsjahr 1988 gaben die USA 618,9 Mio. $ für die Atomtests aus. Im fiscal year (FY) 1989 betrug die Summe 524,2 Mio. $. Im laufenden Haushaltsjahr 1990 sind Mittel in Höhe von 511,7 Mio. $ vorgesehen. Trotz leichten Rückgangs stehen auch aktuell alle Finanzmittel zur Verfügung, um die Modernisierung und Neuentwicklung von Nuklearwaffen voranzutreiben.

III. Atomtests, SDI und kein Ende

Mit Präsident Reagans Vision einer lückenlosen, weltraumgestützten Raketenabwehr (Strategic Defense Initiative, SDI) sind neue Begründungen für die Aufrechterhaltung der Atomtests in die Diskussion gekommen. SDI strebt Laserwaffen an, die gestartete sowjetische Interkontinentalraketen bereits in der Anfangsphase zerstören sollen. Drei Laserarten benötigen zu ihrer Erzeugung die Energie von nuklearen Detonationen:

  • Atomlaser zur Bekämpfung von Aufklärungs- und Fernmeldesatelliten des militärischen Gegners.
  • Weltraumgestützte Mikrowellenwaffen zur Zerstörung der elektronischen Infrastruktur auf der Erdoberfläche.
  • Röntgenlaser zur Zerstörung anfliegender ballistischer Interkontinentalraketen.

Der Röntgenlaser

Der Röntgenlaser ist die anspruchsvollste »Atomwaffe der dritten Generation«. Dieses System besteht aus einem nuklearen Sprengsatz, der von einem zylindrischen Bündel sehr dünner metallischer Fasern umgeben ist. Bei der Nuklearexplosion bewirken die freiwerdenden Röntgenstrahlen in der kurzen Phase vor der Selbstzerstörung des Systems, daß ein Puls sekundärer Röntgenstrahlen sich in Richtung der Metallfasern ausbreitet. Eine Studie der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft kam schon vor drei Jahren zu dem Schluß, daß die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten fast unüberwindlich sind. Am Beispiel des Röntgenlasers wurde ausgeführt: “Da die Atmosphäre Röntgenstrahlen absorbiert, müßte eine entsprechende Einrichtung in mehr als 80 Kilometer Höhe stationiert werden – möglicherweise mittels irgendeiner Art Katapult-System. Notwendig wäre auch eine Methode, die Bündel von Röntgenstrahlen zu fokussieren und auf ein vorgegebenes Ziel zu richten. Auch müßte man eine Reihe anderer physikalischer Konzepte auf ihre Wirksamkeit untersuchen, ehe man abschließend beurteilen könnte, ob nuklear gepumpte Röntgenlaser in der strategischen Verteidigung anwendbar seien” (Kumar N. Patel, Nicolaas Bloembergen, SDI und Waffen mit gerichteter Energie, Spektrum der Wissenschaft, November 1987). Trotz solcher Vorbehalte hatte die Regierung Reagan seit 1984 nahezu 17 Mrd. US-Dollar für SDI ausgegeben. Der Etat für Kernwaffenversuche hatte sich von 201 Mio. $ (FY 1981) auf 388 Mio. $ im Haushaltsjahr 1984 verdoppelt (SZ, 31.1.1984). Der erste unterirdische Atomtest im Rahmen eines Röntgenlaser-Versuchs (Code: Dauphin) wurde unter der Zuständigkeit des Lawrence Livermore Laboratoriums am 14. November 1980, also noch vor Reagans »Star Wars«-Rede, auf der Nevada Test Site durchgeführt. 1983 und 1985 folgten je zwei weitere Tests des »X-Ray-Lasers« (NRDC, Known U.S. Nuclear Tests July 1945 to 31 December 1985). Es ist gesichert, daß zwischen Mitte 1985 und Mitte 1988 sechs weitere Atomversuche zur Erforschung nukleargetriebener SDI-Waffen durchgeführt wurden (FR, 10.8.1988). Die Anzahl der SDI-bedingten Atomversuche seit 1983 dürfte jedoch noch höher liegen, weil die US-Administration seit Januar 1984 nach einer Aussage des damaligen Stabschefs des Weißen Hauses, James Baker, dazu übergegangen war, nicht mehr alle unterirdischen Atomtests anzugeben (SZ, 31.1.1984). Experten vermuten, daß es sich bei diesen Versuchen um Tests von Atomwaffen der dritten Generation handelt.

Kontinuität unter Bush

Die Bush-Administration sieht in SDI nicht mehr ihre militärpolitische Priorität. Der amerikanische Präsident hält im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger einen vollkommenen Schutz gegen ballistische Raketen für unrealistisch. Das heißt jedoch nicht, daß SDI bald »begraben« wird – im Gegenteil. Der Haushaltsentwurf für das fiscal year 1991 sieht wieder eine Steigerung der SDI-Ausgaben auf 4,8 Mrd. $ vor (FY 1990: 3,8 Mrd. $, SZ, 30.9.1989). Dies bedeutet aber, daß auch in Zukunft weiterhin Atomtests zur Erforschung von Atomwaffen der dritten Generation durchgeführt werden. Der Kongreß hat in diesem Zusammenhang 110 Mio. $ für das Haushaltsjahr 1990 bewilligt. Bei den Kosten von 20 bis 30 Mio. $ pro Test dürften im Jahre 1990 4-6 Atomversuche im Zusammenhang mit SDI stehen. Allein die Entwicklung einer Atomwaffe der dritten Generation wird nach Aussagen von Wissenschaftlern des Los Alamos Laboratoriums zwischen 100 und 200 Tests erforderlich machen (Josephine Anne Stein, Nuclear tests means new weapons, BAS, Nov. 1986, S. 8).

Die UdSSR zieht nach

Die Konzentration auf die USA zur Exemplifizierung der atomtestbedingten Rüstungsdynamik darf nicht vergessen machen, daß die Sowjetunion alle sprengkopftechnologischen Trends der USA mit- oder nachvollzogen hat. Ende der 50er Jahre wurden die Sprengköpfe für die erste sowjetische Interkontinentalrakete SS-6 getestet, die 1960 in Dienst gestellt wurde. Die Gefechtsköpfe für U-Boot-gestützte Raketen dürften in der ersten Hälfte der sechziger Jahre entwickelt worden sein. Der erste erfolgreiche Raketenstart von einem getauchten sowjetischen U-Boot aus erfolgte im Jahr 1962. Die erste U-Boot gestützte Nuklearrakete schließlich wurde 1968 auf dem Unterseeboot Yankee stationiert.

Auch in der Mehrfachsprengkopftechnologie holte die Sowjetunion bald die USA ein: Anfang der 70er Jahre wurden jene MIRV's getestet, die 1974 auf der SS-18 oder SS-19 montiert und stationiert wurden. Wie die amerikanische Kontroverse um die Entwicklung einer neuen, besonders zielgenauen und beweglichen »kleinen« Interkontinentalrakete Midgetman zeigt, wird die amerikanische Entscheidung zur Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen heute aus eben diesem Grund vielfach kritisiert; das selbst für US-Kongreßmitglieder irritierende Schema amerikanischer Vorrüstung und sowjetischer Nachrüstung wird an der Geschichte der MIRV's daher besonders deutlich. Mit vergleichbarem Unbehagen registrieren selbst republikanische Politiker in den USA heute die Midgetman, deren Gesamtkosten mit Stationierung von 500 Raketen 39 Mrd. $ betragen soll. Der Trend zur mobilen ICBM wird auch von der Sowjetunion nachvollzogen. Selbst einzeln lenkbare, zur nachträglichen Kurskorrektur fähige MARV-Sprengköpfe sind bereits produziert worden. Derzeit testet die UdSSR einen Gefechtskopf, der offensichtlich zu einem sowjetischen Midgetman-Äquivalent gehören soll.

Frankreich

Seit Jahrzehnten erhält Frankreichs Nuklearrüstung ca. 30 % des Verteidigungshaushalts. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hat Frankreich die Sprengköpfe von mindestens drei Raketensystemen getestet, die gemäß des Haushalts 1990 sofort oder später beschafft werden sollen:

  • M-4 SLBM
  • M-5 SLBM
  • Hades

Am umstrittensten ist die Kurzstreckenrakete Hades, von der jetzt wahrscheinlich nur noch 60 statt ursprünglich 120 Stück beschafft werden (ami 2/90, S.11). Ihre Reichweite von 350 km bedroht niemand außer die Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. Der militärische Sinn dieses Waffensystems wird auch von Militärexperten angezweifelt. Hades ersetzt den Boden-Boden-Flugkörper Pluton, der einen Sprengkopf von ca. 20 kt hat und im Elsaß stationiert ist.

Mit der U-Boot-gestützten M-4-Rakete wurde Mitte der achtziger Jahre erstmals ein Mehrfachsprengkopf in das französische Arsenal aufgenommen. Er wurde zwischen 1983 und 1985 ausgiebig im Pazifik getestet (Die Welt, 10.8.1983). Zum französischen Nuklearpotential gehören insgesamt mindestens sieben verschiedene Sprengkopftypen (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, S. 53).

China

Die Volksrepublik China führt nicht einmal annährend so viele Atomtests auf ihrem Versuchsgelände in Lop Nor durch wie die beiden großen Atommächte. Dennoch konnte die Volksrepublik in über 30 Tests seit 1964 ein begrenztes Atomsprengkopfarsenal schaffen, das zu folgenden Raketensystemen gehört:

  • CSS-NX-3, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-NX-4, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-5 Interkontinentalrakete (ICBM)

(Quelle: William M. Arkin, Richard W. Fieldhouse, »Nuclear Battlefields«. Der Atomwaffen-Report, Frankfurt/M 1986, S. 193)

Insgesamt unterhält China ähnlich viele Sprengkopftypen wie Frankreich (siehe BAS, Juni 1989).

Großbritannien

Großbritannien lehnt sich bei seiner Nuklearbewaffnung eng an die Vereinigten Staaten an; sämtliche britische SLBM's sind in den USA entwickelt und gebaut worden.

Atomwaffentests dienen vier Zwecken:

  • Entwicklung neuer Waffen
  • Untersuchung von Kernwaffenwirkungen
  • Überprüfung der Zuverlässigkeit der Arsenalwaffen
  • Entwicklung von Systemen gegen Mißbrauch und Unfälle

Die Entwicklung neuer Sprengkopfprofile ist nach wie vor unumgänglich mit der Durchführung von Atomtests verbunden. Weder die computergestützte Simulation noch sogenannte Labortests können eine atomare Detonation so exakt abbilden, daß sie Atomversuche ersetzen könnten.

Testserien dieser Art werden immer in vertikalen Bohrlöchern von 300 bis 2.000 Metern Tiefe durchgeführt.

Da Waffen, Geräte und sonstige Systeme auch unter Nuklearkriegsbedingungen möglichst noch funktionieren sollen, werden ein bis zweimal im Jahr die Kernwaffenwirkungen untersucht. Zu diesem Zweck wird ein horizontaler Tunnel in den Felsen getrieben. In diesen Stollen werden die zu testenden Geräte – z.B. Satelliten, Raketenstufen – zusammen mit dem nuklearen Sprengsatz, verschiedenen Detektoren und Meßgeräten in einer bestimmten Anordnung plaziert. Nach Registrierung der Meßwerte (z.B. der Neutronenstrahlung) sorgen in Millisekunden schließende Tore dafür, daß die Meßgeräte vor der zerstörerischen Wirkung der Druckwelle geschützt werden.

Die am meisten kontroversen Diskussionen haben sich bei der Frage ergeben, ob die Zuverlässigkeit von stationierten Nuklearwaffen von Zeit zu Zeit durch Atomtests überprüft werden müssen. Renommierte Experten wie Glenn T. Seaborg weisen jedoch schon seit einigen Jahren darauf hin, das in der Entwicklungsphase ausreichend getestete Sprengköpfe die beste Gewähr für die Zuverlässigkeit bieten und weitere Tests nach der Stationierung überflüssig seien.

Um die Atomwaffen vor Unfällen zu schützen, müssen Sicherungssysteme entwickelt werden, die einen Testbedarf erfordern. Ein solches Sicherungssystem sind zum Beispiel spezielle Explosionsstoffe, die die Kettenreaktion in Gang setzen sollen, aber gegen Unfälle und Stöße unempfindlicher sind als alte Mixturen chemischer Explosionsstoffe: Intensitive High Explosive (IHE)

Bei Tests sind folgende Namen zu unterscheiden: der Name der Testserie, z.B. »Crossroads« im Sommer 1946 in Bikini, eine Serie von 2 Explosionen und der Name des Tests und der Bombe/des Sprengkopfs, wobei Test und Waffe nicht genau unterschieden werden; bei »Crossroads« sind dies »Able« und als zweiter Test »Baker«. Prinzipiell sind offizielle Codenamen und interne Spitznamen zu unterscheiden. Hier werden generell Codenamen untersucht; die wenigen Spitznamen werden extra gekennzeichnet.

IV. Die Waffenlaboratorien

Die fünf Atommächte der Welt betreiben und erweitern für die Planung und Durchführung ihrer Atomtests eine weitverzweigte und kostspielige nukleare Infrastruktur, zu denen u.a. Großforschungseinrichtungen und ausgedehnte Testgelände gehören.

Die Vereinigten Staaten

In den USA sind drei Forschungslaboratorien mit der Entwicklung von Atomsprengköpfen befaßt. Das Los Alamos National Laboratory (LANL) ist das Älteste. Es wurde im Jahre 1943 gegründet und hatte den Auftrag, die erste Atombombe zu entwickeln und zu bauen. Einige 10.000 hochqualifizierte Wissenschaftler arbeiteten für dieses Ziel rund um die Uhr. Die ersten »erfolgreich getesteten« Atomsprengsätze – »Trinity« und die Hiroshima-/Nagasakibomben – wurden ebenso in Los Alamos entwickelt, wie sämtliche Sprengköpfe, die bis 1958 in das amerikanische Arsenal aufgenommen wurden. 1952 wurde unter der Leitung dieses Laboratoriums der erste H-Bomben-Test im Pazifik durchgeführt. Von den 71 Sprengkopftypen, die bis 1984 entwickelt wurden, stammen 53 aus Los Alamos. Vor allem die Abteilung »Weapons Development Programs« ist hier mit den Atomtests befaßt; die Abteilung »Defense Research Programs« ist für SDI-Technologien zuständig.

Die Bedeutung von Los Alamos ist in den letzten 20 Jahren vom Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) erreicht, wenn nicht übertroffen worden. Mindestens die Hälfte aller zu Beginn der neunziger Jahre im US-Arsenal befindlichen Nuklearsprengkopftypen sind in diesem kalifornischen »lab« entwickelt worden. Die wichtigsten Labortests zur Entwicklung von Sprengkopfkomponenten, die zunehmend Aufgaben von unterirdischen Atomtests übernehmen, werden hier durchgeführt. LLNL wurde im Jahre 1952, nicht zuletzt auf Betreiben von Ernest O. Lawrence und Edward Teller, gegründet. Im Haushaltsjahr 1953 wurden 3,5 Mio. $ für LLNL veranschlagt. Mitte der achtziger Jahre überschritt das Budget die 700 Mio. $-Grenze. Über 8.000 Mitarbeiter sind heute in Lawrence Livermore beschäftigt. In der Abteilung »Defense Systems« werden die nuclear warheads von der ersten Planungs- und Designphase (Phase 1 und 2) über die eigentliche Testphase (Phase 3/3a/3b) bis hin zur Einpassung in die jeweilige Trägerumgebung (landgestützte Abschußrampe, Flugzeug, Schiff, U-Boot), sowie die Einführung in das Arsenal (Phasen 4 bis 7) entwickelt. Wie Los Alamos ist auch Lawrence Livermore mit SDI-Forschung und Lasertechnologie befaßt.

Die Sandia National Laboratories gingen 1945 aus den nahegelegenen Los Alamos-Forschungsstätten hervor. Aus einigen wenigen Gebäuden ist eine Großeinrichtung geworden mit fast 9.000 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über 1 Mrd. $. Sandia ist mit allen nicht-nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen (z.B. Elektronik, Kommando- und Kontrolleinrichtungen, konventionelle Zünder der Sprengköpfe) befaßt.

Die drei Laboratorien unterstehen dem amerikanischen Energieministerium (Department of Energy, DOE) und beschäftigen zusammen über 23.000 Mitarbeiter. An der unmittelbar atomtestrelevanten Waffenentwicklung arbeiten in Los Alamos und Lawrence Livermore über 8.000 hochqualifizierte Beschäftigte, häufig Physiker. Diese Spezialisten bilden eine einflußreiche Lobby gegen einen umfassenden Atomteststopp oder sonstige Testbeschränkungen. Die Methoden der Einflußnahme im Kongreß sind subtil. Immer wenn sich im Repräsentantenhaus oder im Senat eine Mehrheit für Testrestriktionen abzeichnet, werden die Lobbyisten – häufig indirekt von der Regierung »beauftragt« – aktiv. So 1987, als das »House« ein einjähriges Verbot für alle Tests über 1 kt beschloß. Eine u.a. aus Mitarbeitern der labs gebildete Gruppe (»Arms Control Working Group«) schickte unter dem Wohlwollen des Energieministeriums Argumentpakete mit »Pro-Test-Informationen« an die Senatoren und House-members. Die zahlreichen Briefings hatten Erfolg: das sogenannte Hatfield-Kennedy amendment über eine zweijährige Periode von erheblichen Testbeschränkungen passierte am 24.9.1987 den Senat nicht (F.A.S. Public Interest Report, Nov. 1987, No. 9). Der primäre Beschäftigungseffekt gilt neben den Naturwissenschaftlern in den Labors noch für die 11.000 Mitarbeiter auf dem amerikanischen Testgelände, der Nevada Test Site (NTS) und den dazugehörigen Verwaltungsbüros in Las Vegas. Auf dem test site selbst sind in erster Linie Bauarbeiter, Bergleute, Schlosser, Schweißer, Elektriker und Dreher beschäftigt. Auf dem verdorrten Wüstengelände, das dreißig Prozent größer als das Saarland ist, werden diese qualifizierten Facharbeiter gebraucht, da vertikale oder horizontale Bohrlöcher in den Felsen- bzw. Wüstenboden getrieben und dann Rohr- und Stromleitungen verlegt werden müssen. Das Energieministerium ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte Arbeitgeber in Las Vegas – nach der Unterhaltungsindustrie (FAZ, 14.7.1987).

Großbritannien

Bereits seit den fünfziger Jahren testet auch Großbritannien seine Nuklearsprengköpfe auf der Nevada Test site. Ein britisches Labor, das Atomic Weapons Research Establishment in Aldermaston, Südengland, ist für die Sprengkopfentwicklung zuständig. Es untersteht der Abteilung »Forschung und Entwicklung nuklearer Programme« des britischen Verteidigungsministeriums.

UdSSR

Wie die USA hat auch die Sowjetunion eine ausgedehnte und komplexe nukleare Infrastruktur, zu deren wichtigsten Bestandteilen die Planung und Durchführung von Atomtests gehört. Allerdings gibt es hierzu im Westen auch im Zeichen Gorbatschows nur lückenhafte Kenntnisse. “Bei der Kernwaffenforschung gibt es in der Sowjetunion keine Glasnost”, klagte ein sowjetischer Wissenschaftler auf einer Tagung über »Neue Atomwaffenkonzepte«, Anfang 1990 in Darmstadt (FR, 23.1.1990). Die Sowjetunion hat ihre Sprengköpfe bis in die siebziger Jahre hinein auf über 20 verschiedenen Testgeländen erprobt. Heute werden noch die Gelände bei Semipalatinsk (Kasachstan) und auf der Nordmeerinsel Nowaya Semlja benutzt. Darüber hinaus führt die Sowjetunion sogenannte Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken im Ural, in Teilen der europäischen UdSSR, am Kaspischen Meer, am Baikalsee und in vier anderen Gebieten Sibiriens durch. Die Produktionsanlagen und die Sprengkopfentwicklung unterstanden lange Zeit dem Ministerium für mittelschweren Maschinenbau. Seit Dezember 1989 ist die oberste Behörde für die sowjetischen Atomtests das Ministerium für Atomenergie. Die beiden wichtigsten Laboratorien für die Sprengkopfentwicklung liegen im Ural: eine Forschungseinrichtung in Kyschtym und das Radiologische Institut in Sungul.

Frankreich

Auch Frankreich hat als nukleare Mittelmacht eine beachtliche nukleare Infrastruktur. Oberste Behörde für die Sprengkopfentwicklung ist die CEA (Commisariat a l'Énergie Atomique). Der CEA-Abteilung für militärische Anwendung unterstehen u.a. alle relevanten Labors, z.B. Limeil-Valenton in Val-de-Marne. Auch die Atomforschungszentren in Saclay und Grenoble könnten dazugehören.

China

Die wenigsten Informationen gibt es über die infrastrukturellen Voraussetzungen der chinesischen Atomtests. Die Nuklearversuche selbst werden in Lop Nor durchgeführt. Ungefähr vierzig Anlagen gelten als Produktionsstätten zur Urangewinnung und-anreicherung.

V. Atomtests und Sprache

Die Herrschaft eines bestimmten, nur strategischen Rationalitätsbegriffs läßt sich unter anderem am Gebrauch der Sprache im militärischen Bereich zeigen.

Die Namen der Testreihen, Tests und Bomben verraten schon viel.

Amerikanische und britische Waffennamen bieten sich aufgrund des leichter zugänglichen Materials an. Namen ohne Angabe sind hier amerikanisch, britische werden extra gekennzeichnet. (Vielleicht ist im Rahmen von Glasnost demnächst auch ein ähnlicher Artikel über russische Namen möglich.)

Warum erhalten Tests und Waffen Namen?

Zunächst wundert man sich, daß totes Material überhaupt benannt wird. Warum wurde die MX-Rakete von US-Präsident Reagan mit dem Namen »Erhalter des Friedens« bedacht? Warum gab man dem Test »Baker« am 25.7.1946 auf den Marshall-Inseln nicht einfach die Ziffer 2/46 – der zweite Test des Jahres 46?

Namen sind natürlich auch funktional, sie dienen als Gedächtnisstütze, vereinfachen den sprachlichen Umgang mit Waffen und Tests und erleichtern das Unterscheiden der Tests und Testserien.

Sieht man sich die Namen aber genauer an, so merkt man, daß sie noch weit wichtigere Bedeutung haben.

Das Flugzeug »Enola Gay« und die Uranbombe mit dem Spitznamen »Little Boy« verwüsteten Hiroshima. Der Nagasaki-Bombe hatte man den Spitznamen »Fat Man« gegeben. Mit »Fat Man« (20Kt=20.000 TNT Sprengkraft) wurden 64.000 Menschen ermordet. Viele weitere Opfer litten und leiden an Spätfolgen.

»Ermorden« – »Opfer« – das sind nur unsere Wörter. In der militärisch-strategischen Sprache kommen sie so nicht vor. Angriffe gegen Bevölkerungszentren heißen in der Planung nicht »Massenmord« sondern »Gegenwertangriffe« (»counter-value-attacks«) im Unterschied zu »counterforce-Schlägen«, die »nur« gegen feindliche Anlagen gerichtet sind. Die Bombenangriffe auf die beiden japanischen Städte werden in der amerikanischen Statistik als Test 2 und 3 geführt. Besonders der Hiroshima-Test war sehr gelungen – d.h. er lief nach militärischer Planung – nur waren eben 136.000 Menschen unfreiwillige Bestandteile dieses Tests. »Begleitschaden« ist ein oft verwendeter Terminus für den Tod von Menschen! (s. Carol Cohn, Artikel »Death and Sex«, 2 Teile, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 5 u. 6 1988, hier Teil I, S. 20)

Wir möchten betonen, daß wir den militärischen Quellen dabei keine besondere Grausamkeit an Menschen entnehmen. »Menschen« erscheinen sprachlich ja kaum, und wenn, dann nicht als Opfer. Was Nicht-Militärs zynisch vorkommt, hört sich in der militärstrategischen Sprache ganz sachlich an. Das evidenteste Beispiel für diese Beobachtung ist der Terminus »anti-personnel-bombs«. Dies sind Waffen speziell gegen Menschen (die Neutronenbombe), wobei alles nicht Lebendige intakt bleiben soll. »Personal« generalisiert, läßt den Einzelnen verschwinden und erhöht gleichzeitig die Bedeutung der Waffen, denen das »Personal« zugeordnet wird.

Namhafte Bomben und namenlose Menschen

»Fat Man« tötete 64.000 Einwohner Nagasakis. »Bravo« (1.3.54) verseuchte die Bikini-Inseln und untergrub langfristig die Gesundheit von 236 Inselbewohnern, Soldaten und 23 japanischen Fischern, von denen einer nach 6 Monaten starb. Der wohlklingende Liebesname »Romeo« ist nichts anderes als der Name der Nachfolgerbombe von »Bravo«, am 27. März 54 gezündet. Ein Ergebnis: mißgebildete und lebensunfähige Kinder. »Smoky« (31.8.57) sorgte für vermehrte Leukämie bei den live beobachtenden Soldaten etc. etc.

Bomben und Tests tragen Namen, die Menschen nicht. Der Name unterscheidet die Waffen sogar als einmalige Wesen: »Fat Man« ist eben von »Small Boy« (1 Kt, 1.10.61 in Nevada) oder »Mike« (1.11.52 in Enewetok, 10,4 Mt) verschieden, auch wenn es sich in Wirklichkeit um lebloses Waffenmaterial zur Vernichtung lebender Menschen und ihrer Werke handelt. Durch die Namen werden die Waffen denkbar wie lebende Wesen und erhalten sogar einen bestimmten Gefühlswert. Wer denkt bei »Kätzchen« (kleinerer bitischer Test 1953 in Südaustralien) oder »Easy« (47 Kt, 21.4.51 in Nevada) nicht an etwas Nettes, Gutes?

»Buffalo« (britische Testserie Sept-Okt. 1956 in Maralinga) oder »Buster Jungle« (Serie von 8 Tests 51 in Nevada) bringen ein wenig Abenteuer, während »Buggy« (März 68 in Nevada) und »Grapple« (britische Testserie Mai 57-Sept. 58, Weihnachtsinsel) eher lustig klingen. »Buggy« bedeutet etwa altes, klappriges Auto, »grapple« ist ein Handgemenge, eine Kabbelei.

Durch die Namensgebung werden viele Waffen sprachlich »lebendig«. Das Verhältnis zwischen fühlenden Menschen ohne Namen und leblosen, aber niedlich oder herzhaft benannten Waffen und Tests wird also verkehrt. Gewinner sind die Letzteren. Sie »beherrschen« die militärische Szene.

Schönheit und Humor gegen den Tod

Sicherlich haben zu allen Zeiten Soldaten versucht, den Schrecken ihrer Aufgabe erträglich zu machen, indem sie ihm beschönigende Namen gaben. Der schon erwähnte Bomber über Hiroshima trug z.B. den Frauennamen »Enola Gay«. Im Mittelalter hieß eine ziemlich tödliche Eisenkugel mit Eisenzacken ringsherum, an einer langen Kette und einem Prügel befestigt, »Morgenstern« – wer den sieht, sieht den Abendstern nicht mehr, so hieß es.

Entscheidend ist, daß Namen es den beteiligten Wissenschaftlern und Militärs erleichtern, an Vernichtungspotential und -strategien weiterzuarbeiten, mit ihm zu leben und gegebenenfalls eigene Opfer zu bringen, ohne an die menschlichen Folgen ihres Tuns zu denken. Und auch den (interessierten) potentiellen Opfern bleibt der Schrecken in so süßen Sprachformen annehmbar. Letzteres resultiert freilich mehr aus der »Entmenschlichung« der Opfer als aus der »Vermenschlichung« der Waffen. Zur Anteilnahme brauchen wir eben Namen. Hört man abends im Fernsehen, daß etwa beim Test »Midas Myth« (Nevada 1984) 12 Arbeiter schwer verletzt wurden (einer davon starb) oder daß in Nevada allein in den Jahren von 1951 bis 1958 etwa 200.000 Soldaten und die umwohnende Zivilbevölkerung gesundheitlich belastet wurden, so ordnet man das zwar sofort als »Unglück« ein, die Zahl bleibt aber abstrakt, und besonders bei den »Medienunglück-Versierten« will sich nicht so recht Mitleiden entwickeln.

Erfährt man jedoch, daß es John Wayne war, der infolge ausgiebiger Dreharbeiten in atomverseuchtem Nevadasand an Leukämie gestorben sein soll, oder daß es der Lehrer Billiet Edmond und seine Kinder waren, die gerade ihr Frühstück vorbereiteten, als die Katastrophe des Tests »Bravo« über sie hereinbrach, so kann man sich identifizieren, leidet mit – und empört sich.

Die Planung eines Atomkriegs erfordert Abstraktion

Eben dieses Mitleiden, die Empörung, das Bewußtwerden schrecklichen Tuns darf in der militärisch-strategischen Sprache keinen Platz finden. Rationelles Denken zur Planung eines Atomkriegs oder einer »Kriegsführungsabschreckung« erfordert Abstraktion.

Die Sprache der amerikanischen Verteidigungsstrategen z.B. hat, wie Carol Cohn anschaulich berichtete, viele nur der eingeweihten Elite verständliche Abkürzungen, wie z.B. MAD (Mutual Assured Destruction – gegenseitig gesicherte Zerstörung). »MAD« spricht sich gut, und bei niemand werden Assoziationen der folgenden Art geweckt: Ich sah “auf der Straße eine Gestalt auf mich zustolpern. Sie war nackt, schmutzig und voller Blut. Ihr Körper war stark geschwollen. Fetzen hingen an ihr herunter. (…) Eine dunkle Flüssigkeit tropfte von den Fetzen herab. Die Fetzen waren Haut, die schwarzen Tropfen waren Blut. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, ein Soldat oder eine Zivilperson.” (Shuntaro Hida, Der Tag an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, dt. Ausg. Bremen 1989, S. 76)

Die Testnamen sehen auf spezielle Weise von den Menschenopfern ab. Kürzel finden sich hier – so weit zu überblicken ist – nicht; vielleicht deshalb, weil diese Namen auch vielen »Nichtstrategen« dienen müssen.

Bomben und Raketchen im Haushalt

Dr H-Bombentest »Mike« (1952) wurde intern scherzhaft »Kühlschrank« genannt, wegen der bis zur Explosion erforderlichen niedrigen Temperaturen. 1955 wurde in Nevada die Testserie »Teapot« durchgeführt, mit wahrscheinlich wenig gemütlichen 14 Sprengungen. Am 31.10.52 wurde auf dem Pazifikatoll Enewetok der Test »Greenhouse« durchgeführt. »Greenhouse« bedeutet eigentlich Glashaus für Pflanzen. Schon im 2. Weltkrieg wurde der Name von der englischen Luftwaffe für das Glas des Cockpits am Flugzeug verwendet, welches hier nicht Pflanzen, sondern Piloten schützt – schon damals ein humorvoller, etwas liebevoller Name. Seriöser klingt »Nadelstreifen« (25.4.66 in Nevada), der 350.000 Curie Radioaktivität freisetzte. Noch im Ostkaukasus und in Nebraska wurde radioaktives Jod in Milch und menschlichen Schilddrüsen gefunden.

Humorvolle Vernichtung

Der Name des schon erwähnten »Kätzchen«-Tests setzt diese niedlichen Tierchen und ihre kleinen Krallen in Kontrast zur ungeheuren Zerstörungskraft der Atomwaffe – das ist wahrhaft schwarzer englischer Humor! Die Diskrepanz bringt Lachen oder zumindest Schmunzeln hervor – ein probates Mittel gegen Angst und Schrecken! (Ähnlich wirkt z.B. ein interner Name für das Attentatskommando des CIA: »Kommittee zur Veränderung der Gesundheit«!) Lachen, aber auch warme Mutter- bzw. Vatergefühle beschert »Baby«. So hießen gleich mehrere Bomben, darunter die H-Bombe »Mike«, die »Teller's Baby« war. Der winzige Säugling hatte 10,4 Megatonnen und zischte einen Pilz von etwa 40 km in die Luft!

Schlicht und einfach »shots« heißen die Testexplosionen, ein vieltausendmal verwendeter Ausdruck.

Euphemistische Phantasie blüht hier neben Galgenhumor.

Naturhafte Waffen

»Adler« (12.12.63 in Nevada), »Mächtige Eiche« (10.4.86 in Nevada), »Hurricane« (brit., 3.10.52, Monte-Bello-Inseln), »Giftbeere« (18.12.70, Nevada, 10 Kt) – all dies sind Codenamen für Testexplosionen, wobei »Mächtige Eiche« der Wolkenform nach und »Giftbeere« der Wirkung nach wenigstens minimal angemessene Namen sind. (»Giftbeere« entließ eine Wolke von 3 Millionen Curie; bei dem unterirdischen Test war ein Loch im Wüstenboden entstanden.)

Des weiteren begegnet man einem ganzen Zoo: »Zebra« (15.5.48), »Hund« (8.4.51), »Ratten«, »Füchsinnen« – »vixens« (kleinere brit. Tests in Südaustr.), wobei »vixens« auch von Männern gefürchtete Frauen, Xanthippen, bedeuten kann. (Sonst tragen Waffen anscheinend selten Frauennamen – Waffen und ihre »Herren« sind wohl ausschließlich männlich, was Carol Cohns Übrlegungen zu einem unterschwelligen sexuellen Potenzwettbewerb der Strategen unterstützen könnte.)

Bäuerlich-friedliche Tests

Das »Pflugschar«-Programm mit 49 Explosionen (insg. von 1958 bis 1970), die unter anderem der »Kraterforschung« dienen sollten, galt angeblich der zivilen Nutzung atomarer Sprengkraft – etwa für Flußberichtigungen, Häfen, Kanäle – ein neuer Panamakanal war 1961 geplant. Edward Teller wollte mit Kraterexplosionen in Alaska seine Utopie einer nach Wunsch formbaren Geographie erproben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als ein Teststopp nicht mehr unwahrscheinlich erschien. Die »friedlichen« Tests sollten jedoch nach Vorstellung der amerikanischen Wissenschaftler davon ausgenommen werden. Sind friedliche Tests unschädlich und werden sie in jedem Fall nur zivil genutzt? Das ist wohl kaum anzunehmen! Der beschönigende Name und die dahinterstehende gedankliche Konzeption wirkten hier durchaus gefährlich irreführend. Teller schlug den Verantwortlichen in Alaska eine zuvor von seinen Wissenschaftlern bestimmte Stelle an der Nord-West-Küste Alaskas vor, Cape Thompson, wo er mit Hilfe von 6 Atomsprengsätzen einen künstlichen Hafen formen wollte. Die anwesenden Alaskaner zeigten sich zunächst angetan von der »Idee« (die sich später als versuchtes Diktat herausstellen sollte), nur der Ort paßte ihnen nicht. Das Projekt wurde später still und unauffällig eingestellt, als sich der Widerstand der in der Nähe wohnenden Eskimos und Anderer als zu stark erwies. Tellers Idee der »Geographie-Architektur« setzte sich insgesamt nicht durch, anders als ähnliche Pläne in der UdSSR, wo in der Tat z.B. die Umleitung des Kalonga-Flusses mithilfe der Atomkraft geschah. (s. Bulletin of the Atomic Scientists, Dez. 89, S.28 ff.)

Einige wenige Namen verraten etwas über die »Waffennatur«

Nur wenige Namen sind halbwegs angemessen für Atomwaffen und deren Tests: »hurricane« z.B. – man denke an den Sturm, etwa nach der »Bravo«-Explosion auf Bikini; »red hot« (5.3.66 in Nevada) paßt zu der überwältigenden Hitze und der glühenden Gaskugel, aus der der »Pilz« austritt. Einer der größten angekündigten unterirdischen Tests hieß »Boxcar« (April 68 in Nevada, 1,2 Mt=1,2 Mill. Tonnen TNT). Eigentlich bedeutet »boxcar« in Amerika »geschlossener Güterwagen«; denselben Namen trug ein Bomber im 2. Weltkrieg. Passender aber scheint eine dritte Version: von den hohen Zahlen auf den Güterwagen leitete man die Bedeutung »Glücksspiel mit viel Geldeinsatz und hohem Risiko« ab. Und genau das stellen die Atomtests mit ihren vielen Unfällen dar!

Die Unfälle selbst – wen wundert's – tragen wieder sehr romantische beschönigende Namen: »zerbrochener Pfeil« läßt an Indianerromane denken, »verbogener Speer« und »stumpfes Schwert« an mittelalterliche Artusabenteuer. Uneingeweihte kämen nicht darauf, daß es sich hier um Unfälle wie z.B. den Brand oder sogar die Explosion einer Atomwaffe handelt. Diese altertümlichen Namen passen übrigens erstaunlich gut – nur sprachlich ? – zur Form des alten und heutigen Freund-Feind-Denkens.

Der Sinn von Sprachanalysen

Gewöhnlich achtet man bei militärischen Studien gleich welcher Art keinesfalls auf die Bedeutung von Namen. Bezeichnungen der Waffen, besonders auffällige, dienen der besseren Erinnerung und ermöglichen einen von schädlichen Emotionen ungetrübten Diskurs. So verbleiben auch die Friedensforscher im sprachlichen System der Kriegsplaner.

Zu Anfang dieses Kapitels war von einem eingeschränkten, nur militärisch-strategischen Rationalitätsbegriff die Rede, von einer Logik also, die nur innerhalb eines bestimmten Systems gilt: die Logik des Sieg-Denkens in heutiger Variante, die Rationalität der Abschreckung.

Sprachanalyse bietet nun eine Chance, aus diesem Denksystem auszusteigen, es von außen zu betrachten.

Carol Cohn schließt ihren Artikel über Atomsprache mit den Forderungen nach Sprachanalyse zur Demontage des technostrategischen Diskurses und nach alternativen Vorstellungen von Rationalität. Ihrer ersten Forderung versuchten wir für den Bereich »Atomtests und Sprache« nachzukommen. Eine alternative Rationalität zu entwickeln ist natürlich ungleich schwieriger als die »Sprachdemontage« ex negativo. Sie soll aber dennoch angedeutet werden.

Skizze einer alternativen Rationalität

Die Kritik der Sprachverwendung allein hat wohl wenig direkte Folgen. Ob »Kätzchen« oder »Test einer Vernichtungswaffe«, ob »Neutronenbombe«, »Anti-Personal-Bombe«, »Saubere Bombe« oder »Massenvernichtungsmittel« – Bedrohung und Wirkung bleiben ebenso wie der Preis, der schon im Frieden gezahlt wird.

Betrachten wir aber noch einmal die »Personal-Bombe«. »Personal« ist gesichtslos gleichmachend. Dichter zeigen die Gleichmacherei im Krieg noch besser als Strategen: “Soldaten sind sich alle gleich, ob lebendig oder als Leich'!” (Refrain des bekannten Liedes von Wolf Biermann). Indem das Wort »Personal-Bombe« isoliert betrachtet wird, zeigt sich der Schrecken mit seinem wahren Namen: Tod – Vernichtung – Krankheit. Mit Carol Cohns Worten wechselt man so die Perspektive vom Täter zum Opfer. (Auch Täter sind im Atomzeitalter Opfer, nur verrät die Sprache ihnen das nicht; für beides s. Carol Cohn, Teil II, S. 18).

Erst jetzt kann man in eine andere Rationalität »einsteigen«: Massenvernichtungswaffen verhindern per se, schon in ihrer Planung, was sie zu schützen vorgeben: die besonders in den USA so gefeierte freiheitliche Individualität des Menschen. Nach der neuen Logik eine Absurdität.

Tests haben aber durchaus eigene »absurde Qualitäten«:

Am 19. Mai 1953 wurde in Nevada »Harry« oberirdisch gezündet (32 Kt. »Harry« schickte eine riesige radioaktive Wolke über Farmen und Kleinstädte in Nevada, Utah und Arizona. Nach John May (s. 118 f.) informierte die Atomic Energy Commission die Anwohner bewußt nicht. “Als die Tests in Nevada 1951 begannen, beschwichtigte die Kommission die amerikanische Öffentlichkeit mit der Behauptung, es bestehe kein Grund zur Besorgnis, da die im Abwind liegenden Gebiete praktisch nicht bewohnt seien.” Kommentar eines Journalisten der »San Francisco Chronicle«: “Dies schafft eine interessante neue Klasse von Bürgern: »praktische Nichtbewohner«. Ihre Stimmen fallen bei Wahlen nicht ins Gewicht.” (s. May. S.118)

Auch für die Urangesellschaft Canada, 100%ige Tochter der (bundesdeutschen) Urangesellschaft Frankfurt, gibt es diese Spezies: die Inuit-Eskimos, die in Nord-West-Kanada auf dem geplanten Uran-Abbaugelände wohnen, sind in der Planung kaum vorhanden (s. FR, 5.1.90). Atomtests sind angeblich für eine glaubhafte Abschreckung des Feindes notwendig. Abschreckung garantiert das Bestehen des freien Westens, die bisherige Lebensform. Aus der Sicht der Opfer heißt das hier: Atomtests sind auch zur Sicherung des freien Farmerdaseins da. Atomtests sind aber gleichzeitig schon im Frieden gegen ihre Gesundheit (s. folgendes Kap.), und gerade das für die USA typische freie Siedlerleben in kleinen Verbänden brachte (und bringt) ihnen Verhängnis!

