Technologietransfer oder Technologieblockade?

Technologietransfer oder Technologieblockade?

von Achim Seiler

Der folgende Aufsatz versucht sich der Frage zu nähern, ob eine Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (horizontale Proliferation) am besten durch eine umfassende und im Idealfall totale Beschränkung und Kontrolle der Weitergabe von relevanten Technologien zu erreichen ist, oder aber vielmehr durch eine massive und relativ bereitwillige Zurverfügungstellung der im Norden generierten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse. Ziel des letztgenannten Ansatzes ist die baldmögliche Schließung der politischen und sozio-ökonomischen Gegensätze zwischen Nord und Süd unter Inkaufnahme der Beschleunigung der Weitergabe des Wissens um massenvernichtungswaffenrelevante Technologien. Der Ansatz dieses Beitrages wird somit überraschen, impliziert er doch offensichtlich eine Infragestellung der politischen Gültigkeit der gegenwärtigen Bemühungen um konzertierte Aktionen zur Eindämmung der Proliferationsgefahr. Um es gleich vorwegzunehmen: dies ist nicht die Intention dieses Artikels. Ziel dieses Aufsatzes ist vielmehr, aus technologie- und entwicklungspolitischer Sicht auf Defizite bei der Analyse der Proliferationsproblematik hinzuweisen, die sich vor allem aus einer nicht-adäquaten Berücksichtigung der Süd-Dimension der Problematik ergeben.

Das Problemverständnis, mit welchem die politischen Entscheidungsträger in den westlichen Industrienationen gegenwärtig versuchen, die deutlich gestiegene Proliferationsgefahr politisch in den Griff zu bekommen, ist technisch verkürzt und zielt hauptsächlich auf die Etablierung symptombekämpfender Kontrollmöglichkeiten, wie die Einrichtung von safeguard-Systemen oder neuerdings multinationale Beschäftigungsprogramme für Atomwissenschaftler aus der ehemaligen UdSSR. Nicht-Weiterverbreitungspolitik ist nach diesem Verständnis status-quo-orientiert und somit lediglich Teil eines global wirksamen Politikmusters, welches versucht, das internationale System der ungleichen Verteilung politischer und ökonomischer Nutzen und Lasten bei der Neugestaltung der politischen Weltordnung zu reetablieren und so lange wie zeitlich noch möglich, zugunsten der im Westen gewohnten Konsum- und Lebensgewohnheiten aufrechtzuerhalten. Folglich überrascht es nicht, daß die westlichen Industriestaaten – alarmiert durch die im Irak aufgebaute Kombination von Träger- sowie Nukleartechnologien bzw. ein umfangreiches Spektrum an Massenvernichtungswaffen – zwar schnell bereit sind, im Rahmen von lancierten UN-Aktionen aktiv an der Zerstörung dieser bedrohlichen Potentiale mitzuwirken, sich aber weiterhin sehr zurückhaltend zeigen, was die Einlösung ihrer eigenen Abrüstungsverpflichtungen gemäß dem NPT-Vertrag anbetrifft. Durch die Weigerung zum Abbau der eigenen Arsenale an Massenvernichtungswaffen, wie auch zu einem umfassenden Teststop soll die alte Nuklearlogik weiterhin aufrechterhalten werden, auch wenn der unmittelbare Gegner zur Zeit abhanden gekommen zu sein scheint.

Vor allem hinsichtlich der hier angelegten Verengung auf die militärische Dimension von Sicherheit, die zudem entschieden einseitig ausgelegt wird, besteht die Gefahr der Etablierung eines „verteidigungspolitischen Fundamentalismus“ (Till Bastian) der reichen Industriestaaten als einer Grundkonstante bei der anstehenden Neuordnung der politischen Welt.

Ein weiteres gravierendes Defizit des etablierten Non-Proliferationsansatzes ist, abgesehen von der Eurozentriertheit und der Fixierung auf die militärpolitische Dimension von Sicherheit, daß die hier unternommenen Anstrengungen in erster Linie Symptome bekämpfen und der faktischen Weiterverbreitung von Technologien und Kenntnissen, die zum Aufbau von Massenvernichtungswaffen relevant sind bzw. relevant werden, systematisch hinterherhinken. Wurde unter »Proliferation« zunächst nur die horizontale Weiterverbreitung von militärisch relevanter Nukleartechnologie verstanden – die vertikale Aufrüstung stand nie zur Disposition – so wurde der Begriff allmählich auch auf den Bereich der B- und C-Waffen ausgedehnt und umfaßt, seit dies aus der Sicht des Nordens akut geworden ist, mit den dazugehörigen Trägertechnologien seit wenigen Jahren zum ersten Mal auch ein Segment »konventioneller« Rüstung (MTCR).

Blickt man zurück auf ca. 20 Jahre mehr oder minder erfolgreiche Geschichte der Nicht-Weiterverbreitungsbemühungen seit Existenz des NPT-Vertrages, so bleibt zunächst festzuhalten, daß sich die Zahl der Atomwaffenstaaten in diesem Zeitraum faktisch verdoppelt hat. Trendprojektionen, so problematisch sie auch sind, gehen für das Jahr 2030 von weltweit 40 Kernwaffenstaaten aus – das hieße, daß somit jeder vierte souveräne Staat in der Völkergemeinschaft zu jenem Zeitpunkt im Besitz nuklearer Sprengkörper sein würde1. Es handelt sich also bei dem Begriff der Non-Proliferation – wie auch vermutlich dem dazugehörigen Gedankengebäude – um einen sich selbst und die Öffentlichkeit irreführenden Euphemismus. Es sollte daher besser von Proliferationsverzögerung gesprochen werden. Damit würde auch der Weg frei gemacht werden, den Blick endlich stärker auf die Ursachen und Mechanismen der Weiterverbreitung zu legen: Rüstungsexporte, vermeintlicher politischer Status-Gewinn nach innen und außen, sowie die Möglichkeit, sich im Hinblick auf die kommenden Auseinandersetzungen um lebenswichtige Ressourcen frühzeitig ausreichende Optionen in der jeweiligen Region zu sichern.

Die ökonomische und ökologische Dimension der Proliferation

Vor allem im Hinblick auf die offensichtlich verdrängte Frage nach den politischen und ökonomischen Ursachen für das massive Interesse vieler Regierungen in der 3. Welt am Erwerb von Massenvernichtungswaffen, liegt der zentrale Schwachpunkt der etablierten Non-Proliferationsbemühungen. Nicht-Weiterverbreitung wird, aufs Technische reduziert, zu einem Baustein bei der Rekonstruktion einer alten Weltordnung gemacht, die die ökonomischen und ökologischen Dimensionen globaler Sicherheit geflissentlich ignoriert. So ist bezeichnenderweise keine Rede davon, bei der politischen Neuordnung der Welt ein Junktim herzustellen zu den legitimen Bedürfnissen der Länder in der 3. Welt nach einer längst überfälligen Neuordnung der Weltwirtschaft. Konkrete Maßnahmenkataloge, die seit über 20 Jahren auf den Foren der Vereinten Nationen verhandelt wurden, die in vielen Dokumenten in schriftlicher Form fixiert sind, und die von den Industrieländern gerade auch im Hinblick auf ihre Mitverpflichtung am ökonomischen und damit auch sozialen und politischen Wohlergehen der Völker im Süden, mitunterzeichnet wurden, werden nach dem Zerfall der UdSSR mehr denn je in unverhohlen neokolonialistischer Attitüde als politische Makulatur behandelt.

Dabei zeigen die inzwischen nicht mehr zu ignorierenden Katastrophentrends weltweit an, wie berechtigt die hier aufgestellten Forderungen auch heute noch sind, und gerade angesichts der zunehmend erkannten Verflechtung ökonomischer und ökologischer Entwicklungen in ihrem Kern dringender denn je auf der weltpolitischen Agenda stehen müßten. Hierzu gehören die Forderungen nach einer massiven Unterstützung der 3. Welt beim Aufbau eigener wissenschaftlich-technischer Kapazitäten; nach einem kostengünstigen Zugang zu Patenten und Lizenzen; nach verringerten globalen Rüstungsausgaben und der Umwidmung der hierdurch freiwerdenden Mittel zugunsten entwicklungspolitischer Ziele; nach einer Stabilisierung der Exporterlöse für Rohstoffe und die allgemeine Einhaltung von Ethik-Standards im wirtschaftlichen Umgang der Staaten miteinander (code of conduct); nach einer Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% (bzw. 1%) des Bruttosozialprodukts der Industrieländer und einer Erhöhung des Anteils der Entwicklungsländer auf 25% der Weltindustrieproduktion bis zum Jahre 2000. Demgegenüber läßt sich feststellen, daß die Industrieländer, abgesehen von verbalen Zugeständnissen, bislang nicht bereit waren – und dies vor dem Hintergrund der Schuldendekade heute weniger denn je sind – den legitimen Forderungen der Entwicklungsländer nach strukturellen Reformen der globalen Wirtschafts- und Finanzmechanismen substantiell entgegenzukommen.

Vielmehr ist seit Beginn der 80er Jahre, im wesentlichen mitverursacht durch die Hochzinspolitik der amerikanischen Regierung, mit welcher die überzogenen Rüstungsanstrengungen der USA finanziert werden sollten, eine Entwicklung eingetreten, die aus entwicklungspolitischer Sicht grotesker nicht sein könnte. Durch den weltweiten Anstieg der Zinsen sahen sich immer mehr Länder nicht mehr in der Lage, die zu variablem Zins auf dem freien Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite (mit denen sowohl Importinvestitionen, als auch der Kauf von Großwaffensystemen aus den Industrieländern finanziert wurden), termingerecht zu bedienen. Die Folge waren und sind regelmäßige Umschuldungsverhandlungen, bei welchen die Regierungen der verschuldeten Länder ihre nationale Souveränität partiell aufgeben und die harten, ausschließlich an der Wiederherstellung der Zinsendienstfähigkeit orientierten wirtschaftspolitischen Auflagen des Internationalen Währungsfonds akzeptieren müssen. Da sich immer mehr Länder im gleichen Zeitraum somit gezwungen sehen, immer größere Mengen – hauptsächlich agrarischer – Rohstoffe auf dem Weltmarkt abzusetzen, um mit den hier erzielten Verkaufserlösen die hohen Zinsen und Umschuldungsgebühren bezahlen zu können, sind die Rohstoffpreise seit Beginn der 80er Jahre real um ca. 40% gefallen. Mit den immer niedrigeren Erlösen sollen aber Verbindlichkeiten gegenüber dem Norden bedient werden, die sich mittlerweile auf 1,3 Billionen US$ belaufen, ohne daß der Norden jedoch bereit wäre, in entsprechendem Umfang seine Märkte für höherwertige Exportgüter aus den Entwicklungsländern zu öffnen. Jährlich findet somit, insbesondere durch Schulden- und Zinsendienst, ein Nettokapitaltransfer von Süd nach Nord in Höhe von 60 Milliarden US$ statt. Sowohl indirekt infolge des Rohstoffdumpings, als auch durch den direkten Kapitaltransfer von Süd nach Nord, finanzieren somit die Armen den ökologisch ruinösen Wohlstand der Reichen, der nun seinerseits wieder dazu verwendet wird, durch den Aufbau und die latente Drohung mit dem Einsatz eines hochtechnisierten und vielseitig differenzierten Militärapparates (AirLandBattle) den Status Quo der ungleichen globalen Nutzen-Lasten-Verteilungen militärpolitisch abzusichern.

Der Aufbau und die Finanzierung der hierfür notwendigen, immer teureren, Waffen- und Logistiksysteme wird nun, da dies über eine Ausweitung der Militärbudgets innenpolitisch in den Industriestaaten nicht mehr möglich erscheint, durch eine Erhöhung der Produktionsstückzahlen und den umfangreichen, gerne auch kreditfinanzierten Export eben dieser Waffen in die 3. Welt gesehen. Hierdurch ergibt sich die Paradoxie, daß einerseits die mühsam und teuer generierten Rüstungstechnologien aus Kostengründen transferiert werden müssen, damit gleichzeitig jedoch, in Abhängigkeit von der wissenschaftlich-technischen Absorptionsfähigkeit des jeweiligen Empfängerlandes, der Innovationsvorsprung des Nordens bei Rüstungsgütern, d.h. also auch der Herrschaftsvorsprung, durch überlegene Aufklärungs- und Zerstörungsmechanismen tendenziell wieder preisgegeben wird.

Politische Exportkriterien

Am Wettlauf um die »nachholende Entwicklung« bei Rüstungstechnologien können auch politische Exportbestimmungen der Industrieländer, die etwa wie die Endverbleibsklauseln nach »guten« und nach »schlechten« Abnehmerländern zu unterscheiden versuchen, prinzipiell nichts ändern. Der Transfer des in die Waffensysteme eingebauten Wissens und die inkorporierte Technologie wird sich auf diese Weise nicht regulieren, sondern allenfalls zeitlich etwas verzögern lassen, zumal »verbündete« Regierungen in der 3. Welt oftmals auf den schwächsten sozialen Füßen stehen und ihre innen-, außen- sowie bündnispolitische Konstanz von daher in vielen Fällen mehr als fraglich ist. Ferner kann die von einem Abnehmerland als vertraulich zu behandelnde Waffentechnologie in sich bereits einen ausreichenden Anreiz für ihre Regierung darstellen, diese Technologie im Wissen um die ohnehin zeitlich befristete Dauer der technischen Brisanz auf dem grauen Markt halbstaatlicher Tauschgeschäfte gegen andere, z.B. unmittelbar proliferationsrelevante Technologien und Materialien zu tauschen, an die man ohne adäquates »Eintrittsticket« sonst nicht herankäme (Uran gegen Know How bei Trägertechnologien). Darüberhinaus steht die Rüstungslobby in den Industrieländern mittlerweile unter so starken Exportzwängen, daß die Empfängerländer vor dem Hintergrund einer inzwischen immer breiter gefächerten Palette von Anbietern durchaus in der Lage sind, als Vorbedingung für die Öffnung des eigenen militärischen Beschaffungsmarktes – etwa für Kampfpanzer aus amerikanischer Produktion – die gleichzeitige Aufnahme der Lizenzproduktion von amerikanischen Kampfjets (F-15) im eigenen Land zu fordern (Ägypten).

Dies gilt nun vor dem Hintergrund der verstärkten Non-Proliferationsbemühungen umso mehr, als Staaten im Austausch gegen den Verzicht beispielsweise auf die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen klare Bedingungen stellen können, welche Gegenleistungen finanzieller, politischer, diplomatischer oder – immer wichtiger – technologischer Art, von ihnen im Austausch erwartet werden. Oftmals werden die tatsächlich geleisteten Transfers ziviler (Weltraumforschung) oder militärischer Technologien lediglich dazu benutzt, um unmittelbar an anderen proliferationsrelevanten Feldern, etwa im Bereich der Trägertechnologien, weiterzuarbeiten. Schließlich ist mit jeder Übertragung von Wissen oder Technologie in ein anderes Land, sei es in Form von (Rüstungs)exporten, Lizenzen, schlüsselfertigen Produktionsanlagen, Blaupausen oder Know How, irreversibel die Stärkung und Weiterentwicklung der dortigen bodenständigen Technologiekapazitäten verbunden. Damit entfallen aber ebenso irreversible nichtmilitärische Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten zur Kontrolle mißliebiger Verwendungs- und Nutzungszusammenhänge gegen den Willen der dortigen Regierungen. Es entfällt, technologisch bedingt, in der Tendenz natürlich ebenso die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel, um unbotmäßige Staatsführungen zur Einhaltung der von den Industrieländern gewünschten Bestimmungen zu zwingen. Der vermeintliche Ausweg, der von den Industrieländern auch offensichtlich gangbar gemacht werden soll, um – abgestützt durch überlegene militärische Optionen – innerhalb oder außerhalb der UNO, neue politische Instrumente zur Kontrolle unerwünschter Entwicklungen zur Verfügung zu haben, ist daher die permanente Weiterrüstung in der vollen militärischen Bandbreite offensiver und defensiver Potentiale.

GPALS als falscher Lösungsweg

Gerade jedoch der Aufbau weltraumgestützter Verteidigungssysteme (GPALS) als einseitiger technischer Ausweg aus dem politischen Dilemma, die Staaten der 3. Welt zumindest hinsichtlich ihrer Militärpotentiale und der von ihnen ausgehenden Bedrohung inzwischen als vollwertige Mitglieder der Staatengemeinschaft anerkennen zu müssen, läuft auf ein aberwitziges Wettrennen hinaus. Die teuer erworbenen technologischen Vorsprünge im Norden werden durch den Zwang zu kostensenkenden Rüstungsexporten jeweils wieder zunichte gemacht. Unter Kostenaspekten dürften bei der hier angelegten Etablierung eines militärischen Nord-Süd-Gegensatzes dieselben Argumentationsmuster gelten, die auch in der SDI-Debatte von den Befürwortern nicht widerlegt werden konnten: weltraumgestützte Verteidigungsanstrengungen stehen in keinem wie auch immer vertretbaren Verhältnis zu den relativ preiswert zu modifizierenden Angriffstechnologien.

Unter dem Aspekt der Bindung gigantischer Ressourcen in einem neuen, uferlosen Rüstungswettlauf, wird sich der ökonomische Graben zwischen Nord und Süd nur vertiefen, die inzwischen dringendst gemeinsam zu lösenden Menschheitsprobleme hingegen werden sich auf absehbare Zeit weiter vergrößern. Daß aus bündnispolitischen Gründen offensichtlich einzelne ausgewählte Länder der 3. Welt (z.B. Israel) beim Aufbau eines weltraumgestützten Abwehrsystems von vornherein miteinbezogen werden – somit auch ein Technologie-Sharing stattfindet –, kann die Geschwindigkeit nur erhöhen, mit welcher militärtechnologische Vorsprünge auf der Verteidigungsseite durch Verbesserungen der Offensivkapazitäten obsolet werden. So berechtigt dieses Vorgehen gerade im Falle Israels auch sein mag, politisch wird damit die Spannung des Nahen Ostens in eine militärtechnische Rückversicherung der Stabilisierung des gegenwärtigen Status Quo eingebaut. Die ohnehin eurozentristisch und symptombekämpfend angelegten Non-Proliferationsbemühungen werden hierdurch sicherlich nicht schlüssiger.

Defizite der etablierten Non-Proliferationsansätze

Selbst wenn man dem eurozentristisch verkürzten Ansatz der etablierten Non-Proliferationsbemühungen folgt, und auf ein dringend gebotenes Junktim zwischen der Etablierung einer alten Neuen Weltordnung und den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verzichtet, ergeben sich aus dem bislang skizzierten folgende immanente Widersprüche, an denen die »Non-Proliferation« letztlich scheitern dürfte:

  1. Die Regierungen in den Industrieländern werden erkennen müssen, daß sie die Entwicklung bodenständiger Fähigkeiten zum Bau von Massenvernichtungswaffen in den Ländern der 3. Welt nicht werden verhindern können, mit ihren eigenen Rüstungsexporten aber sehr wohl zu einer Beschleunigung der Verbreitung proliferationsrelevanter Technologien (etwa bei Trägertechnologien) beitragen.
  2. Der Versuch, bei Beibehaltung der eigenen militärisch-offensiven Optionen im Norden zur Einrichtung einer einseitigen Sicherheitszone zur Abwehr begrenzter Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu kommen, um sich auf diese Weise den erwünschten machtpolitischen Spielraum erhalten zu können, dürfte die politische Bereitschaft im Süden zur horizontalen, aber auch zur vertikalen Proliferation nur vergrößern.
  3. Eine lückenlose Kontrolle der in die Entwicklungsländer exportierten Technologien bzw. der Rüstungsrelevanz der dort generierten Wissensbasen wird nicht möglich sein. Schließlich würde dies darauf hinauslaufen, durch Technologieblockaden die Staaten in der 3. Welt an der Erreichung des industriellen Entwicklungsstandes des Deutschen Reiches von 1914 (C-Waffen) oder der USA Anfang der 40er Jahre (A-Waffen) zu hindern.
  4. Bei der Überwachung des Transfers proliferationsrelevanter Rüstungsgüter in die Entwicklungsländer darf also nicht nur nach dem waffentechnologischen Leistungsstand der Industrieländer zu Beginn der 90er Jahre ausgegangen werden. Auch der Export oder die eigenständige Produktion von Komponenten und Bauteilen der vorletzten Generation müßte weiterhin kontrolliert werden, um Umwegstrategien zu verhindern. Damit werden in der Tendenz immer mehr Technologien aus ungleichzeitigen Technologieentwicklungen proliferationsrelevant. Die politischen Bemühungen, Inspektionen und technische Kontrollen bei allen in den Entwicklungsländern installierten chemischen Anlagen – etwa zur Produktion von Pflanzenschutzmitteln – einzuführen, werden von den Staaten der 3. Welt mit dem Verweis abgelehnt werden, daß es sich hierbei lediglich um den neokolonialen Versuch handele, den Aufbau eigenständiger Industriestrukturen im Süden behindern zu wollen. Dies gilt insbesondere solange die Kernwaffenstaaten im Norden ihrerseits nicht zur umfassenden Abrüstung bei Kernwaffen bereit sind und darüberhinaus reziproke Kontrollen ihrer eigenen Anlagen durch Vertreter des Südens akzeptieren.
  5. Das selbst in den Industrieländern erst rudimentär wahrgenommene zivil/militärische Wechselverhältnis (dual use/dual purpose) trifft selbstverständlich auch für die in die Entwicklungsländer exportierten Hochtechnologien zu. In Abhängigkeit vom jeweils erreichten wissenschaftlich-technischen Standard, wird es insbesondere den Schwellenländern möglich sein, unter zivilen Vorzeichen akquirierte Technologien aus dem Ausland für militärische Belange einzusetzen (Weltraumforschung/Kernenergie).
  6. Die Forderungen der Industrieländer an die Schwellenländer, den Export bodenständig entwickelter Rüstungsgüter mit hoher Proliferationsrelevanz (Kampfflugzeuge/Raketen) einzustellen, wird von den entsprechenden Regierungen unter sarkastischem Verweis auf haushaltstechnische Notwendigkeiten angesichts der drückenden Schuldenlast abgelehnt (Brasilien/Indien) oder aber zum Hebel für den Transfer hochsensibler dual use-Güter gemacht, die mittlerweile strikten Ausfuhrkontrollen im Norden unterliegen.

Gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung

Es ist vielmehr notwendig, die Welt am Ende eines an Fanatismus und ideologischen Fehleinschätzungen reichen Jahrhunderts als das wahrzunehmen, was sie ist: interdependent und verletzlich. Es waren lange Jahre des Wettrüstens im Norden erforderlich, um hier die Erkenntnis reifen zu lassen, daß ein einseitiger Gewinn an Sicherheit schließlich lediglich die Unsicherheit der anderen Seite erhöht und somit als zentrale Triebkraft für gegenseitiges Wettrüsten fungiert; »Sicherheitspartnerschaft« und »Kooperation statt Konfrontation« waren und sind die Ergebnisse. Angesichts der realen Gefahr der Etablierung eines neuen, weltweit wirkenden Gegensatzes zwischen Nord und Süd, wobei Verbalradikalismus und terroristische Aktivitäten in südlichen Ländern zum Anlaß für einen »verteidigungspolitischen Fundamentalismus« im Norden genommen werden, ist es dringend geboten, von Seiten der Friedensforschung verstärkt darauf hinzuweisen, daß es sich die Menschheit angesichts der alarmierenden wirtschaftlichen und ökologischen Schieflagen auf dem Globus nicht mehr leisten kann, noch einmal 40 Jahre durchzurüsten, bis sich die Erkenntnis der Sicherheitspartnerschaft auch im Nord-Süd-Verhältnis durchgesetzt haben wird. Anstatt im Norden nun einen Weg zu gehen, der – abgestützt durch astronomisch teure Weltraumsysteme – politisch ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückführt und auf (einseitige) militärische Sicherheit statt globale Entwicklung setzt, wären die Länder im Norden besser beraten, gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung anzustreben. Das notwendig gewordene neue Verständnis von globaler Sicherheit muß in Zukunft neben der militärischen auch gleichermaßen die ökonomischen und ökologischen Dimensionen von Sicherheit miteinbeziehen. Nur so kann gewährleistet werden, daß Massenvernichtungswaffen von den Staaten der 3. Welt nicht als politische Instrumente erworben und regional eingesetzt werden, um sich angesichts der Verknappung der Ressourcen frühzeitig angemessene Entwicklungs- und Zugriffsoptionen – etwa auf umstrittene Trinkwasservorkommen – sichern zu können.

Die Einlösung der vor allem auch ökologisch gebotenen Forderungen der 3. Welt nach einem ökonomischen Ausgleich und nach gerechteren Strukturen in der Weltwirtschaft, wird die soziale und wirtschaftliche Situation vieler hundert Millionen Menschen signifikant verbessern. Damit schwindet aber auch der soziale Nährboden für Fanatismus und religiösen Fundamentalismus, und Potentaten vom Schlage eines Saddam Hussein wird der politische Rückhalt im eigenen Land entzogen. Der mit der globalen ökonomischen Umverteilung anstehende – aus ökologischen Gründen aber mittlerweile ohnehin nicht mehr zu vermeidende – Konsumverzicht im Norden, dürfte ein relativ moderater Preis sein, um die Verfestigung einer konfrontativen Konstellation zu vermeiden, in welcher bei permanenter Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, die Industrieländer in immer kürzeren Zeitabständen mit militärischen Mitteln eingreifen müßten, um ABC-Waffenpotentiale ihnen unliebsamer Regime überfallartig zu vernichten.

Die durchaus sinnvollen und notwendigen Bemühungen um eine Verlangsamung der Weiterverbreitung, insbesondere um eine weltweite Ächtung aller Kategorien von Massenvernichtungswaffen, sollten daher weitergeführt werden – allerdings unter der Regie einer supranationalen Organisation und eingebettet in ein Politikmuster, welches nach der gemeinsamen Lösung der anstehenden Menschheitsprobleme fragt. Nur so kann vermieden werden, daß die »Non-Proliferation« – in Verbindung mit GPALS und Air Land Battle – von vornherein als Instrumente neokolonialer Machtprojektion des Nordens mißinterpretiert und konterkariert werden können. Ferner müßte sich der Norden zu einer umfassenden und bedingungslosen Abrüstung bei ABC-Waffen bereiterklären, ein kleiner Restbestand könnte bei der UNO als Minimalabschreckung eingelagert werden.

