„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

Hans Bethe* und die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki

von Mary Palevsky

„Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen“

„Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten“

Bethe hielt den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache.

„Die Bombe ist ein schlimmes Ding und wir dürfen sie niemals wieder einsetzen.“

Dr. Hans Bethe

Der zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland geborene Bethe erlebte nach dem 1. Weltkrieg aus erster Hand die nationalistische Gegenreaktion auf die harten Bestimmungen des Versailler Vertrages. Dieser Nationalismus brachte die Nazis an die Macht.

Da Bethes Mutter Jüdin war, durfte der junge Physiker nach den ersten judenfeindlichen Gesetzen nicht mehr im Staatsdienst arbeiten. Da alle Universitäten in Deutschland staatliche waren, verlor der 27-jährige Bethe seine Assistenzprofessur in Tübingen. Wie so viele Wissenschaftler, Intellektuelle und Akademiker floh er vor dem sich ausbreitenden Faschismus aus Europa.

1933 erhielt Bethe eine zeitlich befristete Anstellung in England, und 1935 übernahm er die Stellvertretung einer Assistenzprofessur an der Cornell University im Bundesstaat New York. J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Labors in Los Alamos, fragte ihn 1943, ob er die Abteilung für theoretische Physik des Bombenprojekts leiten wolle.

Nach dem Krieg war Bethe einer der Mitbegründer der »Federation of American Scientists« und ein führender Sprecher von über das Wettrüsten beunruhigten Naturwissenschaftlern. Er war gegen die Eile, mit der die USA die Entwicklung der Wasserstoffbombe betrieben, und unterstützte einen Atomteststopp und das »Nuclear Freeze Movement«. Vehement sprach er sich gegen die »Star Wars« genannte Strategische Verteidigungsinitiative aus.

Für seine Arbeit über Kernreaktionen und vor allem seine Entdeckung der Energie freisetzenden Kernprozesse in Sternen erhielt Bethe 1967 den Nobelpreis für Physik. Heute ist er Emeritus der Cornell University, wo er kürzlich für seine 60jährige Mitgliedschaft in der Fakultät für Physik geehrt wurde.

(…)

Für Bethe gab es drei Möglichkeiten, den Krieg im Pazifik zu beenden: Blockade, Invasion oder die Atombombe. Er glaubt nicht, daß es ohne eine dieser Optionen zu einer Kapitulation gekommen wäre. Vielmehr seien die japanischen Friedensannäherungen an Moskau von Anfang an durch Stalins expansionistische Ambitionen im Fernen Osten zum Scheitern verurteilt gewesen.

Bethe beginnt mit einer Diskussion der Option einer Blockade. „Auf dem Meer und in der Luft waren wir völlig überlegen. Die Japaner waren auf Ölimporte angewiesen; das wird auch wahrscheinlich der Hauptgrund gewesen sein, warum sie Pearl Harbor angegriffen haben. Und ohne Öl konnten sie den Krieg nicht fortsetzen.“ Eine längere Blockade hätte ein Aushungern des japanischen Volkes bedeutet.

Ein Argument gegen eine Blockade aus amerikanischer Sicht war, daß die Truppen ungeduldig nach Hause wollten. Nach der Kapitulation wäre eine noch größere Unterstützung Japans notwendig gewesen. Doch Bethes wichtigstes Argument gegen eine Blockade war die mögliche Wirkung auf die japanische Bevölkerung. „… zweifellos wäre eine Blockade erfolgreich gewesen, doch sie hätte in Japan zu starken Ressentiments geführt, ähnlich denen, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Sie hätte wahrscheinlich für die gleichen negativen Gefühle gesorgt, die ich … Anfang der 20er Jahre erlebt habe. Der deutsche Slogan »Im Felde unbesiegt« war der Keim der Nazi-Bewegung. Ich glaube, Roosevelt und ebenso die Briten … hatten dies vor Augen, als sie die bedingungslose Kapitulation forderten. Sie wollten derlei Reden weder in Japan noch in Deutschland.“

Seine glanzvolle Karriere als amerikanischer Physiker hat Bethe weit von dem Deutschland seiner Jugend entfernt. Doch seine persönliche Erfahrung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und des Nazi-Terrors, der aus ihr hervorgegangen ist, lassen ihn ernstlich die potentiellen Gefahren einer anhaltenden Blockade Japans in Betracht ziehen. Das gleiche Moment spielt in seinen Argumenten gegen eine Invasion der japanischen Hauptinseln (die zweite Alternative) eine wichtige Rolle. „Neuerdings wird viel darüber geschrieben, daß eine Invasion viel weniger teuer zu stehen gekommen wäre, als man früher behauptet hat. Truman und [sein Kriegsminister] Stimson haben die Zahl der möglichen Todesopfer auf eine halbe bis zu einer ganzen Million geschätzt. Ich denke, diese Aussagen sind wahrscheinlich richtig.“

Ich frage Bethe, wie er über die Diskrepanz dieser Zahlen zu den Opferschätzungen denkt, über die unlängst in der Presse geschrieben worden ist. Was er von der Behauptung mancher Historiker hält, die Schätzungen, die noch zu Kriegszeiten gemacht wurden, seien wesentlich niedriger gewesen.

Bethe antwortete: „Ich bin davon überzeugt, daß die Zahlen, die jetzt immer wieder genannt werden, der Phantasie entspringen. … Schließlich hatten wir die Erfahrung mit den Inseln [Iwo Jima und Okinawa]. Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen.“

Obwohl ich nach den Todesopfern auf Seiten der Alliierten frage, antwortet Bethe mit einer Erörterung der möglichen japanischen Verluste. Er betont, daß im Fall einer Invasion die Zahl der gefallenen japanischen Soldaten höher gewesen wäre als die der Alliierten und daß die Opfer in der Zivilbevölkerung gewaltig gewesen wären.

Allein auf Okinawa starben 75.000 Zivilisten. Nur schattenhaft kann ich hinter dieser abstrakten Zahl das Bild der fürchterlichen Zerstörungen erkennen, das sie bedeutet. Doch als Bethe weiterspricht, erhellt sich blitzartig die grausame Realität des Krieges in meinem Bewußtsein.

„Bei einer Blockade oder einer Invasion wären die Brandbombardements fortgesetzt worden. Die Opfer [der Brandbomben] in Tokio kamen nahe an die von Nagasaki heran. Wir müssen uns vor Augen halten, daß diese Bombenangriffe Woche für Woche weitergegangen wären. Die Zahl der Toten und die Zerstörung wären um ein Vielfaches größer gewesen als die von Hiroshima und Nagasaki.“

„Und dann ist es wichtig“, fährt er fort, „über den sowjetischen Kriegseintritt zu sprechen. Wir haben die Sowjets im Februar 1945 in Jalta inständig gebeten, in den Krieg im Osten einzutreten. Das haben sie auch getan, aber erst nach Hiroshima. Ich denke, es war ein Fehler, sie darum zu bitten. Denn zu diesem Zeitpunkt, im Februar 1945, war es ja schon klar, daß wir eine Uran-235-Bombe haben würden. Es stand außer Frage, daß sie funktionieren würde. Es war nur eine Frage der Lieferung des nötigen Materials.“

„[Die Sowjets] wollten in den Krieg eintreten. Und natürlich haben sie sofort die Mandschurei erobert. Stalin wollte die nördliche Hälfte von Hokkaido erobern, das eine der Hauptinseln ist [… und] etwa ein Zehntel der [japanischen] Bevölkerung ausmacht. Wir hätten hier dieselben Schwierigkeiten gehabt wie mit der sowjetischen Besetzung in Deutschland. … Es wäre eine sehr schwierige Situation für die Japaner geworden.“

Angesichts der späteren Erfahrung, meint Bethe, seien die möglichen Probleme mit der Sowjetunion ein weiterer Beweis dafür, daß die Entscheidung für den Bombeneinsatz richtig gewesen sei. Dennoch kann er nicht der Behauptung zustimmen, die Bombardements seien Akte einer primär gegen die UdSSR gewandten »Nukleardiplomatie« gewesen. Die Bombe sei eingesetzt worden, um den Krieg schnell zu beenden und das Leben alliierter Soldaten zu retten.

Ich kenne viele in Europa geborene Wissenschaftler, die sich mit all ihrer Kraft für das Bombenprojekt eingesetzt haben, weil sie Angst davor hatten, das Dritte Reich könne dank einer Atomwaffe unbesiegbar werden.

Selbst der Pazifist Albert Einstein hatte 1939 sich mit einem Brief an Präsident Roosevelt gewandt, in dem er dafür warb, ein Atombombenprojekt ins Leben zu rufen. Später betrachtete er diesen Brief als den großen Fehler seines Lebens, dennoch meinte er, die deutsche Bedrohung hätte sein Handeln in gewisser Hinsicht gerechtfertigt.

Bethe erinnert sich: „Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten. Schließlich hatten die Nazis … Kontinentaleuropa erobert. Ich erinnere mich noch an ihren Slogan 'Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!` Die Flüchtlinge aus Europa (und) die meisten führenden Wissenschaftler Amerikas beteiligten sich mit großer Begeisterung an einem Unternehmen, mit dem der Krieg gegen Deutschland gewonnen werden sollte.“

Auf meine Frage, ob der Sieg über Deutschland nicht die Voraussetzungen für die Entwicklung der Bombe geändert hätte, meint Bethe, er habe von Anfang an den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache gehalten. Das Ziel des Manhattan-Projektes sei der Bau einer Atombombe gewesen und der Krieg war lang und hart. Nach der Fertigstellung der Bombe würde man sie gegen Deutschland oder Japan einsetzen.

Hier befand sich Bethe im Widerspruch zu seinem Freund, dem ungarischen Physiker Leo Szilard. Szilard war die treibende Kraft hinter dem bekannten Brief an Einstein. Aber nachdem klar war, daß die Deutschen den Krieg verlieren, argumentierte Szilard, daß die Bombe, die als Verteidigung gegen die Nazis gedacht war, neu überdacht werden müsse. Er war einer von sieben Wissenschaftlern am Laboratorium, der den »Franck Report« (siehe S. 46ff.) unterschrieb. In diesem Bericht wird als Alternative zum Einsatz im Krieg gegen Japan eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet gefordert, bei der Mitglieder der gerade gegründeten Vereinten Nationen anwesend sein sollten.

(…)

Obwohl der »Franck Report« von einigen Wissenschaftlern des Manhatten-Projektes unterstützt wurde, teilte Bethe mir mit, daß er dieses niemals in Erwägung gezogen hat.

„Eine Demonstration hätte keine Wirkung gezeigt. Sie wäre wahrscheinlich von einigen [japanischen] Militärs gesehen worden. Doch es war ziemlich unwahrscheinlich, daß sie den Kaiser unterrichtet hätten. Und der Kaiser war der Schlüssel für die Kapitulation. Ohne ihn hätte der Krieg noch viel länger gedauert.

Die japanischen Militärs waren Fanatiker. … Im Kabinett saßen drei Militärs und drei Zivilisten als Minister. Selbst nach Hiroshima, als [die] drei Zivilisten für die Kapitulation waren, wollten [die] drei Militärs noch immer weitermachen. Und dann entschied der Kaiser: 'Wir ergeben uns. Ich kann dieser Zerstörung von einer Stadt nach der anderen nicht weiter zusehen.` Für mich sieht es so aus, daß der Krieg mit einer Demonstration nicht hätte beendet werden können.“

Und so kommt Bethe auf die dritte Option zu sprechen: den Einsatz des Kernsprengsatzes und dies nicht zu Demonstrationszwecken, sondern, wie ursprünglich geplant, als Bombe, die in der Lage wäre, eine ganze Stadt zu zerstören.

Zu meinem Erstaunen kann Bethe dem Einsatz der Atombombe noch eine weitere Dimension abgewinnen. „Sie schien etwas Übernatürliches zu sein. Durch die Bombe wurde es für die Japaner möglich, sich in Ehren zu ergeben. Sie konnten noch sagen: 'Wir haben sehr gut gekämpft, aber da war etwas, dem wir nicht gewachsen gewesen sind – wir mußten uns ergeben.`“

(…)

Die Erleichterung der Kapitulationsentscheidung ist Bethes letztes Argument für die Bombe. Schrecklich und schnell sei der Krieg beendet worden – und zwar so, daß ein stabiler Frieden möglich blieb. „Als wir an Bord der [U.S.S.] Missouri [in der Bucht von Tokio] ankamen, hielt General MacArthur eine sehr bewegende Rede, die einige der anwesenden hochrangigen Japaner sehr beeindruckte – keine Rache, keine bösen Gefühle, jetzt werden wir in Frieden leben.“ Im Gegensatz zu der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg habe man also jedes Ressentiment vermieden, das zu einem Wiederauferstehen des Militarismus hätte führen können.

Bethe faßt schließlich zusammen: „Ich habe eine Menge Argumente dafür, daß es den Japanern mit den beiden Bomben besser ergangen ist, als es sonst – bei einer Blockade oder bei einer Invasion – der Fall gewesen wäre. Und das ganz unabhängig davon, daß im Fall einer Invasion die Russen wahrscheinlich einen Teil Japans erobert hätten.“

(…)

Die Vorstellung, daß es den Japanern durch die verheerenden Atombombenabwürfe besser ergangen sein soll, ist schwer für mich zu akzeptieren. Beunruhigende Fragen bleiben. Ich frage Bethe, was er mit „den beiden Bomben“ gemeint hätte, ob es für ihn klar gewesen sei, daß die Bombardierung von Nagasaki notwendig sein würde. „Vielleicht nicht“, meint er. „Einen halben Tag vor Nagasaki beschloß der Kaiser die Kapitulation. Doch diese Entscheidung war in Washington nicht bekannt. Erst nach Nagasaki wurde sie über Radio Tokio verkündet.“

Ich bemerke, daß die Japaner noch unter dem Schock von Hiroshima standen und vor Nagasaki nicht genügend Zeit gehabt hätten zu reagieren. Die zweite Bombe hätte nur dann nicht eingesetzt werden sollen, wenn Truman dies ausdrücklich anordnen würde. Der Befehl des Präsidenten sei also für den Abwurf der Bombe überhaupt nicht mehr relevant gewesen, sondern nur für dessen Verhinderung.

Er meint: „Sie haben vollkommen recht. Die zweite Bombe hätte vielleicht vermieden werden können. Leider lag die Entscheidung für diesen Einsatz nicht bei Truman. Es ist möglicherweise ein Fehler gewesen, die Order so zu erteilen, weshalb die Entscheidung dem Kommandierenden vor Ort überlassen blieb.“

(…)

Neben Hiroshima und Nagasaki ist der Atompilz zu einem Symbol unserer Fähigkeit geworden, uns gegenseitig mit einem Schlag zu töten.

Im Bild der Bombe ist die schreckliche Realität des Krieges eingeschlossen. Es erinnert uns daran, daß wir heute die Möglichkeiten besitzen, die Welt zu vernichten. Ich sage zu Bethe, daß Menschen meinen könnten, daß dies eigentlich kein Grund zum Feiern sei.

Ich hatte erwartet, er würde die Logik seiner Argumente verteidigen. So bin ich über seine Antwort überrascht: „Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung. Die Bombe ist ein schlimmes Ding, daran besteht kein Zweifel. Und meine erste Reaktion nach Hiroshima war: Wir dürfen sie niemals wieder einsetzen … . Gleich nach der Kapitulation habe ich mich völlig der Rüstungskontrolle gewidmet. Doch nachdem einmal die Kernspaltung entdeckt worden war und man sich im Krieg befand, stand es von vornherein fest, daß die Bombe gebaut würde.“

Mir kommt J. Robert Oppenheimers berühmte Äußerung in den Sinn, die Atomwissenschaftler hätten „die Sünde kennengelernt“. Ich frage Bethe, was sein Freund damit gemeint habe. „Ich denke, der Satz ist richtig. Und er [Oppenheimer] sagte im gleichen Zusammenhang, daß man eines Tages den Namen »Los Alamos« verfluchen werde. Das stimmt, weil dieses schlimme Ding auf die Welt gekommen ist und auch ohne die japanischen Städte noch immer da ist.“

Und er fügt hinzu: „Ich möchte noch eine weitere Äußerung erwähnen, die auf der anderen Seite steht. Anläßlich des 40. Jahrestags … sagte ein Wissenschaftler von Los Alamos: ,Wegen Pearl Harbor geschah es ihnen recht.` Dem kann ich nicht zustimmen. Ich denke, dieser Wissenschaftler ist noch nicht der Mentalität des Krieges und seiner blinden Brutalität entwachsen.“

Als ich bemerke, daß das nicht in die bequemen Kategorien passen will, mit denen wir dem Nachdenken über unangenehme Dinge aus dem Weg gehen, entgegnet Bethe: „Meine Frau hat von mir gesagt, ich sei eine Taube, aber eine mit Haaren auf den Zähnen.“

Ich frage Bethe, wie er als Wissenschaftler, der mitgeholfen hat, das Übel der Bombe auf die Welt zu bringen, seine eigene Verantwortung sieht. „Nun – ich habe da einen pragmatischen Standpunkt. Was hätte den Japanern am wenigsten Leid zugefügt? Sie [die Bombe] verschonte japanische Menschenleben. Ich denke, das ist mein wichtigstes Argument.“

Anmerkung

Der vollständige Artikel von Mary Palevsky erschien am 25.6.1995 unter dem Titel „Tough Dove. Hans Bethe and the Birth of the Bomb“ in der »Los Angeles Times«. Wir danken Herrn Bethe und Frau Palevsky sehr herzlich, daß wir die Abdruckrechte für die Auszüge aus diesem Artikel erhielten. Den Artikel schrieb die Autorin auf der Grundlage von zwei langen Interviews und einigen Telefongesprächen mit Herrn Bethe.

Über Hans Bethe

Hans Bethe, geb. 1906 in Straßburg, gehört weltweit zu den herausragenden Physikern dieses Jahrhunderts. „Ich fand heraus, warum die Sonne scheint, und dafür bekam ich (1966) den Nobelpreis“, erklärte er am 25. Oktober 1984. Bethe, Leiter der Theoretischen Abteilung im Manhattan-Projekt, war einer der wichtigsten Wissenschaftler des Atombombenprogramms der USA, in die er bereits 1933 emigrieren mußte.

Seit 1935 war Bethe bis zu seiner Emeritierung an der Cornell University, in seinem Arbeitszimmer im Newman Laboratory ist er auch heute noch tagtäglich anzutreffen. In einem im Herbst 1993 geführten Gespräch erklärte er, daß die Atombombenabwürfe neben der Flucht aus dem Dritten Reich für ihn eine der wichtigsten Ereignisse seines Lebens darstellten.

In seinen schriftlichen Äußerungen merkt man allerdings hiervon nichts. In der repräsentativen Aufsatzsammlung „The Road from Los Alamaos“ (New York u.a. 1991) kommt Hiroshima praktisch nicht vor. Als die Redaktion des »Bulletin of the Atomic Scientists« ihn 1985 bat, für das Hiroshima-Sonderheft einen Beitrag zum Thema »Rückblicke« zu verfassen, reichte Bethe den rüstungskontrolltheoretisch orientierten Aufsatz „The technological imperative“ ein. Im Vorwort zu Martin Sherwins Studie „A World Destroyed“ (New York 1975), geht er kurz auf die Abwürfe ein, wobei er das Bombardement von Nagasaki als „in any case unnecessary“ (S.xiv) bezeichnet. In dem langen Interview (das Transkript umfaßt 168 Seiten), das er im Herbst 1967 gab, kommt in der ersten Sequenz mit Charles Weiner und Jagdish Mehra das Thema »Hiroshima« nicht vor. Im zweiten Gesprächsabschnitt mit Weiner verweist Bethe (Transkript, S. 164) lediglich auf die 1965 erschienene Studie von Alice Kimball Smith „A Peril and A Hope“ (The University of Chicago 1965) hin. Seine Bemerkung ist knapp: er könne nichts hinzufügen. Bethes Gespräch mit Lillian Hoddeson vom Frühjahr 1981 widmet sich ausschließlich naturwissenschaftlichen Fragen.

Bethes Sprachlosigkeit macht umso deutlicher, wie sehr Hiroshima ihn innerlich nicht mehr losgelassen hat, auch wenn er in einem Telefongespräch im Frühsommer 1995 meinte, das Thema verfolge ihn nicht. Allerdings sprechen Hans Bethes zahlreiche und beständige Aktivitäten als Berater amerikanischer Präsidenten und Administrationen Bände. Bethe wird in allen großen Sicherheitsdebatten der USA – von der H-Bombe über den begrenzten Teststopp bis hin zu SDI – zu einem führenden Verfechter von Rüstungskontrolle und zu einem Leitbild für eine ganze Generation von rüstungsskeptischen Physikern.

„Zunächst waren wir glücklich“, antwortete er auf die Frage nach seiner ersten spontanen Reaktion auf die Abwürfe. Nachdem er jedoch die Bilder gesehen habe, war er darüber schockiert, was für ein „schreckliches Ding“ die Bombe sei. Ungeachtet, ob Bethes Aktivitäten und Positionen auf einen Schuldkomplex zurückzuführen sind (wie Teller meint) oder nicht (Oppenheimer hatte laut Bethe einen, der Cornell-Physiker ist sich aber nicht sicher, ob das auch für ihn gilt): das Plädoyer für Rüstungskontrolle ist Bethes sichtbarster Beleg für sein Lernen aus Hiroshima, dessen Bombardierung er nach wie vor rechtfertigt. Die Devise für seine Arbeit blieb, darauf hinzuwirken, daß A-Bomben nie wieder eingesetzt werden. „Heute kann ich nur sagen, daß Nuklearwaffen nicht eingesetzt werden dürfen“, sagte er in einem Telefoninterview im Frühsommer 1995.