Man sieht, Namen haben nicht nur unterhaltende Funktion.

Exkurs: Atomtest,Gesundheit, Umwelt, Ethnien

Der Kurs einiger Atommächte und Militärbündnisse, ihre Sicherheit mit auf dem modernsten Stand gehaltenen nuklearen Massenvernichtungsmitteln zu gewährleisten, hat zu Belastungen für die Umwelt und die Gesundheit zahlreicher Menschen geführt, die weit über das Maß hinzunehmender »Nebenwirkungen« hinausgehen. Allein die hunderte von oberirdischen Tests, die die drei ersten Atommächte (USA, UdSSR, Großbritannien) bis zur Paraphierung des PTBT 1963 durchführten, haben die weltweite Radioaktivität über lange Zeit steigen lassen. Die Messungen der Betastrahlen durch die Münchner Universität ergaben 1963 einen Spitzenwert von etwa 52.000 Becquerel (Bq) pro Quadratmeter.

Wie gefährlich ist radioaktive Strahlung?

Die genaue Schädlichkeit von Radioaktivität war und ist umstritten. Nur über die akute Strahlenkrankheit, wie sie z.B. bei den Einwohnern von Hiroshima und Nagasaki eintrat, aber auch bei den Aborigines Australiens infolge der britischen Atomtests und bei nicht wenigen anderen Testteilnehmern, herrscht relative Einigkeit: Vom Körper absorbierte Strahlendosen ab etwa 3-5 Sievert (SV) aufwärts führen innerhalb von Tagen bis Monaten zum Tod. Die genaue Gefahr niedriger Strahlendosen, z.B. durch geringeren radioaktiven Fallout verursacht, ist aber unklar. Das liegt oft an der Länge des zu prüfenden Untersuchungszeitraums, an der Schwierigkeit, einzelne Untersuchungsergebnisse zu vergleichen und vielleicht auch, vorsichtig formuliert, an dem fehlenden Interesse finanzstarker Wissenschaft.

Besonders problematisch sind Aussagen über die Niedrigstradioaktivität, wie sie z.B. auch die BRD infolge der Atomtests und Reaktorunfälle betrifft. Generell weisen heute viele Wissenschaftler darauf hun, daß gerade die Gefahren der Niedrigstrahlung bisher weit unterschätzt wurden. Der amerikanische Radiobiologe Ernest Sternglass erläutert das anhand des Vergleichs mit Röntgenstrahlung: “Wenn eine Brustdurchleuchtung vorgenommen worden ist und die Röntgenmaschine abgeschaltet ist, dann befindet sich keine Radioaktivität mehr in dem bestrahlten Körper. Aber wenn Sie ein Glas Milch trinken, das Strontium 90 enthält, werden seine Atome Sie für den Rest ihres Lebens begleiten, indem sie in ihren Knochen und innerhalb wichtiger Organe Radioaktivität in einer Intensität abgeben, wie es kein Röntgenapparat je könnte.” (FR, 7.7.86, S. 14) So kann erklärt werden, warum die Bomben von Hiroshima und Nagasaki nicht nur in Japan ein Ansteigen der Krebsrate bewirkten, sondern auch in den USA! Die Wolken der Bomben zogen über Hawaii dorthin. (ebd.)

Der Experte für Radiologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in München, Herwig Paretzke, warnte, daß statt der bisher angenommenen 125 zusätzlichen Krebsfälle pro Million Bundesbürger 300-500 Krebsfälle mehr anzunehmen seien, wenn die Strahlendosis über die gesamte Lebenszeit eines Menschen um 1 Rem (=1000 Millirem) ansteige. (s. FR, 8.1.88, S. 4; s.a. SZ, 8.1.88, S. 1)

Eine direkte Umrechnung von Bq in Gray und Sv ist nur bei exakter Kenntnis der einzelnen Strahlungsarten, die den jeweiligen Menschen oder Stoff getroffen haben, möglich. Die genaue Gefahr durch Radioaktivität isat schon dadurch schwerer vorstellbar. Die Richtwerte können aber helfen, Einzelangaben anschaulich zu machen.

Die atomare Verseuchung durch oberirdische Tests

Vor allem in den fünfziger Jahren wurden zahlreiche Erkrankungen und nicht wenige Todesfälle durch lokale radioaktive Niederschläge von atmosphärischen Kernwaffentests verursacht. Eines der traurigsten und bekanntesten Beispiele hierfür ist der Atomtest »Bravo«, der am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll (Marshall-Inseln) gezündet wurde. Diese Wasserstoffbombe erreichte mit ihren 15 Mt mehr als das Tausendfache der Sprengkraft,die Hiroshima zerstörte. Da die Pilzwolke von »Bravo« höher stieg als man erwartet hatte, wurde sie durch hochgelegene Luftströmungen nicht nach Westen, sondern nach Osten getrieben. Der »weiße Schnee« radioaktiven Fallouts ging auf die bewohnten Nachbarinseln von Bikini, Rongelap und Utirik nieder (160 und 500 km entfernt). Ein Gebiet von 530 km Länge und 100 km Breite wurde verstrahlt. Die nicht gewarnten Bewohner und das dortige amerikanische Militärpersonal wurden erst 56 Stunden nach der Detonation evakuiert. Zu dieser Zeit zeigten sich schon erste Strahlensymptome bei den Menschen: Übelkeit, Verbrennungen der Haut, Durchfall, Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Verfärbungen der Haut und allgemeine Erschöpfung. In der Folge verloren die Menschen ihre Fingernägel, die Haare fielen ihnen aus etc. Die genaue Strahlendosis, die sie erhalten haben ist unbekannt; sie könnte bei den Bewohnern Utiriks 11 Rem betragen, bei denen Rongelaps 190 Rem pro Person. (s. John May, Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989, S. 138)

Bereits nach einem halben bzw. drei Jahren ließ man die Einwohner in ihre Heimat zurückgehen, obwohl die Atolle trotz einer notdürftigen Säuberungsaktion verseucht blieben, wie das US-Energieministerium aber erst nach 20 Jahren aufgrund erneuter radiologischer Untersuchungen auf den Inseln zugab. (May S. 137 f. und Streich S. 67 ff.)

Die Einwohner der genannten Inseln erlitten infolge der Atomversuche der USA nicht nur zahlreiche Krankheiten, es gab auch eine hohe Kindersterblichkeit, groteske Mißbildungen bei Neugeborenen, und nicht zuletzt die soziale Entwurzelung durch das unfreiwillige atomare Exil.

Schon seit 1951 führten die USA ihre Kernwafffenversuche größtenteils in der Wüste Nevadas durch. “Die (auf dem Nevada Test Site) von 1951 bis 1962 gezündeten oberirdischen Bomben mit einer Größenordnung von insgesamt 500 Kilotonnen haben dazu geführt, daß allein im benachbarten Bundesstaat Utah schätzungsweise 28 Kilogramm unterschiedliche radioaktive Stoffe als Niederschlag heruntergekommen sind. (…) Bei mindestens 87 der 121 Nuklearwaffen zwischen 1951 und 1958 gelangte Radioaktivität außerhalb des Testgeländes.” (Bernd W. Kubbig, Die unsichtbare Radioaktivität hat lange Schatten geworfen, FR vom 17.1.90)

Infolge der Verschleierungspolitik der zuständigen Atomic Energy Commission sind nur unzureichende Untersuchungen über die regionale Strahlenbelastung durchgeführt worden. So wurde vor allem die Verstrahlung der Luft gemessen, die gemeinhin geringere Werte aufweist als die des Bodens. Auch sollen wiederholt Meßwerte der Öffentlichkeit vorenthalten worden sein. 1980 wurde eine umfassende und unabhängige Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen des radioaktiven Fallouts auf die Bevölkerung rund um das Nevada Test Site durchgeführt. Man konzentrierte sich auf die Mormonen West-Utahs, ein Gebiet, das 1951 bis 1962 besonders betroffen war. Die Sekte der Mormonen war generell wegen ihrer enthaltsamen Lebensweise durch eine besonders niedrige Krebsrate ausgezeichnet. Der Vergleich einer Population, die einer erhöhten Strahlendosis ausgesetzt war mit einer wenig betroffenen ergab, daß 61% aller Krebsfälle in der ersten Gruppe vorkamen. (Carl F. Johnson, Chernobyl and Nuclear Weapons Tests: Estimating the Potential of Fallout to Induce Effects on Health; Manuskript o.O., 1988, S.7)

Besonders in den Städten Cedar City und St. George kam es neben hohen Krebsraten zu Mißbildungen bei Neugeborenen. Mit Entschädigungsforderungen an die US-Regierung hatten die Bewohner jedoch ebensowenig Erfolg, wie die US-Veteranen der US-Army, die bei atmosphärischen Tests zusehen mussten. Sie waren nur mit Stahlhelm, Plane und gelegentlich einem Filmdosimeter ausgerüstet, der sich schwärzt, wenn ihn Röntgenstrahlen treffen. (s. taz, 13.8.87, S. 7 und Zeitmagazin, Die ZEIT, 4.8.89, S. 10 ff.)

VI. Atomteststopp und Verifikation

Seit über einen Atomteststopp verhandelt und diskutiert wird, stehen Verifikationsfragen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Genau zu der Zeit, als sich die Atommächte anschickten, über ein umfassendes Versuchsverbot zu verhandeln, wurden mit der amerikanischen Fähigkeit, unterirdische Tests durchzuführen, zusätzliche Kontrollprobleme aufgeworfen. Ende der fünfziger Jahre war es noch nicht möglich, unterirdische Kernexplosionen von Erdbeben zu unterscheiden. Schließlich wurden beim Abschluß des »Partiellen Teststopp-Vertrages« von 1963 die unterirdischen Tests ausgeklammert. Die amerikanische Forderung nach Vor-Ort-Inspektionen (On-Site-Inspection, OSI) als ergänzende Verifikationsmaßnahme war damals sinnvoll, wurde allerdings von den mißtrauischen Sowjets beständig als »Versuch der Spionage« zurückgewiesen. Mit zunehmender Verbesserung seismischer Meßmethoden wurde das amerikanische Insistieren auf »OSI's« jedoch immer sinnloser. 1971 kam ein Bericht der Pentagon-Institution »Advanced Research Projects Agency« (ARPA) an den Kongreß nach jahrelangen Untersuchungen zu dem Schluß, daß Vor-Ort-Inspektionen für die Verifikation eines Teststopp-Abkommens nicht erforderlich seien (Siehe Jack Evernden, Lies that stopped a test ban, Bulletin of the Atomic Scientists, Oct. 1988). Es scheint, als ob die USA in der Nach-Kennedy-Ära die Forderungen nach einem so weitgehenden Kontrollregime für die Fortsetzung der Tests instrumentalisieren wollten.

Bereits 1969 waren sich die Seismologen einer Fachkonferenz in Woods Hole, Massachusetts, einig, daß ein Teststopp-Abkommen mit einer extrem niedrigen Schwelle (Very Low Threshold Test Ban Treaty, VLTTBT) von 1-10 Kt (Nevada) bzw. ca. 1 Kt (Semipalatinsk) mit seismischen Meßmethoden verifizierbar sei (Evernden, a.a.O., S. 22). Selbst wenn die Atommächte erst damals – sechs Jahre nach dem Abschluß des Partiellen Teststoppabkommens – einen derartigen Vertrag ausgehandelt hätten, so wären der Menschheit zahlreiche Neuentwicklungen von Nuklearwaffen erspart geblieben. Denn die Schwelle eines VLTTBT liegt deutlich unter der Sprengkraft der meisten heutigen Arsenalwaffen.

Fortschritte der Seismologie und Blockaden unter Reagan

In den letzten zwanzig Jahren hat die Seismologie viele Verbesserungen bei ihren Kontroll- und Meßmethoden erreicht. Mittlerweile ist sich die scientific community weltweit in der überwiegenden Mehrzahl einig, daß ein umfassender Atomteststopp lückenlos und vollständig verifizierbar ist. Nur einige entscheidende Repräsentanten der Arms Control-Diplomatie sprechen noch von der Nicht-Kontrollierbarkeit eines CTB. Mit dieser Behauptung betreiben sie eine »Verifikationspolitik«, die scheinbar beliebig die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren kann. Besonders die Vereinigten Staaten haben sich in den letzten Jahren in dieser Politik hervorgetan. Nachdem Washington durch das sowjetische Testmoratorium von August 1985 bis Februar 1987 in die Defensive gedrängt worden war, gelang es der Reagan-Administration die Aufmerksamkeit auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge aus den Jahren 1974 bzw. 1976 zu lenken. In diesem Zusammenhang beschuldigte Reagan die Sowjetunion, die 150 Kt-Schwelle bei einigen ihrer Tests überschritten zu haben. Im Jahre 1987 konnte ein renommierter amerikanischer Geophysiker, Charles Archambeau, jedoch nachweisen, daß die regierungsamtlichen Schätzungen der sowjetischen Ladungsstärken unrealistisch hoch lagen. Im Testgelände von Semipalatinsk liegt ein viel härterer Untergrund aus kaltem Granitgestein vor, der bei Kerndetonationen unverhältnismäßig stärkere Wellen erzeugt, als vergleichbare Sprengsätze in den USA. Der geologische Untergrund der Nevada Test Site besteht aus einem porösen Gestein, das vulkanisch aktiv und relativ heiß ist; dadurch werden Erderschütterungen besser absorbiert. Mittlerweile hatte auch die US-Regierung die von Archambeau ermittelten Korrekturterme für die sowjetischen Tests übernommen; damit waren die Vorwürfe hinsichtlich einer sowjetischen Verletzung der Testschwelle endgültig gegenstandslos.

Der »Partielle Teststopp-Vertrag« (Partial Test Ban Treaty) 1963

Vertrag über ein Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Partial Test Ban Treaty, PTBT) 1963

Präambel: Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, hiernach als “Die ursprünglichen Vertragspartner” bezeichnet, die es als ihr Hauptziel verkünden, schnellstmöglich ein Abkommen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen zu erreichen, das dem Wettrüsten ein Ende machen und den Anreiz zur Produktion und zur Erprobung aller Arten von Waffen, einschließlich von Kernwaffen, beseitigen würde und die die Einstellung aller Versuchsexplosionen nuklearer Waffen für alle Zeiten zu erreichen suchen, entschlossen, die diesbezüglichen Verhandlungen fortzusetzen , und von dem Wunsche beseelt, der Vergiftung der Umwelt des Menschen durch radioaktive Substanzen ein Ende zu setzen, haben folgendes vereinbart:

Art.I: 1. Jeder der Partner dieses Vertrages verpflichtet sich, keine Kernexplosion an irgendeinem unter seiner Jurisdiktion oder Kontrolle stehenden Platz durchzuführen, sie zu verbieten und zu verhindern: a) In der Atmosphäre , auch jenseits ihrer Grenze – einschließlich des Weltraums – oder unter Wasser – einschließlich der territorialen Gewässer oder auf hoher See – oder

b) in irgendwelchen anderen Bereichen, falls eine solche Explosion bewirkt, daß radioaktive Rückstände außerhalb der territorialen Grenzen des Staates auftreten, unter dessen Jurisdiktion oder Kontrolle eine derartige Explosion ausgeführt wird. In diesem Zusammenhang versteht es sich, daß die Bestimmungen dieses Unterabschnittes den Abschluß eines Vertrages nicht präjudizieren, der zu einem ständigen Verbot aller nuklearer Versuchsexplosionen, einschließlich aller derartigen Explosionen unter der Erde führt, dessen Abschluß – wie die Partner in der Präambel dieses Vertrages erklären – sie zu erreichen versuchen. (…)

Art. II: 1. Jeder der Partner kann Zusätze zu diesem Vertrag vorschlagen. Der Wortlaut jedes vorgeschlagenen Zusatzes soll den Depositar-Regierungen unterbreitet werden, die ihn an alle Partner dieses Vertrages weitergeben werden. Danach sollen die Depositarregierungen, sofern dies von einem Drittel oder mehr der Partner gewünscht wird, eine Konferenz zur Erörterung eines solchen Zusatzes einberufen, zu der alle Partner eingeladen werden sollen.

2. Jeder Zusatz zu diesem Vertrag muß von einer Stimmenmehrheit aller Partner dieses Vertrages, einschließlich der Stimmen aller ursprünglichen Partner, gebilligt werden. Der Zusatz soll für alle Partner mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch eine Mehrheit aller Partner, einschließlich der Ratifikationsurkunden aller ursprünglichen Partner, in Kraft treten.

Art. III: 1. Dieser Vertrag soll allen Staaten zur Unterzeichnung offen stehen.(…)

Art IV: Dieser Vertrag soll von unbegrenzter Dauer sein. (…)

Art V: (…) Gegeben in dreifacher Ausfertigung in Moskau am 25. Tage des Juli Eintausendneunhundertdreiundsechzig.

Moskau, 31. Juli 1963

Quelle: Archiv der Gegenwart

Mittlerweile sind 116 Staaten dem Vertrag beigetreten. China und Frankreich haben ihn nicht paraphiert. Beide Mächte haben noch bis 1980 bzw. 1974 oberirdisch getestet. Die sogenannten Schwellenmächte Argentinien und Pakistan paraphierten das Abkommen zwar 1963, haben es aber nicht ratifiziert.

Da die sowjetische Diplomatie auch nach Beendigung des einseitigen Testmoratoriums auf einen Umfassenden Teststopp drängte, warf die Reagan-Administration neue Verifikationsprobleme auf. Zwar verständigte sich der US-Präsident 1988 mit Generalsekretär Gorbatschow auf das »Endziel« eines CTB, favorisierte aber für die Kontrolle der zu ratifizierenden Schwellenverträge eine hydrodynamische Meßmethode mit der Bezeichnung CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment). Die Sowjets standen zwar auf dem Standpunkt, daß seismische Meßmethoden zur Verifikation eines CTB ausreichen, willigten aber dennoch ein, die Genauigkeit von CORRTEX durch ein »Gemeinsames Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) zu testen. Im August und September 1988 wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz gezündet. Dabei wurde auch die seismische Meßmethode anhand des hydrodynamischen Verfahrens kalibriert (geeicht). Das JVE wurde als eine durchaus löbliche vertrauensbildende Maßnahme angesehen. Vom Standpunkt eines direkten und entschlossenen Zusteuerns auf einen CTB mußte es jedoch wie eine geschickte Verzögerungstaktik erscheinen. Denn CORRTEX ist allenfalls für die exakte Bestimmung von Ladungsstärken über 100 Kt geeignet. Zudem ist die Methode äußerst kostspielig. Die Auswertung des Verifikationsexperiments hat zu Beginn des Jahres 1990 1 1/2 Jahre gedauert. Die Paraphierung der Verifikationsprotokolle zu den beiden Schwellenverträgen aus den Jahren 1974 und 1976 steht zwar bevor, die amerikanische Delegation verließ jedoch den Verhandlungstisch. Die US-Administration sah (wieder einmal) Schwierigkeiten bei der Verifikation: “Es sei wichtig, eine Periode zu haben, in der beide Seiten die Umsetzung der ausgehandelten Protokolle beobachteten, um so Gelegenheit zur Überprüfung der neuen Überprüfungsmaßnahmen zu haben”, so hieß es (SZ, 26.1.1990). Damit stellt sich die jetzige amerikanische Regierung gegen eine frühere Ankündigung Präsident Reagans, direkt weiterverhandeln zu wollen.

Dieses Zaudern erscheint unverständlich, seit selbst das Office of Technology Assessment (OTA), eine Wissenschaftsinstitution des amerikanischen Kongresses, in einem Bericht 1988 festgestellt hat, daß die USA durch ein dutzend seismischer »Arrays« entlang der sowjetischen Grenze »unterirdische Tests mit Ladungsstärken unter einer Kilotonne entdecken und identifizieren kann, falls keine Täuschungsversuche begangen würden” (The Defense Monitor 1/1989, S. 3, Übersetzung d. Verf.).

Möglichkeiten der Täuschung

Über die Möglichkeit solcher »Täuschungsversuche« ist jahrzehntelang diskutiert worden. So wurde argumentiert, daß eine der Supermächte ihre Sprengköpfe in riesigen unterdischen Kavernen oder Salzstöcken zünden könne. Die Schockwellen dieser sogenannten »entkoppelten Tests« würden so stark gedämpft, daß sie nicht mehr eindeutig zu entdecken wären. Diese Befürchtungen haben sich schon seit Jahren als haltlos erwiesen. Zwei von den USA in Norwegen installierte Überwachungssysteme (NORESS und NORSAR), die über Hochfrequenz-Seismometer verfügen, können nicht nur sowjetische Explosionen mit der Sprengkraft eines Bruchteils einer Kilotonne über 2.800 km hinweg präzise registrieren, sie sind auch in der Lage, entkoppelte Tests zu verifizieren (siehe Oliver Thränert, Ein umfassendes nukleares Teststopabkommen – ein wirkungsvolles Instrument zu Begrenzung der Rüstungsdynamik?, Bonn 1986, S. 9). Der Bochumer Geophysiker Harjes hat in seiner Eigenschaft als Berater der Bundesregierung für Verifikationsfragen bei der Abrüstungskonferenz in Genf 1985 zusammen mit drei anderen Experten eine Studie vorgelegt, die allen verbleibenden Schwierigkeiten bei der Detektion, Ortung und Identifikation von unterirdischen Atomtests Rechnung trägt. Das von Harjes vorgeschlagene weltweite seismische Kontrollnetz ist geeignet, alle Testexplosionen oberhalb 1 kt Sprengkraft zu registrieren (siehe unten)

CORRTEX

Auf ihrem Moskauer Gipfeltreffen paraphierten US-Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai 1988 eine Vereinbarung über die Durchführung eines Gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE). Am 17. August 1988 und am 14. September 1988 wurde auf den Testgeländen von Nevada und Semipalatinsk je ein atomarer Sprengsatz unter Beteiligung amerikanischer und sowjetischer Wissenschaftler gezündet. Der Sinn dieses Unternehmens lag in der Überprüfung einer hydrodynamischen Meßmethode, welche die USA seit Jahren für die Verifikation der Atomtest-Schwellenverträge favorisieren: CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiments). Diese Meßmethode wurde vom Los Alamos National Laboratory von 1976 bis 1982 entwickelt und mehr als zweihundert Mal getestet.

Technische Grundelemente eines globalen seismischen Überwachungssystems

  • “Es wird aus fünfzig bis hundert möglichst gleichmäßig über die Erde verteilten Beobachtungsstationen bestehen. Diese müssen an günstigen Orten, das heißt abseits von Industrie und Besiedlung oder in Bohrlöchern, installiert werden, um die Bodenunruhe auf einem niedrigen Pegel zu halten. Weiterhin sollte die Instrumentierung einheitlich und auf dem höchsten Stand der Technik sein, so daß alle seismischen Signale über einen weiten Amplituden- und Frequenzbereich unverzerrt aufgezeichnet werden können.
  • Um jederzeit Zugriff zu den Aufzeichnungen dieser Instrumente zu haben, müssen die Stationen durch ein Kommunikationssystem miteinander verbunden sein. Dazu stehen heute sowohl Satellitensysteme wie INTELSAT als auch Datenleitungsnetze wie DATEX zur Verfügung.
  • Datenzentren müssen errichtet werden, die die Stationsdetektionen assoziieren, das heißt die zugehörigen Ereignisse lokalisieren. Die Hauptaufgabe dieser Datenzentren besteht in der Erstellung von Ereignislisten und der Archivierung der Seismogramme. Die Zentren liefern diese Daten an die Vertragsstaaten.”

Das seismische Überwachungsnetz muß den geologischen Bedingungen angepaßt sein; eine Stationsverdichtung ist in Gebieten vorzunehmen, in denen unterirdische Kavernen möglich sind. Durch diese Maßnahmen können sogenannte »entkoppelte« Tests – etwa in dämpfenden unterirdischen Salzstöcken – verhindert werden. Ferner kann von der geologischen Umgebung bestimmter Tests besser auf die Ladungsstärken zurückgeschlossen werden.

Nach: Hans-Peter Harjes, Die Hindernisse sind politischer Natur. Zur seismischen Überwachung eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen, in: Altmann/Gonsior (Hgg.), Welt ohne Angst, 1987

Erweiterungskonferenz zum CTBT (Amendment)

Der Partielle Teststopp-Vertrag verpflichtet die drei Depositarstaaten (USA, UdSSR, GB) ebenso wie die anderen beigetretenen Staaten, ein Umfassendes Teststopp-Abkommen auszuhandeln. Auch die bilateralen Schwellenverträge von 1974 und 1976 verpflichten sich auf das Ziel einer vollständigen Einstellung aller Atomversuche. In den achtziger Jahren wurde es nicht nur von der weltweiten Friedensbewegung, sondern auch von etablierten Politikern und Staatsmännern angemahnt.

1984 traten sechs Staats- und Regierungschefs aus vier Kontinenten mit einer gemeinsamen Erklärung an die Weltöffentlichkeit. Raul Alfonsin (Argentinien), Indira Gandhi (Indien), Miguel de la Madrid (Mexiko), Julius K. Nyerere (Kenia), Olof Palme (Schweden) und Andreas Papandreou (Griechenland) appellierten an die Kernwaffenstaaten, alle Atomwaffentests sowie die Produktion und Stationierung von Atomwaffen und ihren Trägersystemen sofort einzustellen und ihre nuklearen Streitkräfte wesentlich zu reduzieren. Dieser Appell fand weltweit ein großes Echo: die Four Continent Peace Initiative (heute Six Nations Peace Initiative) war geboren. Bald fand sich die internationale Parlamentariergruppe (Parliamentarians for Global Action, PGA) bereit, die Six Nations Peace Initiative international zu koordinieren. PGA arbeitete ein Konzept zur Erweiterung des PTBT zu einem CTBT aus. Dieses ist bereits im Vertragswerk des PTBT als Möglichkeit angelegt (siehe Kasten »Der Partielle Teststopp-Vertrag«, Art. II). Im Dezember 1985 forderte Mexiko gemeinsam mit anderen blockfreien Staaten in einer UN-Resolution, mit Hilfe einer Konferenz der 116 Vertragsstaaten den PTBT zu einem Vertrag über ein vollständiges Atomtestverbot umzuwandeln. Um eine solche Konferenz einzuberufen, müssen ein Drittel der PTBT-Vertragsstaaten dies förmlich von den Depositarstaaten fordern. Im März 1989 hat der 39. Staat eine solche Forderung in London, Washington und Moskau hinterlegt. Die drei Regierungen sind nun verpflichtet, eine Amendment-Konferenz einzuberufen. Sie könnte noch in der ersten Jahreshälfte 1990 stattfinden. Wenn sich eine Mehrheit der Konferenzteilnehmer für eine Umwandlung des PTBT in einen Umfassenden Teststopp-Vertrag aussprechen sollte, so müßte dem stattgegeben werden. Allerdings haben die drei Ursprungsstaaten des PTBT de facto ein Vetorecht, da ihr Votum gemäß Artikel 2, Absatz 2 PTBT für jeden »Zusatz« zwingend erforderlich ist.

Dennoch dürfte allein schon die Abhaltung der Erweiterungskonferenz ein Erfolg sein, auch wenn ein CTBT dadurch nicht erreicht wird. Die durch die politischen Ereignisse in (Mittel-) Europa in Beschlag genommene Öffentlichkeit würde endlich wieder auf ein altes und wesentliches Rüstungkontrollproblem aufmerksam gemacht. Die zeitliche Nähe zur ebenfalls 1990 stattfindenden Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages von Atomwaffen (Nonproliferations-Treaty, NPT) ist dabei äußerst sinnvoll. Das NPT-Regime wird nicht zuletzt dadurch unterwandert, weil die Atommächte nicht zur Einstellung ihrer Tests zu bewegen sind. Die amerikanische Delegation verließ die bilateralen Atomtestverhandlungen Anfang 1990; es ist unklar, wann die Gespräche wieder augenommen werden (SZ, 26.1.1990).

VII. CTB – eine sinnvolle Ein- Punkt-Kampagne?

Ein-Punkt-Kampagnen in der Friedenspolitik haben den Vorteil, daß aus der Vielzahl relevanter Themen und Zusammenhänge ein Sachverhalt herausgewählt und hervorgehoben wird. Die Massenmobilisierung der Friedensbewegungen Anfang der achtziger Jahre war nicht zuletzt deswegen möglich, weil man sich gegen die Stationierung einer nuklearen Waffenkategorie wandte. Diese Bestrebungen hatten ein konkretes Ziel; Reduktion von Komplexität kann politisch sehr wirksam sein.

Ein-Punkt-Kampagnen haben aber auch etwas Verzweifeltes. Sie greifen einen mehr oder weniger wichtigen Aspekt aus der breiten Palette nuklearer Rüstung heraus und vernachlässigen notwendig andere. So gerinnt politisch an sich lobenswertes Engagement zum Motto »Schlagen wir der nuklearen Hydra einen Arm ab, so wächst er an anderer Stelle wieder nach – womöglich doppelt und dreifach«.

Dennoch bleibt ein Umfassender Teststopp sinnvoll. Er verhindert zuverlässig Rüstungsdynamik bei jenen Atomwaffen dritter Generation, die nur durch Nuklearexplosionen entwickelt werden können (z.B. Röntgenlaser). Zum zweiten bedeutet die weltweite Einstellung der Tests eine Entlastung der Umwelt, da auch unterirdische Tests durch »Ausbläser« Radioaktivität freisetzen können. Eine Beendigung insbesondere der französischen Tests würde der Gefahr begegnen, daß die Hohlräume des Mururoa-Atolls so brüchig werden, daß riesige Mengen Radioaktivität austreten. Drittens würde ein globaler CTBT dem »nuklearen Rassismus« ein Ende bereiten. Die (Menschen-) Rechte der Western Shoshone und der Bewohner Französisch-Polynesiens würden endlich wieder eingesetzt.

Ein Atomteststopp würde aber nicht die »Sündenfälle« aus über vierzig Jahren Atomzeitalter ungeschehen machen. Ein gewaltiges Sprengkopfarsenal kann jederzeit reproduziert werden. Alle diese »nukes« haben – weil ehedem ausreichend getestet – eine hinreichende »stockpile reliability«. Selbst die Verbesserung der Zielgenauigkeit von nuklearen Einsatzmitteln hängt nicht oder nur zweitrangig von Atomtests ab. Eine Perfektionierung der Leitsysteme für ballistische Raketen ist hierfür viel maßgeblicher. Beide Supermächte entwickeln und installieren Satelliten-Navigationssysteme im Weltraum (USA: NAVSTAR, UdSSR: GLONAS). Ein streichholzgroßer Satellitenempfänger an den Wiedereintritts-Flugkörpern kann alle nötigen Informationen zum optimalen Zielanflug empfangen und verarbeiten. Werden diese Navigationssysteme einmal angebracht sein, so werden die ICBM's in Ost und West eine Zielgenauigkeit von unter 10 Metern erreichen. Wesentlich für diese verbesserten Fähigkeiten sind auch Raketentests (siehe Udo Schelb, Teststopp für Interkontinentalraketen, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1989).

Auch die »earth-penetrating-weapons« bedürfen nicht notwendig der Atomtests, weil die Fähigkeit, sich tief in die Erde zu bohren, von mechanischen Vorrichtungen um den äußeren Sprengkopfmantel abhängt, nicht vom Sprengkopf selber.

Der rüstungskontrollpolitische Sinn eines Umfassenden Teststopps wird auch von der laufend verbesserten Fähigkeit geschmälert, immer mehr Sprengkopfkomponenten im Labor zu testen. Auf diesem Gebiet sind die USA führend. Zwar werden unterirdische Atomtests wohl nie völlig bei der Entwicklung neuer Waffen ersetzt werden können; ein CTBT würde dem Ziel der Präventiven Drosselung der Rüstungsdynamik jedoch erheblich besser gerecht werden, wenn er von wesentlichen flankierenden Maßnahmen begleitet würde:

  1. Navigationssatelliten-Entwicklungs-Stopp
  2. Raketenteststopp
  3. Forschungsstopp in Labors, gegenseitige Transparenz und Inspektion
  4. Produktionsstopp Plutonium/angereichertes Uran.

Radioaktivität: Maßeinheiten, Richt- und Grenzwerte

Das Strahlensyndrom äußert sich folgendermaßen: schon Strahlendosen ab 1 Sievert führen unmittelbar zu Übelkeit und Erbrechen; danach erholt sich der Körper oft; aber je nach Art und Intensität der Strahlen, persönlicher Verfassung und Erbgut kann sich das Leiden nach längerer Zeit durch Krebs, Leukämie u.a. fortsetzen.

3-5 Sv: 50% der Menschen sterben innerhalb von 2 Monaten an Schädigung des Knochenmarks (die blutbildenden Zellen vermehren sich nicht mehr).

10-50 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

100 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

Meßeinheiten:

Vom Spaltprodukt ausgehende Radioaktivität:

1 Becquerel (Bq)=1 Zerfall pro Sekunde

1 Curie (ci)=Zerfallseinheit von 1 Gramm Radium=37 Milliarden Bq

Bsp.: Plutonium mit einer Aktivität von 2000 Megabecquerel emittiert 2000 Millionen Aplhateilchen pro Sekunde

Vom Stoff aufgenommene Energie: 1 Gray=Energiedosis von 1 Joule pro Kilo

1 Gray=100 Rad (alte Einheit)

Die Strahlenarten sind unterschiedlich gefährlich. Je nach Strahlungsrat wird aufgrund von Gray ein Wert errechnet (die »Äquivalentdosis«), der die genaue Schädlichkeit in Sievert oder in Rem angibt: 1 Sievert (Sv)=100 Rem. Bei Gammastrahlen z.B. ist Gray=Sievert, bei Alphastrahlen, die inkorporiert besonders gefährlich sind für den Menschen, wird die in Gray errechnete Dosis mit dem Faktor 20 multipliziert, um Sievert zu erhalten.

Richtwerte und Höchstgrenzen für Radioaktivität (Auswahl) Luft: Als normal werden 3 Bq pro Kubikmeter angesehen. (Tschernobyl bewirkte zwischen 10-70 Bq)

In Rem und Gray: die empfohlene Höchstbelastung pro Stunde ist 114 Nanogray (= 0,000 000 114 Gray), das entspricht 100 Millirem pro Jahr.

Eine US-Bestimmung für Kernkraftwerksunfälle besagt, daß die Bevölkerung eine Dosis von 100 Rad bei einem Unfall erhalten darf.

Die Innenministerkonferenz gab 1988 in den »Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung technischer Anlagen« einen Wert von 400 Millionen Becquerel pro Quadratmeter als kritsche Grenze an. Eine Dekontamination solle aber erst ab 4000 Mill. Bq stattfinden. Arbeitern in Uranminen mutet man eine Ganzkörperdosis von 50 Millisievert pro Jahr zu, der übrigen Bevölkerung 5 Millisievert. Beschäftigte in Atomanlagen dürfen 5 Rem erhalten.

Barbara Sabel ist Germanistin;

Michael Kalman ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Starnberg.

Atomenergie: Zugriff zur Bombe

Atomenergie: Zugriff zur Bombe

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Martin B. Kalinowski, Wolfgang Liebert und Lars Pohlmeier

Herausgegeben von Wissenschaft & Frieden in Zusammenarbeit mit den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)

zum Anfang | Nuclear power powers the bomb

von Lars Pohlmeier

Moskau im April 2000: 90 Minuten in Moskau im kleinen Kreis mit Russlands Atomminister Jewgenij Adamov – das stand auf dem Programm unserer kleinen internationalen Delegation der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges). Selbstbewusst berichtete Adamov von der Zukunft der russischen Atomenergie: Mehr als 20 schnelle Plutonium-Brüter für Russland, Export atomarer Mischoxid-Brennstäbe in Konkurrenz zu den USA und westeuropäischen Ländern in alle Welt. Sein Pilotprojekt: der Iran.

Während sich die Öffentlichkeit in Deutschland angesichts der als Atomausstieg verkauften Vereinbarung mit der Industrie einlullen ließ in der Vorstellung, das Atomzeitalter gehe dem Ende zu, war uns in Moskau eindringlich deutlich geworden: Es geht erst richtig los. Das russische Atomministerium ist inzwischen zwar umorganisiert, der »Atomfalke« Adamov längst nicht mehr Minister – doch die ehrgeizigen Pläne bestehen weiter. Dass der Spiegel kürzlich in einer kleinen Notiz meldete, Herr Adamov würde wegen Korruptionsverdacht von den USA international gesucht, zeigt nur noch eine weitere Dimension der zivilen Nukleartechnologie. Das Thema Korruption soll in diesem Dossier von Wissenschaft und Frieden nicht erörtert werden. Dafür aber finden sich tiefe Einblicke in die unglückliche Verbindung zwischen dem zivilen und dem militärischen Einsatz der Atomenergie. So werden etwa die Hintergründe der aktuellen Atomdebatte um den Iran beleuchtet, es wird der wichtige historische Kontext hergestellt, wie sich die internationale Atomenergienutzung so entwickeln konnte, wie sie heute besteht, und es wird der Frage nachgegangen, ob ein nuklearer Terrorismus eine ernstzunehmende Gefahr darstellt.

Die schizophrene Situation, eine angeblich rein zivil nutz- und kontrollierbare Technologie zu fördern, die gleichzeitig so viele ungelöste Fragen hinsichtlich der militärischen Nutzbarkeit aufwirft, spiegelt sich auch in der Geschichte unserer eigenen sozialen Bewegungen wieder. Es ist schon erstaunlich, wie die Haltung zur Atomenergie die Friedens- und Umweltbewegung lange derart spalten konnte. Gerade so als ob beide Themen unabhängig voneinander abgearbeitet werden könnten. In meiner eigenen Organisation hat es lange Jahre gedauert um zu begreifen, dass derjenige Atomwaffen nicht abschafft, der nicht ebenfalls klar Stellung zur gefährlichen Atomenergienutzung bezieht.

Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), nun ebenfalls mit dem Nobelpreis gekrönt, ist vergattert, einen Konflikt zu lösen, den sie mit ihrem eigenen satzungsgemäßen Auftrag gar nicht auflösen kann. Sie soll die Anwendung von Atomtechnologie unparteiisch überwachen und gleichzeitig Fürsprecher und Förderer dieser Problemtechnologie sein. Unbestritten sind die IAEO-Verdienste und die Verdienste ihrer Vertreter in den jüngsten Jahren, denken wir nur allein an die Aufklärungsarbeit um die angeblichen Atomprogramme im Irak. Ohne die IAEO-Expertise bei der internationalen Überwachung der Atomtechnologie wäre es um unsere Sicherheit noch schlechter bestellt. Und doch ist die IAEO selbst verstrickt in den Versuch der (Selbst-)Täuschung der Öffentlichkeit, die Atomgefahr begrenzen zu können, während die gefährliche Atomenergienutzung tatsächlich protegiert wird. Während die IAEO in den Atomwaffenstaaten gleich gar keinen Auftrag hat, bei der Kontrolle der Militärprogramme mitzuwirken, ist sie ansonsten eine Art internationaler Atomfeuerwehr, beauftragt mit dem Versuch, die weltweiten Brandherde mit Wasser aber zugleich eben auch mit Benzin zu löschen. Warum, so fragt man sich, gibt es keine internationalen Initiativen, wenn nicht gar überstaatliche Behörden ähnlich der IAEO, die sicherheitspolitisch harmlose und ökologisch sinnvolle regenerative Alternativen fordern und fördern.

Wir Ärztinnen und Ärzte der IPPNW verurteilen, dass seit 1958 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) keine Daten zu den Folgen der Atomenergienutzung publizieren darf, ohne das Plazet der Atomförderer der IAEO einzuholen. Am Vorabend des 20. Jahrestages des Atomunfalls in Tschernobyl hat sich die WHO erneut gängeln lassen und die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe öffentlich in Bedeutung und Ausmaß heruntergespielt. Auch deshalb werden wir gemeinsam im Netzwerk kritischer Friedens- und Umweltorganisationen vom 7.-10. April 2006 auf dem Kongress »Atomwaffen & Atomenergie in einer instabilen Welt« dieses Thema umfassend aufarbeiten. Und auch in Berlin wird unter Federführung der Gesellschaft für Strahlenschutz in einem internationalen Kongress das Thema Tschernobyl und seine Folgen für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Viele Jahre beschäftigen wir uns nun schon mit vielen unterschiedlichen, zum Teil komplizierten Aspekten der Janusköpfigkeit von Atomenergie und Atomwaffen. Mein persönliches Fazit lässt sich dabei auf zwei einfache Formeln kondensieren: Erstens: Nuclear power powers the bomb. Und zweitens, allen Unbilden zum Trotze: Es gibt nur eine Zukunft für die Atomenergie – abschalten!

Dr. Lars Pohlmeier ist Mitglied des internationalen Vorstandes der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Er ist Arzt und Journalist und arbeitet derzeit im Klinikum Bremen-Ost in der Abteilung für Innere Medizin.

zum Anfang | Atomenergie und Atomwaffen – eine gefährliche Verbindung

von Wolfgang Liebert

Als in den 1930er Jahren klar wurde, dass eine Spaltung (Fission) von Atomkernen möglich ist, begannen in einer Reihe von Ländern sogleich wissenschaftliche Projekte, die Möglichkeiten für technische Anwendungen untersuchten, vorrangig die Möglichkeit für eine völlig neuartige und gewaltige Waffe. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges – ausgelöst durch die deutschen Faschisten – kann als »außerwissenschaftlicher« Trigger für die ersten Atomwaffenprogramme gelten.