Werden auf diese Weise erst einmal die gröbsten Zonen der Ungleichverteilung militärischer Sicherheit beseitigt, kann gleichzeitig der Ausgleich der ökonomischen und ökologischen Lasten-Nutzen-Verteilungen politisch in Angriff genommen werden. Ein in dieses Gesamtpaket eingebundenes – supranational angesiedeltes – Non-Proliferationsregime wird vermutlich die uneingeschränkte Resonanz der Staaten in der südlichen Hemisphäre finden. Schließlich darf man den dort lebenden Völkern unterstellen, daß sie ebenso wie wir am persönlichen, sozialen und ökonomischen Wohlstand Interesse haben und lediglich die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit den Boden für extremistische, religiös-fundamentalistische Terrorregime abgeben.

Literatur

Aspen Strategy Group: New Threats, Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical, and Delivery Capabilities in the Third World, Lanham, Maryland 1990
Bastian, Till: Naturzerstörung – Die Quelle der künftigen Kriege, Studie im Auftrag der IPPNW, Berlin, o.J
Carus, W. Seth: Ballistic missiles in modern conflict; Center for Strategic and International Studies, Washington 1991
Nolan, Janne E.: Trappings of Power: ballistic missiles in the Third World, Washington 1991
Liebert, W.: Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck: Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden 1991
Liebert, W., M.Kalinowski, G.Neuneck: Technologische Möglichkeiten des Irak für eine Kernwaffe, IANUS-Schriftenreihe Nr. 13,1990
Scheffran,J., G.Neuneck: Ist der Geist schon aus der Flasche?, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, Heft 3-4; 1990
Scheffran,J.; J.Altmann, W.Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Stellungnahme der Naturwissenschaftler-Initiative für den Frieden v. 19.02.1992, Hamburg

Anmerkungen

1) vgl: Commission on Integrated Long-Term Strategy (Ikle-Wohlstetter-Commission), Washington, 1988 Zurück

Achim Seiler, Dipl.-Pol., ist Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik, Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Möglichkeiten und Methoden der Rüstungskonversion für Plutoniumindustrie und Kernwaffen

von Karl F. Alexander

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist nun, im Herbst 1991, ebenso wie auf anderen Feldern der internationalen Politik, auch auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung eine noch vor kurzem nicht für möglich gehaltene Dynamik zu beobachten. Davon zeugen die jüngsten Vorschläge der Präsidenten Bush und Gorbatschow und die von ihnen angekündigten, zum Teil auch einseitigen Maßnahmen. So hat Bush am 27. September die Abschaffung der gesamten weltweiten Bestände der USA an bodengestützten atomaren Kurzstreckenwaffen und die Einstellung einiger Projekte der Kernwaffenmodernisierung angekündigt sowie weitere Verhandlungen zu drastischen Reduzierungen des strategischen Kernwaffenpotentials angeboten. Gorbatschow hat bereits am 5. Oktober diese Initiative mit analogen Maßnahmen und zum Teil noch weitergehenden Vorschlägen beantwortet.

Mit der Realisierung dieser Maßnahmen und Vorschläge, die erstmalig quantitative und qualitative Einschnitte um Größenordnungen in das Overkill-Potential der sich gegenüberstehenden Nuklearwaffenarsenale bedeuten, stellen sich auch die spezifischen technischen Fragen der Rüstungskonversion auf diesem Gebiet in neuer Schärfe.

Eines der dringendsten Probleme ist das folgende: Die bisherigen Abkommen verpflichteten die Partner zur Zerstörung der davon betroffenen Kernwaffenträger (Raketen, Marschflugkörper u. a.), nicht aber der eigentlichen Kernsprengköpfe, die vorher auszubauen waren und keiner weiteren Kontrolle unterliegen. Auch das START-Abkommen über die strategischen Offensivwaffen hält sich offenbar an dieses Muster. Dies ist auch aus der bisherigen Herangehensweise verständlich, weil bei allen Abrüstungsabkommen die zuverlässige Verifizierung ihrer Einhaltung durch die vertragsschließenden Parteien garantiert sein muß. Mit den heutigen Aufklärungsmitteln und den vereinbarten Vor-Ort-Inspektionen läßt sich dies bei den Kernwaffenträgern offensichtlich erreichen, wie das schon die detaillierten Festlegungen des INF-Abkommens zeigten. Neue und schwierigere Probleme treten aber auf, wenn es um die ja auch zur nuklearen Abrüstung gehörende kontrollierte und verifizierbare Beseitigung der Kernsprengköpfe (der »Atombomben« im eigentlichen Sinne) geht.

Es ist bemerkenswert, daß in den Fernseherklärungen von Bush und Gorbatschow dieses Problem erstmalig als Verhandlungsgegenstand angesprochen wurde. So schlug Bush den Beginn von Diskussionen mit der Sowjetunion vor u.a. „um eine gemeinsame technische Kooperation für sichere und umweltverträgliche Lagerung, Transport und Zerstörung von Atomsprengköpfen zu prüfen“. Gorbatschow wurde noch etwas konkreter: „Die Sowjetunion erklärt sich bereit, mit den USA in einen substantiellen Dialog über die Entwicklung sicherer und ökologisch verantwortbarer Technologien für Lagerung und Transport von nuklearen Gefechtsköpfen, von Verfahren für die Verwertung nuklearer Ladungen und für die Erhöhung der nuklearen Sicherheit zu treten“ 1.

Die Kernwaffenarsenale der Welt umfaßten Mitte der achtziger Jahre nach Schätzungen etwa 5O OOO Sprengköpfe – von in einem Rucksack transportierbaren Atomminen (Sprengkraft ca. 1OOO t TNT) bis zu Megatonnen-Wasserstoffbomben, von denen eine einzige zur vollständigen Zerstörung einer Großstadt ausreicht. Die innere Konstruktion solcher Sprengköpfe ist zwar in groben Umrissen bekannt, wird aber im Detail strengstens geheimgehalten. Bei der bisher üblichen ungehemmt fortschreitenden Weiterentwicklung der Waffentechnik wird der nukleare Sprengstoff aus ausgemusterten Sprengköpfen entnommen und in umgearbeiteter Form in die neuen wieder eingebaut. Ohne Aufgabe des qualitativen Wettrüstens in der Kernwaffentechnik wird es daher kaum gelingen, einen gegenseitig akzeptablen und möglichst umfassenden Kontrollmechanismus für den atomaren Sprengstoff zu vereinbaren, als Voraussetzung für dessen verifizierbare Beseitigung. Die ausgesprochen vorsichtigen Formulierungen in den Erklärungen von Bush und Gorbatschow zu diesem Problem zeigen, daß hier noch schwierige Verhandlungen bevorstehen.

Die vordringlichsten Maßnahmen

Diese Sachlage erfordert zunächst, einfacher zu kontrollierende Verträge zur Beendigung des qualitativen Wettrüstens auszuhandeln. Die dringendste Forderung ist daher gegenwärtig ein endgültiges Verbot aller Kernwaffentests, an dessen Verifizierbarkeit kein Zweifel mehr besteht. Als nächster Schritt wäre ein Verbot der Herstellung neuen atomaren Sprengstoffs zu vereinbaren, um dann zur gegenseitig kontrollierten Beseitigung des in den von Abrüstungsmaßnahmen betroffenen Sprengköpfen enthaltenen Sprengstoffs überzugehen. Genau diese Vorschläge sind auch in der Erklärung Gorbatschows enthalten: „Die Sowjetunion verhängt mit sofortiger Wirkung ein Moratorium über nukleare Tests mit einer Dauer von einem Jahr. Sie rechnet damit, daß diesem Beispiel auch die anderen kernwaffenbesitzenden Mächte folgen. Dadurch würde der Weg für die baldmöglichste und vollständige Einstellung der Nukleartests eröffnet“. Und weiter: „Die UdSSR tritt dafür ein, mit den USA eine kontrollierte Einstellung der Produktion aller Kernspaltstoffe herbeizuführen“. Leider vermißt man analoge Aussagen in der Bush-Erklärung, die im übrigen – wenn auch in deutlich eingeschränkter Form – an der Notwendigkeit einer qualitativen Weiterentwicklung der Kernwaffen festhält: „Wir können uns ohne Gefahr diese Schritte leisten, die ich heute angekündigt habe – Schritte, die geeignet sind, die Gefahr von Fehleinschätzungen in einer Krise zu verringern. Aber um das zu tun, müssen wir entschieden jene Elemente unserer strategischen Modernisierung weiter verfolgen, die demselben Zweck dienen“.

Nukleare Sprengstoffe

Die klassischen Atombomben erhalten ihre Sprengkraft bekanntlich aus einer explosiv verlaufenden Kernspaltungs-Kettenreaktion, wofür sich als Sprengstoff Uranium 235 (Hiroshima-Bombe) und Plutonium 239 (Nagasaki-Bombe) eignen. Auch das Prinzip der »Wasserstoffbombe«, das den meisten modernen Kernwaffen zugrunde liegt, erfordert als Zünder eine Spaltstoffladung. Die Herstellung beider Stoffe ist sehr aufwendig: U 235 erfordert große industrielle Anlagen zur Isotopentrennung, Plutonium wird in Kernreaktoren aus U 238 »erbrütet« und muß durch chemische Aufarbeitung der hochradioaktiven Brennstoffstäbe abgetrennt werden. Die Existenz der dazu erforderlichen Anlagen kann heutzutage kaum noch geheimgehalten werden. Die heimliche Herstellung größerer Mengen von waffenfähigem U 235 oder Plutonium kann daher durch internationale Kontrollmechanismen zuverlässig verhindert werden.

Dies wird heute schon durch den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung der Kernwaffen (NPT-Vertrag) für die Mehrzahl aller Staaten garantiert, die ihre kerntechnischen Anlagen der Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) unterstellt haben2. Davon sind allerdings bisher die offiziell Kernwaffen besitzenden Staaten (USA, UdSSR, England, Frankreich, China) ausgenommen. Außerdem gibt es Staaten, die dem NPT-Vertrag nicht beigetreten sind und möglicherweise über die Fähigkeit verfügen, Kernwaffen herzustellen (Indien, Pakistan, Israel, Südafrika u.a.). Ein Vertrag der Kernwaffenmächte über die vollständige Einstellung der Produktion von Kernsprengstoff und die Anwendung der IAEA-Kontrollen auf ihre dazu geeigneten Anlagen würde diese unbefriedigende Situation grundlegend ändern, weitere Staaten zum Anschluß an den NPT- Vertrag bewegen, und den wachsenden Unmut vieler kernwaffenloser Unterzeichnerstaaten über ihre nicht gleichberechtigte Behandlung ausräumen.

Die gegenwärtigen Sprengstoffvorräte

Ein solcher Produktionsstopp würde zwar zunächst nichts an der wahnsinnigen Overkill-Kapazität der existierenden Waffenlager ändern, würde aber das notwendige Vertrauen für den kontrollierten Abbau der angehäuften Sprengstoffvorräte schaffen. Die Größenordnung dieser Vorräte ergibt sich aus einer 1985 publizierten Abschätzung3. Danach verfügten allein die USA über mindestens 500 Tonnen waffenverwendbaren Uraniums und ungefähr 100 Tonnen Plutonium. Die Vorräte der UdSSR dürften von gleicher Größenordnung sein. Die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe entspricht der Energiemenge, die bei der Spaltung von etwa einem Kilogramm Uranium freigesetzt wird. Eine Kernspaltungsbombe oder der Zünder einer Spaltungs-Fusions-Kernwaffe (»Wasserstoffbombe«) enthält nur einige Kilogramm Spaltstoff, bei raffinierten modernen Konstruktionen möglicherweise auch weniger. Die angesammelten Vorräte reichen also sicher für wesentlich mehr als die schon vorhandenen Zehntausende von Sprengköpfen aus. Es gibt also keinen rational einsehbaren Grund gegen einen verifizierbaren Produktionsstopp.

Herstellungsverbot von Tritium

Die heute überwiegenden Spaltungs-Fusions-Kernwaffen enthalten als Kernfusionssprengstoff Deuterium und Lithium, Substanzen, die ohne nuklearen Zünder vollkommen harmlos sind und daher auch keiner besonderen Kontrolle zu unterliegen brauchen. Eine wichtige Besonderheit der modernen Kernwaffen besteht aber darin, daß sie als Zündhilfe und zur Erhöhung des Wirkungsgrades außerdem noch das schwere Wasserstoffisotop Tritium einsetzen, das über die (d,t)-Reaktion unter den Bedingungen der Kernspaltungsexplosion eine besonders intensive und energiereiche Neutronenstrahlung erzeugt. In besonders extremer Weise wird diese Eigenschaft bei der sogenannten »Neutronenbombe«4 ausgenutzt. Tritium wird ähnlich wie Plutonium in Kernreaktoren durch Neutronenbestrahlung von Lithium erbrütet. Es ist ein stark radioaktives Isotop, dessen Halbwertszeit nur 12 Jahre beträgt. Herstellung und Verbleib kann prinzipiell mit den gleichen Methoden kontrolliert werden wie beim Plutonium.

Wegen seiner relativ kurzen Halbwertszeit hätte aber ein Herstellungsverbot von Tritium für Kernwaffen die Auswirkung, daß die existierenden Sprengköpfe wegen des radioaktiven Zerfalls des in ihnen enthaltenen Tritiums, das nicht mehr ersetzt werden kann, langsam aber sicher unwirksam würden, bzw. das noch nicht zerfallene Tritium würde für immer weniger Sprengköpfe reichen5. Die naturgesetzlich gegebene Halbwertszeit des Tritiums würde damit einen maximalen Zeitrahmen für die schrittweise Beseitigung der vorhandenen Kernwaffen setzen.

Probleme der Rüstungskonversion

Werden die politischen Probleme der atomaren Abrüstung gelöst und konkrete Schritte zur Abschaffung der Kernwaffen vereinbart, so entsteht die Aufgabe der Konversion dafür geeigneter Teile des bisher eingesetzten Potentials für zivile Zwecke.

Für die Kernwaffenträger (Raketen, Flugzeuge, U-Boote usw.) bleibt wahrscheinlich die Verschrottung bzw. anderweitige Vernichtung die einzige Methode der Wahl, wie dies bereits bei der Realisierung des INF-Abkommens demonstriert wurde. Die Herstellungsbetriebe können natürlich zum großen Teil auf die Produktion ziviler Güter umgestellt werden.

Im Gegensatz dazu ist bei den Sprengköpfen gerade der Kernsprengstoff ein wertvolles, für die Nutzung in der zivilen Kernenergetik gut geeignetes Material. Aus diesem Grunde spricht Gorbatschow auch von der „Verwertung der nuklearen Ladungen“. Die einzig zweckmäßige und noch dazu nutzbringende Methode einer solchen Verwertung waffenfähigem Spaltmaterials ist seine Verbrennung in energieliefernden Kernreaktoren. So können z.B. aus einer Tonne hochangereichertem U 235 nach Verdünnung mit gewöhnlichem Uranium etwa 30 Tonnen Reaktorbrennstoff hergestellt werden, ausreichend zum Betrieb eines Druckwasserreaktors mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW für ein Jahr. Auch Plutonium läßt sich in verdünnter Form nach bereits bewährten Technologien in konventionellen Kernreaktoren verbrennen. 1990 waren weltweit 324 496 Megawatt elektrische Leistung in Kernkraftwerken installiert, diese erzeugten etwa 17% der Elektroenergie6. Würden die vorhandenen mehr als 1000 t Kernwaffensprengstoff als Brennstoff für Kernreaktoren eingesetzt, so könnte damit diese gewaltige Kapazität drei Jahre lang versorgt werden. Die Verifizierung der friedlichen Verwendung des ehemaligen Kernsprengstoffs erfordert eine lückenlose und quantitative Kontrolle des Spaltmaterialflusses durch eine teilweise automatisierte und durch Inspektoren vor Ort abgesicherte Überwachung, für die es bereits bei der IAEA Systemlösungen gibt.

Für die Durchsetzung des Herstellungsverbots neuen Kernsprengstoffs wäre die Überwachung und teilweise Umrüstung von Anlagen zur Anreicherung von Uranium erforderlich. Diese Anlagen sind heute schon ein unentbehrlicher Bestandteil der zivilen Kernenergetik, da fast alle Kernkraftwerke an U<|>235 angereicherten Brennstoff benötigen. Mit dem dafür erforderlichen geringen Anreicherungsgrad ist aber dieses Material grundsätzlich nicht für Kernwaffen geeignet. Das waffenfähige Plutonium wird demgegenüber in dafür speziell errichteten Produktionsreaktoren hergestellt. Hier dürfte aus technischen und ökonomischen Gründen die Stillegung und Demontage dieser Reaktoren die Methode zur Durchsetzung des Herstellungsverbots sein. Tatsächlich sind in den letzten Jahrzehnten auch schon einige dieser Produktionsreaktoren stillgelegt worden.

Plutonium fällt aber auch bei der Wiederaufarbeitung des Kernbrennstoffs aus der zivilen Kernergienutzung an. Dieses Plutonium enthält höhere Anteile der schwereren Isotope Pu 240, Pu 241 und Pu 242, die seine Verwendung für Kernwaffen zwar erheblich behindern, aber nicht völlig ausschließen. Daher ist eine strenge internationale Kontrolle aller Plutoniumvorräte, also auch derer aus der zivilen Kernenergetik, von der Wiederaufarbeitung bis zur endgültigen energetischen Nutzung, dringend geboten. Das Kontrollsystem der IAEA konzentriert sich auch jetzt schon gerade auf dieses Problem.

Eine neue Aufgabenstellung wäre die Einbeziehung der Produktion und Verwendung von Tritium in das internationale Kontrollsystem, falls eine Ersatzlieferung für Kernwaffen verhindert werden soll. Dies ist wichtig, weil zukünftige Kernfusionsreaktoren Tritium als Brennstoff benötigen und in größeren Mengen produzieren werden, so daß also ein absolutes Herstellungsverbot nicht sinnvoll wäre. Aufbauend auf den Erfahrungen des schon existierenden Kontrollsystem der IAEA für Spaltmaterialien dürften aber auch für dieses Problem akzeptable Lösungen möglich sein.

Ein mögliches Szenarium für die Konversion

Wie wir gesehen haben, ist die Abschaffung der Kernwaffen und die Konversion ihrer technischen Basis für friedliche Zwecke ein kompliziertes Problem, das nicht auf einmal gelöst werden kann. Auch die Aussicht auf einen gegenwärtig möglich erscheinenden großen Schritt zur Reduzierung der vorhandenen Arsenale ändert nichts an dieser Fesstellung, zeigt aber, daß jetzt auch die für die Kernwaffen spezifischen Fragen der Konversion auf der Tagesordnung stehen. Ein zum Erfolg führendes Konzept muß aus einer gut abgestimmten Folge politischer und technischer Schritte bestehen. Dabei muß jeder vorangehende Schritt die Vertrauensbasis für den folgenden schaffen. Ein solches Szenarium könnte vielleicht so aussehen:

1. Internationale Konvention über die Beendigung der weiteren Kernwaffenrüstung. Dazu gehören das vollständige Verbot aller Kernwaffentests und die Einstellung der weiteren Herstellung von Kernsprengstoff. Stillegung der Produktionsreaktoren für Plutonium und Umrüstung der Trennanlagen für Uranium. Volle Anwendung der Kontrollbestimmungen des NPT-Vertrages auch auf die kernwaffenbesitzenden Staaten.

2. Vereinbarung zwischen der UdSSR und den USA über wesentliche Reduzierungen der Vorräte an waffenfähigem Spaltmaterial und dessen zivile Nutzung unter Kontrolle der IAEA. Dies könnten zunächst auch jeweils einseitige Maßnahmen sein.

3. Bei allen weiteren Verträgen über den Abbau von Kernwaffenpotentialen wird gleichzeitig festgelegt, wieviel und nach welchen Modalitäten Kernsprengstoff der zivilen Nutzung zugeführt wird.

4. Möglichst frühzeitige Einbeziehung der anderen kernwaffenbesitzenden Staaten in die abgestimmten Reduzierungsabkommen einschließlich der Verpflichtungen zur Konversion.

5. Internationale Konvention über die vollständige Abschaffung der Kernwaffen nach einem vereinbarten Zeitplan. Dies würde die Einbeziehung aller Staaten ohne Ausnahme in das Kontrollsystem des NPT-Vertrages voraussetzen. Weitere Maßnahmen wären die Öffnung auch der Waffenlaboratorien, Produktionsstätten und Lager für Sprengköpfe gegenüber der internationalen Kontrolle, und schließlich die verifizierbare Liquidierung der gesamten militärischen Infrastruktur für Herstellung, Lagerung und Einsatz von Kernwaffen.

Die Vision der kernwaffenfreien Welt

Aus gegenwärtiger Sicht scheint der letzte Schritt der schwierigste zu sein. Auch mit den vollkommensten technischen Kontrollmethoden wird es wohl kaum möglich sein, festzustellen, ob nicht doch von dieser oder jener Seite einige wenige Atombomben vorher beiseite geschafft wurden. Einziges Mittel gegen solche Befürchtungen kann nur die weltweite Entwicklung eines Vertrauensklimas sein, das den Krieg generell als Mittel der Politik ausschließt. Erst wenn auch die Abrüstungsmaßnahmen auf konventionellem Gebiet zu einem Zustand der gegenseitigen Angriffsunfähigkeit geführt haben, wird es vermutlich möglich sein, auch diesen letzten Schritt in der atomaren Abrüstung zu gehen. Der größte Teil der gegenwärtigen Kernwaffenpotentiale könnte aber schon in den nächsten Jahren abgebaut und zum Teil auch zivilen Zwecken nutzbar gemacht werden. Die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet stimmen hoffnungsvoll. Aber weiterhin wird öffentlicher Druck notwendig sein, damit das schließlich zu erreichende Ziel einer kernwaffenfreien, friedlichen Welt nicht aus den Augen verloren wird, auch wenn diese Vision heute noch vielen verantwortlichen Politikern utopisch erscheinen mag.7

Dr. Karl F. Alexander ist Physiker und em.Professor. Bis Ende 1988 leitete er das Zentralinstitut für Elektronenphysik der Akademie der Wissenschaften in Berlin.

Tritium

Tritium

Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung

von Lars Colschen • Martin Kalinowski

Bis vor wenigen Jahren wurde dem Tritium im sicherheitspolitischen Kontext in der Öffentlichkeit kaum Beachtung geschenkt. In der militärischen Sphäre der Kernwaffenstaaten ist Tritium dagegen seit Beginn der 60er Jahre immer eine ausreichend verfügbare Ingredienz für den Kernwaffenbau gewesen. Das änderte sich schlagartig, als 1988 in den USA die militärischen Produktionsreaktoren für Tritium und Plutonium wegen Sicherheitsmängeln stillgelegt werden mußten und als Folge die »Tritium Crisis« zu einer in Politik und Wissenschaft offen diskutierten Frage der nationalen Sicherheit hochstilisiert wurde. Politiker in Regierung und Kongreß, sowie Vertreter aus dem Pentagon fürchteten das Fehlen von Reserven, so daß die stillgelegte Produktion in Kombination mit dem radioaktiven Zerfall des Tritiums die Kernwaffen sukzessive untauglich machen würde, was in eine einseitigen quantitativen und qualitativen nuklearen Abrüstung gemündet wäre und Modernisierungsprogramme erheblich erschwert hätte. Abrüstungsexperten hingegen sahen in dem Tritiumzerfall die Chance, diesen für eine Dynamisierung des nuklearen Abrüstungsprozesses zu instrumentalisieren.

0 Bq*: Argentinien, Australien, Japan, Malaysien, Schweiz
0,0002000 GBq: Mexiko
0,0037000 GBq: Finnland
0,0050000 GBq: Indonesien
0,0370000 GBq: Philippinen
370,0000000 GBq: USA
3.700,0000000 GBq: Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande,
Norwegen, Süd Afrika, U.K.
37.000,0000000 GBq: Kanada
370.000,0000000 GBq: Schweden
Keine Lizenz erforderlich CSFR, Ungarn, Rumänien
* Bq ist das Maß für die Tritiumaktivität. 1 Bq=1 Zerfall pro Sekunde. 370.000 GBq Tritium sind etwa 1 Gramm.

Etwa gleichzeitig schlug in Kanada eine Diskussion hohe politische Wogen, in der es darum ging zu vermeiden, daß von den in großen Schwerwasserreaktoren produzierten, für die zivile Nutzung vorgesehenen Tritiummengen Anteile für Kernwaffen mißbraucht werden könnten.

In Europa geriet Tritium in die Schlagzeilen, als Anfang 1980 aufgedeckt wurde, daß das bundesdeutsche Unternehmen NTG illegal Tritium und Tritiumtechnologie für das pakistanische Kernwaffenprogramm geliefert hatte.

Physikalische Eigenschaften und Produktion

Tritium ist das schwerste der drei Wasserstoffisotope (sonst: Wasserstoff und Deuterium). Es hat ein Proton und zwei Neutronen im Kern. Tritium ist radioaktiv und zerfällt bei Aussendung eines Elektrons zum stabilen Helium-3. Die Halbwertszeit beträgt 12,3 Jahre. Tritium ist in der Natur, obschon in geringen Mengen vorhanden, nicht gewinnbar, sondern kann nur künstlich in Kernreaktoren erzeugt werden. Aus praktischen Gründen werden zur Gewinnung nennenswerter Tritiummengen besonders zwei Produktionswege genutzt:

  • Targets aus Lithium-6 werden in den Reaktor eingeführt und mit Neutronen beschossen. Bei einer Kernreaktion entsteht Tritium als Zerfallsprodukt. Auf diese Weise lassen sich die größten Tritiummengen herstellen, weshalb sie auch zur Versorgung der Kernwaffen verwendet wird.
  • Tritium entsteht in Schwerwasserreaktoren automatisch während des Reaktorbetriebes aus dem Deuterium des Kühlwassers. Dies ist zunächst einmal eine radioaktive Verunreinigung des Kühlwassers (Kontamination), welche durch Tritiumextraktionsanlagen behoben werden kann. Bei diesem Reinigungsvorgang wird Tritium quasi als »Abfallprodukt« gewonnen. Dieser Methode bedient sich der kanadische Tritiumproduzent, da er zahlreiche Reaktoren dieses Typs betreibt.

Die Ambivalenz der zivilen und militärischen Nutzbarkeit von Tritium

Tritium ist ein mehrseitig einsetzbares Material. Das Problem dabei ist, daß es militärische und zivile Anwendungsmöglichkeiten gibt.

Unter der Kategorie der zivilen Verwendungen können industrielle und wissenschaftliche Nutzungen subsumiert werden, während bei militärischen Verwendungen die für Nuklearwaffen und die für andere Zwecke unterschieden werden können. Die Menge an Tritium, die weltweit bisher für militärische Zwecke mindestens produziert worden ist, übertrifft die für zivile Zwecke verwendete um den Faktor 10.