An Hans Bethe und seine Position sind jedoch einige Fragen zu richten, die, wenn überhaupt, teilweise wohl nur ein sorgfältiger Biograph wird beantworten können, der Zugang zu den noch verschlossenen Los Alamos-Dokumenten im Bethe-Archiv hat: Sind dies seine Argumente damals auch schon gewesen (ist nicht die Betonung auf das

Menschenleben neueren Datums)? Wie intensiv sind alle jene Fragen in Los Alamos wirklich schon erörtert worden? Was ist spätere Reflexion – und möglicherweise Rechtfertigung? Zu beachten ist auch, daß in den Sitzungen des entscheidenden „Interim-Ausschusses“, der Truman den Einsatz der Bombe empfahl, nur einmal das Für und Wider einer Demonstration erörtert wurde – und das auch nur während eines Mittagessens am 31. Mai 1945. Zu fragen ist auch, ob Bethe jemals erwogen hat, das Los Alamos-Projekt zu verlassen, nachdem klar war, daß die Bomben nicht gegen Nazi-Deutschland, sondern gegen Japan eingesetzt würden?

Mary Palevsky (Kalifornien)

Soweit ersichtlich, hat sich Hans Bethe zum ersten Mal im Gespräch mit Mary Palevsky Granados von der »Los Angeles Times« mit diesen Fragen ausführlich für die Öffentlichkeit befaßt. Bernd W. Kubbig

„Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht“

„Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht“

Interview mit Dr. Edward Teller

von Dr. Edward Teller und Bernd W. Kubbig

Kubbig: In der Beurteilung der Atombombenabwürfe sind diejenigen Naturwissenschaftler in den USA am kritischsten gewesen, die wie Leo Szilard und James Franck am Met Lab in Chicago in großer geografischer Distanz von Los Alamos, dem Zentrum des Manhattan-Projekts, arbeiteten. Sie selbst, Herr Teller, nehmen unter den amerikanischen Naturwissenschaftlern in dieser Frage bekanntlich eine gewisse Sonderrolle ein. Hängt dies auch damit zusammen, daß Sie in den Los Alamos-Jahren weniger an der A-Bombe als an der H-Bombe interessiert waren, daß, wenn ich das so sagen darf, die A-Bombe nicht Ihre Bombe war?

Teller: Unsinn. Total.

Kubbig: Totaler Unsinn?

Teller: Schauen Sie, meine Bombe, deine Bombe. Gar kein Unterschied. Einfach Unsinn. Nein.

Übrigens, manche der mir in den letzten Tagen gestellten Fragen waren gut, manche Fragen waren nicht gut. Ich glaube, daß mehr als die Hälfte der Fragen unwichtig war. Viele von ihnen beruhten auf Mißverständnissen oder der Verkennung der Sachlage. Das, muß ich sagen, gilt auch für Sie. Der Punkt, daß da irgendein Wettbewerb zwischen Oppenheimer und mir gewesen wäre, ist einfach fantastisch falsch.

Kubbig: Gut, es wird notiert. Sie haben …

Teller: Oppenheimer war ein Mensch, der in vieler Hinsicht hochbegabt war und den ich Grund hatte, mehrfachen Grund, zu bewundern. Ich hatte auch mehrfachen Grund für das Gegenteil, aber über das Gegenteil habe ich versucht, so wenig nachzudenken, es so wenig zur Kenntnis zu nehmen, wie nur möglich.

Kubbig: In Ihrem Buch „The Legacy of Hiroshima“, das 1963 auch auf Deutsch erschien, haben Sie geschrieben: „Der erste Akt des atomaren Dramas hat mich zu zwei Überzeugungen gebracht: Es war notwendig und richtig, die Atombombe zu entwickeln. Es war unnötig und falsch, Hiroshima ohne besondere Warnung zu zerstören.“ (Siehe Auszug S. 32) In Ihrem Frankfurter Vortrag vor drei Tagen jedoch …

Teller: Also jetzt bin ich einen Schritt weiter gegangen.

Kubbig: Warum also das für uns überraschende Fragezeichen („Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?“) am Ende Ihres Vortragstitels, wo ursprünglich ein schlichter Punkt stehen sollte? („Die Atombombenabwürfe waren ein Fehler.“)

Teller: Ja, das war einmal meine Meinung. Nach weiterem Nachdenken finde ich, fand ich, daß ich den ersten Teil meiner Meinung nicht zu ändern brauchte, den zweiten Teil zwar nicht schroff ändern, aber doch abschwächen sollte. Ich würde es so formulieren: Wahrscheinlich war es ein Fehler, aber sicher bin ich nicht. Daß aber die (Ver-)Nachlässigung von anderen Möglichkeiten ein Fehler war und ein eigener Fehler, das glaube ich.

Kubbig: Das haben Sie in Ihrem Frankfurter Vortrag auch sehr stark …

Teller: Also ich … ich behaupte weniger, aber dieses »Weniger« behaupte ich mit Überzeugung.

Kubbig: Sie sagten, Sie haben über diese Frage nachgedacht und sind nach dem Nachdenken zu der gewissen Änderung gekommen. Welche Gründe gab es hierfür?

Teller: Das ist eine schwierige Frage. Nehmen wir an, daß wir wirklich eine Atombombe demonstriert hätten, daß der Krieg zu Ende gegangen wäre. Das hätte große Vorteile gehabt, besonders, weil viele Leute nicht getötet worden wären. Amen. Vielleicht wäre dann die Warnung, die dann weitere Anwendungen ausgeschlossen hätte, nicht genügend stark gewesen. Genügend für die Japaner und nicht genügend in den nächsten fünfzig Jahren.

Kubbig: Hatten Sie von Oppenheimer, dem wissenschaftlichen Leiter des Projekts, erwartet, daß er der technischen Demonstration viel mehr Aufmerksamkeit hätte widmen sollen, als er es tatsächlich getan hat?

Teller: Er war in einer starken Lage, es zu tun, ob genügend ist die Frage, aber unvergleichlich stärker als irgendein anderer.

Kubbig: Ich möchte Sie auf ein ganz anders Thema ansprechen: die Bedeutung von Frauen im Manhattan-Projekt. Waren die Konzeption, das Design, das Bauen der Bombe reine Männersache? Haben Frauen überhaupt eine Rolle gespielt?

Teller: Ja, ja, ja. Aber schauen Sie, die Damen waren nicht in leitenden Stellungen. Die einzige, die praktisch etwas Unabhängiges und Wichtiges geleistet hat, war Maria Göppert-Mayer …

Kubbig: … Die spätere Nobelpreisträgerin …

Teller: … Sie war Deutsche. Sie kam aus Göttingen, aus einer Professorenfamilie. Sie hat bei Max Born ihren Doktor gemacht, dann einen Amerikaner geheiratet und eine Zeitlang die Physik aufgegeben, praktisch nichts getan.

Kubbig: War sie in der Arbeitsgruppe um James Franck, in der auch Sie in Göttingen arbeiteten …

Teller: Nein. Sie kannte James Franck sehr gut, aber sie arbeitete nicht. Sie erzog ihre Kinder. Ich kam 1931 nach Göttingen. Damals war sie schon weg. Ich kam 1935 nach Amerika, nach Washington, aber sie war in Baltimore, wie James Franck auch. Obwohl ich jünger war als sie, war ich zu einem gewissen Grade ihr zweiter Doktorvater. Ich habe sie in die Physik zurückgeholt, von der Mutterschaft. Damals waren ihre beiden Kinder so sechs, sieben Jahre alt. Als die anfingen, in die Schule zu gehen, da hatte sie wieder Zeit, da kam sie allmählich in die Physik zurück, und damit habe ich etwas zu tun.

Marias Arbeit betraf zunächst die Atombombe, ist dann aber ganz wichtig geworden in den weiteren Entwicklungen, und da hat sie, wie auch ihre beiden Schüler, erste gute Arbeit geleistet während des Krieges. Vielleicht gab es andere Beiträge, aber ich glaube, Marias Beitrag war besonders wichtig.

Kubbig: Welche anderen Kolleginnen sind Ihnen noch in Erinnerung? Caroline Herzenberg und Ruth Howes erwähnen in ihrem Artikel „Women of the Manhattan Project“ („Technology Review“, November/Dezember 1993) Mary F. Argo und Jane Roberg, die beide über Probleme der Kernfusion, also der H-Bombe, arbeiteten.

Teller: Mary Argo blieb auch nach dem Krieg in Los Alamos. Sie und ich haben einen langen Artikel über Atomkerne für die Encyclopaedia Britannica verfaßt. Sie hat in meiner Gruppe gearbeitet, aber nicht besonders. Jane Roberg, die war ebenfalls nicht besonders. Die war auch ganz krank. Und ich glaube, sie ist während des Krieges gestorben. Es war wichtig für sie, wegen ihrer Krankheit die Erlaubnis zu erhalten, von Los Alamos nach Albuquerque zu gehen, aber aus Sicherheitsgründen wurde das aufgehalten. Das fand ich eigentlich empörend.

Kubbig: Sie durfte also nicht nach Albuquerque?

Teller: Ich erinnere mich nicht an Details, aber da gab es Hindernisse.

Kubbig: Um bei den von Herzenberg und Howes erwähnten Namen fortzufahren. Kannten Sie Naomi Livesay, die sich mit der Druckwelle der Atombombe beschäftigte?

Teller: Nein, nur dem Namen nach.

Kubbig: Und E. Anderson, die sich u.a. mit der Frage befaßte, wieviele Neutronen pro Kernspaltung entstehen, und Elizabeth Graves, die …

Teller: … Ich glaube, Miss Anderson habe ich gekannt, aber ich erinnere mich nicht. Elizabeth Graves, die kannte ich gut. Sie und ihr Mann arbeiteten nach meiner Los Alamos-Zeit an den H-Bomben-Tests. Ich habe noch eine Geschichte im Zusammenhang mit dem ersten Test. – Könnte ich noch eine Tasse Kaffee haben?

Kubbig: Gern.

Teller: Die erste Versuchsserie fand im Frühjahr 1951 auf dem Militärgelände des Eniwetok-Atolls im Pazifik statt. Ich wußte bereits, daß der Test erfolgreich verlaufen war, aber die Leute in Los Alamos wußten es noch nicht und warteten auf die offizielle Mitteilung. Ich sollte meiner Erinnerung nach das Ergebnis einem Kollegen in Los Alamos mitteilen, aber ich durfte beim Telegrafieren natürlich keine Geheimnisse verraten. Ich habe die Frage gelöst, indem ich ein Telegramm an Elizabeth Graves schickte. Der Text lautete: „It's a boy!“ Das war die erste Bestätigung, die Los Alamos erhielt.

Kubbig: Sie sind tausendmal gefragt worden, ob Sie die Beteiligung am Manhattan-Projekt bereut haben. Ich möchte deshalb diese Frage jetzt nicht stellen.

Teller: Nein, nein.

Kubbig: Ich möchte die Frage nicht stellen.

Teller: Nein, das ist totaler Unsinn. Absolut totaler Unsinn. Und ich bin schon so oft gefragt worden, also …

Kubbig: Ich möchte eine andere Frage stellen, die Ihnen vielleicht nicht so oft gestellt worden ist, ja? In den »Recollections« Ihres Freundes Eugene Wigner (siehe Auszug S. 31) gibt es die folgende Überlegung: Was wäre eigentlich passiert, wenn die USA die Bombe ein Jahr früher gehabt hätten? Karl Cohen, Harold Ureys damaliger Assistent, hat die Meinung vertreten, daß die Bombe ein Jahr früher hätte fertig sein können – wenn der militärische Leiter des Manhattan-Projekts, General Groves, sich für die von Urey vorgeschlagene Methode entschieden hätte, Uran auf der Grundlage des Zentrifugenverfahrens anzureichern. Verdanken die Europäer General Groves die Tatsache, daß die Bombe später fertig war, weil die von ihm gewählte Methode der Urananreicherung auf der Basis der Diffusionstechnologie ein ganzes Jahr mehr in Anspruch nahm?

Teller: Nein, nein. Wir waren so früh fertig wie irgend möglich.

Kubbig: Wir haben gestern darüber gesprochen, daß …

Teller: … Es gab andere Urananreicherungsmöglichkeiten. Ich möchte sagen, das ist nicht total ausgeschlossen …

Kubbig: … daß die Bombe hätte früher fertig sein können, wenn man ein anderes Urananreicherungsverfahren gewählt hätte?

Teller: Ich glaube nicht, aber es ist nicht total ausgeschlossen.

Kubbig: Wir haben gestern darüber gesprochen, daß in Washington derzeit ein (wenn auch längst bekanntes) Dokument des Military Policy Committee vom 5. Mai 1943 Aufsehen erregt. In diesem von General Groves unterzeichneten Bericht über die Sitzung, an der die führenden Wissenschaftsadministratoren des Manhattan-Projekts, Vannevar Bush und James Conant, sowie General Styler teilnahmen, heißt es zum Schluß: „Das Ziel des Einsatzes (point of use) der ersten Bombe wurde diskutiert, und die allgemeine Auffassung schien zu sein, daß das beste Ziel des Einsatzes eine japanische Flottenkonzentration im Hafen von Truk sei. General Styler schlug Tokio vor, aber es wurde darauf hingewiesen, daß die Bombe dort eingesetzt werden sollte, wo, falls sie nicht explodiert, sie ins Wasser von ausreichender Tiefe fallen würde, um eine leichte Bergung zu verhindern. Die Japaner wurden ausgewählt, weil sie nicht so in der Lage seien, sich hiervon Wissen zu beschaffen wie die Deutschen.“

Teller: Also, darüber weiß ich gar nichts.

Kubbig: Meine Frage ist und vielleicht bestätigen Sie da andere Naturwissenschaftler wie Hans Bethe, die kürzlich sagten, sie hätten von diesem Dokument nichts gewußt: War Ihnen klar, daß sich die Atombombe anstatt gegen Nazi-Deutschland gegen Japan richten könnte? Und wenn ja, wann haben Sie davon erfahren?

Teller: Ich habe darüber nichts erfahren. Die Änderung kam schrittweise eben damit, daß wir sahen, daß Hitler besiegt war. Wenn der Krieg Deutschlands sich ein Jahr länger hingezogen hätte, dann hätten wir wahrscheinlich die Atombombe auf Deutschland geworfen.

Kubbig: Allerletzte Frage: 1945 und später geisterten Zahlen umher, daß die Atombombenabwürfe bis zu einer Million amerikanische Soldatenleben gerettet hätten, weil die bevorstehende Invasion Japans nach den nuklearen Bombardements nicht mehr notwendig war. Haben Sie diese Zahlen damals auch gehört?

Teller: Ich weiß nicht. Ich glaubte damals und glaubte jetzt, daß, wenn man eben nur diese Zahl ansieht, dann war unser Vorgehen gerechtfertigt. Aber Sie wissen genau, daß ich das nicht an sich für ein ausreichendes Argument ansehe.

Kubbig: Haben Sie ganz herzlichen Dank für Ihre große Auskunftsbereitschaft.

Mit Dr. Edward Teller sprach am 22.4.1995 Dr. Bernd W. Kubbig.

Leitmotive: Vom Punkt zum Fragezeichen

Leitmotive: Vom Punkt zum Fragezeichen

Anmerkungen zu Dr. Tellers Besuch in Frankfurt

von Bernd W. Kubbig

Für die Entwicklung und den Einfluß der A- bzw. H-Bombe auf die internationalen Beziehungen in diesem Jahrhundert steht jeweils der Name eines Physikers: J. Robert Oppenheimer bzw. Edward Teller. Edward Teller war vom 19. bis 22. April 1995 in Frankfurt, bevor er nach Osaka weiterflog, um dort einen nach ihm benannten Preis an Physiker zu vergeben. Es hat viele überrascht, daß die HSFK ausgerechnet den nach wie vor umstrittensten Physiker unserer Zeit als Referenten eingeladen hat. Die folgenden drei Gründe haben uns bewogen, den Frankfurter Vortragszyklus mit Edward Teller zu eröffnen.

What, no sense at all?
No, no sense at all
Or, if there is some sense
It's exceedingly small.“

Edward Teller1

Als einer der einflußreichsten US-Atomphysiker dieses Jahrhunderts ist Teller gleichzeitig ein führender Repräsentant des Atomzeitalters, das es im gesamten Vortragszyklus zu besichtigen galt. Als Physiker und politischer Ratgeber hat er die Geschichte unseres Jahrhunderts maßgeblich mitbestimmt. Sich mit dem Atomzeitalter mit all seiner Abschreckung, seinem Schrecken und seinen Altlasten auseinanderzusetzen, heißt, sich mit der Persönlichkeit und dem Wirken Edward Tellers auseinanderzusetzen. Darüber hinaus bricht sich in seinem Lebensweg – hierin liegt der zweite Grund für die HSFK-Einladung – nicht nur die nukleare Ära, sondern unser gesamtes Jahrhundert. Die deutschen, wie auch später die sowjetischen Anteile daran, sind unübersehbar.

Teller, im Jahre 1908 in Budapest geboren, wächst in der gebildeten Mittelschicht auf, studiert in der naturwissenschaftlichen Aufbruchstimmung der zwanziger Jahre bei Werner Heisenberg in Leipzig und sieht sich bald nach der Machtübernahme Hitlers gezwungen, Göttingen und damit Deutschland zu verlassen. In den fünfziger Jahren macht er negative Erfahrungen mit dem kommunistischen Kadar-Regime in Ungarn, das seine Mutter und seine Schwester erst 1959 in die USA ausreisen läßt. Was den Lebensweg und die Positionen Edward Tellers ab den vierziger Jahren als US-Staatsbürger in der neuen Welt bis heute charakterisiert, hat seinen Ursprung auf dem alten europäischen Kontinent: Tellers schier unendlicher Glaube an die Möglichkeit, mit (nicht-)militärischen Technologien Probleme lösen zu können; seine einstige unerbittliche antisowjetische Haltung; seine Skepsis gegenüber Rüstungskontrollverträgen. Alle diese Aspekte spricht Dr. Teller auch in seinem Frankfurter Vortrag an.

Und schließlich haben wir den US-Physiker ungarisch-deutscher Herkunft eingeladen, weil viele von uns in der Einschätzung der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki diesem entschiedenen Antreiber der Rüstungsdynamik näherstehen dürften als manchem Befürworter der Rüstungskontrolle unter den Physikern des Manhattan-Projekts – auch wenn wir nicht alle Begründungen hierfür teilen mögen.

Wer sich auf Edward Teller als Referenten, noch dazu als Eröffner einer ganzen Vortragsreihe, einläßt, kann bis zum Schluß nicht sicher sein, ob er auch wirklich kommt. Der ehemalige Direktor des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) ist bekannt dafür, daß er sein grundsätzliches Ja unmittelbar vor Vortragsbeginn in ein Nein abändern kann – auch wenn der Organisator zu diesem Zeitpunkt mit Tellers unermüdlicher Sekretärin Joanne Smith bereits mehr als 50 Faxe gewechselt und alle Details festgeklopft hat. Der Physiker ist gleichermaßen bekannt dafür, daß er seine Teilnahme an einer Veranstaltung gegebenenfalls abrupt abbricht. Ein Grund kann sein, daß ihm das Design des Vortragszyklus' nicht gefällt („zu anti-nuklear“), daß ihm andere Referenten zu liberal sind oder unliebsame Gegner aus der Zeit des Manhattan-Projekts ebenfalls als Referenten auftreten.

Das Programm in Frankfurt mit Überraschungsgästen

Und doch kam der 87-jährige Atomphysiker nach Frankfurt, und er brach den Aufenthalt auch nicht ab. Vielmehr absolvierte er in bewundernswerter Weise ein viertägiges Mammutprogramm. Sein Eröffnungsvortrag war, ob man mit den Inhalten übereinstimmt oder nicht, der historische Auftritt einer historischen Persönlichkeit. „Unheimlich beeindruckend“, so lassen sich viele uns bekannt gewordene Reaktionen der zum Teil von weither angereisten 700 ZuhörerInnen zusammenfassen.

Der offizielle HSFK-Abend mit Herrn Teller verlief spannend. Teller genoß es sichtlich, mit einer Kollegin vom Fach über physikalische Probleme zu plaudern. Die Aura des autokratischen Hauptkonstrukteurs der Wasserstoffbombe wich der des charmanten und charmierenden Causeurs, als der er auch in der Literatur bekannt ist.2 Wer die beiden über ihn geschriebenen Biographien kennt3, erlebt Teller in manchen Äußerungen in stereo, nämlich real und gleichzeitig als Zitat (etwa, wenn er erzählt, daß er bis zu seinem dritten Lebensjahr nicht sprechen konnte, dann aber gleich in ganzen Sätzen parlierte). Teller lebt und inszeniert sich selbst eben längst als Legende. Und so entsteht an einem solchen Abend das unausweichliche Kippbild zwischen dem weltläufig-freundlichen Gesprächspartner und dem US-Erfinder des zerstörerischsten Massenvernichtungsmittels aller Zeiten; es ist in einem Krieg zwar nie zum Einsatz gekommen, aber es hat in Friedenszeiten durch die Tests im Pazifik Menschen und Natur verstrahlt.

Diese Realität holt Teller in den Fragen des Publikums nach seinem Vortrag ein, und auch der Brief eines Zuhörers, den ich ihm übergebe, enthält gräßliche Fotos von den Zerstörungen durch Radioaktivität. Teller betrachtet im Foyer des Hotels die Bilder aufmerksam, bevor er sie in die Jackentasche steckt. „Der Brief und die Photos behandeln das Thema Radioaktivität“, sagt er mir in einer Weise, die nicht dem gängigen (Vor-)Urteil über Teller als Inkarnation des wissenschaftlich-technologischen Zynismus' entspricht. Wie er mit den Photos und dem langen Schreiben umgehen wird, weiß ich nicht.