Zunächst konzentrierte man sich auf die Möglichkeit einer unkontrollierten Kettenreaktion in ausreichenden Mengen von Uran-235. Da dieses Isotop im Uranerz nur in sehr kleinen Anteilen enthalten ist, mussten Technologien zur Anreicherung von Uran entwickelt werden. Nur wenn das Verhältnis von Uran-235 zu Uran-238 von ursprünglich 1:140 auf mindestens 4:1 erhöht werden konnte und damit die Produktion von hoch angereichertem Uran (HEU) gelang, konnte man sicher sein, dass eine Atomwaffe konstruierbar war. Durch einfaches Aufeinanderschießen von zwei zunächst noch unterkritischen Massen hoch angereicherten Urans entsteht eine überkritische Masse, in der dann eine unkontrollierte Kettenreaktion gestartet wird. Dieses Prinzip reicht für eine Atomwaffe aus. Bekanntlich gelang es in den USA nach gewaltigen Anstrengungen, bis 1945 genügend Uran für die Hiroshima-Bombe anzureichern. Diese einfache Uranbombe konnte ohne vorhergehenden Test eingesetzt werden.

Die Wurzeln: Physik, Nukleartechnologie und die Bombe

Schon 1940 wurde den Physikern klar, dass Uran-238 dazu neigt, Neutronen einzufangen, wobei ein neues Element entsteht, das später Plutonium genannt wurde und sich ebenfalls hervorragend für die Bombe eignet. Bei Verwendung von Plutonium wird sogar deutlich weniger spaltbares Material benötigt: Die notwendige »kritische Masse« liegt – wenn keine weiteren Effekte wie die Kompression durch konventionellen Sprengstoff und bestimmte Designtricks berücksichtigt werden – je nach Isotopenzusammensetzung bei 10-15 Kilogramm anstatt etwa 50 Kilogramm im Falle von HEU. Auf die aufwändige Urananreicherungstechnologie kann in diesem Fall verzichtet werden. Allerdings benötigt man nun eine Neutronen produzierende Anlage, in der Natururan zu Plutonium transmutiert wird. Dies wussten auch die deutschen Atomwissenschaftler um Heisenberg, die sich bis 1945 vergeblich mühten, eine »Uranmaschine« in Betrieb zu setzen. Schneller waren die Konkurrenten in den USA, die schon 1942 einen Uranreaktor »kritisch« machten und erstmals eine kontrollierte Kettenreaktion technisch demonstrieren konnten.

Der alternative Pfad zur Bombe, der über die Plutoniumproduktion im Reaktor eröffnet wurde, brachte neben seinen Vorteilen aber auch neue Schwierigkeiten. Eine (kernchemische) Technologie zur Abtrennung von Plutonium aus dem bestrahlten, nunmehr hoch radioaktiv gewordenen Uranbrennstoff musste erfunden werden. Und wenn es gelingt, Plutonium aus dem Reaktor zu gewinnen, taucht eine weitere Hürde auf. Das entstandene Plutonium setzt sich aus einer ganzen Reihe verschiedener Isotope zusammen, und die geradzahligen Isotope weisen für eine Waffenanwendung problematische Eigenschaften auf. So besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Plutonium-240 und Plutonium-242 sich spontan spalten, ohne Anstoß eines von außen kommenden Neutrons. In einer Waffe kann dies zur Frühzündung führen: Ein Neutron aus Spontanspaltung in Plutonium kann die Kettenreaktion starten, bevor die optimale Kompression des Plutoniums durch den umgebenden konventionellen Sprengstoff erfolgt ist. Das Bombenmaterial fliegt durch die erzeugte Spaltenergie möglicherweise schon so früh auseinander, dass die weitere Spaltung von Plutonium trotz der zunächst lawinenartig wachsenden Neutronenmenge bald wieder zum Erliegen kommt. Insgesamt wächst die Wahrscheinlichkeit, dass nur ein kleinerer Teil des Plutoniums tatsächlich gespalten wird und somit die ungeheure Macht der nuklearen Explosion begrenzt bleibt.

Diese Problematik konnte bewältigt werden, allerdings nur, weil ein im Vergleich mit der Uranbombe weit aufwändigeres Bombendesign entwickelt wurde. Insbesondere mussten technische Vorkehrungen für eine möglichst exakt konzentrische Kompression einer Plutoniumhohlkugel getroffen werden. Am 16. Juli 1945 wurde in der Wüste von New Mexico erstmals eine Plutoniumwaffe erfolgreich getestet und wenige Wochen später gegen die japanische Stadt Nagasaki eingesetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Atomwaffenprogramme in den dominierenden Großmächten ungezügelt weiter. In den frühen 1950er Jahren wurde die zweite Generation von Kernwaffen erfolgreich getestet, die eine noch weit größere Zerstörungskraft besitzt. Diese Technologie basiert auf der Verschmelzung (Fusion) von leichten Elementen (genutzt wird z.B. Lithiumdeuterid und der sog. superschwere Wasserstoff Tritium), die durch die Strahlungsenergie einer unmittelbar zuvor gezündeten Spaltbombe ausgelöst wird. Diese fortgeschrittene thermonukleare Waffentechnologie wurde zur Grundlage für die fürchterlichen Kapazitäten des vielfachen Overkill, die die Vorherrschaft der neuen Supermächte USA und Sowjetunion begründeten.

Tritium kommt in den Kernwaffenprogrammen fortgeschrittener Kernwaffenstaaten noch eine weitere wesentliche Bedeutung zu: Kleinstmengen von 1-2 Gramm können, in geeigneter Weise in die Spaltstoffzone einer Atomwaffe eingebracht, durch die dort entstehenden hohen Temperaturen zur Fusion gebracht werden. So entsteht eine zusätzliche Neutronenlawine, durch die die Spaltausbeute der Waffe erheblich gesteigert wird. Solche Booster-Bomben erzielen ein Vielfaches der Sprengkraft gegenüber den ersten Atombombendesigns und sie öffneten den Weg zur Verkleinerung der Sprengkörper (wichtig z.B. für Raketensprengköpfe) bei gleichzeitiger Effektivierung der Bombenwirkung, der in den etablierten Kernwaffenstaaten konsequent verfolgt wurde.

Atomenergieprogramme

Der Test der ersten Wasserstoffbombe der Sowjetunion brachte die US-Regierung dazu, Ende 1954 das »Atoms for Peace«-Programm zu verkünden. Noch bestand offenbar die Hoffnung, die Verbreitung (Proliferation) der gefährlichen Atombombentechnologie aufhalten und dabei zivile Früchte der militärischen Entwicklungen als weltweites Angebot nutzen zu können. In den späten 1950er Jahren gingen die ersten Reaktoren für die Stromproduktion in Betrieb. In den 1970er Jahren wurden insbesondere Leichtwasserreaktoren zu Exportschlagern in den jeweiligen politischen Lagern. Auch Natururan nutzende Reaktoren – vorrangig aus Kanada -, die besonders gut zur Plutoniumproduktion ohne Notwendigkeit der Urananreicherung geeignet sind, fanden ihren Weg in andere Länder, z.B. Indien.

Heute werden in 31 Staaten Reaktoren für die Stromerzeugung betrieben. Manche Länder haben eine extrem hohe Atomstromquote, aber insgesamt werden fast 50 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Reaktors lediglich 16% des Weltstrombedarfs nuklear erzeugt (das entspricht einem nuklearen Primärenergieanteil von nicht einmal 6%). In der sich entwickelnden Welt konnten oder wollten nur ganz vereinzelt Staaten ernsthaft ins Atomgeschäft einsteigen.

Zum Betrieb von Leichtwasserreaktoren, die bis heute weltweit dominieren, wird Uran in einer schwachen Anreicherung von etwa 3-4% benötigt. Dazu werden Anreicherungstechnologien genutzt, die bereits für Waffenprogramme benötigt worden waren. In den Reaktoren, den »Uranmaschinen«, entsteht beim Abbrand der Uranbrennstäbe – wie oben besprochen – als Nebenprodukt naturnotwendig Plutonium (etwa 250 Kilogramm jährlich pro Gigawatt Reaktorleistung).

Plutonium taugt nicht nur als Spaltstoff für Bomben, sondern kann selbst wiederum als Brennstoff für entsprechend ausgelegte Reaktoren dienen. Allerdings entstehen bei der Produktion plutoniumhaltiger Brennelemente enorme Zusatzkosten, so dass eine wirtschaftliche Attraktivität für die absehbare Zukunft nicht existiert. Die Reaktorbetreiber ziehen daher eigentlich Uranbrennstoff vor. Dennoch wird seit Jahrzehnten in einer Reihe von Ländern Plutonium aus abgebrannten Brennelementen abgetrennt. Basis ist dabei die Wiederaufarbeitung, die für Waffenprogramme entwickelt wurde. Als Grund wird angeführt, dass man um die begrenzten wirtschaftlich sinnvoll ausbeutbaren Uranvorräte der Welt wisse und daher kein potenzieller Spaltstoff verschwendet werden dürfe. Es müsse sogar dafür gesorgt werden, dass zusätzlicher Spaltstoff produziert wird, am besten genug für mindestens tausend Jahre. Dies wäre nur mit Hilfe von Brutreaktoren machbar, denn durch Plutoniumnutzung in Form von Uran-Plutonium-Mischoxid (MOX) in Leichtwasserreaktoren werden die Uranvorräte nur geringfügig gestreckt.

Im Kern schneller Brüter soll Plutonium als Brennstoff dienen. Gleichzeitig soll in einem Brutmantel aus Natururan mehr Plutonium gewonnen werden als für den Betrieb eingesetzt wurde. Das zusätzlich produzierte Plutonium bestünde fast ausschließlich aus Plutonium-239. Dieses Plutonium ist aber auch für Waffenanwendungen besonders begehrt, weil die oben angedeuteten Probleme beim Bau von Plutoniumwaffen deutlich reduziert würden. Für den gewünschten Zugriff auf den Spaltstoff wäre die Wiederaufarbeitung zwingend. Jahrzehntelange Bemühungen zur Realisierung eines funktionstüchtigen Brutreaktors haben aber nirgends zum Erfolg geführt. Über kleinere Versuchsbrüter ist man praktisch nicht hinausgekommen. Die extremen Herausforderungen an die Sicherheits- und Materialtechnik konnten bislang nicht bewältigt werden.

Eine andere nukleare Zukunftsoption, die schon seit Jahrzehnten in aufwändigen und teuren Forschungsprogrammen verfolgt wird, könnte in Fusionsreaktoren bestehen. Fast alle Konzepte sehen Deuterium und Tritium als Brennstoff vor. Fusionsreaktoren hätten einen Bedarf von etwa 100 Kilogramm Tritium pro Jahr, das im Reaktor selbst aus Lithium erbrütet würde. Mit einem ersten kommerziellen Reaktor rechnet man allerdings nicht vor 2050. Die wissenschaftliche und technische Machbarkeit sowie die ökonomische Attraktivität müssen erst noch demonstriert werden.

Die großen Fusionsexperimente, wie das internationale ITER-Projekt, haben allerdings bereits in näherer Zukunft einen Tritiumbedarf, der bisherige zivile Umgangs- und Handelsmargen bei weitem übertrifft. Tritium wird bislang vor allem für die etablierten Atomwaffenprogramme produziert, da es mit einer Halbwertszeit von etwa 12 Jahren zerfällt und daher regelmäßig ausgetauscht werden muss. In einigen Atomwaffenstaaten (wie USA und Frankreich) wird ein Zweig der Fusionsforschung besonders gefördert, der schon jetzt und durch die im Aufbau befindlichen Großexperimente militärischen Nutzen verspricht: Die so genannte Trägheitseinschlussfusion hat so große Nähe zur Physik thermonuklearer Waffen, dass sie für ein grundlegendes Verständnis der Waffenphysik und für Kernwaffen-Simulationsexperimente höchst attraktiv erscheint.

Weiterverbreitung und Dual-use

Zu den fünf »offiziellen« Atommächten sind inzwischen vier weitere hinzugekommen: Israel, Indien, Pakistan und nach eigenen Angaben auch Nordkorea. Wie war das möglich trotz der internationalen Bemühungen um Nichtweiterverbreitung?

Eine wichtige Erklärung ist, dass Atomenergieprogramme nunmehr als Wurzel für militärische Programme dienen können (Dual-use). Ein enger Zusammenhang zwischen Atomwaffen- und Atomenergieprogrammen erklärt sich schon aus der oben knapp skizzierten Entwicklungsgeschichte der Nuklearforschung und Atomtechnologie.

Die genannten Staaten haben sich das offensichtliche Dual-use-Potenzial nuklearer Forschung, von Technologien und Materialien zu Nutze gemacht. Unter dem Deckmantel ziviler Absichten ist vieles möglich, was letztlich einem Waffenprogramm dient. Es hat sich herausgestellt, dass diese Versuchung in den 1960er und 1970er Jahren auch in einigen europäischen und asiatischen Ländern und später in manchen afrikanischen und südamerikanischen Staaten bestand. Diese haben schließlich auf Waffenprogramme verzichtet – manche allerdings nur unter massivem politischen Druck von außen. Dafür waren sicher auch politische Gründe ausschlaggebend, die interessante Aufschlüsse für heutige Bemühungen um Nichtverbreitung geben könnten.

Die nachholende Entwicklung in einigen Ländern setzt häufig auf ambivalente, zivil wie militärisch nutzbare Technologien, was einerseits mit wirtschaftlichen Beweggründen erklärbar ist, aber andererseits auch den Aufbau gefährlicher militärischer Potenziale ermöglicht.

Überall, wo Anreicherungstechnologien beherrscht werden – und noch offensichtlicher dort, wo sie in zivilen Atomenergieprogrammen tatsächlich zum Einsatz kommen -, besteht im Prinzip die Möglichkeit der Hochanreicherung von Uran für Waffen. Wird HEU im zivilen Kontext eingesetzt, ist die Abzweigung für Waffenzwecke grundsätzlich nicht auszuschließen.

Überall, wo die Plutoniumabtrennung beherrscht wird oder kommerzielle Wiederaufarbeitungsanlagen betrieben werden, besteht in Kombination mit dem Betrieb von Leistungs- oder größeren Forschungsreaktoren im Prinzip die Möglichkeit, an Plutonium für die Waffenproduktion heranzukommen. Die Plutoniumnutzung im Bereich der Energiewirtschaft birgt somit erhebliche Proliferationsgefahren. Bereits heute liegen weltweit etwa 250 Tonnen abgetrenntes Plutonium aus zivilen Beständen vor (etwa eben soviel wie in den gewaltigen Waffenprogrammen der Atommächte).

Sensitive Technologien, wie verschiedene Methoden der Urananreicherung oder die Plutoniumabtrennung in Wiederaufarbeitungsanlagen, werden heute in etwas mehr als 20 Staaten prinzipiell beherrscht oder großtechnisch betrieben.

Bereits die gegenwärtige MOX-Brennstoffnutzung muss beunruhigen, da der damit verbundene Umgang mit Plutonium vielfältige Abzweigungsmöglichkeiten für Waffenprogramme schafft. Flächendeckende Brüterprojekte, die gegenwärtig (zum Glück) nicht in Sicht sind, würden diese Problematik dramatisch verschärfen.

Daneben sind alle starken Neutronenquellen – nicht nur Reaktoren, sondern auch moderne, genügend leistungsstarke Beschleuniger für die Forschung – potenziell für die Produktion von kernwaffenfähigen Materialien geeignet.

Hier zeigt sich die Janusköpfigkeit gegenwärtiger Nukleartechnologie. Fortgeschrittene Nuklearforschungs- und Atomenergieprojekte schaffen wesentliche und unverzichtbare Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme und senken damit die Schwelle zum stets denkbaren Zugriff auf die Bombe.

Der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), ElBaradei, zitierte mehrfach Befürchtungen, nach denen bis zu 40 Länder das Know-how für Kernwaffen bereits zur Verfügung hätten. Das mag man für übertrieben halten, aber der Betrieb von Leistungsreaktoren kann als ein Indiz für ausreichende wissenschaftliche und technische Fähigkeiten gelten. Etwa 60 Länder betreiben Forschungsreaktoren. In knapp 40 Ländern wird dabei noch immer mit waffenfähigem HEU hantiert (wenn auch zumeist in kleineren Mengen).

Gefahren verringern

Wenn nach Umgangsweisen mit der bedrohlichen Proliferationsdynamik gesucht wird, muss an erster Stelle die Einsicht stehen, dass die Gefahren bereits durch den Zugang zu sensitiven Technologien und Materialien entstehen. Hier liegt die Wurzel des Problems, neben den stets dem Wandel unterworfenen politischen Zielsetzungen. Mehr noch: Die Erlangung technischer Fähigkeiten ist auf längere Sicht irreversibel, politische Macht und politische Regelungen sind demgegenüber höchst instabil oder verändern sich sogar entsprechend den technischen Möglichkeiten.

Da die Wurzel in der Ambivalenz der Nukleartechnologie liegt, die bereits in ihre Entstehungsgeschichte eingeschrieben ist, kommt man dem Proliferationsproblem letztlich auch nicht durch Sicherungsmaßnahmen (Safeguards) der IAEO bei. Ihre politische Wirkung soll damit nicht völlig in Frage gestellt werden, aber grundsätzlich handelt es sich bei den Safeguards um Maßnahmen, die lediglich nachgeordnet und sehr begrenzt wirksam werden können und überdies fest an die aktuellen politischen Randbedingungen angekoppelt sind, die so wandelbar sind, dass sie sogar zu einem außer Kraft setzen zuvor existenter Safeguards-Vereinbarungen führen können (aktuelles Beispiel Nordkorea). Durchgreifende Verbesserungen sind nur denkbar bei einem bewussten und tief greifenden Souveränitätsverzicht der Staaten und einem völlig veränderten Problembewusstsein bei den Anlagenbetreibern und -entwicklern. Die bloße Existenz von Safeguards als Freibrief für die Arbeit mit sensitiven, proliferationrelevanten Technologien und Materialien zu betrachten, muss jedenfalls auf längere Sicht als fatale Fehleinschätzung angesehen werden.

Auch einseitige Exportkontrollen derjenigen Staaten, die sensitive Technologien bereits selbst beherrschen, können bestenfalls für eine Atempause sorgen. Es hat sich gezeigt, dass Staaten, die von Exportkontrollen betroffen sind, solche Maßnahmen durch Eigenentwicklungen mittelfristig unterlaufen können. Überdies ist höchst fraglich, ob ein System, das einigen Ländern Zugang zu sensitiven Technologien erlaubt, anderen aber verbietet, auf Dauer stabil (und gerecht) ist. Daraus kann umgekehrt sogar ein Stimulus für eigenständige Entwicklungen im sensitiven Bereich erwachsen.

Es ist daher dringlich über Safeguards-Maßnahmen hinaus zu denken. Unter pragmatischer Perspektive, die davon ausgeht, dass eine größere Zahl von Ländern noch für längere Zeit auf Nukleartechnologie setzen, ist vor allem das Konzept der Proliferationsresistenz interessant. Hier liegt eine Chance darin, dass sich nicht jede zivil nutzbare Nukleartechnologie oder jedes Nuklearmaterial gleichermaßen auch für Atomwaffen eignet. Nukleartechnologien, auf deren Nutzung man nicht verzichten will, könnten robust gemacht werden gegen Proliferationsszenarien. Dazu muss die Auslegung der Technologie selbst so verändert werden, dass der Zugriff auf waffengrädiges Nuklearmaterial ausgeschlossen ist.

Ein gutes illustratives Beispiel ist der technisch machbare weltweite Verzicht auf hochangereichertes Uran (HEU) in Forschungsreaktoren. Als Alternative zu HEU stehen schwach angereicherte aber hochdichte Brennstoffe zur Verfügung, die nicht waffengrädig sind. Die notwendige Umrüstung der Forschungsreaktoren muss jeweils konkret bedacht und durchgesetzt werden. Dies gilt gerade auch für den neuen Münchner Reaktor FRM-II. Diese wesentliche Maßnahme zur Reduzierung der Proliferationsgefahren an ihrer Quelle ist nicht-diskriminierend, sie kann und muss demgemäß Gültigkeit für alle Staaten bekommen.

Ob Proliferationsresistenz zum durchschlagenden Kriterium auch für die gegenwärtig in Entwicklung befindlichen Nukleartechnologien werden könnte, ist zur Zeit nicht absehbar. Erste Schritte in diese Richtung können bislang überhaupt nicht überzeugen. Wenn nukleare Technologien eine Zukunft bekommen sollten, müssten zuvor überdies weitere zentrale Gefahrenpotenziale (wie in den Bereichen Anlagensicherheit und Atommüll) durch tragfähige Ansätze der Technikgestaltung beseitigt werden. Dazu gehört zweifellos auch, dass Angriffe auf Nuklearanlagen keine katastrophalen Folgen haben dürfen, was zur Zeit für weit mehr als 500 Anlagen in der Welt nicht gegeben ist.

Die gegenwärtige Atomkraftnutzung stellt aus meiner Sicht eine unübersehbare Gefahr für den Weltfrieden dar. Der klügste Ansatz wäre daher ein Verzicht auf diesen gefährlichen Pfad der Energiegewinnung. Mindestens müssten die für unverzichtbar gehaltenen Nukleartechnologien proliferationsresistent gemacht werden. Ansonsten bleibt nur die Gestaltung von Forschung und Technik in übergreifender Perspektive. Demgemäß geht es bereits heute um eine zukunftsfähige Gestaltung des Energiesystems insgesamt. Eine große Herausforderung für Forschung, Dienstleistungsunternehmen, Industrie und die gesamte Gesellschaft.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.

zum Anfang | Das Nuklearprogramm des Iran – zivil oder militärisch?

von Martin B. Kalinowski

Es gibt keine Beweise für die Existenz eines Kernwaffenprogramms im Iran. Allerdings hat der Iran vor Oktober 2003 seine Verpflichtungen aus dem Safeguards-Abkommen verletzt und zahlreiche verdächtige Aktivitäten betrieben, ohne sie zu melden und überwachen zu lassen. Alle nuklearen Materialien und Anlagen, die im Iran entdeckt wurden, werden heute von Inspekteuren der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) überwacht. Sorge bereitet, dass es möglicherweise weitere geheime Nuklearaktivitäten im Iran geben könnte und dass diese militärischen Zwecken dienen. Diese Sorge gewinnt an Gewicht auf Grund der Erfahrung, dass die IAEO die meisten ungemeldeten Aktivitäten nicht ohne Hilfe von außen aufdecken konnte. Daher werden Bemühungen intensiviert, durch neue Messtechnik die Fähigkeit der Inspektionsbehörde zu verbessern, heimliche nukleare Aktivitäten aufzuspüren.

Der Iran hat nach Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) das uneingeschränkte Recht zur Beschaffung und zum Betrieb ziviler Kerntechnik. Damit stellt sich das Problem der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit dieser Technologie.

Dieser Artikel beschränkt sich auf technische Fakten und versucht sich nicht in einer Analyse politischer Aussagen und Vorgänge, durch die der Iran ins Zwielicht rückte und wegen derer der iranischen Regierung vielfach die Absicht unterstellt wird, das zivile Nuklearprogramm als Vorwand oder Tarnung eines eigentlich militärisch motivierten Vorhabens aufzubauen. Auch ohne derartige Unterstellungen und ohne Misstrauen können deutliche und weitgehende Schlussfolgerungen gezogen werden.

Kein Beleg für Atomwaffenprogramm

Zwar gibt es Indizien, die für mögliche militärische Intentionen des iranischen Nuklearprogramms sprechen. Die IAEO hat jedoch bisher keine Belege dafür gefunden, dass der Iran kernwaffenfähige Spaltstoffe heimlich produziert oder entwendet hätte.1 Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Iran tatsächlich Kernwaffen herstellen würde, und nur dies wäre ein Bruch von Art. II des NVV (siehe Tabelle 1).

Die bisher brisanteste Entdeckung wurde in der Kala Electric Company in Abali bei Teheran gemacht. Die IAEO hat Spuren von hoch angereichertem Uran in Wischproben nachweisen können, die Inspektoren im August 2003 auf der Oberfläche von Maschinenteilen für die Urananreicherung genommen hatten. Der Iran hatte zuvor die Anreicherung von Uran bis maximal 1,2% Uran-235 deklariert. In der Folge blieb zwei Jahre lang umstritten, ob mit dem Nachweis von Spuren hoch angereicherten Urans ein Verstoß gegen den NVV aufgedeckt worden sei. Der Iran erklärte, dass die gefundenen Spuren beim Import der Anlage von Pakistan als Kontamination mit eingeschleppt worden seien. Dies konnte zunächst nicht geklärt werden, da es analytisch schwierig ist, das Alter der gefundenen Uranspuren zu bestimmen. Im August 2005 kam dann jedoch die Entwarnung. Ein internationales Team von Experten konnte den Nachweis erbringen, dass die Isotopenzusammensetzung der im Iran gefundenen Uranspuren mit pakistanischen Proben übereinstimmen, die diesen Experten zur Verfügung standen. Damit war endlich die Erklärung des Iran bestätigt. Diese Nachricht blieb von den Medien weitgehend unbeachtet, und nur wenigen Beobachtern wurde deutlich, dass somit keinerlei Spuren auf eine Hochanreicherung von Uran im Iran hinweisen. Somit kann die IAEO dem Iran also keinen Bruch seiner Verpflichtungen unter Artikel II des NVV vorwerfen.

Verletzungen des Safeguards-Abkommens

Die IAEA wirft dem Iran vor, mehrfach seine Verpflichtungen gegenüber der IAEO nicht eingehalten zu haben, die sich aus dem Safeguards-Abkommen ergeben.2 Sowohl nukleare Materialien als auch Anlagen hätten deklariert werden müssen. Die folgende Aufzählung enthält auch Anlagen, in denen noch kein nukleares Material vorhanden war und die daher nicht unter die Deklarationsverpflichtung des Safeguards-Abkommens fielen, sondern erst durch das im Dezember 2003 unterzeichnete Zusatzprotokoll frühzeitig zu deklarieren waren.

  • In Natanz hat der Iran Uranhexafluorid (UF6) in eine Urananreicherungsanlage eingebracht und angereichert, ohne dies der IAEO zu melden. Dazu wäre der Iran verpflichtet gewesen. Diesen Verstoß hat die IAEO im Februar 2003 entdeckt. Der Iran entschuldigt dieses Verhalten damit, dass nur geringe Mengen UF6 zu Testzwecken verarbeitet worden seien.
  • In Lashkar Abad bei Karaj wurde ab 2000 eine Pilotanlage für Laseranreicherung gebaut, aber der IAEO nicht gemeldet. Die IAEO hat die Anlage 2004 besucht und ihre nukleare Verwendung bestätigt.
  • Die Kala Electric Company in Abali bei Teheran wurde zur Installation von Zentrifugen genutzt, die der Iran aus Pakistan importiert hatte. Weder diese Anlage noch der Bau der Urananreicherungsanlage von Natanz noch der Bau einer Schwerwasserproduktionsanlage bei Arak wurden der IAEO gemeldet.
  • Der Import von Natururan in 1991 war nicht gemeldet worden. Auch die Verarbeitung und der Gebrauch dieses Materials sowie die dabei entstandenen Überträge in Abfall wurden nicht gemeldet.
  • Die Anreicherung von importiertem UF6 in der Kala Electric Company in Abali bei Teheran, die sowohl 1999 und 2002 zu Testzwecken durchgeführt wurde, hätte gemeldet werden müssen.
  • Der Import von Uranmetall in 1993 und dessen Anreicherung in der Laseranreicherungsanlage in Lashkar wurde nicht gemeldet.
  • Die Produktion von Targets3 aus Uranoxid im Nukleartechnologiezentrum Isfahan sowie deren Bestrahlung im Forschungsreaktor von Teheran mit anschließender Abtrennung von 0,2 Milligramm Plutonium zwischen 1988 und 1992 hätte gemeldet werden müssen.
  • Die Produktion verschiedener Uranoxide, Uranfluoride und von Ammoniumuranylkarbonat hätte ebenfalls berichtet werden müssen.

Ähnliche Verstöße und Fehler sind auch von zahlreichen anderen Ländern bekannt geworden, ohne dass dies – mit der Ausnahme vom Irak und Nordkorea – eine nennenswerte internationale Reaktion hervorgerufen hätte. Die Häufung und zeitliche Ausdehnung von derartigen Vorkommnissen im Iran sowie die Intensität und der Umfang seines ehemals versteckten Nuklearprogramms stellen jedoch eine Besonderheit dar.

Nach dem Aufdecken dieser Fehler bemüht sich der Iran seit Oktober 2003, mit reiner Weste zu erscheinen. Die Kooperation mit den IAEO-Inspektoren wurde verbessert und mehr Transparenz hergestellt, wenngleich Hinhaltemanöver und widersprüchliche Angaben zu weiterer Skepsis Anlass geben. Die erforderlichen Deklarationen wurden nachgeholt. Für alle genannten Anlagen wurden die Design-Informationen zur Verfügung gestellt. Inventarlisten, Materialbilanzen sowie Informationen über Importe und Transfers wurden detailliert erstellt. Für alle Materialien und Anlagen wurden IAEO-Inspektionen zur Verifikation des Inventars und des weiteren Betriebes zugelassen. Alles deklarierte Material konnte verifiziert werden, und es wurde keinerlei Entwendung entdeckt.

Der Iran hat das freiwillige Zusatzprotokoll am 18. Dezember 2003 unterzeichnet und bereits vor seinem Inkrafttreten dessen Anwendung erlaubt.4 Sobald Anlagen entdeckt oder vermutet wurden, durfte die IAEO in den meisten Fällen Inspektionen vornehmen oder solche wurden zumindest in Aussicht gestellt. Offene Fragen sieht die IAEO derzeit noch in der Geschichte des Imports von Zentrifugentechnologie direkt und über Mittelsmänner aus Pakistan. Im Fall der Forschungsarbeit zur Laseranreicherung wurden alle Aktivitäten beendet und die Anlagen abgebaut. Nachdem eine Baustelle in Isfahan bekannt wurde, in der angeblich Zentrifugen getestet werden sollten, hat der Iran die Bauarbeiten beendet und eine IAEO-Inspektion dort zugelassen. In Verhandlungen mit der EU-3 Gruppe (Großbritannien, Deutschland, Frankreich) gestand der Iran zunächst zu, alle Nuklearaktivitäten einzufrieren. Ferner gestattet der Iran der IAEO mittels Sondermaßnahmen, die über übliche nukleare Safeguards hinaus gehen, die Einhaltung des eingefrorenen Zustands zu verifizieren.

Vereinbarungen mit der EU

Eine entscheidende Wende nahm die Iran-Krise mit der gemeinsamen Erklärung von Teheran mit den Außenministern der EU-3 im Oktober 2003 und dem Abschluss des Pariser Abkommens zwischen dem Iran und den EU-3 im November 2004. In letzterem verpflichtet sich der Iran,

  • alle zum so genannten Brennstoffkreislauf gehörenden Aktivitäten zu suspendieren,
  • das Zusatzprotokoll zu ratifizieren,
  • alle Anlagen, Aktivitäten und Materialien zu deklarieren und den IAEO-Inspektoren zur Verifikation zu öffnen.

Als Gegenleistung werden dem Iran Kooperation in Fragen der regionalen Sicherheit und der zivilen Nutzung von Kerntechnik sowie ökonomische und technische Unterstützung zugesagt, die noch im Detail auszuhandeln sind. Auch das Angebot der EU-3 für ein langfristiges Abkommen, das dem Iran am 5. August 2005 vorgelegt wurde, bot wenig mehr als wenig spezifische Versprechen sowie die Bestätigung von Zusagen, zu denen ohnehin bereits völkerrechtliche Verpflichtungen bestehen. Ein wichtiger Gewinn für den Iran besteht darin, dass Großbritannien und Frankreich im Angebot vom August 2005 negative Sicherheitsgarantien zusagen (d.h. kein Nuklearangriff der beiden Länder auf Iran).

Dem Iran wird vorgeworfen, seine Zusage, das Nuklearprogramm einzufrieren, gebrochen zu haben. Anfang August kündigte der Iran an, die Produktion von UF6 in der Urankonversionsanlage von Isfahan wieder aufzunehmen. Diese Maßnahme wurde angekündigt und mit den folgenden drei Argumenten begründet:

  • Der Iran hat das Recht auf zivile Nukleartechnik gemäß Artikel IV des NVV, dies sei ihm schon seit den frühen 80er Jahren ungerechterweise vorenthalten und torpediert worden;
  • Der Iran habe seine Verpflichtungen des Pariser Abkommens voll eingehalten, die EU-3 hätten jedoch praktisch nichts gegeben, sie hätten nur Zeit gewinnen wollen, durch lang sich hinziehende Verhandlungen;
  • Die UF6-Produktion fällt nicht unter das in der Teheraner Erklärung von Oktober 2003 vereinbarte Einfrieren, da es selbst keine Anreicherungsaktivität ist. Der Verzicht auf diesen die Anreicherung vorbereitenden Schritt wurde dem Iran erst im Pariser Abkommen vom November 2004 abgerungen.

Die Produktion hat der Iran dann jedoch erst am 16. November 2005 wieder aufgenommen. Die Terminierung der Ankündigung und des Vollzugs deutet daraufhin, dass damit ein klares politisches Signal gesetzt werden sollte. Das Entfernen der Siegel wurde am 1. August, nur wenige Tage vor der geplanten Vorlage eines Angebots der EU-3 entsprechend ihren Verpflichtungen nach dem Pariser Abkommen, angekündigt. So sehr die Terminierung auch provozieren mag, die Handlungen stellen keinen Bruch des NVV dar. Sie können als Bruch des zusätzlichen Zugeständnisses gegenüber den EU-3 im Pariser Abkommen vom November 2004 angesehen werden, wobei der Iran den Standpunkt vertritt, die EU Staaten hätten vorher schon ihre Verpflichtungen aus diesem Abkommen nicht eingehalten.

In seiner Resolution vom 24. September 2005 hat der IAEO-Gouverneursrat festgestellt, dass die schon seit einem bis zwei Jahren bekannten Fehler und Tatbestände der Nichteinhaltung des Safeguards-Abkommens nun als Verstoß im Sinne von Artikel XII.C des IAEO-Statuts zu behandeln seien. Die Resolution droht auch explizit mit der Befassung des UNO-Sicherheitsrates mit den offenen Fragen hinsichtlich der rein friedlichen Intentionen des iranischen Nuklearprogramms.

Militärische Absichten?

Neben den genannten klaren Verstößen gegen Abkommen gibt es Indizien und Vermutungen, die zwar keine Beweise für ein heimliches Kernwaffenprogramm des Iran darstellen, trotz entlastenden Erklärungen erschüttert die große Anzahl von Anhaltspunkten aber die Glaubwürdigkeit des Iran.

  • Derzeit besitzt der Iran kein Kernenergieprogramm, für das angereichertes Uran als Brennstoff benötigt wird. Die Dimensionierung der in Natanz in Bau befindlichen Urananreicherungsanlage wäre nur verständlich, wenn zahlreiche Kernkraftwerke damit versorgt werden sollten. Skeptiker halten das vom Iran geplante Kernenergieprogramm für nicht glaubwürdig, da der Iran über große Erdölreserven verfügt. Allerdings sollte man vorsichtig damit sein, die Glaubwürdigkeit eines Programms in Frage zu stellen, nur weil es nicht als konsistent mit dem nationalen Energieversorgungskontext erscheint.
  • In Arak wird ein 40-Megawatt-Schwerwasserrektor gebaut, der besonders gut für die Produktion von Plutonium geeignet ist.
  • Ein Teil der Urananreichungsbemühungen wird vom Verteidigungsministerium betrieben. Der Iran erklärt das damit, dass das iranische Militär an anderen kommerziellen Industriebetrieben beteiligt sei.
  • Die Gebäude in Natanz, in denen die Urananreicherungsanlage installiert werden soll, wurden komplett unterirdisch gebaut. Die Oberfläche wurde mit Erde bedeckt, als solle die Anlage versteckt werden. Der Iran erklärt dies mit dem Anliegen, die Anlage gegen Gefährdungen aus der Luft zu schützen.
  • Die Firma Kala Electric Company in Abali bei Teheran, in der die von Pakistan gekaufte Uranzentrifuge getestet wurde, war als Uhrenhersteller registriert.
  • Noch bevor Inspektoren im Jahre 2004 im Technologieforschungszentrum Lavizan-Shian eine vermeintliche Biowaffenforschungseinrichtung besuchen konnten, wurde das Gebäude vollständig abgerissen und sogar Boden abgetragen. Der Iran behauptet, das Gelände würde der Stadt gehören und zu einem Park umstrukturiert. Nachprüfungen bestätigten, dass diese Angaben glaubwürdig sind.
  • Als die IAEO im Jahre 2004 die Laseranreicherungsanlage in Lashkar Abad besuchen wollte, wurde sie zunächst zu einem nahe gelegen Ort geführt, offenbar in der Absicht, der IAEO vor Augen zu führen, wie unzuverlässig die Angaben der Oppositionsorganisation NCRI sei. Schließlich führt der Iran die Inspektoren jedoch an den richtigen Ort.
  • Immer noch steht die Inspektion einer militärischen Anlage in Lavizan aus. Dort werden verschiedene Aktivitäten im Zusammenhang mit Urananreicherung vermutet. Unter anderem könnte das in Lashkar Abad demontierte Experiment zur Laseranreicherung dort wieder aufgebaut worden sein.
  • Kleine Proben metallischen Wismuts sind mit Neutronen bestrahlt worden. Dabei entsteht Polonium-210. Dies kann in einem Gemisch mit Beryllium als Neutronenquelle verwendet werden. Diese könnte in Kernwaffen für den Start der Kettenreaktion zum Einsatz kommen. Der Iran erklärte, dass es sich um Forschungen zu zivilen Zwecken gehandelt habe, die nicht abgeschlossen wurden und zudem bereits 13 Jahre zurück lägen. Man hätte das Polonium-210 für die Herstellung von nuklearen Batterien auf der Basis von Radioisotopen verwenden wollen.
  • Noch nicht von der IAEO bestätigt: Der Versuch, Tritium in Südkorea zu beziehen, Beryllium aus China und hochreines Graphit aus Dubai.
  • Wenige Tage vor der IAEO-Gouverneursratssitzung am 24. November 2005 wurde bekannt, dass der Iran technische Unterlagen an die IAEO übergeben hat, in denen die mechanische Bearbeitung von metallischem Uran und insbesondere die Herstellung von Halbkugeln beschrieben wird. Hierfür ist keine zivile Anwendung vorstellbar. Dies ist eine eindeutig militärische Technik, die zur Herstellung der zentralen nuklearen Komponente einer Kernwaffe verwendet werden kann. In den Medien wird die voreilige Schlussfolgerung gezogen, es sei ein neuer und besonders ernst zu nehmender Hinweis auf ein weit fortgeschrittenes Kernwaffenprogramm entdeckt worden. Ganz im Gegensatz dazu wertet die IAEA die Übergabe der Dokumente als einen positiven Schritt zur Erfüllung der geforderten Transparenz und sieht im bekannt werden dieser Unterlagen keinen Vertrauensbruch. Tatsächlich befanden sich die beschriebenen Unterlagen in einem Stoß zahlreicher Dokumente, die der Iran bereits vor rund zehn Jahren vom A.Q. Khan-Netzwerk aus Pakistan unaufgefordert im Zuge der Lieferung von Zentrifugen erhalten hatte. Der Iran beteuert, diese für den Kernwaffenbau wichtigen Informationen weder bestellt noch verwendet zu haben.

Für alle hier aufgeführten Indizien, die vor allem in ihrer Häufung die Vermutung von Kernwaffenambitionen nahe legen, hat der Iran Erklärungen abgegeben, die mit der Unschuldsvermutung vereinbar sind.

Mögliche Positionen

Angesichts der nuklearen Situation im Iran muss jeder Akteur in zweierlei Hinsicht eine Positionsentscheidung vornehmen. Erstens kann man entweder an die Unschuld des Iran glauben, oder man vermutet ein geheimes Atomwaffenprogramm. Zweitens kann man hinsichtlich des NVV entweder den Standpunkt vertreten, der Vertrag sei nicht-diskriminierend anzuwenden, oder man befindet, dass ein Staat der den Vertrag verletzt hat, strenger zu kontrollieren ist und bestimmte Rechte aus dem Vertrag verwirkt hat. Tabelle 2 demonstriert die vier Standpunkte, die sich aus der Kombination dieser zwei antagonistischen Positionen ergeben.

Der Iran sieht sich selber als Opfer eines bereits Jahrzehnte andauernden und sich verschärfenden Verstoßes gegen Artikel IV des NVV, weil ihm der Zugang zu Nukleartechnologien durch die meisten Anbieterländer verwehrt wird.

Sowohl die EU-3 und Russland als auch die USA bestehen auf einer dauerhaften Einschränkung des iranischen Nuklearprogramms. Sie bieten dem Iran nun eine Lösung an, bei der in Russland ein mit dem Iran gemeinsam betriebenes Urananreicherungsprogramm installiert wird. Die Urankonversion in UF6 dürfte der Iran weiter betreiben, müsst aber das UF6-Gas nach Russland liefern. Dort würde Anreicherung und Brennstoffherstellung erfolgen. Der Iran würde an den Gewinnen durch die weltweite Vermarktung beteiligt. Ende Dezember hat der Iran diesen Vorschlag abgelehnt und sein Vorhaben bekräftigt, im eigenen Land Uran anreichern zu wollen.

