Atomtest – Kein Stopp in Sicht!

Atomtest – Kein Stopp in Sicht!

von Michael Kalman

Am 16. Dezember 1988 sind die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über Kernwaffentests (Nuclear Testing Talks, NTT) in Genf ergebnislos unterbrochen worden. Noch steht der Termin für die Fortsetzung der Gespräche nicht fest. Die neue US-Administration unter Präsident Bush bastelt immer noch an ihrem außen- und sicherheitspolitischen »Gesamtkonzept«. Trotzdem wird uns auch ein Erfolg der NTT dem entscheidenden »Endziel« eines Umfassenden Teststopps (Comprehensive Test Ban, CTB) nicht nennenswert näherbringen.
Konkretes Ziel der bilateralen Test-Gespräche in Genf ist nämlich lediglich die Ratifizierung von zwei „rüstungskontrollpolitischen Ladenhütern“ aus den siebziger Jahren, den sogenannten Schwellenverträgen. Diese Abkommen über die „Begrenzung der unterirdischen Atomwaffentests“ (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) und „Unterirdische Atomexplosionen für friedliche Zwecke (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET)“, paraphiert in den Jahren 1974 und 1976 sind formell noch nicht in Kraft.

Washington behauptet seit Jahren, eine hinreichend genaue Kontrolle der Einhaltung dieser Verträge sei noch nicht gewährleistet. Daher brachte die US-Administration eine neue hydrodynamische Meßmethode ins Spiel, CORRTEX1. Mit diesem Schachzug gelang es Washington im Laufe des Jahres 1987 von den sowjetischen Forderungen nach direkten Verhandlungen zu einem Umfassenden Teststopp abzulenken. Moskau ging schließlich nach langem Zögern auf die amerikanische Position, wonach zunächst die Schwellenverträge – möglicherweise unter Verwendung von CORRTEX – zu ratifizieren seien, ein. Das hatte Folgen. Denn nun mußte erst ein Konsens über die beste Meßmethode zur Ladungsstärke-Bestimmung erzielt werden, da auch die Sowjetunion ein hydrodynamisches Verfahren mit der Bezeichnung MIS (Method of Impulse Sensing) entwickelt hatte. Unabhängig davon erachtet die Sowjetunion ihr teleseismisches System als ausreichend zur Verifikation.

Alle offenen Fragen sollte das sogenannte »Gemeinsame Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) klären. Es wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte in Nevada und Semipalatinsk im August und September 1988 durchgeführt. Je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz wurde zur Überprüfung der on-site-installierten hydrodynamischen (CORRTEX, MIS) und seismischen Meßmethoden gezündet.

In der Presse war sogleich von „gemeinsamen Atomtests“ die Rede, was zu implizieren scheint, daß nunmehr nur noch miteinander getestet wird. Tatsächlich aber testen beide Seiten weiterhin gegeneinander, unvermindert werden Massenvernichtungswaffen perfektioniert.

Der Ansatz des JVE greift im Hinblick auf einen Umfassenden Teststopp entschieden zu kurz. Die hydrodynamischen Meßverfahren sind für sich genommen nämlich in keiner Weise für niedrige Ladungsstärken geeignet, sie sind also für niedrigere Schwellenverträge oder gar einen CTB sinnlos.

Dennoch beurteilt der Bochumer Geophysiker Harjes das JVE auch im Hinblick auf einen CTB positiv. Das gemeinsame Experiment hätte mit der Versachlichung der Diskussion über Verifizierungsmethoden „einen Fortschritt, wenn nicht sogar (einen) Durchbruch auf dem Weg zu einem Atomteststopp“2 erzielt. Mit Hilfe der CORRTEX-Methode könne zudem die Meßgenauigkeit des seismischen Verfahrens steigen, was später auch einmal der Kontrolle eines Umfassenden Teststopps zugute komme3. In der Tat ist mit dem JVE auch eine Eichung der seismischen Methode vorgesehen. Die seismische Überwachung eines CTB erfordert jedoch weniger die Bestimmung der konkreten Ladungsstärke, sondern die zuverlässige Kontrolle, ob überhaupt getestet wird – unabhängig davon wie stark.

Gerade Harjes hat schon vor einigen Jahren ein zuverlässiges Verfikationssystem für einen Umfassenden Versuchsstopp entwickelt. Danach soll ein weltumspannendes Netz von 50 bis 100 sogenannten »Arrays« die Einhaltung eines CTB kontrollieren. Arrays sind zentral zusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern; sie sollen auf dem modernsten Stand gehalten werden. Die Unschärfen der seismischen Meßmethode würden durch diese (quantitative) Massierung von Meßstationen ausgeglichen. Zusammen mit dem Recht auf Kontrollinspektionen vor Ort zu jeder Zeit und weltraumgestützte Photo-Aufklärungssatelliten, die heimliche Vorbereitungen und Bohrungen für einen Atomtest beobachten können, ist eine ausreichende Verifikation möglich. Zudem würde sich nach Ratifikation eines CTB angesichts dieser Kontrollmaßnahmen keine Vertragspartei dem Risiko aussetzen wollen, durch heimliche Atomtests des Vertragsbruchs überführt zu werden.

Vor allem die politischen Implikationen der Harjes'schen Beurteilung des JVE müssen mit Skepsis betrachtet werden. Denn die USA hat den Gebrauch von CORRTEX speziell für eine verbesserte Verifizierung der Schwellenverträge angeregt und die Sowjetunion damit von ihrer Maximalforderung eines direkten – und technisch seit Jahren möglichen! – Zusteuerns auf einen CTB abgebracht. Bezeichnenderweise antwortete Troy E. Wade, am Ende der Reagan-Ära Unterstaatssekretär für Verteidigungsprogramme im Energieministerium, auf die Frage, ob CORRTEX für Atomtests mit niedrigen Ladungsstärken geeignet sei:„Die Präzision von CORRTEX für die Verifikation von niedrigeren Ladungsstärken ist nicht bestimmt worden, aber dies ist (auch) ein völlig anderes Problem. Wir befassen uns in diesem Fall (dem JVE, der Verf.) mit der 150 Kilotonnen-Schwelle und CORRTEX erreicht eine außerordentlich hohe Meßgenauigkeit bei diesen Ladungsstärke-Bereichen.“4 Nach neuesten Vermutungen muß allerdings sogar bezweifelt werden, ob diese von den Amerikanern so hochgelobte Methode eine geringere prozentuale Meßfehlerquote hat als seismische Meßverfahren.5 Auch der Wert des JVE als vertrauens- und konsensbildende Maßnahme wäre also gering, wenn es als Vehikel benutzt würde, echte Rüstungskontrolle, die diesen Namen verdient, zu verschleppen.

Dies umso mehr, als sich die Supermächte an die zu ratifizierenden Schwellenverträge, die unterirdische Atomtests mit einer Ladungsstärke von über 150kt verbieten, im Prinzip ohnehin gehalten haben. Zwar gab es einen Streit zwischen Sowjets und Amerikanern wegen angeblicher Überschreitung dieser Schwelle. Dies war jedoch, wie sich aufmerksamen Beobachtern schnell offenbarte, ein kleinliches, vom Pentagon inszeniertes Ablenkungsmanöver, welches ausgerechnet ein führender amerikanischer Geophysiker in Diensten des Energieministeriums aufdeckte. Charles Archambeau konnte nämlich nachweisen, daß die amerikanischen Schätzungen der Ladungsstärken sowjetischer Tests unrealistisch hoch lagen, weil einfach die Gesteinsbeschaffenheit der Nevada Test Site (NTS) unkritisch auf die Gegebenheiten von Semipalatinsk übertragen wurden. Dort liegt ein ganz anderer, viel härterer Untergrund vor, der unverhältnismäßig stärkere Wellen in der Erdkruste nach einer nuklearen Detonation aussendet. Archambeau führte daraufhin realistischere Korrekturterme ein, die längst auch vom US-Verteidigungsministerium übernommen wurden. 6 1986/87 glaubte die US-Administration aber, sich solcher Scheinargumente bedienen zu müssen, denn sie war durch Gorbatschows Moratorium in die diplomatische Defensive geraten.

Die rüstungskontrollpolitische Sinnlosigkeit der bilateralen Bemühungen um eine Ratifikation läßt sich auch daran zeigen, daß die Schwellenverträge nur einen stürmischen Prozeß der quantitativen und qualitativen Weiterentwicklung der Sprengköpfe nachträglich sanktionieren, der sich schon lange auf niedrigere Kilotonnenbereiche verlagert hatte. Auch ohne TTBT wären die sogenannten Superbomben im Megatonnenbereich also überflüssig geworden. Die Tendenz, Sprengköpfe im Zusammenhang mit der Erhöhung der Zielgenauigkeit von Raketen zu miniaturisieren, beschreibt zudem qualitative Sprünge, die bis heute unvermindert anhalten. In bemerkenswerter Offenheit sagte denn auch der damalige US-Sicherheitsberater Henry Kissinger nach Paraphierung des TTBT am 3. Juli 1974 in Moskau, der Schwellen-Testbann werde „dahin wirken, den Wettlauf auf den Bereich der Waffen mit geringerer Sprengkraft zu konzentrieren“7. Kissinger schien dies als Erfolg zu werten. Die Weiterentwicklung von Präzisionssprengköpfen und Raketen, u.a. dazu auserkoren, gehärtete gegnerische Silos und Kommandozentralen zu durchschlagen, signalisieren dem jeweiligen Gegner jedoch – ob zu Recht oder zu Unrecht -, daß in destabilisierender Weise eine ganz konkrete nukleare Kriegsführungsfähigkeit angestrebt wird.

Von allen Argumenten der Testbefürworter verdient dennoch das abschreckungspolitische Begründungsmuster eine genauere Analyse.

Nukleare Abschreckung ist nach wie vor ein schwer zu hinterfragendes Konzept, weil es unter der Prämisse, daß Staaten dann einen Krieg vom Zaume brechen, wenn es sich lohnt, durchaus vernünftig ist. Im Rahmen der folgenden Überlegungen möchte ich diese Prämisse akzeptieren, um mich in der gebotenen Kürze in die Lage zu versetzen, die herrschende Form des westlichen Abschreckungssystems, immanent zu kritisieren. Eine solche Kritik bleibt weiterhin notwendig, weil dieses System zusammen mit anderen Faktoren eine gefährliche Rüstungsdynamik schürt und jede Initiative für einen vollständigen Teststopp bisher zum Scheitern verurteilt hat.

Die nukleare Rüstungsdynamik, die 1945 ihren Ausgang nahm, führte zu einem Atomwaffenarsenal, deren potentielle Zerstörungswirkung sich ebenso menschlichem Vorstellungsvermögen entzieht wie beispielsweise der planmäßige Völkermord an den Juden im Dritten Reich. Gleichwohl firmierte dieser zutiefst irrationale Prozeß unter wechselnden Etiketten des Abschreckungskalküls, was kühle militärische Absicht und Planung suggeriert. In den fünfziger Jahren fand man das Stichwort »massive retaliation« und entwarf »countercity«-Szenarien. In den sechziger Jahren, als sich in einem beispiellosen Aufrüstungsprozeß die sogenannte nuklearstrategische »Parität« anbahnte, glaubte man einen Zustand der »mutual assured destruction« (MAD) konstatieren zu können. Inzwischen hatte sich das weltweite Nuklearpotential dermaßen ausgedehnt, das die böse Vokabel der »overkill-capacity« nicht nur längst Realität geworden, sondern auch schon abgegriffen war.

Ende der sechziger Jahre setzte sich in der NATO dann die bis heute gültige »flexible response«-Doktrin durch. Sie hatte in der USA schon zur Kennedy-Zeit das massive-retaliation-Paradigma – nicht zuletzt wegen des ungelösten Selbstabschreckungsdilemmas – abgelöst. Nunmehr sollte auf einen Angriff des Warschauer Paktes nicht mehr mit massiven, extrem zerstörerischen Nuklearschlägen „geantwortet“, sondern mit einer breiten Auswahl von militärischen Optionen reagiert werden, die sich von der Verteidigung mit konventionellen über begrenzte nukleare Warnschläge auf gegnerisches Territorium bis hin zur allgemeinen nuklearen Reaktion erstrecken. Ein solch „anspruchsvolles“ Konzept gab der Rüstungsdynamik neue und zusätzliche „Impulse“.

Greifen wir zur näheren Untersuchung die mittlere Option heraus.8 Die NATO sieht einen oder wenige gezielte nukleare Schläge gegen feindliches Territorium mit relativ geringer Zerstörungskraft und Schadensbegrenzung dann vor, wenn die konventionellen Mittel für eine erfolgreiche Verteidigung nicht ausreichen. Dem offiziellen NATO-Jargon gemäß (Nuklearwaffen seien „politische Waffen“) soll mit diesen Schlägen dem Gegner signalisiert werden, daß nun die Kampfhandlungen unverzüglich zu beenden seien, sonst drohe die allgemeine nukleare Reaktion. Den politischen Gehalt der Waffensysteme mit dieser Einsatzoption sieht man in den qualitativen militärischen Merkmalen »Zielgenauigkeit«, »Begrenzung des Kollateralschadens«, schließlich »Zuverlässigkeit«, verwirklicht. Es ist unschwer zu erraten, daß die Erfüllung solcher Eigenschaften höchste Anforderungen an die nuklearen Sprengkopfprofile stellt. Dies umso mehr, wenn man die dauernd expandierenden technologischen Möglichkeiten als einen entscheidenden Maßstab für die Realisierung solcher Anforderungen nicht nur akzeptiert, sondern vielfach sogar heftig begrüßt.

Aus diesen Zusammenhängen heraus ergibt sich ein nicht enden wollender Testbedarf.

Aber schon die Prämissen der hier erörterten first-use-Option, welche neben anderen die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren soll, sind fragwürdig. Wenn die westlichen Militärplaner glauben, daß im Kriegsfall solche »nuklearen Signale« im Rahmen einer »vorbedachten Eskalation« vom Gegner auch tatsächlich entsprechend der NATO-Intention verstanden werden, so gehen sie davon aus, daß sie die Regeln für eine »nukleare Kommunikation« auf dem Schlachtfeld (dieser Euphemismus bleibt uns nicht erspart!) auch für die Gegenseite verbindlich formulieren können. In diesem Fall würden – so das Kalkül – die WP-Staaten die Kriegshandlungen sofort abbrechen, weil ihnen das nukleare Grauen sozusagen „symbolisch“ vorgeführt würde. Dies kann so funktionieren, dies kann aber auch eine komplette Illusion sein. Warum sollte die Sowjetunion in der extrem angespannten Kriegssituation gemäß dieser Rationalität handeln? Was ist, wenn Moskau das nukleare Signal nicht versteht und selbst nuklear antwortet? Auf solche Ungewißheiten einen gravierenden Teil der westlichen nuklearen Infrastruktur aufzubauen, offenbart eine erschreckende Naivität.

Auch die ausgetüftelte flexible response-Doktrin hat also das Selbstabschreckungsdilemma nicht zu lösen vermocht. Sie ist auch nicht durch illusionäre Metaphern wie »Eskalationskontrolle« gelöst worden. Vielmehr ist durch die Differenzierung und Vermehrung nuklearer Einsatzmöglichkeiten der östlichen Gegenseite wahrscheinlich etwas ganz anderes signalisiert worden: daß atomare Einsätze auf dem »theatre« in Europa normal in das konventionelle Kampfgeschehen integriert werden sollen. Die amerikanischen Nukleartests tragen also erheblich dazu bei, daß auch regionale nukleare Kriegsführungsoptionen denkbarer werden. Wenn es überhaupt jemals gestimmt hat, daß man Westeuropa mit taktischen Nuklearwaffen stärker an den amerikanischen »atomaren Schutzschirm« koppeln kann, so ist etwa mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen der Tendenz nach jedenfalls das Gegenteil erreicht worden.

Von ähnlich zweifelhafter Natur sind die Bemühungen, mit Hilfe der Tests die dritte Generation der Nuklearwaffen zu realisieren. SDI – ein Traum wie ihn heute wahrscheinlich nur noch Amerikaner träumen können – beruht auf der Spekulation, die Abschreckung mit technischen Mitteln obsolet zu machen. In Zusammenhang mit dieser Vision – und nur hier – entdeckte die amerikanische Administration plötzlich ethische Vorbehalte gegen die Abschreckung. Auch in diesem Zusammenhang wird ein immenser Testbedarf eingefordert für ein Ziel, das wenig sinnvoll ist:

1.) Man stelle sich eine Welt vor, in der die USA kurz vor der Realisierung von SDI steht, also ausreichenden Schutz vor den sowjetischen Interkontinentalraketen hat, während die UdSSR dem kein adäquates Defensivsystem entgegenzusetzen hätte. Dies würde einer Wiederherstellung der amerikanischen Erstschlagfähigkeit gleichkommen. Diese Aussicht würde Moskau in erhebliche Präemptionszwänge stürzen, die Welt also erheblich unsicherer machen.

2.) Technisch und vom finanziellen Aufwand her ist SDI überhaupt nicht zu realisieren – so ist jedenfalls die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Fachleute. Allein das Streben der USA nach dieser Form einseitiger Sicherheit heizt jedoch die Bedrohungsängste der Gegenseite immer wieder an, die dann mit hektischen Aufrüstungsschritten reagiert.

Diese Kritik an SDI und an der NATO-Doktrin ist natürlich nicht neu. Sie muß aber auf der Tagesordnung bleiben, um zu zeigen, durch welche Fiktionen die Atomtests bis zum Sanktnimmerleinstag aufrechterhalten werden.

Perspektiven einer Reform des Abschreckungssystems

Zur Freiheit und politischen Entscheidungsfähigkeit der Menschheit am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehört auch die Fähigkeit, die gewaltigen und beängstigenden technologischen Möglichkeiten im Rüstungssektor in gemeinsamer Absprache gerade nicht zu nutzen. Die Rüstungsdynamik als quasi naturgegebene Konstante hinzunehmen, bedeutet in der Tat, einem extensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff zu folgen, der unerbittlich verlangt, das technologisch Machbare auch tatsächlich zu machen. Schließlich – so wird hinzugefügt – schlafe ja auch die Gegenseite nicht. So wird eine gigantische Ressourcenverschwendung in die Wege geleitet, die nicht nur die vorgeblich zu schützenden Güter in Ost und West tendenziell entwertet, sondern auch den Status Quo in der internationalen Politik mit Mitteln zu sichern versucht, die immer wieder die Tendenz haben, diesen gerade zu überwinden.

Das bestehende Kräfteverhältnis in Ost und West läßt sich jedoch erheblich besser schützen, wenn man durch gemeinsame Abkommen wichtige Elemente der Rüstungsdynamik paritätisch eliminiert. Ein solches Element ist der Atomtest. Ein CTB würde den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung stärken, weil ein dynamisches Element der Rüstungsentwicklung herausgenommen würde. Eine Drosselung der Rüstungsdynamik führt aber zu mehr gegenseitiger Berechenbarkeit, weil dann nicht mehr so stark technologische Möglichkeiten (mit ungewissem Ausgang) die Form des Abschreckungssystems diktieren, sondern politische Abkommen. Ein CTB würde also nicht nur ein Schlaglicht auf eine friedfertige Welt richten, auch Abschreckungsbefürworter müssen ihn wollen. Denn Abschreckung im Nuklearzeitalter ist und bleibt eine psychologische Qualität. Sie besteht – unbeschadet der Unwahrscheinlichkeit der tatsächlichen Anwendung von Nuklearwaffen durch das Faktum der Selbstabschreckung – im Kern nur aus drei bis vier Elementen:

  1. Vorhandensein von Nuklearwaffen: mindestens zwei gegnerische Staaten besitzen solche Waffen und können das jeweils andere Territorium damit erreichen.
  2. Zweitschlagfähigkeit
  3. Ungewißheit: die Waffen könnten eingesetzt werden.
  4. Glaubwürdigkeit: Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn 3. erfüllt ist.

Auch das Kriterium der Glaubwürdigkeit wurde in den entscheidenden NATO-Etagen bislang unrealistisch extensiv ausgelegt. Bislang sieht man die Glaubwürdigkeit von Abschreckung nur dann realisiert, wenn ein riesiges Overkill-Potential nach dem neuesten Stand der Technik jederzeit zuverlässig einsatzbereit ist. Eine solche Sicht der Dinge läßt sowohl den psychologischen als auch den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung außer acht.

Wenn durch einen CTB keine neuen, noch raffinierteren Sprengköpfe entwickelt werden könnten, so würde sich die Glaubwürdigkeit fortan auf das bestehende Potential stützen. Dieses ist bereits ausreichend getestet worden und zuverlässig. Und selbst wenn dieses Potential nach Jahrzehnten drohte, unzuverlässiger zu werden, so würde es paritätisch unglaubwürdiger. Punkt 2.) (Ungewißheit), der Kern der Abschreckung, würde damit nicht angetastet. Im übrigen heißt ein CTB (leider) ja noch nicht Produktionsstopp von Sprengköpfen; die ausreichend getesteten Profile der bestehenden Arsenale können jederzeit nachgebaut werden.

Auch das Argument, ein Umfassender Teststopp stärke die Sowjetunion, da diese wegen ihrer konventionellen Überlegenheit nicht auf verfeinerte nukleare first-use-Optionen angewiesen sei, verfängt nicht. Ersteinsatzplanungen können – wie oben gezeigt – nicht überzeugen, da niemand weiß, ob das NATO-Kalkül aufgeht. Eine Option, die einen Weltenbrand in der Konsequenz nicht ausschließen kann, muß also als extremes Sicherheitsrisiko angesehen werden. Hierfür einen fortgesetzten Testbedarf einzufordern, bleibt kontraproduktiv und gefährlich.

Die Argumente der Testbefürworter lassen also zwei Strukturmuster erkennen. Zum einen argumentieren sie mit dem bestehenden Abschreckungssystem und seinen Rahmenbedingungen, ohne seine Prämissen zu reflektieren. Zu der Einsicht, daß es nicht die Abschrekkung gibt, sondern verschiedene, nämlich sicherere und unsicherere Abschreckungsmodelle, kommen sie nicht. Politisch ist es aber unerläßlich, mittelfristig zu einer Reform des Abschreckungssystems zu gelangen – wenn man zugesteht, daß eine abschreckungsfreie Weltfriedensordnung erst langfristig erreichbar ist. Eine nicht hinterfragte Monopolisierung eines bestimmten Abschreckungsbegriffes bei der NATO macht die Verantwortlichen unfähig zur Antizipation neuer und sicherer Strukturen. Hinzu kommt ein pauschaler technologischer Progressismus, der aus konzeptioneller Hilflosigkeit die Dissonanzen des Fortschritts verdrängt.

Zum zweiten erlauben sich die NATO-Chefdenker nach wie vor das überlebte Modell einseitiger Sicherheit. Jeder Aufrüstungsschritt bedeutet nur vordergründig ein Mehr an eigener Sicherheit, sie erzeugt aber gegnerische Unsicherheit, die Gegenreaktionen provoziert, welche wiederum die eigene Sicherheit bedroht. Dieser sattsam bekannte Zyklus hat in den internationalen Beziehungen bisher niemandem Vorteile gebracht – im Gegenteil. Daher muß eine Sicherung des Status quo andere Wege gehen – billigere und ungefährlichere. Gemeinsame Sicherheit erkennt die nuklearen Realitäten endlich in der angemessenen Form auch politisch an und überführt sie in friedlichere Strukturen, wobei die weltweite Denuklearisierung in weiterer Zukunft nicht ausgeschlossen werden darf!