Von der physischen Beschaffenheit des Tritiums her ist nicht erkennbar, ob das Tritium zivil oder militärisch genutzt werden soll. Der Umgang mit Tritium ist daher von Natur aus ambivalent. Ein Mißbrauch von für ausschließlich zivile Zwecke produziertem und gehandeltem Tritium für militärische Zwecke kann daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Im zivilen Bereich dient Tritium sowohl als energieversorgungsunabhängige Lichtquelle in industriellen Produkten (z.B. Landebahnmarkierungen, EXIT-Schilder, Leuchtziffern in Uhren), als auch in der Forschung und Wissenschaft (als Tracer in der Biologie, Medizin und Geologie sowie bei der Fusionsforschung).

In der militärischen Sphäre findet Tritium in zwei Bereichen Anwendung. Einmal fungiert es analog zum zivilen Bereich als energieversorgungsunabhängige Lichtquelle (z.B. zur Beleuchtung der Zieleinrichtungen von Handfeuerwaffen oder für die Landebahnbeleuchtung bei nächtlichen Militäraktionen wie der Invasion von Grenada durch die USA).

Von weitaus größerer Relevanz ist Tritium aber für die Staaten, die sich im Besitz von Kernwaffen befinden. Hier hat Tritium entweder den Effekt der Sprengwirkungssteigerung (Faktor zwei bis zehn bei Spaltbomben) oder ist sogar für die Funktionsfähigkeit unabdingbar (bei der Wasserstoff- sowie der Neutronenbombe). Bei ersterem, dem sogenannten »boosting«, wird gasförmiges Tritium in Mengen von rund zwei bis drei Gramm je Sprengkopf eingesetzt, während bei den Neutronenbomben bis zu 20 Gramm pro Sprengkopf benötigt werden.

Alle fünf offiziellen Kernwaffenstaaten (USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich und China) nutzen Tritium heute wahrscheinlich in allen Sprengköpfen ihrer Kernwaffenarsenale.

Einfache Kernsprengsätze, wie sie zunächst jeder Staat zu konstruieren anstrebt, der sich noch in der ersten Phase seines Kernwaffenprogrammes befindet, sind tritiumlos (dies traf auch auf die Bomben zu, mit denen Hiroshima und Nagasaki zerstört worden sind).

Der Tritiummarkt

Die derzeitige zivile Nachfrage auf dem stark schwankenden Tritiummarkt liegt durchschnittlich bei 500 bis 1.000 Gramm pro Jahr weltweit. Der Preis für ein Gramm gasförmigen Tritiums beträgt 1991 etwa $ 28.000, nachdem er 1988 noch bei $ 13.000 lag. Hauptanbieter sind Kanada (Ontario Hydro, OH), die USA (Oak Ridge National Laboratory, ORNL), die UdSSR und Frankreich. Auch in der Bundesrepublik kann Tritium käuflich erworben werden. Primär aber treten die Bundesrepublik bzw. bundesdeutsche Unternehmen und Behörden (u.a. das Kernforschungszentrum Karlsruhe) als Nachfrager auf dem Tritiummarkt auf.

Aufsehenerregend war Mitte der 80er Jahre die Entscheidung Kanadas, durch das Unternehmen Ontario Hydro 2,5 Kilogramm Tritium pro Jahr auf dem zivilen Weltmarkt anzubieten. Die Angst vor einer möglichen militärischen Verwendung dieser augenscheinlichen Überproduktion war der Gegenstand von massivem öffentlichen Druck. Als Folge traf die kanadische Regierung gesetzgeberische Maßnahmen, die eine ausschließlich zivile Nutzung des kanadischen Tritiums sicherstellen sollen. Kanada hofft, sich in dieser Marktnische zu etablieren und setzt auf eine starke Ausweitung der zivilen Tritiumnachfrage. Diese Hoffnung richtet sich weniger auf den industriellen Sektor, sondern in erster Linie auf einen wissenschaftlichen Durchbruch bei der Fusionsforschung, durch den ein zusätzlicher Bedarf in der Größenordnung von mehreren Kilogramm Tritium erwartet wird.

OH kommen dabei die jüngsten Probleme bei der militärischen Tritiumproduktion zugute. Seit April 1988 mußten die Tritiumpoduktionsanlagen in Savannah River/South Carolina aus Sicherheitsgründen stillgelegt werden. Mit diesen Anlagen wurde der gesamte militärische Bedarf der USA gedeckt, geringe Mengen wurden für die zivile Nutzung verkauft. Trotz des Produktionsstopps wurden auch 1990 noch 180 Gramm Tritium aus dieser Quelle auf dem internationalen Markt angeboten.

Die kommerziellen Tritiumverkäufe aus der UdSSR stammen mutmaßlich ebenfalls aus militärischer Produktion. Bei künftig möglicherweise strengeren Sicherheitsbestimmungen für den Reaktorbetrieb erscheint auch die sowjetische Tritiumproduktion nicht als gesichert. Damit könnte sich, zumindest mittelfristig, für Kanada bzw. OH eine globale Monopolstellung ergeben, was auch auf den Tritiumpreis Auswirkungen haben könnte.

Tritiumkontrolle

Bei der praktizierten Tritiumkontrolle haben die Kernwaffenrelevanz und die diesbezügliche Verhinderung der Proliferation von Tritium und Tritiumtechnologie sowie die abrüstungspolitische Bedeutung bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

Auf der nationalen Ebene haben die Gesetzgeber die Anlagenbetreiber aus Strahlenschutzgründen dazu verpflichtet, ein Kontroll- und Buchführungssystem zu implementieren, wenn mit Tritiummengen oberhalb einer festgelegten Freigrenze hantiert wird. In Bezug auf den Strahlenschutz existieren internationale Richtlinien aufgrund von Empfehlungen der IAEO (Internationale Atomenergie Organisation), NEA (Nuclear Energy Agency) und ICRP (International Commission on Radiation Protection). Diese sind in die nationale Gesetzgebung vieler Staaten übernommen worden.

Ebenso bestehen in den meisten Staaten, in denen mit Tritium umgegangen wird, Regelungen für die Produktion, den Erwerb, Import und Export von Tritium. In der Regel sind die genannten Aktivitäten oberhalb einer Grenzmenge lizenzpflichtig. Nach der Lizenzerteilung sind die zuständigen Behörden jedoch nicht zu physischen Kontrollen oder anderen Verifikationsmaßnahmen berechtigt. Zollämter haben weder das Wissen noch die technischen Voraussetzungen, um einen Verdacht auf illegalen Tritiumtransfer zu überprüfen.

Die Regelungen variieren stark von Staat zu Staat. Dies wird besonders augenfällig bei einem Vergleich der nationalen Grenzwerte für Exportmengen, oberhalb derer eine Lizenz erforderlich ist (siehe Tabelle).

Mögliche Diebstahlvarianten und Abzweigungsstrategien für Tritium sind bei den meisten Staaten nicht in die Überlegungen bzgl. der entsprechenden Gesetzgebung eingegangen. Eine systematische Kontrolle über den Verbleib von Tritium ist zudem wegen der Vielzahl relevanter Vorschriften und zuständiger Behörden kaum durchführbar. Wenn Individuen oder Staaten die Absicht haben, unerkannt Tritium ein- oder auszuführen, bieten sich vielfältige Schlupflöcher. So befürchtet die NRC (Nuclear Regulatory Commission; das ist die in den USA u.a. für den Tritiumexport zuständige Lizensierungsbehörde), daß die derzeitigen Bestrebungen der US-Gesetzgebung, die Tritiumexportkontrollen zu verschärfen (u.a. durch die schriftliche Verpflichtung des Empfängers, keinen unautorisierten Weitertransfer des Tritiums durchzuführen), zu Einbußen bei der Kontrolle des internationalen Tritiummarktes (durch die USA!) führen könnten, da bisherige und potentielle Kunden sich dann an Anbieter wenden könnten, deren Staaten weniger Bedingungen an ihre Tritiumexporte knüpften.

Mit der Ausnahme der COCOM-Liste (Coordinating Committee for Multilateral Export Control) ist Tritium bisher keiner internationalen Technologietransferkontrolle unter dem Gesichtspunkt der Nichtweiterverbreitung unterworfen. COCOM ist in vielerlei Hinsicht ein nur sehr begrenztes Instrument. Es hat eine relativ geringe und einseitige Mitgliedschaft (nur die führenden westlichen Industrienationen). Es richtet sich als externes Regime gegen eine bestimmte Staatengruppe, die kommunistisch regierten Staaten, die es bewußt ausgrenzt und nicht zu integrieren versucht. COCOM ist daher als ein hochgradig diskriminierendes Technologieverweigerungsinstrument zu charakterisieren. Zudem hat es sich insofern überholt, als diese Staatengruppe spätestens seit 1989 nicht mehr als der monolithische Block existiert, als der er von den COCOM-Mitgliedsstaaten 40 Jahre lang perzipiert worden war. Dem versucht COCOM derzeit durch Änderungen sowohl der Inhalte der COCOM-Liste, als auch der Zielstaaten gerecht zu werden. Bezüglich der weiteren Entwicklung bestehen zahlreiche Unwägbarkeiten. Bliebe COCOM erhalten und Tritium auf der Liste, was wegen seiner Kernwaffenrelevanz zu erwarten ist, würde sich bei einer mutmaßlichen Erweiterung der Mitgliedschaft auch die Tritiumexportkontrolle ausdehnen. Nachdem die meisten ehemaligen sozialistischen Staaten wegen »Wegfall der Geschäftsgrundlage« von der Liste der Zielstaaten gestrichen worden sind, zeichnet sich eine neue Liste von Staaten ab, denen (neben den wenigen noch verbliebenen Staaten wie Nordkorea, Vietnam oder Kuba) in erster Linie gemeinsam ist, daß ihnen in irgendeiner Form Ambitionen auf ABC-Waffen unterstellt werden.

Das COCOM-Konzept kann aus den genannten Gründen auch bei etwaigen Modifikationen kein geeignetes Instrument für eine hinreichende Tritiumkontrolle auf internationaler Ebene darstellen.

Neue Entwicklungen bei der Tritiumkontrolle

Neben der derzeitigen COCOM-Revision zeichnen sich seit dem Herbst 1990 bezüglich einer internationalen Kontrolle von Tritium und Tritiumtechnologie aus Gründen der Nichtweiterverbreitung auf mehreren Ebenen neue Entwicklungen ab.

1. Im September 1990 wurde auf der vierten Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (Non-Proliferation Treaty, NPT) die Proliferationsrelevanz von Tritium erstmals auf dieser Ebene bestätigt. Obschon Tritium und dessen mögliche Abzweigung für eine militärische Nutzung in dem Vertragswortlaut von 1970 kein expliziter Kontrollgegenstand des NPT ist, wurde auf der Konferenz dazu aufgerufen, eine frühzeitige und adäquate Koordination bei der Kontrolle von Tritiumexporten sicherzustellen.

Dabei wurde aber keine Diskussion mit der Intention geführt, Tritium zusätzlich zu Plutonium und hochangereichertem Uran (highly enriched uranium, HEU) unter Safeguardsmaßnahmen zu stellen, d.h. eine Tritiumkontrolle in den NPT zu integrieren. Trotzdem ist diese Sensibilisierung in Bezug auf Tritium ein erster Schritt der NPT-Mitgliedstaaten, sich mit einer Tritiumkontrolle zu beschäftigen.

2. Die Staaten der Nuclear Suppliers Group (NSG) haben während ihres letzten Treffen vom 5. bis 7.März 1991 in Den Haag eine Arbeitsgruppe mit der Aufgabe eingesetzt, die Richtlinien und die Liste der nuklearen Materialien und Technologien zu überarbeiten, die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können, d.h. Dual-Use-Charakter besitzen.

Da Tritium in diese Kategorie fällt, haben einige Staaten, darunter auch Deutschland, vorgeschlagen, Tritium und Tritiumtechnolgie auf diese Liste zu setzen. Bis Ende 1991 wird die Arbeitsgruppe eine Vorlage für eine Ergänzung der NSG-Richtlinien erarbeiten, die auf dem nächsten Treffen der NSG 1992 in Warschau verabschiedet werden soll.

3. Kanada legt als weltweit größter Produzent von Tritium für den zivilen Markt besonderen Wert auf eine effektive Kontrolle seiner Tritiumexporte. So wurde eine entsprechende Ergänzung zum Kooperationsabkommen zwischen EURATOM und Kanada im Mai 1991 verabschiedet. Sie umfaßt eine Vereinbarung über die Lieferungen von Tritium und Tritiumtechnologie von Kanada für die europäische Fusionsforschung. Darin wird die EURATOM beauftragt, die vertragsgemäße Verwendung des gelieferten Tritiums in EURATOM-Mitgliedsstaaten zu überwachen. Eingeschlossen ist auch die Überprüfung gelieferter Tritiumtechnologie und von Tritium, das damit produziert oder verarbeitet wird.

Eine bilaterale technische Arbeitsgruppe hat den Auftrag, die spezifischen Modalitäten der Kontrolle und Buchführung auszuarbeiten. Die Mitte 1991 abgeschlossenen Kaufverhandlungen über die Lieferung von zehn Gramm Tritium an die Kernforschungsanlage Karlsruhe (KfK) bilden in diesem Zusammenhang einen Präzedenzfall. Der erste Teil des Tritiums, welches in Raten über einen mehrjährigen Zeitraum geliefert werden soll, wird 1992 nach Karlsruhe transferiert. Hier hat die EURATOM, die sich noch in der Entwicklungsphase bei den zu treffenden Safeguardsmaßnahmen befindet, die Gelegenheit, erste Erfahrungen mit der Tritiumkontrolle zu sammeln.

Dabei ist sich die EURATOM-Safeguardsabteilung der Dual-Use-Problematik des Tritums bewußt und beabsichtigt, dies bei der Entwicklung der Safeguards, z.B. durch Maßnahmen zur Verhinderung von Abzweigungen, auch zu berücksichtigen.

Bislang allerdings beschränken sich die EURATOM-Zuständigkeiten auf Tritiumlieferungen für Fusionsprojekte. EURATOM besitzt noch kein Mandat für Tritium, das für andere zivile Anwendungen oder gar militärische Zwecke gedacht ist.

Analoge Abkommen mit anderen potentiellen Tritiumlieferanten an EURATOM-Mitgliedsstaaten für Fusionsforschungsprojekte sind zu erwarten. Derzeit laufen Verhandlungen der EURATOM mit sowjetischen Behörden über eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nukleartechnik, bei denen es auch um Regelungen für Tritium geht.

4. In den USA werden Umgang und Verkauf von Tritium durch das DoE (Department of Energy) und die NRC (Nuclear Regulatory Commission) nach zwei nationalen Gesetzen, dem Atomic Energy Act von 1954 und dem Nuclear Non-Proliferation Act von 1978, kontrolliert.

In einem Report vom März 1991 hat das GAO (General Accounting Office) festgestellt, daß die nationalen Kontrollen von Tritiumexporten für zivile Zwecke verbessert werden können. Anlaß für diesen Report waren mehrere Tritiumtransfers, bei denen relativ hohe Differenzen auftraten zwischen den Tritiummengen, die vor dem Transfer gemessen wurden und denen, die beim Empfänger noch ankamen. Daß der Report in der Rubrik »Nuclear Nonproliferation« erschienen ist, zeigt auch an, daß die USA zu den Staaten gehören, die die Dual-Use-Problematik erkannt haben und diesem Umstand mit gesetzgeberischen Maßnahmen Rechnung zu tragen versuchen. Der GAO-Report konstatiert erhebliche Schwächen im Management der Tritiumhandhabungen. Beispielsweise war nur eine allein arbeitende Person ohne jegliche Kontrolle dafür zuständig, das Tritiumgas in die Kontainer einzufüllen und für den Transport vorzubereiten. Das verantwortliche DoE versucht, die festgestellten Schwächen dadurch auszuräumen, indem es das bisher zuständige ORNL aller Verantwortlichkeiten bezüglich Tritium enthoben hat und die Tritiumoperationen seit Juli 1990 in der moderneren, angeblich besser geeigneten Tritiumanlage des Mound Laboratory in Ohio durchfuehren läßt. Zudem empfiehlt das GAO der NRC, schriftliche Endverbrauchsbestimmungen von den Empfängern zu verlangen und Abkommen mit den Empfängerstaaten abzuschließen, die einen Transfer des Tritiums in ein Drittland nur mit Zustimmung der NRC ermöglichen soll.

Fallbeispiel: Bundesrepublik und Tritiumexporte nach Pakistan

Neben den Kontrolldefiziten in den USA hat ein anderer Fall aus den Jahren 1985/1986 in der Bundesrepublik die internationale Aufmerksamkeit bezüglich Tritium erregt.

Illegale Exporte von Tritium und Tritiumtechnologie nach Pakistan (einem Land, welches in Verdacht steht, intensiv an einem eigenen Kernwaffenprogramm zu arbeiten) haben Gesetzeslücken und Vollzugsdefizite der bestehenden Gesetzgebung offensichtlich werden lassen. Interessengegensätze verschiedener Ressorts (besonders zwischen dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem Außenministerium) sowie unterbesetzte und fachlich überforderte Exportkontrollorgane (besonders das Bundesamt für Wirtschaft, BAW und das Zollkriminalinstitut) haben es der Neuen Technologien GmbH (NTG) leicht gemacht, einen lukrativen Auftrag trotz evidenter Kernwaffenrelevanz zu realisieren.

Durch den illegalen Export von Tritium und Tritiumtechnologie haben sich seitdem die politischen Prioritäten in der Bundesrepublik in der Proliferationsfrage gewandelt. Die militärische Relevanz wurde erkannt, und die zuständigen Behörden (speziell das BAW) sind für diese Problematik sensibilisiert worden. Zudem wurden gesetzgeberische Maßnahmen und personelle Verstärkungen im Bereich der Exportkontrolle vorgenommen. Dies schließt aber nicht aus, daß Pakistan oder ein anderer Staat mit modifizierter Umgehungsstrategie sich nicht doch wieder erfolgreich den deutschen Exportkontrollen entziehen kann, um sich Tritium und Tritiumtechnologie für sein Kernwaffenprogramm zu verschaffen. Die nationalen Gesetzgebungen und Exportkontrollpraktiken vieler Staaten fallen sogar hinter den deutschen Standard zurück. Durch den NTG-Pakistan Fall bietet sich die Gelegenheit, daß die Bundesrepublik bei einem internationalen Aushandlungsprozeß über eine internationale Tritiumkontrolle die eigenen Erfahrungen einbringen kann.

Fazit

Das Fehlen stringenter, effektiver Kontrollmechnismen für Tritium und Tritiumtechnologie auf internationaler Ebene kann unter Proliferationsgesichtspunkten fatale Folgewirkungen nach sich ziehen. Im Gegensatz zu den speziellen nuklearen Materialien (Plutonium und HEU) existieren auf internationaler Ebene auch keine Vereinbarungen über den physischen Schutz von Tritium gegen Diebstahl oder Sabotage.

Erste Ansätze (COCOM, EURATOM, NSG) aus den letzten Jahren zeigen, daß eine globale Tritiumkontrolle keine Utopie bleiben muß. Für die Organisation dieser Kontrolle existieren mehrere Optionen. Sie reichen von Richtlinien für eine Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen für zivile Tritiumexporte bis zu der Möglichkeit der Kontrolle der zivilen und militärischen Produktion, des Transportes und der Endnutzung von Tritium durch eine unabhängige internationale Organisation (z.B. die IAEA oder eine neue Organisation) mit einem entsprechenden Apparat für die Verifikation und Sanktionsmöglichkeiten. Für die Realisierung spielen zahlreiche Faktoren wie politische Akzeptanz, technische Verifizierbarkeit und Kosten eine Rolle.

Die derzeitigen Initiativen von EURATOM sind in diesem Kontext ein konstruktiver Beitrag, aber aufgrund der organisationsimmanenten geographischen und der bestehenden anwendungsspezifischen Beschränkungen nur ein erster Schritt für eine globale Lösung.

Wünschenswert sind aber noch wesentlich weitergehende Optionen, die der Ambivalenzproblematik von Tritium besser gerecht werden.

  1. Es wäre ein generelles Produktionsverbot für Tritium denkbar. Dafür wäre die Suche nach Ersatzstoffen für die verschiedenen industriellen Anwendungen notwendig, und die Fusionsforschung müßte beendet werden. Die nukleare Abrüstung müßte mit einer am Tritiumzerfall orientierten Mindestrate vorangetrieben werden. Die Verifikation wäre einfach, da nur noch die Nichtproduktion von Tritium kontrolliert werden müßte.
  2. Weniger radikal wäre ein Herstellungs- und Nutzungsverbot von Tritium für militärische Zwecke und eine ausschließlich zivile Nutzung der Tritiumproduktion. Dies hätte dieselben Implikation für die nukleare Abrüstung, würde aber die industriellen Anwendungen und die Forschung gestatten. Die Kontrolle würde sich auf die Nichtproduktion in potentiellen militärischen und zivilen Anlagen und auf die Kontrolle der gesamten zivilen Tritiumvorräte erstrecken.

Ausblick

Wenn Kernwaffen auch weiterhin Bestandteil der Militärdoktrinen in den Kernwaffenstaaten blieben, wäre eine Tritiumproduktion in diesen Staaten auf lange Sicht unerläßlich. Falls an der Abschreckungsdoktrin festgehalten, aber gleichzeitig radikal bis auf ein »minimale Abschreckungsarsenal« mit etwa 1.000 Nuklearsprengköpfen abgerüstet würde, dann wäre eine Tritiumproduktion in den USA und der UdSSR bzw. Rußland bis weit in das 21. Jahrhundert nicht mehr notwendig (bis ungefähr zum Jahr 2030). Großbritannien, China, Frankreich und Israel könnten sich anschließen und ihre militärische Tritiumproduktion ebenfalls einstellen sowie die Produktion für den zivilen Markt durch ein internationales Safeguardssystem kontrollieren lassen. Somit könnte ein zunächst bilaterales Abkommen weiter internationalisiert werden.

Falls in den nächsten 40 Jahren auf politischer Ebene die Voraussetzungen für eine kernwaffenfreie Welt geschaffen würden, dann wäre eine internationale Tritiumkontrolle, die unter anderem ein Verbot der militärischen Nutzung von Tritium enthielte, ein möglicher Baustein für die Realisierung dieser Utopie.

Literatur

Colschen/Kalinowski, „Die Kontrolle der militärischen Nutzung von Tritium“ in: Müller/Neuneck (Hrsg.), „Stabilität und Rüstungsmodernisierung“, Baden-Baden 1991

Lars Colschen ist Diplom-Politologe, Martin Kalinowski ist Diplom-Physiker und am Zentrum für interdisziplinäre Technikforschung der TH Darmstadt beschäftigt. Beide arbeiten an dem Projekt zur Tritiumkontrolle im Rahmen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaften und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.

Atomtest – Kein Stopp in Sicht!

Atomtest – Kein Stopp in Sicht!

von Michael Kalman

Am 16. Dezember 1988 sind die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über Kernwaffentests (Nuclear Testing Talks, NTT) in Genf ergebnislos unterbrochen worden. Noch steht der Termin für die Fortsetzung der Gespräche nicht fest. Die neue US-Administration unter Präsident Bush bastelt immer noch an ihrem außen- und sicherheitspolitischen »Gesamtkonzept«. Trotzdem wird uns auch ein Erfolg der NTT dem entscheidenden »Endziel« eines Umfassenden Teststopps (Comprehensive Test Ban, CTB) nicht nennenswert näherbringen.
Konkretes Ziel der bilateralen Test-Gespräche in Genf ist nämlich lediglich die Ratifizierung von zwei „rüstungskontrollpolitischen Ladenhütern“ aus den siebziger Jahren, den sogenannten Schwellenverträgen. Diese Abkommen über die „Begrenzung der unterirdischen Atomwaffentests“ (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) und „Unterirdische Atomexplosionen für friedliche Zwecke (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET)“, paraphiert in den Jahren 1974 und 1976 sind formell noch nicht in Kraft.

Washington behauptet seit Jahren, eine hinreichend genaue Kontrolle der Einhaltung dieser Verträge sei noch nicht gewährleistet. Daher brachte die US-Administration eine neue hydrodynamische Meßmethode ins Spiel, CORRTEX1. Mit diesem Schachzug gelang es Washington im Laufe des Jahres 1987 von den sowjetischen Forderungen nach direkten Verhandlungen zu einem Umfassenden Teststopp abzulenken. Moskau ging schließlich nach langem Zögern auf die amerikanische Position, wonach zunächst die Schwellenverträge – möglicherweise unter Verwendung von CORRTEX – zu ratifizieren seien, ein. Das hatte Folgen. Denn nun mußte erst ein Konsens über die beste Meßmethode zur Ladungsstärke-Bestimmung erzielt werden, da auch die Sowjetunion ein hydrodynamisches Verfahren mit der Bezeichnung MIS (Method of Impulse Sensing) entwickelt hatte. Unabhängig davon erachtet die Sowjetunion ihr teleseismisches System als ausreichend zur Verifikation.

Alle offenen Fragen sollte das sogenannte »Gemeinsame Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) klären. Es wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte in Nevada und Semipalatinsk im August und September 1988 durchgeführt. Je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz wurde zur Überprüfung der on-site-installierten hydrodynamischen (CORRTEX, MIS) und seismischen Meßmethoden gezündet.

In der Presse war sogleich von „gemeinsamen Atomtests“ die Rede, was zu implizieren scheint, daß nunmehr nur noch miteinander getestet wird. Tatsächlich aber testen beide Seiten weiterhin gegeneinander, unvermindert werden Massenvernichtungswaffen perfektioniert.

Der Ansatz des JVE greift im Hinblick auf einen Umfassenden Teststopp entschieden zu kurz. Die hydrodynamischen Meßverfahren sind für sich genommen nämlich in keiner Weise für niedrige Ladungsstärken geeignet, sie sind also für niedrigere Schwellenverträge oder gar einen CTB sinnlos.

Dennoch beurteilt der Bochumer Geophysiker Harjes das JVE auch im Hinblick auf einen CTB positiv. Das gemeinsame Experiment hätte mit der Versachlichung der Diskussion über Verifizierungsmethoden „einen Fortschritt, wenn nicht sogar (einen) Durchbruch auf dem Weg zu einem Atomteststopp“2 erzielt. Mit Hilfe der CORRTEX-Methode könne zudem die Meßgenauigkeit des seismischen Verfahrens steigen, was später auch einmal der Kontrolle eines Umfassenden Teststopps zugute komme3. In der Tat ist mit dem JVE auch eine Eichung der seismischen Methode vorgesehen. Die seismische Überwachung eines CTB erfordert jedoch weniger die Bestimmung der konkreten Ladungsstärke, sondern die zuverlässige Kontrolle, ob überhaupt getestet wird – unabhängig davon wie stark.