Dual-Use ist die Quelle der Eskalation

Falls der Iran wirklich ein heimliches Kernwaffenprogramm betreibt oder zumindest betrieben hat, so ist dessen Tarnung aufgrund der Dual-Use-Charakteristik der betreffenden Nukleartechnologien möglich. Dadurch werden eine Entdeckung der wahren Absichten und deren unumstößlicher Beleg zu einer extrem schwierigen Aufgabe.

Falls der Iran wirklich kein heimliches Kernwaffenprogramm betreibt, dann ist die Dual-Use Problematik der betreffenden Nukleartechnologien die Ursache für eine immens friedensgefährdende Eskalation. Im Fall eines unbegründeten Verdachts wütet außerhalb des Iran eine nicht beruhigbare Angst, während innerhalb des Iran eine zunehmende Wut über die ungerechte Behandlung aufsteigt. Wenn die Angst eine Eskalation betreibt, in der sie immer mehr demütigende Behandlungen des Iran einfordert, wird die Wut im Iran unweigerlich einen Trotz heraufbeschwören, der zu einem Ende der Kooperationswilligkeit führt. Die Wiederaufnahme der Urankonvertierung ist bereits ein derartiger Schritt. Im Vorfeld der November-Sitzung des IAEO-Gouverneursrats drohte der Iran mit der Einstellung aller freiwilligen Kooperationen mit den Inspektoren und die Beschränkung auf eine Art Dienst nach Vorschrift gegenüber den Inspektoren, sollte der Fall vor den UNO-Sicherheitsrat gebracht werden.

Was ist zu tun?

Strikte Einhaltung aller Safeguards-Verpflichtungen

Die aufgedeckten Verstöße der Vergangenheit sollten für die IAEO Anlass sein, bei der weiteren Überwachung des Iran alle Möglichkeiten – insbesondere Sonderinspektionen – auszuschöpfen, die das Safeguards-Abkommen und das Zusatzprotokoll bieten. Alle noch bestehenden offenen Fragen und Widersprüche müssen rückhaltlos aufgeklärt werden.

Aber die Erfahrungen zeigen, dass es selbst bei voller Ausschöpfung aller Verifikationsmittel eine äußerst schwierige Aufgabe bleibt, ungemeldete Anlagen und Materialien zu entdecken. Oftmals bedarf es der Hinweise von außen, damit nicht deklarierte Nuklearaktivitäten bekannt werden und inspiziert werden können.

Verbesserung der nuklearen Safeguards

Das Potential bestehender Methoden und Technologien für Safeguards bedarf offenbar bezüglich der Entdeckungschancen nicht-deklarierter Aktivitäten einer weiteren Verbesserung.

Daher hat die Generalversammlung der IAEO im Jahre 2004 beschlossen, die Entwicklung neuer Methoden und Technologien insbesondere zur Implementierung des Zusatzprotokolls zu forcieren. Zur Umsetzung dieses Beschlusses hat die Behörde in 2005 alle Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, sie bei der Suche und Entwicklung neuer Technologien zu unterstützen, durch die undeklarierte nukleare Materialien und Anlagen zu deren Produktion entdeckt werden können. In erster Linie geht es um die Entdeckung des undeklarierten Betriebes von Wiederaufarbeitungs- und Urananreicherungsanlagen.

Eindeutige Zeichen eines Kernwaffenprogramms als Vertragsbruch werten

Ein gravierender Schwachpunkt des NVV-Verifikationssystems liegt darin, dass der Bau von Kernwaffenkomponenten, die nicht spaltbare Materialien beinhalten, offiziell nicht als Beleg für eine Vertragsverletzung verwendet werden können, weil sich die Verifikation ausdrücklich nur auf die nuklearen Materialien bezieht. Die Doppelverwendbarkeit macht es sehr schwer, einen eindeutigen Beleg auf Kernwaffenherstellung zu finden.

Die IAEA darf einschlägige Indizien für ein mögliches Kernwaffenprogramm lediglich zum Anlass nehmen, die ihr zugestandenen Kontrollen der kernwaffenfähigen nuklearen Materialien besonders genau auszuführen. Erst ein Beleg für die Entwendung von Plutonium oder hoch angereichertem Uran darf von der IAEO als Verstoß gegen den NVV angezeigt werden. Wenn ein derartiger Sachverhalt vorliegt, wird allerdings keine Ausrede mehr akzeptiert. Daher würde jegliche nachgewiesene Entwendung von mindestens einer signifikanten Menge waffenfähigen Nuklearmaterials als Verstoß gegen Artikel II des NVV gewertet. Allerdings gibt es Wiederaufarbeitungsanlagen, in denen gelegentlich sogar mehrere signifikante Mengen bei einer Materialbilanzierung unerklärt bleiben. Die Hypothese einer möglichen Entwendung wird nicht ausgesprochen, wenn diese Menge aufgrund statistischer Überlegungen auf Messfehlern beruhen kann.

Verbot oder freiwilliger Verzicht?

Von vielen Seiten wird gefordert, dem Iran den Betrieb von Urananreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen zu verwehren. Neben der Doppelverwendbarkeit gibt es aber noch ein anderes Argument für eine derartige Maßnahme. Sollte ein ziviles Nuklearprogramm existieren, könnte ein geheimes Kernwaffenprogramm weit fortschreiten, bevor es zum Einsatz von spaltbaren Materialien kommt. Sobald der Zugriff auf das Spaltmaterial zum Bombenbau geschieht, wäre es entscheidend, die Materialentwendung sehr schnell zu erkennen. Die IAEO arbeitet mit strikten Zeitvorgaben als Entdeckungsziel, die sich danach richten, wie schnell das Material für den Bau einer Kernwaffe verarbeitet werden kann. Eine zeitkritische Situation möchten manche Beobachter vermeiden, indem im Iran kein direkt verwendbares nukleares Material vorhanden oder produzierbar sein soll.

Ein Verbot bestimmter ziviler Nuklearaktivitäten würde aber gegen Art. IV des NVV verstoßen. Dies sehen manche Experten anders. Sie meinen, dass ein Staat, der in Verdacht steht – und insbesondere wenn er das Safeguards-Abkommen verletzt hat – sein volles Recht nach Art. IV verwirkt hätte. Dem wird sich der Iran nicht beugen.

Das Dilemma zwischen Einhaltung von Art. IV und der militärischen Verwendbarkeit von als zivil deklarierten Anlagen und Materialien könnte gelöst werden, wenn der Iran freiwillig auf deren zivile Nutzung verzichtet. Mittelfristig erscheint es jedoch aussichtslos, einen freiwilligen Verzicht des Iran zu erhalten, selbst wenn er mit Gegenleistungen motiviert wird.

Internationalisierung kritischer Anlagen?

Die Hoffnungen liegen nun auf dem Vorschlag, den Betrieb kritischer Nuklearanlagen zu internationalisieren. Idealerweise soll dann kein einzelnes Land mehr die alleinige physische Kontrolle über das Nuklearmaterial haben. Das ist allerdings in den schon existierenden internationalen Kooperationen zur Urananreicherung wie Eurodif und Urenco nicht realisiert. Sowohl der frühere Vorschlag von Südafrika als auch der neuere von Russland sehen vor, den Iran an der Urananreicherung zu beteiligen, diese jedoch nicht auf seinem Territorium auszuführen.

Man sollte aber nicht vergessen, dass der Iran mit einem ähnlichen Vorhaben schlechte Erfahrungen gemacht hat. Der Iran hat 1974 einen Nuklearkooperationsvertrag mit Frankreich geschlossen und sich als Partner in das europäische Uran-Anreicherungskonsortium Eurodif eingekauft. Als der Iran 1991 angereichertes Uran beziehen wollte, kam es zu einem Rechtsstreit mit Frankreich, weil der Iran seine Zahlungsverpflichtungen in den 1980er Jahren nicht eingehalten hatte. Seither hat der Iran seinen finanziellen Anteil an Eurodif nicht zurück erstattet bekommen und Frankreich hat den USA versprochen, an den Iran kein angereichertes Uran aus dessen Ansprüchen herauszugeben. Wenn Frankreich nun gemeinsam mit anderen Ländern vom Iran verlangt, selbst kein Uran anzureichern, kann man sich vorstellen, wie dies aufgenommen wird. Die offizielle Ablehnung dieses Ansinnens wurde vom Iran Ende Dezember 2005 bekannt gegeben.

Eine internationale Verzichtsnorm

Die einzige Lösung, die über aktuelle Schadensbegrenzungsversuche hinaus geht, besteht darin, eine globale Norm zur Nichtverfügbarkeit von nuklearwaffenfähigen Materialien zu schaffen und die kernwaffenfreie Welt zu realisieren.

Die Technologieverweigerung gegenüber einem einzelnen Land wie dem Iran würde dann weder als Verstoß gegen Artikel IV aufzufassen sein, noch würde ein Land diskriminiert werden.

Das Ziel einer derartigen Verzichtsnorm müsste es sein, den Zugriff auf direkt waffenfähige Nuklearmaterialien über national kontrollierte zivile Programme unmöglich zu machen. Das sollte die folgenden Maßnahmen beinhalten:

  • Keine Wiederaufarbeitung und keine Plutoniumnutzung mehr.
  • Keine Forschungsreaktoren mehr mit HEU betreiben.
  • Die Bestände an unbestrahltem Plutonium durch Abbrand in geeigneten Reaktoren verbrauchen.
  • Die Bestände an HEU durch Vermischung mit Natururan zu niedrig angereichertem Uran konvertieren.
  • Die Urananreicherung auf internationalisierte Anlagen beschränken.
  • Verbliebene Bestände von HEU und Plutonium in mehrfachen Barrieren lagern, die den Zugriff so schwierig wie möglich machen.

Diese Maßnahmen sind bereits früher vorgeschlagen worden, beispielsweise im Konzept für eine Konvention zum umfassenden Ausschluss spaltbarer Materialien (Comprehensive Cutoff Convention)5 und im Modell einer Kernwaffenkonvention (Model Nuclear Weapons Convention).6

Der Aspekt der Nicht-Diskriminierung durch den NVV könnte noch besser realisiert werden, wenn die Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtung aus Artikel VI einlösen würden, ihre Kernwaffen zügig und vollständig abzurüsten.

Zusammenfassung der hier diskutierten Artikel des NVV

Artikel II: Kein Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, darf Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herstellen oder auf andere Weise erwerben.

Artikel III (1) und (2):

Nichtkernwaffenstaaten müssen umfassende nukleare Sicherungsmaßnahmen auf alle Ausgangsmaterialien und alle besonderen spaltbaren Materialien akzeptieren.

Artikel IV:

Zivile Kerntechnik ist ein unveräußerliches Recht für jeden Vertragsstaat und es besteht eine Verpflichtung, die friedliche Nutzung der Kernenergie zu fördern.

Artikel IV des NVV lautet wörtlich: (1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln. (2) Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen…

NVV ohne Diskriminierung * NVV bei Verdacht verschärft anwenden
Irans Nuklearprogramm wird für rein zivil gehalten, bis das Gegenteil erwiesen ist Iran sieht sich als Opfer eines Bruchs von Art. IV des NVV
Kooperation und Transparenz soweit nötig
Kein Verzicht, allenfalls Suspendierung
Bruch von Art. III des NVV
Inspektionen über das vertragliche Maß hinaus
Der Iran wird verdächtigt ein Kernwaffenprogramm zu betreiben, bis alle diesbezüglichen Spuren (Hinweise und Verdachtsmomente) beseitigt sind. Bruch der Art. II und III des NVV
Inspektionen unter voller Ausschöpfung des vertraglichen Maßes
Freiwilligen Verzicht gegen Kompensation aushandeln
Bruch der Art. II und III des NVV
Inspektionen über das vertragliche Maß hinaus
Kein volles Recht mehr auf Art. IV des NVV4
* Gemeint ist hier eine weitere Diskriminierung im Bereich der nuklearen Sicherungsmaßnahmen und bezüglich des Zugangs zu ziviler Nukleartechnik. Dem NVV liegt eine grundsätzliche Diskriminierung der Nichtkernwaffenstaaten gegenüber den durch ihn definierten Kernwaffenstaaten zu Grunde.

Martin Kalinowski wird im März die Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professur für Naturwissenschaft und Friedensforschung an der Universität Hamburg antreten, nachdem er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig war.

zum Anfang | Völkerrechtliche Regelungen zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung

von Regina Hagen

Zur Förderung von Abrüstung und Nichtverbreitung im Bereich nuklearer Waffen, Materialien und Technologien wurden bisher zahlreiche Vereinbarungen abgeschlossen. Dennoch weist das Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregime zahlreiche Lücken auf, die überwiegend dadurch bedingt sind, dass der Bau und Besitz von Atomwaffen – anders als bei biologischen und chemischen Waffen – nicht für alle verbindlich und überprüfbar verboten ist.

Über die völkerrechtliche Illegalität eines Einsatzes von Atomwaffen besteht leider immer noch kein Konsens. Der Internationale Gerichtshof urteilte zwar in einem (ausführlichen und lesenswerten) Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996, dass „die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts« steht.1 Trotzdem betont der Generalstab der US-Streitkräfte in einer 2005 bekannt gewordenen Publikation, dass „weder das Gewohnheits- noch das konventionelle Völkerrecht den Nationen den Einsatz von Atomwaffen in einem bewaffneten Konflikt verbietet.“2 Er leitet daraus das Recht ab, sich den Einsatz von Atomwaffen in einer Vielzahl von Szenarien vor zu behalten (einschließlich der Demonstration des Willens und der Fähigkeiten, Atomwaffen einzusetzen).

Auch die Pflichten aus dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) werden unterschiedlich interpretiert. Während die USA zwar die Verkleinerung, dafür aber auch die Modernisierung und Fortschreibung ihres Atomwaffenarsenals bis zum Jahr 2070 planen und auch alle übrigen Atomwaffenstaaten ihre nuklearen Kapazitäten modernisieren und optimieren, folgerte der Internationale Gerichtshof in seinem Rechtsgutachten aus Artikel VI des NVV einstimmig: „Es gibt eine Verpflichtung, Verhandlungen in gutem Glauben fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“3

Das Versprechen der fünf als offizielle Atomwaffenstaaten anerkannten Länder (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) in Artikel VI des NVV, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“ war Voraussetzung für die Zustimmung der Nicht-Atomwaffenstaaten zu Artikel II, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonst wie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.“4

Weitere Kernpunkte des nur elf Paragraphen umfassenden Vertrags sind das Verbot für Kernwaffenstaaten, Atomwaffen weiter zu verbreiten oder dabei zu helfen (Artikel I), die Pflicht der Nichtatomwaffenstaaten, sich Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation zu unterwerfen, und „das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien (…), unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln“ (Artikel IV).

Der Nichtverbreitungsvertrag wurde 1968 verhandelt, trat 1970 in Kraft und besitzt fast universelle Gültigkeit. Lediglich die (inoffiziellen) Atomwaffenstaaten Indien, Israel und Pakistan haben die Mitgliedschaft in dem Vertragsregime bis heute verweigert. Nord-Korea kündigte 2003 gemäß Artikel X seine Mitgliedschaft im Kontext des eskalierenden Streits über sein vermutetes nukleares Waffenprogramm.

Große Schwierigkeiten bereitet, dass der NVV keinen Zeitpunkt zur Erfüllung der Abrüstungsbemühungen der »Habenden« vorsieht, diese – allen voran die USA – aber eigenmächtig die Rechte der »Habenichtse« definieren wollen und die Verpflichtungen aus dem NVV einseitig in der Nichtverbreitung sehen. Überdies bietet das Recht auf Nutzung der »friedlichen« Kernenergie für ausbruchwillige Staaten den Deckmantel zum Aufbau militärischer Nuklearkapazitäten.

Schon die allererste Resolution der UN-Generalversammlung vom 24. Januar 1946 befasste sich mit der Einrichtung einer Kommission, die Vorschläge ausarbeiten sollte, um einerseits den Austausch wissenschaftlicher Informationen für die »friedliche« Nutzung der neuen Energieform sicherzustellen, andererseits die militärische Nutzung zu unterbinden, vollständige nukleare Abrüstung herbeizuführen und ein Sicherungs- und Inspektionssystem aufzubauen.

Viele Jahre später, 1957, nahm die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) die Arbeit auf. Mit der IAEO wurde der Gedanke von US-Präsident Eisenhower, eine internationale Agentur damit zu betrauen, möglichst vielen Ländern die Vorteile der friedlichen Atomenergienutzung zugänglich zu machen (»Atoms for Peace«), in die Realität umgesetzt. Die IAEO sollte den Spagat versuchen, die Nutzung von Atomtechnologie und den technologischen Transfer zu fördern, die Sicherheit kerntechnischer Anlagen zu erhöhen, und den »Missbrauch« der zerstörerischen Kräfte der Atomenergie zu verhindern.

Der Rolle der IAEO als »watchdog« kam dann ab 1968 noch mehr Bedeutung zu, als sich die Länder mit ihrem Beitritt zum NVV gemäß Artikel III verpflichteten, „mit der Internationalen Atomenergie-Organisation … [Sicherungsmaßnahmen] auszuhandelnden, … damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird.“5

Zur Stärkung dieser »Safeguards« arbeitete die IAEO 1971 das NPT Comprehensive Safeguards Agreement aus, das von der großen Mehrzahl der Nicht-Atomwaffenstaaten unterzeichnet wurde (in 36 Staaten ist ein solches Abkommen bislang nicht in Kraft getreten, 20 davon haben der IAEO noch kein Abkommen zur Genehmigung vorgelegt). Das Safeguards-Abkommen berechtigt die IAEO – nach vorheriger Absprache mit dem betroffenen Staat – zu Routine- und Verdachtsinspektionen vor Ort, zur Entnahme gewisser Proben und zur Installation gewisser Überwachungseinrichtungen. So soll sichergestellt werden, dass ein Mitgliedstaat seine Deklarationspflicht korrekt erfüllt und nicht versucht, Material für militärische Zwecke abzuzweigen.

Als sich im Kontext des Golfkrieges von 1991 herausstellte, dass der Irak seine Deklarationspflichten ignoriert hatte und mit der Produktion waffengrädiger Nuklearmaterialien sowie anderer waffentauglicher Komponenten befasst war, begannen Diskussionen um eine Verschärfung der vorgeschriebenen Sicherungs- und Kooperationsmaßnahmen. Dies mündete 1997 in das Model Additional Safeguards Protocol der IAEO. Dieses Zusatzprotokoll verschärft die Informations- und Deklarationspflichten eines Landes, gewährt IAEO-Inspektoren besseren Zugang zu nukleartechnischen Anlagen über den gesamten Zyklus hinweg (vom Uranbergbau bis zur Abfalllagerung) und erlaubt mehr fest installierte Verifikationssysteme und Probenentnahmen. Die Verhandlungen über das Zusatzprotokoll verlaufen allerdings mit vielen Staaten sehr zäh. In Kraft getreten ist es bislang erst in 69 Staaten, weitere 37 haben das Protokoll unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.

Neben der global ausgerichteten IAEO haben sich über die Zeit auch etliche regionale Vertragssysteme etabliert. Dazu gehören die European Atomic Energy Community (Euratom), die atomwaffenfreien Zonen, die mittlerweile fast die gesamte südliche Erdhalbkugel abdecken, der 2+4-Vertrag, der die ehemalige DDR faktisch zur atomwaffenfreien Zone macht, und die bilaterale Argentine-Brazilian Agency for Accounting and Control of Nuclear Materials ebenso wie multilaterale Vereinbarungen von Staatenbünden, beispielsweise die EU Strategy Against Proliferation of Weapons of Mass Destruction von 2003. Die Zielrichtung dieser Abkommen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Während atomwaffenfreie Zonen den Mitgliedstaaten jeglichen Zugriff auf militärische Nukleartechnologie verwehren, hat Euratom beispielsweise lediglich die Aufgabe, einen fairen Zugang aller Mitgliedstaaten zu Brennstoffen und deren ordnungsgemäße Verwendung sicherzustellen, verbietet aber nicht per se die militärische Nutzung von Nukleartechnologie in den Mitgliedsländern.

Eine Reglementierung der »Anbieterseite« findet ihm Rahmen von Exportkontrollsystemen statt:

  • 1975 schloss sich eine größere Anzahl von Lieferstaaten zur Nuclear Suppliers Group (auch als »London Club« bezeichnet) zusammen, um die Nichtverbreitung zu stärken. Mit Hilfe zweier Richtlinienpakete; eines bezieht sich speziell auf den Export von Nukleartechnologie und -materialien, das andere auf den Export von Dual-use-Gütern, die hier als sowohl für nukleartechnische als auch für andere Zwecke nutzbare Güter definiert werden. Der Gruppe gehören insgesamt 45 Staaten an, darunter auch Deutschland.
  • Eine ähnliche Aufgabe hat das 1972 gegründete Nuclear Exporters Committee, bekannter unter dem Namen Zangger Committee. Das Komitee trifft sich informell, um angesichts der neuesten Entwicklungen im Bereich der Nukleartechnologie die Interpretation von Exportrichtlinien zu diskutieren und zu harmonisieren. Dem Komitee gehören 35 Staaten an, einschließlich der fünf offiziellen Atomwaffenstaaten.
  • Von großer Relevanz für die Nichtverbreitung sind überdies länderspezifische Exportkontrollrichtlinien, die sich in der nationalen Gesetzgebung niederschlagen.

Manche Ländern empfinden die Exporteinschränkungen als diskriminierende Maßnahme, die im Widerspruch zu der in Artikel III des NVV versprochenen »Gleichbehandlung« steht. Besonders gilt das für die von US-Präsident George W. Bush 2003 gestartete Proliferation Security Initiative (PSI), die nach Angaben des US-Außenministeriums inzwischen von mehr als 60 Staaten unterstützt wird (darunter auch Deutschland). PSI will den Transport von Massenvernichtungswaffen, Trägersystemen (vor allem ballistische Raketen) und ähnlichen Komponenten „auf der Erde, in der Luft und zur See zu und von proliferationsverdächtigen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren“ durch aktives Eingreifen in solche Transporte verhindern. Dabei behalten sich die USA das Recht vor, zu bestimmen, wer »verdächtig« ist. Die Problematik wird an folgendem Beispiel deutlich: Würden die USA eine (völkerrechtlich nicht verbotene) Raketenlieferung von Nordkorea an einen Drittstaat abfangen, so wäre diese Handlung juristisch nicht abgedeckt. Sie entspräche dem rechtswidrigen Kapern eines Schiffes.

Viel versprechender scheint da Resolution 1540 des UN-Sicherheitsrates vom April 2004, die geprägt ist von der durch das pakistanische Khan-Netzwerk ausgelösten Sorge, dass die zunehmende „Verbreitung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und ihrer Trägersysteme eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt.“5 Die Resolution untersagt allen Ländern jegliche Unterstützung von Versuchen nicht-staatlicher Akteure, entsprechende Waffen und Trägersysteme „zu entwickeln, zu erwerben, herzustellen, zu besitzen, zu transportieren, weiterzugeben oder einzusetzen.“ Sie schreibt den Ländern zwingend vor, entsprechende Rechtsvorschriften (Gesetze) zu erlassen und verpflichtet sie, generell durch innerstaatliche Gesetze, Vorschriften und Kontrollen die Weiterverbreitung zu verhindern. Über die Maßnahmen zur Umsetzung dieser Resolution müssen die Staaten Bericht erstatten. Sofern sie zur Durchführung der Bestimmungen Hilfe brauchen, sind andere Staaten gehalten, diese Hilfe zu gewähren.

Im Gegensatz zu den multilateralen Abkommen und Initiativen zur Nichtverbreitung (zu denen ich in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber auch die atomwaffenfreien Zonen zähle) wurde die nukleare Abrüstung – mit Ausnahme des vagen Versprechens in Artikel VI des NVV – bislang lediglich bilateral vereinbart, und zwar bis auf einen Sonderfall (Abkommen zwischen Nord- und Südkorea zur Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel von 1992) ausschließlich zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland. Überdies führte lediglich der Mittelstreckenvertrag (INF-Vertrag) von 1987 tatsächlich zur Abschaffung einer kompletten Waffenkategorie und zum Abzug und der Vernichtung sämtlicher auf beiden Seiten stationierten Waffen dieses Typs (Pershing-II, Cruise Missile, SS-20). Alle anderen Abkommen zwischen diesen beiden Ländern – SALT I (1972), SALT II (1979), START I (1991) und SORT (2002) – verpflichten nicht zur Abschaffung von Atomwaffen sondern geben Obergrenzen vor, wie viele strategisch einsetzbare Atomwaffen jeweils im so genannten operativen Status vorgehalten werden dürfen. Folglich sind auf beiden Seiten nach wie vor mehrere tausend ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen bestückt und in ständiger Alarmbereitschaft.

Initiativen zahlreicher Gruppen der Zivilgesellschaft, die Staatengemeinschaft zu Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention zu bewegen, die Atomwaffen ausnahmslos verbietet, wurden in den vergangenen Jahren zwar auch auf Ebene der Vereinten Nationen immer wieder aufgegriffen, scheiterten aber an der Weigerung der etablierten Atomwaffenstaaten.

Literatur

Jozef Goldblat: Arms Control. The New Guide to Negotiations and Agreements (mit sämtlichen Vertragstexten auf zugehöriger CD), Sage Publications, 2. Ausgabe, 2002.

www.atomwaffena-z.info

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und Mitglied der Redaktion von W&F.

zum Anfang | Zwei Seiten einer Medaille

Die Rolle der IAEO bei der Verflechtung von Atomwaffen und Atomenergie

von Xanthe Hall

Nach der Entwicklung und den ersten beiden Einsätzen von Atomwaffen schrieb der damalige Kriegsminister Henry Stimson an US-Präsident Truman: „Wenn wir der Sowjetunion versagen, sich uns anzunähern und bloß großtuerisch mit dieser Waffe an der Hüfte weiter verhandeln, werden Verdacht und Misstrauen hinsichtlich unserer Intentionen und Motivationen wachsen. (…) Die wichtigste Lehre meines langen Lebens ist, dass der einzige Weg, einen Mann vertrauenswürdig zu machen, ist, ihm zu vertrauen; und der sicherste Weg, ihn nicht vertrauenswürdig zu machen, ist, ihm nicht zu vertrauen und ihm dieses Misstrauen zu zeigen.“1 Darauf hin teilte Truman in einer Nachricht dem US-Kongress mit: „Die Hoffnung der Zivilisation liegt in internationalen Regelungen, die, wenn möglich, den Verzicht auf den Einsatz und die Entwicklung der Atombombe vorschreiben und alle zukünftigen wissenschaftlichen Informationen in Richtung friedlicher und humanitärer Zwecke lenken und fördern.“

Der Vorschlag führte im November 1945 zu einer Erklärung von US-Präsident Truman und den Premierministern Großbritanniens und Kanadas, Atlee und King, dass neue Erfindungen im Bereich der Atomenergie nicht für destruktive Zwecke sondern zum Vorteil der Menschheit genutzt werden sollten, vorausgesetzt dass effektive und durchsetzbare Kontrollmechanismen gegen einen Missbrauch entwickelt werden könnten.

Dennoch gab es von Anfang an Stimmen, die vor den Gefahren der Verbreitung der Atomenergie für friedliche Zwecke warnten. Beispielsweise das Acheson-Lilienthal-Komitee,2 das für den US-Außenminister zur Vorlage bei den Vereinten Nationen Vorschläge für die Kontrolle der Atomenergie ausarbeiten sollte. Das Komitee schlussfolgerte, dass schon die Idee der friedlichen Nutzung das Risiko der nuklearen Weiterverbreitung von Atomwaffen in sich trüge, weil das Streben nach Atomenergie und das Streben nach Atomwaffen zu einem erheblichen Teil untereinander auswechselbar seien. Ein internationales System, das sich nur auf Gutgläubigkeit stütze, sei zum Scheitern verurteilt:

»(…) Auch wenn Nationen vereinbaren mögen, Atomenergie, die innerhalb ihrer Landesgrenzen entwickelt wurde, nicht in Bomben einzusetzen, wäre die Zusicherung, dass eine Umwidmung für destruktive Zwecken nicht erfolgt, lediglich durch das Versprechen und die Glaubwürdigkeit der Nation selbst abgedeckt. Die nationale Gutgläubigkeit wird dadurch einem enormen Druck ausgesetzt. Ja, sie begründet sogar den Verdacht anderer Nationen, dass das Nachbarland sein Wort nicht einhalten wird.«

(…) Wir sind zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen, dass es keine Aussicht auf Sicherheit gegen atomare Kriegsführung innerhalb eines internationalen Vertragsregimes zum Verbot solcher Waffen gibt, solange zur Kontrolle der Vertragseinhaltung lediglich Inspektionen und polizeiliche Maßnahmen zur Verfügung stehen.“3

Diese Kritik ist heute richtiger denn je, zu einer Zeit, in der sich der Nichtverbreitungsvertrag auf die technischen Werkzeuge der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) stützt, um sich seiner politischen Zielsetzung zu versichern: einen Tausch mit dem Versprechen der Atomwaffenstaaten, ihre Atomwaffen abzuschaffen und Atomtechnologie und -Wissen für die zivile Nutzung zu liefern. Im Gegenzug verzichten die atomwaffenfreien Staaten gänzlich auf Atomwaffen.

Ein weiterer Satz aus dem Bericht des Komitees von 1946 trifft haargenau die heutige Situation. Er zeigt anhand des Problems der Urananreicherung (beispielsweise im Iran), dass das jetzige System nicht funktioniert: „Wir sind davon überzeugt, dass, wenn die Herstellung spaltbarer Materialien durch nationale Regierungen (oder Privatorganisationen unter ihrer Kontrolle) erlaubt wird, Inspektionssysteme alleine keine effektiven Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der beteiligten Staaten gegen die Gefahren durch Verstöße und Hintergehen sein können.“4

»Atoms for Peace«

Die Weitergabe der Atomenergie für zivile Zwecke trieb US-Präsident Eisenhower in seiner bekannten »Atoms for Peace«-Rede vor der UNO im Jahr 1953 noch weiter. Darin schlug er zur Verhinderung der Weiterverbreitung der Atomwaffen vor, dass Atomgeheimnisse zur »Besserung der Menschheit« von allen geteilt werden sollten. Der Kern dieser Idee war eine »Uranbank«, in der die USA und die Sowjetunion ihre militärischen Uranvorkommen für »friedliche« Zwecke zusammenlegen sollten.5

Das »Atoms for Peace«-Programm wurde zu einer massiven Werbekampagne für die Vorteile der zivilen Nutzung der Atomenergie für Medizin, Landwirtschaft und Forschung. Der Medienrummel in den USA führte dort zu einem weitgehend positiven Bild der Atomkraft, während das Programm in der Sowjetunion zu Recht als Propaganda verurteilte wurde. Schwerpunktmäßig war das Programm ein außenpolitisches, das die westlichen Alliierten an die USA und an den Kapitalismus binden sollte. Gleichzeitig demonstrierten die USA damit ihre militärische und atomare Vormacht.

Am Ende hatte das »Atoms for Peace«-Programm wenig mit der Eisenhowerschen Uranbank zu tun. Stattdessen entstand eine Sammlung von Abkommen über die technische Zusammenarbeit auf der Grundlage eines Systems von Sicherungsmaßnahmen, dessen Regelung die IAEO übernahm. Unter dem Schirm des Programms verkaufte die westliche Atomindustrie Forschungsreaktoren und schloss mit vielen Ländern Atomabkommen. Ausländische Wissenschaftler und Ingenieure durften an US-amerikanischen Nuklear-Forschungsprojekten teilnehmen. Indien erhielt z.B. 1955 einen kanadischen Forschungsreaktor und schweres Wasser aus den USA, die zur Herstellung des Plutoniums für Indiens erste im Jahr 1974 getestete Atombombe führten. Mehr als eintausend indische Wissenschaftler nahmen von 1955 bis 1974 an US-Forschungsprojekten teil, und die USA halfen Indien beim Bau der Tarapur-Reaktoren. Aber auch die Sowjetunion lieferte atomares Wissen, insbesondere nach China. Die Lust auf Mitgliedschaft im nuklearen Club war so groß, dass sogar Entwicklungsländer um die Lieferung eines Forschungsreaktors baten, obwohl sie keine Fachleute hatten, um diesen zu betreiben. Nukleare Kompetenz wurde zum Synonym für das Selbstbewusstsein eines Landes.

Es formte sich eine internationale Allianz aus Regierungen, die die Vorteile der zivilen Nutzung der Atomenergie verkaufte. Diese Allianz mündete 1957 in der Einrichtung der IAEO. Die Atomenergiebehörde wurde zum größten Werber für Atomenergie und »Drücker« nuklearer Stoffe und Technologien. In ihrem Statut steht geschrieben, die »friedliche« Nutzung der Atomenergie sei zu fördern, und das tat sie immer wieder, in dem sie z.B. voraussagte, dass Uganda drei und Liberia zwei Atomanlagen für ihren Fortschritt bräuchten.

Die untrennbare Verbindung

Viele Länder verbargen hinter der Tarnung eines zivilen ihr militärisches Programm. Der Hauptgrund für den Enthusiasmus der meisten Regierungen für das »Atoms for Peace«-Programm blieb vorrangig der militärische Aspekt. So haben z.B. Schweden, die Schweiz, Spanien und Italien geheime Atomwaffenprogramme durchgeführt.6 Auch Bonn wollte seine atomare »Option« offen halten, um seinen politischen Einfluss in der NATO zu erhöhen und die Sowjetunion aus Ostdeutschland zu vertreiben.

Weiterhin nutzten Argentinien, Südafrika, Brasilien und Libyen ihre zivilen Programme, um unter diesem Deckmantel Atomwaffenprogramme zu betreiben, auch wenn sie diese schließlich aufgaben. Nordkorea behauptet jetzt Atomwaffenstaat zu sein; auch hier wurde der Atomwaffenkomplex im Rahmen eines zivilen Programms aufgebaut. Indien, Pakistan und Israel besitzen Atomwaffen, die durch zivile Projekte ermöglicht wurden, und sie bauen ihre Arsenale nach wie vor weiter aus.

Heutzutage gibt es nur drei Möglichkeiten, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen: einen bestehenden Atomsprengsatz zu kaufen, zu stehlen oder ihn mit Hilfe eines Atomenergieprogramms zu bauen. Nichtstaatliche Akteure (von manchen Terroristen genannt) würden vermutlich von Staaten, die den dritten Weg bereits beschritten haben, den Sprengsatz kaufen oder stehlen.

Ist die Absicherung der Nichtverbreitung möglich?

Das von der IAEO betriebene Kontrollsystem für die Absicherung der Nichtweiterverbreitung (»Safeguarding«) ist sehr lückenhaft. Heute stehen technische Informationen für den Bau einer Atombombe im Internet oder in Bibliotheken frei zur Verfügung, die im Westen als veraltet gelten, aber dennoch für eine primitive Waffe ausreichen würden. Die Arbeit der IAEO ist zum großen Teil abhängig von freiwilligen Berichten (Deklarationen), gefolgt von Inspektionen. Manchmal führte dies zur Entdeckung heimlicher Programme, wie in Nordkorea und im Iran, wo die Berichte nicht mit den Proben vor Ort zu vereinbaren waren. Solche Differenzen sind aber nie frei von politischer Befangenheit. So kann beispielsweise die geschätzte Menge des Plutoniums in einer Wiederaufbereitungsanlage in Frankreich, Japan oder Großbritannien um bis zu 30% von der gemessenen Menge abweichen. Die IAEO behauptet, dass der internationale Standard nur bei plus/minus ein Prozent liegt. Im Falle der japanischen Tokaimura-Anlage, die MOX-Brennstoff herstellt, konnten jedoch 70 Kilogramm nicht aufgefunden werden. Das ist genügend Spaltmaterial für etwa acht primitive Atomwaffen. Die IAEO musste zwei Jahre über das Abschalten der Anlage verhandeln, um sie durchsuchen zu können, und trotzdem blieben zehn Kilogramm spurlos verschwunden.7

Im Gegensatz dazu waren die Mengen, die im Iran und Nordkorea gefunden wurden, nur im Grammbereich messbar und lösten dennoch internationale Krisen aus. Im Falle Nordkoreas bestätigte diese Behandlung die Paranoia des Regimes und trug zu dem Entschluss Nordkoreas bei, Atomwaffen entwickeln zu wollen oder zumindest deren Besitz zu behaupten. Im Falle des Iran fehlen laut IAEO die stichhaltigen Beweise, dass bereits ein Atomwaffenprogramm besteht. Dennoch treibt die internationale Gemeinschaft unter Anführung der USA und Israels den Iran durch Isolierung und Drohungen immer weiter in Richtung Atomwaffenbau.

Jeder Mitgliedstaat des NVV verpflichtet sich, innerhalb von 24 Monaten nach Beitritt ein umfassendes Safeguards-Abkommen (Safeguards Agreement) mit der IAEO abzuschließen. Die offiziellen Atomwaffenstaaten sind nicht verpflichtet, zivile Anlagen zur Inspektion zu öffnen, können dies aber freiwillig zulassen, was einige auch sporadisch tun. Die Abschlüsse des weiter reichenden Zusatzprotokolls (Additional Protocol) erfolgen im Allgemeinen sehr schleppend, weil es nicht zwingend rechtlich erforderlich ist und vielen Ländern die Motivation zu unterschreiben fehlt. Von den 188 Mitgliedsstaaten des NVV haben sich nur 69 Staaten durch ein in Kraft getretenes Zusatzprotokoll verstärkten Safeguards unterworfen. Ohne dieses Zusatzprotokoll kann die IAEO die freiwillig abgegebenen Erklärungen der Länder nicht verifizieren. Die Finanzierung des Kontrollsystems ist im Vergleich zu den riesigen Summen, die für Atomprogramme weltweit ausgegeben werden, sehr gering.

Das Abkommen der IAEO mit der WHO

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die IAEO schlossen 1959 ein Kooperations- und Konsultationsabkommen und vereinbarten, sich gegenseitig bei all den Themen zu konsultieren, an denen sie ein gemeinsames Interesse haben könnten: „Wenn eine der beiden Organisationen vor hat, ein Programm oder eine Aktivität zu einem Thema zu starten, an dem die andere Organisation ein erhebliches Interesse hat oder haben könnte, konsultiert die erste Partei die andere mit dem Ziel, die Angelegenheit im gegenseitigen Einverständnis abzustimmen.“8

Die Klauseln in Artikel III,2 und III,3 des Abkommens legen Regeln für den Informationsaustausch fest: „Vorbehaltlich solcher Regelungen, die zum Schutz vertraulicher Informationen notwendig sein können, halten sich das Sekretariat der Internationalen Atomenergieorganisation und das Sekretariat der Weltgesundheitsorganisation gegenseitig voll umfänglich informiert über alle Vorhaben und Arbeitsprogramme, die für beide Parteien von Interesse sein könnten“ und regeln, dass „auf Wunsch einer Partei Konsultationen angesetzt werden bezüglich der Übermittlung … spezieller Informationen , die für die jeweils andere Seite von Interesse sein könnten.“

Die Folgen dieses Abkommens wurden besonders nach der Tschernobyl-Katastrophe deutlich, als die IAEO (und nicht die WHO) über die Gesundheitsfolgen der radioaktiven Verseuchung Bericht erstattete. Die IAEO folgt der Vorgehensweise der Internationalen Strahlenschutzkommission und leugnet im wesentlichen, dass die katastrophalen Gesundheitsprobleme der vom radioaktiven Fallout betroffenen Bevölkerung mit der Strahlung aus dem Reaktor zu tun habe. Die IAEO behauptet noch immer, dass bislang nur 59 Menschen an den Folgen des Unfalls gestorben seien. In einer Pressemeldung vom September 2005 über den Bericht des Tschernobyl-Forums listet die IAEO 50 direkte Todesfälle infolge des Unfalls auf, vor allem Rettungsarbeiter, sowie neun an Schilddrüsenkrebs gestorbene Kinder. „Insgesamt«, kommt der Bericht zum Schluss, „könnten bis zu viertausend Personen an der Strahlung sterben, die durch den Reaktorunfall in Tschernobyl vor 20 Jahren freigesetzt wurde.“9

Diese Aussage verharmlost u.a. den massiven Anstieg an Schilddrüsenkrebsfällen bei Erwachsenen und den Anstieg bei den anderen Krebsarten. 1999 war die Inzidenz von Schilddrüsenkrebsen bei Erwachsenen in Weißrussland bereits auf mehr als das Fünffache im Vergleich zum 10-Jahres-Mittelwert vor Tschernobyl angestiegen. Mehrere tausend zusätzliche Schilddrüsenkrebsfälle bei Erwachsenen wurden nachgewiesen. Auch ein Anstieg anderer Krebserkrankungen wurde registriert, ein Anstieg aller Krebserkrankungen in Weißrussland, insbesondere ein Anstieg der Kinderleukämien um 50 % und ein Anstieg von Brustkrebs.