Eine Argumentation, die für die Aufrechterhaltung der Tests anführt, auf anderen Feldern könnte der Rüstungswettlauf ungehindert weitergehen (z.B. auf defensivem Sektor wie Silohärtung oder Perfektionierung der Luftabwehr), daher müßten auch die nuklearen (Angriffs-) Optionen verbessert werden, um eine angemessene Abschreckungsverwundbarkeit des Gegners aufrechtzuerhalten, bleibt einer Denkfigur verhaftet, welche die gegenwärtige Hochrüstung mit ihren destabilisierenden Implikationen zementiert.9 Diese Denkfigur folgt dem absurden Schema: Wenn ich im Falschen das Richtige tue, mache ich das Falsche noch falscher. Dem muß neues Denken entgegengesetzt werden, welches betont: Das Richtige mutig gegen das Falsche gerichtet, läßt langfristig das Falsche zum Richtigen konvertieren.

Die Aussichten für einen Umfassenden Teststopp bleiben dennoch vorerst düster. Denn es gibt neben den Supermächten noch drei andere Atommächte, die sicherheitspolitisch allesamt auf ein ständig zu modernisierendes Nukleararsenal setzen. Auch die sechs atomaren Schwellenländer (Pakistan, Indien, Brasilien, Israel, Argentinien und Südafrika) könnten nach der Bombe greifen.

Es regen sich aber nach wie vor politische und soziale Kräfte, die von einer Verantwortung für die globalen Menschheitsprobleme umgetrieben werden. Die internationale Friedensbewegung macht zunehmend Front gegen die Versuche. Am 15. April 1989 versuchten über 5000 Menschen (!) in das Atomtestgelände von Nevada zu einzudringen, um endlich nachdrücklich ein Ende der riesigen Testserie seit 1945 (weltweit auf allen Seiten bisher 1799 Tests!) einzufordern.10

Das gleiche Ziel, nur mit anderen Mitteln, strebt auch eine einflußreiche internationale Parlamentariergruppe an, Parliamentarians for Global Action (PGA). Sie unterstützt zusammen mit der Six-Nations-Initiative von Staats- und Regierungschefs aus sechs Staaten und vier Erdteilen den sogenannten Amendment-Prozeß innerhalb der UNO.11 Dieser Prozeß zielt auf eine Erweiterungs-Konferenz des 1963 geschlossenen PTBT. Einen großen Erfolg konnten PGA und Six-Nations-Initiative unlängst feiern. Das für die Einberufung einer Amendment-Konferenz notwendige Votum von einem Drittel der PTBT-Unterzeichnerstaaten (39) kam unlängst (Ende März 1989) zustande. Nun sind die Atommächte verpflichtet, diesem Votum stattzugeben. Auch wenn die Konferenz durch ein wahrscheinliches Veto der Nuklearstaaten nicht zu einem Erfolg wird, so würde sie doch ein vielbeachtetes Forum schaffen, in dem die Testbefürworter in neue Begründungszwänge gerieten. Das umso mehr, als für 1990 die nächste Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) anberaumt ist, dessen Regime durch die Aufrechterhaltung der Tests weiter unterhöhlt wird.

Anmerkungen

1 CORRTEX ist die Abkürzung für Continous Reflectometry for Radius versus Time Experiment. Zur Erläuterung dieses Meßverfahrens siehe den Beitrag von Uwe Reichert in Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 4/1988! Zurück

2 H.P.Harjes, Das amerikanisch-sowjetische Verifikationsexperiment – Fortschritt auf dem Weg zu einem kontrollierten Atomteststopp?, in: Deutsche Physikalische Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Mitteilungen Nr. 4/1988, S. 3. Zurück

3 So sinngemäß Harjes auf einer wissenschaftlichen Konferenz über das Gradualismus-Konzept, siehe: H.P. Harjes, Korreferat über das einseitige sowjetische Teststoppmoratorium 1985/87 (protokolliert) in: Oliver Thränert (Autor), Konferenzbericht: Das Konzept des Gradualismus. Eine vergleichende Analyse über Probleme, Bedeutung und Möglichkeiten einseitiger, begrenzter Vorleistungen, Bonn 1988 (=Studie Nr. 33 der Abteilung Außenpolitik und DDR-Forschung im Forschungsinstitut der FES), S. 54. Zurück

4 Interview mit Troy Wade in: Arms Control Today, June 1988, S. 24 (Übersetzung des Verfassers). Zurück

5 So wurde bekannt, daß es einen internen Streit zwischen Amerikanern und Sowjets gab, weil die UdSSR die Meßergebnisse des JVE publizieren wollten. Dies lehnte die USA brüskiert ab. Beobachter glauben, daß Washington das wahrscheinlich schlechte Abschneiden von CORRTEX beim Gemeinsamen Verifizierungs-Experiment verheimlichen will, siehe Michael Gordon, Soviets are willing to publicize test data, but US urges secrecy, in: International Herald Tribune, 24. März 1989. Zurück

6 Siehe den sehr informativen Beitrag von William J. Broad, Die Bombenpleite, in: Zeit-Magazin Nr. 49, 2. Dezember 1988, S. 42ff.! Zurück

7 Europa-Archiv 1974, D 564 Zurück

8 Holger Mey verdanke ich einige Anregungen zum Zusammenhang von »flexible response« bzw. den von ihr abgeleiteten Bedarf an Waffen und militärischen Fähigkeiten und Atomtests. Allerdings bleibt Mey in seiner Immanenz affirmativ dem NATO-Abschreckungskalkül verhaftet, was ihn zu einer notwendigen Kritik, die auf größere und relevantere Zusammenhänge verweisen würde, unfähig macht. Holger Mey, Die Bedeutung der Nukleartests für die Strategie der Abschreckung, in: Europa-Archiv, 6/1988, S. 151ff. Zurück

9 Siehe Holger Mey, a.a.O., S. 154. Zurück

10 Siehe die Tageszeitung vom 17. April 1989. Zurück

11 Über die Positionen und Aktivitäten der Six-Nations-Initiative informiert das Themenheft über Atomtests der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS, Hrsg.), Frieden und Abrüstung, Nr. 21 (1/1987). Zurück

Michael Kalman ist Politologe und Mitarbeiter bei der IFIAS.

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

Atomsprache und wie wir lernten, die Bombe zu streicheln (II)

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

von Carol Cohn

Obgleich mich die für die Sprache der Militärstrategen typische Mischung aus trockenen, abstrakten Begriffen und seltsamen Metaphern entsetzte, konzentrierte ich mich darauf, sie zu entschlüsseln und sprechen zu lernen. Zuerst mußte die Zunge daran gewöhnt werden, Abkürzungen auszusprechen.

Trotz jahrelanger Lektüre über Kernwaffen und atomare Strategien war ich weder auf die Menge der benutzten Abkürzungen noch auf die Art ihres Gebrauches vorbereitet. Ursprünglich hatte ich gedacht, sie seien bloß nützlich: Mit ihrer Hilfe kann man schneller schreiben und sprechen; ihre Funktion ist die des Abstrahierens, des Abstandnehmens von der hinter den Worten liegenden Realität; sie beschränken die Kommunikation auf einen Kreis von Eingeweihten – die Übrigen bleiben verständnis- und sprachlos vor der Tür.

Doch ich entdeckte noch andere unerwartete Dimensionen. Zum einen wirken viele dieser Ausdrücke beim Sprechen und Hören geradezu sexy. Eine kleine Überschallrakete, „dazu bestimmt, in jede erdenkliche sowjetische Luftabwehr einzudringen“, heißt SRAM (Short-Range Attack Missile). Auf U-Booten abschußbereit gehaltene Marschflugkörper (Submarine-Launched Cruise Missiles) werden »Slick'ems«, bodengestützte (Ground-Launched Missiles) »Glick'ems« genannt; luftgestützte Marschflugkörper (Air-Launched Cruise Missiles) sind magische »Alchems«.

Andere Abkürzungen, andere Funktionen: Das Flugzeug, in dem der Präsident angeblich über einem nuklearen Holocaust herumfliegen, Meldungen entgegennehmen und Befehle erteilen wird, wo als nächstes gebombt werden soll, wird »Kneecap« (Knieschützer) genannt (für NEACP, National Emergency Airborne Command Post, luftgestützter Befehlsposten im nationalen Notstand). Zwar glaubt kaum jemand, der Präsident könne tatsächlich noch die Zeit haben, es zu besteigen, oder daß – sollte es ihm gelingen – die Nachrichtensysteme funktionieren würden. Aber genau die Tatsache, daß man über dieses Konzept schmunzeln kann, macht es möglich, mit ihm zu arbeiten, statt es offen abzulehnen. Anders gesagt: Was ich im Zentrum für Nuklearstrategische Studien gelernt habe, ist, daß dieses Reden über Atomwaffen Spaß macht. Die Wörter sind schnell, sauber und unkompliziert, sie gehen leicht über die Lippen. Man kann sie dutzendweise in Sekunden herunterrasseln und dabei verlernen, über das nächste zu stolpern – oder gar über ihre Bedeutung für Menschenleben. Fast alle, die ich beobachtete – Professoren, Studenten, Falken, Tauben, Männer und Frauen – machten von diesen Wörtern mit Vergnügen Gebrauch. Manche von uns zwar mit einer bewußt ironischen Schärfe, doch das tat dem Vergnügen keinen Abbruch. Zum Teil lag der Reiz im Bewußtsein, daß wir in der Lage waren, mit einer Zeichensprache umzugehen, also die Macht besaßen, das Allerheiligste zu betreten. Wichtiger aber ist, daß die Aneignung dieser Sprache ein Gefühl von Herrschaft vermittelt, das Gefühl, Gebieter über eine Technologie zu sein, die letztendlich nicht beherrschbar ist, deren Macht aber das menschliche Fassungsvermögen transzendiert. Je länger ich mich im Zentrum aufhielt, je öfter ich an Gesprächen teilnahm, desto weniger Angst hatte ich vor dem Atomkrieg.

Die Verbannung konkreter Kriegsbilder

Wie kann die Tatsache, daß man eine Sprache sprechen lernt, eine derart starke Wirkung ausüben? Zum einen liegt es – wie schon erwähnt – an der abstrakten und sauberen technostrategischen Sprache, die konkrete Kriegsbilder verbannt. Doch es ist mehr als nur das: Ich habe erfahren, daß der Prozeß des Erlernens dieser Sprache mich selbst von der Realität des Atomkrieges entfernte. Meine Energien konzentrierten sich auf die Herausforderung, Abkürzungen zu entschlüsseln, neue Termini zu erlernen, Sprachkompetenz zu entwickeln – nicht jedoch auf die Waffen und Kriege, die die Vokabeln konkret beinhalten. Nachdem ich diesen Prozeß durchlaufen hatte, hatte ich weitaus mehr gelernt als nur eine andere – wenn auch abstrakte – Kategorie von Wörtern. Der Inhalt, die eigentliche Aussage dessen, worüber ich sprechen konnte, war ein völlig anderer geworden. Nehmen wir folgende zwei Beschreibungen, beide bezogen auf die Folgen eines atomaren Angriffs: „Alles war schwarz, in einer schwarzen Staubwolke verschwunden, zerstört. Nur die Flammen, die emporzuzüngeln begannen, hatten überhaupt Farbe. Allmählich wurden aus der Wolke, die wie ein Nebel war, Gestalten sichtbar, schwarz, haarlos, gesichtslos. Sie schrien mit Stimmen, die nicht mehr menschlich waren. Ihre Schreie übertönten das Stöhnen, das allenthalben aus dem Schutt aufstieg, ein Stöhnen, das aus der Erde selbst zu kommen schien.“1 „Unbedingt erforderlich sind Mittel und Wege zur Aufrechterhaltung einer Nachrichtenübermittlung in einer nuklearen Umwelt, einer Lage, zu der EMP-blackout, rohe und gewaltsame Beschädigungen der Systeme, schwere Sendestörungen usw. dazugehören.“ 2

Es ist ganz unmöglich, die im ersten Zitat wiedergegebenen Vorgänge in der Sprache des zweiten zu erfassen. Der Unterschied liegt nicht nur in der Wortwahl, der Lebendigkeit, sondern in ihrer inhaltlichen Aussage: Im ersten geht es um die Auswirkungen einer atomaren Explosion auf Menschen, das zweite beschreibt ihre Folgen für technische Systeme, deren Zweck es ist, die »Befehls- und Kontrollgewalt« über Kernwaffen sicherzustellen. Der Unterschied ist Ausfluß der je anderen Perspektive dessen, der spricht: Im ersten Fall ein Opfer, im zweiten ein »Täter«. Die Worte im ersten Zitat sind der Versuch einer Frau, das Grauen des menschlichen Leidens um sie herum zu benennen und zu fassen; dem Sprecher im zweiten Zitat geht es darum, die Möglichkeit eines atomaren Zweitschlages sicherzustellen.

Die technostrategische Sprache drückt nur die eine Perspektive aus: Die Perspektive dessen, der Atomwaffen einsetzt – nicht die ihrer Opfer. Wer diese Expertensprache spricht, dem bietet sich nicht nur die Gelegenheit, Abstand und ein Gefühl der Beherrschbarkeit zu gewinnen sowie seine Energien auf einen anderen Schwerpunkt zu verlagern; er/sie kann sich auf diese Weise auch dem Gedanken verweigern, selbst Opfer eines Atomkrieges zu werden. Was immer man tief im Innern von der Wahrscheinlichkeit eines atomaren Krieges weiß oder zu wissen glaubt, gleich, welch Schrecken oder Verzweiflung das Wissen um die Realität des Atomkrieges auch immer auslösen könnte: Jene, die die technostrategische Sprache sprechen, dürfen, ja müssen sich der Erkenntnis entziehen, flüchten davor, den Atomkrieg aus der Perspektive der Opfer zu sehen – mit Hilfe ihrer Sprache.

Vermutlich ist die reduzierte Angst vor einem Atomkrieg, die sowohl Neulinge wie auch langjährige Experten des technostrategischen Diskurses allgemein an sich erleben, eine Folge der Charakteristika dieser Sprache selbst: Distanz, die man sich aufgrund der abstrakten Begrifflichkeit leisten kann; das Gefühl, alles im Griff zu haben, das sich einstellt, sobald man die Sprache beherrscht; die Tatsache, daß ihr Inhalt und Anliegen Inhalt und Anliegen der Täter sind, nicht die der Opfer. Im Prozeß der Sprachaneignung wandelt sich der Sprecher vom passiven und ohnmächtigen Opfer zum kompetenten, schlauen und mächtigen Lieferanten atomarer Drohungen und atomarer Sprengkraft. Die ungeheuren Destruktionskräfte der nuklearen Waffensysteme werden zu Auswüchsen des Ich, nicht zu dessen Bedrohung.

Eine Welt der Abstraktionen

Ich benötigte nicht lange, um die Sprache des Atomkrieges und den größten Teil der in ihr enthaltenen Spezialinformationen zu erlernen. So verlagerte sich der Schwerpunkt meines Interesses rasch von der Beherrschung der technischen Informationen und doktrinären Geheimcodes auf die Suche nach der rationalen Begründung jener Doktrin, die ich erlernte. Da tieferliegende Gründe im Alltagsgeschäft der Verteidigungsplaner nicht eben häufig diskutiert werden, mußte ich beginnen, vermehrt Fragen zu stellen. Obwohl es mich zunächst reizte, meine neu erworbene Kompetenz im Bereich des technostrategischen Jargons unter Beweis zu stellen, gelobte ich mir, normales Englisch zu sprechen. Das Resultat: Egal, wie gut informiert meine Fragen, wie fundiert und umfassend mein Wissen waren: Benutzte ich anstatt des Expertenjargons normales Englisch, antworteten mir die Männer, als hätte ich keine blasse Ahnung, ein schlichtes Gemüt oder gar beides. Meine ausgeprägte Abneigung gegen eine gönnerhafte Behandlung wie mein Hang zum Pragmatismus hatten zur Folge, daß dieses Experiment nur von kurzer Dauer war. Ich verlegte mich erneut auf das einschlägige Vokabular, sprach von »Eskalationsdominanz«, »Präemptivschlägen« und – einer meiner Lieblingsausdrücke – »Sub-Holocaust-Engagement«. So ebnete ich mir den Weg zu langen, elaborierten Diskussionen, in denen ich eine Menge über technostrategische Rationalität und über Manipulierbarkeit erfuhr.

Aber je besser ich in diesem Diskurs wurde, desto schwieriger wurde es, meine eigenen Ideen und Werte auszudrücken. Denn die technostrategische Sprache schloß zwar Dinge, über die zu sprechen ich nie zuvor in der Lage war, ein, andere dafür aber radikal aus. Ein drastisches Beispiel: Das Wort »Frieden« kommt in diesem Diskurs nicht vor. Die weitestgehende Annäherung daran heißt »strategische Stabilität«, ein Begriff, der sich auf ein quantitatives und qualitatives Gleichgewicht bei den Waffensystemen bezieht – nicht auf die politischen, sozialen, ökonomischen und psychologischen Bedingungen, die »Frieden« meint. Hinzu kommt, daß man sich, wenn man das Wort »Frieden« ausspricht, sofort selbst das Etikett des tumben Aktivisten statt des ernstzunehmenden Professionellen anheftet. War ich schon unfähig, meine Bedenken in dieser Sprache auszudrücken, so war es noch störender, daß es mir zunehmend schwerer fiel, sie überhaupt in meinem eigenen Kopf zu behalten. Wie fest auch immer ich mir vorgenommen hatte, mir der hinter den Worten verborgenen blutigen Realität bewußt zu bleiben – ich merkte doch immer wieder, daß ich am Bezugspunkt »Menschenleben« nicht festhalten konnte. Ich konnte tagelang herumgehen und über Kernwaffen reden, ohne auch nur ein einziges Mal an die Menschen denken zu müssen, die von ihnen verbrannt werden würden.

Es ist überaus verlockend, dieses Problem einfach den Worten zuzuschreiben, den abstrakten Begriffen, den Euphemismen und den gesäuberten, freundlichen Abkürzungen mit ihrem Sex-Appeal. Dann nämlich bräuchte man einzig die Worte auszutauschen – gemäß dem Rezept: Man bringe die militärischen Planer dazu, statt »Begleitschaden« »Massenmord« zu sagen, und ihr Denken wird sich ändern. Das Problem ist aber nicht, daß die Sicherheitsstrategen sich durch den Gebrauch abstrakter Begriffe von der Realität entfernen. Es gibt keine Realität hinter den Worten, bzw. die Realität, von der sie reden, ist selbst eine Welt der Abstraktionen. Die Abschreckungstheorie – wie auch ein Großteil der strategischen Doktrin – wurde erfunden, um die eigene Logik abstrakt zusammenzuhalten, ihre Gültigkeit wird mit der eigenen Logik beurteilt. Diese abstrakten Systeme wurden entwickelt, um „das Undenkbare zu denken“ (Herman Kahn) – nicht, um Verhältnisse auf dem Boden der Tatsachen zu beschreiben und zu kodifizieren.

Der Bezugspunkt technostrategischen Denkens: Waffen

Die Idee eines »begrenzten Atomkrieges« beispielsweise ist nicht nur deshalb eine brutale Verzerrung, weil sie das Leiden und Sterben von Menschen, das durch jeden Einsatz von Atomwaffen verursacht wird, als »begrenzt« bezeichnet, oder weil der »begrenzte Atomkrieg« eine Abstraktion ist, die den Blick auf die hinter jedem Kernwaffeneinsatz liegende menschliche Realität verstellt. Das Problem ist auch, daß ein »begrenzter Atomkrieg« an sich ein abstraktes Konzept ist – von Computern entworfen, ausgestaltet und vervollkommnet.

In dieser abstrakten Begriffswelt sind die hypothetischen, ruhigen und rationalen Akteure so umfassend informiert, daß sie genau wissen, welches Kaliber von Kernwaffen der Gegner gegen welche Ziele eingesetzt hat. Sie verfügen über die adäquaten Befehls- und Kontrollmechanismen, um sicherzustellen, daß ihre Reaktion das exakte Gleichgewicht zum Angriff herstellt. Kein Frontkommandeur würde hier seine taktischen Atomwaffen auf dem Höhepunkt einer verlorenen Schlacht einsetzen. Unsere rationalen Akteure wären im Angriffsfall absolut frei von Emotionen und politischem Druck. Grundlage ihres Handelns wäre einzig und allein ein durch und durch perfektes mathematisches Kalkül, gemessen in Megatonnen. Vom begrenzten Atomkrieg zu sprechen, heißt deshalb, in einem System zu denken und zu handeln, das faktisch abstrakt und auf groteske Weise realitätsfern ist. Weil dieses Konzept so abstrakt ist, geht eine beschreibende Sprache völlig an der Sache vorbei.

Diese Erkenntnis half mir einerseits zu verstehen, warum ich solche Schwierigkeiten hatte, den Bezug zu konkreten Menschenleben aufrechtzuerhalten. Andererseits erklärte sie wenigstens zum Teil die bizarren und surrealen Äußerungen der Experten. Trotzdem begriff ich immer noch nicht alles. Wie etwa ist folgende Aussage zu verstehen: „Die strategische Stabilität des Regimes A beruht auf der Tatsache, daß beide Seiten zu keiner Zeit irgendeinen Anreiz zum Erstschlag haben. Da es ungefähr zwei Sprengköpfe erfordert, um ein feindliches Silo zu zerstören, muß ein Angreifer zwei Raketen aufwenden, um eine gegnerische zu zerstören. Ein Erstschlag entwaffnet den Angreifer. Der Angreifer steht am Ende schlechter da als der Angegriffene.“ 3

Das Heimatland des »Angegriffenen« ist gerade von – angenommen – 1000 Atombomben verwüstet worden, von denen jede höchstwahrscheinlich über die 10 bis 100fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe verfügt. Und der Angreifer, dessen Heimatland noch unversehrt ist, »steht am Ende schlechter da«?

Ich vermochte den Sinn dieses Gedankens erst zu erfassen, als ich mich schließlich fragte: Wer – oder was – ist hier das Subjekt? Im technostrategischen Diskurs bezieht sich alles auf die Waffen, nichts auf Menschen. Der Angreifer steht deshalb am Ende schlechter da als der Angegriffene, weil ihm weniger Waffen verbleiben; sonstige Faktoren – etwa die Frage: Was geschah dort, wo die Waffen abgeworfen wurden? – sind für die Gewinn- und Verlustrechnung ohne Bedeutung.

Die Tatsache, daß die Subjekte strategischer Paradigmen Waffen sind, hat einige wesentliche Folgen. Die erste und wohl wichtigste ist, daß es keine Möglichkeit gibt, den Tod von Menschen oder eine menschliche Gesellschaft zu diskutieren, solange man sich einer Sprache bedient, die einzig geschaffen wurde, um über Waffen zu sprechen. Der Tod von Menschen ist dann nichts weiter als ein »Begleitschaden« – Nebensache angesichts des eigentlichen Subjekts.

Als ich dies begriffen hatte, konnte ich mir auch erklären, was mich zunächst überrascht hatte: Die meisten Leute, die diese Arbeit verrichten, sind im großen und ganzen nette, ja, gütige Männer, viele sogar mit liberaler Gesinnung. Ihr Motiv, so argumentieren sie häufig, sei die Sorge um die Menschen. Aber im Laufe der Zeit eignen sie sich bei ihrer Arbeit eine Sprache und ein Denkschema an, in dem Menschen nichts mehr zu suchen haben. Und so kann das Wesen und Ergebnis ihrer Arbeit in tiefen Widerspruch zu ihren ursprünglichen Motiven geraten.