Bekannt ist indes Tellers Credo in dieser Frage, das sich durch seine schriftlichen und mündlichen Äußerungen zieht: „Nicht der globale Niederschlag (fallout) infolge der Tests ist gefährlich, sondern die Angst vor den Niederschlägen.“ 4 Die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen der Tests »seiner« Wasserstoffbomben hat er immer verniedlicht: Der radioaktive Niederschlag nach dem Bikini-Test im Jahre 1954 sei „tragisch“ gewesen, aber er „hätte schlimmer sein können“. Die Verstrahlung infolge von Tests „ist sehr gering. Ihre Auswirkungen auf menschliche Wesen ist so niedrig, daß sie, falls sie überhaupt existieren, nicht gemessen werden können“. Die Verstrahlung durch radioaktive Niederschläge nach Kernwaffenversuchen „ist für Menschen vielleicht geringfügig schädlich. Sie ist vielleicht geringfügig positiv (beneficial). Sie ist vielleicht überhaupt folgenlos“.5 Schon damals hatten Tellers Äußerungen einen Sturm der Entrüstung auch unter namhaften Wissenschaftlern hervorgerufen. In seinem Frankfurter Vortrag hat der Physiker dieses Thema in ähnlicher Weise wieder aufgegriffen. Die Schädlichkeit weitverbreiteter radioaktiver Niedrigstrahlung hält er, so seine vor dem Referat verteilten „Sechs Gründe“, auch heute „für nicht bewiesen“.6

Teller und Richard Wagner

In Frankfurt gab es am ersten Abend einen großen Überraschungsgast an der Tafel, der in Tellers bisherigen Biographien nicht vorkommt. Er hieß Richard Wagner. Auf ihn kamen wir zu sprechen, als es um beachtenswerte kulturelle Leistungen Frankfurts ging. Vier Teilnehmer der Runde hatten den »Ring des Niebelungen« gesehen und gerieten ins Loben. Daraufhin geriet Teller ins Schwärmen. Das ganze Libretto des »Parzival« könne er wohl noch auswendig. Er fing an, zu skandieren. Dann wollte er Einzelheiten wissen, etwa, wo im »Parzival« das Schwert stecke. Warum es nur ein Bühnenbild gebe und warum denn ausgerechnet ein Sofa ein so wichtiges Requisit sei. Teller, der gewohnt ist, auf Fragen zu antworten, stellte plötzlich selbst Fragen. Daß er Wagner als einen der ganz wenigen Komponisten gelten läßt, mag auf ein großes Stück Wahlverwandtschaft hindeuten. Am Klavier – Teller gilt als vorzüglicher Pianist – hört die Musik für den spielenden Physiker ebenfalls im 19. Jahrhundert auf. Über Richard Wagner schrieb Thomas Mann 1931: „Wo ist zum zweiten Mal eine solche Vereinigung von Größe und Raffinement, von Sinnigkeit und sublimer Verderbtheit, von Popularität und Teufelsartistik. (…) Der »Ring« bleibt mir der Inbegriff des Werkes. Wagner war, im Gegensatz zu Goethe, ein Mann des Werkes ganz und gar, ein Macht-, Welt- und Erfolgsmensch durch und durch, ein politischer Mensch in dieser Bedeutung.“ 7

Stichwort »Teufelsartistik«. Viele seiner Kollegen und viele Journalisten haben Tellers Persönlichkeitsprofil ausschließlich oder hauptsächlich mit den Kategorien der Psychopathologie zu erfassen versucht. Da ist von den Obsessionen des Physikers die Rede, sei es im Hinblick auf die kommunistischen Regime der Vergangenheit, sei es hinsichtlich seiner technologischen Philosophie, alles sei machbar und alles, was machbar ist, sollte auch gemacht werden. Kein Physiker ist in diesem Jahrhundert so dämonisiert worden wie Teller, der mal als kompletter Mephistopheles phantasiert wird, mal als Faust, der den Pakt mit dem Teufel schließt, und der mal als eine Mischung aus beiden erscheint. Für viele ist er der »Dr. Strangelove« dieses Jahrhunderts, und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Teller durch seine Selbstinszenierungen einen Anteil daran hat, daß ein solches Bild hat entstehen können.

Es hat Momente gegeben, in denen ich mir auch ein solches Bild von ihm gemacht habe – etwa, als Teller, der ungern als »Vater der Wasserstoffbombe« bezeichnet werden will, während unseres Interviews enthusiastisch das Codewort vom gelungenen Test »seiner« Bombe ausrief: „It's a boy!“ (siehe S. 27). Ich stellte mir die Frage, was er wohl, im Umkehrschluß, bei der Geburt seines »boy's« ausgerufen hat.

Aber alle diese Annäherungen und Einschätzungen von Teufelsartistik sind allein deshalb verlogen, weil sie von uns selbst ablenken. Es ist zu simpel, die »Dämonen« in uns bei den Bombenbastlern abzugeben und zu parken. Weiterführender wäre es indes, die Ursachen für ein solches Persönlichkeitsprofil freizulegen. Tellers ausgeprägter Antikommunismus ist hauptsächlich – wenn auch nicht ausschließlich – durch seine persönlichen Erfahrungen mit den entsprechenden Regimes in Ungarn und vor allem in der UdSSR zu erklären.

Den Wurzeln von Tellers naiv-optimistischem wie gefährlichem Verständnis von Technik und ihrer Anwendung ist hingegen schwer beizukommen. Teller selbst hat keine Antwort auf dieses Problem, und die Literatur über ihn führt auch nicht weiter. In einer ersten Annäherung ließe sich sagen, daß in Tellers technischem Weltbild der grenzenlose Technikoptimismus der Wilhelminischen Epoche mit den entsprechenden Traditionen des »American Dream« verschmilzt. Der schutzbedürftige Emigrant paßt sich in den besonders in den USA ausgeprägten Glauben an die Problemlösungsfähigkeit von Technologien mühelos ein. Die USA gewähren ihm Schutz, der Einwanderer bedankt sich mit der Erfindung und Entwicklung von Super-Zerstörungsmitteln, die den gesamten Kontinent verteidigen sollen; gleichzeitig verwandeln sie die Ohnmacht des Immigranten in ungeheuere Exponate der Macht.

Tellers technologischer Extremismus, der nicht nur gefährlich, sondern auch zuweilen lächerlich wirkt (Stichwort: „mit Nuklearexplosionen nach Gold graben“), war zudem bis zum Zusammenbruch des technologischen Konsenses in den USA Ende der sechziger Jahre durchaus zeitgemäß und repräsentativ. Er hatte seine Basis vor allem in den Waffenlaboratorien und drückte deren institutionell-bürokratische Interessen weltanschaulich aus. Der Ost-West-Konflikt war das ideale Laboratorium, in dem sich Antikommunismus und Technikoptimismus anhaltend und zuweilen explosiv vermischten. In seinem ungebrochenen Technologieenthusiasmus wirkt Teller heute, um Günther Anders' Leitbegriff zweckzuentfremden, wie ein »antiquierter Mensch«. Aufs Ganze gesehen ist Teller damit der überangepaßte Emigrant geblieben.

Tellers Persönlichkeitsprofil kommt hinzu: die Lust zu spalten; das Bedürfnis, sich als einsame Ausnahme von der gemeinen Regel zu definieren; das ausgeprägte Machtbedürfnis, das sich möglicherweise aus professionellem Ehrgeiz genauso speist wie aus dem Emigrantenschicksal und der recht frühen Erfahrung eines lebenslangen körperlichen Leidens. Der Bau der »Super«-Bombe, wie die H-Bombe in den USA genannt wird, steht stellvertretend hierfür.

Der Physiker machte während der Pressekonferenz in Frankfurt jedoch auch deutlich, daß die ihn charakterisierende »can-do-philosophy«, das »Alles-Machen- und-Beeinflussen-Können«, in sich nicht völlig stimmig ist. Vielmehr schlägt sie an einem bestimmten Punkt um und zwar dort, wo plötzlich in Tellers Denken »das Wissen« auf den Plan tritt. Es ist akteurlos und nicht zu bändigen. Das militärische »knowledge«, das sich in mehreren Etappen in konkrete Waffen umsetzt, ist keine Ausnahme. Diese eigendynamischen Prozesse, die eine vertraute Denkfigur technokultureller Reflexionen und Weltbilder sind, stellt gleichzeitig eine Exkulpierungsstrategie für den wenn nicht machtlosen, so doch ohnmächtig erscheinenden Forscher dar.

Teller und J. Robert Oppenheimer

Am Abend darauf sitzt ein anderer Gast im Dreierkreis mit an der Tafel. Wer sich mit der Biographie des Physikers auskennt, weiß, daß dieser Gast beständig in und um Teller ist und deshalb auch mit ihm nach Frankfurt gereist ist, bevor er mit nach Osaka weiterfliegt. Teller hat ihn zeitlebens bewundert und wohl auch gehaßt, um seine Gunst gerungen und vielleicht sogar gebuhlt, bis er ihn mit zerstörte. Daß auch er ein Überraschungsgast ist, hat lediglich damit zu tun, daß wir nach einem langen wie produktiven Tag nur kurz zu Abend essen wollen. Doch dann stellt der 87-jährige Teller unvermittelt die Frage seines Lebens. Es ist die Frage des H-Bombenkonstrukteurs nach dem A-Bombenkonstrukteur (und nach der Beziehung zwischen beiden und letzlich nach dem H-Bombenkonstrukteur): „Was halten Sie von Robert Oppenheimer?“

Meine Antwort gibt sich ausweichend: „Ihre Beziehung zu Oppenheimer ist für mich eine der spannendsten Männerbeziehungen in diesem Jahrhundert. Sie ist romantisch und wäre daher am ehesten ein geeignetes Sujet für Komponisten und Dichterinnnen.“ Irgendetwas muß, zumindest vorübergehend, auch aus der Sicht Tellers wahr oder wünschenswert an dieser Einschätzung sein. Denn der greise Physiker strahlt zufrieden und kindlich über das ganze Gesicht; in seinen Frankfurter vier Tagen habe ich ihn so nicht strahlen sehen. Und dann kommen wir auf das in der Literatur breit behandelte Konkurrenzmotiv zwischen ihm und Oppenheimer zu sprechen.

Danach frage ich ihn, ob er die Passage in William Lanouettes Szilard-Biographie kennt8, derzufolge Szilard seinen Freund Teller am Vorabend vor seinem berühmt-berüchtigtem Auftritt in Washington suchte, aber nicht fand; Szilard wollte Teller davor bewahren, vor dem Kongreß gegen Oppenheimer am 28. April 1954 auszusagen. (Am Tag drauf liest Teller die Passage; Frau Szilards Äußerung, die Lanouette zitiert, hält er, wohl zu Recht, für falsch.) Tellers damalige Worte besiegeln Oppenheimers wissenschaftspolitisches Ende in Washington. Er kennt seine eigenen schicksalshaften 45 Worte heute noch auswendig, wie er in einem im Herbst 1993 im »Cosmos Club« zu Washington geführten Interview demonstrierte: „I thoroughly disagreed with him (Oppenheimer, B.W.K.) in numerous issues and his actions frankly appeared to me confused and complicated. To this extent I feel that I would like to see the vital interests of this country in hands which I understand better, and therefore trust more.“ 9

Tellers politischer Einfluß treibt in jenen Jahren seinem Zenith entgegen. Aber persönlich und standespolitisch zahlt der Physiker einen hohen Preis für seinen machtpolitischen Triumph: Von nun an ist er für den größten Teil seiner Kollegen in den USA eine unerwünschte Person. Und entgegen seiner Absicht legt Teller zusammen mit seinen mächtigen Verbündeten vor allem in der Atomic Energy Commission den Grundstein dafür, daß Oppenheimer langfristig als Mythos aus jenem größten wissenschaftlichen Schauprozeß des Westens hervorgeht. Für mindestens eine Generation von US-Physikern der Nachkriegszeit wird der Hauptkonstrukteur der A-Bombe das Symbol für den unberechtigten staatlichen Zugriff und die Autonomie des Naturwissenschaftlers: Zwei der drei »Richter« des Tribunals erklären Oppenheimer zum Sicherheitsrisiko, staatliche Stellen verweigern dem berühmtesten US-Physiker den Zugang zu militärischem Wissen.

Unumwunden gibt Teller an diesem Abend in Frankfurt auch zu, daß zwei Interviews, die er 1952 FBI-Agenten gab, später als Grundlage für die Anklage der Atomenergiekommission gegen Robert Oppenheimer verwendet wurden – er habe nicht damit gerechnet, so Edward Teller mit cleverer Naivität, daß sie später so eingesetzt würden.10 Ohne den Namen Oppenheimer zu erwähnen, hat Teller immerhin in seinem Artikel „Scientists, Not Spies“ 11 indirekt für Oppenheimer Partei ergriffen, als 1994 der KGB-Mitarbeiter Pawel Sudoplatow einige Physiker von Weltrang in unhaltbarer Weise als Atomspitzel in Diensten Stalins bezeichnete (neben Oppenheimer sollten Niels Bohr, Enrico Fermi und Leo Szilard in der Zeit von 1942 bis 1945 der UdSSR die wichtigsten Informationen für den Bau der sowjetischen Atombombe geliefert haben).12

Teller überrascht an diesem Abend in Frankfurt ein weiteres Mal: Heinar Kipphardts Stück „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ findet er großartig, sich selbst gut getroffen. Dem Autor habe er das gesagt, als Teller ihm vor vielen Jahren begegnet sei (Oppenheimer hingegen war, wie sein auch auf deutsch veröffentlichter Briefwechsel mit dem Autor unmißverständlich zeigt, mit dem Stück nicht zufrieden).13

Unter Physikern

Das waren Gespräche am Abend nach einem langen Tag, an dem unser Gast die Strapazen vieler Interviews auf sich genommen hatte. Dr. Teller war mit dem Tag vor allem deshalb zufrieden, weil er ihn in Teilen ausschließlich unter Physikern verbracht hatte. „Die Zukunft der Physik“ lautete das Thema, zu dem er am Freitag mittag vor einem Großteil der Physikalischen Fakultät und vielen Physikstudenten der Johann Wolfgang Goethe-Universität sprach. Daran schloß sich ein Essen zu Tellers Ehren an. Später bemerkte der Physiker mit einem Seufzer der Erleichterung: „Ach, war das schön, unter Kollegen zu sein und nur über physikalische und nicht über politische Probleme zu sprechen.“

Auch dieses Aperçu hat Leitmotivcharakter. „Wenn Hitler und Stalin nicht gewesen wären, hätte ich mein Leben lang nur Physik betrieben.“ Auch diesen Satz hat Teller oft gesagt. In ihm mag sich der versteckte Wunsch nach der reinen (Natur-)Wissenschaftlerexistenz ausdrücken. Die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Politik unternimmt er auch in seinem Frankfurter Vortrag und tags darauf in seinen Ausführungen während der Pressekonferenz. Die (Natur-)Wissenschaftler machen Angebote und weisen auf deren Folgen hin – und die politischen Repräsentanten der demokratisch strukturierten Gesellschaft treffen die verbindliche Entscheidung. Dies ist eine von Naturwissenschaftlern oft vertretene – und sicherlich auch legitime – Position, mit den Folgen ihres Tuns konstruktiv umzugehen und Verantwortlichkeit zu definieren.

Die Grenzen dieser Trennung werden am konkreten historischen Gegenstand überaus sichtbar. Denn was sollen die Politiker machen, wenn ihnen »die« Wissenschaftler unterschiedliche Empfehlungen geben? Damals – und oft danach – waren die Wissenschaftler gespalten, ihr Rat wies in gegensätzliche Richtungen. Die führenden Physiker, die in den einflußreichen Gremien saßen, plädierten unmißverständlich für den Abwurf der A-Bombe (siehe Dokument Seite 25). Die gewählten Repräsentanten entsprachen ihrer Empfehlung.

Auch die damalige demokratisch strukturierte Gesellschaft in den USA, auf die Teller abhebt, hätte den nach wie vor begrüßenswerten Vorschlag einer Demonstration der Bombe zu Makulatur gemacht. 85% der Befragten sprachen sich am 8. August 1945 für den Abwurf der Atombomben auf japanische Städte aus, und einen Monat später befürworteten 43% der Bevökerung den Abwurf auf eine Stadt, während 24% soviele Städte wie möglich zerstört sehen wollten. Nur 27% plädierten für eine Demonstration der Bombe über einem unbewohnten Gebiet.14

Diese Ergebnisse, die die Wut der US-Bevölkerung im erbitterten Krieg gegen Japan widerspiegeln, stellen den Hintergrund dar, vor dem die gewählten Repräsentanten ihren Beschluß faßten, die Bombe zu werfen. Der zentrale Aspekt in seiner Frankfurter Rede bleibt wichtig: daß es ein Fehler von seiten der Wissenschaftler war, der politischen Führung kein überzeugendes und durchdachtes Alternativkonzept angeboten haben. Ob die Politiker es angenommen hätten, ist eine ganz andere Frage – wahrscheinlich ist dies nicht.

Abgesehen von dieser historischen Dimension überrascht es, den Vorschlag der Trennung von Naturwissenschaft und Politik aus dem Munde Edward Tellers zu hören. Denn dieser Physiker ist gerade der Prototyp eines Naturwissenschaftlers, in dessen Leben und Arbeit Physik und Politik oft bis zur Unkenntlichkeit verwoben sind. Stehen Vannevar Bush und James Conant für den Typus des Wissenschaftsadministrators in diesem Jahrhundert, so stellt Edward Teller den herausragenden Repräsentanten des Wissenschaftslobbyisten dar.

An die Regel, die Grenze von der Wissenschaft zur Politik als Physiker nicht zu überschreiten, hat er sich selbst an den entscheidenden Weichenstellungen seiner Biographie gerade nicht gehalten: ob es sich um seine Teilnahme am Manhattan-Projekt und seine maßgeblichen Beiträge zur H-Bombe handelt oder ob es um seine Bemühungen zur Inititierung von SDI geht; möglicherweise hat Teller ferner durch seine jahrelange Überbetonung des Röntgenlasers auf dem Reagan/Gorbatschow-Gipfel von Reykjavik 1986 für den Fall Weltpolitik gemacht, daß Reagan dem sowjetischen Präsidenten mit der vermeintlichen Wunderwaffe rüstungskontrollpolitische Konzessionen abzuringen versuchte.15 Mindestens in diesen Fällen hat Teller die Geschichte unseres Jahrhunderts in einem Ausmaß mitgestaltet, das nur wenigen Staatsmännern vergönnt gewesen ist. Ob er unter anderen Umständen bei seinem Temperament, seinen schier unerschöpflichen Energien und seinem stark motivierten weltanschaulichen Impetus wirklich nur reine Physik betrieben hätte, ist nicht beantwortbar. Es ist auch schwer vorstellbar. In die Geschichte der Physik dürfte Teller mit seinen Beiträgen aus der ersten Hälfte seines Lebens ohnehin eingehen.

Der Röntgenlaser ist ein herausragendes Beispiel dafür, daß Teller als Wissenschaftslobbyist den Politikern nicht nur Vorschläge unterbreitete. Vielmehr war er ein Meister, wenn es darum ging, Projekte des Lawrence Livermore National Laboratory vom Energie- oder Verteidigungsministerium finanziert zu bekommen. Was viele Physiker-Kollegen etwa im Kontext von SDI zu Teller auf Distanz hielt, war die von ihm und seinen Schülern oft verwendete Methode der Mitteleinwerbung: die erwarteten technologischen Durchbrüche bei einem bestimmten Waffenprojekt wie dem Röntgenlaser wurden so euphorisch dargestellt, daß vielfach der Eindruck entstand, hier werde die wissenschaftliche Wahrheit bis zum Anschlag gebogen (der zurückhaltend wirkende Physik-Nobelpreisträger Nicolaas Bloembergen in einem Interview: „Teller ist nicht ehrlich; er ist zu clever, um ein Lügner zu sein.“ 16) Teller und seine Kollegen vom LLNL haben mit ihrer Strategie eine unbeabsichtigte Nebenwirkung erzielt, die in der Geschichte der Wissenschaftlergemeinde auf dem Rüstungssektor nach 1945 eine neue Entwicklung eingeleitet hat: durch den im eigenen Laboratorium erzeugten Widerstand haben sie bei Physikern wie Roy Woodruff und Hugh DeWitt einen neuen Wissenschaftlertypus, den Wissenschaftsdissidenten, geschaffen, der die von Teller und seinen Schülern vertretenen Auffassungen öffentlich in Frage stellt.17

Nachträge zum Vortrag

Wer sich auf Dr. Teller als Referenten einläßt, muß auch damit rechnen, daß es kurzerhand in letzter Minute noch Änderungen am Vortragstitel gibt. In unserem Falle bat er am Gründonnerstag darum, den Aussage- in einen Fragesatz abzuändern, was den meisten JournalistInnen und ZuhörerInnen nicht entgangen ist (Von: „Die Atombombenabwürfe waren ein Fehler“ zu: „Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?“). Manche(r) war gekommen, um zu überprüfen, ob es denn wirklich wahr sei, daß »der Teller«, den man bisher als Kalten Krieger und Technologieenthusiasten kannte, ernsthaft gegen die Abwürfe gewesen sei.

Unser mit Tellers Sekretärin abgesprochener Vortragstitel ist ein Zitat aus einem Interview mit dem Physiker. Auf die Frage, ob die USA »die Bombe« auf Japan hätten abwerfen sollen, antwortet Teller: „Ich glaube, daß es ein Fehler war. (…) Ich glaube, daß es besser gewesen wäre, wenn wir zunächst andere Möglichkeiten als die Zerstörung einer Stadt ausprobiert hätten.“ 18

Schon vorher hatte Teller klar geschrieben: „Der erste Akt des atomaren Dramas hat mich zu zwei Überzeugungen gebracht: Es war notwendig und richtig, die Atombombe zu entwickeln. Es war unnötig und falsch, Hiroshima ohne besondere Warnung zu zerstören“ 19 (siehe Kasten Seite 32).