Gerade Harjes hat schon vor einigen Jahren ein zuverlässiges Verfikationssystem für einen Umfassenden Versuchsstopp entwickelt. Danach soll ein weltumspannendes Netz von 50 bis 100 sogenannten »Arrays« die Einhaltung eines CTB kontrollieren. Arrays sind zentral zusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern; sie sollen auf dem modernsten Stand gehalten werden. Die Unschärfen der seismischen Meßmethode würden durch diese (quantitative) Massierung von Meßstationen ausgeglichen. Zusammen mit dem Recht auf Kontrollinspektionen vor Ort zu jeder Zeit und weltraumgestützte Photo-Aufklärungssatelliten, die heimliche Vorbereitungen und Bohrungen für einen Atomtest beobachten können, ist eine ausreichende Verifikation möglich. Zudem würde sich nach Ratifikation eines CTB angesichts dieser Kontrollmaßnahmen keine Vertragspartei dem Risiko aussetzen wollen, durch heimliche Atomtests des Vertragsbruchs überführt zu werden.

Vor allem die politischen Implikationen der Harjes'schen Beurteilung des JVE müssen mit Skepsis betrachtet werden. Denn die USA hat den Gebrauch von CORRTEX speziell für eine verbesserte Verifizierung der Schwellenverträge angeregt und die Sowjetunion damit von ihrer Maximalforderung eines direkten – und technisch seit Jahren möglichen! – Zusteuerns auf einen CTB abgebracht. Bezeichnenderweise antwortete Troy E. Wade, am Ende der Reagan-Ära Unterstaatssekretär für Verteidigungsprogramme im Energieministerium, auf die Frage, ob CORRTEX für Atomtests mit niedrigen Ladungsstärken geeignet sei:„Die Präzision von CORRTEX für die Verifikation von niedrigeren Ladungsstärken ist nicht bestimmt worden, aber dies ist (auch) ein völlig anderes Problem. Wir befassen uns in diesem Fall (dem JVE, der Verf.) mit der 150 Kilotonnen-Schwelle und CORRTEX erreicht eine außerordentlich hohe Meßgenauigkeit bei diesen Ladungsstärke-Bereichen.“4 Nach neuesten Vermutungen muß allerdings sogar bezweifelt werden, ob diese von den Amerikanern so hochgelobte Methode eine geringere prozentuale Meßfehlerquote hat als seismische Meßverfahren.5 Auch der Wert des JVE als vertrauens- und konsensbildende Maßnahme wäre also gering, wenn es als Vehikel benutzt würde, echte Rüstungskontrolle, die diesen Namen verdient, zu verschleppen.

Dies umso mehr, als sich die Supermächte an die zu ratifizierenden Schwellenverträge, die unterirdische Atomtests mit einer Ladungsstärke von über 150kt verbieten, im Prinzip ohnehin gehalten haben. Zwar gab es einen Streit zwischen Sowjets und Amerikanern wegen angeblicher Überschreitung dieser Schwelle. Dies war jedoch, wie sich aufmerksamen Beobachtern schnell offenbarte, ein kleinliches, vom Pentagon inszeniertes Ablenkungsmanöver, welches ausgerechnet ein führender amerikanischer Geophysiker in Diensten des Energieministeriums aufdeckte. Charles Archambeau konnte nämlich nachweisen, daß die amerikanischen Schätzungen der Ladungsstärken sowjetischer Tests unrealistisch hoch lagen, weil einfach die Gesteinsbeschaffenheit der Nevada Test Site (NTS) unkritisch auf die Gegebenheiten von Semipalatinsk übertragen wurden. Dort liegt ein ganz anderer, viel härterer Untergrund vor, der unverhältnismäßig stärkere Wellen in der Erdkruste nach einer nuklearen Detonation aussendet. Archambeau führte daraufhin realistischere Korrekturterme ein, die längst auch vom US-Verteidigungsministerium übernommen wurden. 6 1986/87 glaubte die US-Administration aber, sich solcher Scheinargumente bedienen zu müssen, denn sie war durch Gorbatschows Moratorium in die diplomatische Defensive geraten.

Die rüstungskontrollpolitische Sinnlosigkeit der bilateralen Bemühungen um eine Ratifikation läßt sich auch daran zeigen, daß die Schwellenverträge nur einen stürmischen Prozeß der quantitativen und qualitativen Weiterentwicklung der Sprengköpfe nachträglich sanktionieren, der sich schon lange auf niedrigere Kilotonnenbereiche verlagert hatte. Auch ohne TTBT wären die sogenannten Superbomben im Megatonnenbereich also überflüssig geworden. Die Tendenz, Sprengköpfe im Zusammenhang mit der Erhöhung der Zielgenauigkeit von Raketen zu miniaturisieren, beschreibt zudem qualitative Sprünge, die bis heute unvermindert anhalten. In bemerkenswerter Offenheit sagte denn auch der damalige US-Sicherheitsberater Henry Kissinger nach Paraphierung des TTBT am 3. Juli 1974 in Moskau, der Schwellen-Testbann werde „dahin wirken, den Wettlauf auf den Bereich der Waffen mit geringerer Sprengkraft zu konzentrieren“7. Kissinger schien dies als Erfolg zu werten. Die Weiterentwicklung von Präzisionssprengköpfen und Raketen, u.a. dazu auserkoren, gehärtete gegnerische Silos und Kommandozentralen zu durchschlagen, signalisieren dem jeweiligen Gegner jedoch – ob zu Recht oder zu Unrecht -, daß in destabilisierender Weise eine ganz konkrete nukleare Kriegsführungsfähigkeit angestrebt wird.

Von allen Argumenten der Testbefürworter verdient dennoch das abschreckungspolitische Begründungsmuster eine genauere Analyse.

Nukleare Abschreckung ist nach wie vor ein schwer zu hinterfragendes Konzept, weil es unter der Prämisse, daß Staaten dann einen Krieg vom Zaume brechen, wenn es sich lohnt, durchaus vernünftig ist. Im Rahmen der folgenden Überlegungen möchte ich diese Prämisse akzeptieren, um mich in der gebotenen Kürze in die Lage zu versetzen, die herrschende Form des westlichen Abschreckungssystems, immanent zu kritisieren. Eine solche Kritik bleibt weiterhin notwendig, weil dieses System zusammen mit anderen Faktoren eine gefährliche Rüstungsdynamik schürt und jede Initiative für einen vollständigen Teststopp bisher zum Scheitern verurteilt hat.

Die nukleare Rüstungsdynamik, die 1945 ihren Ausgang nahm, führte zu einem Atomwaffenarsenal, deren potentielle Zerstörungswirkung sich ebenso menschlichem Vorstellungsvermögen entzieht wie beispielsweise der planmäßige Völkermord an den Juden im Dritten Reich. Gleichwohl firmierte dieser zutiefst irrationale Prozeß unter wechselnden Etiketten des Abschreckungskalküls, was kühle militärische Absicht und Planung suggeriert. In den fünfziger Jahren fand man das Stichwort »massive retaliation« und entwarf »countercity«-Szenarien. In den sechziger Jahren, als sich in einem beispiellosen Aufrüstungsprozeß die sogenannte nuklearstrategische »Parität« anbahnte, glaubte man einen Zustand der »mutual assured destruction« (MAD) konstatieren zu können. Inzwischen hatte sich das weltweite Nuklearpotential dermaßen ausgedehnt, das die böse Vokabel der »overkill-capacity« nicht nur längst Realität geworden, sondern auch schon abgegriffen war.

Ende der sechziger Jahre setzte sich in der NATO dann die bis heute gültige »flexible response«-Doktrin durch. Sie hatte in der USA schon zur Kennedy-Zeit das massive-retaliation-Paradigma – nicht zuletzt wegen des ungelösten Selbstabschreckungsdilemmas – abgelöst. Nunmehr sollte auf einen Angriff des Warschauer Paktes nicht mehr mit massiven, extrem zerstörerischen Nuklearschlägen „geantwortet“, sondern mit einer breiten Auswahl von militärischen Optionen reagiert werden, die sich von der Verteidigung mit konventionellen über begrenzte nukleare Warnschläge auf gegnerisches Territorium bis hin zur allgemeinen nuklearen Reaktion erstrecken. Ein solch „anspruchsvolles“ Konzept gab der Rüstungsdynamik neue und zusätzliche „Impulse“.

Greifen wir zur näheren Untersuchung die mittlere Option heraus.8 Die NATO sieht einen oder wenige gezielte nukleare Schläge gegen feindliches Territorium mit relativ geringer Zerstörungskraft und Schadensbegrenzung dann vor, wenn die konventionellen Mittel für eine erfolgreiche Verteidigung nicht ausreichen. Dem offiziellen NATO-Jargon gemäß (Nuklearwaffen seien „politische Waffen“) soll mit diesen Schlägen dem Gegner signalisiert werden, daß nun die Kampfhandlungen unverzüglich zu beenden seien, sonst drohe die allgemeine nukleare Reaktion. Den politischen Gehalt der Waffensysteme mit dieser Einsatzoption sieht man in den qualitativen militärischen Merkmalen »Zielgenauigkeit«, »Begrenzung des Kollateralschadens«, schließlich »Zuverlässigkeit«, verwirklicht. Es ist unschwer zu erraten, daß die Erfüllung solcher Eigenschaften höchste Anforderungen an die nuklearen Sprengkopfprofile stellt. Dies umso mehr, wenn man die dauernd expandierenden technologischen Möglichkeiten als einen entscheidenden Maßstab für die Realisierung solcher Anforderungen nicht nur akzeptiert, sondern vielfach sogar heftig begrüßt.

Aus diesen Zusammenhängen heraus ergibt sich ein nicht enden wollender Testbedarf.

Aber schon die Prämissen der hier erörterten first-use-Option, welche neben anderen die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren soll, sind fragwürdig. Wenn die westlichen Militärplaner glauben, daß im Kriegsfall solche »nuklearen Signale« im Rahmen einer »vorbedachten Eskalation« vom Gegner auch tatsächlich entsprechend der NATO-Intention verstanden werden, so gehen sie davon aus, daß sie die Regeln für eine »nukleare Kommunikation« auf dem Schlachtfeld (dieser Euphemismus bleibt uns nicht erspart!) auch für die Gegenseite verbindlich formulieren können. In diesem Fall würden – so das Kalkül – die WP-Staaten die Kriegshandlungen sofort abbrechen, weil ihnen das nukleare Grauen sozusagen „symbolisch“ vorgeführt würde. Dies kann so funktionieren, dies kann aber auch eine komplette Illusion sein. Warum sollte die Sowjetunion in der extrem angespannten Kriegssituation gemäß dieser Rationalität handeln? Was ist, wenn Moskau das nukleare Signal nicht versteht und selbst nuklear antwortet? Auf solche Ungewißheiten einen gravierenden Teil der westlichen nuklearen Infrastruktur aufzubauen, offenbart eine erschreckende Naivität.

Auch die ausgetüftelte flexible response-Doktrin hat also das Selbstabschreckungsdilemma nicht zu lösen vermocht. Sie ist auch nicht durch illusionäre Metaphern wie »Eskalationskontrolle« gelöst worden. Vielmehr ist durch die Differenzierung und Vermehrung nuklearer Einsatzmöglichkeiten der östlichen Gegenseite wahrscheinlich etwas ganz anderes signalisiert worden: daß atomare Einsätze auf dem »theatre« in Europa normal in das konventionelle Kampfgeschehen integriert werden sollen. Die amerikanischen Nukleartests tragen also erheblich dazu bei, daß auch regionale nukleare Kriegsführungsoptionen denkbarer werden. Wenn es überhaupt jemals gestimmt hat, daß man Westeuropa mit taktischen Nuklearwaffen stärker an den amerikanischen »atomaren Schutzschirm« koppeln kann, so ist etwa mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen der Tendenz nach jedenfalls das Gegenteil erreicht worden.

Von ähnlich zweifelhafter Natur sind die Bemühungen, mit Hilfe der Tests die dritte Generation der Nuklearwaffen zu realisieren. SDI – ein Traum wie ihn heute wahrscheinlich nur noch Amerikaner träumen können – beruht auf der Spekulation, die Abschreckung mit technischen Mitteln obsolet zu machen. In Zusammenhang mit dieser Vision – und nur hier – entdeckte die amerikanische Administration plötzlich ethische Vorbehalte gegen die Abschreckung. Auch in diesem Zusammenhang wird ein immenser Testbedarf eingefordert für ein Ziel, das wenig sinnvoll ist:

1.) Man stelle sich eine Welt vor, in der die USA kurz vor der Realisierung von SDI steht, also ausreichenden Schutz vor den sowjetischen Interkontinentalraketen hat, während die UdSSR dem kein adäquates Defensivsystem entgegenzusetzen hätte. Dies würde einer Wiederherstellung der amerikanischen Erstschlagfähigkeit gleichkommen. Diese Aussicht würde Moskau in erhebliche Präemptionszwänge stürzen, die Welt also erheblich unsicherer machen.

2.) Technisch und vom finanziellen Aufwand her ist SDI überhaupt nicht zu realisieren – so ist jedenfalls die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Fachleute. Allein das Streben der USA nach dieser Form einseitiger Sicherheit heizt jedoch die Bedrohungsängste der Gegenseite immer wieder an, die dann mit hektischen Aufrüstungsschritten reagiert.

Diese Kritik an SDI und an der NATO-Doktrin ist natürlich nicht neu. Sie muß aber auf der Tagesordnung bleiben, um zu zeigen, durch welche Fiktionen die Atomtests bis zum Sanktnimmerleinstag aufrechterhalten werden.

Perspektiven einer Reform des Abschreckungssystems

Zur Freiheit und politischen Entscheidungsfähigkeit der Menschheit am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehört auch die Fähigkeit, die gewaltigen und beängstigenden technologischen Möglichkeiten im Rüstungssektor in gemeinsamer Absprache gerade nicht zu nutzen. Die Rüstungsdynamik als quasi naturgegebene Konstante hinzunehmen, bedeutet in der Tat, einem extensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff zu folgen, der unerbittlich verlangt, das technologisch Machbare auch tatsächlich zu machen. Schließlich – so wird hinzugefügt – schlafe ja auch die Gegenseite nicht. So wird eine gigantische Ressourcenverschwendung in die Wege geleitet, die nicht nur die vorgeblich zu schützenden Güter in Ost und West tendenziell entwertet, sondern auch den Status Quo in der internationalen Politik mit Mitteln zu sichern versucht, die immer wieder die Tendenz haben, diesen gerade zu überwinden.

Das bestehende Kräfteverhältnis in Ost und West läßt sich jedoch erheblich besser schützen, wenn man durch gemeinsame Abkommen wichtige Elemente der Rüstungsdynamik paritätisch eliminiert. Ein solches Element ist der Atomtest. Ein CTB würde den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung stärken, weil ein dynamisches Element der Rüstungsentwicklung herausgenommen würde. Eine Drosselung der Rüstungsdynamik führt aber zu mehr gegenseitiger Berechenbarkeit, weil dann nicht mehr so stark technologische Möglichkeiten (mit ungewissem Ausgang) die Form des Abschreckungssystems diktieren, sondern politische Abkommen. Ein CTB würde also nicht nur ein Schlaglicht auf eine friedfertige Welt richten, auch Abschreckungsbefürworter müssen ihn wollen. Denn Abschreckung im Nuklearzeitalter ist und bleibt eine psychologische Qualität. Sie besteht – unbeschadet der Unwahrscheinlichkeit der tatsächlichen Anwendung von Nuklearwaffen durch das Faktum der Selbstabschreckung – im Kern nur aus drei bis vier Elementen:

  1. Vorhandensein von Nuklearwaffen: mindestens zwei gegnerische Staaten besitzen solche Waffen und können das jeweils andere Territorium damit erreichen.
  2. Zweitschlagfähigkeit
  3. Ungewißheit: die Waffen könnten eingesetzt werden.
  4. Glaubwürdigkeit: Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn 3. erfüllt ist.

Auch das Kriterium der Glaubwürdigkeit wurde in den entscheidenden NATO-Etagen bislang unrealistisch extensiv ausgelegt. Bislang sieht man die Glaubwürdigkeit von Abschreckung nur dann realisiert, wenn ein riesiges Overkill-Potential nach dem neuesten Stand der Technik jederzeit zuverlässig einsatzbereit ist. Eine solche Sicht der Dinge läßt sowohl den psychologischen als auch den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung außer acht.

Wenn durch einen CTB keine neuen, noch raffinierteren Sprengköpfe entwickelt werden könnten, so würde sich die Glaubwürdigkeit fortan auf das bestehende Potential stützen. Dieses ist bereits ausreichend getestet worden und zuverlässig. Und selbst wenn dieses Potential nach Jahrzehnten drohte, unzuverlässiger zu werden, so würde es paritätisch unglaubwürdiger. Punkt 2.) (Ungewißheit), der Kern der Abschreckung, würde damit nicht angetastet. Im übrigen heißt ein CTB (leider) ja noch nicht Produktionsstopp von Sprengköpfen; die ausreichend getesteten Profile der bestehenden Arsenale können jederzeit nachgebaut werden.

Auch das Argument, ein Umfassender Teststopp stärke die Sowjetunion, da diese wegen ihrer konventionellen Überlegenheit nicht auf verfeinerte nukleare first-use-Optionen angewiesen sei, verfängt nicht. Ersteinsatzplanungen können – wie oben gezeigt – nicht überzeugen, da niemand weiß, ob das NATO-Kalkül aufgeht. Eine Option, die einen Weltenbrand in der Konsequenz nicht ausschließen kann, muß also als extremes Sicherheitsrisiko angesehen werden. Hierfür einen fortgesetzten Testbedarf einzufordern, bleibt kontraproduktiv und gefährlich.

Die Argumente der Testbefürworter lassen also zwei Strukturmuster erkennen. Zum einen argumentieren sie mit dem bestehenden Abschreckungssystem und seinen Rahmenbedingungen, ohne seine Prämissen zu reflektieren. Zu der Einsicht, daß es nicht die Abschrekkung gibt, sondern verschiedene, nämlich sicherere und unsicherere Abschreckungsmodelle, kommen sie nicht. Politisch ist es aber unerläßlich, mittelfristig zu einer Reform des Abschreckungssystems zu gelangen – wenn man zugesteht, daß eine abschreckungsfreie Weltfriedensordnung erst langfristig erreichbar ist. Eine nicht hinterfragte Monopolisierung eines bestimmten Abschreckungsbegriffes bei der NATO macht die Verantwortlichen unfähig zur Antizipation neuer und sicherer Strukturen. Hinzu kommt ein pauschaler technologischer Progressismus, der aus konzeptioneller Hilflosigkeit die Dissonanzen des Fortschritts verdrängt.

Zum zweiten erlauben sich die NATO-Chefdenker nach wie vor das überlebte Modell einseitiger Sicherheit. Jeder Aufrüstungsschritt bedeutet nur vordergründig ein Mehr an eigener Sicherheit, sie erzeugt aber gegnerische Unsicherheit, die Gegenreaktionen provoziert, welche wiederum die eigene Sicherheit bedroht. Dieser sattsam bekannte Zyklus hat in den internationalen Beziehungen bisher niemandem Vorteile gebracht – im Gegenteil. Daher muß eine Sicherung des Status quo andere Wege gehen – billigere und ungefährlichere. Gemeinsame Sicherheit erkennt die nuklearen Realitäten endlich in der angemessenen Form auch politisch an und überführt sie in friedlichere Strukturen, wobei die weltweite Denuklearisierung in weiterer Zukunft nicht ausgeschlossen werden darf!

Eine Argumentation, die für die Aufrechterhaltung der Tests anführt, auf anderen Feldern könnte der Rüstungswettlauf ungehindert weitergehen (z.B. auf defensivem Sektor wie Silohärtung oder Perfektionierung der Luftabwehr), daher müßten auch die nuklearen (Angriffs-) Optionen verbessert werden, um eine angemessene Abschreckungsverwundbarkeit des Gegners aufrechtzuerhalten, bleibt einer Denkfigur verhaftet, welche die gegenwärtige Hochrüstung mit ihren destabilisierenden Implikationen zementiert.9 Diese Denkfigur folgt dem absurden Schema: Wenn ich im Falschen das Richtige tue, mache ich das Falsche noch falscher. Dem muß neues Denken entgegengesetzt werden, welches betont: Das Richtige mutig gegen das Falsche gerichtet, läßt langfristig das Falsche zum Richtigen konvertieren.

Die Aussichten für einen Umfassenden Teststopp bleiben dennoch vorerst düster. Denn es gibt neben den Supermächten noch drei andere Atommächte, die sicherheitspolitisch allesamt auf ein ständig zu modernisierendes Nukleararsenal setzen. Auch die sechs atomaren Schwellenländer (Pakistan, Indien, Brasilien, Israel, Argentinien und Südafrika) könnten nach der Bombe greifen.

Es regen sich aber nach wie vor politische und soziale Kräfte, die von einer Verantwortung für die globalen Menschheitsprobleme umgetrieben werden. Die internationale Friedensbewegung macht zunehmend Front gegen die Versuche. Am 15. April 1989 versuchten über 5000 Menschen (!) in das Atomtestgelände von Nevada zu einzudringen, um endlich nachdrücklich ein Ende der riesigen Testserie seit 1945 (weltweit auf allen Seiten bisher 1799 Tests!) einzufordern.10

Das gleiche Ziel, nur mit anderen Mitteln, strebt auch eine einflußreiche internationale Parlamentariergruppe an, Parliamentarians for Global Action (PGA). Sie unterstützt zusammen mit der Six-Nations-Initiative von Staats- und Regierungschefs aus sechs Staaten und vier Erdteilen den sogenannten Amendment-Prozeß innerhalb der UNO.11 Dieser Prozeß zielt auf eine Erweiterungs-Konferenz des 1963 geschlossenen PTBT. Einen großen Erfolg konnten PGA und Six-Nations-Initiative unlängst feiern. Das für die Einberufung einer Amendment-Konferenz notwendige Votum von einem Drittel der PTBT-Unterzeichnerstaaten (39) kam unlängst (Ende März 1989) zustande. Nun sind die Atommächte verpflichtet, diesem Votum stattzugeben. Auch wenn die Konferenz durch ein wahrscheinliches Veto der Nuklearstaaten nicht zu einem Erfolg wird, so würde sie doch ein vielbeachtetes Forum schaffen, in dem die Testbefürworter in neue Begründungszwänge gerieten. Das umso mehr, als für 1990 die nächste Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) anberaumt ist, dessen Regime durch die Aufrechterhaltung der Tests weiter unterhöhlt wird.

Anmerkungen

1 CORRTEX ist die Abkürzung für Continous Reflectometry for Radius versus Time Experiment. Zur Erläuterung dieses Meßverfahrens siehe den Beitrag von Uwe Reichert in Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 4/1988! Zurück

2 H.P.Harjes, Das amerikanisch-sowjetische Verifikationsexperiment – Fortschritt auf dem Weg zu einem kontrollierten Atomteststopp?, in: Deutsche Physikalische Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Mitteilungen Nr. 4/1988, S. 3. Zurück

3 So sinngemäß Harjes auf einer wissenschaftlichen Konferenz über das Gradualismus-Konzept, siehe: H.P. Harjes, Korreferat über das einseitige sowjetische Teststoppmoratorium 1985/87 (protokolliert) in: Oliver Thränert (Autor), Konferenzbericht: Das Konzept des Gradualismus. Eine vergleichende Analyse über Probleme, Bedeutung und Möglichkeiten einseitiger, begrenzter Vorleistungen, Bonn 1988 (=Studie Nr. 33 der Abteilung Außenpolitik und DDR-Forschung im Forschungsinstitut der FES), S. 54. Zurück

4 Interview mit Troy Wade in: Arms Control Today, June 1988, S. 24 (Übersetzung des Verfassers). Zurück

5 So wurde bekannt, daß es einen internen Streit zwischen Amerikanern und Sowjets gab, weil die UdSSR die Meßergebnisse des JVE publizieren wollten. Dies lehnte die USA brüskiert ab. Beobachter glauben, daß Washington das wahrscheinlich schlechte Abschneiden von CORRTEX beim Gemeinsamen Verifizierungs-Experiment verheimlichen will, siehe Michael Gordon, Soviets are willing to publicize test data, but US urges secrecy, in: International Herald Tribune, 24. März 1989. Zurück

6 Siehe den sehr informativen Beitrag von William J. Broad, Die Bombenpleite, in: Zeit-Magazin Nr. 49, 2. Dezember 1988, S. 42ff.! Zurück

7 Europa-Archiv 1974, D 564 Zurück

8 Holger Mey verdanke ich einige Anregungen zum Zusammenhang von »flexible response« bzw. den von ihr abgeleiteten Bedarf an Waffen und militärischen Fähigkeiten und Atomtests. Allerdings bleibt Mey in seiner Immanenz affirmativ dem NATO-Abschreckungskalkül verhaftet, was ihn zu einer notwendigen Kritik, die auf größere und relevantere Zusammenhänge verweisen würde, unfähig macht. Holger Mey, Die Bedeutung der Nukleartests für die Strategie der Abschreckung, in: Europa-Archiv, 6/1988, S. 151ff. Zurück

9 Siehe Holger Mey, a.a.O., S. 154. Zurück

10 Siehe die Tageszeitung vom 17. April 1989. Zurück

11 Über die Positionen und Aktivitäten der Six-Nations-Initiative informiert das Themenheft über Atomtests der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS, Hrsg.), Frieden und Abrüstung, Nr. 21 (1/1987). Zurück

Michael Kalman ist Politologe und Mitarbeiter bei der IFIAS.

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

Atomsprache und wie wir lernten, die Bombe zu streicheln (II)

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

von Carol Cohn

Obgleich mich die für die Sprache der Militärstrategen typische Mischung aus trockenen, abstrakten Begriffen und seltsamen Metaphern entsetzte, konzentrierte ich mich darauf, sie zu entschlüsseln und sprechen zu lernen. Zuerst mußte die Zunge daran gewöhnt werden, Abkürzungen auszusprechen.

Trotz jahrelanger Lektüre über Kernwaffen und atomare Strategien war ich weder auf die Menge der benutzten Abkürzungen noch auf die Art ihres Gebrauches vorbereitet. Ursprünglich hatte ich gedacht, sie seien bloß nützlich: Mit ihrer Hilfe kann man schneller schreiben und sprechen; ihre Funktion ist die des Abstrahierens, des Abstandnehmens von der hinter den Worten liegenden Realität; sie beschränken die Kommunikation auf einen Kreis von Eingeweihten – die Übrigen bleiben verständnis- und sprachlos vor der Tür.