Hinzu kommt folgendes: Wenn Waffen den Bezugspunkt bilden, dann wirkt es fast schon unangemessen, zu verlangen, daß innerhalb des Paradigmas menschliche Belange zu berücksichtigen seien. Fragen, die die gefühllose Sprache strategischer Analyse durchbrechen, weil ihr Hauptinteresse den Menschen gilt, können leicht abgetan werden. Zwar wird niemand behaupten, sie seien unwichtig; aber für das anstehende Geschäft gelten sie nun einmal als laienhaft und deshalb als irrelevant. Der Diskurs der Experten ist hermetisch abgeschottet. Man kann über Waffen reden, die bestimmte Völker und deren »way of life« schützen sollen, ohne auch nur ein einziges Mal die Frage zu stellen, ob sie diese Schutzfunktion denn erfüllen können bzw. ob sie das beste Mittel dafür sind, oder ob es nicht gar sein könnte, daß diese Waffen all das zerstören, was sie schützen sollen. Das aber sind Fragen, die auf einem anderen Blatt stehen.

Dieser spezifische Diskurs ist bislang die einzige Antwort auf die Frage, wie Sicherheit zu erlangen sei, die als legitim anerkannt wird. Wäre das Thema »Waffen« nur eines unter vielen, die in diesem Zusammenhang diskutiert würden, oder eines, das mit anderen Themen verknüpft würde, dann fiele die Tatsache, daß strategische Paradigmen sich nur auf Waffen beziehen, nicht mehr so sehr ins Gewicht. Wenn wir aber sehen, daß denen, die sich für den Frieden engagieren wollen, von den Experten nur ein Fachwissen und eine Sprache offeriert werden, die sich ausschließlich auf Waffen beziehen, dann wird eine erschütternde Grenzziehung manifest: Es wird deutlich, welche Gefahr diese Sprache birgt, warum es – hat man sie sich einmal zu eigen gemacht – so schwer wird, das Primat der Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Falle der Militärlogik

Innerhalb weniger Wochen war mir das, was ich zuvor bemerkenswert gefunden hatte, selbstverständlich geworden. Während des Lernens der Sprache veränderte sich meine Perspektive. Ich stand nicht mehr jenseits dieser undurchdringlichen Mauer aus technostrategischer Sprache, doch als ich zum Insider geworden war, war mir der Blick auf die Mauer verstellt. Ich hatte nicht nur gelernt, die Sprache zu sprechen: Ich hatte begonnen, in ihren Kategorien zu denken. Ihre Fragen wurden zu meinen Fragen, ihre Begrifflichkeit prägte meine Antworten auf neue Ideen. Wie die weiße Königin in Alice im Wunderland begann ich, vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge zu glauben. Nicht, daß ich überzeugt gewesen wäre, ein »chirurgisch sauberer Counterforce-Schlag« beispielsweise sei wirklich möglich. Aber irgendein Stück doktrinärer Logik, mit dem ich arbeitete, ging schon von der Möglichkeit solcher Schläge wie von einer ganzen Menge anderer unmöglicher Dinge aus.

Ich hatte das, was ich als Realität erkannte, offenbar nicht mehr im Griff. So konnte ich zum Beispiel eine neue strategische Rechtfertigung für einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen ungeheuer aufregend finden und lange darüber diskutieren, inwiefern dies für die Struktur der US-Streitkräfte in Westeuropa Vorteile gegenüber der bisherigen Politik brächte. Ein oder zwei Tage später hielt ich dann plötzlich inne und war entsetzt darüber, daß ich mich so stark mit der militärischen Rechtfertigung für den Nichteinsatz von Kernwaffen beschäftigt hatte – als ob die moralische nicht genügte. Das, wovon ich da eigentlich sprach, die Massenverbrennung von Millionen von Menschen durch einen atomaren Angriff, war meinem Denken entglitten.

Ein anderes Beispiel: Es kam vor, daß ich Vorschläge hörte, die mir – verglichen mit dem üblichen Rüstungskontroll-Diskurs – unendlich besser erschienen. Zunächst versuchte ich dann herauszuarbeiten, weshalb die Vorschläge besser waren; dann suchte ich nach Wegen, Gegenargumente zu parieren. Schließlich dämmerte mir, daß diese beiden Vorschläge zwar durchaus verschieden klangen, dennoch aber eine Menge an Voraussetzungen gemeinsam hatten, von denen auszugehen ich nicht bereit war. Zunächst gab mir dies das Gefühl, eine neue Erkenntnis gewonnen zu haben. Plötzlich jedoch ging mir auf, daß ich das alles eigentlich schon vor meinem Eintritt in die Gemeinde der Militär-Experten gewußt, doch dann vergessen hatte: Allmählich wurde mir klar, daß ich in eine Falle getappt war.

Die Notwendigkeit exakter Sprachanalysen

Seither sind meine Probleme mit der technostrategischen Sprache nicht verschwunden. Die Versuchung, das Erlernte auch anzuwenden, bleibt groß; doch in dem Maße wie der Spaß am Umgang mit ihr wächst, steigt zugleich auch ihre Gefährlichkeit. Der Versuch, Atomstrategen mit ihren eigenen Mitteln argumentativ zu bezwingen, verführt zum Denken innerhalb ihrer Regeln und zum stillschweigenden Akzeptieren der unausgesprochenen Voraussetzungen ihrer Denkmodelle.

Trotzdem ist das Sprachproblem für mich inzwischen in den Hintergrund getreten, weil sich an seine Stelle neue Fragen geschoben haben. Fragen, die zwar immer noch nicht die gleichen sind wie die eines Insiders, auf die ich aber nicht gekommen wäre, hätte ich mich nicht in ihren Kreisen bewegt. Viele sind eher praktischer Art: Welche Individuen und Institutionen sind eigentlich verantwortlich für die endlose »Modernisierung« und Weiterverbreitung von Kernwaffen, und was gewinnen sie dabei? Welche Rolle spielt die techno-strategische Logik in ihrem Denken? Wie sähe eine vernünftige, wirklich defensive Sicherheitspolitik aus? Andere sind eher philosophischer Natur, fragen danach, was für einen Begriff von »Realität« die Verteidigungsintellektuellen für sich in Anspruch nehmen und wie sich begründen läßt, daß dieser falsch ist. Wie sähe eine alternative Logik aus?

Daß sich mein Hauptinteresse von der Sprache ab, und anderen Problemen zugewandt hat, ist durchaus nicht untypisch. Andere Neulinge im Kosmos der militärischen Experten haben sich ähnlich geäußert: Die kaltblütigen, abstrakten Diskussionen hätten sie zunächst außerordentlich beeindruckt, das sei jedoch bald vergangen, und sie hätten bemerkt, daß die Sprache selbst nicht das Problem ist. Ich meine allerdings, es wäre ein Fehler, diese ersten Eindrücke einfach zu ignorieren. Zwar ist die Sprache nicht das eigentliche Problem, doch enthüllt sie eine ganze Reihe von in unserer Kultur begründeten und von ihr akzeptierten Mechanismen. Erst diese aber ermöglichen es, in Institutionen zu arbeiten, in denen man seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Weiterverbreitung von Kernwaffen voranzutreiben und die Massenverbrennung von Millionen von Menschen zu planen: Eine abstrakte, saubere und beschönigende Sprache, die sexy ist und deren Gebrauch Spaß macht; ein Paradigma, dessen Bezugsgröße Waffen sind; eine Bildlichkeit, die die Massenvernichtung domestiziert und verniedlicht, die »fühllose« und »fühlende« Materie vertauscht, Tod mit Geburt, Zerstörung mit Schöpfung verwechselt. Mit alldem können die Benutzer dieser Sprache sich der Realität dessen, worüber sie sprechen und den Realitäten, die sie durch den Diskurs schaffen, radikal entziehen.

Eine exakte Sprachanalyse bietet gute Ansätze, die Legitimität zu erschüttern, mit der die Verteidigungsexperten den Diskurs über atomare Fragen beherrschen. Werden sie wegen der kaltblütigen Unmenschlichkeit der von ihnen geplanten Szenarien kritisiert, reagieren sie, indem sie sich hinter dem Hochaltar der Rationalität verschanzen. Kritiker des nuklearen Status quo werden als irrational, unrealistisch und zu emotional – kurz: als »idealistische Aktivisten« – abgestempelt. Doch wenngleich die glatte und glänzende Oberfläche des Diskurses, seine Abstraktheit und der technische Jargon ihre Behauptungen zu bestätigen scheinen: Ein Blick unter die Oberfläche fördert anderes zutage. Dort finden sich homoerotische Untertöne, heterosexuelle Herrschaftsgelüste, der Drang nach Kompetenz und Führerschaft, die Lust an der Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gruppe und das Auskosten des Genusses, von höchster Wichtigkeit, gleichsam ein Glied in der Gemeinde der »Atompriester«, zu sein. Wie kann man in Menschen, die solche Werte und Erfahrungen verkörpern, Muster besonnener Objektivität sehen?

Die Mechanismen des Sich-Distanzierens und Dementierens sowie die emotionalen Untertöne in diesem betont männlichen Diskurs – all dies wird bereits deutlich, lauscht man der technostrategischen Sprache. Doch erst wenn man sie lernt, entdeckt man, wie abstrakt das eigene Denken werden kann, wie sich das Interesse auf isolierte Details verlagern und das Überleben von Waffen wichtiger werden lassen kann als das Überleben von Menschen.

Viele Gegner des gegenwärtigen atompolitischen Kurses entscheiden sich, diese Sprache zu erlernen, weil sie die Maßstäbe für die öffentliche Diskussion setzt. Selbst wenn sie Fachausdrücke für nicht sonderlich wichtig halten, glauben manche doch, die Sprache einfach deshalb beherrschen zu müssen, weil man ansonsten kaum Anerkennung bekommt. Aber wer sie lernt, verändert sich. Man erweitert nicht schlicht das eigene Wissen und Vokabular, sondern taucht in eine andere Denk-Weise ein, die nicht nur die Analyse von Kernwaffen, sondern auch die von militärischer und politischer Macht und schließlich die des Verhältnisses von menschlichem Zweck und technologischen Mitteln beeinflußt.

Sprache – kein neutrales Transportmittel für Informationen

Diese Sprache und dieses Denken sind keine neutralen Transportmittel für Informationen. Sie wurden zumeist von mathematisch oder ökonomisch geschulten Männern entwickelt, die es sich zum Zweck gesetzt hatten, rationelles Denken über den Einsatz von Kernwaffen zu ermöglichen. Daß eine auf diese Weise entstandene Sprache für etwas anderes als das Nachdenken über den Einsatz von Atomwaffen nicht besonders geeignet ist – wen wundert's?

Diejenigen, die das Kalkül der US-amerikanischen Atompolitik für hoffnungslos fehlgeleitet halten, befinden sich in einem besonders ernsten Dilemma: Weigern sie sich, die Sprache zu lernen, verurteilen sie sich selbst zum Hofnarren am Rande der Szene. Doch lernen und nutzen sie den Jargon, dann schränken sie nicht nur ihre Aussagekraft drastisch ein, sondern leisten überdies der Militarisierung des eigenen Denkens Vorschub.

Ich kann keine Lösung dieses Dilemmas anbieten, möchte dennoch mit dem Versuch schließen, unser Denken und vielleicht sogar das Problem selbst neu zu formulieren. Schlägt man die Strategie ein, die Sprache zu lernen, dann muß man sich über eines im Klaren sein: Wenn wir Außenseiter meinen, daß wir mit dem Erlernen und Sprechen dieser Sprache uns zu einer Stimme wandeln, die als legitim anerkannt wird, und wenn wir voraussetzen, daß wir so an politischem Einfluß gewinnen, dann setzen wir auch voraus, daß die Sprache selbst tatsächlich die Kriterien und Denkstrategien artikuliert, auf deren Grundlage Kernwaffen entwickelt und Stationierungsentscheidungen gefällt werden. Das ist zum Großteil Illusion. Ich gehe davon aus, daß dem technostrategischen Diskurs eher die Funktion von Tünche zukommt, die Funktion einer ideologischen Patina, die die wirklichen Gründe für solche Entscheidungen verdeckt. Statt Entscheidungen zu inspirieren und ihnen Gestalt zu geben, legitimiert er meist politische Ergebnisse, die aus gänzlich anderen Gründen zustandegekommen sind. Wenn das richtig ist, erheben sich ernste Zweifel hinsichtlich der Frage, wie groß der politische Nutzen wäre, den wir aus der Anwendung dieser Sprache ziehen könnten, und ob er jemals die potentiellen Probleme und Kosten aufzuwiegen vermag.

Wer auf der Suche nach einer gerechteren und friedlicheren Welt ist, hat – so denke ich – eine doppelte Aufgabe: Eine demontierende wie auch eine rekonstruierende, beide eng miteinander verknüpft. Den technostrategischen Diskurs zu demontieren, bedeutet, ihn aufmerksam zu beobachten und abzubauen. Die dominante Stimme militarisierter Männlichkeit und Zusammenhänge leugnender Rationalität spricht in unserer Kultur so laut, daß es für jede andere Stimme schwierig bleiben wird, gehört zu werden. Und zwar so lange, bis diese Stimme etwas von ihrer Macht verliert zu bestimmen, was wir hören und wie wir die Welt gestalten sollen.

Die zweite, rekonstruierende Aufgabe bedeutet, kreativ zu sein und überzeugende alternative Zukunftsentwürfe anzubieten, andere Vorstellungen von Rationalität zu entwickeln, vielfältige und phantasievolle alternative Stimmen zu schaffen – Stimmen, die im Gespräch miteinander neue Möglichkeiten von Zukunft erschaffen werden.

Der vorstehende Beitrag wurde während eines Forschungsaufenthalts von Carol Cohn am Center for Psychological Studies in the Nuclear Age in Cambridge Massachusettes verfasst. Vorstehende Analyse erschien zuerst im Bulletin of the Atomic Scientist, June 1987, p. 17–24, die erweiterte Fassung in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 1987, vol. 12, no. 4; die Übersetzung fertigten Hedda Wagner (Frankfurt) und Sabine Lang (Berlin) an.

Anmerkungen

1 Hisako Matsubara, Cranes at Dusk (Garden City, New York: Dial Press, 1985) Zurück

2 Gen. Robert Rosenberg, „The Influence of Policy Making on C3I“, speaking at the Harvard Seminar, Command, Controll, Communications and Intelligence, p. 59 Zurück

3 Charles Krauthammer, Will Star Wars Kill Arms Control?, New Republic (Jan. 21, 1985),pp. 12 – 14 Zurück

Den -> ersten Teil veröffentlichten wir in der Ausgabe 5/88 des INFO's.

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

Atomsprache und wie wir lernten, die Bombe zu streicheln (I)

Sex and death in the rational world of the defense intellectuals

von Carol Cohn

Lauscht man den Reden jener, deren Beruf die intellektuelle Beschäftigung mit militärischer Verteidigung ist, so verblüffen die emotionalen Untertöne in diesem von Männern beherrschten Diskurs. Doch wer selbst ihre Sprache erlernt, bemerkt zwangsläufig, wie abstrakt Denken werden kann – so abstrakt, daß das Überleben von Waffen das Überleben von Menschen dominiert.

Im Sommer 1984 begann ich mich eingehender mit nuklearstrategischen Studien zu beschäftigen. Zusammen mit 47 anderen College-Dozenten nahm ich an einem Seminar über Kernwaffen, strategische Doktrin und Rüstungskontrolle teil, das von einem der führenden Universitätszentren für nuklearstrategische Studien in den Vereinigten Staaten veranstaltet wurde. Bekannte Verteidigungsexperten hielten Vorträge – Männer, die seit Jahrzehnten sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch in den Amtsstuben in Washington zu Hause sind. Als man mir am Ende des Seminars anbot, als Gast an einem dieser universitären Zentren zu arbeiten, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf.

Während des folgenden Jahres tauchte ich ganz in die Welt der »geistigen Verteidigungselite« ein, – eine Welt von Männern (und es sind wirklich fast ausnahmslos Männer), die, so Thomas Powers, „den Begriff der Abschreckung benutzen, um zu erklären, warum es Sicherheit schafft, Waffen von solcher Art und in solcher Menge zu haben, daß ihr Einsatz die Sicherheit gefährden würde.“ Sie gehen in Washington ein und aus. Mal arbeiten sie als beamtete Staatsdiener, mal an Universitäten und in Expertengruppen. Die Theorie, die der nuklearstrategischen Praxis der USA zugrundeliegt, ist ihr Werk.

Ich besuchte Vorträge, hörte Argumente, sprach mit den Experten und interviewte Studenten. Die Frage ließ mir keine Ruhe: Wie können sie so denken? Doch je besser ich ihre Sprache kennenlernte, desto mehr bemerkte ich, daß sich mein eigenes Denken veränderte. Ich mußte mich einer neuen Frage stellen: „Wie kann ich so denken?“ Mit anderen Worten: Ich hatte meine eigenen Erfahrungen und Untersuchungen einzubeziehen, wenn ich verstehen wollte, wie nicht nur »sie«, sondern wie wir alle so denken können.

Dieser Aufsatz ist der Beginn einer Untersuchung über das Wesen des nuklearstrategischen Denkens. Dabei richtet sich mein Augenmerk auf die Frage, welche Rolle einer Fachsprache zukommt, die ich »technostrategisch« nenne. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß diese Sprache die nuklearstrategischen Projekte der Amerikaner sowohl widerspiegelt als auch prägt und daß diejenigen, die durch Kernwaffen und Atomkriege beunruhigt sind, sehr genau auf diese Sprache achten müssen – darauf, wie wir mit ihr kommunizieren, was zu denken und zu sagen sie uns gestattet.

Saubere Bomben und saubere Sprache

Als Leserin war mir die sonderbare Sprache im Zusammenhang mit dem Atomkrieg schon zuvor begegnet. Doch war es etwas anderes, sie gesprochen zu hören. Zunächst fällt der häufige Gebrauch von abstrakten Begriffen und Beschönigungen auf, mit deren Hilfe nahezu endlose Diskussionen über den nuklearen Holocaust geführt werden können, ohne je den Sprechenden zu zwingen oder den Zuhörer zu befähigen, mit der hinter den Worten liegenden Realität in Berührung zu kommen.

Wer einmal die Bilder von Hiroshima-Opfern gesehen hat, dem mag es pervers erscheinen, wenn er hört, daß von einer Sorte von Atomwaffen tatsächlich als von »sauberen Bomben« gesprochen wird; Waffen, bei denen die Kernschmelze die Kernspaltung überwiegt. Ein größerer Anteil ihrer Energie wird als unmittelbare Strahlung freigesetzt, so daß sie weniger radioaktiven fall-out produzieren als Spaltbomben. »Saubere Bomben« liefern die passende Metapher für die Sprache der Verteidigungsexperten und Rüstungskontrolleure: Diese Sprache birgt eine gewaltige Zerstörungskraft, jedoch ohne den emotionalen fall-out, der entstünde, würde deutlich, daß von Plänen für Massenmord, von zerfetzten Leibern und menschlichem Leiden die Rede ist. Verteidigungsexperten sprechen von »Gegenwert-Angriffen« anstatt von Städten, die in Schutt und Asche gelegt werden. Im atomaren Sprachgebrauch wird der Tod von Menschen meist auf den »Begleitschaden« reduziert. Daß Reagan die MX-Rakete in »Peacekeeper« umtaufte, trug ihm reichlich Spott aus den Reihen der Verteidigungsexperten ein: gleichwohl sind es dieselben Experten, die diese Waffe als »Schadensbegrenzungswaffe« bezeichnen.

Diese Beispiele – nur eine kleine Auswahl aus Hunderten – zeigen die erschreckende Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, die die technostrategische Sprache auszeichnet. Sie verweisen überdies darauf, in welch furchterregendem Maße die Existenz von Kernwaffen unsere Wahrnehmung verzerrt und unsere Welt neubestimmt hat. Der Ausdruck »saubere Bomben« suggeriert, die Radioaktivität sei das einzig »Schmutzige« am Töten von Menschen.

Es fällt schwer zu glauben, daß derart gesäuberte Abstraktionen nicht die Funktion erfüllen, die unkontrollierte Schmutzigkeit der Tatsachen zu leugnen, die zu schaffen man im Begriff ist. Wir haben nicht nur »saubere Bomben«, sondern auch »chirurgisch saubere Schläge«: »Counterforce«-Angriffe mit dem Ziel, die Waffen oder Befehlszentralen eines Gegners »auszuräumen« – soll heißen: zu zerstören –, ohne anderweitig nennenswerte Schäden zu verursachen. Nur, daß das chirurgische Werkzeug nicht ein mit Umsicht geführtes Skalpell, sondern ein atomarer Sprengkopf ist – da bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Anbetung des Phallus?

Feministinnen haben wiederholt behauptet, ein wichtiger Aspekt des Rüstungswettlaufes sei die Anbetung des Phallus. Der »Raketenneid«, um den von Helen Caldicott geprägten Begriff zu entleihen, sei eine bedeutende Triebkraft für den atomaren Apparat. Ich habe diese Erklärung stets für reduktionistisch gehalten und gehofft, meine internen Beobachtungen würden eine komplexere Analyse erbringen. Trotzdem war ich gespannt, in welchem Ausmaß sich sexuelle Untertöne in der Sprache von Verteidigungsexperten finden würden. Auf das, was ich fand, war ich freilich nicht vorbereitet.

Naiverweise hatte ich mir vorgestellt, ich müßte herumschleichen und Männer in jenen Momenten belauschen, da sie sich unbeobachtet wähnten, um ihren sexuellen Sprachbildern auf die Spur zu kommen. Ich hatte mir eingebildet, sie würden ihre Auftritte sauber inszenieren, hoffte, der eine oder andere würde während eines langen Gespräches über »Penetrationshilfen« zumindest an einer Stelle leicht verlegen aufblicken, weil er sich bei einer derart offenkundigen Bestätigung feministischer Thesen ertappt fühlen würde.

Doch ich irrte auf der ganzen Linie. Nichts wies darauf hin, daß feministische Kritik jemals die Ohren dieser Männer – von ihrem Bewußtsein ganz zu schweigen – erreicht hatte. Die militärische Abhängigkeit der USA von Kernwaffen wurde unter anderem mit den Worten: „Überwältigend! Du kriegst mehr Bums für's Geld

(„more bang for the buck“) erklärt. Feierlich wurde doziert: „Abrüsten heißt, Du verschleuderst Dein ganzes Zeug“ („To disarm is to get rid of all your stuff“). Ein Professor begründete die Unterbringung der MX-Rakete in den Silos der neuesten Minuteman-Raketen damit, daß sie da im hübschesten Loch sind – man nimmt doch nicht die hübscheste Rakete, die man hat, und steckt sie in ein mieses Loch. Andere Vorträge strotzen vor Erörterung über Abschüsse aus vertikal aufgerichteter Position (»vertical erector launchers«), das Verhältnis von Stoß und Gewicht, sanftes Hinlegen, tiefes Eindringen und die Vorteile eines hinausgezögerten gegenüber einem spasmischen Angriff – oder das, was ein Militärberater des nationalen Sicherheitsrates „Entladen von 70 bis 80 Prozent unserer Megatonnage in einem orgiastischen Stoß“ nannte.