Die WHO hält sich in ihren Aussagen zu den medizinischen Folgen von Tschernobyl bedeckt. Auf ihrer Webseite steht zu lesen: „Der Tschernobylunfall verursachte den Tod von 30 Arbeitern auf dem Reaktorgelände, die Krankenhausbehandlung von 200 weiteren Arbeitern, und er setzte 6,7 Millionen Menschen ionisierender Strahlung durch radioaktive Aerosole im Fallout aus. Dieses verursachte einen Anstieg des Schilddrüsenkrebses bei Kindern in den betroffenen Gebieten um das Zehnfache.»

Wie verhindern wir die Verbreitung von Atomwaffen?

Der Leiter der IAEO, Mohammed ElBaradei, rügte die Atomwaffenstaaten im November 2005 erneut, dass die Abrüstung der Atomwaffen zu schleppend vorangehe. Nach dem Ende des Kalten Krieges gebe es zu wenig Fortschritt bei der Abnabelung von den Atomwaffen, so ElBaradei. Dies fördere eine Atmosphäre des Zynismus. „Das Vertrauen in die Abrüstungsverpflichtungen wäre messbar größer, wenn die Atomwaffenstaaten etwas unternehmen würden, um die strategische Rolle der Atomwaffen zu reduzieren.“10

Solche Aussagen sind wichtig; dafür verdient ElBaradei den Friedensnobelpreis. Auch seine Vorschläge für die Verhinderung der Weiterverbreitung sind sehr hilfreich, insbesondere um weitere Kriege zu vermeiden. Dennoch verhält er sich, als ob das Problem erst durch die Krisen um Nordkorea und den Iran und die Existenz des illegalen Nuklearhandels durch das pakistanische Khan-Netzwerk ausgelöst worden seien.

ElBaradei umschifft damit das Grundproblem der Organisation der er vorsteht: Die Atomenergie wird weiterhin gefördert, Atomtechnologien werden weiterhin an Länder verkauft, und seine Organisation trägt diesen Fehler mit. Zugleich schlägt er Zwischenschritte vor, die scheinbar vernünftig sind, wie z.B. die Einschränkung der Herstellung von spaltbaren Materialien durch Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung, verschärfte Exportkontrollen, mehr Inspektionsrechte und internationale Kontrollen über mehr Anlagen. Dann aber begründet ElBaradei solche Maßnahmen mit der Sicherung des aktuellen Systems, unter dem alle Länder »die Vorteile« der Atomtechnologie weiterhin genießen können sollen.

Das globale Netzwerk für die Abschaffung aller Atomwaffen, »Abolition 2000«, fordert eine Internationale Behörde für erneuerbare Energien als UN-Organ, um der Förderung der Atomenergie entgegen zu wirken. Der Vorschlag des deutschen Politikers und EUROSOLAR-Präsidenten Hermann Scheer, mittels eines Zusatzprotokolls zum NVV Ländern konkrete Hilfsangebote bei der Entwicklung und dem Einsatz erneuerbarer Energien anzubieten, könnte als Alternative zum problematischen, die Nutzung von Atomenergie fördernden Artikel IV des NVV dienen und dazu motivieren, die Finger von der Atomtechnologie zu lassen.

Doch wenn die sicherheitspolitische Lage weltweit weiterhin so angespannt bleibt, werden diese Ideen nicht wirksam werden können. Von den Atomwaffenstaaten muss ein glaubwürdiges Signal an die »Möchtegern-Staaten« ausgehen, dass sie bereit sind, für eine atomwaffenfreie Welt zu arbeiten. Schließlich brauchen wir einen umfassenden Vertrag, der die Abschaffung aller Atomwaffen regelt: eine Nuklearwaffenkonvention entsprechend den Konventionen für chemische und biologische Waffen.

Der Streit um den Friedensnobelpreis an die IAEO verdeutlicht, dass viele Organisationen und Staaten die Verbindung zwischen Atomwaffen und Atomenergie immer noch nicht erkennen wollen. Lieber werden die Kontrollen verschärft, was ein bereits diskriminierend wirkendes System noch ungerechter werden lässt.

Faktisch gibt es Staaten, die Atomwaffen besitzen dürfen, gemäß NVV allerdings nur vorübergehend, während sie einen Modus für deren vollständige Abschaffung ausarbeiten. Weiter gibt es Länder, die Plutonium abtrennen oder Uran anreichern dürfen und damit die Atomwaffenoption besitzen. Schließlich gibt es jene Staaten, die fortschrittliche Atom- oder Dual-use-Technologien zukünftig nicht erhalten werden, weil sie als »unsicher« gelten. Damit ist die nukleare Frage – wieder einmal – eine Frage der Weltordnung und der Macht. Diese Macht definiert sich weiterhin durch die Fähigkeit der Weltzerstörung.

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin bei den deutschen Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in der Geschäftsstelle in Berlin.

Anmerkungen

Kalinowski, Martin B.: Das Nuklearprogramm des Iran – zivil oder militärisch?

1) Die Abtrennung von 0.2 Milligramm Plutonium wird hier aufgrund der geringen Menge nicht als Produktion von Plutonium gewertet, sondern als Test der Plutoniumproduktion. Dieser mögliche Zugang zur kernwaffenfähigem Spaltmaterial wurde jedoch 1992 beendet.

2) Das Safeguards-Abkommen wurde am 15. Mai 1974 zwischen der IAEO und dem Iran abgeschlossen. Ähnliche Abkommen, mit deren Hilfe die Abzweigung atomwaffentauglicher Materialien aus zivilen Nuklearprogrammen ausgeschlossen werden soll, hat die IAEO mit der Mehrzahl aller Staaten vereinbart.

3) Ein Target ist Material, auf das man Strahlung auftreffen lässt, um in der Materie Kernumwandlungen hervorzurufen.

4) Das Zusatzprotokoll (Additional Protocol) wurde von der IAEO zur weiteren Stärkung von Safeguards 1998 eingeführt und ist für die Staaten gedacht, die mit der IAEO zuvor bereits ein Safeguards-Abkommen geschlossen haben. Ein solches Protokoll tritt üblicherweise nach der Ratifizierung in Kraft.

5) Siehe Kalinowski, M.B.: Outline of a Comprehensive Cut-Off Convention. In: Kalinowski, M.B. (Hrsg.): Global Elimination of Nuclear Weapons, Nomos Verlag: Baden-Baden 2000.

6) Siehe Datan, M.; Ware, A.; Kalinowski, M.; Scheffran, J.; Seidel, V.; Burroughs, J.: Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention, herausgegeben von IPPNW/IALANA/INESAP, Übersetzung durch Regina Hagen, Berlin 2000.

Hagen, Regina: Völkerrechtliche Regelungen zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung

1) Absatz 105(2)E des Rechtsgutachtens (Advisory Opinion) des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen vom 8. Juli 1996, im vollen (deutschen) Wortlaut abgedruckt in: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation, Analysen, Hintergründe, LIT-Verlag, Münster, 1997.

2) United States Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Publication 3-12, Final Coordination (2), 15 March 2005, S. 1-9.

3) Advisory Opinion, op.cit, Absatz 105(2)F.

4) Die offizielle deutsche Fassung des NVV steht unter www.atomwaffena-z.info/pdf/NPT-Vertrag.pdf.

5) Ibid.

6) Der Text steht in offizieller deutscher Übersetzung unter www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/friedenspolitik/abruestung/resolution1540.pdf.

Hall, Xanthe: Zwei Seiten einer Medaille – Die Rolle der IAEO bei der Verflechtung von Atomwaffen und Atomenergie

1) Memorandum von Henry L. Stimson an Harry S. Truman, 11. September 1945 (eigene Übersetzung).

2) Komiteemitglieder: Dean Acheson, Vannevar Bush, James Conant, Leslie Groves, John McCloy.

3) The Acheson-Lilienthal Report. Report on the International Control of Atomic Energy, 16. März 1946 (eigene Übersetzung).

4) Ibid.

5) Leonard Weiss: Atoms for Peace, in: Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 2003.

6) Roland Kollert: Die Politik der latenten Proliferation, Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 1994.

7) Paul Leventhal: Safeguards Shortcomings – a critique, Nuclear Control Institute, Sept. 1994.

8) Agreement Between the International Atomic Energy Agency and the World Health Organization, Artikel I,3, IAEA INFCIRC/20 von 23. September 1960 (eigene Übersetzung).

9) IAEO-Presseaussendung vom 5. September 2005: Tschernobyl: Das wahre Ausmaß des Unfalls – 20 Jahre später legt ein UN-Bericht definitive Antworten vor und zeigt die Wege zur Rückkehr zu einem normalen Leben. Ein »Digest Report« wurde vorgelegt als: The Chernobyl Forum: Chernobyl´s Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts and Recommendations to the Governments of Belarus, the Russian Federation and Ukraine, September 2005.

10) Reuters: ElBaradei says nuclear states too slow disarming, Washington, 7. November 2005 (eigene Übersetzung).

Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

Neue Gefahren und die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Lothar Liebsch, Ottfried Nassauer, Götz Neuneck, Jürgen Scheffran, Wolfgang Schlupp-Hauck und Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Nuklearer Supermarkt oder nuklearwaffenfreie Welt?

von Regina Hagen

»Wenn die Welt ihren Kurs nicht ändert, riskieren wir die Selbstzerstörung. Der gesunde Menschenverstand wie die jüngsten Ereignisse machen mehr als klar, dass der nukleare Nichtverbreitungsvertrag… an die Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. …Wir brauchen dringend einen Fahrplan für die Abrüstung von Atomwaffen – und anfangen sollten wir mit einer deutlichen Reduzierung der 30.000 Atomsprengköpfe, die es nach wie vor gibt. …Wir dürfen nicht länger dem Irrglauben anhängen, dass das Streben nach Atomwaffen bei einigen Ländern moralisch verwerflich ist, während wir bei anderen moralisch akzeptieren, dass sie für ihre Sicherheit auf Atomwaffen bauen.»

Mohamed elBaradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), kennt sie genau, die alten und die neuen Gefahren des Nuklearzeitalters. Und in der Tat halten Experten die Situation für gefährlicher als auf den ersten Blick erkennbar.

All zu lange setzten wir auf das Prinzip Hoffnung:

  • Hoffnung darauf, dass die USA und Russland schon noch zu substantiellen Abrüstungsvereinbarungen kommen, wenn die absurde Anzahl einsatzbereiter Atomwaffen in ihrer Monstrosität nach dem Ende der Blockkonfrontation noch deutlicher wird;
  • Hoffnung darauf, dass einseitig interpretierte und damit wacklige völkerrechtliche Vereinbarungen halten und die nuklearen Habenichtse sich mit ihrem Status abfinden;
  • Hoffnung darauf, dass Atomwaffen und -materialien gut bewacht und gesichert würden und ein Transfer in »falsche Hände« somit ausgeschlossen sei;
  • Hoffnung darauf, dass Abschreckung weiterhin den Atomkrieg verhindert;
  • Hoffnung darauf, dass ein Wunder passiert und Atomwaffen irgendwann einfach verschwinden.

Das erste nukleare Zeitalter ist noch nicht vorbei

„Aus Protest gegen die Aufrüstung haben mehr als zwei Millionen Demonstranten eine fast 500 Kilometer lange Menschenkette gebildet. Sie reichten sich am Samstag die Hände und riefen Parolen wie »Für Frieden – gegen Raketen«.“ Die Kundgebung richtete sich gegen Raketen des Landes X, die auf Y gerichtet sind.

Lange her und maßlos übertrieben, wird sich jetzt manche/r denken. Die Menschenkette von Stuttgart nach Ulm, 100 Kilometer quer über die Schwäbische Alb, fand schließlich schon vor über 20 Jahren statt und brachte rund eine viertel Million Menschen auf die Beine, die sich gegen Rüstung und »Nachrüstung« wandten. Die US-Mittelstreckenraketen des Typs Pershing-II, damals als Gegengewicht zu den russischen SS-20 auf deutschem Boden stationiert, sind auch schon längst verschrottet.

Gefahr vorbei, Problem gelöst? Weit gefehlt! Die oben zitierte Zeitungsmeldung lief am 29. Februar 2004 über die Ticker der Nachrichtenagenturen. Die Menschenkette fand am Tag zuvor in Taiwan statt und richtete sich gegen einige Hundert chinesische Kurz- und Mittelstreckenraketen, die auf dem Festland stationiert und – zu einem erheblichen Teil mit Atomsprengköpfen bestückt – auf die »abtrünnige« Inselrepublik gerichtet sind. Die Gefahr, sich eines Tages im nuklearen Schlachtfeld wiederzufinden, scheint in Europa verschwunden. In Taiwan ist sie sehr präsent.

Auch wenn US-Präsident George W. Bush betont, „Amerika wird nicht zulassen, dass uns Terroristen und gefährliche Regime mit den gefährlichsten Waffen der Welt bedrohen,« so kann das nicht von der Tatsache ablenken, dass die Welt heute vor allem von den 30.000 Atomwaffen der fünf offiziellen Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA bedroht wird. Diese Länder haben in den letzten 35 Jahren ihre Verpflichtungen aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag hartnäckig ignoriert und ihre Atomwaffen nicht wie versprochen vollständig abgerüstet. Ganz im Gegenteil:

  • Solange die einzig verbliebene Supermacht trotz ihres überwältigenden konventionellen Waffenarsenals und ihrer fast unangefochtenen Möglichkeiten der High-Tech-Kriegsführung in ihren Militärdoktrinen für Atomwaffen eine Schlüsselrolle vorsieht, gibt es keinen Grund für »kleinere« Länder, darauf zu verzichten. Ersteinsatz, Einsatz gegen Nicht-Atomwaffenstaaten, vorbeugender Einsatz zur Verhinderung von Proliferation – die »Optionen« der USA heizen die Rüstungsspirale an. Das Land gibt Milliardensummen für seine Atombewaffnung aus. Die Einsatzbereitschaft des Arsenals wird mit modernsten Technologien garantiert, selbst neue Tests werden nicht mehr ausgeschlossen. »Mini-Nukes« klingen harmlos und sind dennoch gefährlich. »Bunkerknacker« bieten die Illusion eines führbaren Atomkriegs. Die Verteidigungslinie wird in den Weltraum verlagert. Und Raketenabwehr gaukelt den Schutz der eigenen Heimat vor.
  • Russland muss zwar sparen, zur Reaktion reicht es allemal. Modernisierte Langstreckenraketen, mit mehreren Sprengköpfen bestückt, hochmanövrierbar bis zum letzten Augenblick, sollen
  • »Raketenabwehrsysteme durchdringen«. So, verkündet Präsident Putin, „bleibt Russland (eine) große Atomraketenmacht«. Seit Jahren vergammelt das russische Frühwarn- und Kontrollsystem, somit steigt das Risiko von Fehlinterpretation und einem versehentlichen »Vergeltungsschlag«. Kompensiert wird dies mit einer unsinnigen Ersteinsatz-Doktrin.

  • Auch China rüstet zur Überwindung des geplanten amerikanischen Abwehrschirms. 200 statt 20 interkontinentale Raketen sollen die »Zweitschlagfähigkeit« sicherstellen, auch gegen eine US-Raketenabwehr. Modernere Technik ermöglicht bald eine Einsatzbereitschaft rund um die Uhr. Gleichzeitig wird das gegen Taiwan gerichtete Arsenal ständig ausgebaut.
  • Europa hat mit Großbritannien und Frankreich zwei Atommächte in der Union, die ihr Arsenal ebenfalls modernisieren. Hinzu kommt, dass im NATO-Krisenfall europäische Länder ein Mitspracherecht beim Einsatz des US-Arsenals haben.

In den USA ist angesichts der Neudefinition und Verschiebung der weltweiten nuklearen Arsenale nach dem Kalten Krieg die Rede vom zweiten nuklearen Zeitalter – ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass die Gefahren des ersten noch längst nicht überwunden sind.

Von Schlupflöchern und nuklearen Supermärkten

Der bisher eingeschlagene Weg zur nuklearen Abrüstung ist erkennbar gescheitert. Dasselbe trifft auf die Nichtverbreitung zu. Jayantha Dhanapala, bis 2003 stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstung, fürchtet einen weltweiten Wettlauf nach Atomwaffen: »Dann bricht die Hölle los. Es werden sich immer weitere Länder und Terroristen finden, die Atomwaffen einsetzen. Wir befinden uns auf dem Weg nach Armageddon.»

  • Der »nukleare Club« ist größer geworden. Indien, Israel und Pakistan haben sich als Atomwaffenstaaten gemeldet, der Status von Nordkorea ist ungeklärt; Iran gilt als weiterer Anwärter auf die Nuklearoption.
  • Schwellenländer wollen nicht länger verzichten. Atomwaffen haftet der Ruf an, Prestige zu verschaffen und vor »vorbeugenden« Militärschlägen der USA oder Übergriffen feindlicher Nachbarn zu schützen.
  • Der nukleare Schmuggel hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Nach IAEO-Chef el-Baradei geht es trotz gegenläufiger Bemühungen seiner Behörde und der Beobachtung durch diverse Geheimdienste zu »wie im Supermarkt». Gaszentrifugen und Blaupausen nach Iran oder Libyen, Atomwaffendesign nach Nordkorea, Raketentechnologie nach Pakistan – der Handelsumfang des nuklearen Schwarzmarktes erschreckt. Das Interesse von Terroristen an nuklearer Technologie ist vielleicht nicht groß, aber auszuschließen ist es auf keinen Fall.
  • Wer für Forschungszwecke oder zur Energiegewinnung mit fortgeschrittenen Nukleartechnologien hantiert, ist potentiell auch atomwaffenfähig. Auf 40 Länder trifft dies momentan zu. Bei einem Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes könnten auch in Japan, Deutschland und anderen Staaten sehr schnell Atomwaffen produziert werden.
  • Solange in zivilen Atomreaktoren waffengrädiges Nuklearmaterial eingesetzt wird bzw. entsteht, bleibt auch die Gefahr einer Abzweigung für militärische Zwecke erhalten.
  • Die etablierten Atomwaffenmächte mischen bei der Weiterverbreitung häufig mit. Ob Handel mit waffengrädigem Uran durch die USA oder Weitergabe chinesischer Raketentechnologie an Nordkorea – der »Club« kann nicht einfach nur mit dem Finger auf andere zeigen.
  • Das gilt auch für Deutschland. Der Verkauf deutscher U-Boote mit Umrüstpotential zur nuklearen Raketenabschussbasis an Israel und die Beteiligung der deutsch-niederländisch-britischen Holding URENCO an den pakistanischen Deals sind nur zwei Beispiele von vielen.

Tu, was wir sagen, und nicht, was wir tun?

Dieses Bild ist zwar schon reichlich unerfreulich, vollständig ist es trotzdem nicht.

Atomwaffen sind in ein komplexes Geflecht von Politiken, Doktrinen, politischen Ambitionen und militärischen Fähigkeiten eingebunden. Das Regulativ bilden völkerrechtliche Verträge. Doch nicht nur der Nichtverbreitungsvertrag, auch die Rüstungskontrolle insgesamt ist in Gefahr.

Vor allem die Regierung Bush macht aus ihrer Verachtung für Rüstung beschränkendes Völkerrecht kein Hehl. 30 Jahre lang wurde eine neue Rüstungsspirale mit Raketenabwehr und Weltraumwaffen durch den Raketenabwehrvertrag verhindert. Die USA haben ihn gekündigt und »auf den Misthaufen der Geschichte» befördert. Jahrelang wurde um ein vollständiges Verbot von Atomtests gerungen. Die USA verweigern die Ratifizierung. Die Welt soll von der Geisel der Landminen befreit werden. Amerika denkt nicht an einen Beitritt zum Vertrag. Die Weltgemeinschaft möchte Waffen im Weltraum verhindern. Die USA halten das nicht für nötig.

Utopisch erscheint es da, auf den Abschluss weitergehender Verträge zu setzen. Und doch scheint es nur den einen Ausweg zu geben: Beharren auf multilateral organisierter Rüstungskontrolle und dem Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention.

Nur im Rahmen eines vollständigen, dauerhaften und uneingeschränkten Verbots von Atomwaffen für alle Länder der Erde lassen sich Voraussetzungen schaffen, um die nukleare Aufrüstung einzelner Länder zu unterbinden. Erst wenn alle Länder gleich behandelt werden, fallen die Anreize weg, mit der Rüstung des Gegners gleichzuziehen. Erst wenn jegliche Nuklearmaterialien unter internationaler Kontrolle stehen, entfällt die Gefahr eines Ausbruchs aus dem Regime. Nur wenn alle zusammenarbeiten gibt es eine Chance für die atomwaffenfreie Welt. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Atomwaffenstarrende Welt

Die Gefahr eines Atomkrieges wächst

von Xanthe Hall

Im Besitz der acht Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan) befinden sich 30.000 Atomwaffen. Das sind zwar nur halb so viele wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, sie bedeuten aber immer noch einen vielfachen Overkill für die gesamte Menschheit. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und oberster Waffeninspektor, Mohammed al-Baradei, zur Situation: „Noch nie war die Gefahr (eines Atomkrieges) so groß wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, wenn wir uns nicht auf ein neues internationales Kontrollsystem besinnen.“

96% der Atomwaffen gehören den USA oder Russland. Ungefähr 17.500 davon sind jederzeit einsatzfähig. Davon sind etwa 4.000 in ständiger Alarmbereitschaft – sie können ihr Ziel am anderen Ende der Welt in weniger als 30 Minuten erreichen. Der Rest befindet sich in Reserve, im Lager oder ist für die Abrüstung vorgesehen.

USA

Offiziell anerkannter Atomwaffenstaat und von Anfang an Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags (NVV, 1970 in Kraft getreten), in dem sich die Atomwaffenmächte verpflichteten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (Artikel VI). Die USA entwickelten als erste die Atombombe und setzten sie als einzige auch ein, im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki. Seit Beginn des atomaren Zeitalters trieben die USA das weltweite Wettrüsten an. Sie besitzen noch 10.650 Atomwaffen, davon sind 3.000 in »aktiver« Reserve. Seit 1945 produzierten sie etwa 70.000 Atomwaffen; darunter 70 verschiedene Typen, von der kleinen Atommine bis zu riesigen Wasserstoffbomben mit Megatonnensprengkraft.

Zur Zeit überholen die USA ihr komplettes atomares Arsenal, um für »neue Bedrohungslagen« gewappnet zu sein. Dies bedeutet die Modernisierung aller Atomwaffen, die in ihrem Besitz sind, sowie die Entwicklung neuer Atomwaffen, wie z.B. so genannte Mini Nukes und Bunker Busters.

Die USA blockieren seit langem das Inkrafttreten des Atomteststoppvertrags: Sie sind nicht zur Ratifizierung bereit. Gleichzeitig erwägen sie die Möglichkeit, wieder Atomtests aufzunehmen, obwohl sie aufgrund ihrer über 1.000 Tests seit 1945 ausreichend Daten besitzen, um ihr Atomwaffenprogramm ohne Atomexplosionen mit Hilfe von Computern und sogenannten subkritischen Tests fortzuführen.

Großbritannien

Die Briten sind seit 1968 Unterzeichnerstaat des NVV und als offizieller Atomwaffenstaat anerkannt, was ihnen Seite an Seite mit den USA ihre Macht in der Weltordnung sichert. 185 Atomsprengköpfe befinden sich im britischen Arsenal. Bis auf 25 Sprengköpfe, die in Reserve gehalten werden, befinden sich alle strategischen Atomwaffen auf Trident U-Booten. Nur eines von den insgesamt vier U-Booten befindet sich ständig auf dem Meer, bestückt mit bis zu 48 Atomwaffen.

Die Trident-Raketen an Bord tragen Mehrfachsprengköpfe, die gegen unterschiedliche Ziele im selben Zielgebiet eingesetzt werden können. Jeder Sprengkopf hat eine Sprengkraft von 100 Kilotonnen (das entspricht der achtfachen Sprengkraft von Hiroshima mit ca. 200.000 Toten). Manche Trident-Raketen haben aber auch nur einen Sprengkopf für »substrategische Aufgaben«, d.h. für die Bekämpfung einzelner Ziele, z.B. in einem regionalen Konflikt. Anders als im Kalten Krieg können diese Atomwaffen nicht mehr in Sekunden abgefeuert werden: Der Abschuss muss inzwischen einige Tage vorbereitet werden.

Zudem sind in Lakenheath bis zu 66 Atomwaffen der USA gelagert.

Frankreich

Zur »Force de Frappe« der Franzosen gehören insgesamt 350 nukleare Sprengköpfe. Bis auf 60 Luft-Boden-Raketen für Flugzeuge handelt es sich um U-Boot-gestützte Raketen mit einer Reichweite von 6.000 km und einer Sprengkraft von 100-150 Kilotonnen. Auch Frankreich nutzt einzeln zielbare Mehrfachsprengköpfe.

Frankreich ist der einzige Atomwaffenstaat, der sein Atomtestgelände auf Mururoa im Südpazifik nach den weltweiten Protesten gegen Atomtests von 1996 geschlossen hat. Der Atomteststoppvertrag und der Raratonga-Vertrag (siehe »Atomwaffenfreie Zonen«) sichern den französischen Atomteststopp, da Frankreich Vertragspartei ist und das Verbot mit speziellen Überprüfungsmaßnahmen unterstützt.

Zudem erklärte Frankreich 1992 seine Absicht, kein Plutonium mehr für Atomwaffen herzustellen, und schloss 1997 seine Plutoniumfabrik in Marcoule. Dennoch wird in der Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague weiterhin Plutonium für zivile Zwecke produziert.

Südafrika

Südafrika zerstörte seine sechs Atomwaffen kurz vor dem Ende des Apartheid-Regimes, um dem NVV 1991 beizutreten und sich damit wieder in die internationale Gesellschaft eingliedern zu können. Seit 1994 sind alle südafrikanischen Atomwaffenanlagen komplett abgebaut.

US-Atomwaffen in Europa (NATO)

Die USA haben Stationierungsplätze in europäischen Depots für bis zu 348 taktische Atomwaffen vom Typ B-61. Experten gehen davon aus, dass etwa 150-180 Atomwaffen tatsächlich stationiert sind. Diese Atomwaffen stehen unter US-Kommando, dennoch wären im Ernstfall auch europäische Piloten und Flugzeuge am Einsatz beteiligt. Dies geschähe im Rahmen der »nuklearen Teilhabe«, über die alle NATO-Mitglieder in die Planung eines Atomkriegs eingebunden sind. US-Atomwaffen sind in folgenden Staaten stationiert: Belgien (bis zu 22 in Kleine Brogel), Deutschland (bis zu 22 in Büchel, bis zu 108 in Ramstein), Großbritannien (bis zu 66 in Lakenheath), Niederlande (bis zu 22 in Volkel), Italien (bis zu 22 in Ghedi Torre und bis zu 36 in Aviano), Türkei (bis zu 50 in Incirlik). Zusätzlich befinden sich rasch reaktivierbare Atomwaffendepots in Deutschland (Memmingen und Nörvenich), in Griechenland (Araxos) und in der Türkei (Murted und Balikesir). Dort sind momentan jedoch keine Atomwaffen stationiert.

Russland

Die Sowjetunion, Vorgängerstaat von Russland, wurde 1949 Atomwaffenmacht und führte über 700 Atomtests durch. Man schätzt, dass Russland bzw. die Sowjetunion seit 1949 etwa 55.000 Atomwaffen produziert hat. Die Sowjetunion trat dem NVV gleich zu Beginn bei.

Das derzeitige russische Arsenal enthält 8.200 Atomsprengköpfe, darunter 5.000 strategische Atomwaffen. In Lagern befinden sich etwa 4.600 Atomwaffen, zudem sind 5.000 für die Abrüstung im Rahmen der bilateralen Verträge START I und II vorgesehen.

Das Moskauer Abkommen zwischen USA und Russland aus dem Jahr 2002 sieht vor, dass beide Staaten bis 2012 ihr strategisches Arsenal auf 1.700 bis 2.200 aktive Atomwaffen reduzieren, obwohl es für Russland wirtschaftlich schwierig wird, auch nur 1.000 langfristig einsatzbereit zu halten. Das Abkommen enthält jedoch keine Überprüfungsvereinbarungen. Beide Parteien dürfen mit nur dreimonatiger Kündigungsfrist ohne Begründung aus dem Abkommen austreten.

Wahrscheinlich wird es nicht zu weiteren Verhandlungen über strategische oder gar taktische Atomwaffen kommen, obwohl diese bitter nötig wären. Russland hat im Oktober 2003 eine Modernisierung der Atomstreitmacht angekündigt. Um mit den USA mithalten zu können, kündigte das russische Verteidigungsministerium an, eine neue Generation strategischer Atomwaffen und Trägerraketen zu entwickeln. Als Begründung wird u.a. die Notwendigkeit angeführt, den Raketenabwehrschirm der USA zu überwinden.

Weißrussland, Ukraine, Kasachstan

Diese ehemaligen sowjetischen Republiken sind nach der Auflösung der Sowjetunion atomwaffenfrei geworden. Alle Atomwaffen wurden bis 1996 nach Russland abgezogen, und die drei Staaten haben sowohl den NVV als auch den Umfassenden Atomteststoppvertrag unterzeichnet und ratifiziert.

China

China ist erst seit 1992 Mitglied des NVV. Es forderte zwar stets einen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen und unterhält nur eine kleine atomare Abschreckungsmacht, rüstete aber auch nicht ab, sondern modernisiert jetzt seine Streitkräfte, vor allem die Trägersysteme. Im Arsenal befinden sind rund 400 Atomwaffen meist kürzerer Reichweite, stationiert auf U-Booten, Flugzeugen und landgestützten ballistischen Raketen.

Nur maximal 20 chinesische Langstreckenraketen könnten die USA erreichen. Man vermutet, dass China in Zukunft aufrüstet, insbesondere um die geplante Raketenabwehr der USA zu überwinden.

Indien und Pakistan

Diese beiden Staaten sind nicht anerkannte Atomwaffenmächte und treten dem NVV aus diesem Grund auch nicht bei. Sie können nicht als Atommacht beitreten, weil der Vertrag festschreibt, dass Atommacht nur sein darf, wer vor 1967 schon getestet hatte. Obwohl vermutet wird, dass sie bereits seit langem Atomwaffen besitzen, ist ihr Atompotenzial erst seit der beiderseitigen Atomtestreihe 1998 definitiv bekannt.

Indien hat schätzungsweise 30 bis 35 Atomwaffen, Pakistan 24 bis 48, das Arsenal wächst jedoch ständig. In Indien geht die Stationierung offiziell voran und es wird eine Befehlsstruktur aufgebaut, so dass das indische Abschreckungspotenzial »glaubwürdiger« wird. Beide Staaten besitzen ballistische Raketen mittlerer Reichweite und entwickeln diese immer weiter.

Die Bedrohungsrhetorik beider Staaten erreichte im Jahr 2002 erschreckende Ausmaße, als die Welt vor einem Atomkrieg in Südasien bangen musste. Seitdem hat sich die Lage zwar entspannt, sie bleibt jedoch – trotz der jüngsten Gesprächsbereitschaft – höchst gefährlich.

„Das internationale Sicherheitssystem wurde stufenweise unter eine globale nukleare Weltordnung gebracht, die die Hegemonie der fünf Atomwaffenmächte vorsieht. Indien will ein Mitspieler und nicht ein Objekt in dieser Ordnung sein.“ (K. Subrahmanyam, Direktor des Indian Institute of Strategic Studies)

Israel

Israel hat sein Atomwaffenpotenzial nie offiziell zugegeben, droht jedoch in Krisensituationen immer wieder damit, es würde sein »ganzes verfügbares Arsenal« einsetzen. Experten schätzen, dass Israel 75 bis 200 Atomwaffen besitzt; die Arabische Liga behauptet, es habe eher 350 im Arsenal; und der amerikanische Geheimdienst CIA geht von 200-400 Atomwaffen in Israel aus. Um die Diskussion über seine Atomwaffen und eine eventuelle Abrüstung zu umgehen, tritt Israel dem NVV nicht bei.

Nordkorea

Nordkorea hat für Schlagzeilen gesorgt, als es Anfang 2003 aus dem NVV ausgetreten ist. Ungewiss ist, ob Nordkorea bereits im Besitz von Atomwaffen ist. Die US-Geheimdienste behaupten, dass Nordkorea bereits mindestens zwei Atomwaffen gebaut habe und genug Plutonium besitze, um weitere zu bauen. Es wurde auch über Nordkoreas Fähigkeiten zur Urananreicherung spekuliert.

Atomwaffenfreie Zonen

Literatur:

Bulletin of the Atomic Scientists, NRDC Nuclear Notebook 2001-2003, www.thebulletin.org/issues/nukenotes/nukenote.html.

Otfried Nassauer: NATO's Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing? BITS Policy Note, April 2002.

Internet-Seite: Nuclear Weapon Free Zones (www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): SIPRI Yearbook 2001, Oxford University Press, ISBN 0-19-925176-2.

Der Spiegel Nr. 5 vom 26.1.04: Ein Atomkrieg rückt näher, Interview mit Mohammed al-Baradei, S.104.

Xanthe Hall ist Abrüstungsexpertin der deutschen Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges.

zum Anfang | Die Atomkrieger des 21. Jahrhunderts

von Otfried Nassauer

Die USA arbeiten an neuen atomaren Waffen, haben eine neue Nuklearstrategie und pfeifen auf Rüstungskontrolle. Ein guter Grund, sich die Nuklearwaffenpolitik der Regierung Bush einmal genauer anzuschauen.

Neue Atomwaffen

So mancher Abgeordnete im amerikanischen Kongress rieb sich im März 2003 verwundert die Augen, als er den Entwurf für das Verteidigungshaushaltsgesetz 2004 auf den Tisch bekam. Darin fand sich nicht nur – wie erwartet – ein Etatansatz für die Entwicklung einer neuen Atomwaffe, die tief unter der Erde verbunkerter Ziele zerstören soll. Es gab auch einen unscheinbaren Passus, in dem die Aufhebung des »Spratt-Furse Amendement« aus dem Verteidigungshaushaltsgesetz 1994 vorgeschlagen wurde.

Dieser rechtlich bindende Gesetzeszusatz verbot konkrete Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an Nuklearwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als 5 Kilotonnen. Er stellte eine Hürde gegen die Entwicklung und Einführung von Mini-Atomwaffen und Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft dar, obwohl Grundlagenforschung und Konzeptstudien nicht verboten waren. Er war das einzig existente rechtlich bindende Verbot im Bereich der Atomwaffenentwicklung in den USA. Würde er aufgehoben, wäre der Entwicklung neuer US-Atomwaffen Tor und Tür geöffnet.

Genau das ist inzwischen eingetreten. Das Haushaltsgesetz, das der Kongress Ende 2003 verabschiedete, ermöglicht nicht nur den Einstieg in die Arbeit an einer neuen bunkerzerstörenden Atomwaffe sondern auch den Einstieg in die Arbeit an Mini-Atomwaffen.

Seit Jahren hatten ein kleiner Kreis konservativer Republikaner und Nuklearwaffenlobbyisten beklagt, Washington betreibe nukleare Selbstbeschränkung, habe keine geeigneten Nuklearwaffen, um den militärischen Anforderungen der Zukunft gerecht und mit den Gegnern fertig zu werden. Die Nuklearwaffeninfrastruktur – von den Atomwaffenlaboren über die Fertigungsstätten bis hin zu den Testanlagen – veralte und vergammele. Der wissenschaftliche Nachwuchs werde vernachlässigt. All das gelte es schnellstens zu ändern.

Nach dem Machtantritt von George W. Bush im Januar 2001 begann diese Lobby, ihre gegen Ende des Kalten Krieges entwickelten Konzepte und Ideen wieder auszupacken und in die Tat umzusetzen. Der Einsatz von Nuklearwaffen, so die Vorstellung dieser Apologeten, muss glaubwürdig angedroht werden können, da nur dann mit der Drohung eine echte Abschreckungs- und Erpressungswirkung verbunden ist. Die Waffen müssen in der Lage sein, die vorgesehenen gegnerischen Ziele wirklich zerstören zu können. Die Ziele und Gegner aber hätten sich seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich gewandelt, und für jene Ziele, um die es jetzt gehe, seien bislang nicht die richtigen Waffen vorhanden.

Angeregt wurde deshalb die Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Nuklearwaffen. Da sind zum einen die atomaren Bunkerknacker. Heutige konventionelle Bunkerknacker können bis zu sieben Meter Stahlbeton durchdringen, künftige sollen leistungsfähiger sein. Neun, zehn oder mehr Meter werden für möglich gehalten. Die einzige Nuklearwaffe im US-Arsenal, die Bunkerknacker-Qualitäten besitzt, ist die mit einem besonders harten äußeren Mantel umgebene Atombombe B-61 Modell 11, ein relativ großer Nuklearsprengsatz. Tests ergaben, dass diese Waffe ihre Grenzen hat: Sie funktioniert nicht bei allen Bodenbeschaffenheiten. Sie muss in einem bestimmten Winkel auftreffen, dringt nur begrenzt tief ein und es ist – wegen der hohen Sprengkraft – mit sehr viel radioaktivem Fallout zu rechnen. Begonnen werden soll deshalb mit der Entwicklung eines »Robust Nuclear Earth Penetrator« (RNEP), einer Atomwaffe, deren Mantel aus abgereichertem Uran (Depleted Uranium, DU) besteht und die mit zusätzlichen Eindringhilfen ausgestattet sein könnte, um deutlich tiefer in den Untergrund vordringen.

Doch selbst wenn diese Waffe mehr Bunkeranlagen ausschalten könnte als bisherige Waffen, sie kann trotzdem nicht halten, was die Lobbyisten versprechen. Mit dieser Waffe kann weder die Zerstörung besonders gut verbunkerter Ziele glaubwürdig angedroht werden, noch die von Zielen, bei denen es darauf ankäme, den fallout bedingten Kollateralschaden gering zu halten, z. B. weil sie in dicht besiedelten Gebieten liegen. Zudem haben Physiker wiederholt darauf hingewiesen, dass der Entwicklung solcher Waffen quasi-naturgesetzliche Grenzen gesetzt seien, die sich daraus ergeben, dass der Zünd- und Funktionsmechanismus der Waffe beim Eindringen nicht beschädigt werden darf.

Das Problem schwer vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigender Kollateralschäden soll mit einer anderen Neuentwicklung angegangen werden: Der Entwicklung kleiner und kleinster Atomsprengköpfe. Diese Mini-Nukes könnten, wenn sie so zielgenau gemacht werden wie moderne konventionelle Waffen, sogar als Bunkerknacker eingesetzt werden, bei nicht ganz so gut geschützten Zielen oder in besiedelten Gebieten.

Auch hier halten Kritiker entgegen, dass Zweck und Mittel nicht zueinander passen. Eine Waffe, die kaum noch radioaktiven Fallout produziert, könne nicht tief genug in die Erde eindringen, um die angepeilten Ziele zu zerstören. Je tiefer ein Ziel unter der Erde liegt, desto größer müsse der atomare Sprengsatz sein, der es wirklich zerstören kann und desto wahrscheinlicher werde, dass viel radioaktiver Fallout entsteht. Es sei zu befürchten, dass die Einführung solcher Waffen zu der Illusion führe, man sei im Besitz einer »sauberen« Atomwaffe, dass damit die Grenze zwischen der Wirkung der größten konventionellen Waffen und der kleinsten nuklearen verschwimme und ein Atomwaffeneinsatz wahrscheinlicher werde.

Als dritter Grund für den Bau neuer Atomwaffen wird die Notwendigkeit der gesicherten Zerstörung chemischer und biologischer Kampfstoffe genannt. Um diese mit hundertprozentiger Sicherheit rückstandslos verbrennen zu können, sei eine Nuklearexplosion mit ihren extrem hohen Temperaturen der sicherste Weg. Auch das – so haben Kritiker nachgewiesen – stimmt so nicht: Zum einen sind auch wirksame konventionelle Waffen zur Zerstörung denkbar bzw. schon vorhanden. Zum anderen könne die enorme Gewalt einer Nuklearexplosion sogar erst dazu führen, dass Kampfstoffe unabsichtlich freigesetzt werden.

Weitere Gründe, um endlich eine neue Generation atomarer Waffen durchsetzen zu können, werden noch gesucht. So lässt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld durch das Defense Science Board, ein wissenschaftliches Beratungsgremium des Pentagon, untersuchen, ob Atomsprengköpfe ein probates Mittel zur Raketenabwehr sein könnten.

Eine neue Strategie

Mit dem gleichen Elan, mit dem die Regierung Bush den Einstieg in eine neue Generation nuklearer Waffen betreibt, begann sie kurz nach Amtsantritt auf Veränderungen in der Nuklearstrategie hinzuarbeiten. Mit Keith B. Paine, Robert G. Joseph und anderen wurden führende Vertreter der konservativen Nuklearwaffen-Lobby, die seit Jahren an einem Konzept für ein »Zweites nukleares Zeitalter der Abschreckung« gearbeitet haben, auf wichtige Posten berufen. Mit dem Nuclear Posture Review, einer geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials der USA, der im Januar 2002 an den Kongress übergeben wurde, läuteten sie gravierende Veränderungen ein, die in der Folgezeit umgesetzt wurden.

Die Nuklearwaffen Washingtons unterstehen künftig nicht mehr einem gesonderten Nuklearwaffen-Oberkommando, sondern einem neuen, veränderten »Strategischen Kommando«, das für alle, auch die konventionellen, strategischen Angriffsoptionen der US-Streitkräfte und für die Raketenabwehr zuständig ist. Die Planer dieses Oberkommandos sollen der Politik sowohl konventionelle als auch nukleare oder gemischte Optionen zum Erreichen spezifischer Ziele präsentieren.