Doch ich entdeckte noch andere unerwartete Dimensionen. Zum einen wirken viele dieser Ausdrücke beim Sprechen und Hören geradezu sexy. Eine kleine Überschallrakete, „dazu bestimmt, in jede erdenkliche sowjetische Luftabwehr einzudringen“, heißt SRAM (Short-Range Attack Missile). Auf U-Booten abschußbereit gehaltene Marschflugkörper (Submarine-Launched Cruise Missiles) werden »Slick'ems«, bodengestützte (Ground-Launched Missiles) »Glick'ems« genannt; luftgestützte Marschflugkörper (Air-Launched Cruise Missiles) sind magische »Alchems«.

Andere Abkürzungen, andere Funktionen: Das Flugzeug, in dem der Präsident angeblich über einem nuklearen Holocaust herumfliegen, Meldungen entgegennehmen und Befehle erteilen wird, wo als nächstes gebombt werden soll, wird »Kneecap« (Knieschützer) genannt (für NEACP, National Emergency Airborne Command Post, luftgestützter Befehlsposten im nationalen Notstand). Zwar glaubt kaum jemand, der Präsident könne tatsächlich noch die Zeit haben, es zu besteigen, oder daß – sollte es ihm gelingen – die Nachrichtensysteme funktionieren würden. Aber genau die Tatsache, daß man über dieses Konzept schmunzeln kann, macht es möglich, mit ihm zu arbeiten, statt es offen abzulehnen. Anders gesagt: Was ich im Zentrum für Nuklearstrategische Studien gelernt habe, ist, daß dieses Reden über Atomwaffen Spaß macht. Die Wörter sind schnell, sauber und unkompliziert, sie gehen leicht über die Lippen. Man kann sie dutzendweise in Sekunden herunterrasseln und dabei verlernen, über das nächste zu stolpern – oder gar über ihre Bedeutung für Menschenleben. Fast alle, die ich beobachtete – Professoren, Studenten, Falken, Tauben, Männer und Frauen – machten von diesen Wörtern mit Vergnügen Gebrauch. Manche von uns zwar mit einer bewußt ironischen Schärfe, doch das tat dem Vergnügen keinen Abbruch. Zum Teil lag der Reiz im Bewußtsein, daß wir in der Lage waren, mit einer Zeichensprache umzugehen, also die Macht besaßen, das Allerheiligste zu betreten. Wichtiger aber ist, daß die Aneignung dieser Sprache ein Gefühl von Herrschaft vermittelt, das Gefühl, Gebieter über eine Technologie zu sein, die letztendlich nicht beherrschbar ist, deren Macht aber das menschliche Fassungsvermögen transzendiert. Je länger ich mich im Zentrum aufhielt, je öfter ich an Gesprächen teilnahm, desto weniger Angst hatte ich vor dem Atomkrieg.

Die Verbannung konkreter Kriegsbilder

Wie kann die Tatsache, daß man eine Sprache sprechen lernt, eine derart starke Wirkung ausüben? Zum einen liegt es – wie schon erwähnt – an der abstrakten und sauberen technostrategischen Sprache, die konkrete Kriegsbilder verbannt. Doch es ist mehr als nur das: Ich habe erfahren, daß der Prozeß des Erlernens dieser Sprache mich selbst von der Realität des Atomkrieges entfernte. Meine Energien konzentrierten sich auf die Herausforderung, Abkürzungen zu entschlüsseln, neue Termini zu erlernen, Sprachkompetenz zu entwickeln – nicht jedoch auf die Waffen und Kriege, die die Vokabeln konkret beinhalten. Nachdem ich diesen Prozeß durchlaufen hatte, hatte ich weitaus mehr gelernt als nur eine andere – wenn auch abstrakte – Kategorie von Wörtern. Der Inhalt, die eigentliche Aussage dessen, worüber ich sprechen konnte, war ein völlig anderer geworden. Nehmen wir folgende zwei Beschreibungen, beide bezogen auf die Folgen eines atomaren Angriffs: „Alles war schwarz, in einer schwarzen Staubwolke verschwunden, zerstört. Nur die Flammen, die emporzuzüngeln begannen, hatten überhaupt Farbe. Allmählich wurden aus der Wolke, die wie ein Nebel war, Gestalten sichtbar, schwarz, haarlos, gesichtslos. Sie schrien mit Stimmen, die nicht mehr menschlich waren. Ihre Schreie übertönten das Stöhnen, das allenthalben aus dem Schutt aufstieg, ein Stöhnen, das aus der Erde selbst zu kommen schien.“1 „Unbedingt erforderlich sind Mittel und Wege zur Aufrechterhaltung einer Nachrichtenübermittlung in einer nuklearen Umwelt, einer Lage, zu der EMP-blackout, rohe und gewaltsame Beschädigungen der Systeme, schwere Sendestörungen usw. dazugehören.“ 2

Es ist ganz unmöglich, die im ersten Zitat wiedergegebenen Vorgänge in der Sprache des zweiten zu erfassen. Der Unterschied liegt nicht nur in der Wortwahl, der Lebendigkeit, sondern in ihrer inhaltlichen Aussage: Im ersten geht es um die Auswirkungen einer atomaren Explosion auf Menschen, das zweite beschreibt ihre Folgen für technische Systeme, deren Zweck es ist, die »Befehls- und Kontrollgewalt« über Kernwaffen sicherzustellen. Der Unterschied ist Ausfluß der je anderen Perspektive dessen, der spricht: Im ersten Fall ein Opfer, im zweiten ein »Täter«. Die Worte im ersten Zitat sind der Versuch einer Frau, das Grauen des menschlichen Leidens um sie herum zu benennen und zu fassen; dem Sprecher im zweiten Zitat geht es darum, die Möglichkeit eines atomaren Zweitschlages sicherzustellen.

Die technostrategische Sprache drückt nur die eine Perspektive aus: Die Perspektive dessen, der Atomwaffen einsetzt – nicht die ihrer Opfer. Wer diese Expertensprache spricht, dem bietet sich nicht nur die Gelegenheit, Abstand und ein Gefühl der Beherrschbarkeit zu gewinnen sowie seine Energien auf einen anderen Schwerpunkt zu verlagern; er/sie kann sich auf diese Weise auch dem Gedanken verweigern, selbst Opfer eines Atomkrieges zu werden. Was immer man tief im Innern von der Wahrscheinlichkeit eines atomaren Krieges weiß oder zu wissen glaubt, gleich, welch Schrecken oder Verzweiflung das Wissen um die Realität des Atomkrieges auch immer auslösen könnte: Jene, die die technostrategische Sprache sprechen, dürfen, ja müssen sich der Erkenntnis entziehen, flüchten davor, den Atomkrieg aus der Perspektive der Opfer zu sehen – mit Hilfe ihrer Sprache.

Vermutlich ist die reduzierte Angst vor einem Atomkrieg, die sowohl Neulinge wie auch langjährige Experten des technostrategischen Diskurses allgemein an sich erleben, eine Folge der Charakteristika dieser Sprache selbst: Distanz, die man sich aufgrund der abstrakten Begrifflichkeit leisten kann; das Gefühl, alles im Griff zu haben, das sich einstellt, sobald man die Sprache beherrscht; die Tatsache, daß ihr Inhalt und Anliegen Inhalt und Anliegen der Täter sind, nicht die der Opfer. Im Prozeß der Sprachaneignung wandelt sich der Sprecher vom passiven und ohnmächtigen Opfer zum kompetenten, schlauen und mächtigen Lieferanten atomarer Drohungen und atomarer Sprengkraft. Die ungeheuren Destruktionskräfte der nuklearen Waffensysteme werden zu Auswüchsen des Ich, nicht zu dessen Bedrohung.

Eine Welt der Abstraktionen

Ich benötigte nicht lange, um die Sprache des Atomkrieges und den größten Teil der in ihr enthaltenen Spezialinformationen zu erlernen. So verlagerte sich der Schwerpunkt meines Interesses rasch von der Beherrschung der technischen Informationen und doktrinären Geheimcodes auf die Suche nach der rationalen Begründung jener Doktrin, die ich erlernte. Da tieferliegende Gründe im Alltagsgeschäft der Verteidigungsplaner nicht eben häufig diskutiert werden, mußte ich beginnen, vermehrt Fragen zu stellen. Obwohl es mich zunächst reizte, meine neu erworbene Kompetenz im Bereich des technostrategischen Jargons unter Beweis zu stellen, gelobte ich mir, normales Englisch zu sprechen. Das Resultat: Egal, wie gut informiert meine Fragen, wie fundiert und umfassend mein Wissen waren: Benutzte ich anstatt des Expertenjargons normales Englisch, antworteten mir die Männer, als hätte ich keine blasse Ahnung, ein schlichtes Gemüt oder gar beides. Meine ausgeprägte Abneigung gegen eine gönnerhafte Behandlung wie mein Hang zum Pragmatismus hatten zur Folge, daß dieses Experiment nur von kurzer Dauer war. Ich verlegte mich erneut auf das einschlägige Vokabular, sprach von »Eskalationsdominanz«, »Präemptivschlägen« und – einer meiner Lieblingsausdrücke – »Sub-Holocaust-Engagement«. So ebnete ich mir den Weg zu langen, elaborierten Diskussionen, in denen ich eine Menge über technostrategische Rationalität und über Manipulierbarkeit erfuhr.

Aber je besser ich in diesem Diskurs wurde, desto schwieriger wurde es, meine eigenen Ideen und Werte auszudrücken. Denn die technostrategische Sprache schloß zwar Dinge, über die zu sprechen ich nie zuvor in der Lage war, ein, andere dafür aber radikal aus. Ein drastisches Beispiel: Das Wort »Frieden« kommt in diesem Diskurs nicht vor. Die weitestgehende Annäherung daran heißt »strategische Stabilität«, ein Begriff, der sich auf ein quantitatives und qualitatives Gleichgewicht bei den Waffensystemen bezieht – nicht auf die politischen, sozialen, ökonomischen und psychologischen Bedingungen, die »Frieden« meint. Hinzu kommt, daß man sich, wenn man das Wort »Frieden« ausspricht, sofort selbst das Etikett des tumben Aktivisten statt des ernstzunehmenden Professionellen anheftet. War ich schon unfähig, meine Bedenken in dieser Sprache auszudrücken, so war es noch störender, daß es mir zunehmend schwerer fiel, sie überhaupt in meinem eigenen Kopf zu behalten. Wie fest auch immer ich mir vorgenommen hatte, mir der hinter den Worten verborgenen blutigen Realität bewußt zu bleiben – ich merkte doch immer wieder, daß ich am Bezugspunkt »Menschenleben« nicht festhalten konnte. Ich konnte tagelang herumgehen und über Kernwaffen reden, ohne auch nur ein einziges Mal an die Menschen denken zu müssen, die von ihnen verbrannt werden würden.

Es ist überaus verlockend, dieses Problem einfach den Worten zuzuschreiben, den abstrakten Begriffen, den Euphemismen und den gesäuberten, freundlichen Abkürzungen mit ihrem Sex-Appeal. Dann nämlich bräuchte man einzig die Worte auszutauschen – gemäß dem Rezept: Man bringe die militärischen Planer dazu, statt »Begleitschaden« »Massenmord« zu sagen, und ihr Denken wird sich ändern. Das Problem ist aber nicht, daß die Sicherheitsstrategen sich durch den Gebrauch abstrakter Begriffe von der Realität entfernen. Es gibt keine Realität hinter den Worten, bzw. die Realität, von der sie reden, ist selbst eine Welt der Abstraktionen. Die Abschreckungstheorie – wie auch ein Großteil der strategischen Doktrin – wurde erfunden, um die eigene Logik abstrakt zusammenzuhalten, ihre Gültigkeit wird mit der eigenen Logik beurteilt. Diese abstrakten Systeme wurden entwickelt, um „das Undenkbare zu denken“ (Herman Kahn) – nicht, um Verhältnisse auf dem Boden der Tatsachen zu beschreiben und zu kodifizieren.

Der Bezugspunkt technostrategischen Denkens: Waffen

Die Idee eines »begrenzten Atomkrieges« beispielsweise ist nicht nur deshalb eine brutale Verzerrung, weil sie das Leiden und Sterben von Menschen, das durch jeden Einsatz von Atomwaffen verursacht wird, als »begrenzt« bezeichnet, oder weil der »begrenzte Atomkrieg« eine Abstraktion ist, die den Blick auf die hinter jedem Kernwaffeneinsatz liegende menschliche Realität verstellt. Das Problem ist auch, daß ein »begrenzter Atomkrieg« an sich ein abstraktes Konzept ist – von Computern entworfen, ausgestaltet und vervollkommnet.

In dieser abstrakten Begriffswelt sind die hypothetischen, ruhigen und rationalen Akteure so umfassend informiert, daß sie genau wissen, welches Kaliber von Kernwaffen der Gegner gegen welche Ziele eingesetzt hat. Sie verfügen über die adäquaten Befehls- und Kontrollmechanismen, um sicherzustellen, daß ihre Reaktion das exakte Gleichgewicht zum Angriff herstellt. Kein Frontkommandeur würde hier seine taktischen Atomwaffen auf dem Höhepunkt einer verlorenen Schlacht einsetzen. Unsere rationalen Akteure wären im Angriffsfall absolut frei von Emotionen und politischem Druck. Grundlage ihres Handelns wäre einzig und allein ein durch und durch perfektes mathematisches Kalkül, gemessen in Megatonnen. Vom begrenzten Atomkrieg zu sprechen, heißt deshalb, in einem System zu denken und zu handeln, das faktisch abstrakt und auf groteske Weise realitätsfern ist. Weil dieses Konzept so abstrakt ist, geht eine beschreibende Sprache völlig an der Sache vorbei.

Diese Erkenntnis half mir einerseits zu verstehen, warum ich solche Schwierigkeiten hatte, den Bezug zu konkreten Menschenleben aufrechtzuerhalten. Andererseits erklärte sie wenigstens zum Teil die bizarren und surrealen Äußerungen der Experten. Trotzdem begriff ich immer noch nicht alles. Wie etwa ist folgende Aussage zu verstehen: „Die strategische Stabilität des Regimes A beruht auf der Tatsache, daß beide Seiten zu keiner Zeit irgendeinen Anreiz zum Erstschlag haben. Da es ungefähr zwei Sprengköpfe erfordert, um ein feindliches Silo zu zerstören, muß ein Angreifer zwei Raketen aufwenden, um eine gegnerische zu zerstören. Ein Erstschlag entwaffnet den Angreifer. Der Angreifer steht am Ende schlechter da als der Angegriffene.“ 3

Das Heimatland des »Angegriffenen« ist gerade von – angenommen – 1000 Atombomben verwüstet worden, von denen jede höchstwahrscheinlich über die 10 bis 100fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe verfügt. Und der Angreifer, dessen Heimatland noch unversehrt ist, »steht am Ende schlechter da«?

Ich vermochte den Sinn dieses Gedankens erst zu erfassen, als ich mich schließlich fragte: Wer – oder was – ist hier das Subjekt? Im technostrategischen Diskurs bezieht sich alles auf die Waffen, nichts auf Menschen. Der Angreifer steht deshalb am Ende schlechter da als der Angegriffene, weil ihm weniger Waffen verbleiben; sonstige Faktoren – etwa die Frage: Was geschah dort, wo die Waffen abgeworfen wurden? – sind für die Gewinn- und Verlustrechnung ohne Bedeutung.

Die Tatsache, daß die Subjekte strategischer Paradigmen Waffen sind, hat einige wesentliche Folgen. Die erste und wohl wichtigste ist, daß es keine Möglichkeit gibt, den Tod von Menschen oder eine menschliche Gesellschaft zu diskutieren, solange man sich einer Sprache bedient, die einzig geschaffen wurde, um über Waffen zu sprechen. Der Tod von Menschen ist dann nichts weiter als ein »Begleitschaden« – Nebensache angesichts des eigentlichen Subjekts.

Als ich dies begriffen hatte, konnte ich mir auch erklären, was mich zunächst überrascht hatte: Die meisten Leute, die diese Arbeit verrichten, sind im großen und ganzen nette, ja, gütige Männer, viele sogar mit liberaler Gesinnung. Ihr Motiv, so argumentieren sie häufig, sei die Sorge um die Menschen. Aber im Laufe der Zeit eignen sie sich bei ihrer Arbeit eine Sprache und ein Denkschema an, in dem Menschen nichts mehr zu suchen haben. Und so kann das Wesen und Ergebnis ihrer Arbeit in tiefen Widerspruch zu ihren ursprünglichen Motiven geraten.

Hinzu kommt folgendes: Wenn Waffen den Bezugspunkt bilden, dann wirkt es fast schon unangemessen, zu verlangen, daß innerhalb des Paradigmas menschliche Belange zu berücksichtigen seien. Fragen, die die gefühllose Sprache strategischer Analyse durchbrechen, weil ihr Hauptinteresse den Menschen gilt, können leicht abgetan werden. Zwar wird niemand behaupten, sie seien unwichtig; aber für das anstehende Geschäft gelten sie nun einmal als laienhaft und deshalb als irrelevant. Der Diskurs der Experten ist hermetisch abgeschottet. Man kann über Waffen reden, die bestimmte Völker und deren »way of life« schützen sollen, ohne auch nur ein einziges Mal die Frage zu stellen, ob sie diese Schutzfunktion denn erfüllen können bzw. ob sie das beste Mittel dafür sind, oder ob es nicht gar sein könnte, daß diese Waffen all das zerstören, was sie schützen sollen. Das aber sind Fragen, die auf einem anderen Blatt stehen.

Dieser spezifische Diskurs ist bislang die einzige Antwort auf die Frage, wie Sicherheit zu erlangen sei, die als legitim anerkannt wird. Wäre das Thema »Waffen« nur eines unter vielen, die in diesem Zusammenhang diskutiert würden, oder eines, das mit anderen Themen verknüpft würde, dann fiele die Tatsache, daß strategische Paradigmen sich nur auf Waffen beziehen, nicht mehr so sehr ins Gewicht. Wenn wir aber sehen, daß denen, die sich für den Frieden engagieren wollen, von den Experten nur ein Fachwissen und eine Sprache offeriert werden, die sich ausschließlich auf Waffen beziehen, dann wird eine erschütternde Grenzziehung manifest: Es wird deutlich, welche Gefahr diese Sprache birgt, warum es – hat man sie sich einmal zu eigen gemacht – so schwer wird, das Primat der Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Falle der Militärlogik

Innerhalb weniger Wochen war mir das, was ich zuvor bemerkenswert gefunden hatte, selbstverständlich geworden. Während des Lernens der Sprache veränderte sich meine Perspektive. Ich stand nicht mehr jenseits dieser undurchdringlichen Mauer aus technostrategischer Sprache, doch als ich zum Insider geworden war, war mir der Blick auf die Mauer verstellt. Ich hatte nicht nur gelernt, die Sprache zu sprechen: Ich hatte begonnen, in ihren Kategorien zu denken. Ihre Fragen wurden zu meinen Fragen, ihre Begrifflichkeit prägte meine Antworten auf neue Ideen. Wie die weiße Königin in Alice im Wunderland begann ich, vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge zu glauben. Nicht, daß ich überzeugt gewesen wäre, ein »chirurgisch sauberer Counterforce-Schlag« beispielsweise sei wirklich möglich. Aber irgendein Stück doktrinärer Logik, mit dem ich arbeitete, ging schon von der Möglichkeit solcher Schläge wie von einer ganzen Menge anderer unmöglicher Dinge aus.

Ich hatte das, was ich als Realität erkannte, offenbar nicht mehr im Griff. So konnte ich zum Beispiel eine neue strategische Rechtfertigung für einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen ungeheuer aufregend finden und lange darüber diskutieren, inwiefern dies für die Struktur der US-Streitkräfte in Westeuropa Vorteile gegenüber der bisherigen Politik brächte. Ein oder zwei Tage später hielt ich dann plötzlich inne und war entsetzt darüber, daß ich mich so stark mit der militärischen Rechtfertigung für den Nichteinsatz von Kernwaffen beschäftigt hatte – als ob die moralische nicht genügte. Das, wovon ich da eigentlich sprach, die Massenverbrennung von Millionen von Menschen durch einen atomaren Angriff, war meinem Denken entglitten.

Ein anderes Beispiel: Es kam vor, daß ich Vorschläge hörte, die mir – verglichen mit dem üblichen Rüstungskontroll-Diskurs – unendlich besser erschienen. Zunächst versuchte ich dann herauszuarbeiten, weshalb die Vorschläge besser waren; dann suchte ich nach Wegen, Gegenargumente zu parieren. Schließlich dämmerte mir, daß diese beiden Vorschläge zwar durchaus verschieden klangen, dennoch aber eine Menge an Voraussetzungen gemeinsam hatten, von denen auszugehen ich nicht bereit war. Zunächst gab mir dies das Gefühl, eine neue Erkenntnis gewonnen zu haben. Plötzlich jedoch ging mir auf, daß ich das alles eigentlich schon vor meinem Eintritt in die Gemeinde der Militär-Experten gewußt, doch dann vergessen hatte: Allmählich wurde mir klar, daß ich in eine Falle getappt war.

Die Notwendigkeit exakter Sprachanalysen

Seither sind meine Probleme mit der technostrategischen Sprache nicht verschwunden. Die Versuchung, das Erlernte auch anzuwenden, bleibt groß; doch in dem Maße wie der Spaß am Umgang mit ihr wächst, steigt zugleich auch ihre Gefährlichkeit. Der Versuch, Atomstrategen mit ihren eigenen Mitteln argumentativ zu bezwingen, verführt zum Denken innerhalb ihrer Regeln und zum stillschweigenden Akzeptieren der unausgesprochenen Voraussetzungen ihrer Denkmodelle.

Trotzdem ist das Sprachproblem für mich inzwischen in den Hintergrund getreten, weil sich an seine Stelle neue Fragen geschoben haben. Fragen, die zwar immer noch nicht die gleichen sind wie die eines Insiders, auf die ich aber nicht gekommen wäre, hätte ich mich nicht in ihren Kreisen bewegt. Viele sind eher praktischer Art: Welche Individuen und Institutionen sind eigentlich verantwortlich für die endlose »Modernisierung« und Weiterverbreitung von Kernwaffen, und was gewinnen sie dabei? Welche Rolle spielt die techno-strategische Logik in ihrem Denken? Wie sähe eine vernünftige, wirklich defensive Sicherheitspolitik aus? Andere sind eher philosophischer Natur, fragen danach, was für einen Begriff von »Realität« die Verteidigungsintellektuellen für sich in Anspruch nehmen und wie sich begründen läßt, daß dieser falsch ist. Wie sähe eine alternative Logik aus?

Daß sich mein Hauptinteresse von der Sprache ab, und anderen Problemen zugewandt hat, ist durchaus nicht untypisch. Andere Neulinge im Kosmos der militärischen Experten haben sich ähnlich geäußert: Die kaltblütigen, abstrakten Diskussionen hätten sie zunächst außerordentlich beeindruckt, das sei jedoch bald vergangen, und sie hätten bemerkt, daß die Sprache selbst nicht das Problem ist. Ich meine allerdings, es wäre ein Fehler, diese ersten Eindrücke einfach zu ignorieren. Zwar ist die Sprache nicht das eigentliche Problem, doch enthüllt sie eine ganze Reihe von in unserer Kultur begründeten und von ihr akzeptierten Mechanismen. Erst diese aber ermöglichen es, in Institutionen zu arbeiten, in denen man seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Weiterverbreitung von Kernwaffen voranzutreiben und die Massenverbrennung von Millionen von Menschen zu planen: Eine abstrakte, saubere und beschönigende Sprache, die sexy ist und deren Gebrauch Spaß macht; ein Paradigma, dessen Bezugsgröße Waffen sind; eine Bildlichkeit, die die Massenvernichtung domestiziert und verniedlicht, die »fühllose« und »fühlende« Materie vertauscht, Tod mit Geburt, Zerstörung mit Schöpfung verwechselt. Mit alldem können die Benutzer dieser Sprache sich der Realität dessen, worüber sie sprechen und den Realitäten, die sie durch den Diskurs schaffen, radikal entziehen.

Eine exakte Sprachanalyse bietet gute Ansätze, die Legitimität zu erschüttern, mit der die Verteidigungsexperten den Diskurs über atomare Fragen beherrschen. Werden sie wegen der kaltblütigen Unmenschlichkeit der von ihnen geplanten Szenarien kritisiert, reagieren sie, indem sie sich hinter dem Hochaltar der Rationalität verschanzen. Kritiker des nuklearen Status quo werden als irrational, unrealistisch und zu emotional – kurz: als »idealistische Aktivisten« – abgestempelt. Doch wenngleich die glatte und glänzende Oberfläche des Diskurses, seine Abstraktheit und der technische Jargon ihre Behauptungen zu bestätigen scheinen: Ein Blick unter die Oberfläche fördert anderes zutage. Dort finden sich homoerotische Untertöne, heterosexuelle Herrschaftsgelüste, der Drang nach Kompetenz und Führerschaft, die Lust an der Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gruppe und das Auskosten des Genusses, von höchster Wichtigkeit, gleichsam ein Glied in der Gemeinde der »Atompriester«, zu sein. Wie kann man in Menschen, die solche Werte und Erfahrungen verkörpern, Muster besonnener Objektivität sehen?

Die Mechanismen des Sich-Distanzierens und Dementierens sowie die emotionalen Untertöne in diesem betont männlichen Diskurs – all dies wird bereits deutlich, lauscht man der technostrategischen Sprache. Doch erst wenn man sie lernt, entdeckt man, wie abstrakt das eigene Denken werden kann, wie sich das Interesse auf isolierte Details verlagern und das Überleben von Waffen wichtiger werden lassen kann als das Überleben von Menschen.

Viele Gegner des gegenwärtigen atompolitischen Kurses entscheiden sich, diese Sprache zu erlernen, weil sie die Maßstäbe für die öffentliche Diskussion setzt. Selbst wenn sie Fachausdrücke für nicht sonderlich wichtig halten, glauben manche doch, die Sprache einfach deshalb beherrschen zu müssen, weil man ansonsten kaum Anerkennung bekommt. Aber wer sie lernt, verändert sich. Man erweitert nicht schlicht das eigene Wissen und Vokabular, sondern taucht in eine andere Denk-Weise ein, die nicht nur die Analyse von Kernwaffen, sondern auch die von militärischer und politischer Macht und schließlich die des Verhältnisses von menschlichem Zweck und technologischen Mitteln beeinflußt.