Allerdings: Selbst wenn die Bilder transparent sind, sind die Bedeutungen noch lange nicht klar. Ich will nicht behaupten, daß sie etwas über die wirkliche Meinung oder die wahren Beweggründe der Militärstrategen aussagen. Individuelle Motive sind den in einem größeren Kulturzusammenhang wurzelnden Bildern nicht ohne weiteres direkt zu entnehmen. Die Geschichte des Unternehmens Atombombe selbst ist voller eindeutiger Bilder männlicher Sexualkonkurrenz; dasselbe gilt für die Äußerungen der Atomphysiker, Strategen und Mitglieder des Strategic Air Commands der ersten Stunde. Sowohl Militärs als auch Rüstungsproduzenten bedienen sich fortwährend des Phallus-Bildes und der Verheißung sexueller Dominanz, die ihre Waffen so naheliegend suggerieren. Nehmen wir die Juni-Ausgabe des Air Force Magazine. Groß aufgemacht in Fettdruck ist am oberen Rand einer doppelseitigen Anzeige für den AV-8B-Harrier II zu lesen: „Sprich leise und trag einen großen Prügel.“ Weiter unten ist stolz von „einem außergewöhnlichen Stoß-Gewichts-Verhältnis“ die Rede wie auch von der „radargesteuerten Stoßkraft, die die … einmalig schnelle Reaktion ermöglicht.“

Eine weitere ergiebige Quelle für sprachliche Phallus-Bilder bieten die Schilderungen von Atomexplosionen. Etwa die des Reporters William Laurence, offizieller Berichterstatter des Bombenabwurfs in Nagasaki: „Dann, gerade in dem Augenblick als es aussah, als sei ein Zustand der Ruhe erreicht, schoß aus der Spitze ein riesiger Pilz, der die Höhe der Säule auf etwa 15000 Meter brachte. Die Spitze des Pilzes war noch lebendiger als die Säule, siedete und brodelte in weißem, wütendem Schaum, zischte himmelwärts und fiel wieder zur Erde, wie Tausende von Geysiren, die sich zu einem einzigen vereinen. Er kämpfte noch immer in elementarem Zorn, wie ein Wesen, das die Fesseln zu sprengen versucht, die es niederhalten.“1

Daß die mit der Verteidigung befaßten Denker reichlich Sexualmetaphern benutzen, kann nicht weiter überraschen, sieht man, wie sehr diese ihre Welt durchziehen. Auch ist dies an sich nicht hinreichend, ihnen niedrige Motive zu unterstellen. Interessant sind nicht so sehr die potentiellen psychodynamischen Ursprünge der Metaphern, als vielmehr die Frage nach ihrer Funktion. Die Frage also, welche Rolle sie dabei spielen, die eigene Arbeitswelt als offen und zugänglich darzustellen. Einige Begebenheiten vermögen die Komplexität des Problems zu erläutern.

Die Bombe streicheln

Mit einer Gruppe des Zentrums nahm ich an einer Exkursion zur New London Navy Base, auf der U-Boote gewartet werden, teil und zum Werksgelände der General Dynamics Electric Boat, die ein neues U-Boot vom Typ Trident konstruiert. Den Höhepunkt bildete die Besichtigung eines atomgetriebenen U-Bootes. In Kleingruppen stiegen wir in lange, dunkle und glänzende Röhren hinunter, in der Männer zusammen mit einem Kernreaktor bisweilen über Monate hinweg unter Wasser eingeschlossen sind. Wir zwängten uns durch Luken und neonbeleuchtete Gänge, die so schmal waren, daß man sich umdrehen und den Rücken an die Wand pressen mußte, wollte man jemanden hindurchlassen, passierten die engen Verschläge, in denen die Besatzung schläft, und die Warnschilder mit der Aufschrift »radioaktiv«. Als wir schließlich jenen Teil des Bootes erreichten, in dem die Raketen untergebracht sind, wandte sich der uns begleitende Offizier mit einem Grinsen um und fragte, ob wir Lust hätten, unsere Hand durch ein Loch zu stecken und „die Bombe zu streicheln“. Die Bombe streicheln?

In der folgenden Woche tauchte eben dieses Bild erneut auf, als ein Dozent spöttisch erklärte, für die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II in Westeuropa gäbe es nur einen einzigen Grund: „Damit unsere Verbündeten sie streicheln können.“

Ein paar Monate später besuchte ich zusammen mit einer anderen Gruppe des Zentrums die NORAD (North American Aerospace Defense Command). Auf dem Rückflug mußte das Flugzeug zum Auftanken auf dem Flugplatz der Befehlszentrale für strategische Bomber nahe Omah, Nebraska, zwischenlanden. Als bekanntgegeben wurde, daß unsere Landung sich verzögern würde, da der neue B-1-Bomber in der Gegend sei, breitete sich in der Maschine eine spürbare Erregung aus. Sie steigerte sich, als die Leute beim Anflug ihre Hälse reckten, um einen Blick auf die am Himmel vermutete B-1 zu erhaschen und erreichte ihren Höhepunkt, als wir nach der Landung an ihr vorbeibrausten. Später im Zentrum sagte mir ein Mann, der am Ausflug nicht hatte teilnehmen können, neidvoll: „Ich hab' gehört, Du durftest eine B-1 streicheln.“ Wozu dieses ganze Gestreichele? Streicheln ist ein Ausdruck der Intimität, des sexuellen Besitzanspruches, des zärtlichen Beherrschen-Wollens. Die Erregung und das Vergnügen, »die Rakete zu streicheln«, liegen in unmittelbarer Nähe zur phallischen Potenz, zur Möglichkeit, sie ganz und gar zu besitzen. Doch Streicheln ist nicht allein ein Akt sexueller Intimität: Man streichelt auch Babies, kleine Kinder und Hunde. Die gestreichelten Kreaturen sind klein, süß, unschuldig und harmlos – aber nicht erschreckend zerstörerisch. Streichele sie, und sie sind nicht mehr tödlich.

Viele der Sexual-Metaphern, die ich hörte, waren so hintersinnig, wie der Ausdruck »Raketen streicheln“andeutet. Die Metapher kann als tödlich ernster Ausdruck der Verbindung zwischen männlicher Sexualität und Rüstungswettlauf interpretiert werden. Doch zugleich klingt etwas anderes durch, der Versuch nämlich, den Ernst militärischer Bestrebungen zu mindern und ihre tödlichen Folgen zu leugnen. Ein vormals mit Zielanalysen befaßter Pentagon-Mitarbeiter begründete seine Auffassung, der »begrenzte Atomkrieg« sei lächerlich: „Wissen Sie, Sie müssen das so sehen: Das ist wie Wettpinkeln – man muß damit rechnen, daß die anderen alles rauslassen, was sie haben.“ Dieses Bild zeigt wohl deutlicher als jedes andere, daß es sich um eine Männlichkeitskonkurrenz handelt und somit ungeheure Gefahren birgt. Aber gleichzeitig behauptet es, das Ganze sei nicht so ernst zu nehmen – eben etwas, was kleine Jungs und besoffene Männer tun.

Häusliche Freuden

Selbst wenn es mich störte: Die klinisch reinen und abstrakten Begriffe wie auch die sexuellen Metaphern waren der maskulinen Welt der Planung eines atomaren Krieges durchaus angemessen. Weniger passend erschien allerdings eine weitere Gruppe von Worten, jene, die scheinbar alltägliche Normalität suggerieren.

Atomraketen sind in »Silos« stationiert. Auf einem Atom-U-Boot vom Typ Trident, bestückt mit 24 Mehrfachsprengkopf-Raketen, heißt jener Teil, in dem die Raketen abschußbereit aufgereiht sind, im Jargon der Mannschaft die »Christbaum-Farm«. In der freundlichen und romantischen Welt der Kernwaffen werden Sprengköpfe zwischen Gegnern »ausgetauscht«, können Waffensysteme »sich vermählen«. Die Vernetzung von Vorwarn- und Reaktionsmechanismen wie auch die psycho-politische Verknüpfung von strategischen mit Gefechtsfeldwaffen werden manchmal »Paarung« genannt. Die bei der Landung von Sprengköpfen bestimmter Raketen entstehenden Muster bilden »Fußstapfen«. Sprengköpfe werden nicht abgeworfen, vielmehr von einem »Bus« »abgeliefert«. Der Name dieser Vorrichtung: MIRVs (Multiple Independent Reentry Vehicles, Raketen mit unabhängig voneinander ins Ziel lenkbaren Mehrfachsprengköpfen), kürzer: »Reentry Vehicles«, noch kürzer: »RVs« – eine Bezeichnung, die nicht nur von der Realität einer Bombe weit entfernt ist, sondern die zugleich Assoziationen weckt von Sport- und Spielgeräten (Recreational Vehicles) beim Familienurlaub.

Solche Ausdrücke aus dem Alltagsleben beinhalten mehr als die bloße Fluchtmöglichkeit vor der gräßlichen, sich hinter den Worten verbergenden Wirklichkeit; zu diesem Zweck reicht in der Regel Abstraktion völlig aus. Das Muster, in dem die Bomben fallen, »Fußstapfen« nennen, erscheint fast als gewollte Verdrehung, als spielerische, perverse Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Denn der Wirklichkeit verpflichtet zu sein, bedeutet die Unfähigkeit, diese Arbeit zu verrichten.

Die durch solche Worte ausgelösten Bilder taugen zudem als Mittel, die unbeherrschbaren nuklearen Vernichtungspotentiale zu zähmen: Man nehme den feuerspeienden Drachen, der die eigene Familie, die Stadt, den Planeten zu zerstören droht, ins Bett und mache ihn zu einem netten Haustier, das man streicheln kann. Alltagsausdrücke können aber auch einfach dafür sorgen, daß sich alle wohler fühlen bei dem, was sie tun. »PAL« (Permissive Action Link, zusätzliches Einsatzglied und engl. Kumpel) ist die sorgsam konstruierte, freundliche Abkürzung für jenes elektronische System, das den unbefugten Abschuß von Atomsprengköpfen verhindern soll. Das jährliche Memorandum des Präsidenten über die Kernwaffenbestände, ein Überblick über die kurz- und langfristigen Planungen zur Produktion neuer Atomwaffen, wird gefällig »der Einkaufszettel« genannt. Zur Beschreibung eines speziellen atomaren Angriffstyps muß gar der »Plätzchenausstecher« (cookie cutter) herhalten.

Die Metaphern, mit denen fühllose Waffen domestiziert und humanisiert werden, können paradoxerweise auch zur Überzeugung verleiten, es sei in Ordnung, über fühlende menschliche Wesen hinwegzusehen. Seine Zeit mit Träumen von Szenarien für den Einsatz der Massenvernichtungstechnologie zu verbringen und Menschen aus dieser Technikwelt auszuschließen, ist vielleicht nur deshalb möglich, weil diese Welt nun das Häusliche und Familiäre, das Warme und Spielerische einschließt – die Christbäume, die Freizeitgeräte und all jene Dinge, die man zärtlich streichelt. Es ist eine gewissermaßen in sich vollkommene Welt: Sie schließt sogar Tod und Verlust ein. Das Problem ist, daß alles, was »getötet« wird, eigenartigerweise Waffen sind, und nicht Menschen. »Tötet« einer der eigenen Sprengköpfe einen anderen aus dem eigenen Arsenal, so ist die Rede vom »Brudermord«. Die besondere Sorge gilt der »Verwundbarkeit« und »Überlebensfähigkeit«, jedoch nicht die der Menschen, sondern die der Waffensysteme.

Männliche Geburt und Schöpfung

Eine andere Gruppe von Metaphern suggeriert das männliche Verlangen nach der Macht der Frau, Leben zu schenken. In Los Alamos hieß die Atombombe »Oppernheimers Baby«, in Lawrence Livermore war die Wasserstoffbombe »Tellers Baby«, obwohl jene, die Tellers Anteil an ihr schmälern wollten, behaupteten, er sei nicht der Vater, sondern die Mutter der Bombe. In diesem Zusammenhang sind vielleicht auch die ungewöhnlichen Namen zu verstehen, die man jenen Bomben gab, die Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche legten: »Little Boy« und »Fat Man«. Diese schlimmstmöglichen Zerstörer waren die männlichen Kinder der Atomwissenschaftler.

In der Tat scheint die ganze Geschichte der Bombe durchtränkt von Metaphern, in denen die überragende technologische Potenz der Menschheit, Natur zu zerstören, mit Schöpferkraft verwechselt wird: Metaphern, die die Zerstörungskraft von Männern in ihre Wiedergeburt verwandeln. Laurence schrieb über den Trinity-Test der ersten Plutonium-Bombe: „Man hatte das Gefühl, man hätte das Vorrecht genossen, bei der Geburt der Welt dabeigewesen zu sein.“ General Bruce K. Hollyway, von 1968 bis 1972 Oberbefehlshaber der Strategic Air Command, sagte 1985 in einem Interview, im Atomkrieg gäbe es „einen großen Knall, wie am Beginn der Welt.“

Das Letzte allerdings, was man in dieser Subkultur des starren Realismus und der Hyperrationalität zu finden erwarten würde, ist der wiederholte Bezug auf Religion. Und doch wurde der erste Atombombentest »Trinity« (Dreifaltigkeit) genannt. Als Robert Oppenheimer ihn sah, dachte er an die Worte, die Krishna in »Bhagavad Gita« zu Arjuna spricht: „Ich bin der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ Wenn Verteidigungsstrategen um Stellungnahmen zu bestimmten Thesen gebeten werden, weichen sie oft in den flüchtig hingeworfenen Satz aus. „Ach, jetzt reden Sie von theologischen Dingen.“ Am erstaunlichsten ist wohl, daß die Schöpfer der strategischen Doktrin von ihresgleichen tatsächlich als von der Gemeinde der »Atompriester« sprechen. Schwer zu sagen, was daran bemerkenswerter ist: Die Arroganz des Anspruches, das stillschweigende Eingeständnis, sie seien wirkliche Dogmenschöpfer, oder die ungewöhnliche implizite Aussage darüber, wer, oder besser, was zum Gott geworden ist.

zu Teil II

Anmerkungen

1 William L. Laurence, Dawn Over Zero: The Study of theAtomic Bomb (London: Museum Press, 1974), P. 198f Zurück

Der vorstehende Beitrag wurde während eines Forschungsaufenthalts von Carol Cohn am Center for Psychological Studies in the Nuclear Age in Cambridge Massachusettes verfasst. Die Analyse erschien zuerst im Bulletin of the Atomic Scientists, June 1987, p. 17-24, eine erweiterte Fassung in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 1987, vol. 12, no. 4. Der Beitrag erscheint in deutscher Fassung in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung nach. Die Übersetzung fertigten Hedda Wagner (Frankfurt) und Sabine Lang (Berlin) an.

NUCLEAR FREE SEAS • die Greenpeace-Kampagne

NUCLEAR FREE SEAS • die Greenpeace-Kampagne

von Greenpeace

Mit einer Aktion gegen den britischen Flugzeugträger »Ark Royal« begann am 5. März dieses Jahres die neue Greenpeace-Kampagne: »Nuclear Free Seas – Atomfreie Meere«. Greenpeace will darauf aufmerksam machen, daß in den letzten Jahren – unbemerkt von der Öffentlichkeit – sich die Strategien und Seestreitkräfte der Supermächte dramatisch verändert haben. Dem gewaltigen Ausbau der maritimen Flotten korrespondiert die Effizienzsteigerung der mittransportierten Atomwaffen. Am gravierendsten hierbei die vermehrte Ausrüstung der Schiffe und U- Boote beider Seiten mit Marschflugkörpern, die sowohl taktisch als auch strategisch eingesetzt werden können. Sie führen dazu, die Unsicherheit des Gegners zu erhöhen. Für besonders gefährlich erachtet <->Greenpeace, daß die Militärs glauben, auf See größeren Spielraum für den Einsatz der Waffen zu haben. “Unter den Planern und den Machern der Seestreitkräfte herrscht der Glaube, eine atomare Konfrontation auf See würde sich nicht zum globalen Schlagaustausch ausweiten. Deshalb ist ein Atomkrieg auf See für sie noch am ehesten »denkbar““.Zu Recht wird festgestellt, daß die Marinestrategien und -waffen noch nie Gegenstand von Rüstungskontrollverhandlungen gewesen sind. Die Kampagne soll dazu beitragen, die Notwendigkeit ihrer Einbeziehung in den Abrüstungsprozeß deutlich zu machen. “ die 1609 vom Völkerrechtler Hugo Grotius postulierte »Freiheit der Meere« ist heute zur Freiheit der Ausbeutung und Militarisierung der Meere verkommen. Greenpeace hat mit seiner neuen Kampagne eine andere Art Freiheit im Sinn: Die Befreiung der Meere von Atomreaktoren und Kernwaffen“. Greenpeace hat zur Unterstützung der Kampagne eine ausführliche Informationsbroschüre herausgegeben. Wir entnahmen die folgenden Abschnitte dieser Publikationen.

Waffen für einen Atomkrieg auf See

Wo immer die Schiffe der Atommächte kreuzen, gleich in welcher Mission, immer haben sie Atomwaffen dabei. Die Atommarinen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas verfügen über insgesamt 16.000 Atomsprengköpfe. Zwei Drittel dieser Atomsprengköpfe sind auf Interkontinentalraketen montiert. Der Rest der Atomwaffen ist für den Seekrieg oder, wie die Strategen sagen, den taktischen Einsatz vorgesehen. Für jeden nur denkbaren Einsatz auf See sind Atomwaffen entwickelt worden. Es gibt nukleare Unterwasserbomben, Atomtorpedos, atomare Schiffsartillerie, atomare Anti-Schiff- und Anti-U-Boot-Raketen, atomare Flugabwehrraketen und zu guter Letzt Atomraketen, um andere Atomraketen abzuschießen (Anti-Raketen-Raketen). Das Neueste und Gefährlichste in den Waffenkammern sind Cruise Missiles (Marschflugkörper), die vom Schiff oder vom U-Boot aus abgefeuert werden können. Diese seegestützten Marschflugkörper tragen den Namen SLCM (Sea launched cruise missile). Die amerikanische Version dieser Gattung heißt »Tomahawk«, die sowjetische SS-NX-21 und SS-NX-24. Die SLCMs sind mit großer Wahrscheinlichkeit diejenigen, die den »Startschuß« zum Dritten Weltkrieg geben werden. Diese Präzisionswaffen können über große Reichweiten auf Ziele an Land abgefeuert werden. Gleichzeitig sind sie klein genug, um auf allen möglichen Schiffs- und U-Boot-Typen eingesetzt zu werden. US-Admiral Stephen Hostettler sagt dazu:„Mit den »Tomahawks« können wir wirklich jedes Kriegsschiff und nicht nur die Flugzeugträgergruppen ausrüsten. So sind wir in der Lage, von jedem Winkel der Erde aus zum Angriff überzugehen … das wird den Sowjets klarmachen, daß ihr Territorium nicht unantastbar ist.“ Auch neue strategische Waffen sind von beiden Seiten entwickelt worden. Von den USA die »Trident II«, die von U-Booten abgefeuert werden kann und zu den SLBMs (Submarine launched ballistic missile – U-Boot gestützte ballistische Rakete) gehört. Das sowjetische Gegenstück zur »Trident II« gibt es auch schon, der Name ist noch unbekannt. Diese neuen strategischen Waffen schüren auf beiden Seiten die Angst vor einem atomaren Erstschlag gegen Kommandozentralen und Raketensilos. Ihre Treffsicherheit und Sprengkraft ist unglaublich hoch. Dadurch vergrößern diese Waffen Spannungen und Instabilität. Diese Einschätzung bestätigte Caspar Weinberger 1987 im amerikanischen Kongreß: „Der Schwerpunkt des Modernisierungsprogramms der Navy liegt auf der Entwicklung von Waffen und Techniken, die es uns ermöglichen, im Falle von Feindseligkeiten auf interkontinentaler Ebene den Erstschlag zu landen.“

Die amerikanische Marinestrategie

Die amerikanische Marinestrategie ist auf einen langwierigen konventionellen Krieg mit der Sowjetunion ausgerichtet. Sie ist offensiv und verlangt deshalb die maritime Überlegenheit der USA. Bevor sich die Regierung unter Reagan diese Strategie zu eigen machte, war die Hauptaufgabe der US-Navy der Truppennachschub nach Europa und der defensive Schutz der Seewege vor sowjetischen U-Booten. Gemäß der neuen Strategie hat sich die Navy nicht passiv oder defensiv zu verhalten: Wenn es zu Feindseligkeiten zwischen den Supermächten kommen sollte, soll die Navy die Initiative ergreifen, d. h. attackieren und vernichten. Diese Strategie ist von der NATO übernommen worden. Der ehemalige Kommandant der NATO-Atlantikflotte, Admiral Wesley Mc Donald, sagt dazu: „Es handelt sich um eine gut durchdachte und schlagkräftige Strategie, die mit unseren Alliierten gemeinsam entwickelt wurde.“ Die drei Hauptaufgaben der Seestrategie, die von den Amerikanern und ihren Alliierten erfüllt werden müssen, sind: Erstens, die noch in sowjetischen Heimatgewässern befindlichen U-Boote zu vernichten, bevor sie das offene Meer erreichen können, zweitens, Bodentruppen und taktische Luftwaffe der Sowjets weltweit zu »fesseln«, um den Konflikt geographisch zu eskalieren und auf diese Weise Truppen und Material aus Europa und dem Mittleren Osten abzuziehen, und drittens, möglichst viele strategische U-Boote zu vernichten. Die US-Navy behauptet, diese Strategie würde die Eskalation vom konventionellen Krieg zum Atomkrieg nicht fördern, sondern verhindern. Kritiker jedoch heben hervor, die drohende Zerstörung strategischer Atomwaffen könnte leicht dazu führen, daß die Sowjets ihre Raketen eher abschießen, um so ihrer Zerstörung zuvorzukommen. Barry Posen, Nuklearstratege, schrieb in der Zeitschrift »International Security«: „Wir leben zur Zeit in der schlechtesten aller Welten. Wir planen konventionelle Operationen, die das Potential zur weiteren Eskalation haben. Aber wir scheinen nicht zu begreifen, welche Folgen ein solches Vorgehen mit sich bringt.“ Schwerpunkte und Details der Seestrategie werden zwar ständig verändert, sie behält aber ihren offensiven Grundcharakter.

Neue Waffensysteme

Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien sind dabei, eine neue Generation von strategischen Waffen zu entwickeln, die von U-Booten aus abgefeuert werden können. Im Dezember 1989 werden die USA und Großbritannien anfangen, ihre Schiffe mit Trident II auszurüsten. Insgesamt etwa 20 U-Boote sollen von den Amerikanern mit 4000 Sprengköpfen bestückt werden. Die Engländer stocken ihr Arsenal von 64 auf rund 500 Sprengköpfe auf. Von der Sowjetunion, die neue strategische Waffen bereits 1983 und 1986 installierte, weiß man, daß sie nun eine eigene Version der Trident II entwickelt. Frankreich hat 1985 seine Boote mit der mit Mehrfachsprengköpfen ausgestatteten M4 bewaffnet und arbeitet an der Entwicklung der M5. Für die strategischen Verbände Frankreichs bedeutet dies eine Versechsfachung der Zahl der Sprengköpfe. Die Sowjetunion führte 1979 mit der SS-N-16 eine U-Boot-Abwehrrakete ein und Anfang der 80er ein neues Atomtorpedo sowie eine nukleare Unterwasserbombe. Für kurze Zeit hinkte die USA dieser Entwicklung hinterher. Die Pläne, die für Anfang der 90er Jahre den Bau einer eigenen Unterwasserbombe, einer atomaren Anti-U-Boot-Rakete und möglicherweise einer atomaren Boden-Luft-Rakete vorsehen, zeigen, daß der Anschluß wiederhergestellt ist. Frankreich will seine seegestützte Luftwaffe mit atomaren Überschallraketen ausrüsten.