In seiner Frankfurter Eröffnungsrede glaubte der Physiker nicht mehr, daß die Abwürfe ein Fehler waren, sondern die Tatsache, daß die Wissenschaftler für Präsident Truman keine Alternative entwickelt hatten. Dies stellt eine neue Bewertung dar. Warum Teller seine frühere und über Jahrzehnte vertretene Position änderte, (ver)mochte er im Interview nicht zu präzisieren. Vielleicht hilft ein von der »Washington Times« wiedergegebenes Teller-Zitat weiter. Ihm zufolge erkannte er während eines Symposiums über den Atombombeneinsatz zum ersten Mal die positive Wirkung der Bombe, als frühere US-Kriegsgefangene in Japan ihm persönlich dafür dankten, daß er ihr Leben gerettet habe. „Dies waren POWs (Prisoners of War, B.W.K.), die getötet worden wären, wenn Japan erobert worden wäre.(…) Zum ersten Mal hatte ich den starken Eindruck von etwas, das auf die völlige moralische Rechtfertigung für den Einsatz der Bombe hinausläuft.“ 20 Wann Tellers Haltung sich geändert hat, ist nicht klar auszumachen. Eine 1975 in Israel gehaltene und 1979 veröffentlichte Vortragsreihe enthält bereits im Kern die »neue Sichtweise«.21

Die bisher behandelten skeptischen Haltungen Tellers zum atomaren Bombardement betreffen die Zeit nach dem 6. August 1945. Es gibt Gründe für die Annahme, daß der Physiker – entgegen seinen Beteuerungen – vor dem 6. August den Abwurf der Bombe grundsätzlich anders sah. In den siebziger Jahren wurde im Oppenheimer-Archiv in Washington, D.C. und später im Szilard-Archiv in San Diego ein bis dahin unbekannter und auch von Teller nie erwähnter oder zitierter Brief an Leo Szilard vom 2. Juli 1945 gefunden, den der Physiker inzwischen in seine Aufsatzsammlung „Better a Shield than a Sword“ mit aufgenommen hat.22 Die entscheidenden Sätze daraus lauten: „Wenn es Ihnen (Szilard, B.W.K.) gelänge, mich zu überzeugen, daß Ihre moralischen Einwände stichhaltig sind, sollte ich aufhören zu arbeiten. (…) Aber ich bin von Ihren Einwänden nicht wirklich überzeugt. Ich habe nicht das Gefühl, daß es möglich ist, irgendeine Waffe zu verbieten. Falls wir eine geringe Überlebenschance haben, dann liegt sie in der Möglichkeit, Kriege loszuwerden. Je entscheidender eine Waffe ist, desto sicherer wird sie in jedem wirklichen Konflikt eingesetzt werden, und kein Abkommen wird helfen.

Unsere einzige Hoffnung ist, die Tatsachen unserer Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu bekommen. Dies mag helfen, jedermann zu überzeugen, daß der nächste Krieg fatal ist. Für diesen Zweck könnte der tätsächliche Kriegseinsatz (!) das Beste sein.“ (siehe Dokument S. 25)

Während Teller auf diese zitierte Passage nicht eingeht, erwähnt er in seinem Frankfurter Vortrag die näheren Umstände der Petition von Leo Szilard und seinen eigenen Brief. Auch hier ist Oppenheimer, von dem er sich verraten fühlt, präsent. Seine (innere) Auseinandersetzung mit dem Abwurf der Bombe wird zu einer Auseinandersetzung mit Oppenheimer. Das Bedauern, die Petition nicht unterzeichnet zu haben, drückt Teller unmißverständlich aus. Es gibt hier eine Ungereimtheit, die der Erklärung bedarf: Szilards Petition, die er Teller zu unterschreiben bat, ist auf den 4. Juli datiert, Tellers Antwortbrief trägt jedoch das Datum des 2. Juli 1945. In einer Fußnote zur Aufsatzsammlung räumt der Physiker diese Ungereimtheit nicht aus, während er in Frankfurt erklärte, eines der Daten – vorzugsweise das der Szilardschen Petition – müsse falsch sein. Früher hatte er gemeint, daß er den Brief in Wirklichkeit einige Tage nach dem 2. Juli verfaßt habe.23

Der Szilard-Biograph William Lanouette bietet eine andere – und angesichts des klaren Briefinhalts – möglicherweise überzeugendere Erklärungsvariante an: Teller wußte bereits von der Petition und schrieb seinen Brief am 2. Juli, bevor er eine schriftliche Version der Bittschrift bekam. Lanouette vermutet, daß Teller die Petition dazu verwandte, um seine Position in der Wissenschaftlergemeinde von Los Alamos und insbesondere bei Oppenheimer zu verbessern.24 Immerhin hat Teller später eingeräumt, daß er damals mit dem wissenschaftlichen Leiter des Manhattan Projekts in gutem Einverständnis sein wollte („I sincerely wanted to be on friendly terms with Oppie.“). Was seine Haltung vom Juli 1945 zu den Bombenabwürfen anbelangt, so gab Teller später durchaus einen selbstkritischen Hinweis, ohne jedoch seine negative Einstellung zu einer Bombardierung in Frage zu stellen („I had not taken sufficient time to think through or discuss the future implications of use versus nonuse.“).25

Hiroshima und die Folgen

Höchst verständlich ist Tellers Verbitterung über Oppenheimers Position, und auch seine Bemerkung ist glaubwürdig, daß mit ganz wenigen Ausnahmen die damaligen Befürworter der Abwürfe später weiteren Atomwaffenprogrammen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, während mancher Befürworter einer Demonstration später die nukleare Aufrüstung der USA unterstützte. Nicht nur Teller gehört dazu, sondern auch dessen Anfang 1995 verstorbener Kollege und Freund Eugene Wigner. Beide verband über Jahrzehnte vor allem das Plädoyer für alle Varianten militärischer Schutzmaßnahmen und für Abwehrsysteme.26 Die Wurzeln für jene Skepsis oder gar Ablehnung leitet Teller nicht zu Unrecht aus den Schuldgefühlen der Naturwissenschaftler ab. Dieses Thema, das in Tellers Argumentation zeitlebens präsent war, spielte in seinem Frankfurter Vortrag allerdings keine Rolle. Sowohl die Schuldgefühle bei vielen Naturwissenschaftlern als auch die Angst in der Öffentlichkeit vor der Radioaktivität führt Teller auf Hiroshima zurück: „Hiroshima ist das Synomym für Horror geworden(…).“ 27 Die Abwürfe, so Teller an anderer Stelle, vermittelten die „ungerechtfertigte Idee, daß nukleare Explosionen (…) immer Instrumente von Massenvernichtung (sind). Wir haben uns von dieser Idee nie erholt. Die große Mehrheit der Bevölkerung versteht nicht, daß Kernexplosionen defensiv so verwendet werden können, daß sie keinen großen Schaden anrichten“.28

Dies wirft die Fragen auf: Wie ist Tellers Haltung zu Hiroshima in sein damaliges und späteres außenpolitisches sowie technokulturelles Weltbild einzuordnen? Was hat er aus Hiroshima gelernt? Wie geht er mit den Atombombenabwürfen um? Mehr als die meisten seiner Kollegen hat sich Teller in der Öffentlichkeit beständig mit Hiroshima auseinandergesetzt. Sein Bedauern über die Fehler der Naturwissenschafler ist ihm möglicherweise leichter gefallen als seinen Kollegen, denn die A-Bombe war sein Hauptwerk nicht. Bereits in Los Alamos war er darauf aus, »seine« Bombe, die H-Bombe, zu bauen, die er in einer nicht-öffentlichen Äußerung in Frankfurt als »mein Lebenswerk« bezeichnete. Überdies gibt der Hinweis auf das Versagen der Physiker Teller immer auch Gelegenheit, Kritik am Freund-Feind Robert Oppenheimer zu üben. Auch seine geäußerte Selbstkritik, die nicht übersehen werden darf, bleibt an diese beständige Auseinandersetzung mit Oppenheimer gebunden.

Was Teller den Umgang mit der Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki erleichtert haben mag, ist, daß er bereits vier Monate nach den Bombenabwürfen konkrete Vorschläge für die Entwicklung von Abwehrsystemen gegen ballistische Raketen machte, um die Wiederholung ähnlicher Infernos zumindest in den USA zu vermeiden (sein Bericht an »Commander Steve Brunauer« vom 29. Dezember 1945, der damals an einem Report in Los Alamos über die Rolle von Atomwaffen für die US-Marine arbeitete, ist erst seit einigen Jahren bekannt). In Tellers Ausführungen drückt sich der Grundzug seiner auch heute noch ungebrochenen »can-do-philosophy«, sicherheitspolitische Probleme durch (militär)technologische Mittel lösen zu wollen, aus – und das in einem Bereich, der ihm zeitlebens zentral bleibt. Mit dieser Forderung stand er damals quer zur Sicherheitsphilosophie fast aller Naturwissenschaftler, die davon überzeugt waren, daß eine Verteidigung gegen die A-Bombe nicht möglich sei.

Teller setzt hingegen andere Akzente in seinem Bericht, der das erste kohärente Forschungsprogramm der Nachkriegsszeit für ein US-Abwehrsystem enthält: „It has often been stated that no defense against the atomic bomb is possible. I do not agree with this statement if taken too literally.(…) I believe that practically for every offensive weapon it will be possible to devise a defensive one, but that the new field opened up by the atomic bomb is likely to develop so rapidly that future offensive weapons will continue to out-strip the possibilities of defense.(…) A powerful navy would greatly add to the defense of our homeland against atomic bombs. Incoming missiles could be detected a thousand miles away at sea. Either home bases could be notified or defensive missiles could be launched from the naval units.(…) Many of the above statements require most difficult scientific developments and some of the suggestions must seem fantastic. But I believe that some program like the one I have described can be carried out with an appropriate research organization.“

Dieser Bericht wie auch sein Statement vor dem Kongreß im Februar 1946, in dem der Physiker das Thema einer aktiven Verteidigung leitmotivisch – wohl erstmals öffentlich – wiederaufnimmt, machen indirekt deutlich: nicht Hiroshima ist die wesentliche Rahmenbedingung für Tellers Denken und Wirken, sondern der sich anbahnende Ost-West-Konflikt. Nach außen hin plädiert er zwar bis 1947/48 für politische Lösungen, um die Nuklearfrage in den Griff zu bekommen; die Forderung nach einer Weltregierung steht an erster Stelle. In Wirklichkeit aber denkt er auch in diesem Kontext ernsthaft über militärtechnologische Lösungsversuche nach, die er in antagonistische militärische Szenarios einbettet. In seinem Bericht an Stephen Brunauer spricht Teller, ohne ihn bereits konkret zu benennen, »vom Feind« und empfiehlt: „In future developments we must not neglect offensive uses (!) of the atomic bomb.“ Der Bau der Superbombe zeigt, daß Teller in Umkehrung seines späteren Buchtitels jedoch zunächst nach der Devise „Better a Sword Than a Shield“ handelt.

Es ist dieser Ost-West-Gegensatz, der bis 1989/90 Tellers Denken und Wirken so früh und so beständig bestimmt. Seine Haltung zu Hiroshima nimmt sich wie eine Insel aus. Dennoch: Es ehrt den Physiker, den Hauptkonstrukteur der Wasserstoffbombe und den homo politicus Edward Teller, daß er in der Frage der Abwürfe auch heute noch den Mut hat, eine Haltung einzunehmen, die unter den US-Naturwissenschaftlern seiner Generation und in der Bevölkerung seines Landes unbeliebt ist und nach wie vor eine Minderheitenposition darstellt. Auch mit dieser Einstellung hat Teller ein Stück Wissenschaftsgeschichte geschrieben. – „What, no sense at all?“

Im Warteraum der Lufthansa

Am Nachmittag des 22. April bleibt noch genügend Zeit, um die gemeinsamen Tage zu bilanzieren. Ein-, zweimal hatte der Referent es bereut, die Strapazen der langen Reise auf sich genommen zu haben. Einige Restzweifel bleiben auch jetzt, aber im großen und ganzen ist er zufrieden. Unzufrieden ist er darüber, daß ihm immer wieder die Frage „Bereuen Sie …“ gestellt wurde. Kaum ein Journalist sei auf die Idee gekommen, den wichtigen Beitrag der Atombombe bei der Implosion der Sowjetmacht herauszustellen (in dieser Frage argumentierte Teller übrigens insofern differenziert, als er die Hauptursache für die Auflösung der UdSSR im sowjetischen Riesenreich sah; SDI spielte für die Induzierung des Zusammenbruchs von außen in Tellers Argumentation erstaunlicherweise kaum eine Rolle.)

Dann kam unser Gespräch im Warteraum der Lufthansa unerwartet auf einen Sachverhalt, der Teller nicht betraf, ihn aber brennend interessierte. Ich hatte seine Einschätzung über einen seiner Kollegen durch den Hinweis auf öffentlich zugängliche Quellen erschüttert. Teller reagierte erschrocken, endlich fand er die Balance wieder. „Schicken Sie mir bitte Ihre Beweisstücke.“ Abgemacht. „Aber“, füge ich beim Verlassen der Wartehalle hinzu, „erschlagen Sie bitte nicht den Boten, der die Nachricht bringt.“

„Ich habe noch nie jemand direkt erschlagen.“

Das sind Dr. Tellers letzte Worte, bevor er in das gelbe Lufthansa-Wägelchen steigt, das ihn zu seinem Flugzeug nach Osaka bringt.

Erleichtert bleibe ich zurück. Der geschichtliche Auftritt einer geschichtlichen Persönlichkeit mit all ihrer Macht und Phantasien von Macht, mit ihrer Verwundbarkeit, ihrem Selbstzweifel, gepaart mit einem faszinierenden Hauch von Unbedingtheit, war ein gelungener Auftakt zu unserem gesamten Vortragszyklus. Vor allem aber hatten sich unsere Befürchtungen glücklicherweise nicht erfüllt. Denn der Mann, der Deutschland schon einmal unfreiwillig verlassen mußte, war in Frankfurt auf ein tolerantes und souveränes Publikum gestoßen.

Dr. Teller möchte wieder nach Frankfurt kommen, diesmal aber nicht in Sachen Atom, sondern um des „Rings des Nibelungen“ willen.

Mein Vorschlag, um einen Ausspruch des braven Soldaten Schweijk zu variieren, ist: Daß wir uns nach „der Götterdämmerung um sechs“ (und nach dieser Auseinandersetzung, zu der vier Tage mit Dr. Teller nun einmal zwingen) zusammensetzen.

Eugene Wiener
Die Atombombe gegen Stalin

Eugene Wigners Motivation für seine Arbeit in Los Alamos

Die Vereinigten Staaten warfen
Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ab. Am 14. August 1945 kapitulierte auch Japan.
Die alliierten Streitkräfte hatten den Zweiten Weltkrieg endgültig gewonnen. Deutschland
hatte, einschließlich der von den Nazis ermordeten Juden, mehr als 4 Millionen Menschen
verloren, Polen etwa 6 Millionen, von denen mehr als die Hälfte Juden waren.
Sowjetrußland hatte 11 Millionen Soldaten und 7 Millionen Zivilisten verloren. Im
Vergleich dazu waren die Verluste der Amerikaner gering: etwa 300.000 Soldaten und ein
paar tausend Zivilisten.

Schon bald nach dem Krieg empfand
Robert Oppenheimer Gewissensbisse wegen seiner Arbeit und des schweren Erbes, das der Welt
mit den beiden Bombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki aufgebürdet wurde. Er sprach
oft über seine Schuld. Viele andere Wissenschaftler fühlten sich ebenfalls schuldig,
aber Oppenheimers Schuldbewußtsein war in der Öffentlichkeit weitaus bekannter, da er es
stärker zum Ausdruck brachte.

Das Ende des Krieges machte ein
neues Denken erforderlich – diplomatisch, politisch und militärisch. Wie die meisten
Physiker dachte ich: „Warum sollen wir weiter an der Verbesserung der Bombe
arbeiten? Der Krieg ist vorbei. Die ganz gewöhnliche Physik ist wesentlich angenehmer und
interessanter als Wasserstoffbomben.“
Damals dachten so viele Physiker in diese
Richtung, daß Los Alamos beinahe aufgegeben wurde. Szilard hatte der Forschung an den
Bomben bereits den Rücken gekehrt, als die Atombombe kurz vor der Fertigstellung stand.
Sobald der Erfolg eines Projektes gesichert war, verlor Szilard sein Interesse daran. So
war er nun mal. Szilard wandte sich dann auch von Los Alamos ab und der Arbeit am
Brüterreaktor zu.

Teller verließ Los Alamos, sobald
es der Anstand erlaubte. Doch schon bald darauf kehrte er zur Rüstungsforschung zurück.
Zwar hatte er der Bombardierung Hiroshimas ohne Vorwarnung ablehnend gegenübergestanden,
war aber äußerst beunruhigt über den allgemeinen Exodus aus Los Alamos. Teller glaubte,
daß die Verteidigung seines neuen Heimatlandes von dringlicher Bedeutung sei, daß die
Wasserstoffbombe perfektioniert werden könne und er die angefangene Arbeit beenden
sollte. Also widmete er sich der Weiterentwicklung der Wasserstoffbombe.

Seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges ist mir immer wieder die folgende Frage gestellt worden: Wäre ich, mit meinem
jetzigen Wissen, noch einmal bereit, die erste Atombombe zu bauen? Ich würde gerne sagen
können, daß ich bedaure, an der Bombe gearbeitet zu haben, nur um meine
Gesprächspartner zufriedenzustellen. Doch kann ich das nicht, wenn ich ehrlich bin, weder
dem Verstand noch dem Gefühl nach. Ich wünschte vielmehr, die Bombe wäre noch früher
gebaut worden. Wenn wir 1939 ernsthaft mit der Arbeit an der Kernspaltung begonnen
hätten, wäre die Atombombe möglicherweise bis Ende 1943 verfügbar gewesen, als Stalins
Armee in Rußland noch um ihr Überleben kämpfte. Als wir dann die Bombe im August 1945
erstmals einsetzten, hatte Rußland bereits einen Großteil Mitteleuropas überrannt. Wenn
wir 1944 eine Atombombe gehabt hätten, wäre das Schlußdokument der Konferenz von Jalta
wesentlich ungünstiger für Rußland ausgefallen, und selbst Rotchina wäre
wahrscheinlich in seiner Entwicklung zurückgeworfen worden. Aus diesem Grund bedaure ich
es nicht, daß ich am Bau der Atombombe mitgewirkt habe.

Andererseits wollte ich nie, daß
die Bombe über Japan abgeworfen wird. Was für eine schwere und schmerzliche
Entscheidung! Als Deutschland kapitulierte, hoffte ich, daß die Öffentlichkeit von der
Existenz der Atombombe erfahren würde. Ich glaubte, daß ihre Geheimhaltung unseren
politischen Übergangsprozeß bis zu dem Tag, an dem solche Bomben allgemein verbreitet
wären, nur behindern würde.

Quelle: Wigner, Eugene Paul: The
Recollections of Eugene P. Wigner as Told to Andrew Szanton. New York 1992. S. 248f.
(Übersetzung: Helga Wagner.)

Jospeh Rotblat: Ausstieg aus dem Bombenprojekt

Joseph Rotblat war der einzige in
Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe arbeitende Physiker, der noch vor der
Kapitulation Deutschlands das Bombenprojekt verließ. Im folgenden ein Auszug von ihm, in
dem er beschreibt, wie es zu der Entscheidung kam und warum andere sich dieser
Entscheidung nicht anschlossen.

„Im März 1944 erlitt ich einen
unangenehmen Schock. Ich lebte zu der Zeit mit den Chadwicks in ihrem Haus, bevor ich
später in das »Big House« umzog, in denen sich die Quartiere für die alleinstehenden
Wissenschaftler befanden. General Leslie Groves kam häufig zum Essen und zum gemütlichen
Beisammensein zu den Chadwicks, wenn er Los Alamos besuchte. Während eines solchen
Gespräches sagte Groves, daß der eigentliche Zweck der Entwicklung der Atombombe
natürlich die Unterwerfung der Sowjets sei. (Wie auch immer die genauen Worte waren,
seine Aussage war deutlich.) Obwohl ich mir keine Illusionen über das Stalin-Regime
machte – im Endeffekt war es der Hitler-Stalin-Pakt, der es Hitler ermöglichte, in
Polen einzumarschieren – hatte ich das Gefühl des Verrats an einem Verbündeten. Wir
müssen uns vor Augen führen, daß General Groves dieses zu einer Zeit sagte, in der
täglich tausende Russen an der Ostfront starben, die Kräfte der Deutschen dort band und
den Alliierten Zeit gaben, die Landung auf dem europäischen Kontinent vorzubereiten. Bis
zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, daß unsere Arbeit das Ziel hatte, den Sieg
der Nazis zu verhindern, und nun wurde mir mitgeteilt, daß die Waffe, die wir
entwickelten, gegen die Menschen gerichtet war, die große Opfer brachten, um dieses Ziel
zu erreichen.

Meine Bedenken wurden bestätigt
durch ein Gespräch mit Niels Bohr. (…) Ich besaß ein eigenes Radio, mit dem ich BBC
World Service empfangen konnte. Bohr stand da und sprach mit mir über die sozialen und
politischen Folgen der Entdeckung der Atomenergie und über seine Bedenken bezüglich der
furchtbaren Folgen eines nuklearen Wettrüstens zwischen Ost und West, welche er
vorhersah.

All das und die sich bestätigende
Einschätzung, daß der Krieg in Europa vorbei sein wird, ehe das Bombenprojekt vollendet
sein wird, machte meine weitere Teilnahme sinnlos. Wenn die Amerikaner noch so lange Zeit
brauchten, um die Bombe zu entwickeln, war meine Angst grundlos, die Deutschen würden die
ersten sein.

Als gegen Ende 1944 bestätigt
wurde, daß die Deutschen ihr Bombenprojekt aufgegeben hatten, gab es für meine
Anwesenheit in Los Alamos keinen Grund mehr, und ich bat um die Erlaubnis, das Projekt zu
verlassen und nach Großbritannien zurückzukehren.

Warum trafen andere Wissenschaftler
nicht die gleiche Entscheidung?

Warum trafen andere Wissenschaftler
nicht die gleiche Entscheidung? Es war offensichtlich, daß niemand von General Groves
erwartete, daß er dieses Projekt in dem Moment, wo die Deutschen besiegt waren, beenden
würde, aber die Deutschen waren der wesentliche Motivationsfaktor für viele
Wissenschaftler. Warum beendeten sie nicht ihre Arbeit, als dieser Faktor wegfiel?

Nachdem ich Los Alamos verlassen
hatte, durfte ich diese Angelegenheit mit niemandem diskutieren, aber aus früheren
Gesprächen und aus Gesprächen, die ich viel später geführt habe, wurden einige Gründe
deutlich.

Der häufigste Grund, der genannt
wurde, war der der puren wissenschaftlichen Neugierde, der starke Drang herauszufinden, ob
die theoretischen Kalkulationen und Vorhersagen bestätigt würden. Diese Wissenschaftler
waren der Meinung, daß erst nach dem Test in Alamogordo die Debatte über die Nutzung der
Bombe beginnen sollte. Andere waren bereit, die Debatte noch weiter zu verschieben,
überzeugt von dem Argument, daß eine große Anzahl amerikanischer Soldaten gerettet
werden würde, wenn die Bombe ein schnelles Ende des Krieges mit Japan zur Folge hat. <>Erst
wenn der Frieden wiederhergestellt wäre, würden sie sich vergewissern, daß die Bombe
nicht noch einmal eingesetzt würde.<>

Andere, die zwar der Meinung waren,
daß das Projekt gestoppt werden sollte, wenn der deutsche Faktor wegfiele, waren nicht
bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen, weil sie negative Auswirkungen bezüglich ihrer
Karriere befürchteten.