Dies geschah in der Vergangenheit immer durch konkurrierende Teile der US-Kommandostruktur. Während die Verfechter dieser Idee argumentieren, so werde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes reduziert, dürfte das Gegenteil eintreten. Weil auch mit konventionellen Operationen betraut, könnte sich eine Tendenz einschleichen, Nuklearwaffen als »quasi-normale« Mittel der Kriegführung zu betrachten, deren Einsatz effizienzorientiert zu planen ist. So wurde das seitens des US-Heeres zu Beginn der 1980er Jahre bereits einmal für das europäische Gefechtsfeld geplant, mit der AirLandBattle-Doktrin und dem »integrierten Gefechtsfeld«. Die Aussicht auf reduzierte Kollateralschäden beim Einsatz neuer, kleiner Atomwaffen könnte über die Jahre dazu beitragen, dass der atomare Krieg wieder als führbar erscheint.

Da die Gegner in einem solchen Krieg kaum mehr nukleare Großmächte mit einem substanziellen Vergeltungspotenzial sein werden, sondern eher Terroristen, sogenannte Schurkenstaaten und andere Akteure mit begrenzten Möglichkeiten, dürfte die »Selbstabschreckung« vor dem Einsatz eigener Atomwaffen kleiner ausfallen als bisher. Gleichzeitig könnte mancher hoffen, dass ein Atomwaffeneinsatz gegen solche Gegner auch leichter zu rechtfertigen sei.

Dafür sprechen auch andere Änderungen der Nuklearstrategie Washingtons. Mit der National Security Presidential Directive (NSDP) 17 erklärte die Bush-Administration am 14.9.2002 ganz offen: „Die Vereinigten Staaten werden weiterhin klar machen, dass sie sich das Recht vorbehalten, auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, unsere Streitkräfte im Ausland und unsere Freunde und Verbündeten mit überwältigender Macht zu antworten – einschließlich möglicherweise mit dem Einsatz von Nuklearwaffen.“

Das bedeutet eine Veränderung: Zwar hat Washington den Einsatz nuklearer Waffen zur Vergeltung in der Vergangenheit nie explizit ausgeschlossen. Wohl aber waren die USA – wie auch alle anderen klassischen Atommächte – politisch verbindliche »Negative Sicherheitsgarantien« gegenüber den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) eingegangen und hatten deren Gültigkeit – zuletzt 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz für diesen Vertrag – bestätigt. Diese besagen, dass Washington auf den Einsatz von Nuklearwaffen verzichtet, wenn kein Angriff einer anderen Nuklearmacht oder von mit einer Nuklearmacht verbündeten Staaten auf die USA, deren Streitkräfte und deren Verbündete vorliegt.

Der Unterschied wird offensichtlich: Galt die potenzielle nukleare Drohung Washingtons bislang nuklear bewaffneten Staaten und deren Verbündeten, so gilt sie nun den Besitzern aller Arten von Massenvernichtungswaffen, also auch jenen, die »nur« über biologische und chemische Kampfstoffe bzw. über geeignete Trägersysteme verfügen.

Doch damit nicht genug: In einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie und in der Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom Dezember 2002 macht die US-Regierung deutlich, dass sie zu vorbeugenden militärischen Schlägen gegen Gefahren bereit ist, die von Massenvernichtungswaffen ausgehen. Mit einem konventionellen oder nuklearen Angriff der USA wird nicht länger nur als Vergeltungsmaßnahme gegen einen gegnerischen Angriff gedroht, sondern auch zur Verhinderung eines Angriffs, der unmittelbar bevorstehen könnte (präemptiv) und sogar für den Fall, dass von einem Gegner angenommen wird, dass er sich in Zukunft die Fähigkeit schaffen könnte, mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen (präventiv). Christopher Paine, Nuklearwaffenexperte am Natural Resources Defense Council, erläutert: „Die Bush-Doktrin besagt, dass Länder, die versuchen, biologische oder chemische Waffen zu beschaffen oder einzusetzen, Ziel eines präventiven, atomaren Erstschlages der USA sein könnten.“

Nordkorea, Irak, Iran, Syrien und Libyen waren die Staaten, die die Bush-Administration explizit nannte. Jayantha Dhanapala, damals stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsfragen, warnte deshalb letztes Jahr in der ARD-Sendung Monitor, es könnten „auf diese Weise weitere Staaten ermutigt werden, sich auf geheimen Wegen (…) Atomwaffen zu beschaffen.“ Dhanapala verwies auf die Gefahr, dass das seit Nagasaki geltende Tabu hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen gebrochen werden könnte.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Veränderungen auf die Doktrin der US-Streitkräfte für den Einsatz nuklearer Waffen auswirkt. Diese soll bis April 2004 überarbeitet werden.

Keith B. Paine und Colin S. Gray, der andere intellektuelle Vater des Konzeptes der »Abschreckung im Zweiten Nuklearzeitalter« sind schon wieder einen Schritt weiter: In einem Sonderheft der Zeitschrift »Comparative Strategy« diskutieren sie bereits die nächsten Schritte zur »Reform der Abschreckung«. Colin S. Gray kommt dabei zu der Schlussfolgerung, „dass präventives Handeln immer häufiger und ernsthafter als in der Vergangenheit in Erwägung gezogen werden muss. Wenn, wie wir glauben, die Aufgabe des Abschreckens immer schwieriger wird, dann können sich die politischen Wahlmöglichkeiten auf die Optionen gewaltsame Prävention oder Versuch der »aktiven Verteidigung« (in ihren vielfältigen Varianten) reduzieren. Präventives militärisches Handeln wirft eine Reihe von politischen, rechtlichen und ethischen Fragen auf, die, wenn vernünftigerweise möglich, lieber vermieden werden sollten. Aber in einer Welt, in der mehr und mehr Gemeinwesen über Massenvernichtungswaffen und die entsprechenden Trägersysteme verfügen, in der »Katastrophenterroristen« sichere Zuflucht finden können und in der Abschreckung häufig nicht praktizierbar ist, werden unsere politischen Möglichkeiten zu wählen nicht berauschend sein. (…) Es bleibt die Tatsache, dass Abschreckung nur ein Element unserer Strategie sein kann. Aus offensichtlichen Gründen bedingte das Paradigma der Abschreckung im Kalten Krieg die krasse Alternative zwischen Abschreckung und grenzenloser Katastrophe. Das sind heute nicht mehr die Alternativen.“

Vorläufer unter Bill Clinton

Der Hinweis auf diese gefährlichen Entwicklungen wäre unvollständig, würden die Vorarbeiten dafür unter George Bush Senior und William Bill Clinton verschwiegen. Die Zielplanung für die Nuklearwaffen der USA war gegen Ende der 1980er Jahre vor allem auf die zerfallende Sowjetunion und auf einige Ziele in der Volksrepublik China ausgerichtet. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion hat sich dies rasch geändert. Eine fixe Planung für Tausende von Zielen, die bereits vor Kriegsbeginn feststehen und im Single Integrated Operations Plan (SIOP, integrierte Nuklearzielplanung) genau beschrieben sind, bis hin zur Festlegung, mit welcher Waffe welches Ziel angegriffen werden soll, gibt es in dieser Form nicht mehr.

Anfang der 1990er Jahre begann unter dem Stichwort »adaptive Nuklearplanung« das große Umdenken. Zunächst im Hinblick auf die taktischen oder substrategischen Nuklearwaffen. Zunehmend gerieten Ziele in Staaten in den Blickwinkel der atomaren Zielplaner, die Washington im Besitz von Atomwaffen wähnte oder von denen angenommen wurde, dass sie daran arbeiteten: Libyen, Irak, Syrien, Nordkorea und natürlich verstärkt auch China.

Den regionalen Oberkommandeuren der US-Streitkräfte und auch dem NATO-Oberbefehlshaber wurde aufgetragen, Eventualfallplanungen aufzunehmen. Listen mit den Koordinaten und atomaren Bekämpfungsmöglichkeiten Hunderter, wenn nicht Tausender zusätzlicher Ziele wurden aufgestellt. Ziel war es, die Möglichkeit zu schaffen, binnen kürzester Zeit eine nukleare Planung zur Kriegführung gegen diese oder andere Staaten aufstellen zu können. Mit der wachsenden Bedeutung militärischer Optionen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen – der so genannten »Counterproliferation« – bekam dieser Ansatz Rückenwind. Seither wurde die adaptive Zielplanung verfeinert.

Schon 1995 wurden erstmals »nicht-staatliche Akteure« – gemeint sind zum Beispiel religiöse Extremisten, internationale Terroristen oder auch transnationale Konzerne – in nuklearen Dienstvorschriften der US-Streitkräfte als potenzielle Bedrohung genannt, da sie sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen könnten. Bereits ein Jahr später, 1996, sieht eine andere Vorschrift für den Einsatz taktisch-nuklearer Waffen in ihnen potenzielle Ziele für den Einsatz von Atomwaffen.

Immer wieder wurde indirekt – im Sinne einer freiwilligen Zweideutigkeit – auch unter Präsident Clinton darauf verwiesen, dass Washington sich auch die Möglichkeit einer nuklearen Vergeltung als letztes Mittel gegebenenfalls offen halten müsse.

Von der Intensivstation in die Leichenhalle?

Die neue Nuklearpolitik der Bush-Administration legt die Axt an die Wurzel der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. Die Aussicht, dass für neue Atomwaffen auch neue Nuklearwaffentests erforderlich sein könnten, die Verkürzung der notwendigen Vorbereitungszeit für solche Tests, die Aufkündigung des Raketenabwehr-Vertrages und die direkte Missachtung der Negativen Sicherheitsgarantien durch die nukleare Drohung gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen in der Präsidenten-Direktive NSDP 17 – all das sind schwere Schläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Schon allein die Absicht, in die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen einzusteigen, signalisiert vielen Nicht-Atomwaffenstaaten, dass unter dieser Administration nicht mit substanziellen Fortschritten in der atomaren Rüstungskontrolle zu rechnen ist, dass die Verpflichtung auf das Ziel der Abschaffung aller Atomwaffen, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages verankert ist, zu Lebzeiten dieser Administration keine Chance hat.

Besorgt sehen viele Staaten, dass die Politik unter Bush befördern könnte, was sie zu verhindern vorgibt – die Weiterverbreitung nuklearer Waffen. So hat z.B. Saudi Arabien nach dem Irak-Krieg angekündigt, seine nuklearen Optionen prüfen zu wollen. Noch mehr besorgt viele, dass dies in ihrer Nachbarschaft geschehen könnte. „Die nukleare Rüstungskontrolle liegt bereits auf der Intensivstation“, meinte Daniel T. Plesch vom Royal United Services Institute in London bereits im vergangenen Jahr. „Die Entwicklung neuer Atomwaffen und erneute Atomtests würden die atomare Abrüstung in die Leichenhalle verlegen.“

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de).

zum Anfang | Hat das zweite Kernwaffenzeitalter schon begonnen?

Die regionale Verbreitung von Atomwaffen

von Götz Neuneck

Beunruhigende Nachrichten lassen die Weltöffentlichkeit aufhorchen. Libyen gibt zu, ein Nuklearwaffenprogramm betrieben zu haben, und im Iran findet die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) Hinweise auf ein ähnliches Programm. Beide Länder sind Mitglieder des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV), während Nordkorea bereits aus dem NVV ausgeschert ist. Pakistan ist als Quelle eines umfassenden Beschaffungsnetzwerkes zur Weitergabe der Uran-Anreicherungstechnologie identifiziert worden, an deren Ende Libyen, Nordkorea und der Iran standen.

Die zur Herstellung von waffenfähigem Material verwendeten Gaszentrifugen sind dazu besonders geeignet, da die dafür notwendigen Komponenten zunächst als zivil deklariert werden können und ein Betrieb schwer zu entdecken ist. Andererseits ist ihr Besitz noch keine Garantie für die Herstellung von nuklearwaffenfähigem Material. Jahrelange Erfahrungen sind dazu nötig. Sogar Details eines Atomwaffendesigns und kleine Mengen Nuklearmaterial sollen an Libyen transferiert worden sein. Im Zentrum dieses wohl größten »(Nicht-)Weiterverbreitungsskandals« steht Abdul Qadeer Khan, Vater der »pakistanischen Bombe«, Direktor der Khan Research Laboratories in Kahuta und nun unter »Hausarrest« stehender Berater der Militärregierung unter General Musharraf. Umfang, Reichweite und Folgen dieses »nuklearen Beschaffungsmarktes« sind bisher nur in Umrissen bekannt.

Angesichts einer jahrzehntelangen selbstzufriedenen westlichen Nichtverbreitungspolitik ist diese Affäre besonders pikant. Pakistan ist nicht Mitglied des NVV, kann also »im Prinzip«, Nukleartechnologie weitergeben, ohne sich dafür besondere Nachteile einzuhandeln. Zwar wurde Pakistan durch die USA immer wieder mit Sanktionen belegt, geholfen hat dies wenig. Diverse Militärregierungen hatten immer wieder versichert, sie würden nicht zur Nuklearverbreitung beitragen. Pakistan, seit 1998 selbst Nuklearmacht, ist heute Hauptverbündeter der USA im Kampf gegen den Terrorismus in der Region. Eine Ächtung der Regierung ist damit ebenso unwahrscheinlich wie eine Bestrafung des »Nationalhelden« Khan.

Dass Khans Verhalten weltweit verurteilt wird, zeigt, dass trotz erheblicher Defizite des NVV-Regimes die nukleare Nichtverbreitung eine hohe normative Basis besitzt. Eine selektive Nichtverbreitungspolitik ohne Abrüstungskomponente stellt jedoch keine gute Grundlage für eine künftige Beendigung der nuklearen Bedrohung im 21. Jahrhundert dar. Nuklearterrorismus, regionale Atomkriege und eine Fortsetzung der nuklearen Überrüstung sind zu gefährlich, als dass sie zu Spielbällen der Politik werden sollten.

Im folgenden werden die Entwicklungen in den vier Ländern kurz vorgestellt. Diese Fälle bilden eine Herausforderung für die Zukunft des NVV und machen eine Universalisierung der Vertragsinhalte sowie weitere nukleare Abrüstung unumgänglich.

Pakistan

Nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden 1976 baute der in Europa ausgebildete »Metallurgiker« Khan auf der Grundlage der Gaszentrifugenpläne für die Urananreicherung, die er von dem deutsch-niederländisch-britischen Konsortium URENCO (Uranium Enrichment Company) entwendet hatte, das pakistanische Nuklearprogramm auf. Deutsche, niederländische und französische Firmen halfen u. a. mit Ausrüstungsteilen und Know-how, teilweise mit offizieller Zustimmung. Das Programm wurde finanziell von Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gestützt.

Der Nuklearstatus Pakistans, der durch die Tests 1998 offensichtlich und mit der militärischen Bedrohung durch Indien legitimiert wurde, ist A. Khan zu verdanken. Pakistan testet zudem Mittelstreckenraketen, die leicht indisches Territorium erreichen können. Die Raketen sind nordkoreanischen Ursprungs und wurden im Austausch gegen Urananreicherungstechnologie erworben.

Anfang 1987 wurde Khan vom Käufer zum Verkäufer. Mit dem Iran wurde der Transfer der Gaszentrifugentechnologie vereinbart. Im Iran wie auch in Libyen wurden fortgeschrittene »PAK-2-Zentrifugen« entdeckt. Allerdings gelang es beiden Ländern bisher nicht, diese Anlagen zuverlässig für den Bombenbau zu betreiben. Dies wäre jedoch eine Frage der Zeit gewesen.

Zehn Jahre nach dem Iran begann Khan mit Nordkorea zusammen zu arbeiten. Er soll sich nach 1998 dort 13 Mal aufgehalten und die Zentrifugen-Technologie gegen die nordkoreanische Raketentechnologie eingetauscht haben. Die letzte Lieferung an Libyen erfolgte noch nach dem 11. September 2001, obwohl die pakistanische Regierung immer wieder erklärt hatte, dass sie gegen nukleare Weitergabe vorgehen werde. Es ist nicht vorstellbar, dass das Militär von all den Seitengeschäften des Herrn Khan nichts gewusst hat.

Pakistan ist somit eine zentrale Quelle für die Verbreitung der Urananreicherungstechnologie und Khan der Kopf eines »globalen Schwarzmarktes«, der an den Exportkontrollen, Geheimdiensten und Sanktionen vorbei Nordkorea, Libyen und dem Iran entscheidende Hilfe beim Aufbau von Atomprogrammen geleistet hat. Das Netzwerk verfügte über Mittelsmänner in Malaysia, Dubai und Europa. Beunruhigend ist insbesondere die politische Fragilität des Landes, und damit ist die Frage nach der Sicherheit der bereits vorhandenen pakistanischen Nuklearwaffen gestellt. Ein bekannt gewordenes Treffen zweier ehemaliger pakistanischer Nuklearwissenschaftler mit al Kaida lässt darüber hinaus befürchten, dass auch Terroristen vom nuklearen Know-how in Pakistan profitiert haben könnten.

Iran

Das Nuklearprogramm des Iran, das auf den Schah zurückgeht, wird seitens der Regierung stets mit »zivilen friedlichen« Absichten erklärt. Der Reaktor in Bushir steht vor der Fertigstellung. Ein Vertrag mit Russland sichert das technische Know-how und die Brennstoffversorgung. Der erdölreiche Iran möchte weitere Reaktoren bauen und Brennstoffautonomie durch den Aufbau einer eigenen Urananreicherung erreichen.

Iran ist Mitglied des NVV und versucht zusammen mit der IAEO Ungereimtheiten des iranischen Programms zu klären bzw. ein Sicherungssystem aufzubauen, das die zivile Nutzung sicherstellt. Die Regierung hat sich bereit erklärt, das IAEO-Zusatzprotokoll umzusetzen. Dieses verpflichtet den Vertragsstaat nicht nur zur vollständigen Information über das Nuklearprogramm, sondern gibt der IAEO auch die Möglichkeit, überall im Lande ungemeldete Aktivitäten und Materialien aufzuspüren.

Drei EU-Außenminister hatten im Oktober 2003 in Teheran einen Durchbruch erreicht, nachdem sie u.a. einen Technologieaustausch in Aussicht gestellt hatten. Allerdings hat die iranische Regierung die geplante Urananreicherung nur ausgesetzt und nicht vollständig auf sie verzichtet. Inzwischen hat die Regierung zugegeben, dass sie auch über Pläne für fortgeschrittene Zentrifugen aus Pakistan verfügt.

Solange die Sicherheitsprobleme im Mittleren Osten (einschließlich der Frage der israelischen Atomwaffen) nicht gelöst sind, ist eine vollständige Aufgabe der militärischen Option durch den Iran eher unwahrscheinlich. Der andauernde Machtkampf und Gesellschaftswandel im Iran sowie die Entwicklung der Lage in der Region sind zudem Faktoren, die die zukünftige Entwicklung unvorhersehbar machen.

Libyen

Am 19. Dezember 2003 erklärte Oberst Gaddafi, dass Libyen alle Anstrengungen, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, einstellt, insbesondere das geheime Nuklearprogramm. Auch die vorhandenen biologischen und chemischen Waffenarsenale würden zerstört. Das Land wird der Chemiewaffenkonvention beitreten. Tage später stimmte die Regierung zu, das IAEO-Zusatzprotokoll zu unterzeichnen.

Zuvor wurde durch Inspektionen das Ausmaß der Programme deutlich. Es wurden sowohl zivil wie militärisch »doppelverwendbare biologische Substanzen« wie auch produzierte Giftgase im Tonnenmaßstab gefunden. IAEO-Inspektoren wurden zehn unbekannte Orte gezeigt, an denen es geheime Nuklearaktivitäten gab. Der Wüstenstaat verfügte über einige Dutzend moderne Zentrifugen im Labormaßstab, wahrscheinlich pakistanischen Ursprungs. Zudem wurde Uranhexafluorid sowie kleine Mengen von angereichertem Uran geliefert. Sogar kleine Mengen Plutonium soll Libyen hergestellt haben.

Das Atomwaffenprogramm steckte noch in seiner Anfangsphase. Der IAEO-Direktor el-Baradei schätzt, dass das Land zu diesem Zeitpunkt drei bis sieben Jahre von der Fertigstellung eines Atomsprengkörper entfernt war. Dennoch überrascht das Ausmaß und die Kontinuität des Programms, denn Libyen war in den letzten Jahren nicht mehr auf dem »Radarschirm« der Nichtverbreitungsexperten. Es wird die Aufgabe der IAEO sein, sicherzustellen, dass alle Ausrüstungsgegenstände, Dokumente und Materialien vernichtet sind und dass in Zukunft kein militärisches Programm in Libyen betrieben werden kann. Die Motive Libyens für die Aufgabe der geheimen Programme sind wohl darin zu suchen, die US-Sanktionen zu beenden, den Makel der Terrorunterstützung abzuwerfen und in den Kreis der »zivilisierten Völkergemeinschaft« zurückzukehren.

Nordkorea

Die Krise um den nuklearen Status Nordkoreas dauert nun schon recht lange. Es wird angenommen, dass das Land seit den späten 1980er Jahren Plutonium für ca. 2 Sprengköpfe abgetrennt hat. Auch ist durch die pakistanische Hilfe die Grundlage eines Urananreicherungsprogramms offensichtlich geworden. Die nordkoreanische Regierung hatte dies jahrelang bestritten. Die USA kündigten daraufhin das »Agreed Framework«-Abkommen von 1994 und beendeten die vertraglich vereinbarte Lieferung von Heizöl und ziviler Nukleartechnologie.

Im Dezember 2002 hatte Pjöngjang erklärt, dass es die nach dem amerikanisch-nordkoreanischen Abkommen eingefrorene Wiederaufarbeitung wieder aufnehmen werde. Die IAEO-Inspektoren wurden aus dem Land ausgeschlossen. Nordkorea trat am 10. Januar 2003 aus dem NVV aus. In der Nuklearanlage in Yongbyon sollen die vorhandenen 8.000 Kernbrennstäbe bereits wiederaufgearbeitet werden. Einer US-Delegation wurde im Januar 2004 ein leeres Kühlbecken vorgeführt und Pjöngjang erklärte, Nordkorea sei nunmehr Nuklearmacht. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass in den Sechser-Gesprächen zwischen Nordkorea, Südkorea, den USA, Russland, China und Japan eine Lösung gefunden werden kann.

Das nordkoreanische Regime nutzt die Nuklearwaffenfrage für den eigenen Machterhalt. Das Land, das sich mental und faktisch immer noch in einer Art Kriegszustand befindet, hat nicht viel zu verlieren. Wirtschaftliche Anreize haben nur eine begrenzte Wirkung. Die entscheidende Frage ist, ob die Großmächte, insbesondere die USA, bereit sind, gegenüber dem Regime in Pjöngjang eine Art Sicherheits- und Existenzzusage abzugeben. Bleiben die Gespräche ergebnislos, so sind weitaus gefährlichere Entwicklungen möglich. Es ist dabei klar, dass dies alles auf dem Rücken der ohnehin schon notleidenden Bevölkerung ausgetragen wird.

Nuklearer Supermarkt oder nukleare Abrüstung?

Es ist tragisch, dass der Krieg gegen den Irak mit der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen legitimiert wurde, die wirkliche Weiterverbreitung (Proliferation) jedoch von einem Land ausgeht, das US-Verbündeter, Nicht-NVV-Mitglied und Militärdiktatur in einem ist, nämlich Pakistan, das trotz Sanktionen mehrere Länder mit Wissen und Technik zur Herstellung von Nuklearwaffen ausstattete. Der »nukleare Supermarkt«, den Khan und Konsorten aufbauten, wäre ohne Hilfe skrupelloser Geschäftsleute aus dem Westen nicht möglich gewesen. Dritt-Welt-Länder beherrschen nicht nur die Technologie zur Herstellung von waffenfähigem Nuklearmaterial, sondern können dieses Wissen an westlichen Exportkontrollen vorbei auch weitergeben. Dabei ist wieder einmal deutlich geworden, dass Proliferation neue Proliferation erzeugt.

Diese »Proliferationsfälle« zeigen dramatisch auf, wie stark das NVV-Regime unter Druck steht. IAEO-Chef el-Baradei erklärte vor kurzem: „Wenn wir den Kurs nicht wechseln, riskieren wir die Selbstzerstörung«, und Präsident George W. Bush stellte in seiner Grundsatzrede vom 11. Februar 2004 fest, die „größte Gefahr für die Menschheit ist heute die Möglichkeit überraschender Angriffe mit chemischen, biologischen, radiologischen oder atomaren Waffen«. Einigkeit besteht noch bei der Bedrohungsanalyse; wenn es an die Umsetzung geht, sind die vorgeschlagenen Strategien höchst unterschiedlich.

Erfreulich ist zumindest, dass es durch wirtschaftliche Anreize und diplomatischen Druck gelungen ist, Libyen zur Aufgabe seiner Massenvernichtungswaffen zu bringen. Auch der Iran könnte folgen. Dies sind hoffnungsvolle Ansätze, damit im Mittleren Osten längerfristig eine Zone frei von Nuklearwaffen entstehen kann. Dies setzt aber voraus, dass nicht einige Staaten bezüglich des Besitzes von Massenvernichtungswaffen angeklagt werden, während bei anderen Ländern geschwiegen wird. Diplomatisch und konzeptionell muss alles daran gesetzt werden, dass im Nahen und Mittleren Osten sämtliche Massenvernichtungswaffen dauerhaft abgerüstet werden und die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen schon lange geforderte »Zone frei von Massenvernichtungswaffen« entsteht..

Es ist deutlich geworden, dass der NVV an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. Die multinationalen Kontrollen der IAEO könnten ausgedehnt werden. Wie schwierig das ist, zeigt die Tatsache, dass nur weniger als 20% der UN-Mitglieder überhaupt das Zusatzprotokoll abgeschlossen haben, das Libyen und Iran jetzt umsetzen wollen. Die westliche Welt muss hier Führerschaft übernehmen. Die EU hat immer wieder die Universalisierung des NVV gefordert. Der UN-Sicherheitsrat könnte eine Resolution beschließen, die die Entwicklung, den Einsatz und den Besitz von Massenvernichtungswaffen und damit auch Nuklearwaffen ächtet. Darauf aufbauend sollte eine Nuklearwaffenkonvention entwickelt werden, die ähnlich wie die B- und C-Waffen-Konventionen, Entwicklung, Einsatz und Besitz von Nuklearwaffen verbietet. Vorschläge dazu wurden bereits vor Jahren von Wissenschaftlern gemacht.

Dies setzt aber auch voraus, dass die nukleare Abrüstung wieder ernst genommen wird. Die Zahl von 30.000 nuklearen Sprengköpfen ist bei weitem zu hoch. Drastische, verifizierbare und zeitlich bindende Einschnitte sind ebenso nötig wie das Inkrafttreten des Umfassenden Teststoppabkommens. Der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy bemerkte Anfang 2004 in der New York Times: „Die besten Chancen der Menschheit zu überleben liegen darin, ein Tabu gegen Nuklearwaffen zu schaffen.“

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.

zum Anfang | Vom Nichtverbreitungs-Regime zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Der 1968 abgeschlossene und 1970 in Kraft getretene Nichtverbreitungsvertrag (NVV) bildet bis heute den Kern des internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Kernwaffen.

Als Kernwaffenstaaten gelten danach jene Staaten, die vor dem 01.01.1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hatten, also die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Nach Artikel I des NVV dürfen sie keine Kernwaffen an andere Länder weitergeben und bei einer möglichen Beschaffung nicht helfen. Zugleich verpflichten sie sich in Artikel VI, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« sollen den anderen Vertragsparteien zugänglich gemacht werden (Artikel V).

Alle übrigen Vertragsmitglieder verzichten nach Artikel II als Nicht-Kernwaffenstaaten auf den Zugriff auf und die Verfügungsgewalt über Kernwaffen, insbesondere auf die eigenständige Herstellung, aber auch auf die Unterstützung anderer oder die Annahme von fremder Hilfe. Sie garantieren die Durchführung von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) auf alles spaltbare Material und sämtliche entsprechenden Nuklearaktivitäten (Artikel III).

Alle Mitgliedsländer versprechen die Beförderung der weltweiten zivilen Kernenergienutzung, insbesondere durch internationalen wissenschaftlich-technologischen Austausch (Artikel IV und Präambel), dürfen aber spaltbare Materialien und entsprechende Ausrüstungen nur dann an andere weitergeben, wenn sie nuklearen Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).

Dem NVV gehören bis auf die »inoffiziellen« Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel alle Länder der Erde an. Nord-Korea hat allerdings im Januar 2003 seinen Austritt aus dem Vertragssystem erklärt.

Wirksamkeit und Kritik des Nichtverbreitungsregimes

Das bestehende Nichtverbreitungsregime konnte die Verbreitung, Weiterentwicklung und Ausbreitung von Kernwaffen zwar verlangsamen, war und ist aber nicht in der Lage, die nukleare Rüstungsdynamik aufzuhalten oder umzukehren. Verschiedene Mängel begrenzen seine Wirksamkeit:

  • Die Unterscheidung zwischen Kernwaffenstaaten und Nicht-Kernwaffenstaaten wird als Diskriminierung kritisiert. Den offiziellen fünf Nuklearmächten ist im Prinzip alles im Nuklearbereich erlaubt; Kontrollen müssen dem gemäß keine durchgeführt werden. Eine zweite Klasse von Staaten verzichtet auf den Kernwaffenbesitz, hat dafür aber Zugriff auf alle Nukleartechnologien, sofern diese unter den nuklearen Sicherungsmaßnahmen der IAEO zivil genutzt und entwickelt werden. Dagegen wird einer dritten Gruppe von Staaten weder der Kernwaffenbesitz gestattet noch der Zugang zu sensitiven Nukleartechnologien eröffnet. Ein solches Dreiklassen-System mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten ist auf Dauer nicht stabil.
  • Die aktive Verbreitung der Nukleartechnik unter zivilem Deckmantel trägt aufgrund der engen zivil-militärischen Verflechtung zur Verbreitung der Atombombe bei. So liefert die Anreicherungstechnologie für Reaktoruran auch die Möglichkeit, hochangereichertes Uran (HEU) für Waffenzwecke abzuzweigen. Im Reaktorbetrieb wird eine große Menge des Bombenstoffs Plutonium als Nebenprodukt erzeugt (inzwischen weltweit etwa 70 Tonnen pro Jahr, bislang mehr als 1.000 Tonnen). Mindestens 20 Staaten haben bereits Zugriff auf eine sensitive Anreicherungs- oder Wiederaufarbeitungstechnologie, die die Nuklearwaffenoption eröffnet. Um den Abrüstungsprozess irreversibel zu machen, müssen diese Materialien vor jeglichem Zugriff gesichert und dann so unzugänglich wie möglich endgelagert oder gar unbrauchbar gemacht werden.
  • Das Problem der Ambivalenz von Nukleartechnologien lässt sich allein durch die Sicherungsmaßnahmen der IAEO, die eine Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdecken sollen, nicht in den Griff bekommen. Mit den praktizierten Verfahren technischer Überwachung ist eine umfassende Kontrolle nicht zu erreichen, eine sichere Abgrenzung ziviler und militärischer Nutzung nicht zu garantieren. Damit können Mitgliedsstaaten des NVV alle wesentlichen sensitiven Nukleartechnologien im Lande aufbauen, um in einem zusätzlichen geheimen Programm den Weg zur Bombe zu verfolgen, der dann zu einem geeigneten Zeitpunkt auch offen politisch betrieben werden kann. Der NVV bietet sogar die Möglichkeit, die Mitgliedschaft im Vertrag mit dreimonatiger Kündigungsfrist zu beenden. So war es für die NVV-Mitgliedstaaten Irak und Nordkorea möglich, trotz NVV wesentliche Voraussetzungen für ein geheimes Waffenprogramm zu schaffen.
  • Während Artikel VI des NVV nukleare Abrüstung (ja sogar die vollständige und allgemeine Abrüstung) als endgültiges Ziel festschreibt, ist kaum erkenntlich, wie innerhalb des vorgegeben Rahmens der nukleare Abrüstungsprozess ernsthaft beschleunigt oder gar zu Ende gebracht werden könnte. Der NVV selbst enthält keine Umsetzungsbestimmungen. Der Vertrag kann somit der Fortsetzung der Rüstungsdynamik konkret nichts entgegensetzen, solange keine weiteren Verträge zur Umsetzung abgeschlossen werden. Das Umfassende Teststoppabkommen von 1996 verbietet zwar jegliche Nuklearexplosionen – also auch für Kernwaffentests -, schränkt aber die Kernwaffenentwicklung mit fortgeschrittenen Technologien nicht ein. Dies erlaubt es den Kernwaffenstaaten, Laborversuche und Computersimulationen voranzutreiben. In den USA wurden in den vergangenen Jahren mit dem »Stockpile Stewardship Program« (Programm zur Bestandsicherung) die Ausgaben für Kernwaffenforschung sogar noch erhöht.
  • Die Diskriminierung der einen bei fortgesetzter Entwicklung und Modernisierung der Kernwaffenarsenale der anderen hat zum Entstehen neuer Kernwaffenaspiranten beigetragen, die sich einem »Atomwaffensperrvertrag« nicht unterordnen wollen, der allein die horizontale Proliferation (Weiterverbreitung in andere Länder) begrenzt und die Machtstrukturen der Welt repräsentiert. Dies steht im Widerspruch zu UN-Dokumenten der 1960er Jahre. Damals wurde der NVV lediglich als erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen angesehen, die sich nicht auf die damals besonders dringliche Gefahr der Weiterverbreitung beschränken sollten. Indien hat stets gegen die Lesart der Kernwaffenstaaten protestiert und daraus mit der Entwicklung eigener Kernwaffen die Konsequenzen gezogen, gefolgt von Pakistan. Für Israel stand die eigene Kernwaffenoption ohnehin nicht zur Disposition. Sollten die USA und andere Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtungen aus dem NVV weiterhin nicht ernst nehmen, besteht die Gefahr, dass das ganze Nichtverbreitungsregime seine Grundlage verliert.

Die Kernwaffenstaaten sind nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben und die Abrüstungsverpflichtung in die Tat umzusetzen. Der zwar völkerrechtlich nicht verbindliche, aber politisch bindende Katalog von »Prinzipien und Zielsetzungen«, den die NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 1995 in Kombination mit der Entscheidung für die unbeschränkte Vertragsverlängerung akzeptierte, enthält zwar ernstzunehmende Aussagen zur Abrüstungsfrage, die als vorsichtige Konkretisierung von Artikel VI des NVV angesehen werden können. Doch hat sich die Befürchtung, dass mit der Durchsetzung der unbefristeten Verlängerung des NVV auch das Versprechen auf nukleare Abrüstung auf unbestimmte Zeit verschoben werden sollte, leider bestätigt. So sollte im Anschluss an das Umfassende Teststoppabkommen ein weiterer Vertrag ausgehandelt werden, der die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffen verbietet (»cutoff«). Die Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz sind aber seit Jahren festgefahren.

Systematische Anstrengungen zur weltweiten Reduzierung der Kernwaffen mit dem langfristigen Ziel ihrer Eliminierung wurden bislang nicht unternommen. Die zwischen USA und Russland getroffene Vereinbarung über die weitere Reduktion ihrer Kernwaffen (SORT) vom Mai 2002 hat nicht den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages und verzichtet auf explizite Verifikationsvereinbarungen. Wegen der grundlegenden Probleme hilft es auch wenig, dass der Überprüfungsprozess für den Nichtverbreitungsvertrag etwas verstärkt wurde durch die Einführung von praktisch jährlichen Vorbereitungskonferenzen (mit Ausnahme des Jahres nach der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz). Dort sollen Prinzipien und Zielsetzungen nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung sowie Wege zur vollen Umsetzung des Vertrages diskutiert, sowie Arbeitsschwerpunkte und Mittel identifiziert werden, um schließlich zu ausgearbeiteten Empfehlungen zu kommen.

Von einiger Substanz sind die bei der NVV-Konferenz im Jahr 2000 beschlossenen „praktischen Schritte für systematische und progressive Bemühungen“. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten u.a. das Umfassende Teststoppabkommen rasch zu ratifizieren, ein Cutoff-Abkommen zu verhandeln, für die Irreversibilität (Unumkehrbarkeit) sämtlicher Abrüstungsmaßnahmen zu sorgen, die vollständige Abschaffung aller Kernwaffen zügig anzugehen, und die vorhandenen Verträge – insbesondere START II und den Raketenabwehrvertrag – uneingeschränkt umzusetzen. Seither aber wurden nicht nur die Erwartungen in die Umsetzung der Schritte bitter enttäuscht, sondern die USA schlugen mit der Nichtverfolgung von START II und der Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags gerade den entgegengesetzten Weg ein.

Das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs

Das Völkerrecht fordert gleiches Recht für alle Staaten. Es ist auf Dauer nicht tolerierbar, dass einige Staaten für sich das Recht auf Kernwaffenbesitz in Anspruch nehmen und es gleichzeitig anderen verweigern. Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 1996 zufolge steht die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten. Lediglich in dem Fall „einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stünde«, sah sich das Gericht zu keiner einstimmigen Stellungsnahme in der Lage. Doch bietet dies keine Grundlage für die Beibehaltung nuklearer Overkill-Potentiale und Ersteinsatzoptionen, mit denen die Wahrscheinlichkeit für extreme Notwehrsituationen noch erhöht wird. Sie stellen eine klare Verletzung des IGH-Gutachtens dar. Der IGH bekräftigt einmütig die Verpflichtung aller Staaten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“

Die Kernwaffenstaaten haben bislang keine hinreichenden Anstrengungen unternommen, die vom IGH zugespitzte Verpflichtung des NVV zu erfüllen. Im Gegenteil: substanzielle Verhandlungen über die nukleare Abrüstung werden abgelehnt und das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung noch immer als gegenläufig zu den eigenen nationalen Sicherheitsinteressen angesehen. Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen Zweifel an der deklarierten Abrüstungsbereitschaft aufkommen. Für die ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges, USA und Russland, spielen Kernwaffen weiter eine wesentliche Rolle in ihrer Sicherheitspolitik, die sich zunehmend gegen Staaten richtet, die nicht direkt in die Blockkonfrontation verwickelt waren. Alle fünf Kernwaffenstaaten betreiben auch nach der unbefristeten Verlängerung des NVV im Jahre 1995 eine Modernisierung ihrer Kernwaffen. Die Nuklearwaffendoktrin der NATO und vor allem das Festhalten an der nuklearen Ersteinsatzoption steht in deutlichem Gegensatz zum IGH-Gutachten, insbesondere im Kontext einer Verbindung zu »Out-of-Area«-Einsätzen der NATO.

Solange einzelnen Mitgliedern der Völkergemeinschaft der Zugriff auf Kernwaffentechnik erlaubt ist, bleibt die nukleare Bedrohung bestehen. Um diese vollständig und nachhaltig zu beseitigen, bedarf es systematischer Anstrengungen aller Staaten, den Weg in die kernwaffenfreie Welt auszuhandeln und völkerrechtlich zu kodifizieren. Nur mit der vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen würde das Hauptmotiv für die Beschaffung oder die Beibehaltung von Kernwaffen entfallen: Der Besitz von Kernwaffen durch andere Staaten.

Schritt für Schritt zum Ziel: Eine kernwaffenfreie Welt

Nach Ende der West-Ost-Konfrontation und der Ernüchterung bezüglich der Verheißungen der Nuklearenergie ist es an der Zeit, die Transformation des alten Nichtverbreitungsregimes zu einem Regime der kernwaffenfreien Welt anzugehen, das die Nachteile und Mängel des existierenden Regimes beseitigt, ohne seine Vorteile zu gefährden. Parallel zur politisch-deklaratorischen Ebene, die die Legitimität und die Motive der Verbreitung untergräbt, wäre es auf lange Sicht maßgeblich, die Fähigkeiten ernsthaft einzuschränken. Dazu müssen die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich beseitigt werden. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Voraussetzung sind Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind.

Der Transformationsprozess in die kernwaffenfreie Welt umfasst eine Vielzahl einzelner Schritte, die letztlich alle dem Ziel dienen sollen, die Voraussetzungen für den Bau von Kernwaffen zu beseitigen und nukleare Abrüstung nachhaltig und irreversibel zu machen. Auch wenn Kernwaffen nicht mehr »wegerfunden« werden können, so lassen sich doch die Barrieren gegen den Zugriff auf Kernwaffen deutlich erhöhen und die latente technische Kernwaffenoption so weit abbauen, dass eine politische Entscheidung für Kernwaffen nicht auf vorhandene Möglichkeiten zurückgreifen kann.

Wie ein Übergang in die kernwaffenfreie Welt aussehen kann, hat das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) bei der NVV-Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz im April 1995 in New York vorgestellt, unter Mitwirkung von 47 Wissenschaftlern aus 17 Ländern – unter ihnen auch der spätere Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat. In der Studie »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapons-Free World« (Über den Nichtverbreitungsvertrag hinaus: Eine atomwaffenfreie Welt) werden die Argumente für einen direkten und baldigen Weg in die atomwaffenfreie Welt zusammengefasst, und es werden wesentliche Schritte auf dem Weg zum Ziel vorgeschlagen. In später verfassten Studien zur kernwaffenfreien Welt (durch die Canberra-Kommission, das Stimson Center oder die US National Academy of Science) werden ebenfalls verschiedene Schritte diskutiert.