Was muß getan werden?

Um die akute Gefahr eines auf den Meeren beginnenden Atomkrieges zu reduzieren und das Wettrüsten auf See anzuhalten, muß die Atommarine zunächst kontrolliert und in eine Politik eingebunden werden, die auf beiden Seiten Vertrauen schafft.

Kurzfristig:

1. Die gefährlichsten und destabilisierendsten seegestützten Atomwaffen müssen beseitigt werden:

Alle Cruise Missiles, die zum Einsatz gegen Landziele vorgesehen sind, wie die amerikanischen Tomahawks und die sowjetischen SS-NX-21 und SS-NX-24. Seegestützte Cruise Missiles mit großer Reichweite haben nur den Zweck, von See aus den Atomkrieg aufs Land zu tragen. Die USA haben bisher rund 150 Tom,ahawks auf See stationiert und planen diese Zahl auf 758 zu erhöhen. Die Sowjetunion ist dabei, ihre entsprechenden Cruise Missiles SS-NX-21 und SS-NX-24 zu stationieren.

Alle U-Boot-gestützten Counterforce-(Gegenschlag-)ballistischen Raketen wie die TridentII und die zukünftigen französischen und sowjetischen Gegenspieler müssen abgeschafft werden. Die USA und Großbritannien möchten die U-Boot-gestützten Trident-II-Raketen ab Dezember 1989 in Dienst stellen. Frankreich entwickelt die M5 und die Sowjetunion testet ein Gegenstück zur Trident II, das auf U-Booten der Delta- und Typhoon- Klasse stationiert werden soll. Diese Waffensysteme erhöhen wegen ihrer größeren Genauigkeit auf beiden Seiten die Furcht vor einem Erstschlag und vergrößern die Instabilität in Krisenzeiten.

Abrüstung aller Atomwaffen zur Kriegsführung auf See.

Die Atommarinen haben eine Vielfalt von Anti-Schiff-, Anti-Flugzeug- und Anti-U-Boot-Atomwaffen, die für den Einsatz bei Seegefechten vorgesehen sind. Diese Waffen reduzieren die Schwelle zum Atomkrieg.

2. Operationsgebiete und Häufigkeit von Manövern der Atommarinen sollten eingeschränkt werden. Dies gilt insbesondere für Manöver in Spannungsgebieten und die Durchfahrt durch nationale Gewässer. Seemanöver sollten vorher angekündigt werden und das »Beschatten« der gegnerischen Flotten reduziert werden.

3. Nicht-Nuklearstaaten sollten sich der Ausdehnung der nuklearen Infrastruktur widersetzen und sich weigern, an den globalen Operationsplänen der Atommarinen teilzuhaben. Diese Staaten sollten die Position des »Weder bestätigen, noch dementieren« der Atommächte in Frage stellen, Hafenbesuche für nukleare Schiffe verbieten, keine Basen und Einrichtungen erlauben, die die Atommarinen unterstützen, und sich weigern, an provokativen Manövern teilzunehmen.

Langfristig:

Die Atommächte müssen über bloße Rüstungskontrolle auf See hinausgehen und zu echter und vollständiger Abrüstung kommen. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen den Frieden auf See garantieren. Immer mehr wächst die Erkenntnis, daß die Menschheit von den Meeren als Nahrungsmittelquelle abhängig ist, sie für Kommunikation und Handel benötigt und daß die Meere nur für friedliche Zwecke genutzt werden sollten. Dies ist in der internationalen Seerechtskonvention bereits festgehalten. Eine wahrhaft internationale Ordnung, die über die Seerechtskonvention und regionale Verträge für atomwaffenfreie Zonen hinausgeht und alle Meere frei von Atomwaffen und atomgetriebenen Schiffen macht, ist nötig. Dies muß natürlich zusammen mit einer generellen atomaren Abrüstung geschehen. Der Versuch, die atomare Abschreckung durch die Stationierung von Atomwaffen in immer neuen Gebieten und durch aggressive und provokative Manöver zu erhöhen, bewirkt gerade das Gegenteil: Diese Strategie wird den Krieg, den man vermeiden wollte, herbeiführen.

Die Greenpeace-Kampagne

Die Aktivitäten der Atommarinen müssen der Öffentlichkeit bewußt werden und Thema öffentlicher Debatten werden, damit es zum »Frieden auf den Meeren« kommt.

Greenpeace will deshalb:

  • die weltweite Präsenz der nuklearen Bedrohung durch die Seestreitkräfte ins Licht der Öffentlichkeit rücken;
  • daß atomare Waffen auf See nicht länger bei Abrüstungsverhandlungen unter den Tisch fallen
  • die »Atomwaffen-Allergie« verbreiten, d. h., Länder dazu bewegen, einen Anti-Atom-Kurs zu steuern und strikt einzuhalten sowie sich dem weltweiten Netzwerk zu entziehen, das Atomkrieg auf See möglich macht;
  • daß die Freiheit der Meere für alle nicht-militärischen Schiffe garantiert ist.

Die Greenpeace-Kampagne für atomfreie Meere soll:

  • Opposition schaffen gegen die Entwicklung, Auslieferung und Stationierung sowie das Testen der gefährlichsten Atomwaffen auf See. Diese sind: Trident II, ihr sowjetisches Gegenstück und die französische M5 sowie US-amerikanische und sowjetische seegestützte Cruise Missiles (Marschflugkörper);
  • militärischen Geheimhaltungsstrategien über die Existenz und Standorte nuklearer Waffen auf See entgegenwirken. Insbesondere bekämpft die Kampagne die Position »Weder bestätigen, noch dementieren« gegenüber Fragen nach nuklearer Bestückung von Schiffen;
  • auf Vorfälle aufmerksam machen, bei denen die Atommarinen die Souveränität von Küstenstaaten in Frage stellen;
  • Widerstand gegen die weltweite Ausdehnung von Basen und Anlagen demonstrieren, die nukleare Flotten und atomare Kriegsführung unterstützen;
  • auf gegenwärtige und mögliche Umweltschäden durch das Wettrüsten auf See aufmerksam machen;
  • mit Aktionen auf hoher See, in Häfen und auf Flottenstützpunkten Atomschiffen Widerstand entgegenstellen.

Force de Frappe – noch abschreckender

Force de Frappe – noch abschreckender

von Johannes M. Becker

Im Juni 1988 wurde in Frankreich die konservative Regierung unter Jacques Chirac nach dessen persönlicher Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und nach der Niederlage der Rechtsparteien bei den darauffolgenden Parlamentswahlen durch eine sozialistische »Öffnungs-„Regierung abgelöst. Mitterrands Premier Michel Rocard berief Jean-Pierre Chevènement zum Verteidigungsminister, der als Sprecher des linken Flügels des Parti Socialiste (PS) lange Zeit Hoffnungsträger der Linken vor allem hierzulande gewesen war – war er doch als einer der Bauherren des Programme Commun von 1972 ein Protagonist der sozialistischen Zusammenarbeit mit dem Parti Communiste Francais (PCF). Kennern der Szene galt Chevènement noch nie als Marxist, „Republikanischer Patriot“ (FAZ v. 5.9.88) charakterisiert ihn wohl am besten.

Chevènement verkündete als eine seiner ersten Amtshandlungen, die Regierung Rocard, die mittelfristig einen Einbruch in die Kreise der Zentristen innerhalb der UDF anstrebte, würde die Militärplanung der vorangegangenen konservativen Regierung für die Jahre 1987 – 1991 weiterverfolgen.

Die Loi de Programmation Militaire 1987 – 19911

Dieses Gesetz, am 10.04.1987 von einer übergroßen Mehrheit, eingeschlossen die Sozialisten und nur gegen die Stimmen der Kommunisten, von der Assemblée Nationale angenommen worden, bedeutete in einem groben Überblick:

  • im Planjahrfünft sollten 474 Milliarden Francs für das Militär ausgegeben werden; nach einer Steigerung um 11,2 % in 1987 sollte der Haushalt in den folgenden vier Jahren um 5,9 bis 6,1 % anwachsen – bei einer Inflation von unter drei % beachtliche Werte;
  • der Militäranteil am französischen Bruttosozialprodukt würde so bei etwa 4 % gehalten;
  • etwa ein Drittel der Militäraufwendungen sollte in den Nuklearbereich investiert werden.

Im einzelnen ragten folgende Faktoren aus der langen Liste der Planung heraus:

  • allein 73 Milliarden Francs waren für die Entwicklung der 96 neuen strategischen U-Boot-Raketen M-5 vorgesehen, 68 Mrd. für die 6 U-Boote der neuen Generation selbst (Die M-5 wird überaus zielgenau sein, und die neue Generation der U-Boote wird äußerst laufruhig und damit schwerer zu orten sein.)2;
  • weitere 45 Mrd. FF waren für den Panzer Leclerc verplant, das Nachfolgemodell des AMX-30, der nach 1992 in 1.100 Exemplaren in die Truppe eingeführt werden soll; 12 Mrd. FF werden zunächst für die Modernisierung des AMX-30 B2 ausgegeben.

Weitere Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben betrafen

  • 30 Mrd. FF für die mindestens 18, u.U. zusätzlich mobilen weiteren ballistischen Raketen S-4 (Nachfolge der strategischen Raketen auf dem Plateau d'Albion; Einführungsjahr in die Truppe: 1995/96),
  • 30,3 Mrd. FF für die 75 Mirage 2.000 N-Bomber als Träger der 300 km reichenden nuklearen (150 Kilotonnen) ASMP-(=Luft-Boden-)Rakete (Staatspräsident Mitterrand weihte am 12.07.88 das erste Geschwader dieses derzeit die alte Mirage IV-Flotte ersetzenden Systems ein),
  • 63 Mrd. FF waren veranschlagt für 225 Mirage 2.000 DA-Jäger (1995),
  • 172 Mrd. FF für Rafale, das taktische Kampfflugzeug, das Frankreich nach dem Fehlschlag des Jäger der 90er Jahre-Projektes allein zu bauen beabsichtigt hatte,
  • der neue Kampfhubschrauber (PAH II), das Kooperationsprojekt mit der Bundesrepublik, sollte für 220 Exemplare 25 Mrd. FF kosten (1997),
  • die »prästrategische« Hadès-Rakete (Nachfolgerin der Pluto) war mit ihren 90 Stück auf 13,6 Mrd. FF veranschlagt (1992),
  • ebenso potentiell in den Bereich der taktischen Atomwaffen fallend standen mit 19 Mrd. FF 500 neue 155 mm-Kanonen zu Buche; mit ihrer Hilfe können theoretisch Neutronenbomben abgefeuert werden. Im besprochenen Rüstungsprogramm heißt es hierzu: „Unsere Streitkräfte müssen mit Neutronenwaffen ausgerüstet werden“.
  • Der militärische Satellit Helios kostete in der Planung 7,5 Mrd. FF (1993),
  • das von den USA georderte AWACS-System mit seinen zunächst 3 Exemplaren 5,75 Mrd.,
  • die 27 See-Patrouillen-Flugzeuge Breguet Atlantique 2 – Nouvelle Génération schlugen mit 26,3 Mrd. FF zu Buche;
  • schließlich wurden 14 Mrd. FF für die 8 avisierten Jagd-U-Boote verplant und 13,9 Mrd. für den neuen nuklearbetriebenen Flugzeugträger Charles de Gaulle (1995), zuzüglich 10 Mrd. für ein eventuelles weiteres Exemplar.3

Politische Hintergründe

Eine politische Analyse dieser gewaltigen Rüstungsvorhaben macht folgendes deutlich:

a) Frankreich ist von den derzeit betriebenen Abrüstungsverhandlungen, aber auch von Zweifeln in die Wirksamkeit seiner strategischen Waffe offenbar unberührt: das Gros der Investitionen geht weiterhin in den atomaren Bereich.

Offensichtlich versuchen Konservative wie Sozialisten, den drohenden Wertverlust für die Force de frappe im Falle einer (auch nur ansatzweisen, d.h. auf kinetischen Waffen beruhenden) Installierung von SDI mit der dazugehörigen sowjetischen Reaktion zu konterkarieren durch einen großzügigen quantitativen wie qualitativen Ausbau der strategischen Bewaffnung.

b) Gleichzeitig setzt Frankreich weiter auf seine »prästrategischen« Waffenarsenale: die Modernisierung der Pluto zur Hadès gehört hierzu ebenso wie die Aufstellung von 5 Geschwadern Mirage 2.000 N, die die noch im Einsatz befindlichen 18 (!) Mirage IV ersetzen werden. Dabei hat jede der ASMP-Sprengladungen die 11-fache Vernichtungskapazität der Hiroshima-Bombe. Die Kombination ASMP/Mirage 2.000 erhält durch ihre Durchdringungsfähigkeit eine besondere Qualität: allein die Überschall-Rakete hat eine Reichweite von 300 km, das Flugzeug hat, ohne aufzutanken, einen Aktionsradius von 1.500 km – die Waffe könnte also, von bundesdeutschem Territorium gestartet oder über diesem aufgetankt, weit in die UdSSR hineinreichen.

c) Frankreich setzt auch unter der neuen PS-Regierung Mitterrands weiter auf die Neutronenwaffe. Dies ist um so weniger verständlich, weil diese klassisch der geschriebenen und in der Öffentlichkeit vertretenen Militärstrategie zuwiderläuft.

d) Ebenso wie der Ausbau der taktischen Nuklearwaffe der gaullistischen Abschreckungsdoktrin im Prinzip widerspricht (die nämlich die Verwicklung Frankreichs in jegliches Gefecht ausschließt), tut dies die aufwendige Modernisierung der Panzertruppen. Zu untersuchen wäre hier, wie groß die politischen Druck-Faktoren von seiten der Rüstungsindustrie waren, wie groß der Druck von seiten des Heeres selbst war, oder aber ob sich die gewaltige Erneuerung (1.100 neue Exemplare!) der Panzerwaffe in die neuere deutsch-französische Diskussion integrieren läßt. Als eine territoriale Sicherungstruppe jedenfalls ist das Heer um die Mitte der 90er Jahre nicht mehr anzusehen.

e) Der Einstieg Frankreichs in die Produktion chemischer Waffen, begründet mit entsprechenden Arsenalen vor allem der Sowjetunion, widerspricht ebenso der Doktrin der V. Republik.

f) Die Flugzeugträgerplanungen verdeutlichen den Willen Frankreichs, in aller Welt präsent zu sein. Die Aufstellung der Force d'Action Rapide (FAR) hatte dies bereits seit 1985 unter Charles Hernu eingeleitet.

g) Zum letzten wird eines der Grundprobleme der französischen Militärplanung ansatzweise gelöst, die Abhängigkeit von der NATO und den USA betreffend die Luftaufklärung (durch AWACS) und betreffend die Kommunikation der Leitstellen mit der Force de frappe (Helios). Hier verfügt Frankreich mit dem allerdings noch unvollständigen Fernmeldesatelliten-System Syracus bereits über Ansätze.

Zur Lage der Rüstungsindustrie

Die Lage der Rüstungsindustrie ist weiterhin prekär: die Auftragsbücher der großen Unternehmen vor allem der Flugzeug- und Fahrzeugindustrie (Panzer etc.) blieben 1986 und 1987 im Gegensatz zu den davorliegenden profitablen Jahren leer. Die Raumfahrtindustrie dagegen weist Vollbeschäftigung und Vollauslastung aus.

Ende Juni 1988 (le Monde vom 19./20.06. und 02.07.1988) bot Minister Chevènement Spanien und Belgien die Partizipation am Jäger Rafale an. Hintergrund im letzteren Falle ist: Belgien sucht ein Nachfolgemodell für die veralteten Mirage V, und Frankreich befindet sich in Konkurrenz zu den USA (Falcon 16) und dem EFA, den European Fighter Aircraft, also dem Euro-Jäger der 90er Jahre.

Im Falle Spaniens ist die Lage delikater: die Regierung Gonzalez hat bis heute nicht den Kooperationsvertrag des Jäger 90 unterzeichnet – offenbar rechnen sich Frankreichs Unterhändler Chancen aus, Spanien aus der Kooperations-Gruppe Großbritannien, BRD und Italien herauszubrechen.

Bereits mehrfach im übrigen, was mit diesem Konkurrenz-Akt nicht kollidieren muß, haben die Vertreter der großen französischen Firmen ein "EUREKA-militaire" angeregt, eine stärkere Kooperation der Rüstungskapitale in Westeuropa (der Markt, s.o., wird enger, die Konkurrenz stärker).4

Den Druck andererseits der Generalität bekam Frankreichs Rüstungsindustrie Ende Mai erneut zu spüren. Der Marine-Generalstab verbreitete (le Monde vom 27.06.1988) zum wiederholten Male Überlegungen, für eine gewisse Übergangsfrist (wenn die Crusader-Maschinen auf den Flugzeugträgern Foch und Clemenceau ab 1993 überaltert sind) von den USA etwa 20 F-18-Maschinen zu kaufen; das französische Rafale-Modell wird frühestens 1996, realistischerweise nicht vor 1998, erwartet. Hintergrund der Marine-Überlegungen ist auch die Preis-Frage: Rafale ist mit einem Systempreis von 320 bis 350 Millionen Francs (etwa 100 Mio. DM) veranschlagt – die F-18 soll »lediglich« 180 Millionen Francs kosten. Eine Stellungnahme des neuen Ministers steht noch aus.

Das (voraussichtlich zumindest vorübergehende) Ende des iranisch-irakischen Krieges verursachte bei den großen Rüstungskonzernen Unruhe: Paris hatte an beide Kriegsteilnehmer Waffen geliefert, an den Irak gar etwa 30 Prozent dessen »Bedarfes«. Jacques Isnard, der militärpolitische Spezialist des Monde, beruhigte die Industrie (am 26.07.1988): beide Länder würden schon weiter Waffen kaufen, allein um ihre Arsenale zu modernisieren; Geld würden sie ja wieder haben, fließe erst einmal das Öl wieder. Isnard entschuldigte Frankreich gleichsam: das Interesse des Irak, von seiner Waffen-Lieferungs-Abhängigkeit von Moskau loszukommen, habe Frankreichs Position begünstigt.

In derselben Ausgabe meldete das Blatt einen Wiederanstieg der Waffenbestellungen: Aufträgen im Werte von 12 Milliarden Francs im ersten Halbjahr 1987 würden solche für 20 Milliarden im laufenden 1988 gegenüberstehen. (In ganz 1987 waren nur Aufträge in Höhe von 25 Mrd. FF ins Land gekommen.)

Europa-Politik und deutsch-französische Beziehungen

„La France, promesse d'une Europe de la défense“ war das erste größere Monde-Interview mit Minister Chevènement (14.07.1988) überschrieben. Hier hob er die Europa-Politik und insbesondere das deutsch-französische Verhältnis5 hervor: „Frankreich entwirft seine Zukunft mit Europa und vor allem mit der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen mit ihr zusammen eine wirkliche »Schicksalsgemeinschaft« errichten. Es ist offensichtlich, daß unser Sicherheitsraum nicht erst am Rhein beginnt.“

Der Minister verwies auf die Differenzen in den Strategien zwischen Frankreich und der NATO und vertrat die Abschreckungsstrategie seines Landes wie folgt: „Wir glauben, daß nur eine nukleare strategische Abschreckung für Europa vorstellbar ist. Nichts darf gesagt oder getan werden, das den Gedanken aufkommen ließe, eine Schlacht, deren Auswirkungen auch dann verheerend wären, wenn sie mit modernen konventionellen Waffen geführt würde, im Rahmen einer von unseren amerikanischen Freunden so genannten »selektiven Abschreckung«, wäre auf dem europäischen Schauplatz akzeptabel.“ Sehr wohl erklärte er beide Strategien, „da sich das Gleichgewicht der Sicherheit in Europa zu ändern beginnt“, für vereinbar.

Frankreich und die Abrüstung

Offenbar hat die neue Regierung nicht die Absicht, an der bisher zurückhaltenden Abrüstungspolitik der vorangegangenen Mitterrand-Administrationen etwas zu ändern.

Frankreich forcierte als deutlichstes Zeichen hierfür seine Nuklearversuche. Paris, so Außenminister Dumas am 02. Juni vor der UNO (le Monde vom 04.06.1988), fühle sich von den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen nicht tangiert, und es werde auch seine Atomversuche wie die Modernisierung seiner Waffenarsenale nicht aufgeben. Die Supermächte seien in Quantität wie Qualität der Nuklearbewaffnung vom französischen Niveau so weit entfernt, daß man zunächst große Vorleistungen in Moskau und Washington erbringen müsse. In gleicher Weise äußerte sich Minister Chevènement (le Monde vom 01.06. und FAZ vom 18.06.1988). Dumas machte vor der UNO ein geradezu provozierendes Angebot an die Anrainerstaaten von Frankreichs Nukleartestzentrum Mururoa: man werde in Zukunft umfassend über die Testexplosionen informieren …

Nicht abzusehen ist bislang, ob Frankreich seine Haltung bei bspw. den Folgeverhandlungen von MBFR ändert. Skepsis ist allenthalben angebracht: die FAZ berichtete (am 18.06.1988) von der Weigerung Frankreichs, bei den zukünftigen Verhandlungen über konventionelle Stabilität zwischen Atlantik und Ural (KRK) Waffensysteme einbeziehen zu lassen, die sowohl konventionell als auch nuklear zu bestücken seien (dual capable systems).

Zu den neuen Vorschlägen der Warschauer Vertragsstaaten von Mitte Juli 1988 äußerte sich Staatspräsident Mitterrand sehr positiv (le Monde vom 16.07.1988), äußerte sich Premier Rocard in Bonn (FAZ vom 19.07.1988) „positiv vorsichtig“. Rocard kündigte bei seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik an, man werde die deutsch-französische Kooperation auf allen Gebieten, eingeschlossen die Sicherheitspolitik, weiter intensivieren.6

Anmerkungen

1 Der Fünfjahresplan ist ausführlich dargestellt worden in: The Military Five-Year-Plan 1987 – 1991, Paris (als Beilage der Zeitschrift Armées d'Aujourd'hui) 1987. Zurück

2 Frankreich baut bekanntlich bis zur Mitte der 90er Jahre seine U-Boot-Flotte, die, atomar bewaffnet, das Herzstück der Force de frappe bildet, durch die Inbetriebnahme neuer Boote und die Modernisierung, vor allem die MIRVung, der Sprengköpfe erheblich aus: 1981 verfügte die U-Boot-Flotte über 80 atomare Sprengköpfe, Mitte der 90er Jahre wird sie 496 umfassen. Zurück

3 Ich habe mich hier auf die größten Posten beschränkt; weitere Angaben finden sich neben der o.a. Schrift in le Monde v. 10.04. und den folgenden Ausgaben. Zurück

4 Derzeit wird u.a. ein erbitterter Streit ausgefochten zwischen der US-Firma Bell-Textron und der französischen Aérospatiale um einen brasilianischen Helikopter-Auftrag (52 Exemplare) im Wert von ca 1,5 Mrd. FF, etwa 0,5 Milliarden DM. (le Monde v. 28.06.1988) Zurück

5 Es handelt sich im wesentlichen um Flugzeuge, im Falle Frankreichs um die Mirage III, und Artillerie, um die Pluto/Hadès. Zurück

6 In diesem Zusammenhang verweise ich auf meinen Beitrag deutsch-französische Liaison im Infodienst 4/1987. Zurück

Johannes M. Becker, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler in Marburg und Geschäftsführer der dortigen universitären Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung.