Die Gruppe, die ich gerade
beschrieben habe – Wissenschaftler mit einem sozialen Gewissen – waren eine
Minderheit in der Wissenschaftlergemeinde. Die Mehrheit hatte keine moralischen Skrupel;
sie waren einverstanden damit, anderen die Entscheidung darüber zu überlassen, was mit
den Ergebnissen ihrer Arbeit passierte. Dieselbe Situation haben wir auch heute in vielen
Ländern bezüglich militärischer Projekte. Aber es ist die Frage nach der Moral während
des Krieges, die mich am meisten verwirrt und berunruhigt hat.

Aus: Bulletin of the Atomic Scientists, August 1985, Vol. 41, No. 7. (Übersetzung: Caroline Thomas.)

Edward Teller zur Atombombe (1962)

Ich kann die Gründe für die unglückliche Entscheidung verstehen, eine Atombombe ohne Warnung abzuwerfen. Die Männer, die sie fällten, glaubten, ein schnelles Kriegsende würde viele japanische und amerikanische Menschenleben retten. Aber ich bedauerte diese Entscheidung dennoch. Ich bin überzeugt, daß dieser tragische Überraschungsangriff nicht nötig war. Wir hätten die Bombe am Abend in großer Höhe über Tokio explodieren lassen können. Dadurch wäre über der Stadt plötzlich furchterregend grelles Tageslicht entstanden, aber es wäre niemand getötet worden. Nach dieser Demonstration hätten wir den Japanern erklären
können, was das war und was passieren würde, wenn wir eine zweite Bombe in niedriger
Höhe explodieren ließen.

In unserer Entscheidung, die Bombe ohne Warnung abzuwerfen, spielte die Hoffnung eine Rolle, ein Überraschungsangriff dieses Ausmaßes würde die Japaner so entsetzen, daß sie kapitulierten. Aber eine Atomexplosion bei Nacht hoch über Tokio vor den Augen Kaiser Hirohitos und seines Kabinetts wäre genauso furchterregend gewesen und hätte vor allem die richtigen Leute entsetzt. Danach hätten wir Japan in einem Utimatum zur Kapitulation auffordern können, und ich bin sicher, daß sie auch erfolgt wäre. So hätte die Atombombe menschlicher, aber genauso wirksam eingesetzt werden können, um den Krieg zu einem schnellen Ende zu bringen. Soviel ich weiß, wurde jedoch eine solche Demonstration in großer Höhe über Tokio niemals erwogen. (…)

Hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen, wenn wir nur eine Atombombe über Tokio demonstriert hätten? Hätte eine solche Demonstration bei Nacht Kaiser Hirohito und die Opposition im internen Kabinett davon überzeugt, daß sie sofort und bedingungslos Frieden schließen sollten? Hätten wir die Tragödie von Hiroshima vermeiden und das Atomzeitalter mit sauberen Händen beginnen können? Niemand weiß es. Niemand kann das sagen.

Wir wissen jedoch dies: Die Erinnerung an Hiroshima hat viele Wissenschaftler verfolgt und das Urteil mancher amerikanischer Politiker verzerrt. Die Auffassung, daß Atomwaffen Instrumente der absoluten, unterschiedslosen Zerstörung sind, ist in unserem Volk zur fixen Idee geworden.

Das Atomzeitalter bringt uns neue Anforderungen, neue Möglichkeiten, neue Gefahren, Hiroshima steht am Anfang dieses Zeitalters. Diese Tatsache hat unsere Aufgabe noch schwieriger gemacht. 1945 wandten wir zu viel Macht an. Später wandten wir uns zu einem Zeitpunkt von unserer neuen Macht ab, als atomare Waffen für uns und die freie Welt äußerst wichtig wurden.

(…)

Der erste Akt des atomaren Dramas hat mich zu zwei Überzeugungen gebracht:

Es war notwendig und richtig, die Atombombe zu entwickeln. Es war unnötig und falsch, Hiroshima ohne besondere Warnung zu zerstören.

Quelle: Teller, Edward / Brown, A.: Das Vermächtnis von Hiroshima, Düsseldorf/Wien 1963, S. 22f, 26f.

Anmerkungen

1) Mit diesen Zeilen schließt ein Gedicht, das Edward Teller einem Brief an Oppenheimer vom 20. 3. 1947 beilegte (U.S. Library of Congress, Manuscript Division, The Papers of J. Robert Oppenheimer, Box 71, Folder: Teller, Edward). Zurück

2) Siehe z.B. Herbert F. York, The Advisors. Oppenheimer, Teller, and the Superbomb, Stanford 1976, S. 3ff. Zurück

3) Blumberg, Stanley A./Gwinn Owens, Energy and Conflict. The Life and Times of Edward Teller, New York 1976; Blumberg, Stanley A./Louis G. Panos, Edward Teller. Giant of the Golden Age of Physics, New York 1990. Zurück

4) Teller, Edward/Albert L. Latter, Our Nuclear Future … Facts, Dangers and Opportunities, New York 1958, S. 129. Zurück

5) Teller, Edward, with Allen Brown, The Legacy of Hiroshima, New York 1962 (nach dieser Ausgabe wird auch zitiert), S. 180; dt. Ausgabe: Das Vermächtnis von Hiroshima, Wien/Düsseldorf, 1963. Zurück

6) Zum Protest siehe Orear, Jay, u.a., An Answer to Teller, in: Saturday Evening Post, 14. 2. 1962. – Zur heutigen Position des Physikers im Hinblick auf die Gefährlichkeit radioaktiver Strahlung siehe Teller, Edward, Sechs Gründe für die Diskussionen zum 50. Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (Ms.). Mit diesen sechs Thesen, die Tellers Entschluß, nach Frankfurt zu kommen, im letzten Augenblick erleichterten, reagierte der Physiker auf meine „Sechs Gründe für die Aktivitäten der HSFK zum 50. Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki“ (Ms.). – Seine repräsentative Aufsatzsammlung „Better a Shield Than a Sword. Perspectives on Defense and Technology, New York 1982, S. 124ff., vermischt die Diskussion um Auswirkungen der radioaktiven Niederschläge mit dem medizinisch-therapeutischen Einsatz der Radioaktivität. – Kompetent und informativ zu dieser Problematik ist: Caufield, Catherine, Das strahlende Zeitalter. Von der Entdeckung der Röntgenstrahlen bis Tschernobyl, München 1994. Zurück

7) Thomas Mann, Wagner und unsere Zeit. Aufsätze, Betrachtungen, Briefe, Frankfurt a. M. 1990, S. 60. Zurück

8) William Lanouette, with Bela Silard, Genius in the Shadows. A Biography of Leo Szilard, New York 1992, S. 353 bzw. S. 539, Anm. 27. Zurück

9) Ich zitiere im Folgenden allerdings aus der autoritativen Quelle: U.S. Atomic Energy Commission, In the Matter of J. Robert Oppenheimer. Transcript of Hearing before Personnel Security Board and Texts of Principal Documents and Letters, Cambridge, Mass./London 1971, S. 710. Zurück

10) Lanouette (Anm. 8), S. 352. Zurück

11) Veröffentlicht in: Wall Street Journal, 11. 5. 1994. Zurück

12) Pawel A. Sudoplatow, Der Handlanger der Macht. Enthüllungen eines KGB-Generals, Düsseldorf 1994, Kapitel VII, sowie meine Rezension „Das neuinszenierte Tribunal“ in: Die Zeit, 27. 5. 1994. Zurück

13) Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer. Ein Stück und seine Geschichte, Reinbek 1989, S. 159ff. Zurück

14) Wittner, Lawrence S., One World or None. A History of the World Nuclear Disarmament Movement Through 1953, Stanford 1993, S. 56f. Zurück

15) Broad, William J., Teller's War. The Top-Secret Story Behind the Star Wars Deception, New York 1992, S. 216f. Zurück

16) Gespräch am 17. 8. 1993 in Cambridge/Mass.; siehe in diesem Zusammenhang auch Teller, Edward, Remarks on the X-Ray Laser, in: Defense Science, Juni 1889, S. 13 Zurück

17) Broad (Anm. 15), passim, sowie Hugh DeWitt, The Selling of a Wonder Weapon, Stanford Alumni Magazine, März 1991, S. 28-33, mit einer Antwort von Edward Teller im gleichen Heft. Siehe auch: U.S. General Accounting Office, Strategic Defense Initiative Program, Accuracy of Statements Concerning DOE's X-Ray Laser Research Program, Washington, D.C., 1988. – In diesen Kontext gehört Tellers nur auf den ersten Blick überraschende leitmotivische Forderung, möglichst viel Wissen der Geheimhaltung zu entziehen. Dieses Plädoyer klingt liberaler, als es in Wirklichkeit ist. Es bezieht sich im wesentlichen auf Grundlagenwissen. Militärisch relevante Forschungsergebnisse wollte Teller immer geheimhalten. Siehe hierzu seine derzeit jüngsten Ausführungen »Prepared Invited Testimony« über »The U.S. Department of Energy« am 31. Januar 1995 vor dem Subcommittee on Energy and Water Development, Committee on Appropriations, U.S. House of Representatives (Ms.). Zurück

18) Interview mit Teller, das »U.S. News & World Report« als Teil seiner Titelgeschichte am 15. August 1963, S.75f., veröffentlichte; Zitat: S. 75. Zurück

19) Teller (Anm. 5), S. 20. Zurück

20) Washington Times, 20. März 1995. Zurück

21) Teller, Edward, Energy from Heaven and Earth, San Francisco 1979, S. 149. Zurück

22) Teller (Anm. 6, Better …), S. 58f. Zurück

23) Ebd., S. 244, Anm. 1. Zurück

24) Lanouette (Anm. 8), S. 270. Zurück

25) Zitate in: Teller (Anm. 6, Better …), S. 59. Zurück

26) Siehe z.B. den bisher unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Teller und Wigner Ende der sechziger Jahre: Princeton University Libraries, Department of Rare and Special Collections, Division: Manuscripts, The Papers of Eugene P. Wigner, Box 9, Folder: Civil Defense. Zurück

27) Teller (Anm. 5), S.182. Zurück

28) Interview (Anm. 18), S. 75f. Zurück

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen

Auszüge aus den Memoiren von Victor Weisskopf

von Victor Weisskopf

„Für uns war es eine grandiose Periode, aber wir hatten auch das furchtbare Zerstörungspotential unseres Werks zu bedenken.“

„Bohr wich den problematischsten Aspekten unserer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht aus – dem Einsatz der Wissenschaft bei Tod und Zerstörung.“

„Nach unserer Überzeugung durften Atomwaffen keines- falls nationaler Kontrolle überlassen werden.“

„Was auch immer in Europa geschah, wir wußten, daß unsere Arbeit vollendet werden mußten.“

„Dennoch habe ich rückblickend oft Enttäuschung darüber empfunden, daß mir damals der Gedanke an Aufhören gar nicht gekommen ist.“

Die spezifische Arbeit, mit der wir in Los Alamos beschäftigt waren, und die dabei dringend gebotene Eile verlangten von uns, auf eine den meisten ungewohnte Weise vorzugehen. Wir pflegten normalerweise allein oder in ganz kleinen Gruppen zu arbeiten. Jetzt aber wurde umfassende Teamarbeit erforderlich, auch unter den theoretischen Physikern. Zum Glück hatten wir uns noch nicht in starren Praktiken und Denkmustern festgefahren, die ältere Wissenschaftler vielleicht behindert hätten. Gruppen von etwa zwölf Personen mußten an einem spezifischen, klar definierten Thema eng zusammenarbeiten. In jedem dieser Teams gab es immer einen oder mehrere, die eine mehr tonangebende Rolle spielten. Sie steuerten die meisten Ideen bei, waren einfallsreicher bei der Umschiffung von Klippen, trieben an, wenn die Probleme unüberwindlich erschienen, und zeigten Führungsqualitäten.

Kooperation verlieh unserem Projekt einen bestimmten Charakter und erhöhte die Herausforderung und Spannung beträchtlich. In den auf Los Alamos folgenden Jahren wurde die Grundlagenforschung in der nicht angewandten Physik häufig in dieser Form betrieben. In den Nachkriegsjahren machten die komplizierten, riesigen neuen Geräte, wie die gewaltigen Beschleuniger, und die schwierige Datenverarbeitung häufig umfangreiche Teams unerläßlich. Unsere Erfahrung half, den Übergang zu erleichtern.

Oppenheimer, ein ungewöhnlich inspirierender Projektleiter, besaß eine außerordentliche Begabung, die Kernpunkte eines Problems zu erfassen, auch wenn es sich um ein ihm fremdes Spezialgebiet handelte. Seine Fähigkeit, die Antwort parat zu haben, bevor man die Frage vollends formuliert hatte, verhalf ihm zu einer umfassenden Kenntnis aller interessanten Vorkommnisse auf dem Hügel. Er war imstande, seine persönlichen Sympathien und Antipathien zu unterdrücken und seine allgemein bekannte Ungeduld zu zügeln bei Leuten, die Gedankengänge nicht so schnell erfaßten wie er.

Wann immer eine wichtige technische Diskussion über ein Problem stattfand, tauchte Oppie aus dem Nichts auf und half bei der Lösung. Wann immer ein Experiment ein entscheidendes Stadium erreichte, war Oppie zur Stelle, selbst um drei Uhr morgens. Jeder spürte seine aufmunternde Art, seine Hilfsbereitschaft und sein Interesse an jeder persönlichen Leistung. (In dieser Hinsicht wurde er für mich zum Modell für meine neue Rolle, als ich viele Jahre später zum Direktor von CERN in Genf ernannt wurde.)

Wir stimmten alle darin überein, daß wir an einer faszinierenden Aufgabe arbeiteten. Die Temperaturen, mit denen man im Zentrum der Explosion rechnete, lagen bei annähernd dreihundert Millionen Grad, etwa das Zehnfache der im Zentrum der Sonne herrschenden. Der Druck war um viele tausendmal größer als ein jemals in einem Labor erzeugter. Wie konnten wir voraussagen, was passieren würde, wie hoch die Expansionsgeschwindigkeit wäre oder wie sich Materie unter diesen Bedingungen verhalten würde? Wir konnten darauf keine Antwort bekommen, indem wir diese Bedingungen im Labor simulierten. Alles, was wir hatten, waren phantasievolle Mutmaßungen. Wenn wir unsere Kenntnisse aufs äußerste extrapolierten, konnten wir uns einigermaßen vorstellen, was geschehen würde. Zusätzlich bemühten wir uns, den Rat der sachkundigsten Spezialisten für Stoßwellen und für Hochdruck- und thermodynamische Erscheinungen einzuholen.

Sir Geoffrey Taylor kam aus London, um mit uns über Explosionen, Stoßwellen und Instabilitäten in der Bewegung von Materie zu reden. Aber kein Experte hatte jemals mit solchen Extremen von Druck und Temperatur zu tun gehabt. Es war die Stunde der theoretischen Physiker. Wir hatten das Verhalten von Materie unter äußerst ungewöhnlichen Bedingungen zu berechnen. Die verfügbare Kenntnis über die Struktur von Materialien aber stellt für die Vorhersage von Werkstoffeigenschaften nur dann eine verläßliche Richtschnur dar, wenn die Bedingungen nicht zu weit von der Norm abweichen.

Deshalb war die theoretische Abteilung in Los Alamos so wichtig. Wir versuchten, die besten Leute zu bekommen. Hans Bethe war Abteilungsleiter, ferner hatten wir Enrico Fermi, Robert Christy vom California Institute of Technology, Edward Teller, Philip Morrison aus Berkeley und später Rudolf Peierls aus England. Mein alter Freund Placzek kam, und Robert Marshak stieß aus Montreal zu uns, wo er an einem britisch-kanadischen Projekt arbeitete.

Richard Feynman war als junger Mann ebenfalls in Los Alamos. Später wurde er einer der ersten theoretischen Physiker unserer Zeit. Ungeachtet seiner Jugend, fiel er bereits durch raschen, kreativen Verstand auf; bei der Lösung schwieriger Probleme erwies er sich als überaus nützlich. Auch mit seinem Charme, seiner Heiterkeit und Warmherzigkeit war er ein Gewinn für unsere Gruppe. Er war äußerst witzig und als Erfinder lustiger Streiche unschlagbar. Zum Beispiel konnte er unsere Rechenmaschinen auf rhythmisches Klappern programmieren, das einen gerade populären Schlager simulierte. Er war auch Experte beim Öffnen von verschlossenen Safes, eine Fähigkeit, die das Militärpersonal gar nicht schätzte. Für unsere Kinder, die ihn anbeteten, war er der spaßigste Mensch der Welt und ihr liebster erwachsener Spielgefährte.

Feynmans spätere Beiträge zur Wissenschaft waren enorm. Die moderne Feldtheorie wäre ohne seine maßgebende Mitwirkung undenkbar. Er lieferte auf fast allen Gebieten der Physik fruchtbare Denkanstöße. Ich wüßte nur einen Theoretiker, der sich mit Feynman vergleichen ließe, nämlich Lew Landau. Was mich an Feynman beeindruckte, war sein intuitives Verständnis für Physik ebenso wie seine Sachkenntnis in mathematischem Formalismus. Nach dem Krieg fuhr ich häufig nach Pasadena, wo er als Professor am California Institute of Technology arbeitete, und bat ihn, mir dieses oder jenes physikalische Problem zu erklären. Er war stets bereit, über alles mit mir zu diskutieren, und schaffte es immer, dafür genau die richtige Sprache zu benutzen, unter Auslassung mathematischer Verschlingungen. Er wußte, was bei mir ankam. Bedauerlicherweise starb er zu früh, ebenso wie Landau. (Feynman starb 1988 im Alter von siebzig Jahren.) Es wird lange dauern, bis wir wieder einen so hochbegabten, schöpferischen Kopf in unseren Reihen haben werden. Über meine Bewunderung für seine wissenschaftlichen Fähigkeiten hinaus hatte ich ihn ins Herz geschlossen und vermisse ihn.

In Los Alamos gab es Schwierigkeiten mit Edward Teller, der hartnäckig verlangte, die Wasserstoffbombe (H-Bombe) gleichzeitig mit der Atombombe, an der wir arbeiteten, zu entwickeln. Oppenheimer mußte ihm schließlich eine Spezialabteilung mit ein paar Mitarbeitern zubilligen für sein Projekt der »Superbombe«, wie wir die H-Bombe damals nannten. Ich hatte einen persönlichen Konflikt mit Teller, als Bethe mich bat, als stellvertretender Abteilungsleiter zu fungieren. Edward behauptete, er sei der bessere Physiker und hätte die Stellung bekommen müssen. Ich versuchte nicht, das abzustreiten, wies ihn jedoch darauf hin, daß Hans vermutlich mich ausgewählt habe, weil ich besser mit Menschen umgehen konnte. Teller wurde politisch immer konservativer, so daß sich unsere Freundschaft auch in späteren Jahren nicht halten ließ.

Wir erwarteten die erste Sendung Plutonium aus Hanford irgendwann 1944. Es handelte sich um ein Körnchen von vielleicht einem Millimeter Durchmesser. Bis dahin waren die von Beschleunigern oder anderen Geräten erzeugten Plutoniummengen so gering, daß die physikalischen Eigenschaften nicht bestimmt werden konnten. Wir waren uns nur über eine Tatsache sicher: Das Plutoniumatom hat vierundneunzig Elektronen. Diese Zahl bestimmt praktisch die meisten Eigenschaften des Atoms. Auf der Grundlage der Quantenmechanik ist unsere Kenntnis der Atomstruktur so weitreichend, daß die Ordnungszahl es im Prinzip ermöglichen sollte zu berechnen, wie sich die Atome zu dem von uns Plutonium genannten Element verbinden, und einige seiner chemischen Eigenschaften abzuleiten. In diesem Sinne bestimmt Quantität die Qualität, doch das trifft nur im Prinzip zu. In Wirklichkeit sind solche Berechnungen äußerst kompliziert und in keiner Weise zuverlässig durchzuführen. Atomphysiker sagten voraus, daß Plutonium ein Metall sein müsse, mit einem spezifischen Gewicht von etwa achtzehn Gramm pro Kubikzentimeter, von bräunlicher Farbe, mit dieser bestimmten Elastizität sowie elektrischen und Wärmeleitfähigkeit usw.

Als das Plutonium eintraf, hielt ich das erste Körnchen, das wir je gesehen hatten, in der Hand. (Ich hätte das der Radioaktivität wegen wohl nicht tun dürfen, aber es war ein derart minimales Quantum, daß es keinerlei schädliche Wirkung hatte.) Es war tatsächlich ein schweres, bräunliches Metall und besaß die Eigenschaften, die meine Kollegen aus der Zahl vierundneunzig abgeleitet hatten. Das bestärkte uns in unserem Vertrauen in die Kraft wissenschaftlicher Erkenntnis.

(…)

Die Faszination unserer Arbeit nahm uns gefangen. Nie zuvor hatten meine Kollegen und ich eine Zeit erlebt, in der wir so viel lernten, so viele neue Erkenntnisse über die Struktur der Materie in all ihren Erscheinungsformen gewannen. Für uns war es eine grandiose Periode, aber wir hatten auch das furchtbare Zerstörungspotential unseres Werks zu bedenken. Wissenschaftliche Untersuchungen basierten auf der Erfahrung mit gewöhnlichen Bomben, so daß schwer vorauszusagen war, was geschehen würde, wenn die Sprengkraft mindestens tausendmal größer wäre.

Wir versuchten, das Ausmaß an Zerstörung zu bestimmen, die Anzahl der Opfer, falls die Bombe über einer Stadt detonierte, und die potentiellen Strahlungsschäden für Menschen, Tiere und Boden. All dies erforderte sorgfältige Untersuchungen in unseren Labors und an unseren Schreibtischen. Unter den gegebenen Umständen vermochten wir es nicht, den moralischen Problemen unserer Arbeit ins Auge zu sehen, auch wenn wir sie erkannten. Es läßt sich nicht leugnen, daß ständige Diskussionen über die durch Feuer und Strahlenkrankheit verursachten Schäden und über die Millionen von Toten eine zunehmende Abstumpfung gegenüber diesen grauenhaften Konsequenzen bewirkte.