Sprache – kein neutrales Transportmittel für Informationen

Diese Sprache und dieses Denken sind keine neutralen Transportmittel für Informationen. Sie wurden zumeist von mathematisch oder ökonomisch geschulten Männern entwickelt, die es sich zum Zweck gesetzt hatten, rationelles Denken über den Einsatz von Kernwaffen zu ermöglichen. Daß eine auf diese Weise entstandene Sprache für etwas anderes als das Nachdenken über den Einsatz von Atomwaffen nicht besonders geeignet ist – wen wundert's?

Diejenigen, die das Kalkül der US-amerikanischen Atompolitik für hoffnungslos fehlgeleitet halten, befinden sich in einem besonders ernsten Dilemma: Weigern sie sich, die Sprache zu lernen, verurteilen sie sich selbst zum Hofnarren am Rande der Szene. Doch lernen und nutzen sie den Jargon, dann schränken sie nicht nur ihre Aussagekraft drastisch ein, sondern leisten überdies der Militarisierung des eigenen Denkens Vorschub.

Ich kann keine Lösung dieses Dilemmas anbieten, möchte dennoch mit dem Versuch schließen, unser Denken und vielleicht sogar das Problem selbst neu zu formulieren. Schlägt man die Strategie ein, die Sprache zu lernen, dann muß man sich über eines im Klaren sein: Wenn wir Außenseiter meinen, daß wir mit dem Erlernen und Sprechen dieser Sprache uns zu einer Stimme wandeln, die als legitim anerkannt wird, und wenn wir voraussetzen, daß wir so an politischem Einfluß gewinnen, dann setzen wir auch voraus, daß die Sprache selbst tatsächlich die Kriterien und Denkstrategien artikuliert, auf deren Grundlage Kernwaffen entwickelt und Stationierungsentscheidungen gefällt werden. Das ist zum Großteil Illusion. Ich gehe davon aus, daß dem technostrategischen Diskurs eher die Funktion von Tünche zukommt, die Funktion einer ideologischen Patina, die die wirklichen Gründe für solche Entscheidungen verdeckt. Statt Entscheidungen zu inspirieren und ihnen Gestalt zu geben, legitimiert er meist politische Ergebnisse, die aus gänzlich anderen Gründen zustandegekommen sind. Wenn das richtig ist, erheben sich ernste Zweifel hinsichtlich der Frage, wie groß der politische Nutzen wäre, den wir aus der Anwendung dieser Sprache ziehen könnten, und ob er jemals die potentiellen Probleme und Kosten aufzuwiegen vermag.

Wer auf der Suche nach einer gerechteren und friedlicheren Welt ist, hat – so denke ich – eine doppelte Aufgabe: Eine demontierende wie auch eine rekonstruierende, beide eng miteinander verknüpft. Den technostrategischen Diskurs zu demontieren, bedeutet, ihn aufmerksam zu beobachten und abzubauen. Die dominante Stimme militarisierter Männlichkeit und Zusammenhänge leugnender Rationalität spricht in unserer Kultur so laut, daß es für jede andere Stimme schwierig bleiben wird, gehört zu werden. Und zwar so lange, bis diese Stimme etwas von ihrer Macht verliert zu bestimmen, was wir hören und wie wir die Welt gestalten sollen.

Die zweite, rekonstruierende Aufgabe bedeutet, kreativ zu sein und überzeugende alternative Zukunftsentwürfe anzubieten, andere Vorstellungen von Rationalität zu entwickeln, vielfältige und phantasievolle alternative Stimmen zu schaffen – Stimmen, die im Gespräch miteinander neue Möglichkeiten von Zukunft erschaffen werden.

Der vorstehende Beitrag wurde während eines Forschungsaufenthalts von Carol Cohn am Center for Psychological Studies in the Nuclear Age in Cambridge Massachusettes verfasst. Vorstehende Analyse erschien zuerst im Bulletin of the Atomic Scientist, June 1987, p. 17–24, die erweiterte Fassung in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 1987, vol. 12, no. 4; die Übersetzung fertigten Hedda Wagner (Frankfurt) und Sabine Lang (Berlin) an.

Anmerkungen

1 Hisako Matsubara, Cranes at Dusk (Garden City, New York: Dial Press, 1985) Zurück

2 Gen. Robert Rosenberg, „The Influence of Policy Making on C3I“, speaking at the Harvard Seminar, Command, Controll, Communications and Intelligence, p. 59 Zurück

3 Charles Krauthammer, Will Star Wars Kill Arms Control?, New Republic (Jan. 21, 1985),pp. 12 – 14 Zurück

Den -> ersten Teil veröffentlichten wir in der Ausgabe 5/88 des INFO's.

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

Atomsprache und wie wir lernten, die Bombe zu streicheln (I)

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

von Carol Cohn

Lauscht man den Reden jener, deren Beruf die intellektuelle Beschäftigung mit militärischer Verteidigung ist, so verblüffen die emotionalen Untertöne in diesem von Männern beherrschten Diskurs. Doch wer selbst ihre Sprache erlernt, bemerkt zwangsläufig, wie abstrakt Denken werden kann – so abstrakt, daß das Überleben von Waffen das Überleben von Menschen dominiert.

Im Sommer 1984 begann ich mich eingehender mit nuklearstrategischen Studien zu beschäftigen. Zusammen mit 47 anderen College-Dozenten nahm ich an einem Seminar über Kernwaffen, strategische Doktrin und Rüstungskontrolle teil, das von einem der führenden Universitätszentren für nuklearstrategische Studien in den Vereinigten Staaten veranstaltet wurde. Bekannte Verteidigungsexperten hielten Vorträge – Männer, die seit Jahrzehnten sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch in den Amtsstuben in Washington zu Hause sind. Als man mir am Ende des Seminars anbot, als Gast an einem dieser universitären Zentren zu arbeiten, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf.

Während des folgenden Jahres tauchte ich ganz in die Welt der »geistigen Verteidigungselite« ein, – eine Welt von Männern (und es sind wirklich fast ausnahmslos Männer), die, so Thomas Powers, „den Begriff der Abschreckung benutzen, um zu erklären, warum es Sicherheit schafft, Waffen von solcher Art und in solcher Menge zu haben, daß ihr Einsatz die Sicherheit gefährden würde.“ Sie gehen in Washington ein und aus. Mal arbeiten sie als beamtete Staatsdiener, mal an Universitäten und in Expertengruppen. Die Theorie, die der nuklearstrategischen Praxis der USA zugrundeliegt, ist ihr Werk.

Ich besuchte Vorträge, hörte Argumente, sprach mit den Experten und interviewte Studenten. Die Frage ließ mir keine Ruhe: Wie können sie so denken? Doch je besser ich ihre Sprache kennenlernte, desto mehr bemerkte ich, daß sich mein eigenes Denken veränderte. Ich mußte mich einer neuen Frage stellen: „Wie kann ich so denken?“ Mit anderen Worten: Ich hatte meine eigenen Erfahrungen und Untersuchungen einzubeziehen, wenn ich verstehen wollte, wie nicht nur »sie«, sondern wie wir alle so denken können.

Dieser Aufsatz ist der Beginn einer Untersuchung über das Wesen des nuklearstrategischen Denkens. Dabei richtet sich mein Augenmerk auf die Frage, welche Rolle einer Fachsprache zukommt, die ich »technostrategisch« nenne. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß diese Sprache die nuklearstrategischen Projekte der Amerikaner sowohl widerspiegelt als auch prägt und daß diejenigen, die durch Kernwaffen und Atomkriege beunruhigt sind, sehr genau auf diese Sprache achten müssen – darauf, wie wir mit ihr kommunizieren, was zu denken und zu sagen sie uns gestattet.

Saubere Bomben und saubere Sprache

Als Leserin war mir die sonderbare Sprache im Zusammenhang mit dem Atomkrieg schon zuvor begegnet. Doch war es etwas anderes, sie gesprochen zu hören. Zunächst fällt der häufige Gebrauch von abstrakten Begriffen und Beschönigungen auf, mit deren Hilfe nahezu endlose Diskussionen über den nuklearen Holocaust geführt werden können, ohne je den Sprechenden zu zwingen oder den Zuhörer zu befähigen, mit der hinter den Worten liegenden Realität in Berührung zu kommen.

Wer einmal die Bilder von Hiroshima-Opfern gesehen hat, dem mag es pervers erscheinen, wenn er hört, daß von einer Sorte von Atomwaffen tatsächlich als von »sauberen Bomben« gesprochen wird; Waffen, bei denen die Kernschmelze die Kernspaltung überwiegt. Ein größerer Anteil ihrer Energie wird als unmittelbare Strahlung freigesetzt, so daß sie weniger radioaktiven fall-out produzieren als Spaltbomben. »Saubere Bomben« liefern die passende Metapher für die Sprache der Verteidigungsexperten und Rüstungskontrolleure: Diese Sprache birgt eine gewaltige Zerstörungskraft, jedoch ohne den emotionalen fall-out, der entstünde, würde deutlich, daß von Plänen für Massenmord, von zerfetzten Leibern und menschlichem Leiden die Rede ist. Verteidigungsexperten sprechen von »Gegenwert-Angriffen« anstatt von Städten, die in Schutt und Asche gelegt werden. Im atomaren Sprachgebrauch wird der Tod von Menschen meist auf den »Begleitschaden« reduziert. Daß Reagan die MX-Rakete in »Peacekeeper« umtaufte, trug ihm reichlich Spott aus den Reihen der Verteidigungsexperten ein: gleichwohl sind es dieselben Experten, die diese Waffe als »Schadensbegrenzungswaffe« bezeichnen.

Diese Beispiele – nur eine kleine Auswahl aus Hunderten – zeigen die erschreckende Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, die die technostrategische Sprache auszeichnet. Sie verweisen überdies darauf, in welch furchterregendem Maße die Existenz von Kernwaffen unsere Wahrnehmung verzerrt und unsere Welt neubestimmt hat. Der Ausdruck »saubere Bomben« suggeriert, die Radioaktivität sei das einzig »Schmutzige« am Töten von Menschen.

Es fällt schwer zu glauben, daß derart gesäuberte Abstraktionen nicht die Funktion erfüllen, die unkontrollierte Schmutzigkeit der Tatsachen zu leugnen, die zu schaffen man im Begriff ist. Wir haben nicht nur »saubere Bomben«, sondern auch »chirurgisch saubere Schläge«: »Counterforce«-Angriffe mit dem Ziel, die Waffen oder Befehlszentralen eines Gegners »auszuräumen« – soll heißen: zu zerstören –, ohne anderweitig nennenswerte Schäden zu verursachen. Nur, daß das chirurgische Werkzeug nicht ein mit Umsicht geführtes Skalpell, sondern ein atomarer Sprengkopf ist – da bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Anbetung des Phallus?

Feministinnen haben wiederholt behauptet, ein wichtiger Aspekt des Rüstungswettlaufes sei die Anbetung des Phallus. Der »Raketenneid«, um den von Helen Caldicott geprägten Begriff zu entleihen, sei eine bedeutende Triebkraft für den atomaren Apparat. Ich habe diese Erklärung stets für reduktionistisch gehalten und gehofft, meine internen Beobachtungen würden eine komplexere Analyse erbringen. Trotzdem war ich gespannt, in welchem Ausmaß sich sexuelle Untertöne in der Sprache von Verteidigungsexperten finden würden. Auf das, was ich fand, war ich freilich nicht vorbereitet.

Naiverweise hatte ich mir vorgestellt, ich müßte herumschleichen und Männer in jenen Momenten belauschen, da sie sich unbeobachtet wähnten, um ihren sexuellen Sprachbildern auf die Spur zu kommen. Ich hatte mir eingebildet, sie würden ihre Auftritte sauber inszenieren, hoffte, der eine oder andere würde während eines langen Gespräches über »Penetrationshilfen« zumindest an einer Stelle leicht verlegen aufblicken, weil er sich bei einer derart offenkundigen Bestätigung feministischer Thesen ertappt fühlen würde.

Doch ich irrte auf der ganzen Linie. Nichts wies darauf hin, daß feministische Kritik jemals die Ohren dieser Männer – von ihrem Bewußtsein ganz zu schweigen – erreicht hatte. Die militärische Abhängigkeit der USA von Kernwaffen wurde unter anderem mit den Worten: „Überwältigend! Du kriegst mehr Bums für's Geld

(„more bang for the buck“) erklärt. Feierlich wurde doziert: „Abrüsten heißt, Du verschleuderst Dein ganzes Zeug“ („To disarm is to get rid of all your stuff“). Ein Professor begründete die Unterbringung der MX-Rakete in den Silos der neuesten Minuteman-Raketen damit, daß sie da im hübschesten Loch sind – man nimmt doch nicht die hübscheste Rakete, die man hat, und steckt sie in ein mieses Loch. Andere Vorträge strotzen vor Erörterung über Abschüsse aus vertikal aufgerichteter Position (»vertical erector launchers«), das Verhältnis von Stoß und Gewicht, sanftes Hinlegen, tiefes Eindringen und die Vorteile eines hinausgezögerten gegenüber einem spasmischen Angriff – oder das, was ein Militärberater des nationalen Sicherheitsrates „Entladen von 70 bis 80 Prozent unserer Megatonnage in einem orgiastischen Stoß“ nannte.

Allerdings: Selbst wenn die Bilder transparent sind, sind die Bedeutungen noch lange nicht klar. Ich will nicht behaupten, daß sie etwas über die wirkliche Meinung oder die wahren Beweggründe der Militärstrategen aussagen. Individuelle Motive sind den in einem größeren Kulturzusammenhang wurzelnden Bildern nicht ohne weiteres direkt zu entnehmen. Die Geschichte des Unternehmens Atombombe selbst ist voller eindeutiger Bilder männlicher Sexualkonkurrenz; dasselbe gilt für die Äußerungen der Atomphysiker, Strategen und Mitglieder des Strategic Air Commands der ersten Stunde. Sowohl Militärs als auch Rüstungsproduzenten bedienen sich fortwährend des Phallus-Bildes und der Verheißung sexueller Dominanz, die ihre Waffen so naheliegend suggerieren. Nehmen wir die Juni-Ausgabe des Air Force Magazine. Groß aufgemacht in Fettdruck ist am oberen Rand einer doppelseitigen Anzeige für den AV-8B-Harrier II zu lesen: „Sprich leise und trag einen großen Prügel.“ Weiter unten ist stolz von „einem außergewöhnlichen Stoß-Gewichts-Verhältnis“ die Rede wie auch von der „radargesteuerten Stoßkraft, die die … einmalig schnelle Reaktion ermöglicht.“

Eine weitere ergiebige Quelle für sprachliche Phallus-Bilder bieten die Schilderungen von Atomexplosionen. Etwa die des Reporters William Laurence, offizieller Berichterstatter des Bombenabwurfs in Nagasaki: „Dann, gerade in dem Augenblick als es aussah, als sei ein Zustand der Ruhe erreicht, schoß aus der Spitze ein riesiger Pilz, der die Höhe der Säule auf etwa 15000 Meter brachte. Die Spitze des Pilzes war noch lebendiger als die Säule, siedete und brodelte in weißem, wütendem Schaum, zischte himmelwärts und fiel wieder zur Erde, wie Tausende von Geysiren, die sich zu einem einzigen vereinen. Er kämpfte noch immer in elementarem Zorn, wie ein Wesen, das die Fesseln zu sprengen versucht, die es niederhalten.“1

Daß die mit der Verteidigung befaßten Denker reichlich Sexualmetaphern benutzen, kann nicht weiter überraschen, sieht man, wie sehr diese ihre Welt durchziehen. Auch ist dies an sich nicht hinreichend, ihnen niedrige Motive zu unterstellen. Interessant sind nicht so sehr die potentiellen psychodynamischen Ursprünge der Metaphern, als vielmehr die Frage nach ihrer Funktion. Die Frage also, welche Rolle sie dabei spielen, die eigene Arbeitswelt als offen und zugänglich darzustellen. Einige Begebenheiten vermögen die Komplexität des Problems zu erläutern.

Die Bombe streicheln

Mit einer Gruppe des Zentrums nahm ich an einer Exkursion zur New London Navy Base, auf der U-Boote gewartet werden, teil und zum Werksgelände der General Dynamics Electric Boat, die ein neues U-Boot vom Typ Trident konstruiert. Den Höhepunkt bildete die Besichtigung eines atomgetriebenen U-Bootes. In Kleingruppen stiegen wir in lange, dunkle und glänzende Röhren hinunter, in der Männer zusammen mit einem Kernreaktor bisweilen über Monate hinweg unter Wasser eingeschlossen sind. Wir zwängten uns durch Luken und neonbeleuchtete Gänge, die so schmal waren, daß man sich umdrehen und den Rücken an die Wand pressen mußte, wollte man jemanden hindurchlassen, passierten die engen Verschläge, in denen die Besatzung schläft, und die Warnschilder mit der Aufschrift »radioaktiv«. Als wir schließlich jenen Teil des Bootes erreichten, in dem die Raketen untergebracht sind, wandte sich der uns begleitende Offizier mit einem Grinsen um und fragte, ob wir Lust hätten, unsere Hand durch ein Loch zu stecken und „die Bombe zu streicheln“. Die Bombe streicheln?

In der folgenden Woche tauchte eben dieses Bild erneut auf, als ein Dozent spöttisch erklärte, für die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II in Westeuropa gäbe es nur einen einzigen Grund: „Damit unsere Verbündeten sie streicheln können.“

Ein paar Monate später besuchte ich zusammen mit einer anderen Gruppe des Zentrums die NORAD (North American Aerospace Defense Command). Auf dem Rückflug mußte das Flugzeug zum Auftanken auf dem Flugplatz der Befehlszentrale für strategische Bomber nahe Omah, Nebraska, zwischenlanden. Als bekanntgegeben wurde, daß unsere Landung sich verzögern würde, da der neue B-1-Bomber in der Gegend sei, breitete sich in der Maschine eine spürbare Erregung aus. Sie steigerte sich, als die Leute beim Anflug ihre Hälse reckten, um einen Blick auf die am Himmel vermutete B-1 zu erhaschen und erreichte ihren Höhepunkt, als wir nach der Landung an ihr vorbeibrausten. Später im Zentrum sagte mir ein Mann, der am Ausflug nicht hatte teilnehmen können, neidvoll: „Ich hab' gehört, Du durftest eine B-1 streicheln.“ Wozu dieses ganze Gestreichele? Streicheln ist ein Ausdruck der Intimität, des sexuellen Besitzanspruches, des zärtlichen Beherrschen-Wollens. Die Erregung und das Vergnügen, »die Rakete zu streicheln«, liegen in unmittelbarer Nähe zur phallischen Potenz, zur Möglichkeit, sie ganz und gar zu besitzen. Doch Streicheln ist nicht allein ein Akt sexueller Intimität: Man streichelt auch Babies, kleine Kinder und Hunde. Die gestreichelten Kreaturen sind klein, süß, unschuldig und harmlos – aber nicht erschreckend zerstörerisch. Streichele sie, und sie sind nicht mehr tödlich.

Viele der Sexual-Metaphern, die ich hörte, waren so hintersinnig, wie der Ausdruck »Raketen streicheln“andeutet. Die Metapher kann als tödlich ernster Ausdruck der Verbindung zwischen männlicher Sexualität und Rüstungswettlauf interpretiert werden. Doch zugleich klingt etwas anderes durch, der Versuch nämlich, den Ernst militärischer Bestrebungen zu mindern und ihre tödlichen Folgen zu leugnen. Ein vormals mit Zielanalysen befaßter Pentagon-Mitarbeiter begründete seine Auffassung, der »begrenzte Atomkrieg« sei lächerlich: „Wissen Sie, Sie müssen das so sehen: Das ist wie Wettpinkeln – man muß damit rechnen, daß die anderen alles rauslassen, was sie haben.“ Dieses Bild zeigt wohl deutlicher als jedes andere, daß es sich um eine Männlichkeitskonkurrenz handelt und somit ungeheure Gefahren birgt. Aber gleichzeitig behauptet es, das Ganze sei nicht so ernst zu nehmen – eben etwas, was kleine Jungs und besoffene Männer tun.

Häusliche Freuden

Selbst wenn es mich störte: Die klinisch reinen und abstrakten Begriffe wie auch die sexuellen Metaphern waren der maskulinen Welt der Planung eines atomaren Krieges durchaus angemessen. Weniger passend erschien allerdings eine weitere Gruppe von Worten, jene, die scheinbar alltägliche Normalität suggerieren.

Atomraketen sind in »Silos« stationiert. Auf einem Atom-U-Boot vom Typ Trident, bestückt mit 24 Mehrfachsprengkopf-Raketen, heißt jener Teil, in dem die Raketen abschußbereit aufgereiht sind, im Jargon der Mannschaft die »Christbaum-Farm«. In der freundlichen und romantischen Welt der Kernwaffen werden Sprengköpfe zwischen Gegnern »ausgetauscht«, können Waffensysteme »sich vermählen«. Die Vernetzung von Vorwarn- und Reaktionsmechanismen wie auch die psycho-politische Verknüpfung von strategischen mit Gefechtsfeldwaffen werden manchmal »Paarung« genannt. Die bei der Landung von Sprengköpfen bestimmter Raketen entstehenden Muster bilden »Fußstapfen«. Sprengköpfe werden nicht abgeworfen, vielmehr von einem »Bus« »abgeliefert«. Der Name dieser Vorrichtung: MIRVs (Multiple Independent Reentry Vehicles, Raketen mit unabhängig voneinander ins Ziel lenkbaren Mehrfachsprengköpfen), kürzer: »Reentry Vehicles«, noch kürzer: »RVs« – eine Bezeichnung, die nicht nur von der Realität einer Bombe weit entfernt ist, sondern die zugleich Assoziationen weckt von Sport- und Spielgeräten (Recreational Vehicles) beim Familienurlaub.

Solche Ausdrücke aus dem Alltagsleben beinhalten mehr als die bloße Fluchtmöglichkeit vor der gräßlichen, sich hinter den Worten verbergenden Wirklichkeit; zu diesem Zweck reicht in der Regel Abstraktion völlig aus. Das Muster, in dem die Bomben fallen, »Fußstapfen« nennen, erscheint fast als gewollte Verdrehung, als spielerische, perverse Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Denn der Wirklichkeit verpflichtet zu sein, bedeutet die Unfähigkeit, diese Arbeit zu verrichten.

Die durch solche Worte ausgelösten Bilder taugen zudem als Mittel, die unbeherrschbaren nuklearen Vernichtungspotentiale zu zähmen: Man nehme den feuerspeienden Drachen, der die eigene Familie, die Stadt, den Planeten zu zerstören droht, ins Bett und mache ihn zu einem netten Haustier, das man streicheln kann. Alltagsausdrücke können aber auch einfach dafür sorgen, daß sich alle wohler fühlen bei dem, was sie tun. »PAL« (Permissive Action Link, zusätzliches Einsatzglied und engl. Kumpel) ist die sorgsam konstruierte, freundliche Abkürzung für jenes elektronische System, das den unbefugten Abschuß von Atomsprengköpfen verhindern soll. Das jährliche Memorandum des Präsidenten über die Kernwaffenbestände, ein Überblick über die kurz- und langfristigen Planungen zur Produktion neuer Atomwaffen, wird gefällig »der Einkaufszettel« genannt. Zur Beschreibung eines speziellen atomaren Angriffstyps muß gar der »Plätzchenausstecher« (cookie cutter) herhalten.

Die Metaphern, mit denen fühllose Waffen domestiziert und humanisiert werden, können paradoxerweise auch zur Überzeugung verleiten, es sei in Ordnung, über fühlende menschliche Wesen hinwegzusehen. Seine Zeit mit Träumen von Szenarien für den Einsatz der Massenvernichtungstechnologie zu verbringen und Menschen aus dieser Technikwelt auszuschließen, ist vielleicht nur deshalb möglich, weil diese Welt nun das Häusliche und Familiäre, das Warme und Spielerische einschließt – die Christbäume, die Freizeitgeräte und all jene Dinge, die man zärtlich streichelt. Es ist eine gewissermaßen in sich vollkommene Welt: Sie schließt sogar Tod und Verlust ein. Das Problem ist, daß alles, was »getötet« wird, eigenartigerweise Waffen sind, und nicht Menschen. »Tötet« einer der eigenen Sprengköpfe einen anderen aus dem eigenen Arsenal, so ist die Rede vom »Brudermord«. Die besondere Sorge gilt der »Verwundbarkeit« und »Überlebensfähigkeit«, jedoch nicht die der Menschen, sondern die der Waffensysteme.

Männliche Geburt und Schöpfung

Eine andere Gruppe von Metaphern suggeriert das männliche Verlangen nach der Macht der Frau, Leben zu schenken. In Los Alamos hieß die Atombombe »Oppernheimers Baby«, in Lawrence Livermore war die Wasserstoffbombe »Tellers Baby«, obwohl jene, die Tellers Anteil an ihr schmälern wollten, behaupteten, er sei nicht der Vater, sondern die Mutter der Bombe. In diesem Zusammenhang sind vielleicht auch die ungewöhnlichen Namen zu verstehen, die man jenen Bomben gab, die Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche legten: »Little Boy« und »Fat Man«. Diese schlimmstmöglichen Zerstörer waren die männlichen Kinder der Atomwissenschaftler.

In der Tat scheint die ganze Geschichte der Bombe durchtränkt von Metaphern, in denen die überragende technologische Potenz der Menschheit, Natur zu zerstören, mit Schöpferkraft verwechselt wird: Metaphern, die die Zerstörungskraft von Männern in ihre Wiedergeburt verwandeln. Laurence schrieb über den Trinity-Test der ersten Plutonium-Bombe: „Man hatte das Gefühl, man hätte das Vorrecht genossen, bei der Geburt der Welt dabeigewesen zu sein.“ General Bruce K. Hollyway, von 1968 bis 1972 Oberbefehlshaber der Strategic Air Command, sagte 1985 in einem Interview, im Atomkrieg gäbe es „einen großen Knall, wie am Beginn der Welt.“

Das Letzte allerdings, was man in dieser Subkultur des starren Realismus und der Hyperrationalität zu finden erwarten würde, ist der wiederholte Bezug auf Religion. Und doch wurde der erste Atombombentest »Trinity« (Dreifaltigkeit) genannt. Als Robert Oppenheimer ihn sah, dachte er an die Worte, die Krishna in »Bhagavad Gita« zu Arjuna spricht: „Ich bin der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ Wenn Verteidigungsstrategen um Stellungnahmen zu bestimmten Thesen gebeten werden, weichen sie oft in den flüchtig hingeworfenen Satz aus. „Ach, jetzt reden Sie von theologischen Dingen.“ Am erstaunlichsten ist wohl, daß die Schöpfer der strategischen Doktrin von ihresgleichen tatsächlich als von der Gemeinde der »Atompriester« sprechen. Schwer zu sagen, was daran bemerkenswerter ist: Die Arroganz des Anspruches, das stillschweigende Eingeständnis, sie seien wirkliche Dogmenschöpfer, oder die ungewöhnliche implizite Aussage darüber, wer, oder besser, was zum Gott geworden ist.

zu Teil II

Anmerkungen

1 William L. Laurence, Dawn Over Zero: The Study of theAtomic Bomb (London: Museum Press, 1974), P. 198f Zurück

Der vorstehende Beitrag wurde während eines Forschungsaufenthalts von Carol Cohn am Center for Psychological Studies in the Nuclear Age in Cambridge Massachusettes verfasst. Die Analyse erschien zuerst im Bulletin of the Atomic Scientists, June 1987, p. 17-24, eine erweiterte Fassung in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 1987, vol. 12, no. 4. Der Beitrag erscheint in deutscher Fassung in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung nach. Die Übersetzung fertigten Hedda Wagner (Frankfurt) und Sabine Lang (Berlin) an.