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

von Uwe Reichert

Seit November 1987 sitzen amerikanische und sowjetische Unterhändler in Genf an einem Tisch, um über Kernwaffentests zu verhandeln. Diese als Nuclear Testing Talks (NTT) bezeichneten Verhandlungen haben ein erstes Ergebnis erbracht: ein Abkommen über die Durchführung gemeinsamer Nukleartests für Verifizierungszwecke, das während des Moskauer Gipfeltreffens von Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai dieses Jahres unterzeichnet wurde.

Bereits von Juli 1986 bis Juli 1987 hatte es in Genf Gespräche zwischen den USA und der UdSSR gegeben, bei denen während insgesamt sechs Gesprächsrunden der gesamte Themenkomplex von Kernwaffentests durchdiskutiert wurde. Im Gegensatz zu den jetzigen Verhandlungen hatten die Unterhändler damals jedoch kein Mandat gehabt, ein Abkommen auszuhandeln; die Gespräche dienten lediglich dem Zweck, die eigene Position darzulegen und die Position der Gegenseite anzuhören. Die Nuclear Testing Talks dagegen sind formelle Verhandlungen, die auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sind. Eines vorneweg: die NTT sind keine Verhandlungen über einen umfassenden Kernwaffenteststopp. Sie sind daher auch keine Fortsetzung der 1981 unterbrochenen Teststoppverhandlungen, die unter Carter und Breshnjew recht ansehnliche Fortschritte erbracht hatten. Sie sind dagegen primär auf die Anwendung von Verifikationsmaßnahmen ausgerichtet, mit denen die Einhaltung des Testschwellenvertrages (TTBT) und des Vertrages über die friedliche Nutzung von Nuklearexplosionen (PNET) überwacht werden soll.

Die Position der Vereinigten Staaten

Sowohl der TTBT als auch der PNET sind von den USA zwar unterzeichnet, aber nicht verifiziert worden. Die Zusatzprotokolle zu den Verträgen enthalten Regelungen über die anzuwendenden Verifizierungsmethoden und über einen Austausch von Testdaten, die die Überwachung der Einhaltung der Vertragsbestimmungen erleichtern sollen. Dieser Datenaustausch fand aber wegen der Nichtratifizierung nicht statt. Nach Ansicht der gegenwärtigen US-Regierung reichen die in den Zusatzprotokollen beider Verträge vereinbarten Verifikationsmaßnahmen nicht aus. Sie stützt sich dabei unter anderem auf den Vorwurf, die Sowjetunion hätte in der Vergangenheit den TTBT „wahrscheinlich verletzt“, indem die in diesem Vertrag festgelegte 150-Kilotonnen-Schwelle überschritten wurde. Die US-Regierung möchte daher vor einer Ratifizierung eine Einigung mit den Sowjets über weitergehende Verifikationsmaßnahmen erzielen und neue Protokolle verhandeln. Dies soll in der ersten Etappe der NTT-Verhandlungen geschehen. Nach erfolgter Ratifizierung des TTBT und des PNET sollen nach den Worten der amerikanischen Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung (ACDA) weitere mittelfristige Begrenzungen von Kernwaffentests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses verhandelt werden. Unter anderem soll dieser Prozeß als vorrangige Priorität die Reduzierung von Nuklearwaffen und ihre letztendliche Beseitigung zum Ziel haben. Bei zukünftigen Abkommen über die Begrenzung von Kernwaffentests sollen die erweiterten Verifizierungsmaßnahmen, die zuvor bei einem gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE) erprobt wurden, „in geeignetem Rahmen“ Anwendung finden.

Das CORRTEX- System

Mittelpunkt der von den USA vorgeschlagenen Verifizierungsmaßnahmen ist ein hydrodynamisches Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke eines unterirdisch gezündeten Kernsprengsatzes, das unter dem Namen CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment) bekannt ist. Hydrodynamische Verfahren zur Ladungsstärkebestimmung nutzen die Tatsache aus, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront, die bei der Detonation eines Kernsprengsatzes entsteht, von der Ladungsstärke abhängt (weitere Parameter, die in die Beziehung zwischen beiden Größen eingehen, hängen von den physikalischen Eigenschaften des Gesteins in der Nähe des Explosionszentrums ab). Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront kann zum Beispiel bestimmt werden, indem man ein Koaxialkabel vom zu testenden Kernsprengsatz ausgehend senkrecht nach oben verlegt und dessen Längenänderung mißt, wenn es durch die Schockwellenfront zerbrochen wird. Diese Lagenänderung des Kabels kann auf verschiedene Weise gemessen werden. CORRTEX benutzt dazu kurze elektrische Impulse, die von einem elektronischen Gerät im Abstand von 10 bis 50 Millisekunden in das obere Ende des Kabels eingespeist werden. Ein Teil der Impulse wird am unteren Ende des Kabels reflektiert und vom Gerät registriert. Durch die Messung der Laufzeit aufeinanderfolgender Impulse für Hin- und Rückweg läßt sich so die Länge des Kabels und damit auch die Position der Schockwellenfront in Abhängigkeit von der Zeit bestimmen. Aus der Laufzeitmessung der Impulse und der Anwendung theoretischer Modelle ergibt sich so die gesuchte Ladungsstärke. Am sinnvollsten und einfachsten ist es, das CORRTEX-Kabel direkt in dem Schacht zu verlegen, in dem sich der zu testende Kernsprengsatz befindet. Soll jedoch eine andere als die den Nukleartest durchführende Nation die Einhaltung des Testschwellenvertrages durch die Anwendung des CORRTEX- Systems (oder des äquivalenten sowjetischen MIS- Systems) überprüfen, könnte sie auf diese Weise Informationen über den Kernsprengsatz gewinnen, die möglicherweise Aufschluß über dessen Aufbau und Effektivität geben. Aus diesem Grunde ist für Verifizierungszwecke – sollte es je zu einem routinemäßigem Einsatz dieser Systeme kommen – der Gebrauch eines sogenannten Satellitenschachts vorgesehen, der parallel zu dem Hauptschacht in einem Abstand von etwa zehn Metern zu bohren ist.

Das JVE-Experiment

In dem Ende Mai unterzeichneten Abkommen über die Durchführung eines gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE) hatten sich die USA und die UdSSR darauf verständigt, auf jedem ihrer Testgebiete einen Nuklearversuch durchzuführen, dessen Ladungsstärke gemeinsam durch hydrodynamische Verfahren gemessen wird. Die beiden Versuche haben in der Zwischenzeit stattgefunden: am 14. August detonierte in der Pahute Mesa auf dem Nevada-Testgelände der erste amerikanische Kernsprengsatz, bei dem sowjetische Beobachter zugegen waren. Am 17. September folgte die Zündung des sowjetischen Kernsprengsatzes auf dem Semipalatinsk-Testgelände unter Anwesenheit amerikanischer Wissenschaftler. Die Einzelheiten der Durchführung der beiden Verifizierungsexperimente wurden durch einen knapp über 100 Seiten zusammenfassenden Anhang zum JVE-Abkommen geregelt. Alle Vereinbarungen, soweit sie nicht spezifische Unterschiede der amerikanischen und sowjetischen Meßsysteme betrafen, waren streng symmetrisch ausgelegt. Die geplante Ladungsstärke der beiden Kernsprengsätze sollte im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen liegen. Bei jedem der beiden Nuklearversuche wurden die hydrodynamischen Messungen von amerikanischer und sowjetischer Seite sowohl im Hauptschacht als auch in einem Satellitenschacht vorgenommen (das Abkommen enthält eine Klausel, die der Beobachterseite die Durchführung der Messungen im Hauptschacht als Referenzmessung nur für das JVE-Experiment erlaubt; sollten die Meßverfahren bei künftigen Nukleartests zum Einsatz kommen, wären die Messungen nur in einem Satellitenschacht möglich). Vor der Durchführung der beiden Nuklearexplosionen tauschten beide Seiten eine Reihe von Informationen über die Tests und die Testgebiete aus, die für die Auswertung der Meßdaten unbedingt nötig sind, so zum Beispiel die Tiefe, in der die Detonation stattfand, und verschiedene geologische und geophysikalische Daten des jeweiligen Testgebietes. Ebenfalls ausgetauscht wurden die entsprechenden Daten von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Kernwaffentests, die in dem Zeitraum von Anfang 1978 bis Ende 1987 durchgeführt worden waren (dieser Datenaustausch erfüllt gleichzeitig die Vereinbarungen des Zusatzprotokolls des TTBT aus dem Jahre 1974). Ergänzt wurde der Datenaustausch durch die Seismogramme dieser zehn Kernwaffentests, die von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Meßstationen aufgenommen worden waren. Diese Daten sollen zusammen mit den seismischen Registrierungen der beiden JVE- Explosionen dazu dienen, das seismische Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke anhand der hydrodynamischen Messungen zu kalibrieren. In diesem Punkt kommt dem JVE die größte Bedeutung zu, denn mit der Ankopplung des seismischen Verfahrens zur Ladungsstärkebestimmung an das hydrodynamische Verfahren könnte es jetzt gelingen zu klären, ob die USA Recht haben mit ihrem Vorwurf, die UdSSR hätte in der Vergangenheit die Testschwelle von 150 kt überschritten. Ursache des Streits ist die Tatsache, daß aufgrund von Unterschieden im geologischen Aufbau der amerikanischen und sowjetischen Testgebiete Nuklearexplosionen gleicher Ladungsstärke verschieden große seismische Signale hervorrufen. Überträgt man die Daten, die anhand der Tests in Nevada genommen wurden, auf das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk, so wie es verschiedene US-Behörden jahrelang getan haben, so führt dies zu einer Überschätzung der Ladungsstärke sowjetischer Tests. Unabhängige Seismologen hatten schon Anfang der siebziger Jahre auf diese Tatsache hingewiesen und einen aus Erdbebenmessungen abgeleiteten Korrekturfaktor eingeführt, der zu einer realistischen Bestimmung der Ladungsstärke sowjetischer Nukleartests führte. Zieht man zur seismischen Bestimmung der Ladungsstärke die Registrierungen verschiedener Wellentypen (Raumwellen, Oberflächenwellen, Lg-Wellen) heran, so beträgt der Meßfehler nach Ansicht führender Seismologen etwa 50 Prozent. Demgegenüber wird von der US-Regierung die Genauigkeit von CORRTEX-Messungen im Hauptschacht mit 15 Prozent, bei Messungen im Satellitenschacht mit 30 Prozent angegeben. Die bei den JVE-Experimenten durchgeführten CORRTEX-Messungen im Hauptschacht können daher recht gut als Kalibrierung des seismischen Verfahrens dienen. Sollte CORRTEX bei künftigen Nukleartests dagegen nur in einem Satellitenschacht eingesetzt werden, dann wäre, so meinen Kritiker, die Unterschiede der beiden Verfahren vernachlässigbar gering, so daß der hohe Aufwand von CORRTEX (hohe Kosten, lange Vorbereitungszeit von 3 – 4 Monaten, Anwesenheit fremder Beobachter auf dem Testgebiet) eigentlich nicht zu rechtfertigen sei. Die US-Regierung sieht die Genauigkeit hydrodynamischer Messungen eher in der Gegend von 100 Prozent; sie möchte daher den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX bei allen Kernwaffentests mit einer geplanten Ladungsstärke von mehr als 50 kt vorsehen. Die Sowjetunion favorisiert dagegen seismische Messungen. Bei den NTT- Verhandlungen ist die endgültige Einigung auf künftig anzuwendende Verifikationsmaßnahmen und die Ausarbeitung eines neuen Zusatzprotokolls für den TTBT auf Drängen der Sowjets auf die Zeit nach der Auswertung der beiden JVE-Experimente vertagt worden. Man darf also gespannt sein, wie die Ergebnisse des JVE-Experiments aussehen und ob es wirklich zu einer Ratifizierung des TTBT und des PNET kommen wird.

Chronologie

17.09.87 Die USA und die UdSSR geben in einer gemeinsamen Erklärung bekannt, daß sie sich auf die Aufnahme umfassender, schrittweiser Verhandlungen über Kernwaffentests vor dem 1. Dezember 1987 geeinigt haben.

9. – 20.11.87 Erste Runde formeller, schrittweiser Verhandlungen der USA und der UdSSR über Kernwaffentests in Genf (Nuclear Testing Talks, NTT).

9.12.87 Beim Washingtoner Gipfeltreffen geben die beiden Außenminister Shultz und Schewardnadse bekannt, daß ein gemeinsames Verifizierungsexperiment durchgeführt werden soll.

8. – 15.01.88 Nukleartest-Experten der USA besuchen das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk.

24. – 30.01.88 Gegenbesuch sowjetischer Experten auf dem US-Testgelände in Nevada.

15.02. – 28.06.88 Zweite Runde der NTT in Genf.

9.03.88 Die US-Delegation legt in Genf den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor, der den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

18.03.88 Die sowjetische Delegation legt ihrerseits den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor.

31.03.88 Die US- Delegation legt den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Vertrag über die friedliche Nutzung von Kernexplosionen (PNET) vor, der ebenfalls den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

April 88 Bohren der für die hydrodynamischen Experimente benötigten Satellitenschächte in den Testgebieten.

24.05.88 Die UdSSR legt ihren Entwurf des Verifizierungsprotokolls für den PNET vor.

31.05.88 Die Außenminister Shultz und Schewardnadse unterzeichnen während des Moskauer Gipfeltreffens ein Abkommen über das gemeinsame Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE).

28.06.88 Die USA und die UdSSR tauschen Daten über die Stärke von je fünf früheren Kernwaffentests im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen aus. Der Datenaustausch beinhaltet auch seismische Registrierungen dieser Tests und Angaben über die geophysikalische Beschaffenheit der Testorte.

17.08.88 Nukleartest in Nevada unter Beteiligung sowjetischer Experten

29.08.88 Beginn der 3. Runde der NTT

14.09.88 Nukleartest in Semipalatinsk unter Beteiligung amerikanischer Experten.

Quelle: ACDA, Arms Control Reporter

Dr. Uwe Reichert, Interdisziplinäre Forschungsgruppe zu naturwissenschaftlich-technischen Aspekten der Sicherheitspolitik an der TH Darmstadt

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

Ruhr Universität Bochum 14.09.1988

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

von Redaktion

Fernüberwachung als wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Erneut gemeinsameramerikanisch-sowjetischer Atombombentest

Pünktlich acht Minuten nach der unterirdischen Zündung der Bombe in der asiatischenSowjetrepublik Kasachstan erreichten heute früh die seismischen Wellen das Ruhrgebiet undwurden vom Erdbebennetz der Ruhr-Universität Bochum erfaßt. Im Vergleich zuramerikanischen Sprengung am 17. August erzeugte die russische Kernexplosion wesentlichdeutlichere Ausschläge aller Seismographen des Bochumer Netzes, die nicht nur auf demGelände der Ruhr-Universität installiert sind, sondern auch an unterirdischenMeßplätzen im Raum Hamm (ca. 900 m unter NN) und im Raum Moers (ca. 600 m unter NN). Ausdiesen Aufzeichnungen kann man abschätzen, daß die Explosion eine Stärke von 100 – 150Kilotonnen hatte. Die genaue Ladungsstärke soll später im Rahmen des Datenaustauscheszwischen den Supermächten publiziert werden. Für die Seismologen in aller Welt, derenInstrumente beide Explosionen registrierten, ergibt sich damit die Möglichkeit, ihreAufzeichnungen zu vergleichen, um zukünftig die Ladungsstärken derartiger Explosionenbesser abschätzen zu können: Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer weiterenVerringerung und letztlich der völligen Abschaffung atomarer Bombentests.

Die Bochumer Messungen am frühen Morgen (4.00 Uhr Weltzeit, 6.00 Uhr MEZ) beweisenerneut: Atomtests sind auch durch Fernmessungen kontrollierbar. Bereits am 17. Augusthatte Prof. Dr. Hans-Peter Harjes, Geophysiker an der Fakultät für Geowissenschaften derRuhr-Universität Bochum, die von amerikanischen und sowjetischen Technikern gemeinsamdurchgeführte unterirdische Atomwaffenexplosion aufgezeichnet, mit der die Einhaltung vonObergrenzen für die Stärke unterirdischer Kernwaffentests gegenseitig zuverlässigüberwacht werden soll. Die Kernexplosion in Semipalatinsk ist – nach der in Nevada– der zweite Test, den die Experten beider Mächte nach dem »GemeinsamenVerifikations-Experiment«-Vertrag (JVE) zwischen US-Außenminister Shultz und seinemsowjetischen Kollegen Schewardnadse vom April 1988 durchgeführt haben. Zwischen beidenLändern war vereinbart worden, die Möglichkeiten zur Überwachung von“Test-Schwellenabkommen« effektiv zu erkunden. Die Geophysiker um Prof. Harjes an derRuhr-Universität haben durch ihre Forschungen maßgeblich dazu beigetragen, das Know-howund die technischen Möglichkeiten zur Fernerfassung von unterirdischen Tests zuerarbeiten.

Prof. Harjes diente auch diese Kernexplosion als Eichexperiment, das Daten fürzukünftige Überwachungsaufgaben liefern soll. In Ergänzung zu den lokalenhydrodynamischen Meßmethoden amerikanischer und sowjetischer Techniker schlägt er dieFernüberwachung von Atomteststopp-Verträgen vor. Sie ist nach seiner Meinung nicht nurtechnisch möglich, sondern auch eine besonders vertrauensbildende Maßnahme. Alsseismologischer Experte ist der Bochumer Geophysiker Harjes seit 1976 Berater derBundesregierung bei den Genfer Abrüstungsgesprächen. In dieser Eigenschaft hatte erbereits 1986 dem Internationalen Friedensforscher Kongreß zum Thema »Ways out of theArms Race« ein Memorandum mit dem Titel „The Verification of a Comprehensive TestBan“ vorgelegt. Dieser Vorschlag wurde in die Genfer Abrüstungsgesprächeeingebracht. Darin skizziert Harjes ein Überwachungssystem für Teststoppabkommen durchein weltumspannendes Netz seismischer Beobachtungszentren. Dieses sollte aus etwa 50 bis100 über die ganze Welt verteilten sogenannten »Arrays« bestehen, die einheitlich mitden modernsten Instrumenten ausgestattet sein müßten. Arrays sind mehrere, zentralzusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern.

Nach Aussage von Prof. Harjes ist der Vorteil eines solchen Netzes gegenüber denlokalen hydrodynamischen Erfassungsmethoden der Sowjets und der Amerikaner die flexibleMeßgenauigkeit. Während z.B. »Corrtex«, das hydrodynamische Meßgerät der Amerikaner,direkt vor Ort installiert und hauptsächlich für Explosionen um 150 Kilotonnen verwendetwird, gelingt einem teleseismologischen Netz bereits der Nachweis unterirdisch gezündeternuklearer Ladungen bis hinab zu zehn Kilotonnen TNT.

Ein solches Netz basiert auf Erfahrungen von Erdbebenmessungen. Atomexplosionenerzeugen Erdstöße ähnlich denen von Erdbeben, wobei Seismologen heute genauunterscheiden können, ob es sich um ein Erdbeben oder um eine unterirdische Atomexplosionhandelt. Im Unterschied zu Erdbeben, bei denen das Gestein auf einer ebenen Fläche vongelegentlich mehreren Kilometern bricht, wirkt der Überdruck von Atomexplosionengleichstark in alle Richtungen, so daß man in diesen Fällen von »punktförmigenQuellen« spricht. Die charakteristischen Ausschläge von Erdbeben und Kernexplosionenlassen sich daher im seismologischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.Auch die Stärke einer Sprengung können seismologische Experten nach den registriertenAusschlägen abschätzen. Selbst getarnte Versuche sind durch sie richtig erfaßbar, weilden Geologen genaue Informationen über Gesteinsarten und ihre Verteilung in der Weltvorliegen und weil ihnen die infrage kommenden Orte bekannt sind, wo die Zündungunterirdischer Atomtests möglich ist.

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

von Uwe Reichert

Um den Reportern „etwas zum Beißen zu geben“ – so der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums Gerassimow – wurde am 18. September im Anschluß an das Treffen der Außenminister Shultz und Schewardnadse, das die „prinzipielle“ Einigung über einen INF-Vertrag brachte, die Aufnahme von Verhandlungen über einen atomaren Teststopp angekündigt. Voraussichtlich Anfang Dezember sollen diese Verhandlungen beginnen. Es wäre das erste Mal seit sieben Jahren, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion formell über die Einstellung von Kernwaffentests verhandeln.1 Die damaligen Verhandlungen, die unter Carter und Breshnjew bemerkenswerte Fortschritte gebracht hatten, waren nach der Wahl Reagans zum Präsidenten auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Im Juli 1982 hatte die Reagan-Administration offiziell erklärt, die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen zu wollen.

Das veränderte Klima in den Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, das dem Streben nach weiteren Rüstungskontrollvereinbarungen geprägt zu sein scheint, läßt hoffen. Sollte es denn wirklich nach über vierzig Jahren – in denen die Kernwaffenstaaten zusammengenommen knapp 1700 nukleare Explosionen mit einer Gesamtsprengkraft von schätzungsweise 700 Megatonnen (!) durchgeführt haben – endlich zum Abschluß eines Teststoppvertrages kommen?

Es ist zu hoffen, daß die Bereitschaft der USA, Verhandlungen über einen Teststopp aufzunehmen, mehr ist als eine einlenkende Geste im Vorfeld eines neuen Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow. Hoffnungen können aber allzu leicht an den politischen Gegebenheiten scheitern. Vertreter der jetzigen amerikanischen Regierung haben bisher stets erklärt, daß umfassender Kernwaffenteststopp zwar ein langfristiges Ziel der US-Politik bleibe, gegenwärtig aber nicht im Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten liege. So heißt es zum Beispiel: „Ein umfassender Teststopp bleibt ein langfristiges Ziel der Vereinigten Staaten. Solange aber die Vereinigten Staaten und ihre Freunde und Alliierte sich zur Abschreckung eines Angriffs auf Kernwaffen stützen müssen, wird ein gewisses Maß an Kernwaffentests erforderlich sein. Wir glauben, daß ein solcher Teststopp im Zusammenhang mit einer Zeit gesehen werden muß, in der wir nicht auf nukleare Abschreckung angewiesen sind, um die internationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, und wenn wir weitreichende, tiefgreifende und überprüfbare Reduzierungen von Waffensystemen, erheblich verbesserte Verifikationsfähigkeiten, erweiterte vertrauensbildende Maßnahmen und ein größeres Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte erreicht haben.“2 Und weiter: „Ein sorgfältig strukturiertes nukleares Testprogramm ist notwendig, um zu garantieren, daß unsere Waffen sicher, effektiv, zuverlässig und überlebensfähig sind.“3 Mit anderen Worten heißt dies, daß mit dem Abschluß eines Vertrags über einen umfassenden Teststopp vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag nicht zu rechnen ist.

Der Standpunkt der USA ist das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses, an dem Vertreter der Regierung, der Waffenlabors und des Energie- und des Verteidigungsministeriums beteiligt waren. Der Einfluß der Waffenlabors, die an einer Einstellung der Kernwaffenversuche kaum interessiert sind, ist dabei nicht zu übersehen.