Manchmal, vielleicht mitten in der Nacht, wurden sich einige von uns plötzlich des Horrors bewußt, der durch unsere Arbeit ausgelöst werden konnte, doch wir waren auch überzeugt, daß unser Tun wichtig war, um die Welt vor den Schrecken des Nazismus zu retten, und das hielt uns aufrecht. Ich habe mich oft gefragt, wie wir mit dem Problem umgegangen wären, wenn wir gewußt hätten, daß seitens der Nazis kein ernsthafter Wettlauf um die Bombe stattfand.

(…)

Eines Tages wurde ich gebeten, zur nächsten Bahnstation in Lamy, New Mexico, zu fahren und drei britische Wissenschaftler abzuholen. Man sagte mir nicht, um wen es sich dabei handelte, und ich hoffte, daß sie mein leichter österreichischer Akzent nicht stören würde. Als der Zug hielt, stiegen drei Personen aus, die ich auf der Stelle erkannte. Die »Engländer« entpuppten sich als Rudolf Peierls und Francis Simon, beide aus Deutschland stammend, und Egon Bretscher, gebürtiger Schweizer.

Die meisten von uns arbeiteten härter als je zuvor, doch wir hatten auch ein gewisses Maß an Geselligkeit und Unterhaltung. Das Leben in Los Alamos bot mehr als nur die Arbeit an dem Projekt und die Diskussionen über dessen Verästelungen. Ab und zu fuhren wir nach Santa Fe, um in den guten Buchhandlungen herumzustöbern oder im Restaurant La Placita unter dem Sternenhimmel köstlich zu speisen. Unsere Gemeinschaft, dieser internationale Kreis überaus kreativer Menschen, war ungewöhnlich, und auch unsere zwanglosen geselligen Zusammenkünfte gestalteten sich stets höchst anregend und interessant. Hauptthema unserer Gespräche blieb der Kriegsverlauf, aber daneben unterhielten wir uns ausgiebig über Musik, Theater und Sport.

Kinder wuchsen hier unter geradezu idealen Bedingungen auf. Auf den Straßen herrschte nicht viel Verkehr, und der Schutzzaun um das Gelände bewahrte sie davor, sich zu verlaufen. Sie hatten eine Menge gleichaltriger Spielgefährten und die herrlichsten Gelegenheiten zum Wandern, Skifahren und Herumtollen. Die Schule war ausgezeichnet, den Unterricht hatten fast ausschließlich die hochqualifizierten, erfahrenen Ehefrauen der Wissenschaftler übernommen.

(…)

Zu den lebenslustigeren geselligen Veranstaltungen zählten unsere berühmten Abende in den Wohnheimen. Bei diesen Tanz- und Kostümfesten entfalteten wir unsere vielfältigen künstlerischen Talente, von klassischen Musikdarbietungen bis zu ausgefeilten akrobatischen Nummern. Einmal traten Otto Frisch und ich als Diktatorenduo auf: er als Hitler, ich als Stalin. Ich lieh mir von Hans Staub eine echte Schweizer Militärmütze und klebte einen Sowjetstern darauf. In Zürich hätte das einen internationalen Zwischenfall provoziert.

Im Juni 1943 hatte sich Los Alamos zu einer Gemeinde mit spezifischen sozialen Problemen entwickelt, und so wurde ein Gemeinderat gebildet; dessen Mitglieder und der Vorsitzende wurden von den Bewohnern der Stadt gewählt. Er hatte eine rein beratende Funktion für die Militärverwaltung und keine Machtbefugnisse, außer in Bagatellfragen. In erster Linie diente er als öffentliches Diskussionsforum für Gemeindeprobleme und als Vertretung für Verhandlungen mit der Militärverwaltung von Los Alamos. Er war eine Schaltstelle für Diskussionen über Probleme des täglichen Lebens und bot Gelegenheit, Dampf abzulassen wegen mancher militärischer Einschränkungen, die uns sinnlos vorkamen. Die Wahlen zum Gemeinderat fanden zweimal im Jahr statt, und es gelang uns trotz des Mißtrauens gegenüber einem demokratischen Gremium innerhalb eines autoritären Regimes, daß ein Vertreter der Militärverwaltung bei jeder unserer Sitzungen anwesend war.

Unlängst aus Europa emigriert, sah ich es als besondere Auszeichnung an, als Vertrauensbeweis meiner Mitbewohner, für drei Sitzungsperioden in den Rat und für eine als Vorsitzender gewählt zu werden. Natürlich gab es neben mir noch weitere Ausländer in Los Alamos, aber dennoch bot meine Wahl ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Immigranten in den Vereinigten Staaten als gleichberechtigt akzeptiert wurden (und werden), ganz im Gegensatz zu den vielen Vorurteilen, die Europäer Ausländern gegenüber an den Tag legen.

Unsere Gemeinderatssitzungen stellten ein interessantes Kontrastprogramm zu unseren wissenschaftlichen und technischen Aufgaben dar. (…)

Im Herbst 1944 wurde uns mitgeteilt, daß zwei berühmte europäische Physiker zu uns stoßen würden. Keiner hatte je etwas von Nicholas und Jim Baker gehört. Bei ihrer Ankunft stellte sich heraus, daß es sich um Niels Bohr und seinen Sohn Aage handelte, die aus Sicherheitsgründen Decknamen benutzten. Bohr und seine Familie waren während der deutschen Besetzung Dänemarks nach Schweden evakuiert worden. Zu Anfang der Okkupation betrachteten die Nazis Dänemark als Musterprotektorat und ließen die Juden in Ruhe. Doch als die Untergrundbewegung aktiv wurde und die Besatzer anzugreifen begann, gaben die Nazis den Befehl, die dänischen Juden in Konzentrationslager zu deportieren.

(…)

Seine Beiträge zu unserer Arbeit in Los Alamos hoben das intellektuelle Niveau in mehrfacher Hinsicht. Er beteiligte sich aktiv an der Lösung wissenschaftlicher und technischer Probleme, wozu er eine Anzahl wichtiger Ideen beisteuerte. Doch er schärfte unser Bewußtsein auch noch auf andere Weise. Wir waren uns völlig klar darüber, daß wir durch die Arbeit an diesem Projekt mit einigen der schwierigsten Fragen konfrontiert würden, die es für einen Wissenschaftler geben konnte. Über unsere geliebte Physik waren wir in die grausame Wirklichkeit gedrängt worden und mußten den uns zugefallenen Part durchstehen. Wie ich bereits erwähnte, waren die meisten von uns jung und menschlich noch etwas unreif.

Bohr verwickelte uns unverzüglich in private Diskussionen über die Bedeutung unserer Arbeit. Er wich den problematischsten Aspekten unserer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht aus – dem Einsatz der Wissenschaft bei Tod und Zerstörung. Er sah die Notwendigkeit klar und deutlich, doch gleichzeitig half er uns mit seinem Idealismus, seiner Fürsorge und Hoffnung auf Frieden, in all dem Schrecklichen einen Sinn zu erkennen. Er inspirierte viele von uns, schon jetzt an die Zukunft zu denken und uns geistig auf die Aufgabe vorzubereiten, die der Frieden uns stellen würde.

Bohr glaubte, dem unvermeidlichen Blutbad und aller Verwüstung zum Trotz, daß dieser durch wissenschaftliche Erkenntnisse veränderten Welt eine positive Zukunft bevorstünde. Vielleicht würde die im Bau befindliche Superwaffe Weltkriege obsolet machen. (Heute, fünfundvierzig Jahre danach, scheint es, er könnte recht gehabt haben.) Diejenigen von uns, die in der Vergangenheit bei ihm als Schüler und Mitarbeiter waren, hatten von ihm gelernt, daß jede große, tiefgreifende Schwierigkeit ihre eigene Lösung in sich trägt. Bohrs Gespräche mit seinen alten und neuen Freunden warfen manche Fragen auf, die wir unter dem Arbeitsdruck verdrängt hatten. Er regte viele von uns an, über diese Probleme nachzudenken, und animierte uns, regelmäßige zwanglose Diskussionsrunden mit dieser Thematik einzuführen.

Bohrs Grundtendenz ging dahin, das entscheidende Dilemma aufzudecken. Er hatte die Gabe, ein Problem von allen Seiten zu sehen, und vermochte selbst in der vernichtendsten aller Waffen die positiven Möglichkeiten zu erkennen. Sein Denken brachte unseren Diskussionen ein Element der Hoffnung, weil er so oft darauf hinwies, daß die Existenz solch verheerender Waffen demonstrieren könnte, daß Kriege sinnlos und selbstmörderisch sind. Er sah die furchterregende Möglichkeit für einen zukünftigen atomaren Rüstungswettlauf voraus, erkannte aber in dieser drohenden Gefahr auch eine einzigartige Gelegenheit zu einer historischen Kursänderung.

Bohr hoffte, die einstweilige Überlegenheit der Vereinigten Staaten bei Atomwaffen könnte als Argument dienen, andere zu überzeugen, daß internationale Kontrolle über die Herstellung von Atomwaffen und Atomkraft für alle von Vorteil wäre. Dieses Ziel ließe sich seiner Meinung nach am besten durch baldige multilaterale Gespräche, insbesondere mit der Sowjetunion, erreichen, bevor die Waffe tatsächlich entwickelt wäre und eingesetzt würde. Obwohl die Sowjets im Krieg gegen die Nazis unsere Alliierten waren, rechnete man schon damals damit, daß die UdSSR in der Nachkriegswelt als Hauptkonkurrent und Gegenspieler der Vereinigten Staaten auf den Plan treten würde. Bohr war überzeugt, daß sich die zur Herstellung der Bombe erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht geheimhalten ließen, und setzte sich nachdrücklich für eine Politik des freien Wissensaustauschs ein, und zwar so bald als möglich. Er vertrat stets die Ansicht, daß jede nach dem Krieg weiter bestehende nationale Geheimhaltung nur neue Spannungen heraufbeschwören würde.

Ich erinnere mich, in jener Zeit mit Will Higinbotham, Robert R. Wilson, Hans Bethe, David Hawkins, Philip Morrison, William Woodward und anderen verschiedentlich zusammengekommen zu sein. Der Krieg in Europa schien sich Ende 1944 endgültig zugunsten der Alliierten zu wenden, und das veranlaßte uns ebenso wie das stetige Fortschreiten unseres Projekts, uns mehr Gedanken über die Zukunft der Welt nach dem Krieg zu machen. Wir hofften, daß die Alliierten im Frieden auf jede Geheimniskrämerei verzichten und jede militärische und zivile Nutzung der Atomkraft unter internationale Verwaltung stellen würden. Nach unserer Überzeugung durften Atomwaffen keinesfalls nationaler Kontrolle überlassen werden. Bohr hatte in vielen von uns die Hoffnung geweckt, daß die Superwaffen Kriege in Zukunft unmöglich machen würden.

Die Möglichkeiten, Atomenergie in Friedenszeiten zur Stromerzeugung und zu medizinischen Zwecken zu nutzen, stimmten uns ebenfalls optimistisch. An die Gefahren radioaktiver Verseuchung durch Reaktorunfälle oder an die vielen anderen Probleme bei friedlicher Nutzung der Atomenergie dachten wir nicht. Wir prophezeiten, daß diese neue Technologie eine großartige Gelegenheit zu echter internationaler Kooperation bieten würde, in zweifacher Hinsicht – um internationale Konflikte zu verhüten und um den nutzbringenden Einsatz von Atomenergie auszubauen. Die in ihr enthaltenen vielfältigen Möglichkeiten würden, so meinten wir, als Katalysatoren fungieren für die Idee einer supranationalen Wissenschaft und Technologie, sobald der Krieg beendet wäre.

Bohr verbrachte nur einen Teil seiner Zeit in Los Alamos. Er fuhr häufig nach Washington und London und benutzte seinen Ruf und seine engen freundschaftlichen Beziehungen zu vielen einflußreichen Persönlichkeiten dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die dringenden Fragen zu lenken, mit denen wir konfrontiert waren. Es war sehr schwierig für Bohr, mit Vertretern der Führungsschicht über diese Dinge zu reden, ohne gegen die Geheimhaltung zu verstoßen, doch er überzeugte eine Reihe von Spitzenpolitikern, daß seine Auffassung den einzigen Weg darstellen könnte, die Welt vor der atomaren Katastrophe zu bewahren. Selbst Roosevelt schienen seine Argumente beeindruckt zu haben. Churchill jedoch vermochte Bohr nicht zu überzeugen, ihre Begegnung war ein tragischer Fehlschlag. Bohr mit seiner ruhigen, etwas ungeordneten Weise zu diskutieren stand in derart krassem Gegensatz zu Churchills apodiktischer Haltung, daß sich die beiden überhaupt nicht verständigen konnten. Churchill verdächtigte ihn sogar, mit den Sowjets im Bunde zu sein.

Rückblickend mutet es unwahrscheinlich an, daß eine internationale Kooperation in atomaren Fragen mit Stalin hätte gelingen können. Überdies argumentierten nationalistische Zirkel in Amerika und England gegen eine Internationalisierung in der irrigen Annahme, die Monopolstellung des Westens würde noch viele Jahre unangefochten bestehen bleiben. Bohr erkannte 1950, daß seine Versuche, ein internationales Abkommen über Atomfragen zu erreichen, fehlgeschlagen waren. Er schrieb daraufhin einen offenen Brief an die Vereinten Nationen, in dem er voraussagte, daß eine solche fehlende Kooperation ein unaufhörlich eskalierendes atomares Wettrüsten erzeugen würde sowie vermehrte Spannungen und Konfrontationen zwischen Ost und West. Seine Voraussagen erwiesen sich als erschütternd richtig. Heute jedoch sieht es so aus, als ob Bohrs Vision von internationaler Zusammenarbeit und einem Ende des Wettrüstens sich verwirklichen könnte. Eine Welt, wie er sie sich erhofft hatte, scheint heute in den Bereich des Möglichen zu rücken, was man in den letzten Jahren kaum erwartet hätte. Ein neuerlicher Beweis für Bohrs tiefe Einsicht in historische Veränderungen, die unvermeidlich waren.

Im März 1945 kamen etwa vierzig von uns zusammen, um die Rolle der Atombombe in der Weltpolitik und der Erzeugung von Atomenergie sowie die Stellung der wissenschaftlichen Gemeinschaft nach dem Krieg zu untersuchen. Ich gehörte zu einem Ausschuß, der diese Beratungen fortsetzen sollte. Da wir bei der Vorbereitung des für Juli 1945 geplanten ersten Bombentests unter enormem Arbeitsdruck standen, fanden weitere Ausschußsitzungen erst nach dem Krieg statt.

Ab Mitte 1944 intensivierte sich unsere Arbeit an der Bombe beträchtlich. Viele neue Leute kamen nach Los Alamos, um die bis zum Abschluß anfallenden Spezialaufgaben zu erledigen. Neue eingebildete oder tatsächliche Schwierigkeiten tauchten auf, darunter so ernsthafte, daß wir bis Anfang 1945 nicht sicher waren, ob die Bombe mit einem einigermaßen hohen Wirkungsgrad detonieren würde. Zum Beispiel bestand die Möglichkeit, daß unkontrollierte Neutronen eine Detonation herbeiführen würden, bevor das Plutonium komplett verdichtet war, was eine relativ geringe Ausbeute zur Folge hätte.

Das waren einige der Probleme, mit denen wir uns herumschlugen, als Hitlerdeutschland am 9. Mai 1945 kapitulierte. Unsere Nachbarskinder, keines davon über fünf Jahre, liefen auf die Straße und veranstalteten eine Siegesparade. Sie schlugen mit Holzlöffeln auf Töpfe und Pfannen, um ihrer Freude lautstark Ausdruck zu geben. So klein sie auch waren, hatten sie doch das instinktive Gefühl, daß es ein großes Ereignis zu feiern galt.

Mit Hitlers Niederlage bestand auch keine Gefahr mehr, daß die Nazis ihre eigene Bombe entwickeln könnten, doch das drang nicht bis an die Oberfläche unseres Bewußtseins. Wir waren da zu sehr in die Arbeit verstrickt, zu intensiv an ihren Fortschritten interessiert und zu stark damit beschäftigt, die vielen Schwierigkeiten zu überwinden. Unsere Bindung an das Projekt beruhte nicht nur auf pragmatischen Gründen, sondern auf der rein wissenschaftlichen Suche nach Antworten. Was auch immer in Europa geschah, wir wußten, daß unsere Arbeit vollendet werden mußte. Nur zwei Kollegen, Volney C. Wilson und Joe Rotblat, sahen sich durch das Ende der Nazibedrohung zum Weggehen veranlaßt. Joe wollte zudem nach Polen fahren und versuchen, seine Familie ausfindig zu machen. Er mußte erfahren, daß die Nazis seine Frau und deren Eltern umgebracht hatten, während einige seiner eigenen Angehörigen den Holocaust überlebt hatten.

Die Reaktion der meisten von uns war teils interessant und zugleich auch etwas deprimierend. Sie zeigte, wie fest wir Wissenschaftler mit der vor uns liegenden Aufgabe und mit der Lösung der verbliebenen technischen Probleme verwachsen waren. Natürlich gab es für die Vollendung der Aufgabe auch einen dringenden politischen Grund. Den Krieg gegen Japan, mit welchen Mitteln auch immer, rasch zu beenden, konnte Millionen von Amerikanern und Japanern das Leben retten, das sie in einem noch länger andauernden Krieg oder bei der zu erwartenden Invasion der Amerikaner mit Sicherheit verlieren würden. Dennoch habe ich rückblickend oft Enttäuschung darüber empfunden, daß mir damals der Gedanke an Aufhören gar nicht gekommen ist.

Oppenheimer war selbstverständlich äußerst interessiert an all den Fragen über die Konsequenzen der Bombe auf die politische Zukunft der Welt und hatte viele Diskussionen mit Bohr. Wie dieser blieb er Versammlungen fern, in denen politische Probleme erörtert wurden. Seiner Meinung nach sollten wir uns nicht auf Fragen einlassen, die Sinn und Zweck der Bombe und der Atompolitik nach dem Krieg betrafen. Er glaubte, solche Entscheidungen müßten den verantwortlichen Politikern in Washington vorbehalten bleiben, und äußerte sein Vertrauen in ihr Urteil. Oppie war unser Held und Mentor. Er beeinflußte unser Denken so stark, daß wir für den Einsatz der Bombe keine anderen Alternativen erörterten als die Zerstörung japanischer Städte. Oppenheimer meinte, nur eine solch schreckliche Lektion über die reale Gewalt der neuen Waffe würde der Welt bewußtmachen, daß sich mit der Bombe ein grundlegender Wandel in der Kriegführung vollzogen habe.

Diskussionsgruppen wie die, an der wir teilnahmen, hatten sich in Chicago und Oak Ridge gebildet, doch vor Kriegsende war keinerlei Kommunikation zwischen uns gestattet. Tatsächlich hatten die meisten von uns, ich eingeschlossen, keine Ahnung, daß im Juni 1945 eine Gruppe unter Führung von Leo Szilard und James Franck dem Kriegsminister einen schriftlichen Antrag unterbreitet hatte, mit dem die Vereinigten Staaten dringend ersucht wurden, die Bombe nicht über bewohntem Gebiet zu zünden. Hätte ich von diesem Antrag gewußt, wäre ich bestimmt in der Gruppe zu finden gewesen, die ihn unterstützt hatte.

Anmerkung

Wir danken dem Scherz Verlag sehr herzlich, daß wir Auszüge aus dem Buch „Mein Leben“, Seite 156<6><|><>ff. abdrucken durften.

Über Victor Weisskopf
Victor Weisskopf, 1908 in Wien geboren, studierte und promovierte bei Max Born in Göttingen. Er arbeitete mit Heisenberg, Born, Schrödinger und Pauli zusammen. 1937 emigrierte er in die USA. Als Stellvertretender Leiter der Theoretischen Abteilung war er maßgeblich am Manhattan-Projekt beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Generaldirektor des Europäischen Kernforschungszentrums CERN in Genf. Ab 1965 lehrte er am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Weisskopf gehört zu den bedeutendsten US-Physikern dieses Jahrhunderts. Für seine grundlegenden Forschungen und Entdeckungen auf dem Feld der Elementarteilchen, der Quantenphysik und der Nuklearphysik erhielt der Physiker, der in seinem Fach als Integrationsfigur gilt, hohe Auszeichnungen, darunter 1956 die Max-Planck-Medaille. Daß ihm der Nobelpreis für Physik nicht zuerkannt wurde, ist vielen seiner Kollegen unverständlich. Was Weisskopf ebenfalls auszeichnet, ist, daß er zu den Physikern zählt, die früh vor den Folgen der Atomwaffen warnten. Seine auch auf deutsch erschienenen Memoiren »Mein Leben. Ein Physiker, Zeitzeuge und Humanist erinnert sich an unser Jahrhundert« (Bern/München/Wien 1991, Scherz Verlag) sind ein wahrer Lesegenuß.
(B.W.K.)

„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

Interview mit Dr. Frederick Seitz

von Dr. Frederick Seitz und Bernd W. Kubbig

Wir haben Prof. Seitz gebeten, als ehemaliger Mitautor von »One World or None« seine Haltung zu den Atombombenabwürfen darzulegen.

Ich war Ende Juli 1945 gerade von einem etwa dreimonatigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt, als die Bomben auf Japan fielen. Vor meiner Abreise nach Europa hatte ich beim Manhattan District gearbeitet, wurde jedoch vom Verteidigungsministerium zu einer Sondermission nach Europa geschickt. Während ich im Pentagon noch auf die letzten Vorkehrungen für meine Reise wartete, hatte ich reichlich Zeit, mit einigen Leuten (im April 1945) darüber zu sprechen, was im Hinblick auf die bevorstehende Invasion Japans als nächstes zu erwarten wäre. Da die Japaner – Zivilisten wie Militärangehörige gleichermaßen – bei der Invasion von Okinawa erbitterten Widerstand geleistet hatten, wurde selbstverständlich angenommen, daß dies auch für das Festland gelten würde. 15 % unserer Verluste während des Krieges waren allein bei der Invasion von Okinawa zu beklagen. Die günstigste Schätzung ging davon aus, daß eine direkte Invasion Japans mindestens ein Jahr dauern würde und unsere Armee dabei möglicherweise mit Verlusten im Bereich von einer Million rechnen müßte.