Zur Beendigung des qualitativen atomaren Rüstungswettlaufes müsste vor allem die Neuentwicklung von Kernwaffen unterbunden werden. Ein START-Folgeabkommen, das nochmals die Arsenale der vormaligen beiden Supermächte drastisch reduziert, wäre erforderlich. Dabei müssten endlich auch die kleineren Atommächte in die nukleare Abrüstung einbezogen werden. Um die Besonderheiten in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen, sind regionale Maßnahmen wichtig, insbesondere weitere Verträge über atomwaffenfreie Zonen. Eine gemeinsame Erklärung der Kernwaffenstaaten zum Nicht-Ersteinsatz und Garantien zum Nicht-Einsatz von Kernwaffen (Negative Sicherheitsgarantien) würde zur Verringerung der atomaren Bedrohung beitragen, wie auch die Sofortmaßnahme, die Alarmbereitschaft für alle Atomstreitkräfte zu beenden und anschließend die Gefechtsköpfe von den Trägersystemen zu trennen. Ein anderer Vorschlag ist die Reduzierung der Gesamtsprengkraft nuklearer Arsenale durch die komplette Eliminierung des sprengkraft-verstärkenden Stoffes Tritium. Ebenso sind Maßnahmen im Bereich der Trägersysteme (insbesondere Flugtestverbot für ballistische Raketen und Einführung eines Raketenkontrollsystems) und eine Reform der IAEO dringend geboten – ganz zu schweigen von der Sicherung der spaltbaren Materialien aus der nuklearen Abrüstung.

Letztlich muss eine umfassende Cutoff-Vereinbarung angestrebt werden, die die Produktion und den Gebrauch der wichtigsten waffengrädigen Nuklearmaterialien in signifikanten Mengen bannt und auch die vorhandenen Materiallager mit einbezieht. Dazu gehört insbesondere hochangereichertes Uran, Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium, das in den Arsenalen der fortgeschrittenen Atommächte eine wesentliche Rolle spielt. Nur ohne die unsinnige Einteilung in militärische (und damit verbotene) und zivile (erlaubte) Waffenstoffe kann die mögliche Neuproduktion von Kernwaffen schon an der Quelle abgeschnitten werden. Das existierende Nicht(weiter)verbreitungsregime würde durch Einschränkung der erlaubten zivilen Nukleartätigkeiten deutlich gestärkt und ein irreversibler Übergang in die atomwaffenfreie Welt würde vorbereitet.

Ein strittiger Punkt ist die Frage, wie der Weg in die kernwaffenfreie Welt aussehen soll. Viele westliche Analytiker sind der Überzeugung, dass eher ein evolutionärer, schrittweiser als ein umfassender, geplanter Ansatz zur Erreichung der kernwaffenfreien Welt angebracht und erfolgversprechend ist. Dagegen fordern einige Staaten ein streng geplantes Vorgehen, bei dem schon am Anfang ein Zeitplan für die einzelnen Schritte bis hin zur Abrüstung der letzten verbleibenden Kernwaffen festgelegt und von allen Kernwaffenstaaten als verbindlich anerkannt wird. Ein Beispiel ist das detaillierte Aktionsprogramm für die etappenweise Abschaffung der Kernwaffen, das die große Mehrheit der blockfreien Staaten (G-21) am 08.08.1996 in der Genfer Abrüstungskonferenz vorgeschlagen hat. Ein strenger Zeitplan würde die Hürde für den Eintritt in Abrüstungsverhandlungen erhöhen.

Der Gegensatz beider Ansätze ist unnötig verschärft und vermeidbar, denn umfassende und inkrementelle Ansätze für nukleare Abrüstungsverhandlungen bedingen und ergänzen sich wechselseitig. Es ist wie beim Bergsteigen: Wird nur der nächste Schritt geplant, ohne das Gesamtziel im Auge zu haben, wird dieses womöglich verfehlt oder nie erreicht. Wird andererseits nur das Fernziel angestrebt, ohne auf die möglichen und notwendigen nächsten Schritte zu achten, ist ein erfolgreiches Vorwärtskommen unwahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte gefunden werden, wenn sich alle Staaten grundsätzlich auf die Abschaffung der Kernwaffen einigen könnten und Verhandlungen mit dem Ziel einer Nuklearwaffenkonvention (NWK) beginnen, die als Rahmen dienen könnten, um das bestehende Nichtverbreitungsregime in das Regime einer nuklearwaffenfreien Welt zu transformieren.

Der Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention

Angestoßen durch die INESAP-Studie und das IGH-Gutachten wurde bei der New Yorker Vorbereitungskonferenz zur Überprüfung des NVV im April 1997 von mehreren Nichtregierungsorganisationen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung und Beseitigung von Kernwaffen vorgestellt. Dieser soll die grundsätzliche Machbarkeit einer kernwaffenfreien Welt demonstrieren, die Diskussion über die mögliche Struktur einer umfassenden Konvention anregen und Verhandlungen darüber anstoßen. Ende 1997 wurde der Modellentwurf zu einem offiziellen UN-Dokument und in die anderen fünf UNO-Sprachen übersetzt.

Der Modellentwurf umfasst 19 Artikel und 8 Anhänge/Protokolle. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, Kernwaffen sowie ihre nuklearen Materialien, Trägersysteme und Komponenten nicht zu erforschen, entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren, behalten oder transferieren sowie Kernwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Alle vorhandenen Kernwaffen, ihre Erprobungs- und Produktionsanlagen sowie ihre Trägersysteme, Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) werden zerstört oder konvertiert. »Spezielle Materialien« für Kernwaffen (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium) werden unter internationale Sicherheitskontrollen gestellt. Der Zugriff auf kernwaffenrelevante Materialien muss erschwert oder ausgeschlossen werden (preventive controls). Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen und Deklarationen, einen mehrphasigen Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung (Umsetzung), die internationale Kontrollagentur, nukleare Materialien, Waffen, Anlagen und Trägersysteme, die Ratifizierung, Finanzierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge und Protokolle vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen, Verfahren zur Kernwaffenzerstörung, die Beseitigung nuklearer Materialien und vertrauensbildende Maßnahmen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Wirksamkeit einer NWK ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, die den gesamten nuklearen Abrüstungsprozess überprüfbar machen, heimliche Kernwaffenaktivitäten mit ausreichender Sicherheit entdecken können und zur Vertrauensbildung beitragen. Dabei muss deutlich über die bisherigen Safeguard-Maßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden. Ein Schritt in diese Richtung ist das 1997 verabschiedete 93+2-Abkommen der IAEO, das u.a. erweiterte Inspektionsmöglichkeiten und Verfahren der Umweltüberwachung vorsieht.

Kernwaffenrelevante Nuklearmaterialien sind gemäß der NWK umfassenden Sicherheitskontrollen zu unterwerfen, die heimliche Abzweigungen signifikanter Mengen nicht erst nachträglich entdecken, sondern im Vorfeld deutlich erschweren bzw. praktisch unmöglich machen (auch im zivilen Nuklearsektor). Auch Nuklearmaterialien im zivilen Sektor sind in die Überprüfung einzubeziehen. Für Kernwaffen relevante Anlagen und Aktivitäten sind zu deklarieren.

Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfasst zerstörungsfreie Messverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt (Krypton-85). Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen betreffen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich. Beim Aufbau solcher Systeme kann auf die Vorarbeiten der CTBTO zurückgegriffen werden. Die UN-Behörde zur Umsetzung des Umfassenden Teststoppabkommens ist bereits dabei, ihr Überwachungssystem weltweit zu installieren und zu erproben. Manche Systeme zur Überwachung einer NWK müssten erst noch entwickelt werden. Dies gilt auch für Verfahren zur Sicherung und Beseitigung der Kernwaffenmaterialien, die in möglichst umweltschonender und proliferationsresistenter Weise erfolgen soll.

Um eine adäquate Überprüfung einer NWK zu erreichen, sind nicht nur verbesserte technische Verifikationsmittel zum Einsatz zu bringen und geeignete organisatorische Strukturen für die Verifikation zu schaffen, sondern auch Maßnahmen sozialer Verifikation zu vereinbaren. Eine Internationale Kontrollagentur nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention hätte für die Implementierung der NWK zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten.

Soziale Verifikation würde die potentielle Informationsbasis erweitern und wäre ein Beitrag zur Sicherung bzw. Schaffung demokratischer Rechte in allen Teilen der Welt. Hierbei ist die Partizipation von Nichtregierungsorganisationen bedeutsam. Kein Staat, der heimlich nach Kernwaffen strebt, kann sicher sein, dass nicht ein Mitwisser seine Kenntnisse gegen Belohnung weitergibt und damit eine frühzeitige Reaktion der Völkergemeinschaft ermöglicht.

Veränderung der Sicherheitsstrukturen

Die dramatischen Veränderungen nach Auflösung der Blockkonfrontation in Folge des Falls der Berliner Mauer 1989 müssen sich auch in Veränderungen der Sicherheitsstrukturen niederschlagen. Kernwaffen dürfen darin keine Rolle mehr spielen. Eine kernwaffenfreie Welt, in der mit den Kernwaffen auch die Hauptanreize zur Kernwaffenentwicklung beseitigt werden, bringt allen Staaten Sicherheitsgewinne. Die Verifikation einer Nuklearwaffenkonvention sollte größtmögliche Sicherheit anstreben, nicht jedoch die Illusion perfekter Sicherheit vermitteln. Der Verifikationsaufwand muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen. Das Risiko von Vertragsverstößen ist mit den Sicherheitsgewinnen in einer kernwaffenfreien Welt in Beziehung zu setzen. Um das Risiko zu minimieren, ist ein Verifikationssystem in ein effektives Regime internationaler Sicherheit einzubetten.

Ziel wäre es, die Entdeckungswahrscheinlichkeit von Vertragsverstößen zu erhöhen und Vertragsbrecher zu entmutigen, indem die Nutzbarkeit eventuell verbleibender Kernwaffenkapazitäten begrenzt und das Risiko für den Vertragsbrecher durch entschlossenes Handeln der Völkergemeinschaft inakzeptabel hoch gemacht wird. Angemessen wäre eine abgestufte Reaktion, um einen Vertragsbrecher von seinem Vorhaben abzubringen, ohne ihm die Möglichkeit zu einem gesichtswahrenden Rückzug zu nehmen. Der Einsatz von Gewalt, der eher die Motive für eigene Kernwaffen verstärkt, sollte nicht die erste Priorität haben. Es muss deutlich werden, dass durch heimliche Kernwaffenaktivitäten nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren ist.

Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, sieht in der Abschaffung der Atombombe zugleich einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung des Krieges und zur Errichtung einer friedlichen Weltordnung. Eine Reform der Sicherheitsstrukturen der Vereinten Nationen und parallel dazu stattfindender NW-Verhandlungen könnten sich somit gegenseitig befruchten. Besondere Bedeutung hat die Reorganisation des UNO-Sicherheitsrats, dem nicht mehr nur die Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder angehören dürfen.

Einfluss der NWK auf die offizielle Politik

Die Diskussion um eine Nuklearwaffenkonvention hat auch auf Regierungsebene ihren Niederschlag gefunden. 1996 wurde von Malaysia und anderen Staaten erstmals eine Resolution in die UNO-Generalversammlung eingebracht, die die vom IGH festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung begrüßte und alle Staaten aufforderte, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem baldigen Abschluss einer NWK führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt.“ Seither gehört die Resolution über eine NWK zum festen Diskussionsprogramm der UNO-Generalversammlung. Der Resolution mit dem Titel »Convention on the Prohibition of the Use of Nuclear Weapons« stimmten beispielsweise im Oktober 2003 insgesamt 118 Staaten zu, darunter auch die Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und China. Leider lehnte Deutschland – wie auch die übrigen Länder der Europäischen Union – die Resolution ab.

Mit diesem Abstimmungsverhalten widersprechen die europäischen Regierungen dem Willen der gewählten Europavertreter. Im Februar 2004 verabschiedete das Europäische Parlament eine »Resolution zur nuklearen Abrüstung«, in der im Hinblick auf die NVV-Überprüfungskonferenz 2005 „ein Fahrplan mit einem zeitlichen Stufenplan und Fristen für [nukleare] Abrüstungsschritte» gefordert werden. Ausdrückliche Unterstützung signalisiert das EU-Parlament in seiner Resolution einer neuen, globalen Initiative zur Durchsetzung einer Nuklearwaffenkonvention: der »Emergency Campaign« der international verfassten Mayors for Peace.

Die Dringlichkeitskampagne der schon mehr als 570 Bürgermeister aus über 100 Ländern fordert unter dem Namen »2020 Vision« von der NVV-Überprüfungskonferenz 2005 eine verbindliche Vereinbarung über Verhandlungen für eine NWK bis zum Jahr 2010 und die vollständige Abschaffung von Atomwaffen bis 2020.

Dass bei gutem Willen die Vereinbarung einer NWK machbar wäre, haben Nichtregierungsorganisationen durch die Ausarbeitung des viel gelobten NWK-Entwurfs vor acht Jahren bewiesen. Dass der gute Wille zum Übergang vom lückenhaften Nichtverbreitungsregime hin zur atomwaffenfreien Welt auch bei den politisch Mächtigen entsteht, dafür müssen die Wähler jetzt endlich sorgen. An der Dringlichkeit kann kein Zweifel bestehen.

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Müller, H./ Frank, K./Kelle, A./Meier, S./Schaper, A.: Nukleare Abrüstung – Mit welcher Perspektive? Der internationale Diskurs über die nukleare Rüstungskontrolle und die Vision einer kernwaffenfreien Welt. HSFK-Report 8/1996.

Rotblat, J. (ed.), Nuclear Weapons – The Road to Zero. Westview, 1998.

Scheffran, J.: Verifikation einer Nuklearwaffenkonvention, in Neuneck, G./Altmann, J./ Scheffran, J. (Hrsg.): Nuklearwaffen: Neue Rüstungstechnologien – Verifikation von Abrüstung. Tagungsbeiträge der Frühjahrstagungen in München und Regensburg, DPG/FONAS, 1998, S. 33 – 52.

Stimson Center: An American Legacy – Building a Nuclear-Weapon-Free World. März 1997.

Dr. Jürgen Scheffran ist Redakteur von Wissenschaft & Frieden, Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

Elemente einer Nuklearwaffenkonvention

Präambel: Gefahren und Folgen atomarer Rüstung, Gründe für die Abschaffung der Kernwaffen, bisherige Verträge und Resolutionen

Allgemeine Verpflichtungen: Ächtung und irreversible Beseitigung von Kernwaffen, einschließlich dazu gehöriger Voraussetzungen, Komponenten und Infrastruktur (Forschung, Entwicklung, Test, Produktion, Beschaffung, Besitz, Lagerung, Transfer, Einsatz und Einsatzandrohung von Kernwaffen, Materialien, Trägersystemen, Befehls- und Kontrolleinrichtungen)

Verifikation: Anforderungen und Maßnahmen zur Vertragsüberprüfung; Austausch über Daten und Verifikationsaktivitäten; internationale Kontrollagentur, internationales Überwachungssystem mit Sensoren, Inspektionen, Konsultationen, Vertrauensbildung; soziale Verifikation und Schutz von Informanten (whistleblowing)

Internationale Kontrollagentur: Implementierung der Konvention durch Verifikation, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung; Vertragsstaatenkonferenz, geschäftsführender Rat, Technisches Sekretariat; Trennung von Kontrolle und Verbreitung der Kernenergie

Schrittweise Implementierung und Zeitrahmen: Agenda zur stufenweisen Abschaffung der Kernwaffen mit zeitlichen Vorgaben für Registrierung, Unbrauchbarmachung, Transport, Zerstörung von Kernwaffen, zugehöriger Nuklearmaterialien und Infrastruktur

Inkrafttreten und Geltungsdauer: universelle Gültigkeit; Ratifizierungsoptionen (Minimalzahl von Mitgliedstaaten, Prozentsatz von Staaten, Besitz von Kernwaffen oder Nuklearanlagen, Implementierung des Verifikationssystems)

Vertragseinhaltung und -durchsetzung: Schaffung von Transparenz und Vertrauensbildung; nationale und internationale Verpflichtungen; Rechte und Pflichten von Einzelpersonen; Sanktionen und kollektive Maßnahmen; Mediation durch internationale Agentur; Internationaler Strafgerichtshof

Kontrolle und Beseitigung von Kernwaffenmaterialien: Umfassendes CutOff-Abkommen; Verbot und nachhaltige Beseitigung von kernwaffenfähigen Materialien (Plutonium, HEU, Tritium) und Anlagen (Wiederaufarbeitung, Anreicherung, Mischoxid-Anlagen, Einsatz von hoch angereichertem Uran); Verglasung und Lagerung von Plutonium; internationale Kontrolle nuklearer Materialien

zum Anfang | Auf dem Weg in den Unrechtsstaat?

Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

von Wolfgang Sternstein

Was unterscheidet den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat? Im Rechtsstaat geht Recht vor Macht, im Unrechtsstaat Macht vor Recht. Das ist, zugegeben, eine idealisierte Beschreibung des Verhältnisses von Macht und Recht, denn letztlich ist es die Macht, die das Recht setzt. Das Recht aber wirkt auf die Macht zurück und setzt ihr Grenzen. Der Rechtsstaat unterscheidet sich folglich vom Unrechtsstaat durch die Selbstbindung der Macht an das Recht. Darin besteht seine friedenserhaltende, seine humanisierende Wirkung.

Vertragsnorm und Vertragsumsetzung

Eine uralte Regel des Vertragsrechts lautet »Pacta sunt servanda« (Verträge müssen eingehalten werden). Dieses Gebot bildet das Fundament einer Rechtsgemeinschaft, in der Rechtssicherheit Vertrauen zwischen den Vertragsparteien schafft. Im nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV, abgeschlossen 1968, in Kraft getreten 1970) verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragspartei in Artikel II, »Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.» Soweit der Vertragstext. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

In Büchel, nicht weit von Cochem im Moseltal entfernt, lagern zehn US-amerikanischen Atombomben vom Typ B61-11, deren Sprengkraft insgesamt vermutlich etwa 60 Hiroshima-Bomben entspricht. In Büchel sind an Einsatzübungen deutsche Tornadopiloten beteiligt, die die Bomben im Kriegsfall nach einem entsprechenden Einsatzbefehl des US-Präsidenten ins Ziel fliegen würden. In Verbindung mit dem Mitspracherecht in der nuklearen Planungsgruppe der NATO läuft das unter dem Etikett »nukleare Teilhabe der Bundesrepublik«. Damit verstößt Deutschland eklatant gegen Artikel II des Nichtverbreitungsvertrags.

Und weiter: In Art. VI des NVV verpflichten sich die Vertragsparteien, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.» Diese Selbstverpflichtung gilt in erster Linie für die Atomwaffenstaaten. Sie gilt aber auch für die Bundesrepublik als Vertragspartei des NVV und NATO-Mitglied. Was hat sie in den knapp 30 Jahren seit Inkrafttreten des Vertrages getan, um dieser Selbstverpflichtung nachzukommen und auf die Aufnahme derartiger Verhandlungen zu drängen? – Nichts! Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten vom Juli 1996 zur Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen durch einstimmiges Richtervotum die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung noch einmal eindringlich angemahnt hat (Buchstabe F des Gutachtens).1

Schließlich hat die NVV-Überprüfungskonferenz im Jahre 2000 die Verpflichtung erneut nachdrücklich unterstrichen. Sie hat sogar eine gewisse Zweideutigkeit des Art VI NVV beseitigt. Die Formulierung »sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung» wurde von den Falken in den Atomwaffenstaaten so ausgelegt, als sei die nukleare Abrüstung an die allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Waffen gekoppelt. Das Dokument der Überprüfungskonferenz, ein offizieller Teil der Vertragsumsetzung, unterstreicht die unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abschaffung ihrer nuklearen Arsenale mit dem Ziel der nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsstaaten gemäß Art. VI verpflichtet sind.2

Was ist seitdem geschehen? – Wieder nichts! Die Vertragsstaaten des NVV und insbesondere die Bundesrepublik verhalten sich folglich permanent vertragswidrig. Statt ihre seit 34 Jahren bestehende Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einzulösen, haben sie sich auf ein schädliches und gefährliches nukleares Wettrüsten im Kalten Krieg eingelassen mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Eine dieser Folgen ist die Entstehung weiterer inoffizieller Atomwaffenstaaten, wie Israel, Indien und Pakistan, die nicht Mitglieder des NVV und zudem in Konflikte verwickelt sind, die zu den derzeit virulentesten gehören. Wahrscheinlich werden andere Staaten folgen, so dass es immer schwieriger wird, alle Atomwaffenstaaten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das Ziel des NVV, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern und einen Weg zu ihrer Abschaffung zu eröffnen, rückt damit in unerreichbare Ferne.

Die berechtigte Furcht, Terroristen könnten früher oder später Zugriff auf Atomwaffen erhalten, ist kein Argument gegen, sondern für den NVV. Denn das beste Mittel, dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist ihre Abschaffung. Damit würde die Gelegenheit für Diebstahl, Raub und Schwarzhandel weitgehend beseitigt. Terroristen, soviel ist jedenfalls gewiss, lassen sich durch Gegenterror nicht abschrecken.

Was ist ein Vertrag wert, der nur die schwachen, nicht aber die starken Vertragsparteien bindet? Sind die Nichtatomwaffenstaaten überhaupt noch an einen Vertrag gebunden, dem sie nur unter der Bedingung zugestimmt haben, dass die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erfüllen? – Sage bloß keiner, er sei nichts wert! Er ist viel wert, denn er dient als Instrument, um die schwachen Vertragsparteien, wie z.B. den Iran, zur Einhaltung eben jenes Vertrages zu zwingen, den die starken permanent verletzen. Nicht genug also, dass das Recht im Konflikt mit der Macht gewöhnlich den Kürzeren zieht; es tritt jetzt in den Dienst der Macht. Es wird zum Instrument zynischen Machtmissbrauchs.

Überflüssig zu sagen, dass ich nicht für die Annullierung des NVV plädiere, sondern für seine Einhaltung. Dabei übersehe ich keineswegs die praktischen Probleme, die mit der Umsetzung des Vertrages verbunden sind. Sie im Einzelnen zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Es muss genügen, auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema zu verweisen.3

Rechtsprechung im Geiste der Inhumanität

Es geht aber nicht nur um die Frage der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge, es geht auch um die Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit von Atomwaffen und der Politik der nuklearen Abschreckung. Bereits vor 43 Jahren hat der große Humanist, Arzt und Theologe Albert Schweitzer die Sache, um die es hier geht, auf den Punkt gebracht: »Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung.»4

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in dieser Frage von »weltgeschichtlicher Bedeutung» auf die Seite der Inhumanität geschlagen und damit gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes verstoßen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, der folglich einer sorgfältigen Begründung bedarf.

In den 1980er Jahren hat sich der Zweite Senat im Zusammenhang mit dem Streit um die »Nachrüstung« mehrmals zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Massenvernichtungswaffen geäußert. Er hatte keine Bedenken, Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung für verfassungskonform zu erklären.5

Seitdem hat sich die Völkerrechtslage allerdings durch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8. Juli 1996, das die Drohung mit dem Einsatz und den Einsatz von Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärte, wesentlich verändert. In Buchstabe D des Gutachtens stellen die Richterinnen und Richter des Internationalen Gerichtshofs einstimmig fest: »Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären (Kriegs-) Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.»6

Es liegt auf der Hand, dass Atomwaffen mit den genannten Anforderungen nicht vereinbar sind. Selbst das von Militärs gelegentlich vorgebrachte Argument, ein Atomschlag gegen ein Kriegsschiff auf See oder eine Atomwaffenbasis in der Arktis verstoße nicht gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, erweist sich als nicht stichhaltig. Denn selbst der Einsatz einer »kleinen« Atomwaffe (wobei die Hiroshima-Bombe bei den Militärstrategen als klein gilt) kann in der aufgeheizten Atmosphäre einer kriegerischen Auseinandersetzung einen Dammbruch für den massenhaften Einsatz von Atomwaffen bewirken. Darüber hinaus kann die bei der Explosion freigesetzte Radioaktivität das Leben und die Gesundheit Dritter schädigen.

Aus diesem Sachverhalt haben drei Richter des Internationalen Gerichtshofes denn auch die Schlussfolgerung hergeleitet, dass Atomwaffen bereits heute ausnahmslos als völkerrechtswidrig gelten müssen. Richter Weeramantry hat in seinem Sondervotum die allgemeinen Regeln des Kriegsvölkerrechts ausdrücklich benannt, gegen die Atomwaffen zwangsläufig verstoßen.7 Die Mehrheit der Richter des Internationalen Gerichtshofs mochte sich dieser konsistenten und stringenten Argumentation nicht anschließen. Sie konstatierten in E (2) eine geringfügige Lücke im Völkerrecht bzw. sahen sich nicht in der Lage, »definitiv die Frage (zu) entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.»8

Auf die Inkonsequenz dieser Feststellung soll hier nicht näher eingegangen werden. In Verbindung mit Buchstaben F ist ohnehin klar, dass diese Lücke im Völkerrecht – so sie denn besteht – durch die vom Gericht angemahnten Verhandlungen über die Abschaffung dieser Waffen geschlossen würde.

Die Völkerrechtslage ist somit weitgehend geklärt. Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen sind generell völkerrechtswidrig. Die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen – nach wie vor offizielle NATO-Strategie – ist folglich eklatant völkerrechtswidrig, denn die vom Gericht angesprochene extreme Ausnahmesituation liegt nicht vor. Das Gleiche gilt für die Bestrebungen der USA, Atomsprengköpfe mit relativ geringer Sprengkraft – sogenannte Mini-Nukes – sowie bunkerbrechende Waffen zu entwickeln und auf dem Gefechtsfeld einzusetzen.

Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung sind aber nicht nur völkerrechtswidrig, sie sind auch verfassungswidrig. Abschreckung wirkt, das wissen wir aus Erfahrung, niemals hundertprozentig. Das Furchtbare, das geradezu Teuflische am Abschreckungsprinzip ist, dass derjenige, der durch Strafandrohung von einem bestimmten Verhalten abzuschrecken sucht, sich damit in der Schlinge der Selbstbindung fängt. Versagt die Abschreckung, so ist er gezwungen, die Strafandrohung wahr zu machen, andernfalls verliert er seine Glaubwürdigkeit. Folglich ist er gezwungen zu tun, was er vielleicht gar nicht tun will.

Wenn das auf lange Sicht unvermeidliche Versagen der Abschreckung die Vernichtung ganzer Völker, ja der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde zur Folge haben kann, dann ist die Politik der nuklearen Abschreckung ethisch, politisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen.

Ich kenne den Einwand: Immerhin hat die nukleare Abschreckung den dritten Weltkrieg zwischen den Supermächten verhindert und insofern zum Frieden beigetragen, ja den nuklearen Holocaust gerade verhindert. Sie wird es folglich auch in Zukunft tun, zumal sich die Gefahr eines Atomkriegs in Mitteleuropa seit dem Ende des Kalten Krieges drastisch vermindert hat. Darauf kann ich nur mit General George Lee Butler, dem Oberkommandierenden der US-amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-94, antworten: »Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.»9

Der Mann weiß, wovon er spricht. Ich nenne den Atomkrieg, gleichgültig ob er ein Zehntel, ein Viertel, die Hälfte oder die ganze Menschheit auslöscht, das denkbar größte Verbrechen. Mord ist zweifellos ein schweres Verbrechen; doch das denkbar größte Verbrechen ist der Mord an der Menschheit, auch wenn wir es juristisch korrekt Menschheitstotschlag nennen, weil es bei den Tätern an den niedrigen Motiven fehlt. Denkt man an die Machtgier der Politiker und die Profitgier der Rüstungsindustriellen, so fehlt es auch an den niedrigen Motiven nicht. Dass dieses Verbrechen legal geplant, vorbereitet und am Ende auch durchgeführt wird, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer.

Kein Zweifel also, die nach wie vor gültige NATO-Doktrin der nuklearen Abschreckung verstößt gegen das Grundgesetz, denn sie bedroht im Fall ihres auf die Dauer unausweichlichen Versagens nicht allein den in Art. 79 Abs. 3 für unveränderbar erklärten Kernbestand der deutschen Verfassung, sondern darüber hinaus ihre Grundlagen mit Vernichtung: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsorganisation. Mag die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa derzeit gering sein, so ist das noch lange keine Garantie, dass das auch künftig der Fall sein wird. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass sich die Weltlage in kurzer Zeit dramatisch verändern kann.

Seit den 1980er Jahren hat es zahlreiche Versuche gegeben, durch Aktionen des zivilen Ungehorsams kleiner Gruppen von Friedensaktivistinnen und -aktivisten eine Revision der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Atomwaffen zu erreichen.

Seit 1990 haben am US-amerikanischen EUCOM (European Command) in Stuttgart-Vaihingen acht »Entzäunungsaktionen« und am Fliegerhorst Büchel fünf »ehrenamtliche Inspektionen im Namen des Internationalen Gerichtshofes« stattgefunden, an denen über sechzig Personen beteiligt waren. Sie wurden alle zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Siebzehn davon sind ins Gefängnis gegangen, um mit einer »Mahnwache hinter Gittern« zum gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen aufzurufen.

Es kam im Gefolge dieser Aktionen zu einer Richtervorlage (gem. Art. 100 Abs. 2 GG) und insgesamt vier Verfassungsbeschwerden. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wandten wir uns mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Wir machten geltend, dass Art. 25 GG uns nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie sie von Richter Weeramantry angeführt worden waren, zu beachten, denn sie gehen den deutschen Gesetzen – auch den Strafgesetzen! – vor und erzeugen Rechte und Pflichten für jeden Bewohner des Bundesgebietes.10

Das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht dazu durchringen, seine Rechtsprechung aus 1980er Jahren im Lichte des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zu revidieren. Selbst der Wunsch des großen alten Mannes der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes im militärischen Bereich auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden solle, stieß in Karlsruhe auf taube Ohren.11

Fazit: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt offensichtlich völkerrechts- und verfassungswidrig. Die Frage drängt sich auf. Warum hält es dennoch an ihr fest? Ist es die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, seine verhängnisvolle Rechtsprechung zu Massenvernichtungswaffen aus den 80er Jahren zu korrigieren? Mag sein. Bei weitem plausibler aber ist die Vermutung, es handle sich um eine rein politische Entscheidung: Die europäische Einigungsbewegung läuft auf eine Militärmacht Europa zu, die aufgrund des französischen und britischen Atomwaffenarsenals auch Atommacht sein wird. Eine Analyse der vorerst gescheiterten EU-Verfassung ergibt: Die Europäische Union wird, sofern es nach dem Willen Frankreichs und Deutschlands geht, eine Supermacht mit gemeinsamer Außen- und Militärpolitik, die europäische Interessen weltweit vertritt und je nach Interessenlage mal mit, mal ohne und mal gegen die Supermacht USA agiert.12 In einem solchen Europa ist für ein dem Staatsziel der Friedensstaatlichkeit verpflichtetes Grundgesetz und ein dem Grundgesetz verpflichtetes Verfassungsgericht kein Platz. Eine Bundesrepublik, die sich aus verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen dieser Entwicklung verweigern müsste, würde da nur stören.

Wenn Recht zu Unrecht wird…

Alle wirklich großen Verbrechen im vergangenen Jahrhundert, sagte der amerikanische Friedensaktivist Philip Berrigan, waren legal: Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der GULAG, Auschwitz und Hiroshima, und wenn die Menschheit eines Tages im atomaren Inferno zugrunde geht, wird auch dieses denkbar größte Verbrechen legal sein. Gegen die Vorbereitung dieses Verbrechens gewaltfreien Widerstand zu leisten, ist die Pflicht eines jeden Menschen, will er an diesem Verbrechen nicht mitschuldig werden.13

Eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Meines Erachtens gibt es nur noch eine einzige Instanz, die fähig wäre, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen: Die Macht des Volkes, die Macht der öffentlichen Meinung. Das ist gewiss keine neue Einsicht; sie wurde beispielsweise schon 1961 von Albert Schweitzer klar zum Ausdruck gebracht und als friedenspolitische Zielvorstellung artikuliert.14

Wir müssen uns fragen lassen, was wir seither getan haben, um dieses Ziel zu erreichen. Wohl stimmten bei einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts im Jahre 1998, die heute wohl kaum anders ausfallen dürfte, 93 Prozent der Befragten der Forderung zu: »Atomwaffen sind grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen und sollten weder produziert noch gehortet werden dürfen.» Und 87 Prozent der Befragten stimmten der Auffassung zu: »Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden.» Das Gleiche gilt für die Auffassung: »Die Atommächte sollten zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt schnellstmöglich mit der Verschrottung der eigenen Atomwaffen vorangehen.»15

Nun gilt es, aus dieser Meinungsmehrheit eine Willensmehrheit und schließlich eine Entscheidungsmehrheit im Bundestag zu machen. Deutschland hat durch seine Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht unerheblich zur Erfindung und dem Einsatz dieser grausamen Waffen beigetragen. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, uns mehr als andere für ihre Abschaffung einzusetzen.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher und lebt in Stuttgart. Er ist seit 30 Jahren in der Anti-AKW-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv und hat an zahlreichen gewaltfreien Aktionen teilgenommen. Wegen zivilem Ungehorsam stand er mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und saß achtmal im Gefängnis, insgesamt mehr als ein Jahr.

zum Anfang | … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

von Wolfgang Schlupp-Hauck

Von der ersten Atombombenexplosion in den USA am 16. Juli 1945 bis zur letzten Atomwaffendetonation am 30. Mai 1998 durch Pakistan fanden weltweit mindestens 2052 Atomexplosionen statt – im Schnitt alle neun Tage eine. Am 24. September 1996 unterzeichneten die fünf traditionellen Atommächte einen Vertrag, der das Verbot aller Atomexplosionen beinhaltet. Angesichtes des feierlichen Akts der Vertragsunterzeichnung an der UNO in New York mochte ein wichtiger Aspekt leicht aus den Augen verloren gehen: Die Regierungschefs der Großmächte waren buchstäbliche von Tausenden, ja Hunderttausenden von Menschen fast an den Verhandlungstisch »gezerrt« worden, um öffentlich das zu versprechen, was sie von Anfang an hätten tun sollen: die Atomtests endlich vertraglich zu verbieten.“1

Auch wenn der umfassende Teststoppvertrag noch nicht in Kraft ist, das weltweite Netz mit Messstationen zu seiner Überprüfung ist teilweise schon in Betrieb und soll bis 2007 fertig gestellt werden.

Ohne den Druck der internationalen Bewegung wäre es zu diesem Ergebnis mit Sicherheit erst viel später, vielleicht auch gar nicht gekommen. Seit Mitte der 1950er Jahre wehrten sich Bürger mit den unterschiedlichsten Aktionsformen gegen nukleare Rüstung. Wissenschaftler erklärten, dass sie sich nicht an Atomwaffenforschung beteiligen werden; Nichtregierungsorganisationen belagerten Diplomaten und Politiker; wagemutige Zeitgenossen fuhren mit Segelschiffen in die Atomtestgebiete im Pazifik; andernorts drangen Demonstranten auf dem Landweg in die Testgelände vor. Protest und Widerstand erzwangen im Wechsel von Lobbyarbeit, kleinen Aktionen, Massendemonstrationen und zivilem Ungehorsam die Fortschritte der »großen« Politik.

Der intensiven, jahrelangen Lobbyarbeit ist es zu verdanken, dass der Internationale Gerichtshof 1996 sein Rechtsgutachten über die Legalität von Atomwaffen verkündete und erklärte, dass die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtswidrig sind.2 Aus der Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen entstand 1995 anlässlich der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) das internationale Netzwerk für die Abschaffung von Atomwaffen, Abolition 2000, dem über 2.000 Gruppen in 90 Ländern angehören.

Um zu zeigen, dass die im NVV geforderte vollständige nukleare Abrüstung möglich ist, erarbeiteten ausgewiesene internationale Experten der »Atomwaffen abschaffen«-Bewegung einen Vertragsentwurf zur kontrollierten Abschaffung aller Atomwaffen. Dieser Vorschlag einer Nuklearwaffenkonvention wurde 1997 von Costa Rica bei den Vereinten Nationen eingebracht. Er wurde damit UNO-Dokument. Dennoch – der Abschluss einer solchen Konvention scheint in weiter Ferne. Weiteres Bürgerengagement ist unerlässlich, um die Atomkriegsgefahr endlich aus der Welt zu schaffen.

Der Bürgermeister von Hiroshima und Vorsitzende der Mayors for Peace, Tadatoshi Akiba, kündigte im April 2003 bei einem Treffen zur Vorbereitung der nächsten NVV-Überprüfungskonferenz eine Dringlichkeitskampagne von unten an. Er forderte, dass bei der Überprüfungskonferenz 2005 ein konkreter Zeitplan für Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention vereinbart werden müsse. Akiba schlägt einen fünfjährigen Verhandlungszeitraum und eine zehnjährige Abrüstungsphase vor. Die letzen Atomwaffen würden also im Jahr 2020 verschrottet. Einige Monate später wurde die Kampagne unter dem Namen »2020 Vision« in Nagasaki offiziell gestartet.

Zwischen den kommunalpolitischen Repräsentanten der Mayors for Peace und der Friedensbewegung sind neue Bündnisse im Entstehen. Der deutsche Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« startete zur Unterstützung von »2020 Vision« inzwischen die Kampagne »…auf keinem Auge blind! atomwaffenfrei bis 2020« (siehe www.atomwaffenfrei.de). Ziel: die Friedensarbeit vor Ort mit der hohen diplomatischen Ebene der Staatsverhandlungen zu verbinden – wenn möglich, mit dem eigenem Bürgermeister.

Die neue Kampagne eröffnet jedem die Möglichkeit, das Atomwaffenthema lokal aufzugreifen. Beispielsweise indem – sofern noch nicht der Fall – die eigene Gemeinde aufgefordert wird, den Mayors for Peace beizutreten und die Kampagne zu unterstützen. Mit der Aktion »Mal dir den Frieden« schafft der Trägerkreis eine Möglichkeit, die Öffentlichkeitsarbeit vor Ort mit dem internationalen Geschehen zu verbinden. Im April 2005, während der NVV-Überprüfungskonferenz in New York, soll ein Meer von bunten Tüchern mit Abrüstungsvisionen aus aller Welt die Diplomaten und Politiker auf ihrem Weg in die Verhandlungen begrüßen. Der Wunsch der Menschen nach einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen soll auf diese Weise unübersehbar werden. Mehr Nichtregierungsorganisationen als je zuvor sollen sich 2005 in New York einmischen (gehofft wird auf mehr als 2.000) und zu einem »Völkergipfel für nukleare Abrüstung« zusammenkommen. Der Bürgermeister von Hiroshima will die Unterzeichnerstaaten bei dieser Gelegenheit noch einmal dringlich aufrufen, einen Zeitplan für die Abschaffung aller Atomwaffen zu verabschieden.

Sollte die Überprüfungskonferenz ohne Zeitplan enden, will Bürgermeister Akiba einen »Hiroshima-Prozess« initiieren, vergleichbar dem »Ottawa-Prozess«, der außerhalb der üblichen Abrüstungsgremien verlief. Dieser führte Ende der 1990er Jahre zum Verbot von Antipersonen-Landminen. Akiba wird in diesem Falle seine eigene Stadt als Tagungsort anbieten. Die Verhandlungen für eine atomwaffenfreie Welt würden dann am 6. August 2005 in Hiroshima aufgenommen: 60 Jahre nach dem ersten Atombombenabwurf durch die USA.

Wolfgang Schlupp-Hauck ist Mitarbeiter der Pressehütte Mutlangen und dort Mitherausgeber der Zeitschrift FreiRaum (für eine Welt ohne Atomwaffen und die friedliche Nutzung des Weltraums).

zum Anfang | Glossar

von Lothar Liebsch

Atom-, Kern-, Nuklearwaffen:

Die Energie, die von einer Kernwaffe freigesetzt wird, stammt aus dem Atomkern (nucleus). Der bei Atombomben (Fissionswaffen) ablaufende Vorgang beruht auf der Spaltung von Uran- oder Plutoniumkernen in leichtere Bruchstücke, die Spaltprodukte. In einer thermonuklearen Waffe oder Wasserstoffbombe (Fusionswaffe) werden die Kerne schwerer Wasserstoff-Isotope (Deuterium und Tritium) bei sehr hohen Temperaturen miteinander verschmolzen. Dieser Vorgang wird von einem Kernspaltungsprozess ausgelöst.

Bunkerknacker (bunker buster):

Eine erdeindringende Waffe, die unterirdische Anlagen, Kommandobunker oder Massenvernichtungswaffen-Lager zerstören soll. Es gibt bereits konventionelle »bunker buster«, die im Irakkrieg eingesetzt wurden, und eine US-Atombombe mit begrenzten Fähigkeiten dieser Art, die auch in Deutschland stationierte B-61 Modell 11. Bei dem in den USA in Planung befindlichen »Robust Nuclear Earth Penetrator« handelt es sich um eine neue Generation erdeindringender Atomwaffen.