Ein ganz wesentlicher Grund für die Ablehnung eines Teststopps sind die laufenden Entwicklungsarbeiten an einer neuen Generation von Kernwaffen, der sogenannten dritten Generation, die ohne nukleare Versuchsexplosionen nicht möglich wären. Am bekanntesten ist wohl der Röntgenlaser, für dessen Erprobung bereits mehrere Nukleartests durchgeführt wurden.4 Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Konzepte für solche hochentwickelten Kernwaffen, die sich qualitativ erheblich von den bisher existierenden Kernwaffen unterscheiden würden.5 So wird von dem Test „Hazebrook“ den die USA am 3. Februar 1987 durchführten – berichtet, daß er zur Entwicklung einer Kernwaffe diente, die Geschosse mit der hundertfachen Geschwindigkeit von Gewehrkugeln erzeugen soll.6 Eine solche Waffe wäre ein äußerst wirkungsvolles Instrument, um Objekte im Weltraum zu zerstören.

Da die Kernwaffen der dritten Generation zum Teil auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, ist ihre Entwicklung allein aufgrund theoretischer Überlegungen und Computersimulationen nicht möglich, sondern nur mit Hilfe von nuklearen Tests, mit denen experimentelle Daten gewonnen werden können. Amerikanische Waffenexperten sind sich darüber einig – auch wenn dies nicht immer öffentlich geäußert wird -, daß allein zur Entwicklung des Röntgenlasers bis weit in die neunziger Jahre hinein Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von nuklearen Tests nötig sein werden.

Ein umfassender Kernwaffenteststopp wäre damit ein sicheres Mittel, diesen qualitativen Sprung in der Kernwaffentechnologie zu verhindern und die Büchse der Pandora geschlossen zu halten. Solange die USA aber nicht bereit sind, zumindest auf die nukleare Komponente ihres SDI-Projekts zu verzichten, werden sie wohl kaum bereit sein, einem umfassenden Verbot von Nukleartests zuzustimmen. Hier müßten sich die USA aber ernsthaft fragen lassen, ob es ihnen wichtiger ist, über solche hochentwickelten Kernwaben, die zu neuen Bedrohungen und möglicherweise zu Instabilitäten führen werden, zu verfügen oder ob es im Interesse ihrer eigenen Sicherheit nicht besser sein sollte, durch Abschluß eines Teststoppabkommens auch die Sowjetunion an der Entwicklung solcher Kernwaffen zu hindern.

Ein weiteres Argument der amerikanischen Waffenlabors gegen einen Teststopp ist die Behauptung, nukleare Tests seien zur Überprüfung der Zuverlässigkeit stationierter Kernwaffen unerläßlich. Die Direktoren der Labors in Los Alamos und Livermore haben vor Ausschüssen des amerikanischen Kongresses erklärt, daß in der Vergangenheit zwar einige Probleme mit der nuklearen Komponente von Sprengköpfen durch konventionelle Oberprüfungen entdeckt wurden, daß aber die wichtigsten Defekte nur mit Hilfe von Nukleartests entdeckt und behoben werden konnten. Seit Frühjahr letzten Jahres erklären Vertreter des Pentagons wiederholt, daß bei über einem Drittel der amerikanischen Sprengkopfdesigns, die nach 1958 in das Kernwaffenarsenal eingegliedert wurden, Zuverlässigkeitsprobleme aufgetreten seien. Von diesen Problemen seien 75 Prozent nur mit Hilfe nuklearer Tests entdeckt und behoben worden.7

Diese Erklärung stellt ein sehr gewichtiges Argument gegen einen Teststopp dar. Sollten Alterungseffekte, die die Funktionstüchtigkeit von Kernwaffen nachteilig beeinflussen, ohne nukleare Tests nicht behebbar sein, so würde unter einem Teststopp das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der vorhandenen Kernwaffen mit der Zeit abnehmen. Die Abschreckungswirkung der Kernwaffen wäre damit in Frage gestellt.

Zur Unterstützung der These, daß auf nukleare Tests zur Überprüfung der Zuverlässigkeit von Sprengköpfen nicht verzichtet werden könne, wurden Details zu den Defekten, die bei sechs verschiedenen Sprengköpfen nach deren Stationierungsbeginn aufgetreten waren, in dem sogenannten Rosengren-Report veröffentlicht.8 Diese Defekte betreffen vor allem Korrosionserscheinungen am Spaltmaterial, das Klemmen von mechanischen Armierungs- und Sicherungssystemen sowie Veränderungen an chemischen Sprengstoffen. Die Tatsache, daß der Rosengren-Report mehrmals in Anhörungen vor Kongreßausschüssen benutzt wurde, um gegen einen Teststopp Stellung zu nehmen, veranlaßte den Abgeordneten Edward Markey dazu, den Livermore-Physiker Ray Kidder zu bitten, diesen Report zu analysieren und eine eigene Stellungnahme abzugeben. Die Frage, der Kidder in seinem daraufhin angefertigten Bericht nachgegangen ist, lautet: „Stützen die Beispiele, die in dem Rosengren-Report erwähnt werden, die These, daß nukleare Testexplosionen notwendig sind, um das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des bestehenden amerikanischen Arsenals von sorgfältig getesteten Kernwaffen aufrechtzuerhalten?“ Sein Resümee: „Es ist unsere Schlußfolgerung, daß keines dieser Beispiele eine solche These unterstützt.“9

Die im Rosengren-Report zitierten Beispiele sind allerdings nicht vollzählig. Außer den sechs Sprengkopftypen, die der Report erwähnt, waren auch andere Sprengköpfe von Problemen betroffen gewesen. Diese Probleme waren aus Geheimhaltungsgründen im Rosengren-Report nicht erwähnt worden. Mittlerweile sind jedoch alle 14 Sprengkopftypen bekannt, an denen nach Beginn der Stationierung Probleme bzw. Defekte aufgetreten waren und zu deren Behebung nukleare Tests durchgeführt wurden. An der ursprünglichen Schlußfolgerung von Kidder änderte sich jedoch nichts, weil die meisten der Probleme darauf zurückzuführen sind, daß die betreffenden Sprengköpfe vor Beginn ihrer Stationierung nicht ausreichend getestet worden waren. Entweder wurden die ersten Sprengköpfe schon vor Abschluß aller nötigen Tests produziert und in das Kernwaffenarsenal aufgenommen (so z.B. während des Testmoratoriums in den Jahren 1958-61, als man noch bestehende Mängel nicht mit Hilfe von nuklearen Tests hatte beheben können) oder die Sprengköpfe waren nicht in der Version getestet worden, in der sie schließlich stationiert wurden. In den anderen Fällen waren nukleare Tests durchgeführt worden, weil die Waffenlabors Modifizierungen an den Sprengkopfdesigns vorgenommen hatten, anstatt beschädigte Teile durch Neukonstruktionen zu ersetzen.

Das Ergebnis der Kidder-Analyse deckt sich mit den schon bekannten Erklärungen mehrerer ehemaliger Direktoren und Mitarbeitern der Waffenlabors, daß keine nuklearen Tests nötig seien, um Defekte an vorhandenen Sprengköpfen zu beheben.10 Sollte die US-Regierung an ihrem bisherigen Standpunkt festhalten, so dürfte sie zunehmend in Argumentationsschwierigkeiten geraten. Auch könnte ihre Haltung unter Umständen dann so verstanden werden, daß auch heute noch Kernwaffen im Arsenal vorhanden sind, die wegen ungenügender Tests nicht zuverlässig sind. Dann müßte sie sich fragen lassen, warum sie die Produktion und Stationierung unzureichend getesteter und daher unzuverlässiger Kernwaffen zugelassen hat.

Für das Verständnis der Themenkomplexe, die bei den Verhandlungen über einen Teststopp eine Rolle spielen, sind zwei Punkte besonders wichtig: die Leistungsfähigkeit der seismischen Verifikation und die militärische Bedeutung von Tests, die entweder nicht mehr zuverlässig nachgewiesen werden könnten oder die unter einer eventuellen Testschwellen-Regelung erlaubt wären. Beide Punkte sollen hier anhand der Nukleartests, die die Vereinigten Staaten von 1980 bis 1984 durchgeführt haben, erläutert werden.

Abb. 1 zeigt die Verteilung der Ladungsstärken der amerikanischen Nukleartests innerhalb dieses 5 Jahres-Zeitraums. Das Diagramm enthält sowohl die angekündigten als auch die nicht angekündigten Tests. Dargestellt ist die relative Häufigkeit der Tests in Abhängigkeit von ihrer Sprengkraft. Die in Wirklichkeit diskreten Werte sind durch Überlagerung einer Verteilungsfunktion verschmiert, so daß sich eine geglättete Struktur ergibt. Diese Kurve wurde von R. Kidder erstellt und veröffentlicht.11

Das amerikanische Energieministerium (DoE) hat für diesen 5 Jahres-Zeitraum 82 Nukleartests bekanntgegeben. Eine Auswertung der Abb. 1 und ein Vergleich mit den Angaben des DoE zeigt jedoch, daß die USA von Anfang 1980 bis Ende 1984 genau 100 Tests durchgeführt haben müssen..12 Das heißt, 18 Tests waren nicht angekündigt worden.

Wie Mitglieder des Natural Resources Defense Council (NRDC) zeigen konnten, waren acht dieser nicht angekündigten Tests von jeweils mindestens zehn seismischen Stationen des US Geological Survey (USGS) registriert und ihre seismischen Daten veröffentlicht worden. Von diesen wiederum waren fünf auch von dem seismischen Observatorium im schwedischen Hagfors entdeckt und als Nukleartests gekennzeichnet worden.13 Das USGS dagegen, das nicht speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests eingerichtet ist publiziert lediglich die Daten seismischer Ereignisse, ohne sie als Nukleartests oder Erdbeben zu kennzeichnen.

Die Tatsache, daß die seismischen Daten von zehn Tests der USA nicht von dem USGS veröffentlicht wurden, zeigt mit Hilfe von Abb.1, daß die Grenze, bis zu der seismische Ereignisse vom USGS publiziert werden, einer Sprengkraft von 1-1,5 Kilotonnen im Bereich des amerikanischen Testgeländes entspricht. Das Hagfors-Observatorium kann Tests in Nevada oberhalb einer Ladungsstärke von 2-3 Kilotonnen nachweisen.

Moderne seismische Stationen, die speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests entwickelt wurden, können weit schwächere Versuchsexplosionen nachweisen. Die aus 26 Seismometern bestehende Station in Norwegen zum Beispiel kann sowjetische Tests, die im 4200 km entfernten Testgebiet in der Nähe von Semipalatinsk durchgeführt werden, bis herab zu etwa 0,5 Kilotonnen nachweisen.13

Stationen, die innerhalb des sowjetischen Territoriums aufgestellt wären, könnten die Nachweisgrenze auf etwa 0,1 Kilotonnen reduzieren. Solche Stationen innerhalb der Sowjetunion wären zur Überwachung eines umfassenden Teststopps unerläßlich. Bereits in den Teststoppverhandlungen unter Carter und Breschnjew hatte die Sowjetunion der Errichtung seismischer Stationen auf ihrem Territorium zugestimmt. Seit Juli letzten Jahres schließlich sind aufgrund der privaten Übereinkunft zwischen dem NRDC und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften mehrere von amerikanischen Wissenschaftlern betriebene Seismometer in der UdSSR in Betrieb. (Seitdem die Sowjetunion ihr Testmoratorium im Februar dieses Jahres beendet hat, müssen diese Geräte allerdings während der Durchführung von Tests kurzzeitig abgeschaltet werden.)

Aus wissenschaftlicher Sicht wäre damit die Überwachung eines Vertrages, der Testexplosionen mit einer Sprengkraft von mehr als einer Kilotonne verbietet, unter den heutigen Umständen gewährleistet. Die Vereinbarung eines umfassenden Teststopps dagegen würde weitergehende Maßnahmen erfordern (z.B. dichteres Überwachungsnetz, erweiterte Auswertkapazitäten, unangekündigte Vor-Ort-Inspektionen etc.), um auch kleinste Tests entdecken zu können. Über solche Maßnahmen müßten die beiden Supermächte während der Verhandlungen reden, die in Kürze beginnen sollen.

Im Zusammenhang mit einer Nachweisschwelle für nukleare Tests bzw. mit einer eventuellen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen ist es wichtig zu wissen, welche militärische Bedeutung den unterschiedlichen Sprengkraftbereichen zukommt. Abb.1 gibt hierzu ebenfalls nützliche Hinweise.

Die einzige Einschränkung, der unterirdische Kernwaffentests gegenwärtig unterliegen, ist die Limitierung der Sprengkraft auf 150 Kilotonnen durch den Testschwellenvertrag von 1974. Unterhalb dieser Grenze kann die Sprengkraft für einen Test frei gewählt werden; auch unterliegen die Tests keiner zahlenmäßigen Beschränkung. Man kann deshalb annehmen, daß die Häufigkeitsverteilung in Abb.1 ein gewisses Bild der militärischen Signifikanz vermittelt, die den verschiedenen Sprengkraftbereichen zugemessen wird.

Auffallend ist das Maximum im Bereich zwischen 5 und 20 Kilotonnen; 44 % aller Tests wurden in diesem Sprengkraftbereich durchgeführt. Die meisten dieser Tests stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Spaltzündern für thermonukleare Waffen.

Die hohe Zahl von Tests direkt unterhalb der 150-Kilotonnen-Grenze ist zum Teil auf das Testen von strategischen Sprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft zurückzuführen; in vollständiger Konfiguration würden die Ladungsstärken dieser Sprengköpfe dieses Testlimit bis zu einem Faktor 2-3 übersteigen. Der Testschwellenvertrag von 1974 hat damit kaum eine Auswirkung auf die Entwicklung von Sprengköpfen gehabt.

Die bisher bekannten Angaben deuten darauf hin, daß die meisten der Tests, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Röntgenlasers durchgeführt wurden, im Bereich zwischen etwa 50 und 100 Kilotonnen liegen.

Dreizehn Prozent aller Tests hatten eine Ladungsstärke zwischen 1 und 5 Kilotonnen. Vermutlich 2 Tests wurden bei etwa 0,025 Kilotonnen, 2 weitere bei etwa 0,12 Kilotonnen durchgeführt.

Wäre in der Zeit von 1980 bis 1984 die Sprengkraft der Nukleartests auf 10 Kilotonnen anstatt auf 150 Kilotonnen begrenzt gewesen, hätten etwa 60 % dieser Tests nicht durchgeführt werden können. Eine Testschwelle von 5 Kilotonnen hätte etwa 80 %, eine solche von 1 Kilotonne 95 % aller Tests unmöglich gemacht. Ein Testschwellenvertrag, der die Ladungsstärke auf 1 Kilotonne begrenzt, würde nicht nur die Entwicklung und Modernisierung strategischer, sondern auch die vieler taktischer Sprengköpfe unterbinden. Die Entwicklung thermonuklearer Sprengköpfe, mit Ausnahme solcher mit sehr kleiner Sprengkraft (z.B. Neutronenbombe), wäre unmöglich.

Von besonderer Bedeutung ist der Bereich unterhalb einer Kilotonne. Welche Entwicklungen lassen sich in diesem Bereich durchführen? Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

– Experimente zur grundlegenden Physik von Kernwaffen,

– Tests von Hohlraumtargets für die Trägheitseinschlußfusion,

– Untersuchung der Wirkungen von Kernwaffen,

– Durchführung sogenannter „One-point-safety“-Tests, mit denen überprüft wird, ob im Falle eines Unfalles mit einer Kernwaffe eine unbeabsichtigte Nuklearexplosion ausgelöst werden kann oder nicht,

– Entwicklung von taktischen Kernwaffen (z.B. Anti-U-Boot-Waffe, Atomminen),

– Erprobung von Konzepten für Kernwaffen der dritten Generation.

Insbesondere der letzte Punkt verdient Beachtung. Wegen der Energiebündelung, die bei Kernwaffen der dritten Generation beabsichtigt ist, kann in vielen Fällen bei gleichbleibender oder sogar noch erhöhter Reichweite die Sprengkraft der Waffe gesenkt werden. Allerdings erscheint unter der Beschränkung eines 1-Kilotonnen-Limits – vorausgesetzt, ein solcher Vertrag träte in absehbarer Zeit in Kraft – die Entwicklung von einsatzfähigen Kernwaffen der dritten Generation äußerst unwahrscheinlich. Die Entwicklung des Röntgenlasers z.B. wäre wegen der relativ hohen benötigten Sprengkraft ausgeschlossen. Allerdings scheinen Kernwaffen, die ihre Explosionsenergie in kinetische Energie von festen Geschossen oder Flüssigkeitsstrahlen umwandeln, durchaus machbar zu sein. So soll der oben erwähnte Test „Hazebrook“ eine Sprengkraft von nur 40 Tonnen gehabt haben. Inwieweit andere Konzepte für Kernwaffen der dritten Generation durch eine 1-Kilotonnen-Testschwelle betroffen sein würden, ist zur Zeit noch unklar.

Es ist davon auszugehen, daß auch unterhalb einer Testschwelle von einer Kilotonne Neuentwicklungen von Kernspaltungswaffen möglich sein würden. Das qualitative Wettrüsten im Nuklearbereich wäre damit zwar stark behindert, aber nicht völlig unterbunden. Weiterhin ist zu beachten, daß in dem hypothetischen Falle einer 1-Kilotonnen-Testschwelle die Bedeutung von Tests mit sehr kleinen Ladungsstärken stark zunehmen würde. Daran gehindert, Waffen mit größerer Sprengkraft zu entwickeln, würden die Kernwaffenkonstrukteure ihren Einfallsreichtum voll auf den Bereich unterhalb einer Kilotonne konzentrieren. Von daher ist die in Abb. 1 dargestellte Häufigkeitsverteilung auf die militärische Signifikanz einer Testschwelle nur bedingt anwendbar.

Aus dem hier gesagten folgt, daß im Interesse einer wirkungsvollen Rüstungskontrolle ein Verbot aller Nukleartests einer niedrigeren Testschwelle von z.B. einer Kilotonne vorzuziehen ist. Allerdings könnte es aus praktischen Gründen sinnvoll sein, sich über Testschwellenvereinbarungen einem umfassenden Teststopp schrittweise anzunähern – so wie es auch der Vorschlag der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft vorsieht. Ein klar vorgegebener Zeitraum von z.B. drei oder vier Jahren sollte es ermöglichen, während der stufenweisen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen auf zunächst 5, dann 1 und schließlich Null Kilotonnen das seismische Überwachungsnetz so weit auszubauen, daß auch kleinste nukleare Tests mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit entdeckt werden können. Die Politiker sind hier aufgefordert, Vorgaben für die gewünschte Nachweisgenauigkeit zu machen und die politischen und finanziellen Voraussetzungen für den zügigen Ausbau des Überwachungsnetzes zu schaffen.

Verteilung der Ladungsstärke aller amerikanischer Nukleartests, die von Anfang 1980 bis Ende 1984 im Testgebiet in Nevada durchgeführt wurden. Die vertikale Skala ist so gewählt daß die Fläche unterhalb der dargestellten Kurve den Wert 1 ergibt. f (Y) gibt den Anteil der Tests mit einer Ladungsstärke kleiner als Y an.

Anmerkungen

1 Seit Ende Juli 1986 fanden in Genf mehrmals offiziell als „Unterredungen“ bezeichnete Gespräche zwischen amerikanischen und sowjetischen Experten im Zusammenhang mit der Teststopp-Problematik statt. Die Gesprächsteilnehmer hatten jedoch kein Mandat, über einen umfassenden Teststopp zu verhandeln, sondern die Gespräche hatten den Sinn, den eigenen Standpunkt hinsichtlich Verifikationsfragen darzulegen und den Standpunkt der Gegenseite anzuhören.Zurück

2 U.S. Department of State, „U.S. Policy Regarding Limitations on Nuclear Testing“, Special Report No. 150, August 1986, S. 3.Zurück

3 a.a.O., S. 1.Zurück

4 Nachweislich sind 5 Nukleartests bekannt, die die USA zur Entwicklung des Röntgenlasers durchführten (siehe: T. B. Cochran, W. M. Arkin, R. S. Norris, M. M. Hoenig, „Nuclear Weapons Databook, Vol. II: U.S. Nuclear Warhead Production“, Cambridge, Mass., 1987, S. 23). Die tatsachliche Zahl liegt hoher, vermutlich in der Gegend von fünfzehn. Zurück

5 T. B. Taylor, „Kernwaffen der dritten Generation“, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1987, S. 38; K. Tsipis, „Third-Generation Nuclear Weapons“, in: World Armaments and Disarmaments, SIPRI Yearbook 1985, London 1985, S. 83. Zurück

6 M. D. Lemonick, „A Third Generation of Nukes“, Time, May 25, 1987, S. 35. Zurück

7 So z.B. Frank Gaffney und Robert Barker während eines Vortrages vor Vertretern europäischer NATO Staaten (Text abgedruckt in: „The National Security Implications of a Comprehensive Test Ban“, Defense Issues, Vol. 1, No. 40, June 26, 1986). Die Formulierung geht zurück auf eine Antwort des Direktors des Livermore-Laboratoriums, Roger Batzel, auf eine entsprechende Frage von Senator Kennedy während einer Anhörung vor dem Senate Armed Services Committee im April 1986. Zurück

8 J. W. Rosengren, „Some Little-Publicized Difficulties with a Nuclear Freeze, R&D Associates, Report RDA-TR-122116-001, October 1983. Zurück

9 R. Kidder, „Evaluation of the 1983 Rosengren Report from the Standpoint of a Comprehensive Test Ban (CTB), Report UCID-20804, June 17, 1986. Zurück

10 Brief von R. Garwin, N. Bradbury und J. Carson Mark an Präsident Jimmy Carter, 15. August 1978; Brief von H. Bethe, N. Bradbury, R. Garwin, S. Keeny, W. Panofsky, G. Rathjens H. Scoville und P. Warnke an den Kongreßabgeordneten D. Fascell, 14. Mai 1985. Zurück

11 R. Kidder, „Military Significant Nucisar Explosive Yields“, FAS Public Interest Report, Vol. 38, No. 7, September 1985, S. 1.Zurück

12 U. Reichert, „Nuclear Testing and a Comprehensive Nuclear Test Ban – Background and Issues“, in Vorbereitung. Zurück

13 T. B. Cochran, R. S. Norris W. M. Arkin und M. M. Hoenig, „Unannounced U.S. Nuclear Weapons Tests, 1980-1984“, Nuclear Weapons Databook Working Paper 86/1, Januar 1986. Zurück

Dr. Uwe Reichert, Stipendiat der Stiftung Volkswagenwerk, Diplomphysiker an der TH Darmstadt.

Frankreich: Zerbricht der „nationale Nuklearkonsens“?

Frankreich: Zerbricht der „nationale Nuklearkonsens“?

von Johannes M. Becker

Drei Entwicklungen sollten derzeit den Blick der interessierten Öffentlichkeit auf Frankreich richten:

  • der regierungsamtliche Umgang mit den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen jenseits des Rheins,

  • das Agieren der französischen Friedensbewegung und

  • die Veränderungen in der öffentlichen Meinung Frankreichs betreffend die Nuklearpolitik.

Diese Entwicklungen hängen zusammen.