Vor diesem Hintergrund hielt ich es für richtig, die Wirkung der Bombe an einer japanischen Stadt zu demonstrieren, in der Hoffnung, daß dadurch der Kaiser zur sofortigen Beendigung des Krieges bewogen werden könnte. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Ich kenne kein ernstzunehmendes »offizielles« Dokument, in dem die zu erwartenden amerikanischen Verluste mit lediglich 40-50.000 Soldaten angegeben wären. Die mir aus den obengenannten Gesprächen im Pentagon bekannten Schätzungen lagen weitaus höher.

Auch wenn ich durchaus bereit gewesen wäre, mit dem Abwurf der zweiten Bombe, diesmal auf Nagasaki, noch etwas abzuwarten, hatte ich keinerlei Einwände gegen Präsident Trumans Entscheidung, zumal so viel auf dem Spiel stand. Er war im Grunde human gesinnt, hatte aber eine enorme Verantwortung zu tragen. Sicher wog er die Alternativen gegeneinander ab und kam zu dem Schluß, daß der baldige Einsatz der zweiten Bombe die Handlungsweise des Kaisers entscheidend beeinflussen würde, was dann ja auch der Fall war.

Da der Krieg in Europa beendet war, bevor wir in der Lage waren zu zeigen, ob die Bombe funktioniert, stand eines im Sommer des Jahres 1945 fest: Sollte die Bombe im Zweiten Weltkrieg überhaupt zum Einsatz kommen, dann gegen Japan. Aufgrund meiner Abneigung gegen Krieg in jeder Form glaubte ich, daß alles recht war, um dem Blutvergießen ein rasches Ende zu setzen. Die Ereignisse hatten keine besondere Auswirkung auf meine Einstellung zu meiner beruflichen Tätigkeit als Physiker.

Ich gehöre zu der Gruppe von Leuten, die den Einsatz der Bomben angesichts der Umstände, die im September 1945 auf unsere Regierung zukamen, für angemessen hielt.

Ich glaube, daß die Gründe, warum viele Wissenschaftler nicht bereit waren und sind, ihre Arbeit in den Dienst nationaler oder internationaler Verteidigung zu stellen, sehr komplex sind und über eine bloße Abneigung gegen die Anwendung der Bombe hinausgehen. Allgemeine sozialpolitische Einstellungen sind hierbei entscheidender. Eine vorurteilsfreie Betrachtung dieses Themas ist sicher sehr schwierig.

Über Frederick Seitz
Frederick Seitz, geb. 1911, ist President Emeritus der Rockefeller University in New York und war in den sechziger Jahren Präsident der National Academy of Sciences in Washington, D.C. 1973 erhielt er für seinen Beitrag zur Entwicklung der Quantentheorie die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der USA, die National Medal of Science. Zusammen mit Hans Bethe prognostizierte Seitz in dem Aufsatz „How Close is the Danger?“, 1946, im programmatischen Sonderheft „One World or None“ der Federation of American Scientists erschien: in höchstens sechs Jahren seien in anderen Ländern A-Bomben verfügbar. Im Hinblick auf die UdSSR, die 1949 die erste Waffe dieser Art testete, war die Vorhersage recht präzise.
Im Gegensatz zu Bethe – und gemeinsam mit Edward Teller, mit dem ihn ein ausgeprägter Antisowjetismus und eine Ablehnung von Rüstungskontrollverträgen verbindet – wurde Seitz in den achtziger Jahren zu einem der stärksten SDI-Befürworter. Allerdings plädierte er für möglichst bald aufstellbare – aber damit militärisch wenig wirksame – Raketenabwehrwaffen. Diese Forderung machte ihn gleichzeitg zu einem Kritiker derjenigen Reaganschen SDI-Programme, die auf einen möglichst perfekten, aber erst in ferner Zukunft stationierbaren Abwehrschirm abzielten. Auch unter den heutigen veränderten Rahmenbedingungen hält Seitz – wie Teller – angesichts der aus seiner Sicht bestehenden Bedrohungen aus der Dritten Welt Raketenabwehrwaffen für notwendig.
Das schriftliche Interview mit Dr. Frederick Seitz führte Dr. Bernd W. Kubbig. (Übersetzung: Helga Wagner.)

Editorial

Editorial

von Peter Krahulec, Bernd W. Kubbig, Caroline Thomas

Dieses Sonderheft wird gemeinsam herausgegeben von Dr. Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und von »Wissenschaft und Frieden«.

I.

Wir von W&F freuen uns über solche Bündnisse, die unseren Aktions- und Resonanzradius erweitern; zumal, wenn es sich um einen so prominenten Partner wie die HFSK und ein Jahrhundertthema wie den Atomkrieg gegen Japan und die Menschheit handelt.

Der »Gedenkmarathon« des Jahres 1995 gestattet kein relativierendes Wegverweisen auf universelle Mittäterschaften, sondern beläßt uns vor der Anstrengung der Begriffe und Wertungen im zerrissenen Weltzustande. „Die Befreiung von Auschwitz“, hat Jorge Semprun in der Bonner Oper gesagt, „ist aus einem Lande gekommen, in dem der Archipel Gulag noch aktiv war.“ Und die Verbrechen von Hiroshima und Nagasaki hatten Anteil an der Befreiung der Völker Chinas, Koreas, Burmas, Indonesiens und auf den Philippinen von einer Besatzungsmacht, die keine Gnade kannte.

Uns geht es in dieser Ausgabe um die »Verantwortung der Wissenschaft«. Um insbesondere die subjektive Motivation der einzelnen Atomwissenschaftler von damals zu verdeutlichen, dokumentieren wir auch Aussagen von Teller, Bethe, Seitz u.a., die ein explizit anderes Verständnis von »Wissenschaft« haben. Wir publizieren sie dennoch – obwohl sie der W&F-Redaktionslinie von Verantwortung von Wissenschaft zuwiderlaufen – als einen Ausdruck des Menschenmöglichen in unserem Jahrhundert.

Wenn rituelle Jahrestage ihren Sinn darin haben, Auskunft zu geben, wie staatliche und gesellschaftliche Akteure sich selber sehen, dann macht insbesondere die Debatte um die Ausstellung um den Bombenabwurf in den USA deutlich, daß der Aufklärungsbedarf noch groß ist, bis die Stimmen von Hitoshi Motoshima und Takashi Hiraoka zum politischen mainstream zählen. Auf einer Pressekonferenz im März diesen Jahres erklärten die beiden Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki es zu ihrer „Mission“, allen Menschen klarzumachen, daß der Einsatz von Atomwaffen „niemals gerechtfertigt“ sei und die „unmenschlichen Waffen“ aus den Arsenalen verschwinden müßten. In diesem Sinne mischen wir uns ein.

Wir danken der IPPNW (Ärzte gegen den Atomkrieg), der VDW (Vereinigung deutscher Wissenschaftler e.V.) und INESAP (International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation) für die finanzielle Unterstützung dieses Sonderheftes.

Die ansonsten regelmäßig erscheinenden Rubriken dieser Zeitschrift wie die »Blauen Seiten«, das Dossier, Termine und Publikationen entfallen in diesem Sonderheft.

Prof. Dr. Peter Krahulec (Vorsitzender des Herausgebervereins) Caroline Thomas (Redakteurin)

II.

gerade im 25. Jahr ihres Bestehens möchte die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) drängende Fragen unserer Welt, mit denen sich unser Institut beständig befaßt hat, in eine breite Öffentlichkeit hineintragen. Im Zentrum unserer vielfältigen Aktivitäten steht der Frankfurter Vortragszyklus »Hiroshima und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit«. Unser inhaltliches Ziel ist es, an die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 zu erinnern, das Atomzeitalter zu besichtigen und lernend nach vorn zu blicken. Die Hiroshima/Nagasaki-Projektgruppe greift die Möglichkeit gern auf, die Referate geschlossen in einem Sonderheft der anerkannten Fachzeitschrift W&F zu veröffentlichen. Caroline Thomas hat sie redigiert. Danken möchte ich Olaf Cunitz für seine verläßliche wie beständige Mitarbeit in der Projektgruppe. Mein besonderer Dank gilt Bernd Schönwälder, ohne dessen großen und phantasievollen Einsatz wir diese Reihe nicht so erfolgreich hätten durchführen können.

Für diesen Vortragszyklus konnten wir Referenten gewinnen, die als Jahrhundertzeugen das Atomzeitalter mitgeprägt haben, sei es als Teilnehmer am amerikanischen und sowjetischen Bomben-Programm während des Zweiten Weltkriegs (Edward Teller, Victor Weisskopf, Igor Golovin), als Mitkonstrukteure später entwickelter Waffen (Richard Garwin), sei es als in den USA sozialisierter Physiker (Dürr) und als (nuklear-)strategischer Denker und Praktiker (McNamara).

Einer der Referenten, Dr. Hida, ist als Überlebender des nuklearen Infernos von Hiroshima Opfer einer folgenschweren Entscheidung in diesem Jahrhundert. Mit dem Beitrag von Dieter Schulte greift der erste Repräsentant einer großen gesellschaftlichen Organisation dieses auch für die Gewerkschaften wichtige Thema auf. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Japan und Deutschland“ versuchen, sich diesem schwierigen Thema auch im Gedenk- und Erinnerungsjahr 1995 anzunähern (Teilnehmer waren Ignatz Bubis, Ian Buruma, Kenichi Mishima, Jan Niemöller und Wolfgang Schwentker).

Dieses Schwerpunktheft von »Wissenschaft und Frieden« dokumentiert den Frankfurter Vortragszyklus, reichert ihn aber durch weitere Beiträge, Interviews und wichtige, aber teilweise entlegene, Quellen an. Sie schließen notwendigerweise die Positionen der Befürworter der atomaren Bombardements ein, die die meisten von uns ablehnen.

In Hiroshima brennt die Erinnerungsflamme immer noch. Zu Recht, denn selbst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben sich die Nuklearprobleme nicht erledigt. Atomare Entwarnung zu geben ist derzeit nicht möglich. Gleichzeitig erwächst hieraus der Imperativ, über das Jahr 1995 hinaus die Voraussetzungen für eine nicht-nukleare Welt zu legen, in der auch konventionelle Kriege keine Chance haben.

Dr. Bernd W. Kubbig (Projektleiter der HSFK und Mitherausgeber des Sonderheftes)

Meine Vision einer globalen Sicherheit im 21. Jahrhundert1

Meine Vision einer globalen Sicherheit im 21. Jahrhundert1

von Robert S. McNamara

Meine frühesten Kindheitserinnerungen verbinden sich mit einer vor Freude überschäumenden Stadt. Der Name der Stadt ist San Francisco. Der Anlaß dieses Freudentaumels war der Waffenstillstand vom 11. November 1918. Ich war gerade zwei Jahre alt. Die Stadt feierte damals nicht nur das Ende des Ersten Weltkrieges, sondern zugleich auch den Sieg der von Präsident Wilson so glühend verfochtenen und von vielen Amerikanern geteilten Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten mit diesem Sieg nun allen Kriegen ein Ende bereitet hätten.
Natürlich waren sie im Irrtum. Das 20. Jahrhundert sollte zu einem der blutigsten Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit werden. Bislang verloren rund um den Erdball 160 Millionen Menschen in Kriegen ihr Leben.

Ich vertrete heute abend die These, daß sich das Gemetzel des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert auf keinen Fall wiederholen darf. Es ist höchste Zeit, daß wir eine derartige Tragödie verhindern. Dazu bedarf es konkreter Schritte:

  1. Der Verringerung der Gefahr inner- und zwischenstaatlicher Konflikte durch Errichtung eines Systems der Kollektiven Sicherheit;
  2. Der Beseitigung der Gefahr der Zerstörung von Staaten im Falle eines Versagens der Kollektiven Sicherheit durch die Rückkehr zu einer möglichst atomwaffenfreien Welt.

Systeme Kollektiver Sicherheit

Ich beginne mit einigen Ausführungen zur Kollektiven Sicherheit.

Obwohl sich das Ende des Kalten Krieges seit Mitte der 80er Jahre eindeutig abzeichnete, haben die Staaten der Welt ihre Außen- und Verteidigungspolitik nur zögerlich revidiert, z.T. vielleicht, weil nicht klar war, was die Zukunft bringen würde.

Der irakische Einmarsch in Kuwait, der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und die Unruhen im Norden des Irak, in Somalia, auf Haiti, im Sudan, in Ruanda, Burundi, Armenien und Georgien belegen eindeutig, daß es auch in Zukunft Konflikte auf der Erde geben wird, sowohl Konflikte zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitende Konflikte. Die Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Rassen, Religionen und ethnischen Gruppen werden bestehenbleiben. Der Nationalismus wird überall auf der Welt eine treibende Kraft sein. Im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts werden politische Revolutionen ausbrechen. Es wird weiterhin historisch bedingte Auseinandersetzungen über politische Ländergrenzen geben. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Nationen wird aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung von Technologie und Bildung weiter zunehmen. Die tiefgreifenden Ursachen für die Konflikte in der Dritten Welt bestanden lange vor dem Beginn des Kalten Krieges und dauern nach dessen Ende weiter an. Sie werden verstärkt durch potentielle Konflikte zwischen den Staaten der früheren Sowjetunion und die anhaltenden Spannungen im Nahen Osten. Derartige Spannungen haben in den vergangenen 45 Jahren 125 Kriege ausgelöst und 40 Millionen Tote in der Dritten Welt gefordert.

In dieser Hinsicht wird sich die Zukunft nicht von der Vergangenheit unterscheiden – inner- und zwischenstaatliche Konflikte wird es auch weiterhin geben. Allerdings werden sich die Beziehungen zwischen den Staaten dramatisch verändern. In der Nachkriegszeit hatten die Vereinigten Staaten genug Macht, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten – und sie setzten diese Macht auch in beträchtlichem Maße ein. Im nächsten Jahrhundert wird dies nicht mehr möglich sein.

Die Rolle Japans auf der politischen Weltbühne wird aufgrund des wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses des Landes und – dies bleibt zu hoffen – auch aufgrund der Übernahme einer größeren wirtschaftlichen und politischen Verantwortung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Das gleiche gilt für Westeuropa, das im Jahre 1993 einen großen Schritt in Richtung einer wirtschaftlichen Integration gemacht hat. Die größere politische Einheit wird dem (trotz des Widerstands gegen den Maastrichter Vertrag) unweigerlich folgen und die weltpolitische Bedeutung Europas stärken.

Mitte des nächsten Jahrhunderts werden sich verschiedene Länder, die wir in der Vergangenheit zur Dritten Welt gerechnet haben, im Hinblick auf ihr Bevölkerungswachstum und ihre Wirtschaftskraft derart entwickelt haben, daß sie eine bedeutende Rolle in den internationalen Beziehungen spielen werden. Für Indien rechnet man bis dahin mit einer Bevölkerungszahl von 1,6 Milliarden, für Nigeria mit 400 Millionen und für Brasilien mit 300 Millionen. Wenn es China gelingt, seine ehrgeizigen wirtschaftspolitischen Ziele bis zum Jahre 2000 zu verwirklichen und in den nächsten 50 Jahren weiterhin zufriedenstellende, wenn auch nicht sensationelle Zuwachsraten zu erzielen, wird das 1,6 Milliarden-Volk über ein Einkommen – und einen Wohlstand – verfügen, der dem westeuropäischen Niveau Mitte des 20. Jahrhunderts entspricht. Das Bruttoinlandsprodukt liegt dann über dem der Vereinigten Staaten, Westeuropas, Japans oder Rußlands. Wir haben es hier in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht mit einem Machtfaktor zu tun, mit dem zu rechnen sein wird. Die genannten Zahlen sind natürlich in hohem Maß spekulativ, aber ich nenne sie, um die Größenordnung der vor uns liegenden Veränderungen zu unterstreichen.

Während die USA auch in Zukunft die führende Kraft in einer multipolaren Welt bleiben werden, müssen sie ihre Außen- und Verteidigungspolitik den neuen, sich herausbildenden Realitäten anpassen. Diese neue Welt erfordert nicht nur eine grundlegende Neuordnung der Beziehungen der Großmächte – zu denen auf jeden Fall China, Europa, Japan, Rußland und die USA gehören werden –, sondern auch der Beziehungen zwischen den Großmächten und anderen Staaten.

Viele Politologen, vor allem die sogenannten »Realisten«, sagen eine Rückkehr zur traditionellen Machtpolitik voraus. Sie behaupten, daß der Wegfall der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West zu einer Revision der traditionellen Beziehungsmuster führen wird, die auf territorialen und wirtschaftlichen Erfordernissen basieren: Die USA, Rußland, Westeuropa, China, Japan und möglicherweise Indien werden versuchen, sich als Regionalmächte zu behaupten und sich zugleich ihre Einflußsphären in anderen Teilen der Welt zu sichern, wo die Machtverhältnisse noch fließend sind. Diese Ansichten vertritt beispielsweise Professor Michael Sandel von der Harvard-Universität. Er schreibt: „Das Ende des Kalten Krieges ist nicht gleichbedeutend mit der Beilegung des internationalen Wettstreits der Supermächte. Der Wegfall der ideologischen Komponente hinterläßt weder Frieden noch Harmonie, sondern führt zurück zu einer überkommenen Globalpolitik der Großmächte im Wettstreit um Einfluß und in Verfolgung ihrer nationalen Interessen.“

Henry Kissinger, ein weiterer Vertreter der realistischen Schule, kam zu einer ähnlichen Schlußfolgerung:

„Der Gewinn des Kalten Krieges hat Amerika in eine Welt katapultiert, die mit dem europäischen Staatengebilde des 18. und 19. Jahrhunderts vieles gemeinsam hat. (…) Das Fehlen einer übergreifenden ideologischen oder strategischen Bedrohung veranlaßt die Staaten in zunehmendem Maße, auf dem Gebiet der Außenpolitik ihre ureigensten nationalen Interessen durchzusetzen. In einem internationalen System, das von vielleicht fünf oder sechs Großmächten und einer Vielzahl kleiner Staaten gekennzeichnet ist, wird, ähnlich wie in vergangenen Jahrhunderten, durch Aussöhnung und das Ausbalancieren konkurrierender nationaler Interessen eine politische Ordnung entstehen müssen.“

Die Ansichten von Kissinger und Sandel über die zwischenstaatlichen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges sind zwar historisch fundiert, stehen aber meines Erachtens im Widerspruch zu den zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeiten in der Welt. Kein Land, nicht einmal die USA, kann es sich leisten, in einer Welt engster wirtschaftlicher, umwelt- und sicherheitspolitischer Verflechtungen zwischen den Staaten abseits zu stehen. Die Charta der Vereinten Nationen bietet hierfür einen weit angemesseneren Rahmen für die internationalen Beziehungen als die Doktrin der Machtpolitik. Mit dieser Auffassung stehe ich nicht allein da.

Verteidigungsfähigkeit

Carl Kaysen, der ehemalige Leiter des Institute for Advanced Study der Universität Princeton, argumentiert: „Es gibt eine Alternative zum internationalen System, das auf der Anwendung militärischer Gewalt durch die Staaten als ultimativer Sicherheitsgarantie beruht, und es gibt eine Alternative zu der Drohung, diese Gewalt zur Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung einzusetzen. Die Suche nach einem anderen System [auf der Grundlage kollektiver Sicherheit] ist nicht länger die Verfolgung einer Illusion, sondern sie ist eine notwendige Anstrengung zur Umsetzung eines notwendigen Zieles.“

Die Brookings Institution veröffentlichte kürzlich eine Studie von Janne E. Nolan mit dem Titel »Globales Handeln: Zusammenarbeit und Sicherheit im 21. Jahrhundert«, in der 20 Politiker und Wissenschaftler ein geopolitisches System untersuchen, das sich in vielen Punkten mit meinen heutigen Ausführungen deckt.

Anläßlich einer Feier im Council on Foreign Relations am 15. Februar 1994 zu Ehren des 90. Geburtstages von George F. Kennan bemerkte dieser, zum ersten Mal seit Jahrhunderten gehe von Großmachtkonflikten keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Gerade dieser Frieden zwischen den Großmächten bietet – zumindest auf mittlere Sicht – eine echte Chance zur Verwirklichung meiner Vision von einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, und durch die Wahrung der Fähigkeit, uns selbst und unsere Interessen zu schützen, falls die Welt einen Rückfall in Großmachtrivalitäten erleidet, bietet sich uns gleichzeitig die Möglichkeit, uns gegen ein Scheitern dieser Vision abzusichern.

Die Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit bedeutet nicht, daß die Verteidigungsausgaben auf dem derzeitigen, schwindelerregenden Niveau beibehalten werden sollen. In den USA belief sich der Verteidigungsetat im Haushaltsjahr 1994 auf insgesamt 282 Milliarden Dollar – das entspricht einer inflationsbereinigten Steigerung von 25% im Vergleich zu 1980. Das für die Jahre 1995 – 2000 von Präsident Clinton vorgestellte Verteidigungsprogramm sieht nur einen ganz allmählichen Rückgang der Ausgaben gegenüber dem Stand von 1994 vor. Die Prognosen für das Jahr 2000 gehen unter Berücksichtigung der Inflationsrate von einer Senkung der Verteidigungsausgaben um lediglich drei Prozent im Vergleich zu den Zahlen während des Kalten Krieges unter Präsident Nixon aus. Die Vereinigten Staaten geben für ihre nationale Sicherheit fast genauso viel aus wie der Rest der Welt zusammengenommen.

Ein solches Verteidigungsprogramm entspricht nicht meiner Vorstellung von einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Es geht davon aus, daß die USA bei Konflikten außerhalb des NATO-Gebietes, wie z.B. im Irak, im Iran oder auf der koreanischen Halbinsel, einseitig und ohne die militärische Unterstützung anderer Großmächte agieren. Außerdem geht es davon aus, daß die USA bereit sein müssen, gleichzeitig zwei derartige Auseinandersetzungen zu führen. Diese Annahmen sind meiner Meinung nach bestenfalls fraglich.