NUCLEAR FREE SEAS • die Greenpeace-Kampagne

NUCLEAR FREE SEAS • die Greenpeace-Kampagne

von Greenpeace

Mit einer Aktion gegen den britischen Flugzeugträger »Ark Royal« begann am 5. März dieses Jahres die neue Greenpeace-Kampagne: »Nuclear Free Seas – Atomfreie Meere«. Greenpeace will darauf aufmerksam machen, daß in den letzten Jahren – unbemerkt von der Öffentlichkeit – sich die Strategien und Seestreitkräfte der Supermächte dramatisch verändert haben. Dem gewaltigen Ausbau der maritimen Flotten korrespondiert die Effizienzsteigerung der mittransportierten Atomwaffen. Am gravierendsten hierbei die vermehrte Ausrüstung der Schiffe und U- Boote beider Seiten mit Marschflugkörpern, die sowohl taktisch als auch strategisch eingesetzt werden können. Sie führen dazu, die Unsicherheit des Gegners zu erhöhen. Für besonders gefährlich erachtet <->Greenpeace, daß die Militärs glauben, auf See größeren Spielraum für den Einsatz der Waffen zu haben. “Unter den Planern und den Machern der Seestreitkräfte herrscht der Glaube, eine atomare Konfrontation auf See würde sich nicht zum globalen Schlagaustausch ausweiten. Deshalb ist ein Atomkrieg auf See für sie noch am ehesten »denkbar““.Zu Recht wird festgestellt, daß die Marinestrategien und -waffen noch nie Gegenstand von Rüstungskontrollverhandlungen gewesen sind. Die Kampagne soll dazu beitragen, die Notwendigkeit ihrer Einbeziehung in den Abrüstungsprozeß deutlich zu machen. “ die 1609 vom Völkerrechtler Hugo Grotius postulierte »Freiheit der Meere« ist heute zur Freiheit der Ausbeutung und Militarisierung der Meere verkommen. Greenpeace hat mit seiner neuen Kampagne eine andere Art Freiheit im Sinn: Die Befreiung der Meere von Atomreaktoren und Kernwaffen“. Greenpeace hat zur Unterstützung der Kampagne eine ausführliche Informationsbroschüre herausgegeben. Wir entnahmen die folgenden Abschnitte dieser Publikationen.

Waffen für einen Atomkrieg auf See

Wo immer die Schiffe der Atommächte kreuzen, gleich in welcher Mission, immer haben sie Atomwaffen dabei. Die Atommarinen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas verfügen über insgesamt 16.000 Atomsprengköpfe. Zwei Drittel dieser Atomsprengköpfe sind auf Interkontinentalraketen montiert. Der Rest der Atomwaffen ist für den Seekrieg oder, wie die Strategen sagen, den taktischen Einsatz vorgesehen. Für jeden nur denkbaren Einsatz auf See sind Atomwaffen entwickelt worden. Es gibt nukleare Unterwasserbomben, Atomtorpedos, atomare Schiffsartillerie, atomare Anti-Schiff- und Anti-U-Boot-Raketen, atomare Flugabwehrraketen und zu guter Letzt Atomraketen, um andere Atomraketen abzuschießen (Anti-Raketen-Raketen). Das Neueste und Gefährlichste in den Waffenkammern sind Cruise Missiles (Marschflugkörper), die vom Schiff oder vom U-Boot aus abgefeuert werden können. Diese seegestützten Marschflugkörper tragen den Namen SLCM (Sea launched cruise missile). Die amerikanische Version dieser Gattung heißt »Tomahawk«, die sowjetische SS-NX-21 und SS-NX-24. Die SLCMs sind mit großer Wahrscheinlichkeit diejenigen, die den »Startschuß« zum Dritten Weltkrieg geben werden. Diese Präzisionswaffen können über große Reichweiten auf Ziele an Land abgefeuert werden. Gleichzeitig sind sie klein genug, um auf allen möglichen Schiffs- und U-Boot-Typen eingesetzt zu werden. US-Admiral Stephen Hostettler sagt dazu:„Mit den »Tomahawks« können wir wirklich jedes Kriegsschiff und nicht nur die Flugzeugträgergruppen ausrüsten. So sind wir in der Lage, von jedem Winkel der Erde aus zum Angriff überzugehen … das wird den Sowjets klarmachen, daß ihr Territorium nicht unantastbar ist.“ Auch neue strategische Waffen sind von beiden Seiten entwickelt worden. Von den USA die »Trident II«, die von U-Booten abgefeuert werden kann und zu den SLBMs (Submarine launched ballistic missile – U-Boot gestützte ballistische Rakete) gehört. Das sowjetische Gegenstück zur »Trident II« gibt es auch schon, der Name ist noch unbekannt. Diese neuen strategischen Waffen schüren auf beiden Seiten die Angst vor einem atomaren Erstschlag gegen Kommandozentralen und Raketensilos. Ihre Treffsicherheit und Sprengkraft ist unglaublich hoch. Dadurch vergrößern diese Waffen Spannungen und Instabilität. Diese Einschätzung bestätigte Caspar Weinberger 1987 im amerikanischen Kongreß: „Der Schwerpunkt des Modernisierungsprogramms der Navy liegt auf der Entwicklung von Waffen und Techniken, die es uns ermöglichen, im Falle von Feindseligkeiten auf interkontinentaler Ebene den Erstschlag zu landen.“

Die amerikanische Marinestrategie

Die amerikanische Marinestrategie ist auf einen langwierigen konventionellen Krieg mit der Sowjetunion ausgerichtet. Sie ist offensiv und verlangt deshalb die maritime Überlegenheit der USA. Bevor sich die Regierung unter Reagan diese Strategie zu eigen machte, war die Hauptaufgabe der US-Navy der Truppennachschub nach Europa und der defensive Schutz der Seewege vor sowjetischen U-Booten. Gemäß der neuen Strategie hat sich die Navy nicht passiv oder defensiv zu verhalten: Wenn es zu Feindseligkeiten zwischen den Supermächten kommen sollte, soll die Navy die Initiative ergreifen, d. h. attackieren und vernichten. Diese Strategie ist von der NATO übernommen worden. Der ehemalige Kommandant der NATO-Atlantikflotte, Admiral Wesley Mc Donald, sagt dazu: „Es handelt sich um eine gut durchdachte und schlagkräftige Strategie, die mit unseren Alliierten gemeinsam entwickelt wurde.“ Die drei Hauptaufgaben der Seestrategie, die von den Amerikanern und ihren Alliierten erfüllt werden müssen, sind: Erstens, die noch in sowjetischen Heimatgewässern befindlichen U-Boote zu vernichten, bevor sie das offene Meer erreichen können, zweitens, Bodentruppen und taktische Luftwaffe der Sowjets weltweit zu »fesseln«, um den Konflikt geographisch zu eskalieren und auf diese Weise Truppen und Material aus Europa und dem Mittleren Osten abzuziehen, und drittens, möglichst viele strategische U-Boote zu vernichten. Die US-Navy behauptet, diese Strategie würde die Eskalation vom konventionellen Krieg zum Atomkrieg nicht fördern, sondern verhindern. Kritiker jedoch heben hervor, die drohende Zerstörung strategischer Atomwaffen könnte leicht dazu führen, daß die Sowjets ihre Raketen eher abschießen, um so ihrer Zerstörung zuvorzukommen. Barry Posen, Nuklearstratege, schrieb in der Zeitschrift »International Security«: „Wir leben zur Zeit in der schlechtesten aller Welten. Wir planen konventionelle Operationen, die das Potential zur weiteren Eskalation haben. Aber wir scheinen nicht zu begreifen, welche Folgen ein solches Vorgehen mit sich bringt.“ Schwerpunkte und Details der Seestrategie werden zwar ständig verändert, sie behält aber ihren offensiven Grundcharakter.

Neue Waffensysteme

Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien sind dabei, eine neue Generation von strategischen Waffen zu entwickeln, die von U-Booten aus abgefeuert werden können. Im Dezember 1989 werden die USA und Großbritannien anfangen, ihre Schiffe mit Trident II auszurüsten. Insgesamt etwa 20 U-Boote sollen von den Amerikanern mit 4000 Sprengköpfen bestückt werden. Die Engländer stocken ihr Arsenal von 64 auf rund 500 Sprengköpfe auf. Von der Sowjetunion, die neue strategische Waffen bereits 1983 und 1986 installierte, weiß man, daß sie nun eine eigene Version der Trident II entwickelt. Frankreich hat 1985 seine Boote mit der mit Mehrfachsprengköpfen ausgestatteten M4 bewaffnet und arbeitet an der Entwicklung der M5. Für die strategischen Verbände Frankreichs bedeutet dies eine Versechsfachung der Zahl der Sprengköpfe. Die Sowjetunion führte 1979 mit der SS-N-16 eine U-Boot-Abwehrrakete ein und Anfang der 80er ein neues Atomtorpedo sowie eine nukleare Unterwasserbombe. Für kurze Zeit hinkte die USA dieser Entwicklung hinterher. Die Pläne, die für Anfang der 90er Jahre den Bau einer eigenen Unterwasserbombe, einer atomaren Anti-U-Boot-Rakete und möglicherweise einer atomaren Boden-Luft-Rakete vorsehen, zeigen, daß der Anschluß wiederhergestellt ist. Frankreich will seine seegestützte Luftwaffe mit atomaren Überschallraketen ausrüsten.

Was muß getan werden?

Um die akute Gefahr eines auf den Meeren beginnenden Atomkrieges zu reduzieren und das Wettrüsten auf See anzuhalten, muß die Atommarine zunächst kontrolliert und in eine Politik eingebunden werden, die auf beiden Seiten Vertrauen schafft.

Kurzfristig:

1. Die gefährlichsten und destabilisierendsten seegestützten Atomwaffen müssen beseitigt werden:

Alle Cruise Missiles, die zum Einsatz gegen Landziele vorgesehen sind, wie die amerikanischen Tomahawks und die sowjetischen SS-NX-21 und SS-NX-24. Seegestützte Cruise Missiles mit großer Reichweite haben nur den Zweck, von See aus den Atomkrieg aufs Land zu tragen. Die USA haben bisher rund 150 Tom,ahawks auf See stationiert und planen diese Zahl auf 758 zu erhöhen. Die Sowjetunion ist dabei, ihre entsprechenden Cruise Missiles SS-NX-21 und SS-NX-24 zu stationieren.

Alle U-Boot-gestützten Counterforce-(Gegenschlag-)ballistischen Raketen wie die TridentII und die zukünftigen französischen und sowjetischen Gegenspieler müssen abgeschafft werden. Die USA und Großbritannien möchten die U-Boot-gestützten Trident-II-Raketen ab Dezember 1989 in Dienst stellen. Frankreich entwickelt die M5 und die Sowjetunion testet ein Gegenstück zur Trident II, das auf U-Booten der Delta- und Typhoon- Klasse stationiert werden soll. Diese Waffensysteme erhöhen wegen ihrer größeren Genauigkeit auf beiden Seiten die Furcht vor einem Erstschlag und vergrößern die Instabilität in Krisenzeiten.

Abrüstung aller Atomwaffen zur Kriegsführung auf See.

Die Atommarinen haben eine Vielfalt von Anti-Schiff-, Anti-Flugzeug- und Anti-U-Boot-Atomwaffen, die für den Einsatz bei Seegefechten vorgesehen sind. Diese Waffen reduzieren die Schwelle zum Atomkrieg.

2. Operationsgebiete und Häufigkeit von Manövern der Atommarinen sollten eingeschränkt werden. Dies gilt insbesondere für Manöver in Spannungsgebieten und die Durchfahrt durch nationale Gewässer. Seemanöver sollten vorher angekündigt werden und das »Beschatten« der gegnerischen Flotten reduziert werden.

3. Nicht-Nuklearstaaten sollten sich der Ausdehnung der nuklearen Infrastruktur widersetzen und sich weigern, an den globalen Operationsplänen der Atommarinen teilzuhaben. Diese Staaten sollten die Position des »Weder bestätigen, noch dementieren« der Atommächte in Frage stellen, Hafenbesuche für nukleare Schiffe verbieten, keine Basen und Einrichtungen erlauben, die die Atommarinen unterstützen, und sich weigern, an provokativen Manövern teilzunehmen.

Langfristig:

Die Atommächte müssen über bloße Rüstungskontrolle auf See hinausgehen und zu echter und vollständiger Abrüstung kommen. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen den Frieden auf See garantieren. Immer mehr wächst die Erkenntnis, daß die Menschheit von den Meeren als Nahrungsmittelquelle abhängig ist, sie für Kommunikation und Handel benötigt und daß die Meere nur für friedliche Zwecke genutzt werden sollten. Dies ist in der internationalen Seerechtskonvention bereits festgehalten. Eine wahrhaft internationale Ordnung, die über die Seerechtskonvention und regionale Verträge für atomwaffenfreie Zonen hinausgeht und alle Meere frei von Atomwaffen und atomgetriebenen Schiffen macht, ist nötig. Dies muß natürlich zusammen mit einer generellen atomaren Abrüstung geschehen. Der Versuch, die atomare Abschreckung durch die Stationierung von Atomwaffen in immer neuen Gebieten und durch aggressive und provokative Manöver zu erhöhen, bewirkt gerade das Gegenteil: Diese Strategie wird den Krieg, den man vermeiden wollte, herbeiführen.

Die Greenpeace-Kampagne

Die Aktivitäten der Atommarinen müssen der Öffentlichkeit bewußt werden und Thema öffentlicher Debatten werden, damit es zum »Frieden auf den Meeren« kommt.

Greenpeace will deshalb:

  • die weltweite Präsenz der nuklearen Bedrohung durch die Seestreitkräfte ins Licht der Öffentlichkeit rücken;
  • daß atomare Waffen auf See nicht länger bei Abrüstungsverhandlungen unter den Tisch fallen
  • die »Atomwaffen-Allergie« verbreiten, d. h., Länder dazu bewegen, einen Anti-Atom-Kurs zu steuern und strikt einzuhalten sowie sich dem weltweiten Netzwerk zu entziehen, das Atomkrieg auf See möglich macht;
  • daß die Freiheit der Meere für alle nicht-militärischen Schiffe garantiert ist.

Die Greenpeace-Kampagne für atomfreie Meere soll:

  • Opposition schaffen gegen die Entwicklung, Auslieferung und Stationierung sowie das Testen der gefährlichsten Atomwaffen auf See. Diese sind: Trident II, ihr sowjetisches Gegenstück und die französische M5 sowie US-amerikanische und sowjetische seegestützte Cruise Missiles (Marschflugkörper);
  • militärischen Geheimhaltungsstrategien über die Existenz und Standorte nuklearer Waffen auf See entgegenwirken. Insbesondere bekämpft die Kampagne die Position »Weder bestätigen, noch dementieren« gegenüber Fragen nach nuklearer Bestückung von Schiffen;
  • auf Vorfälle aufmerksam machen, bei denen die Atommarinen die Souveränität von Küstenstaaten in Frage stellen;
  • Widerstand gegen die weltweite Ausdehnung von Basen und Anlagen demonstrieren, die nukleare Flotten und atomare Kriegsführung unterstützen;
  • auf gegenwärtige und mögliche Umweltschäden durch das Wettrüsten auf See aufmerksam machen;
  • mit Aktionen auf hoher See, in Häfen und auf Flottenstützpunkten Atomschiffen Widerstand entgegenstellen.

Force de Frappe – noch abschreckender

Force de Frappe – noch abschreckender

von Johannes M. Becker

Im Juni 1988 wurde in Frankreich die konservative Regierung unter Jacques Chirac nach dessen persönlicher Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und nach der Niederlage der Rechtsparteien bei den darauffolgenden Parlamentswahlen durch eine sozialistische »Öffnungs-„Regierung abgelöst. Mitterrands Premier Michel Rocard berief Jean-Pierre Chevènement zum Verteidigungsminister, der als Sprecher des linken Flügels des Parti Socialiste (PS) lange Zeit Hoffnungsträger der Linken vor allem hierzulande gewesen war – war er doch als einer der Bauherren des Programme Commun von 1972 ein Protagonist der sozialistischen Zusammenarbeit mit dem Parti Communiste Francais (PCF). Kennern der Szene galt Chevènement noch nie als Marxist, „Republikanischer Patriot“ (FAZ v. 5.9.88) charakterisiert ihn wohl am besten.

Chevènement verkündete als eine seiner ersten Amtshandlungen, die Regierung Rocard, die mittelfristig einen Einbruch in die Kreise der Zentristen innerhalb der UDF anstrebte, würde die Militärplanung der vorangegangenen konservativen Regierung für die Jahre 1987 – 1991 weiterverfolgen.

Die Loi de Programmation Militaire 1987 – 19911

Dieses Gesetz, am 10.04.1987 von einer übergroßen Mehrheit, eingeschlossen die Sozialisten und nur gegen die Stimmen der Kommunisten, von der Assemblée Nationale angenommen worden, bedeutete in einem groben Überblick:

  • im Planjahrfünft sollten 474 Milliarden Francs für das Militär ausgegeben werden; nach einer Steigerung um 11,2 % in 1987 sollte der Haushalt in den folgenden vier Jahren um 5,9 bis 6,1 % anwachsen – bei einer Inflation von unter drei % beachtliche Werte;
  • der Militäranteil am französischen Bruttosozialprodukt würde so bei etwa 4 % gehalten;
  • etwa ein Drittel der Militäraufwendungen sollte in den Nuklearbereich investiert werden.

Im einzelnen ragten folgende Faktoren aus der langen Liste der Planung heraus:

  • allein 73 Milliarden Francs waren für die Entwicklung der 96 neuen strategischen U-Boot-Raketen M-5 vorgesehen, 68 Mrd. für die 6 U-Boote der neuen Generation selbst (Die M-5 wird überaus zielgenau sein, und die neue Generation der U-Boote wird äußerst laufruhig und damit schwerer zu orten sein.)2;
  • weitere 45 Mrd. FF waren für den Panzer Leclerc verplant, das Nachfolgemodell des AMX-30, der nach 1992 in 1.100 Exemplaren in die Truppe eingeführt werden soll; 12 Mrd. FF werden zunächst für die Modernisierung des AMX-30 B2 ausgegeben.

Weitere Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben betrafen

  • 30 Mrd. FF für die mindestens 18, u.U. zusätzlich mobilen weiteren ballistischen Raketen S-4 (Nachfolge der strategischen Raketen auf dem Plateau d'Albion; Einführungsjahr in die Truppe: 1995/96),
  • 30,3 Mrd. FF für die 75 Mirage 2.000 N-Bomber als Träger der 300 km reichenden nuklearen (150 Kilotonnen) ASMP-(=Luft-Boden-)Rakete (Staatspräsident Mitterrand weihte am 12.07.88 das erste Geschwader dieses derzeit die alte Mirage IV-Flotte ersetzenden Systems ein),
  • 63 Mrd. FF waren veranschlagt für 225 Mirage 2.000 DA-Jäger (1995),
  • 172 Mrd. FF für Rafale, das taktische Kampfflugzeug, das Frankreich nach dem Fehlschlag des Jäger der 90er Jahre-Projektes allein zu bauen beabsichtigt hatte,
  • der neue Kampfhubschrauber (PAH II), das Kooperationsprojekt mit der Bundesrepublik, sollte für 220 Exemplare 25 Mrd. FF kosten (1997),
  • die »prästrategische« Hadès-Rakete (Nachfolgerin der Pluto) war mit ihren 90 Stück auf 13,6 Mrd. FF veranschlagt (1992),
  • ebenso potentiell in den Bereich der taktischen Atomwaffen fallend standen mit 19 Mrd. FF 500 neue 155 mm-Kanonen zu Buche; mit ihrer Hilfe können theoretisch Neutronenbomben abgefeuert werden. Im besprochenen Rüstungsprogramm heißt es hierzu: „Unsere Streitkräfte müssen mit Neutronenwaffen ausgerüstet werden“.
  • Der militärische Satellit Helios kostete in der Planung 7,5 Mrd. FF (1993),
  • das von den USA georderte AWACS-System mit seinen zunächst 3 Exemplaren 5,75 Mrd.,
  • die 27 See-Patrouillen-Flugzeuge Breguet Atlantique 2 – Nouvelle Génération schlugen mit 26,3 Mrd. FF zu Buche;
  • schließlich wurden 14 Mrd. FF für die 8 avisierten Jagd-U-Boote verplant und 13,9 Mrd. für den neuen nuklearbetriebenen Flugzeugträger Charles de Gaulle (1995), zuzüglich 10 Mrd. für ein eventuelles weiteres Exemplar.3

Politische Hintergründe

Eine politische Analyse dieser gewaltigen Rüstungsvorhaben macht folgendes deutlich:

a) Frankreich ist von den derzeit betriebenen Abrüstungsverhandlungen, aber auch von Zweifeln in die Wirksamkeit seiner strategischen Waffe offenbar unberührt: das Gros der Investitionen geht weiterhin in den atomaren Bereich.

Offensichtlich versuchen Konservative wie Sozialisten, den drohenden Wertverlust für die Force de frappe im Falle einer (auch nur ansatzweisen, d.h. auf kinetischen Waffen beruhenden) Installierung von SDI mit der dazugehörigen sowjetischen Reaktion zu konterkarieren durch einen großzügigen quantitativen wie qualitativen Ausbau der strategischen Bewaffnung.

b) Gleichzeitig setzt Frankreich weiter auf seine »prästrategischen« Waffenarsenale: die Modernisierung der Pluto zur Hadès gehört hierzu ebenso wie die Aufstellung von 5 Geschwadern Mirage 2.000 N, die die noch im Einsatz befindlichen 18 (!) Mirage IV ersetzen werden. Dabei hat jede der ASMP-Sprengladungen die 11-fache Vernichtungskapazität der Hiroshima-Bombe. Die Kombination ASMP/Mirage 2.000 erhält durch ihre Durchdringungsfähigkeit eine besondere Qualität: allein die Überschall-Rakete hat eine Reichweite von 300 km, das Flugzeug hat, ohne aufzutanken, einen Aktionsradius von 1.500 km – die Waffe könnte also, von bundesdeutschem Territorium gestartet oder über diesem aufgetankt, weit in die UdSSR hineinreichen.

c) Frankreich setzt auch unter der neuen PS-Regierung Mitterrands weiter auf die Neutronenwaffe. Dies ist um so weniger verständlich, weil diese klassisch der geschriebenen und in der Öffentlichkeit vertretenen Militärstrategie zuwiderläuft.

d) Ebenso wie der Ausbau der taktischen Nuklearwaffe der gaullistischen Abschreckungsdoktrin im Prinzip widerspricht (die nämlich die Verwicklung Frankreichs in jegliches Gefecht ausschließt), tut dies die aufwendige Modernisierung der Panzertruppen. Zu untersuchen wäre hier, wie groß die politischen Druck-Faktoren von seiten der Rüstungsindustrie waren, wie groß der Druck von seiten des Heeres selbst war, oder aber ob sich die gewaltige Erneuerung (1.100 neue Exemplare!) der Panzerwaffe in die neuere deutsch-französische Diskussion integrieren läßt. Als eine territoriale Sicherungstruppe jedenfalls ist das Heer um die Mitte der 90er Jahre nicht mehr anzusehen.

e) Der Einstieg Frankreichs in die Produktion chemischer Waffen, begründet mit entsprechenden Arsenalen vor allem der Sowjetunion, widerspricht ebenso der Doktrin der V. Republik.

f) Die Flugzeugträgerplanungen verdeutlichen den Willen Frankreichs, in aller Welt präsent zu sein. Die Aufstellung der Force d'Action Rapide (FAR) hatte dies bereits seit 1985 unter Charles Hernu eingeleitet.

g) Zum letzten wird eines der Grundprobleme der französischen Militärplanung ansatzweise gelöst, die Abhängigkeit von der NATO und den USA betreffend die Luftaufklärung (durch AWACS) und betreffend die Kommunikation der Leitstellen mit der Force de frappe (Helios). Hier verfügt Frankreich mit dem allerdings noch unvollständigen Fernmeldesatelliten-System Syracus bereits über Ansätze.

Zur Lage der Rüstungsindustrie

Die Lage der Rüstungsindustrie ist weiterhin prekär: die Auftragsbücher der großen Unternehmen vor allem der Flugzeug- und Fahrzeugindustrie (Panzer etc.) blieben 1986 und 1987 im Gegensatz zu den davorliegenden profitablen Jahren leer. Die Raumfahrtindustrie dagegen weist Vollbeschäftigung und Vollauslastung aus.

Ende Juni 1988 (le Monde vom 19./20.06. und 02.07.1988) bot Minister Chevènement Spanien und Belgien die Partizipation am Jäger Rafale an. Hintergrund im letzteren Falle ist: Belgien sucht ein Nachfolgemodell für die veralteten Mirage V, und Frankreich befindet sich in Konkurrenz zu den USA (Falcon 16) und dem EFA, den European Fighter Aircraft, also dem Euro-Jäger der 90er Jahre.

Im Falle Spaniens ist die Lage delikater: die Regierung Gonzalez hat bis heute nicht den Kooperationsvertrag des Jäger 90 unterzeichnet – offenbar rechnen sich Frankreichs Unterhändler Chancen aus, Spanien aus der Kooperations-Gruppe Großbritannien, BRD und Italien herauszubrechen.