Fallout:

Entsteht hauptsächlich durch verstrahltes Erdreich bei niedrigen Luft- oder Bodendetonationen. Eine Bodendetonation erzeugt immer radioaktive Teilchen. Dabei fallen große und schwere Teilchen innerhalb weniger Minuten nach der Detonation dicht am Nullpunkt zu Boden, so dass hier eine hohe, für Menschen tödliche, Strahlenbelastung entsteht. Die leichteren und kleineren Teilchen steigen mit dem Feuerball und der Explosionswolke zunächst nach oben und fallen dann nach und nach in Windrichtung wieder zu Boden. In der Regel beginnt der radioaktive Niederschlag (Fallout) nach weniger als einer Stunde wieder zu Boden zu fallen und hält ein bis zwei Tage lang an, je nach der Entfernung zum Nullpunkt. Bei Explosionen mit einem hohen Detonationswert werden kleinste verstrahlte Teilchen bis in die Stratosphäre geschleudert und können dort monate- oder jahrelang verbleiben, bevor sie wieder auf den Erdboden sinken. Über Ausmaß und Intensität des radioaktiven Niederschlags entscheiden verschiedene Faktoren, deren wichtigster die Wetterlage ist. Bei unsteten oder umlaufenden Winden in unterschiedlichen Höhen nimmt das Gebiet radioaktiven Niederschlags sehr komplexe Formen an, möglicherweise mit Stellen hoher Konzentration (hot spots) und strahlungsfreien Bereichen, so dass es in der Regel unmöglich ist, eine verlässliche Vorhersage über das Niederschlagsgebiet zu erstellen. Auch kann bei Regen oder Schnee eine Luftdetonation unter den Wolken, die bei klarem Wetter einen unerheblichen radioaktiven Niederschlag verursacht hätte, zu einem beträchtlichen nicht vorhersehbaren lokalen Niederschlag führen, weil die radioaktiven Teilchen durch den Regen oder Schnee konzentriert zu Boden fallen.

IAEO:

Die Internationale Atomenergieorganisation hat ihren Sitz in Wien. Sie wurde 1957 mit dem Ziel gegründet, den „Beitrag der Kernenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der Welt“ zu erhöhen. Gleichzeitig soll sie verhindern, dass die bei der Nutzung von Nukleartechnologie gewährte Unterstützung militärisch genutzt werden kann. Entsprechend dieser Zielsetzung lassen sich die Aufgabenbereiche in die Förderung der Anwendung der Kernenergie, Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung der Abzweigung spaltbaren Materials unterteilen. Der IAEO gehören derzeit 134 Mitgliedstaaten an. Oberste beschlussfassende Organe sind die Generalkonferenz und der Gouverneursrat mit 35 Staaten.

Konventionelle/nicht-konventionelle Waffen:

Kriegswaffen werden nach Massenvernichtungswaffen und konventionellen Waffen unterschieden. Nicht-konventionell sind atomare, biologische, chemische (ABC-) und radiologische Waffen. Bei letzteren kommt es nicht zur Kernspaltung; statt dessen werden radioaktive Materialien freigesetzt und in der Umwelt verteilt (»schmutzige Bombe«). Zu den konventionellen Waffen gehören alle Handfeuerwaffen, Panzer- und Panzerabwehrwaffen, Raketen- und Raketenabwehrsysteme, Flugabwehrwaffen, Artilleriegeschütze, Bewaffnung von Kriegsschiffen, Bewaffnung von Flugzeugen, Munition, Bomben, Minen und pyrotechnische Kriegsmittel. Mit dem am 19. November 1990 auf dem KSZE-Gipfel in Paris unterzeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-I-Vertrag) wurden erstmals drastische Reduzierungen bei den konventionellen Waffen (Panzer, Artillerie, Kampfflugzeuge) zwischen Atlantik und Ural festgelegt. Darüber hinaus gibt es Vereinbarungen zur Ächtung besonders grausamer Waffen, beispielsweise das Protokoll II zum Übereinkommen von 1980 über konventionelle Waffen. Es regelt den Einsatz von Anti-Personenminen, Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtungen.

Miniatomwaffe (mini nuke):

Eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen. (Zum Vergleich: Die Bombe von Hiroshima hatte 13 Kilotonnen). Die Forschung an kleinen, technisch hochentwickelten Atomwaffen hat in den USA begonnen, nachdem ein zehn Jahre bestehendes Verbot der Entwicklung von Miniatomwaffen aufgehoben wurde. Es gibt im US-Arsenal bereits Bomben, die als Mini Nukes einsetzbar sind. Die »Atomwaffen-Familie« B-61 kann mit einer Sprengkraft von 0,3 bis zu 340 Kilotonnen konfiguriert werden.

Nichtverbreitungsvertrag (NVV):

Auch als Atomwaffensperrvertrag bekannt; 1968 vereinbart und 1970 in Kraft getreten. Der Vertrag schreibt fest, dass ausschließlich China, Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion (bzw. später Russland) und die USA Atomwaffen entwickeln und besitzen dürfen. Die Atomwaffenstaaten verpflichten sich in Artikel VI zur Abrüstung ihrer Atomwaffen. Die mehr als 180 Nicht-Atomwaffenstaaten, die dem Vertrag beigetreten sind, verzichten auf Atomwaffen (Artikel II), bekommen im Gegenzug aber Nuklearmaterialien, wissenschaftliches Know-How und Technologien zur Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke (Energie, Medizin, Forschung) zur Verfügung gestellt (Artikel IV). Die Vertragsumsetzung wird alle fünf Jahre überprüft. Die Überprüfungskonferenzen werden jeweils in den drei Jahren zuvor auf speziellen Treffen vorbereitet. 1995 wurde der Vertrag auf unbefristete Zeit verlängert.

Nukleare Teilhabe der NATO:

Die nukleare Teilhabe in der NATO besteht aus zwei Komponenten: Zum einen der technischen Teilhabe, mittels derer Piloten und Flugzeuge der nicht-nuklearen NATO-Staaten im Kriegsfall US-Atomwaffen einsetzen können und dies im Frieden üben. Zum anderen aus der politischen Teilhabe, d.h. dem Recht, über Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und Nuklearwaffeneinsatzplanung in der NATO mitdiskutieren zu können.

Nuklearwaffenkonvention (NWK):

Die Etablierung einer atomwaffenfreien Welt erfordert einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt. Eine solche NWK muss eine zeitlich unbegrenzte Gültigkeit haben. Damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Atomwaffenstaat bekommen und beibehalten, müsste eine NWK unter anderem folgendes vorsehen: Beendigung der Kernwaffenproduktion, Auflösung der vorhandenen Arsenale, Verbot jeglicher Wiederbeschaffung, Verbot jeglicher Kernwaffenforschung, Errichtung eines wirksamen internationalen Kontrollsystems. Eine NWK muss ferner die Rechte und Pflichten ihrer Mitgliedsländer festlegen, mögliche Verletzungen des Vertrages definieren sowie daraufhin erfolgende internationale Reaktionen festschreiben.

Proliferation:

Die Weitergabe von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-Waffen) bzw. deren Trägersystemen sowie die Mittel und das Know-how zu deren Herstellung an andere Länder.

Sprengkraft:

Die Explosionsenergie einer Bombe (Detonationswert) wird in den Maßeinheiten Kilotonne (KT) und Megatonne (MT) angegeben. Diese Maßeinheiten bezeichnen die Energie, die von 1.000 bzw. 1 Million Tonnen TNT (Sprengstoff Trinitrotoluol) freigesetzt wird. Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von 13 KT. Die Nagasaki-Bombe hatte eine Sprengkraft von 22 KT. (Anmerkung: 200 Gramm TNT reichen aus, um einen Menschen zu töten!)

Strategische, taktische Waffen:

Strategische Atomwaffen sind für den Einsatz in großer Reichweite vorgesehen. Trägersysteme für strategische Einsätze sind Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote. Die Zahl der strategischen Atomwaffen, die tatsächlich eingesetzt werden können, hängt von der Art und Anzahl der Trägersysteme ab. Taktische Atomwaffen sind Kernwaffensysteme, die auf Grund ihrer Reichweite, ihres Detonationswertes und der Art ihrer Stationierung für einen Einsatz gegen militärische Ziele auf einem begrenzten Gefechtsfeld eingesetzt werden können. Solche Waffen sind Artilleriegeschosse, bodengestützte mobile Raketen und Flugkörper, von Flugzeugen eingesetzte Bomben, Raketen und Flugkörper und atomare Bodensprengkörper. Die Seestreitkräfte verfügen in diesem Segment über U-Boot gestützte Marschflugkörper oder U-Boot-gestützte ballistische Raketen, Torpedos und U-Boot-gestützte Kurzstreckenraketen für die U-Boot-Abwehr. Die landgestützten Systeme haben Reichweiten von 15 km (Artillerie) bis zu mehreren 100 km (schwere Raketen).

Trägersysteme:

Bezeichnet die Transportmittel für (Kern-) Waffen.

Umfassender Teststoppvertrag:

Bereits in den 1960er Jahren wurden vertraglich Atomtests unter Wasser, in der Atmosphäre und im Weltraum verboten. Der Umfassende Teststoppvertrag von 1996 verbietet auch unterirdische Tests. Bislang haben 170 Staaten unterzeichnet (zuletzt Libyen). Allerdings bestehen Zweifel, ob der Vertrag jemals in Kraft tritt, da zuerst alle 44 Staaten, die Atomenergie nutzen – und somit auch Atomwaffen herstellen könnten – beitreten müssen. Nicht unterzeichnet haben Indien, Pakistan und Nordkorea. Noch nicht ratifiziert haben USA, China und Israel.

Urananreicherung:

Die Urananreicherung erfolgt derzeit großtechnisch mit den Verfahren der Gasdiffusion und der Gaszentrifuge. Die Gasdiffusion hat einen relativ geringen Trennfaktor, was bei der Anreicherung von Reaktorbrennstoff ca. 1.400 Anreicherungsstufen, entsprechend große Anlagen und einen großen Energieverbrauch zur Folge hat. Das Gaszentrifugenverfahren benötigt demgegenüber nur 10 Anreicherungsstufen, dafür ist der Materialdurchsatz relativ gering. Mit beiden Verfahren kann eine Anreicherung auf hohe Uran-235-Konzentrationen erzielt werden, wie sie für den Bau von Kernwaffen erforderlich sind.

Verifikation:

Eine wichtige Voraussetzung für die Kontrolle und den Abbau von Kernwaffen ist die Verfügbarkeit von geeigneten Mitteln, mit denen überprüft (verifiziert) werden kann, ob sich die Staaten an die zu diesem Zweck getroffenen Vereinbarungen halten. So überwacht die IAEO beispielsweise, dass kein spaltbares Material aus der friedlichen Nutzung zu militärischen Zwecken abgezweigt werden kann.

Zusatzprotokoll:

Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag wurde 1997 von der IAEO beschlossen. Es ergänzt den Nichtverbreitungsvertrag von 1968. Es bietet mehr Kontrollmöglichkeiten (z.B. unangemeldete Kontrollen), die notwendig wurden aufgrund der Erfahrungen mit den Atomrüstungsplänen des Irak nach dem Golfkrieg 1991. Mehr als 80 Länder haben das Zusatzprotokoll unterzeichnet. Nach internationalem Druck und nach einem Ultimatum seitens der IAEO hat auch der Iran im Dezember 2003 das Zusatzprotokoll unterzeichnet.

Dr. Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D., Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal«

Anmerkungen

Sternstein, Wolfgang: Auf dem Weg in den Unrechtsstaat? Zur deutschen Atomwaffenpolitik und -rechtsprechung

1) Siehe IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster, Lit-Verlag.

2) Vgl. Rotblat, J.: Es wächst die Gefahr, dass ein neues nukleares Wettrüsten beginnt. Frankfurter Rundschau, 6. August 2003, S. 7.

3) Siehe z.B. IPPNW, IALANA, INESAP (Hrsg.) (2000): Sicherheit und Überleben. Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention. Berlin, IPPNW.

4) Schweitzer, A. (1982): Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München, Beck, S 132.

5) Siehe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE) 66, 39-65; 68, 1-111; 77, 170-240; 100, 209-214.

6) Zitiert nach IALANA, op.cit., S. 9.

7) Abgedruckt in IALANA, op.cit., S. 145-279.

8) Ibid, S. 10.

9) Butler, L.: Zwölf Minuten, um über das Schicksal der Menschheit zu entscheiden. Frankfurter Rundschau, 1. September 1999, S. 9; vgl. auch Butler, L.: Wir handelten wie Betrunkene. Der Spiegel, 3. August 1998, S. 138-141.

10) Zur Richtervorlage vgl. Sternstein, W. u.a. (1998): Atomwaffen abschaffen! Idstein/Ts., Meinhardt, S. 87ff.; zur Abweisung der Richtervorlage s. BverfGE 100, 209-214.

11) Vgl. IALANA, op.cit., S. 6.

12) Vgl. Pflüger, T. (2003): Eine Militärverfassung für die Europäische Union oder Auch die EU ist auf Kriegskurs. IMI-Analyse 2003/036. Verfügbar unter: www.imi-online.de

13) Sinngemäß wiedergegeben nach einem Vortrag von Philip Berrigan in Stuttgart im Frühjahr 1983.

14) In Schweitzer, A. (1961): Menschlichkeit und Friede. Berlin, Berliner Verlagsanstalt-Union, S. 172.

15) Forsa-Umfrage vom 2. Juni 1998 im Auftrag der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW).

Schlupp-Hauck, Wolfgang: … auf keinem Auge blind! Atomwaffenfrei bis 2020

1) Mit diesem Gedanken leiten Uwe Painke und Andreas Quartier, zwei Aktivisten der Atomteststoppkampagne, ihr Buch über das Bürgerengagement auf dem Weg zur nuklearen Abrüstung ein. Uwe Painke und Andreas Quartier: Gewaltfrei für den Atomteststopp, Tübingen, 2002, Books on Demand, ISBN 3-8311-2292-X.

2) Das Projekt Weltgerichtshof wurde in Genf von den Organisationen Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), International Peace Bureau (IPB) und International Association Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) gestartet.

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

Complex 2030:

US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert

von Jacqueline Cabasso

Unter dem Namen »Complex 2030« fassen die beteiligten Ministerien der Vereinigten Staaten – das für alle Nuklearangelegenheiten zuständige Energieministerium, vertreten durch die ihm untergeordnete National Nuclear Security Administration (NNSA),1 sowie das Verteidigungsministerium – ihre Pläne für eine Runderneuerung des Nuklearwaffenkomplexes bis zum Jahr 2030 zusammen. Fester Bestandteil des Planungszenarios ist der komplette Austausch des bestehenden US-Atomwaffenarsenals durch den so genannten Reliable Replacement Warhead (RRW, zuverlässiger Austausch-Sprengkopf). Wird das Projekt realisiert, so belaufen sich die Kosten in den nächsten 25 Jahren auf mehr als 150 Milliarden US$, legen sich die Vereinigten Staaten auf die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals auf unabsehbare Zeit fest und verletzt die Regierung ihre Verpflichtungen aus Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags „zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft“ beizutragen und „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen“ über die vollständige Abrüstung ihres Atomwaffenarsenals.2

Im neuen »Strategic Plan« erläutert das US-Energieministerium, dass die Behörde „eine reiche und vielseitige Geschichte hat, deren Wurzeln bis zum Manhattan Project und dem Wettrennen um die Entwicklung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg zurückreichen.“ 3 Im Los Alamos National Laboratory (LANL) in Neu Mexiko, speziell für das Manhattan Project gegründet, wurden die ersten Atombomben gebaut. 1952 wurde ein Konkurrenzlabor aufgebaut, das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) in Kalifornien. Hier entstand die Wasserstoffbombe, ein Bombentyp mit der vielfachen Sprengkraft der beiden US-Atombomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Heute sind die beiden Nuklearlaboratorien in ein ganz neues Wettrüsten verwickelt: Sie arbeiten an konkurrierenden Entwürfen für einen Sprengkopf, der die 100 Kilotonnen-Bombe W76 ersetzen soll; von diesem Bombentyp werden zur Zeit etwa 1.600 Stück auf U-Boot-gestützten Trident-Raketen einsatzbereit gehalten.4 Die NNSA wird bald eine Entscheidung für einen der beiden Entwürfe treffen und damit die nächste Programmphase einläuten.

Kürzlich wurde die Tabelle »Stockpile Transformation« (Transformation des Arsenals) aus dem Verteidigungsministerium bekannt, die einen Zeitplan für die künftige Gestaltung des Atomwaffenarsenals vorgibt. Für 2010 bis 2020 ist vorgesehen, dass die USA „Sprengköpfe für die nächste Generation Trägersysteme entwickeln.“ 5 Zur Langzeitvision der Tabelle, die bis zum Jahr 2030+ reicht, gehören 2-4 RRW-Typen.

(Neue) Atomwaffen bis an das Ende aller Zeiten

Bei einer Anhörung im Kongress prahlte im April 2006 der stellvertretende NNSA-Direktor für Verteidigungsprogramme, Thomas D’Agostino: „Wir haben mit dem RRW bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Vergangenes Jahr starteten das Verteidigungs- und das Energieministerium einen gemeinsamen RRW-Wettbewerb, in dem zwei unabhängige Entwicklerteams unserer Nuklearwaffenlaboratorien… die Optionen für den RRW erkunden. Einen solchen Wettbewerb hat es seit mehr als 20 Jahren nicht gegeben, und er bietet die einmalige Chance, die nächste Generation Atomwaffenentwickler und -ingenieure auszubilden. Beide Teams sind zuversichtlich, dass ihre Entwürfe den Vorgaben entsprechen und ohne Nukleartests zertifiziert und gefertigt werden können. Das Programm liegt im Terminplan, die Vorentwürfe liegen demnächst vor. In einem intensiven, gründlichen Peer Review werden dann die Entwürfe begutachtet und die Option ausgewählt, die für die ingenieurmäßige Entwicklung am besten geeignet ist.“6

Bei der Anhörung begründete D’Agustino, warum das Szenario von Complex 2030 Unterstützung verdient. Den Plan, der im April 2006 zum ersten Mal öffentlich vorgestellt wurde, beschreibt die NNSA wie folgt: „Der Zukunftspfad der NNSA liegt im Aufbau eines kleineren, effizienteren Nuklearwaffenkomplexes, der sich an die veränderlichen nationalen und globalen Sicherheitsprobleme anpassen kann.“7 Das RRW-Programm wird als Kernelement von Complex 2030 bezeichnet, „um die langfristige Zuverlässigkeit und Sicherheit des Atomwaffenarsenals sicher zu stellen und eine reaktivere Unterstützungsstruktur zu ermöglichen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass die Vereinigten Staaten jemals wieder unterirdische Tests durchführen müssen.“8

Die NNSA behauptet zwar, dass „der RRW keine neue Waffe mit neuen oder anderen militärischen Fähigkeiten bzw. Einsatzoptionen ist“,9 NNSA-Chef Linton Brooks hat aber immer offen zugegeben, dass Tests auch weiterhin nicht ganz vom Tisch seien: „Im Jahr 2030 kann unsere Reaktive Infrastruktur je nach Bedarf auch Waffen mit anderen oder modifizierten militärischen Anforderungen fertigen. Die Waffenentwickler-Community, die durch das RRW-Programm neu belebt wurde, kann eine vorhandene Waffe innerhalb von 18 Monaten modifizieren. Die Entwickler können innerhalb von 3-4 Jahren nach Erteilung eines entsprechenden Auftrags einen neuen Waffentyp konzipieren, entwickeln und in Fertigung geben… Wenn der Kongress und der Präsident entsprechend verfügen, können wir rasch auf veränderliche militärische Anforderungen reagieren.“10

Die NNSA sieht die Sache so: „Ist erst einmal der Nachweis erfolgt, dass die Fertigung von Austauschsprengköpfen in dem Zeithorizont möglich ist, in dem neue geopolitische Gefahren heraufziehen könnten, oder wenn der Nuklearwaffenkomplex zeitnah auf technische Probleme im Arsenal reagieren kann, dann können wir auch die Anzahl nicht-stationierter Sprengköpfe weiter verringern.“11 Diese Zielvorgabe macht den Anspruch, Atomwaffen schrittweise weiter abzurüsten, ganz offensichtlich zu Makulatur.

Der NNSA-Chef erklärte die Funktion der »reaktiven Infrastruktur« genauer: „Der momentane Atomwaffenkomplex wurde in den 1950ern und ’60ern für den Kalten Krieg aufgebaut. Wenn wir diese Infrastruktur nicht verbessern, kann sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden. Im Nuclear Posture Review12 [Überprüfung des Nuklearwaffendispositivs] von 2001 wurde ausgeführt, dass wir uns auf ein kleineres nukleares Abschreckungspotential zu bewegen, das leistungsfähiger ist und besser geeignet, auf die veränderliche Anforderungen zu reagieren. Unser Plan Complex 2030… bringt die NNSA auf einen Weg, der es uns ermöglicht, diese notwendigen nationalen Sicherheitsziele zu erreichen… Kurzum, ich sehe eine zukünftige Welt, in der ein kleineres, sichereres, verlässlicheres und zuverlässigeres Arsenal untermauert wird durch robuste industrielle und Entwicklungskapazitäten, mit denen wir besser auf veränderliche technische, geopolitische oder militärische Anforderungen reagieren können.“13

Bestandsicherung – ein Erbe aus der Ära Clinton

Unter Verweis auf die Zusage, die die Vereinigten Staaten bei der unbeschränkten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages im Frühling 1995 machten, gab Präsident Clinton im August desselben Jahres bekannt, dass er den Abschluss eines umfassenden Teststoppvertrages bis 1996 befürworte, um „die Gefahr einer Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verringern“.14 Gleichzeitig erklärte er die Absicht der USA, „im Rahmen unserer nationalen Sicherheitsstrategie“ die „strategischen Nuklearstreitkräfte aufrecht zu erhalten… In diesem Zusammenhang,“ sagte er, „ist die Aufrechterhaltung eines sicheren und zuverlässigen Atomwaffenarsenals im übergeordneten nationalen Interesse der Vereinigten Staaten.“ Clinton befürwortete energisch das Science Based Stockpile Stewardship-Programm der Nuklearwaffenlaboratorien (wissenschaftliches Bestandsicherungsprogramm) zur Aufrechterhaltung des »nuklearen Abschreckungspotentials« ohne weitere Atomwaffentests.

Etwa zehn Jahre später, im Oktober 2006, ließ die NNSA verlauten, sie plane eine Umweltverträglichkeitsstudie für Complex 2030 als Ergänzung zu der Umweltverträglichkeitsstudie, die 1996 bereits für das Stopckpile Stewardship-Programm erstellt worden war. Das Umweltschutzgesetz der USA schreibt vor, das in der Startphase einer Umweltverträglichkeitsprüfung die Öffentlichkeit zum Umfang (scope) der Studie angehört wird und dass bei der Prüfung »angemessene Alternativen« zu berücksichtigen sind. Folglich finden im Winter 2006/7 in Dutzenden von Gemeinden, die in der Nähe von Nuklearwaffenanlagen liegen, sowie in Washington D.C. sogenannte scoping meetings statt. Laut der Notice of Intent (Absichtserklärung), die im US-amerikanischen Bundesgesetzblatt abgedruckt wurde, soll die Umweltverträglichkeitsstudie „analysieren, wie sich die anhaltende Transformation des Nuklearwaffenkomplexes der USA auf die Umwelt auswirkt, wenn die Vision der NNSA für den Komplex bis zum Jahr 2030 … bzw. Alternativen umgesetzt würden.“15 Zum Planungsszenario von Complex 2030 gehören u.a. vier langfristig ausgelegte Strategieelemente, die diese Version so buchstabieren:

„(1) In Partnerschaft mit dem Verteidigungsministerium das Nuklearwaffenarsenal transformieren durch Entwicklung von Reliable Replacement Warheads, Überholung einer begrenzten Anzahl vorhandener Waffentypen und beschleunigte Demontage des Arsenals aus dem Kalten Krieg;

(2) Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen;

(3) einen vollständig integrierten und interdependenten Nuklearwaffenkomplex gestalten; und

(4) die wissenschaftliche und technologische Basis vorantreiben, die für nationale Sicherheit langfristig unabdingbar ist. Diese Strategien werden durch kurzfristige Maßnahmen ergänzt, um Vertrauen in den Transformationsprozess aufzubauen.“ 16

Und genau diese Aufgaben wurden auch schon mit Stockpile Stewardship angegangen. Der Haushaltsplan der NNSA für das Finanzjahr 200717 listet »Life Extension Programs« auf, also Programme zur Verlängerung der Lebenszeit von Sprengköpfen, um ein zuverlässiges Nuklearwaffenarsenal für die nächsten Jahrzehnte zu gewährleisten. Betroffen sind die Fliegerbombe B61,18 der Sprengkörper W76 für U-Boot-gestützte Raketen und der Atomsprengkopf W80 für Marschflugkörper.19

Bei der Aufstellung des Haushalts orientierte sich die NNSA am Nuclear Posture Review von 2001. Als Teile des geheimen Dokuments im Frühjahr 2002 über die New York Times an die Öffentlichkeit drangen, taten Rüstungskontrollexperten die dort aufgelisteten Vorhaben noch als »Wunschzettel« ab. Jetzt aber ist der Aufbau einer „Nuklearwaffeninfrastruktur, die sich an künftige Anforderungen anpassen kann“, erklärtes Ziel – diese Formulierung wird im Haushaltsplan 2007 wie in Complex 2030 verwendet – und im Budget werden die Mittel für das RRW-Programm erhöht. Das RRW-Programm sieht die Neuentwicklung von buchstäblich jeder einzelnen Sprengkopfkomponente vor, wahrscheinlich auch des »physics package«, also der Plutoniumhohlkugel (Plutoniumkern). Es ist nicht geplant, die neuen Nuklearsprengköpfe zu testen; um aber für alle Fälle gerüstet zu sein, sieht das Budget Mittel für die Betriebsbereitschaft des Atomtestgeländes in der Wüste von Nevada vor.

Überdies sind in den Haushalt Gelder eingestellt, um bis 2007 den Nachweis zu erbringen, dass die USA weiterhin Tritium produzieren können. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop, ist das »H« in der H-Bombe. Und tatsächlich: Am 4. Dezember 2006 ließ die NNSA verlauten, dass in der Atomfabrik von Savannah River Site (South Carolina) eine neue Anlage zur Extraktion von Tritium „den Betrieb aufgenommen hat, so dass jetzt Tritium aus Targets gewonnen werden kann und eine nachhaltige Tritiumversorgung für das Nuklearwaffenarsenal der Nation sichergestellt ist.“20 Somit werden in den USA jetzt wieder Tritium und Plutoniumkerne gefertigt, nachdem aus Umwelt- und Gesundheitserwägungen die Produktion 1988 (Tritium) bzw. 1989 (Plutoniumkerne) eingestellt worden war.

Geht es wirklich um Plutoniumkerne?

Das Nuklearlabor von Los Alamos ließ im April 2003 verlauten, es habe zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder einen Plutoniumkern gefertigt, der den Spezifikationen für das Arsenal der USA entspricht. Dabei handelte es sich um einen W88-Sprengkopf mit 475 Kilotonnen Sprengkraft21 für eine U-Boot-gestützte Tridentrakete, laut Presseerklärung ein „Eckpfeiler des nuklearen Abschreckungspotentials der USA.“22 Jetzt will die NNSA die Fertigungsrate von Los Alamos auf 30-40 neue Plutoniumkerne pro Jahr erhöhen. In ihrem Haushaltsplan für 2007 erklärt die NNSA, dass für die nächsten fünf Jahre Mittel vorgesehen sind, um „die Fertigungskapazität des LANL oder einer langfristigen Fertigungsanlage zu erhöhen.“ Daneben steigen die Mittel für die Fertigung und Zertifizierung von Plutoniumkernen im Livermore Lab.23 Dabei lagern in der Montage- und Demontageanlage Pantex in Texas nach wie vor mehr als 12.000 Plutoniumkerne aus demontierten Atomwaffen, die jederzeit wieder zum Einsatz kommen können.24

Das Labor von Los Alamos ist einer von fünf Standorten, die im Complex 2030 in Frage kommen als »konsolidiertes Plutoniumzentrum« für die längerfristige Forschung, Entwicklung, Kontrolle und Fertigung von Plutoniumkernen, wobei eine Kapazität von 125 »qualifizierten« Kernen pro Jahr angestrebt wird. Die Notice of Intent zur oben bereits erwähnten Umweltverträglichkeitsstudie sieht noch weitere Handlungsfelder vor, um die „Transformation zu einem modernisierten, kosteneffektiven Nuklearwaffenkomplex durchführen“ zu können, darunter die Konsolidierung redundanter Anlagen und Programme, um so die »Betriebseffektivität« von Tritiumforschung und -entwicklung ebenso zu verbessern wie Sprengstofftests und die Nuklearmateriallagerung. Zu den weiteren Prioritäten auf der Liste gehört die Suche nach Gelände für gemeinsame Flugtests, in denen „für vorhandene und künftige frei fallende Bomben die Hardware der NNSA und des Verteidigungsministeriums auf Schnittstellenkompatibilität gestestet wird“25 sowie für die beschleunigte Demontage nicht mehr benötigter Nuklearsprengköpfe. Mit anderen Worten: weniger, aber neuere Atomwaffen bis zum Ende aller Zeiten. Übrigens: Die »Alternative: Keine Aktion« der Umweltverträglichkeitsstudie sieht laut Notice of Intent „den Status Quo von heute vor und ist bereits in Planung.“ Auch bei einer negativen Beurteilung von Complex 2030 ist also kein Ende der Nuklearbewaffnung in Sicht.

Damit noch immer nicht genug. Das Pentagon und seine Subunternehmer drängen zusätzlich zur o.g. Runderneuerung der Nuklearwaffen auch auf die Entwicklung einer neuen Generation weitreichender Trägersysteme, wahlweise für konventionelle oder nukleare Bewaffnung. Solche Systeme, mit denen die USA vor allem ihre deutliche Überlegenheit bei der konventionellen Rüstung ausbauen wollen, könnten sich auf lange Sicht als noch gefährlicher erweisen als die beabsichtige Modernisierung nuklearer Sprengköpfe.26

Im November 2006 erregten die Ergebnisse einer Regierungsstudie zum Alterungsverhalten von Plutonium erhebliches Aufsehen. Die Studie wurde von Nuklearwissenschaftlern der Laboratorien von Livermore und Los Alamos durchgeführt und von der unabhängigen JASON-Gruppe überprüft und kam zu dem Schluss, dass Plutoniumkerne viel langsamer altern als gedacht. Die Experten fanden heraus, dass das Plutonium im Kernwaffenarsenal der USA bis zu 100 Jahre lang nutzbar sei – das ist mehr als doppelt so lange wie bisher angenommen. Einige Kritiker von Complex 2030 folgerten, damit sei „bewiesen“, dass die neuen Fertigungsanlagen und -konzepte für Plutoniumkerne „vollkommen unnötig“ seien.27 Ganz anders die demokratische Kongressabgeordnete des Wahlkreises vom Livermore Lab, für die das Alterungsverhalten von Plutonium nur ein Nebenaspekt ist, der die Entscheidung über das RRW-Programm nicht beeinflussen sollte. Letzteres beschrieb sie als „eine Gelegenheit zur Verjüngung des Komplexes“ und als Chance, die „cleversten Wissenschaftler der Welt“ an die Waffenlabors zu holen.28 Kaum überraschend also, dass die NNSA zwei Tage später bekannte, das RRW-Programm sei die beste Strategie „um das Nuklearwaffenarsenal der Nation auf lange Sicht ohne unterirdische Atomwaffentests aufrecht zu erhalten.“29

Die einzige sinnvolle Alternative: nukleare Abrüstung

Es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, dass das vorhandene Atomwaffenarsenal nicht »einsetzbar« sei. Ein Planungsdokument aus dem US-Verteidigungsministerium vom August 2006 belehrt uns da eines Besseren:

„Im Global Strike-Konzept30 tragen die Nuklearstreitkräfte der USA einzigartig und grundlegend zur Abschreckung bei… Atomwaffen bieten dem Präsidenten das ultimative Mittel, einen Konflikt innerhalb kürzester Zeit zu beenden, und zwar zu Bedingungen, die für die USA vorteilhaft sind… Atomwaffen drohen mit der Zerstörung der Anlagen, die für ihn den größten Stellenwert genießen, darunter seine Massenvernichtungswaffen, kritischen Industrieanlagen, Schlüsselrohstoffe sowie die Einrichtungen zur politischen Organisation und Kontrolle (einschließlich der gegnerischen Führerclique selbst). Dies schließt die Zerstörung solcher Ziele ein, die konventionellen Angriffen standhalten könnten, z.B. tief und hart verbunkerte Anlagen, Ziele mit ungenauen Positionsangaben, usw. Atomwaffen erschüttern das Vertrauen der gegnerischen Entscheidungsträger, dass sie die Kriegseskalation selbst kontrollieren könnten.“31

Die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenarsenals für weitere hundert Jahre, sei es nun in der Form vorhandener oder neuer Waffen, vom einzigen Land, das bislang je Atomwaffen einsetzte, ist eine unannehmbare und ungesetzliche Alternative. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von den Zwängen spitzfindiger technischer Argumente zur »Notwendigkeit« austauschbarer Atomsprengköpfe befreien und statt dessen die einzige vernünftige Alternative einfordern: nukleare Abrüstung. Die Vereinigten Staaten sollten gemäß ihrer Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag bis spätestens zum Jahr 2030 ihr vollständiges Atomwaffenarsenal beseitigen. Dazu sollten sie wie bei Vertragsbeitritt versprochen schleunigst Verhandlungen in Gang bringen „über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Anmerkungen

1) Die National Nuclear Security Administration (NNSA) wurde im Jahr 2000 als neue Behörde im US-Energieministerium gegründet. Dies geschah als Reaktion auf das Mandat des US-Kongresses, „das Sicherheitsdispositiv im gesamten Nuklearwaffenprogramm neu zu beleben und das Bekenntnis der Nation zur Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Vereinigten Staaten zu erneuern.“ Zitiert nach: Office of Defense Programs, National Nuclear Security Administration und U.S. Department of Energy, Complex 2030. An Infrastructure Planning Scenario for a Nuclear Weapons Complex Able to Meet the Threats of the 21st Century. »Getting the Job Done«, 23. Okt. 2006; www.complex2030peis.com/Complex%202030%20-%20October%2023%202006.pdf.

2) Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag) vom 1. Juli 1968, in Kraft getreten 1970; http://www.atomwaffena-z.info/pdf/NPT-Vertrag.pdf.

3) U.S. Department of Energy: Strategic Plan, 2. Okt. 2006, S.6; www.doe.gov/media/2006_DOE_Strategic_Plan.pdf.

4) Stephen I. Schwartz: Nukes: Betcha Can’t Make Just One!, 27. Juli 2006; www.defensetech.org/archives/002613.html.

5) Office of the Deputy Assistant to the Secretary of Defense for Nuclear Matters: Stockpile Transformation, undatiert; www.acq.osd.mil/ncbdp/nm/stockpiletransformation.html.

6) Thomas P. D’Agostino, Deputy Administrator for Defense Programs, National Nuclear Security Administration: Statement Before the House Armed Services Committee Subcommittee on Strategic Forces, 5. April 2006, S.9; www.nnsa.doe.gov/docs/congressional/2006/2006-04-05_HASC_Transformation_Hearing_Statement_(DAgostino).pdf. D.Ü.: Am 6. Jan. 2007 meldete die New York Times, dass US-Präsident Bush innerhalb weniger Tage seine Entscheidung bekannt geben werde, die vermutlich vorsieht, dass die jeweiligen Stärken der beiden Entwürfe zu einem gänzlich neuen Entwurf verarbeitet werden sollen.

7) Future of the Nuclear Weapons Complex, undatiert; www.nnsa.doe.gov/docs/Future_of_the_Nuclear_Weapons_Complex.pdf.

8) Ibid.

9) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program; Modernizing the Nuclear Weapons Complex Today to Make it More Responsive to the Challenges of Tomorrow, Mai 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/factsheets/2006/NA-06_FS03.pdf.

10) Ambassador Linton F. Brooks, Administrator, National Nuclear Security Administration: Speech to the East Tennessee Economic Council, 3. März 2006, S.4; www.nnsa.doe.gov/docs/speeches/2006/speech_Brooks_East-Tenn-Economic-Counil-03March06.pdf . D.Ü: Am 4. Jan. 2007 gab US-Energieminister Samuel Bodman bekannt, dass er Linton Brooks wegen schwerwiegender Sicherheitsmängel in Los Alamos zum Rücktritt aufgefordert habe. Nachfolger von Brooks wird Thomas D’Agostino.

11) NNSA’s Reliable Replacement Warhead (RRW) Program, op.cit. D.Ü.: Nicht stationierte Sprengköpfe im Arsenal zählen zur sog. Reserve.

12) D.Ü.: Der Nuclear Posture Review vom 31. Dezember 2001 unterliegt weiterhin der Geheimhaltung. Im März 2002 kamen aber wesentliche Teile des Dokuments über die New York Times an die Öffentlichkeit und sind seither im Internet zugänglich: www.globalsecurity.org/wmd/library/policy/dod/npr.htm.

13) Presseerklärung, 28. Juni 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-06-28_NA-06-20.htm.

14) The White House, Office of the Press Secretary: Statement by the President: Comprehensive Test Ban Treaty, 11. Aug. 1995.

15) U.S. Department of Energy: Notice of Intent to Prepare a Supplement to the Stockpile Stewardship and Management Programmatic Environmental Impact Statement – Complex 2030, Federal Register (Bundesgesetzblatt), Vol. 71, No. 202, 19. Okt. 2006, Notices, S.61731; www.complex2030peis.com/NOI%20Oct%2019%2006.pdf.

16) Complex 2030, op.cit., S.2.

17) Department of Energy: www.mbe.doe.gov/budget/07budget/Content/Volumes/Vol_1_NNSA.pdf.

18) D.Ü.: B61 ist der in Deutschland und anderen europäischen Ländern stationierte US-Atombombentyp.

19) Das »Stockpile Life Extension Program« dient der Verlängerung der Lebensdauer des bestehenden Atomwaffenarsenals der USA. Dazu werden potentielle technische Probleme identifiziert und behoben sowie in jeder Waffe bestimmte Komponenten ausgetauscht. Außerdem sollen vorhandene Waffen neue oder verbesserte Funktionalitäten erhalten. So wird z.B. ein Subsystem im Wiedereintrittskörper (Gehäuse) des Sprengkopftyps W76 so verändert, dass die Waffe mit einer »Bodenexplosion« auch »gehärtete Ziele« zerstören kann. Der W76 ist der erste Sprengkopftyp, der im Rahmen des RRW-Programms umkonstruiert wird. Am Ende sollen komplett neue Sprengkopfvarianten gefertigt werden.

20) Presseerklärung, 4. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-04_NA-06-48.htm.

21) D.Ü.: Die Bombe von Hiroshima hatte etwa eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen (das entspricht 13.000 Tonnen TNT-Sprengstoff.)

22) Los Alamos National Laboratory: Presseerklärung, 22. April 2003; www.lanl.gov/news/releases/archive/03-054.shtml.

23) Alliance for Nuclear Accountability: Fact Sheet, 2006; www.ananuclear.org/dc_days06/PitProduction2006.pdf.

24) Robert S. Norris und Hans M. Kristensen: Global nuclear stockpiles, 1945-2006, Bulletin of the Atomic Scientists, Juli/August 2006 (vol. 62, no. 4), S.64-66; www.thebulletin.org/article_nn.php?art_ofn=ja06norris.

25) Joint Flight Test Program, Nov. 2006; www.complex2030peis.com/Flight%20Test%20Program.pdf.

26) Eine ausführliche Analyse der neuen Entwicklungen bei US-Trägersystemen und deren Konsequenzen siehe in: Andrew M. Lichterman: Missiles of Empire: America’s 21<^>st<^*> Century Global Legions, Western States Legal Foundation, Information Bulletin, Herbst 2003; www.wslfweb.org/docs/missiles03.pdf.

27) So argumentierte z.B. der AP-Korrespondent H. Josef Hebert: Study: Warhead plutonium long-lasting, 29. Nov. 2006; www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/n/a/2006/11/29/national/w161905S84.DTL.

28) Ian Hoffman: Report: Nukes not so rusty. Oakland Tribune, 29. Nov. 2006; www.insidebayarea.com/search/ci_4738283.

29) Presseerklärung, 1. Dez. 2006; www.nnsa.doe.gov/docs/newsreleases/2006/PR_2006-12-01_NA-06-47.pdf.

30) D.Ü.: »Global Strike« ist ein US-Konzept, das die Möglichkeit vorsieht, innerhalb kürzester Zeit (etwa 30 Minuten) jeden Punkt auf der Erde angreifen zu können, u.a. mit unterschiedlichen Waffensystemen (Bomber, Raketen oder eine Art Weltraumflugzeug mit nuklearen, konventionellen oder auf anderen Wirkungsprinzipien basierenden Waffensystemen), Cyber-Operationen oder Sondereinsatzkommandos.

31) www.dtic.mil/futurejointwarfare/concepts/do_joc_v20.doc.

Jacqueline Cabasso ist Geschäftsführerin der Western States Legal Foundation in Kalifornien. Übersetzung – einschließlich der Zitate: Regina Hagen.