Beschränken wir uns bei erstgenanntem auf die Diskussion um die „option double Zero“: Die seit dem vergangenen März regierende Rechtsregierung hatte zunächst mit Ministerpräsident Chirac und den Ministern Giraud (Militär-) und Raimond (Außen-) vorschnell erklären lassen, man halte nichts von Gorbatschows Vorschlägen – das bei jeder Gelegenheit konstatierte konventionelle Übergewicht der Sowjetunion verbot den Konservativen jeden Gedanken an die „denuclearisation“ Westeuropas; die spätere Einbeziehung französischer Arsenale wurde von der Pariser Rechten ablehnt und das „Abkoppeln“ der USA von Westeuropas Schicksal (gänzlich ungaullistisch) als befürchtenswert an die Wand gemalt. Francois Mitterrand, der Baumeister der Regierung aus sozialistischem Präsidenten und konservativer Koalition, erklärte die Vorstöße Gorbatschows und der Sowjetunion kurzerhand für wünschenswert und akzeptabel. Er düpierte hiermit nicht nur seine „Cohabitations“-Partner in Paris, sondern ein weiteres Mal seinen engsten Bündnispartner in Westeuropa, die BRD und (diesmal) ihre konservative Regierung. Diese hatte sich nämlich in ihrer Hoffnung auf Obstruktionsmöglichkeiten gegen die sowjetisch-amerikanischen Vertragsideen auf Mitterrands Frankreich und Thatchers Großbritannien verlassen.

Mitterrand honorierte mit seinem Vorstoß einerseits zweifellos das Angebot der SU, die französischen Atomarsenale zunächst nicht zu tangieren. Andererseits ist Mitterrand und seinen Ratgebern der Gedanke eines gestärkten westeuropäischen NATO-Pfeilers unter der (atombewaffneten) Hegemonie Frankreichs nicht fern. Das heißt: je weniger Pressionsmöglichkeiten die USA mit hochkonfliktträchtigen Waffen in Westeuropa aufgebaut haben, desto stärker ist die Position Frankreichs. (Wobei „Europäisierung der NATO“ nicht mit zeitweiligen Gedankenspielen von sozialdemokratischer und konservativer französischer Seite zu verwechseln ist, die BRD in irgendeiner Weise direkt an den französischen Nuklearwaffen teilhaben zu lassen.).

Der zweite Punkt betrifft die französische Friedensbewegung. Seit etwa drei Jahren, sicherlich nicht ohne Zusammenhang mit dem Ausscheren der FKP aus der gemein Samen Linksregierung mit Mitterrands Sozialisten, sind vorsichtige Positionsver Schiebungen in der von dieser Bewegung vertretenen Politik wie auch in der der FKP zu konstatieren. (Die FKP, dies zur Erinnerung, war Ende der 70er Jahre mit der PS ins Lager derer übergegangen, die die atomare „Force de frappe“ zum Garanten de nationalen Unabhängigkeit Frankreichs er klärten, und hatte damit den „nationale Nuklearkonsens“ begründet.)

Waren die Demonstrationen der beider großen Arme der französischen Friedensbewegeng, „Mouvement de la Paix“ und „Appel des Cent“, zu Beginn der 80er Jahr, noch unter recht unpolitischen, den bundesdeutschen Beobachter irritierender Slogans wie „J´aime la Vie – J´aime la Paix oder aber „Weder Pershing II, noch SS 20“ organisiert worden, vor allem jedoch unter sorgsamer Ausklammerung vieler grundsätzlicher inländischer Probleme, besonders der „eigenen“ Atomwaffen, so ändert, sich dieses Bild seit Mitte des Jahrzehnts Nun wurde nicht nur Gorbatschows Teststopp-Angebot favorisiert, sondern die französische Regierung wurde vehement aufgefordert, ebenfalls auf diese Tests zu verzichten (die Erprobung und Entwicklung der Neutronenbombe war schon immer in Zentrum der Agitation gewesen). Seit die konkreten Vorschläge der SU vorlagen, agitierte die französische Friedensbewegung weiterhin auf ein aktives, konkretes Eingreifen Frankreichs in den Abrüstungsprozeß.

Die parallelen Entwicklungen innerhalb der KP-Rüstungsdiskussion waren ebenfalls nicht zu übersehen: im Herbst 1986 lehnte die FKP erstmals seit Jahren einen Militäretat ab – dies gegen alle anderen großen Parteien; sie sprach sich insbesondere gegen die gewaltige Modernisierung der Atomwaffenarsenale Frankreichs und gegen die fortlaufenden Sprengversuche auf dem Mururoa-Atoll aus. Das unübersehbare Agieren Mitterrands auf westeuropäischem Parkett (nicht zuletzt unter dem Namen EVI=Europäische Verteidigungs-Initiative gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen bekanntgeworden) wurde kritisiert. Die FKP bekannte sich vorbehaltlos zu den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen; Frankreich dürfe die Möglichkeiten zum weltweiten Abbau der atomaren Potentiale nicht durch eigene Aufrüstung boykottieren, solle sich im Gegenteil verpflichten, seine Arsenale ab einem bestimmten und zu benennenden Punkt abzurüsten.

Schließlich ist da die öffentliche Meinung in Frankreich. Im Bewußtsein der französischen Bevölkerung hängen die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft eng zusammen, sie erscheinen als Garanten der „souverainete nationale“, der nationalen Unabhängigkeit, und sind als solche positiv besetzt mit dem Versuch vor allem de Gaulles in den 60er Jahren, Frankreich dem Zugriff der USA zu entziehen. Der „nationale Nuklearkonsens“ ist aber seit Tschernobyl zumindest für den Bereich der zivilen Nutzung zerbrochen. Im Mai 1986 versuchte die neue Rechtsregierung zwei Wochen erfolgreich, den Franzosen glaubhaft zu machen, die verseuchten Wolken hätten vor den Ardennen, den Vogesen und den Alpen haltgemacht; das Erwachen hinterher war um so abrupter. Große Teile der Bevölkerung schenken der Informationspolitik der Regierung heute keinen Glauben mehr eine Tendenz, die durch die nicht abreißende Kette von heute ruchbar werdenden Pannen wie auch durch das wachsende Bewußtsein von der vollzogenen Fehlplanung im Energiesektor (gewaltige Überkapazitäten) nur verstärkt wird. Demonstrationen mit vielen Tausend Teilnehmern sind heute keine Seltenheit mehr.

Die Auswirkungen dieses Mißtrauens auf den Glauben und das Vertrauen in die „Force de frappe“ sind heute noch schwach, aber sie sind konstatierbar: die Zahl der Franzosen, die die französische Bombe nicht länger für einen Garanten des Friedens und der „Grandeur de la France“ halten, wird immer größer, immer mehr plädieren für ihre Verschrottung, zumindest für die Erklärung ihres Nichteinsatzes. Ein strukturelles Problem kommt allerdings hinzu: Es gibt in Frankreich nur sehr wenige Berührungspunkte zwischen der Friedens– der Anti-AKW- und der Ökologie-Bewegung: die traditionellen Friedensparteien auf der Linken haben ökologische Fragen entweder vernachlässigt (FKP) oder demagogisch aufgegriffen (PS); die „Ecoles“ ihrerseits, stark von rechten und autonomen linken Kräften beeinflußt, ist der Friedensbewegung mit der Rede von der „Fünften Kolonne“ gegenübergetreten. (Das autonome, antikommunistische „Comite pour le Desarmement Nucleaire en Europe“, CODENE, versucht einen Brückenschlag zwischen den Problemgebieten Frieden und Ökologie, aber eben unter Ausgrenzung vor allem der kommunistischen Kreise.)

Kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung? Beginnen wir bei Mitterrand und bei der „classe politique“:

1. Frankreich wird von maßgeblichen Kräften in nahezu allen nichtkommunistischen politischen Lagern als atomares Kernland eines militärisch näher zusammenrückenden Westeuropa gesehen – und da ist der Abbau der US-Raketen nur eine nützliche Entwicklung. Die „Force de frappe“ würde aufgewertet.

2. Das französische Kapital hat eine seiner wenigen Spitzenstellungen auf dem Weltmarkt gerade im Bereich der Nukleartechnologie inne – die Entwicklungsländer sind derzeit im Visier der Exporteure französischer AKW-Technologie. Würde der inländische Atomwaffenmarkt plötzlich entfallen, würde ein Großteil dieses Industriekomplexes in große Schwierigkeiten kommen; die ungeheuer kostspielige „Brüter“-Technologie wird übrigens mit der Perspektive auf die absehbare Verknappung des Natur-Urans in erster Linie waffentechnologisch orientiert betrieben.

3. Mitterrand fürchtet über das Ausscheren der FKP aus dem „nationalen Nuklearkonsens“ einerseits um die Frucht seiner jahrzehntelangen Marginalisierungsbemühungen gegenüber dem einstmals dominierenden kommunistischen Bündnispartner, er will der Friedensbewegung und den immer mit dieser identifizierten Kommunisten das Entspannungs- und Abrüstungsterrain nicht überlassen, er will schließlich der sensibilisierten öffentlichen Meinung in Frankreich keine weiteren Kondensationskerne zu möglicherweise organisierter Ab- oder Gegenwehr gegen seine eigene Nuklearpolitik anbieten. Zumal wenn ihn diese setze 'Politik derzeit nichts kostet.

Derzeit stellt sich Mitterrand als abrüstungswilliger und entspannungsfreudiger Weltmann dar, der überdies seinen (und des legendären Generals) Grundsätzen treu bleibt. Die Lage wird allerdings schwieriger für die konservativen französischen Strategen im Parti Socialiste und in den Rechtsparteien, wenn die „option double Zero“ nur der Anfang bleibt, wenn die Welt gleichsam von einem Abrüstungssog ergriffen wird. Essentielle Konflikte sind absehbar: für den ersten Schritt des sowjetischen Planes einer totalen atomaren Abrüstung bis zum Jahre 2000 ist nämlich das Einfrieren der atomaren Kapazitäten Frankreichs und Großbritanniens vorgesehen. Ob Paris auf die bis zum Jahre 1991 geplante Verdreifachung seiner Schlagkraft verzichten wird, steht derzeit dahin, ist allerdings angesichts des o.a. Szenarios eher unwahrscheinlich.

Akzeptiert man die Sicht von der derzeitigen Haltung der US-Regierung in der Frage der Abrüstung in Europa als einerseits willkommenes Ablenkungsmanöver von SDI und von der weiterhin vehement betriebenen Atomtest-Politik, als andererseits Folge aus der Einsicht, atomare Kriege seien (zumindest in Europa) derzeit nicht mehr führbar und man müsse die konventionelle Rüstung stärken, so kann die französische Politik in Zukunft durchaus wieder zum Hemmschuh weiterer Abrüstung werden:

  • Frankreich ist im konventionellen Bereich relativ schwach, wird daher mit aller Kraft auf seinen Atomwaffen bestehen;
  • Frankreich wird nach einer erfolgten Abrüstung der US-amerikanischen und sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen verstärkt auf EVI orientieren – die verbleibenden atomaren wie nichtatomaren Kurzstreckenraketen der Warschauer-Vertrags-Staaten werden als Legitimationsbasis herhalten müssen.

Die Testballons des beginnenden Präsidentschaftswahikampfes in Paris lassen nichts Gutes erhoffen: da griff der sozialistische Ex-Premier Fabius Mitte Juni eine Anregung Helmut Schmidts auf und gab eine Ausweitung „unserer Strategie der nuklearen Verteidigung auf den Schutz der Bundesrepublik“ zu bedenken (H. Schmidt hatte die Zusammenlegung der deutschen und französischen Truppen unter ein französisches Oberkommando vorgeschlagen); die BRD solle die wirtschaftliche Führungsrolle innehaben), Frankreich die militärische wie die diplomatische. Und der Sprecher des linken Flügels (!) des Parti Socialiste, Jean-Pierre Chevenement, philosophierte: „Die echte Berufung der strategischen französischen Atomwaffe ist es, den Frieden und die Stabilität in Europa zu garantieren. Der Friede ist Sache der Abschreckung, unsere Lebensinteressen enden nicht am Rhein.“ Und: „Die Zeit für eine französische Initiative, die die Schicksalsgemeinschaft unserer beiden Völker besiegelt, ist gekommen.“

Die französischen Sozialisten, denen im eigenen Land derzeit neben den Kommunisten nur eine kleine Anzahl von Gaullisten um Michel Debre widerspricht (auch der ernsthafte Präsidentschaftskandidat Raymond Barre akzentuiert seine „europäischen“ Attitüden), treffen mit ihrer Initiative bei der westdeutschen Rechten auf offene Ohren; Alfred Dregger brachte rechtzeitig seine Idee einer „europäischen Sicherheitsunion“, an der Frankreich „führend“ beteiligt sein müsse, in Erinnerung; und F.J. Strauß erinnerte unlängst erneut an seinen Anspruch, die BRD brauche eine „bescheidene atomare Komponente für die Abschreckung“.

Wie ist dem von französischer Seite zu begegnen? Was ist aus Frankreich an Gegentendenzen zu erwarten? Der endgültige Bruch des „nationalen Nuklearkonsenses“ durch die Kommunisten zur Rückerlangung ihrer abrüstungspolitischen Glaubwürdigkeit erscheint ebenso als ein Hebel zur Bewegung der Fronten wie eine neue Diskussion innerhalb der Sozialistischen Partei; beide Faktoren – die französischen Grünen sind zerstritten, teilweise rechtslastig und an Friedensfragen offenkundig desinteressiert – sind unabdingbare Voraussetzungen, um das öffentliche Bewußtsein weiter zu sensibilisieren und die herrschenden Kräfte unter Druck zu setzen.

Johannes M. Becker ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Marburg.

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

30 Jahre „Göttinger Erklärung“

von Corinna Hauswedell

Sie werden in diesen Wochen auf vielfältige Weise gewürdigt – jene achtzehn Wissenschaftler, die vor 30 Jahren mit der „Göttinger Erklärung“ gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr auftraten und damit viel Aufsehen in Politik und Öffentlichkeit erregten. Die historischen Umstände in Erinnerung zu rufen öffnet auch den Blick auf Konstanten und Veränderungen des Engagements von Naturwissenschaftlern gegen die Atomkriegsgefahr heute – einschließlich deren Wirkungen auf die Politik.

„Wenn die Wissenschaftler sagten, ein kleines Land wie die Bundesrepublik schütze sich am besten durch einen ausdrücklichen Verzicht auf den Besitz atomarer Waffen, dann habe das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun (…) man müsse aber Kenntnis von den Erkenntnissen haben, die diese Wissenschaftler nicht hätten, weil sie nicht zu ihm gekommen seien (…)“1 Diese erste heftige Reaktion Adenauers auf die „Göttinger Erklärung“ enthüllte nicht nur die feudalistisch geprägte Denkungsart des Kanzlers, sondern auch in erschreckender Weise das Politikverständnis der Regierenden: Alle anderen sind inkompetent und unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit wird die Wissenschaft von der Politik ausgeschlossen.

Dabei waren es gerade der bemerkenswert demonstrative Mangel an Sachkenntnis und die damit intendierte Verharmlosung in einer Presseerklärung Adenauers vom 5. April 1957 („Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie (…)“.2, die die „Göttinger 18“ schließlich zu ihrem öffentlichen Auftreten provoziert hatten.

Vorausgegangen waren zwischen 1954 und 1956 Meldungen über die geplante atomare Ausrüstung der Bundeswehr mit US-Raketen und im November 1956 ein Brief der Atomwissenschaftler an Verteidigungsminister Strauß, „öffentlich zu erklären, daß die Bundesregierung Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke.“3 Die Antwort war unbefriedigend geblieben und

Adenauers Presseerklärung mußte nun aufs Äußerste beunruhigen. „(…) sie mußte fast zwangsläufig der deutschen Bevölkerung ein völlig falsches Bild von der Wirkung der Atomwaffen vermitteln. Wir fühlten uns also verpflichtet zu handeln (…) Erstens mußte die deutsche Bevölkerung über die Wirkung der Atomwaffen voll aufgeklärt, jeder Beschwichtigungs- oder Beschönigungsversuch mußte verhindert werden. Zweitens mußte eine veränderte Stellung der Bundesregierung zur Frage der atomaren Bewaffnung angestrebt werden. Daher durfte sich die Erklärung nur auf die Bundesrepublik beziehen.“4 So schilderte W. Heisenberg die Motive der „Göttinger“. „Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit (…)“, das war der Antrieb für die achtzehn Wissenschaftler, als „Nichtpolitiker“ in die Politik einzugreifen. Sie nahmen dafür den Vorwurf der Inkompetenz in kaut, mußten sich, wie schon andere vor ihnen, des Vaterlandsverrats bezichtigen lassen. So argwöhnte Adenauer, sie hätten „es geradezu auf eine Schwächung der Bundesrepublik abgesehen.“5

C. F. von Weizsäcker erläuterte zwei Wochen, nachdem die Veröffentlichung zunächst Empörung und dann Beschwichtigungsversuche regierender Politiker ausgelöst hatte, die hinter der Erklärung stehenden Überlegungen:

„Erstens: Der Westen schützt seine eigene Freiheit und den Weltfrieden durch die atornare Rüstung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem eigenen, Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, diese Wahrheit Geltung zu verschaffen; deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß Überzeugend dartun, daß er selbst die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt; wir hätten einen Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land (…)“.6

Daß die „Göttinger“ sich gegen das lähmende und diskriminierende geistige Klima des Kalten Krieges überhaupt zu ihrer Manifestation zusammenfanden, macht bereits ein Gutteil ihrer moralischen und politischen Bedeutung aus.

Die drei Punkte Weizsäckers verweisen auf die Substanz und das Anliegen der „Göttinger 18“ und damit zugleich über den historisch-konkreten Anlaß der „Göttinger Erklärung“ hinaus. Sie enthalten bereits wesentliche Elemente dessen, was heute mit dem Begriff des „neuen Denkens“ impliziert ist.

Auch Heisenberg entwickelte in der direkten Konfrontation mit Adenauers Vorwürfen (siehe oben) die Notwendigkeit, sich der neuen Herausforderung des Atomzeitalters zu stellen: „Wir seien überzeugt, daß jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu einer gefährlichen Schwächung der politischen Stellung der Bundesrepublik führen müßte, daß also gerade die Sicherheit, an der ihm mit Recht soviel gelegen sei, durch eine atomare Bewaffnung aufs Äußerste gefährdet wird. Ich glaube, daß wir in einer Zeit leben, in der sich die Fragen der Sicherheit ebenso radikal veränderten wie etwa beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und man müsse sich in diese Veränderung erst gründlich hineindenken, bevor man leichtfertig den alten Denkmustern folgen dürfe.“7

Die Infragestellung der atomaren Abschreckung (und der damit verbundenen Rüstungsspirale), die Notwendigkeit des eigenständigen Handelns der Menschen (nicht nur der Politiker), die Bereitschaft „im eigenen Land“ mit Abrüstung zu beginnen (einseitig und konkret), diese Schlußfolgerungen, die Weizsäcker bereits 1957 andeutete, sind politischer Natur. Möglich geworden sind sie allerdings aus der (natur-) wissenschaftlichen Kenntnis von dem Ausmaß der atomaren Gefahr.

Nach 30 Jahren fortgesetzter atomarer Aufrüstung mehren sich die Anzeichen, daß dieser Zusammenhang – daß das Atomzeitalter eine wirkliche neue Politikkonzeption für die Friedenssicherung verlangt – auch zunehmend in die Politik Eingang findet.

Bei weitem nicht überall allerdings ist dies schon so. Das Antwortschreiben von Verteidigungsminister Wörner an die Initiatoren des Internationalen Naturwissenschaftlerkongresses in Hamburg im November 1986 „Wege aus dem Wettrüsten“ ist noch vom alten Denken geprägt: „(…) Entscheidend ist dabei allerdings, daß den sicherheitspolitischen Zusammenhängen Rechnung getragen wird. Gestatten Sie mir festzustellen, daß in diesem Punkt die Stellungnahmen zu allen Bereichen möglicher und erforderlicher Abrüstung aus wissenschaftlicher Sicht eine Reihe schwerwiegender Mängel aufweisen (…)“.8 Sicherheitspolitik und wissenschaftliche Sicht bleiben anscheinend unvereinbar für die Regierenden unserer Landes.

Die Veränderungen in den Reihen der „Nichtpolitiker“, 30 Jahre nach der „Göttinger Erklärung“ gerade auch bei den Naturwissenschaftlern, geben allerdings Anlaß zu mehr Zuversicht. Nach den „Göttingern“ sind sehr viele hinzugekommen, die ihre Stimme erheben, die Mitarbeit an Rüstungsprojekten verweigern. Man organisiert sich in unterschiedlicher Weise; Kongresse zu einzelnen Waffensystemen sowie zu allgemeinen Rüstungsfragen sind eine übliche Form des fachlichen Meinungsaustausches wie der politischen Stellungnahme geworden. International ist die Zusammenarbeit – gemeinsam die zu lösenden Aufgaben.

Ein Anlaß für diese neue Qualität und Qualifizierung im Friedensengagement der Wissenschaftler (wie vieler anderer Berufsgruppen) war die erneute Zuspitzung der atomaren Rüstungsdiskussion anläßlich der Stationierung der Mittelstreckenraketen 1983 in Europa.

Vergleicht man heute die Stellungnahme der Naturwissenschaftler, etwa die „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“ (1984) mit der alten „Göttinger Erklärung“ fällt das neue Selbstbewußtsein ins Auge. An die Stelle von Berufung auf „Nichtpolitiker“ – Status und „Wissenschaft“ tritt die explizite Zielstellung, „Öffentlichkeit und Politiker über die geplante Militarisierung des Weltraums und ihrer Konsequenzen sachlich zu informieren sowie konstruktive Beiträge zur Friedenssicherung zu leisten.“9

Die Verantwortung der Wissenschaft wird konkret wahrgenommen: Als „Dienstleistung“ von Experten für die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit und zunehmend als Initiatoren gegenüber der Politik. Während die „Göttinger“ noch schrieben, „wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, liegen jetzt der Vertragsentwurf zur Weltraumrüstung sowie die „Hamburger Abrüstungsvorschläge“ vor.

In dieser Entwicklung kommen tiefgreifende Prozesse zum Ausdruck: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft für alle gesellschaftlichen Bereiche, das sich in Richtung Selbsttätigkeit ändernde Politikbewußtsein vieler Menschen.

Die entsprechenden Rückwirkungen auf die Politik selbst stehen noch aus. Die Chancen allerdings sind größer geworden. An der „Kenntnis von den Erkenntnissen“ mangelt es nicht!

Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn
Atomwissenschaftler (12.04.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die
unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen
Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine
Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher
verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die
aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben,.
Als „taktisch bezeichnet man sie. um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen
menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen.
Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste
Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl
vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als
„klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen
entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der
strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische
Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von
der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von
Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik
wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große
Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen
Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten
wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei
der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer
Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu
allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die
westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige
Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des
Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einen Teil der Weit leistet. Wir hatten
aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für
unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der
Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es
sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es
ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.
Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung
oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir daß es Oberst wichtig ist, die friedliche Verwendung
der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher
mitwirken.

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn Otto
Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef
Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Strassmann,
Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

Anmerkungen

1 Archiv der Gegenwart vom 12.4.1957 Zurück

2 Zit. nach DER SPIEGEL vom 17.4.57 Zurück

3 Otto Hahn, Mein Leben, München 1986, S. 231 Zurück

4 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1979, S. 265 Zurück

5 Zit. nach ebd. Zurück

6 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957. Zitiert aus dem Vortrag am 29.4.1957 in Bonn für die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften, ebd. Zurück

7 W. Heisenberg, a.a.O. Zurück

8 Brief des Bundesministers der Verteidigung vom 19. 12.86 an Prof. Dr. Peter Starlinger. Zurück

9 Aus „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“, verabschiedet auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums“ am 7.7.-8.7.1984 in Göttingen. Zurück

Corinna Hauswedell ist Doktorandin im Fach Politikwissenschaft und lebt in Bonn.