Bereits mehrfach im übrigen, was mit diesem Konkurrenz-Akt nicht kollidieren muß, haben die Vertreter der großen französischen Firmen ein "EUREKA-militaire" angeregt, eine stärkere Kooperation der Rüstungskapitale in Westeuropa (der Markt, s.o., wird enger, die Konkurrenz stärker).4

Den Druck andererseits der Generalität bekam Frankreichs Rüstungsindustrie Ende Mai erneut zu spüren. Der Marine-Generalstab verbreitete (le Monde vom 27.06.1988) zum wiederholten Male Überlegungen, für eine gewisse Übergangsfrist (wenn die Crusader-Maschinen auf den Flugzeugträgern Foch und Clemenceau ab 1993 überaltert sind) von den USA etwa 20 F-18-Maschinen zu kaufen; das französische Rafale-Modell wird frühestens 1996, realistischerweise nicht vor 1998, erwartet. Hintergrund der Marine-Überlegungen ist auch die Preis-Frage: Rafale ist mit einem Systempreis von 320 bis 350 Millionen Francs (etwa 100 Mio. DM) veranschlagt – die F-18 soll »lediglich« 180 Millionen Francs kosten. Eine Stellungnahme des neuen Ministers steht noch aus.

Das (voraussichtlich zumindest vorübergehende) Ende des iranisch-irakischen Krieges verursachte bei den großen Rüstungskonzernen Unruhe: Paris hatte an beide Kriegsteilnehmer Waffen geliefert, an den Irak gar etwa 30 Prozent dessen »Bedarfes«. Jacques Isnard, der militärpolitische Spezialist des Monde, beruhigte die Industrie (am 26.07.1988): beide Länder würden schon weiter Waffen kaufen, allein um ihre Arsenale zu modernisieren; Geld würden sie ja wieder haben, fließe erst einmal das Öl wieder. Isnard entschuldigte Frankreich gleichsam: das Interesse des Irak, von seiner Waffen-Lieferungs-Abhängigkeit von Moskau loszukommen, habe Frankreichs Position begünstigt.

In derselben Ausgabe meldete das Blatt einen Wiederanstieg der Waffenbestellungen: Aufträgen im Werte von 12 Milliarden Francs im ersten Halbjahr 1987 würden solche für 20 Milliarden im laufenden 1988 gegenüberstehen. (In ganz 1987 waren nur Aufträge in Höhe von 25 Mrd. FF ins Land gekommen.)

Europa-Politik und deutsch-französische Beziehungen

„La France, promesse d'une Europe de la défense“ war das erste größere Monde-Interview mit Minister Chevènement (14.07.1988) überschrieben. Hier hob er die Europa-Politik und insbesondere das deutsch-französische Verhältnis5 hervor: „Frankreich entwirft seine Zukunft mit Europa und vor allem mit der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen mit ihr zusammen eine wirkliche »Schicksalsgemeinschaft« errichten. Es ist offensichtlich, daß unser Sicherheitsraum nicht erst am Rhein beginnt.“

Der Minister verwies auf die Differenzen in den Strategien zwischen Frankreich und der NATO und vertrat die Abschreckungsstrategie seines Landes wie folgt: „Wir glauben, daß nur eine nukleare strategische Abschreckung für Europa vorstellbar ist. Nichts darf gesagt oder getan werden, das den Gedanken aufkommen ließe, eine Schlacht, deren Auswirkungen auch dann verheerend wären, wenn sie mit modernen konventionellen Waffen geführt würde, im Rahmen einer von unseren amerikanischen Freunden so genannten »selektiven Abschreckung«, wäre auf dem europäischen Schauplatz akzeptabel.“ Sehr wohl erklärte er beide Strategien, „da sich das Gleichgewicht der Sicherheit in Europa zu ändern beginnt“, für vereinbar.

Frankreich und die Abrüstung

Offenbar hat die neue Regierung nicht die Absicht, an der bisher zurückhaltenden Abrüstungspolitik der vorangegangenen Mitterrand-Administrationen etwas zu ändern.

Frankreich forcierte als deutlichstes Zeichen hierfür seine Nuklearversuche. Paris, so Außenminister Dumas am 02. Juni vor der UNO (le Monde vom 04.06.1988), fühle sich von den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen nicht tangiert, und es werde auch seine Atomversuche wie die Modernisierung seiner Waffenarsenale nicht aufgeben. Die Supermächte seien in Quantität wie Qualität der Nuklearbewaffnung vom französischen Niveau so weit entfernt, daß man zunächst große Vorleistungen in Moskau und Washington erbringen müsse. In gleicher Weise äußerte sich Minister Chevènement (le Monde vom 01.06. und FAZ vom 18.06.1988). Dumas machte vor der UNO ein geradezu provozierendes Angebot an die Anrainerstaaten von Frankreichs Nukleartestzentrum Mururoa: man werde in Zukunft umfassend über die Testexplosionen informieren …

Nicht abzusehen ist bislang, ob Frankreich seine Haltung bei bspw. den Folgeverhandlungen von MBFR ändert. Skepsis ist allenthalben angebracht: die FAZ berichtete (am 18.06.1988) von der Weigerung Frankreichs, bei den zukünftigen Verhandlungen über konventionelle Stabilität zwischen Atlantik und Ural (KRK) Waffensysteme einbeziehen zu lassen, die sowohl konventionell als auch nuklear zu bestücken seien (dual capable systems).

Zu den neuen Vorschlägen der Warschauer Vertragsstaaten von Mitte Juli 1988 äußerte sich Staatspräsident Mitterrand sehr positiv (le Monde vom 16.07.1988), äußerte sich Premier Rocard in Bonn (FAZ vom 19.07.1988) „positiv vorsichtig“. Rocard kündigte bei seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik an, man werde die deutsch-französische Kooperation auf allen Gebieten, eingeschlossen die Sicherheitspolitik, weiter intensivieren.6

Anmerkungen

1 Der Fünfjahresplan ist ausführlich dargestellt worden in: The Military Five-Year-Plan 1987 – 1991, Paris (als Beilage der Zeitschrift Armées d'Aujourd'hui) 1987. Zurück

2 Frankreich baut bekanntlich bis zur Mitte der 90er Jahre seine U-Boot-Flotte, die, atomar bewaffnet, das Herzstück der Force de frappe bildet, durch die Inbetriebnahme neuer Boote und die Modernisierung, vor allem die MIRVung, der Sprengköpfe erheblich aus: 1981 verfügte die U-Boot-Flotte über 80 atomare Sprengköpfe, Mitte der 90er Jahre wird sie 496 umfassen. Zurück

3 Ich habe mich hier auf die größten Posten beschränkt; weitere Angaben finden sich neben der o.a. Schrift in le Monde v. 10.04. und den folgenden Ausgaben. Zurück

4 Derzeit wird u.a. ein erbitterter Streit ausgefochten zwischen der US-Firma Bell-Textron und der französischen Aérospatiale um einen brasilianischen Helikopter-Auftrag (52 Exemplare) im Wert von ca 1,5 Mrd. FF, etwa 0,5 Milliarden DM. (le Monde v. 28.06.1988) Zurück

5 Es handelt sich im wesentlichen um Flugzeuge, im Falle Frankreichs um die Mirage III, und Artillerie, um die Pluto/Hadès. Zurück

6 In diesem Zusammenhang verweise ich auf meinen Beitrag deutsch-französische Liaison im Infodienst 4/1987. Zurück

Johannes M. Becker, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler in Marburg und Geschäftsführer der dortigen universitären Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung.

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

von Uwe Reichert

Seit November 1987 sitzen amerikanische und sowjetische Unterhändler in Genf an einem Tisch, um über Kernwaffentests zu verhandeln. Diese als Nuclear Testing Talks (NTT) bezeichneten Verhandlungen haben ein erstes Ergebnis erbracht: ein Abkommen über die Durchführung gemeinsamer Nukleartests für Verifizierungszwecke, das während des Moskauer Gipfeltreffens von Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai dieses Jahres unterzeichnet wurde.

Bereits von Juli 1986 bis Juli 1987 hatte es in Genf Gespräche zwischen den USA und der UdSSR gegeben, bei denen während insgesamt sechs Gesprächsrunden der gesamte Themenkomplex von Kernwaffentests durchdiskutiert wurde. Im Gegensatz zu den jetzigen Verhandlungen hatten die Unterhändler damals jedoch kein Mandat gehabt, ein Abkommen auszuhandeln; die Gespräche dienten lediglich dem Zweck, die eigene Position darzulegen und die Position der Gegenseite anzuhören. Die Nuclear Testing Talks dagegen sind formelle Verhandlungen, die auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sind. Eines vorneweg: die NTT sind keine Verhandlungen über einen umfassenden Kernwaffenteststopp. Sie sind daher auch keine Fortsetzung der 1981 unterbrochenen Teststoppverhandlungen, die unter Carter und Breshnjew recht ansehnliche Fortschritte erbracht hatten. Sie sind dagegen primär auf die Anwendung von Verifikationsmaßnahmen ausgerichtet, mit denen die Einhaltung des Testschwellenvertrages (TTBT) und des Vertrages über die friedliche Nutzung von Nuklearexplosionen (PNET) überwacht werden soll.

Die Position der Vereinigten Staaten

Sowohl der TTBT als auch der PNET sind von den USA zwar unterzeichnet, aber nicht verifiziert worden. Die Zusatzprotokolle zu den Verträgen enthalten Regelungen über die anzuwendenden Verifizierungsmethoden und über einen Austausch von Testdaten, die die Überwachung der Einhaltung der Vertragsbestimmungen erleichtern sollen. Dieser Datenaustausch fand aber wegen der Nichtratifizierung nicht statt. Nach Ansicht der gegenwärtigen US-Regierung reichen die in den Zusatzprotokollen beider Verträge vereinbarten Verifikationsmaßnahmen nicht aus. Sie stützt sich dabei unter anderem auf den Vorwurf, die Sowjetunion hätte in der Vergangenheit den TTBT „wahrscheinlich verletzt“, indem die in diesem Vertrag festgelegte 150-Kilotonnen-Schwelle überschritten wurde. Die US-Regierung möchte daher vor einer Ratifizierung eine Einigung mit den Sowjets über weitergehende Verifikationsmaßnahmen erzielen und neue Protokolle verhandeln. Dies soll in der ersten Etappe der NTT-Verhandlungen geschehen. Nach erfolgter Ratifizierung des TTBT und des PNET sollen nach den Worten der amerikanischen Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung (ACDA) weitere mittelfristige Begrenzungen von Kernwaffentests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses verhandelt werden. Unter anderem soll dieser Prozeß als vorrangige Priorität die Reduzierung von Nuklearwaffen und ihre letztendliche Beseitigung zum Ziel haben. Bei zukünftigen Abkommen über die Begrenzung von Kernwaffentests sollen die erweiterten Verifizierungsmaßnahmen, die zuvor bei einem gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE) erprobt wurden, „in geeignetem Rahmen“ Anwendung finden.

Das CORRTEX- System

Mittelpunkt der von den USA vorgeschlagenen Verifizierungsmaßnahmen ist ein hydrodynamisches Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke eines unterirdisch gezündeten Kernsprengsatzes, das unter dem Namen CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment) bekannt ist. Hydrodynamische Verfahren zur Ladungsstärkebestimmung nutzen die Tatsache aus, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront, die bei der Detonation eines Kernsprengsatzes entsteht, von der Ladungsstärke abhängt (weitere Parameter, die in die Beziehung zwischen beiden Größen eingehen, hängen von den physikalischen Eigenschaften des Gesteins in der Nähe des Explosionszentrums ab). Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront kann zum Beispiel bestimmt werden, indem man ein Koaxialkabel vom zu testenden Kernsprengsatz ausgehend senkrecht nach oben verlegt und dessen Längenänderung mißt, wenn es durch die Schockwellenfront zerbrochen wird. Diese Lagenänderung des Kabels kann auf verschiedene Weise gemessen werden. CORRTEX benutzt dazu kurze elektrische Impulse, die von einem elektronischen Gerät im Abstand von 10 bis 50 Millisekunden in das obere Ende des Kabels eingespeist werden. Ein Teil der Impulse wird am unteren Ende des Kabels reflektiert und vom Gerät registriert. Durch die Messung der Laufzeit aufeinanderfolgender Impulse für Hin- und Rückweg läßt sich so die Länge des Kabels und damit auch die Position der Schockwellenfront in Abhängigkeit von der Zeit bestimmen. Aus der Laufzeitmessung der Impulse und der Anwendung theoretischer Modelle ergibt sich so die gesuchte Ladungsstärke. Am sinnvollsten und einfachsten ist es, das CORRTEX-Kabel direkt in dem Schacht zu verlegen, in dem sich der zu testende Kernsprengsatz befindet. Soll jedoch eine andere als die den Nukleartest durchführende Nation die Einhaltung des Testschwellenvertrages durch die Anwendung des CORRTEX- Systems (oder des äquivalenten sowjetischen MIS- Systems) überprüfen, könnte sie auf diese Weise Informationen über den Kernsprengsatz gewinnen, die möglicherweise Aufschluß über dessen Aufbau und Effektivität geben. Aus diesem Grunde ist für Verifizierungszwecke – sollte es je zu einem routinemäßigem Einsatz dieser Systeme kommen – der Gebrauch eines sogenannten Satellitenschachts vorgesehen, der parallel zu dem Hauptschacht in einem Abstand von etwa zehn Metern zu bohren ist.

Das JVE-Experiment

In dem Ende Mai unterzeichneten Abkommen über die Durchführung eines gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE) hatten sich die USA und die UdSSR darauf verständigt, auf jedem ihrer Testgebiete einen Nuklearversuch durchzuführen, dessen Ladungsstärke gemeinsam durch hydrodynamische Verfahren gemessen wird. Die beiden Versuche haben in der Zwischenzeit stattgefunden: am 14. August detonierte in der Pahute Mesa auf dem Nevada-Testgelände der erste amerikanische Kernsprengsatz, bei dem sowjetische Beobachter zugegen waren. Am 17. September folgte die Zündung des sowjetischen Kernsprengsatzes auf dem Semipalatinsk-Testgelände unter Anwesenheit amerikanischer Wissenschaftler. Die Einzelheiten der Durchführung der beiden Verifizierungsexperimente wurden durch einen knapp über 100 Seiten zusammenfassenden Anhang zum JVE-Abkommen geregelt. Alle Vereinbarungen, soweit sie nicht spezifische Unterschiede der amerikanischen und sowjetischen Meßsysteme betrafen, waren streng symmetrisch ausgelegt. Die geplante Ladungsstärke der beiden Kernsprengsätze sollte im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen liegen. Bei jedem der beiden Nuklearversuche wurden die hydrodynamischen Messungen von amerikanischer und sowjetischer Seite sowohl im Hauptschacht als auch in einem Satellitenschacht vorgenommen (das Abkommen enthält eine Klausel, die der Beobachterseite die Durchführung der Messungen im Hauptschacht als Referenzmessung nur für das JVE-Experiment erlaubt; sollten die Meßverfahren bei künftigen Nukleartests zum Einsatz kommen, wären die Messungen nur in einem Satellitenschacht möglich). Vor der Durchführung der beiden Nuklearexplosionen tauschten beide Seiten eine Reihe von Informationen über die Tests und die Testgebiete aus, die für die Auswertung der Meßdaten unbedingt nötig sind, so zum Beispiel die Tiefe, in der die Detonation stattfand, und verschiedene geologische und geophysikalische Daten des jeweiligen Testgebietes. Ebenfalls ausgetauscht wurden die entsprechenden Daten von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Kernwaffentests, die in dem Zeitraum von Anfang 1978 bis Ende 1987 durchgeführt worden waren (dieser Datenaustausch erfüllt gleichzeitig die Vereinbarungen des Zusatzprotokolls des TTBT aus dem Jahre 1974). Ergänzt wurde der Datenaustausch durch die Seismogramme dieser zehn Kernwaffentests, die von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Meßstationen aufgenommen worden waren. Diese Daten sollen zusammen mit den seismischen Registrierungen der beiden JVE- Explosionen dazu dienen, das seismische Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke anhand der hydrodynamischen Messungen zu kalibrieren. In diesem Punkt kommt dem JVE die größte Bedeutung zu, denn mit der Ankopplung des seismischen Verfahrens zur Ladungsstärkebestimmung an das hydrodynamische Verfahren könnte es jetzt gelingen zu klären, ob die USA Recht haben mit ihrem Vorwurf, die UdSSR hätte in der Vergangenheit die Testschwelle von 150 kt überschritten. Ursache des Streits ist die Tatsache, daß aufgrund von Unterschieden im geologischen Aufbau der amerikanischen und sowjetischen Testgebiete Nuklearexplosionen gleicher Ladungsstärke verschieden große seismische Signale hervorrufen. Überträgt man die Daten, die anhand der Tests in Nevada genommen wurden, auf das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk, so wie es verschiedene US-Behörden jahrelang getan haben, so führt dies zu einer Überschätzung der Ladungsstärke sowjetischer Tests. Unabhängige Seismologen hatten schon Anfang der siebziger Jahre auf diese Tatsache hingewiesen und einen aus Erdbebenmessungen abgeleiteten Korrekturfaktor eingeführt, der zu einer realistischen Bestimmung der Ladungsstärke sowjetischer Nukleartests führte. Zieht man zur seismischen Bestimmung der Ladungsstärke die Registrierungen verschiedener Wellentypen (Raumwellen, Oberflächenwellen, Lg-Wellen) heran, so beträgt der Meßfehler nach Ansicht führender Seismologen etwa 50 Prozent. Demgegenüber wird von der US-Regierung die Genauigkeit von CORRTEX-Messungen im Hauptschacht mit 15 Prozent, bei Messungen im Satellitenschacht mit 30 Prozent angegeben. Die bei den JVE-Experimenten durchgeführten CORRTEX-Messungen im Hauptschacht können daher recht gut als Kalibrierung des seismischen Verfahrens dienen. Sollte CORRTEX bei künftigen Nukleartests dagegen nur in einem Satellitenschacht eingesetzt werden, dann wäre, so meinen Kritiker, die Unterschiede der beiden Verfahren vernachlässigbar gering, so daß der hohe Aufwand von CORRTEX (hohe Kosten, lange Vorbereitungszeit von 3 – 4 Monaten, Anwesenheit fremder Beobachter auf dem Testgebiet) eigentlich nicht zu rechtfertigen sei. Die US-Regierung sieht die Genauigkeit hydrodynamischer Messungen eher in der Gegend von 100 Prozent; sie möchte daher den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX bei allen Kernwaffentests mit einer geplanten Ladungsstärke von mehr als 50 kt vorsehen. Die Sowjetunion favorisiert dagegen seismische Messungen. Bei den NTT- Verhandlungen ist die endgültige Einigung auf künftig anzuwendende Verifikationsmaßnahmen und die Ausarbeitung eines neuen Zusatzprotokolls für den TTBT auf Drängen der Sowjets auf die Zeit nach der Auswertung der beiden JVE-Experimente vertagt worden. Man darf also gespannt sein, wie die Ergebnisse des JVE-Experiments aussehen und ob es wirklich zu einer Ratifizierung des TTBT und des PNET kommen wird.

Chronologie

17.09.87 Die USA und die UdSSR geben in einer gemeinsamen Erklärung bekannt, daß sie sich auf die Aufnahme umfassender, schrittweiser Verhandlungen über Kernwaffentests vor dem 1. Dezember 1987 geeinigt haben.

9. – 20.11.87 Erste Runde formeller, schrittweiser Verhandlungen der USA und der UdSSR über Kernwaffentests in Genf (Nuclear Testing Talks, NTT).

9.12.87 Beim Washingtoner Gipfeltreffen geben die beiden Außenminister Shultz und Schewardnadse bekannt, daß ein gemeinsames Verifizierungsexperiment durchgeführt werden soll.

8. – 15.01.88 Nukleartest-Experten der USA besuchen das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk.

24. – 30.01.88 Gegenbesuch sowjetischer Experten auf dem US-Testgelände in Nevada.

15.02. – 28.06.88 Zweite Runde der NTT in Genf.

9.03.88 Die US-Delegation legt in Genf den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor, der den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

18.03.88 Die sowjetische Delegation legt ihrerseits den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor.

31.03.88 Die US- Delegation legt den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Vertrag über die friedliche Nutzung von Kernexplosionen (PNET) vor, der ebenfalls den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

April 88 Bohren der für die hydrodynamischen Experimente benötigten Satellitenschächte in den Testgebieten.

24.05.88 Die UdSSR legt ihren Entwurf des Verifizierungsprotokolls für den PNET vor.

31.05.88 Die Außenminister Shultz und Schewardnadse unterzeichnen während des Moskauer Gipfeltreffens ein Abkommen über das gemeinsame Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE).

28.06.88 Die USA und die UdSSR tauschen Daten über die Stärke von je fünf früheren Kernwaffentests im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen aus. Der Datenaustausch beinhaltet auch seismische Registrierungen dieser Tests und Angaben über die geophysikalische Beschaffenheit der Testorte.

17.08.88 Nukleartest in Nevada unter Beteiligung sowjetischer Experten

29.08.88 Beginn der 3. Runde der NTT

14.09.88 Nukleartest in Semipalatinsk unter Beteiligung amerikanischer Experten.

Quelle: ACDA, Arms Control Reporter

Dr. Uwe Reichert, Interdisziplinäre Forschungsgruppe zu naturwissenschaftlich-technischen Aspekten der Sicherheitspolitik an der TH Darmstadt

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

Ruhr Universität Bochum 14.09.1988

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

von Redaktion

Fernüberwachung als wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Erneut gemeinsameramerikanisch-sowjetischer Atombombentest

Pünktlich acht Minuten nach der unterirdischen Zündung der Bombe in der asiatischenSowjetrepublik Kasachstan erreichten heute früh die seismischen Wellen das Ruhrgebiet undwurden vom Erdbebennetz der Ruhr-Universität Bochum erfaßt. Im Vergleich zuramerikanischen Sprengung am 17. August erzeugte die russische Kernexplosion wesentlichdeutlichere Ausschläge aller Seismographen des Bochumer Netzes, die nicht nur auf demGelände der Ruhr-Universität installiert sind, sondern auch an unterirdischenMeßplätzen im Raum Hamm (ca. 900 m unter NN) und im Raum Moers (ca. 600 m unter NN). Ausdiesen Aufzeichnungen kann man abschätzen, daß die Explosion eine Stärke von 100 – 150Kilotonnen hatte. Die genaue Ladungsstärke soll später im Rahmen des Datenaustauscheszwischen den Supermächten publiziert werden. Für die Seismologen in aller Welt, derenInstrumente beide Explosionen registrierten, ergibt sich damit die Möglichkeit, ihreAufzeichnungen zu vergleichen, um zukünftig die Ladungsstärken derartiger Explosionenbesser abschätzen zu können: Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer weiterenVerringerung und letztlich der völligen Abschaffung atomarer Bombentests.

Die Bochumer Messungen am frühen Morgen (4.00 Uhr Weltzeit, 6.00 Uhr MEZ) beweisenerneut: Atomtests sind auch durch Fernmessungen kontrollierbar. Bereits am 17. Augusthatte Prof. Dr. Hans-Peter Harjes, Geophysiker an der Fakultät für Geowissenschaften derRuhr-Universität Bochum, die von amerikanischen und sowjetischen Technikern gemeinsamdurchgeführte unterirdische Atomwaffenexplosion aufgezeichnet, mit der die Einhaltung vonObergrenzen für die Stärke unterirdischer Kernwaffentests gegenseitig zuverlässigüberwacht werden soll. Die Kernexplosion in Semipalatinsk ist – nach der in Nevada– der zweite Test, den die Experten beider Mächte nach dem »GemeinsamenVerifikations-Experiment«-Vertrag (JVE) zwischen US-Außenminister Shultz und seinemsowjetischen Kollegen Schewardnadse vom April 1988 durchgeführt haben. Zwischen beidenLändern war vereinbart worden, die Möglichkeiten zur Überwachung von“Test-Schwellenabkommen« effektiv zu erkunden. Die Geophysiker um Prof. Harjes an derRuhr-Universität haben durch ihre Forschungen maßgeblich dazu beigetragen, das Know-howund die technischen Möglichkeiten zur Fernerfassung von unterirdischen Tests zuerarbeiten.

Prof. Harjes diente auch diese Kernexplosion als Eichexperiment, das Daten fürzukünftige Überwachungsaufgaben liefern soll. In Ergänzung zu den lokalenhydrodynamischen Meßmethoden amerikanischer und sowjetischer Techniker schlägt er dieFernüberwachung von Atomteststopp-Verträgen vor. Sie ist nach seiner Meinung nicht nurtechnisch möglich, sondern auch eine besonders vertrauensbildende Maßnahme. Alsseismologischer Experte ist der Bochumer Geophysiker Harjes seit 1976 Berater derBundesregierung bei den Genfer Abrüstungsgesprächen. In dieser Eigenschaft hatte erbereits 1986 dem Internationalen Friedensforscher Kongreß zum Thema »Ways out of theArms Race« ein Memorandum mit dem Titel „The Verification of a Comprehensive TestBan“ vorgelegt. Dieser Vorschlag wurde in die Genfer Abrüstungsgesprächeeingebracht. Darin skizziert Harjes ein Überwachungssystem für Teststoppabkommen durchein weltumspannendes Netz seismischer Beobachtungszentren. Dieses sollte aus etwa 50 bis100 über die ganze Welt verteilten sogenannten »Arrays« bestehen, die einheitlich mitden modernsten Instrumenten ausgestattet sein müßten. Arrays sind mehrere, zentralzusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern.

Nach Aussage von Prof. Harjes ist der Vorteil eines solchen Netzes gegenüber denlokalen hydrodynamischen Erfassungsmethoden der Sowjets und der Amerikaner die flexibleMeßgenauigkeit. Während z.B. »Corrtex«, das hydrodynamische Meßgerät der Amerikaner,direkt vor Ort installiert und hauptsächlich für Explosionen um 150 Kilotonnen verwendetwird, gelingt einem teleseismologischen Netz bereits der Nachweis unterirdisch gezündeternuklearer Ladungen bis hinab zu zehn Kilotonnen TNT.

Ein solches Netz basiert auf Erfahrungen von Erdbebenmessungen. Atomexplosionenerzeugen Erdstöße ähnlich denen von Erdbeben, wobei Seismologen heute genauunterscheiden können, ob es sich um ein Erdbeben oder um eine unterirdische Atomexplosionhandelt. Im Unterschied zu Erdbeben, bei denen das Gestein auf einer ebenen Fläche vongelegentlich mehreren Kilometern bricht, wirkt der Überdruck von Atomexplosionengleichstark in alle Richtungen, so daß man in diesen Fällen von »punktförmigenQuellen« spricht. Die charakteristischen Ausschläge von Erdbeben und Kernexplosionenlassen sich daher im seismologischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.Auch die Stärke einer Sprengung können seismologische Experten nach den registriertenAusschlägen abschätzen. Selbst getarnte Versuche sind durch sie richtig erfaßbar, weilden Geologen genaue Informationen über Gesteinsarten und ihre Verteilung in der Weltvorliegen und weil ihnen die infrage kommenden Orte bekannt sind, wo die Zündungunterirdischer Atomtests möglich ist.