Damit die Völker optimal auf die Beendigung des Kalten Krieges reagieren können, brauchen sie zunächst die Vision – einen konzeptuellen Rahmen – einer Welt, die nicht von jener Rivalität zwischen Ost und West beherrscht wird, die die Außen- und Verteidigungspolitik rund um den Erdball im Laufe von mehr als 40 Jahren gestaltete. In dieser neuen Welt sollten die zwischenstaatlichen Beziehungen auf die folgenden fünf Ziele ausgerichtet sein:

1.

Die Sicherheit aller Staaten vor einer äußeren Aggression sollte garantiert werden. Grenzen dürfen nicht gewaltsam verändert werden.

2.

Die Rechte von Minderheiten und ethnischen Gruppen auf dem Gebiet eines Staates, z.B. die der Kurden im Iran, im Irak und in der Türkei, sollten gesetzlich festgeschrieben werden, und sie sollten die Möglichkeit erhalten, ohne Gewaltanwendung zu ihrem Recht zu kommen.

3.

Regionale Konflikte und Konflikte innerhalb einzelner Länder sollten durch die Schaffung eines geeigneten Mechanismus und ohne das einseitige Eingreifen der Großmächte gelöst werden.

4.

Die technische und finanzielle Unterstützung für Entwicklungsländer sollte verstärkt werden, um das Tempo des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts dieser Staaten zu beschleunigen.

5.

Der globale Umweltschutz als Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit sollte sichergestellt werden.

Wir sollten also alle Anstrengungen unternehmen, um eine Welt zu schaffen, in der die Beziehungen zwischen den Völkern rechtlich geregelt sind und in der die nationale Sicherheit durch ein System der kollektiven Sicherheit ergänzt wird. Die Verhinderung bzw. die Lösung von Konflikten sowie friedenssichernde Maßnahmen, die zur Umsetzung der genannten Ziele erforderlich sind, wären von multilateralen Institutionen und einer neu geordneten, gestärkten UNO im Zusammenwirken mit neuen und erweiterten regionalen Organisationen zu übernehmen.

Dies ist meine Vision einer Welt nach dem Kalten Krieg.

Eine solche Vision läßt sich einfacher mit Worten beschreiben als in die Tat umsetzen. Das Ziel ist klar, der Weg dorthin nicht. Ich habe weder ein Geheimrezept noch einen Fahrplan in Richtung Erfolg. Ich weiß, daß sich eine solche Vision nicht innerhalb eines Monats, eines Jahres oder gar eines Jahrzehnts verwirklichen läßt. Sie wird sich nur langsam und in kleinen Schritten verwirklichen lassen, durch Führungspersönlichkeiten, die dieses Ziel mit Hingabe und Beharrlichkeit verfolgen. Ich fordere Sie deshalb auf, dieses Ziel jetzt anzusteuern.

Bei dem Versuch, die unvermeidlichen inner- und zwischenstaatlichen Konflikte zu lösen und dabei gleichzeitig die Gefahr militärischer Gewaltanwendung bzw. der mit einer Gewaltanwendung verbundenen Verluste auf ein Minimum zu reduzieren, wird die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges geführt werden müssen. Diese Führungsrolle kann von verschiedenen Ländern nach der jeweiligen Problemstellung abwechselnd übernommen werden. Oft werden sicher die Vereinigten Staaten diese Rolle spielen. Aber im Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit müssen die USA kollektive Entscheidungen akzeptieren – was sehr schwierig für uns sein wird. Genauso müssen sich – wenn das System überleben soll – andere Staaten (vor allem Deutschland und Japan) an den Risiken und Kosten, d.h. an den politischen und finanziellen Risiken sowie an den möglichen Verlusten und der Gefahr des Blutvergießens, beteiligen –, und das wird für sie sehr schwierig sein.

Hätten die Vereinigten Staaten und die übrigen Mächte ihr Engagement für ein solches System der kollektiven Sicherheit deutlich gemacht und hätten sie sich zum Schutz der Völker gegen jede Art von Angriffen ausgesprochen, dann wäre der Irak vielleicht von dem Einmarsch in Kuwait im Jahre 1990 abgeschreckt worden. Ebenso ließe sich spekulieren, ob durch ein Eingreifen der Vereinten Nationen oder der NATO bei Ausbruch des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er Jahre der Tod zehntausender Unschuldiger verhindert worden wäre.

Kriterien für ein Eingreifen

In der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges sollten sich die Staaten – und vor allem die Großmächte – darüber im klaren sein, wo und wie sie im Rahmen eines Systems der Kollektiven Sicherheit militärische Gewalt anwenden. Sie können und sollten sicher nicht in jeden Konflikt eingreifen, in dem unschuldige Opfer unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind. Mehr als ein Dutzend Kriege toben gegenwärtig in der Welt: in Bosnien, in Burundi, im Irak, in Kaschmir und im Sudan, um nur einige Beispiele zu nennen. Jederzeit könnten schwerwiegende Konflikte in Kosovo, Mazedonien und Zaire ausbrechen. Wo, wenn überhaupt, sollten die Großmächte und/oder die Vereinten Nationen aktiv werden? Weder die Vereinigten Staaten noch eine andere Großmacht haben eine klare Antwort auf diese Frage. Die Antwort kann nur über Jahre hinweg und durch intensive Gespräche in unseren Ländern, zwischen den Großmächten und in den Beratungsgremien der internationalen Organisationen erarbeitet werden.

Wir müssen für den Einsatz militärischer Gewalt klar definierte Kriterien festlegen. Die Regeln für die Reaktion auf eine grenzüberschreitende Aggression lassen sich relativ einfach und klar formulieren. Doch für den Versuch zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der politischen Ordnung und zur Verhinderung eines Völkermordes innerhalb eines Landes, wie z.B. in Ruanda im Jahre 1994, sind die Regeln weit weniger einfach und klar.

Zunächst müssen einige grundlegende Fragen beantwortet werden: Wann ist die Grenze des Leidens erreicht und ein Eingreifen gerechtfertigt? Im Rahmen einer UN-Konvention, die 1989 in einen internationalen Vertrag umgewandelt wurde, haben sich auch die USA verpflichtet, Völkermorde zu verhindern. Wann aber handelt es sich um einen Völkermord? Im Juni 1994 bezeichnete die US-Regierung den Tod von mehr als 200.000 Menschen in Ruanda zwar als einen „Akt des Völkermords“, behauptete aber zugleich, das Töten falle nicht unter die Bestimmungen des obengenannten Vertrages. Gibt es nicht Fälle an der Grenze zum Völkermord, die ein Eingreifen auch rechtfertigen würden? Ab wann sollten wir intervenieren – bereits wenn Verhandlungen auf diplomatischem Wege erfolglos sind und mit Toten zu rechnen ist oder erst wenn die Zahl der Toten ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat? Wie sollen wir uns verhalten, wenn die am Konflikt beteiligten Staaten – wie es im ehemaligen Jugoslawien der Fall war – behaupten, eine äußere Einmischung sei eine eindeutige Verletzung ihrer Souveränität? Oft genug haben regionale Organisationen, insbesondere die Organisation für Afrikanische Einheit und die Organisation Amerikanischer Staaten, ihre Unterstützung für derartige Eingriffe verweigert.

Die Kriterien für eine Intervention sollten in erster Linie berücksichtigen, daß die Anwendung militärischer Gewalt nur bedingt geeignet ist, den Prozeß des »nation building« zu fördern. Militärische Gewalt an sich ist kein Mittel, einen »gescheiterten« Staat neu aufzubauen.

Unseren Völkern sollte klar gemacht werden, daß die Beantwortung derartiger Fragen günstigenfalls Jahre in Anspruch nimmt. Doch wir sollten die Diskussion in unseren Ländern und in internationalen Foren vorantreiben. Einige der Probleme werden vielleicht niemals gelöst; und es wird sicher Zeiten geben, in denen wir einsehen müssen, daß wir nicht alle Mißstände beheben können. Für die Richtigkeit unserer Entscheidung, Gewalt als Mittel zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in unserer unvollkommenen Welt anzuwenden, gibt es keine Gewähr. Es ist daher zu prüfen, ob andere Staaten mit vergleichbaren Interessen die jeweilige Entscheidung mittragen, sich an ihrer Umsetzung beteiligen und einen Teil der damit verbundenen Kosten übernehmen.

Das Ziel einer kernwaffenfreien Welt

Ich habe in den USA immer wieder darauf hingewiesen, daß eine militärische Intervention zuweilen nicht nur auf humanitären Ursachen oder friedenssichernden Maßnahmen basieren wird, sondern auch auf Gründen der nationalen Sicherheit. Wenn für unser Land eine direkte Bedrohung besteht, dann sollten wir auch einseitig handeln. Wie aber sollen sich die USA verhalten, wenn eine weniger direkte, aber immer noch ernstzunehmende Gefahr droht, wie z.B. in bezug auf die Zwistigkeiten in Kosovo oder in Mazedonien, die einen größeren Konflikt auf dem Balkan auslösen und Griechenland, die Türkei und vielleicht auch Italien darin verwickeln könnten? Ich habe stets nachdrücklich die Auffassung vertreten, daß wir uns nur an multilateralen Maßnahmen mit einer entsprechenden Aufgabenteilung beteiligen sollten.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die seit dem Ende des Kalten Krieges geführt werden, sind in den meisten Fällen »begrenzte Kriege«. Selbstverständlich haben wir Amerikaner aus den Erfahrungen in Vietnam gelernt, wie unendlich schwer es ist, einen begrenzten Krieg zu führen, der uns über einen langen Zeitraum hinweg schwere Verluste zufügt. Aber es wird auch Situationen geben, in denen sich ein begrenzter Krieg vorteilhafter als ein unbegrenzter erweist. Bevor sich unsere Völker an einem derartigen Konflikt beteiligen, müssen sie sich über die damit verbundenen Schwierigkeiten im klaren sein: Unsere Militärs müssen die Beschränkungen, unter denen sie operieren, kennen und akzeptieren, unsere Staatsführungen und unsere Völker müssen bereit sein, unseren Verlusten Einhalt zu gebieten und ggf. einem Rückzug zuzustimmen, wenn unsere begrenzten Ziele nur unter unvertretbaren Risiken oder Kosten zu erreichen sind.

Laut George Kennan ist das Risiko groß angelegter militärischer Operationen zwischen oder unter den Großmächten im Gegensatz zu begrenzten Kriegen heute möglicherweise geringer denn je seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben zwar keine Gewißheit dafür, daß es nie dazu kommen wird, aber wir können dafür sorgen, daß bei einem Versagen des Systems der Kollektiven Sicherheit und bei Ausbruch eines Krieges zwischen den Großmächten keine Kernwaffen eingesetzt und die Staaten demzufolge nicht völlig vernichtet werden.

Unsere beiden Völker und alle anderen Menschen auf unserem Erdball leben weiterhin mit der Gefahr der atomaren Vernichtung. Die Kriegspläne der USA gehen heute – wie in den 60er, 70er und 80er Jahren – von der Möglichkeit des Kernwaffeneinsatzes aus. Aber ich glaube nicht, daß sich der Durchschnittsbürger in den USA, ebenso wie in Deutschland, dieser Tatsache bewußt ist. Natürlich waren sie alle im Juni 1992 überrascht und erfreut über die Ankündigung der Präsidenten Bush und Jelzin, die Kernwaffenbestände der USA und Rußlands deutlich abzubauen. Es gibt heute 40.000 bis 50.000 Kernsprengköpfe auf der Erde. Ihre Vernichtungskraft ist 1 Million mal größer als die jener Bombe, die Hiroshima dem Erdboden gleichmachte. Unter der Voraussetzung, daß die im START 1-Vertrag festgelegten Bestandsreduzierungen tatsächlich erreicht werden, verringert sich die Gesamtzahl der Waffen auf ca. 20.000. Bush und Jelzin vereinbarten einen weiteren Rüstungsabbau, so daß den fünf offiziellen Atommächten (USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und China) im Jahre 2003 noch insgesamt ca. 10.000 Sprengköpfe bleiben. Dieser Schritt war zwar äußerst wünschenswert, aber selbst wenn der US-Senat und das russische Parlament das Abkommen ratifizieren würden – was keineswegs als sicher gilt – wäre zwar die Gefahr einer Völkervernichtung auf der Erde um einiges geringer, aber noch lange nicht beseitigt. Ich bezweifle, daß ein Überlebender – sofern es überhaupt einen gäbe – einen Unterschied feststellen würde zwischen einer Welt, in der 10.000 Kernsprengköpfe explodiert sind und einer, die von 40.000 Sprengköpfen bombardiert wurde. Können wir also nicht noch einen Schritt weitergehen? Zweifelsohne muß die Antwort Ja lauten.

Das Ende des Kalten Krieges, die wachsende Erkenntnis der Sinnlosigkeit von Kernwaffen und der immensen, mit ihrem Fortbestand verbundenen Gefahren zeigen die Möglichkeiten und die gebotene Dringlichkeit auf, unter denen die fünf offiziellen Atommächte ihre langfristigen Kernwaffenprogramme neu überdenken sollten. Wir sollten eine breite öffentliche Diskussion zu drei alternativen Nuklearstrategien in Gang setzen, die ich Ihnen kurz vorstellen möchte. Ich bin überzeugt, daß eine solche Diskussion ebenfalls zu der Schlußfolgerung gelangt, daß wir soweit wie möglich – und ich betone diese Einschränkung nochmals – zu einer kernwaffenfreien Welt zurückkehren sollten.

Ich möchte meine Position durch drei Argumente untermauern:

1.

Die Erfahrungen aus der Kuba-Krise von 1962, vor allem die Enthüllungen der jüngsten Vergangenheit, verdeutlichen, daß – solange wir und die übrigen Großmächte große Kernwaffenarsenale besitzen – potentiell mit der Gefahr ihres Einsatzes zu rechnen ist.

2.

Diese Gefahr ist nicht länger – falls sie es je war – militärisch zu rechtfertigen.

3.

In den letzten Jahren gab es seitens der führenden westlichen Sicherheitsexperten – sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich – einen gewaltigen Umdenkprozeß in bezug auf den Nutzen von Kernwaffen. Immer mehr dieser Fachleute – obgleich sie immer noch in der Minderzahl sind – vertreten ähnliche Ansichten wie ich.

Die Kuba-Krise

Es ist eine heutzutage weithin anerkannte Tatsache, daß das Vorgehen der Sowjetunion, Kubas und der Vereinigten Staaten im Oktober 1962 die drei Staaten an den Rand des Krieges gebracht hat. Aber damals war nicht bekannt, und es ist auch heutzutage noch nicht allgemein bekannt, wie nah die Welt – einschließlich Deutschlands – am Abgrund einer nuklearen Katastrophe stand. Weder die Sowjetunion, noch Kuba, noch die Vereinigten Staaten hatten die Absicht, mit ihrem Vorgehen solche Gefahren heraufzubeschwören.

Die Krise begann, als die Sowjets im Sommer und Frühherbst 1962 Atomraketen und Bomber nach Kuba verlegten – im geheimen und mit klarer Täuschungsabsicht. Die Raketen und Bombenflugzeuge sollten auf Städte an der amerikanischen Ostküste gerichtet werden. Durch Aufnahmen eines U-2-Aufklärungsflugzeugs vom Sonntag, den 14. Oktober, erfuhr Präsident Kennedy von den Stationierungen. Er und seine militärischen und zivilen Sicherheitsberater glaubten, daß die Handlungen der Sowjets eine Bedrohung für den Westen darstellten. Aus diesem Grunde verfügte Kennedy eine Seeblockade Kubas, die am Mittwoch, den 24. Oktober, in Kraft treten sollte. Gleichzeitig liefen auch Vorbereitungen für Luftangriffe und eine Wasser-Land-Invasion an. Die Einsatzpläne sahen am ersten Tag der Feindseligkeiten 1080 Luftangriffe vor. In den Häfen im Südosten der USA sammelte sich eine Invasionsstreitmacht von insgesamt 180.000 Mann. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt am Samstag, den 27. Oktober, und am Sonntag, den 28. Oktober. Wenn Chruschtschow an diesem Sonntag nicht öffentlich verkündet hätte, daß er die Raketen zurückziehe, hätte meiner Ansicht nach die Mehrheit von Kennedys militärischen und zivilen Beratern am Montag, den 29. Oktober, den Beginn des Angriffs empfohlen.

Seit 1987 fanden eine Reihe von Konferenzen statt, auf denen hochrangige sowjetische, kubanische und amerikanische Teilnehmer, die die Entscheidungen von damals mitgetragen haben, die Ursachen der Krise diskutierten – und Wege berieten, zukünftig derartige Krisen zu vermeiden. Diese Konferenzen liefen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Das Treffen unter Vorsitz von Fidel Castro in Havanna, Kuba, im Januar 1992 war das fünfte und letzte dieser Art.

Mit Abschluß des dritten Treffens in Moskau im Januar 1989 wurde klar, daß die Entscheidungen, die jeder der drei Staaten vor und im Verlauf der Krise traf, von Fehlinformationen, Fehlkalkulationen und Fehleinschätzungen beeinträchtigt waren. Ich möchte hier nur vier von vielen Beispielen anführen:

  • Die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba im Sommer 1962 beruhte auf der Annahme der Sowjetunion und Kubas, die Vereinigten Staaten beabsichtigten eine Invasion der Insel mit dem Ziel, Castro zu stürzen und seine Regierung aufzulösen. Wir hatten keinerlei derartige Absicht.
  • Die Vereinigten Staaten glaubten, die Sowjets würden niemals Kernsprengköpfe außerhalb der Sowjetunion stationieren. Sie hatten das noch nie getan – aber diesmal taten sie es eben doch. Wir erfuhren 1989 in Moskau, daß bis Oktober 1962 sowjetische Kernsprengköpfe nach Kuba gebracht worden waren, obwohl die CIA zu dieser Zeit davon ausging, daß sich keine Kernwaffen auf der Insel befanden. Wie ich schon sagte, sollten diese Sprengköpfe auf US-Städte gerichtet werden.
  • Die Sowjets glaubten, daß sie die Kernwaffen insgeheim und unentdeckt nach Kuba bringen könnten und daß die USA nicht reagieren würden, wenn die Stationierung aufgedeckt würde. Auch hier waren sie im Irrtum.
  • Schließlich waren auch jene, die bereit waren, Präsident Kennedy zu einer Zerstörung der Raketen durch einen US-Luftangriff zu drängen, dem dann mit großer Wahrscheinlichkeit eine Wasser-Land-Invasion gefolgt wäre, ganz sicher im Irrtum, wenn sie glaubten, die Sowjets würden nicht militärisch zurückschlagen. Zu dieser Zeit befanden sich nach CIA-Angaben 10.000 sowjetische Soldaten auf Kuba. Auf der Konferenz in Moskau erfuhren die Teilnehmer, daß es in Wirklichkeit 43.000 waren, dazu kamen 270.000 gut ausgerüstete kubanische Truppen. Beide Streitkräfte waren nach den Worten ihrer Kommandeure entschlossen, „bis zum letzten Mann zu kämpfen“. Die kubanischen Verantwortlichen schätzten, daß sie 100.000 Soldaten verloren hätten. Die Sowjets – unter ihnen der langjährige Außenminister Andrej A. Gromyko und der frühere Botschafter in den USA Anatoli Dobrynin – brachten ihr Erstaunen zum Ausdruck, daß wir geglaubt hätten, sie würden im Angesicht solch einer katastrophalen Niederlage nicht irgendwo anders auf der Welt militärisch reagieren. Das Ergebnis wäre höchstwahrscheinlich eine unkontrollierbare Eskalation gewesen.

Am Ende unseres Treffens in Moskau waren wir uns einig, daß wir zwei Lehren aus unseren Diskussionen ziehen können: 1) angesichts von Kernwaffen ist Krisenmanagement von Natur aus gefährlich, schwierig und unsicher; und 2) auf Grund von Fehleinschätzungen, Fehlinformationen und Fehlkalkulationen der von mir geschilderten Art ist es unmöglich, die Konsequenzen militärischer Aktionen zwischen Großmächten, die derartige Waffen besitzen, zuverlässig vorherzusagen. Aus diesem Grunde müssen wir unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die Krisenverhütung lenken.

Während der Krise 1962 glaubten einige von uns – vor allem Präsident Kennedy und ich –, daß die Vereinigten Staaten in großer Gefahr seien. Das Treffen von Moskau bestätigte diese Einschätzung. Aber auf dem Treffen von Havanna erfuhren wir, daß wir beide – und sicher auch andere – diese Gefahren beträchtlich unterschätzt hatten. In Havanna teilte uns der ehemalige Stabschef des Warschauer Paktes, General Anatoli Gribkow, mit, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba 1962 nicht nur über Kernsprengköpfe für Mittelstreckenraketen verfügten, sondern auch über Atombomben und taktische Kernsprengköpfe. Letztere sollten gegen US-Invasionsstreitkräfte eingesetzt werden. Wie ich bereits erwähnte, ging die CIA zum damaligen Zeitpunkt davon aus, daß es keine Sprengköpfe auf der Insel gäbe.

Im November 1992 erfuhren wir noch mehr. In der russischen Presse erschien ein Artikel, in dem es hieß, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise über insgesamt 162 Kernsprengköpfe verfügten, darunter mindestens 90 taktische Sprengköpfe. Darüber hinaus wurde berichtet, daß in Erwartung einer US-Invasion am 26. Oktober 1962 – einem Zeitpunkt großer Spannung – Sprengköpfe aus ihren Depots zu Stellungen gebracht wurden, die sich näher bei den Trägersystemen befanden. Am nächsten Tag erhielt der sowjetische Verteidigungsminister Malinowski ein Telegramm von General Ptijew, dem sowjetischen Oberbefehlshaber auf Kuba, der ihm über diese Aktion Bericht erstattete. Malinowski schickte es an Chruschtschow weiter. Chruschtschow sandte es Malinowski mit dem handschriftlichen Vermerk „Genehmigt“ zurück. Die Gefahr, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba angesichts eines US-Angriffs – zu dem, wie ich bereits erwähnt habe, viele Mitglieder der US-Regierung, und zwar sowohl Militärs als auch Zivilisten, Präsident Kennedy raten wollten – entschieden hätten, ihre Kernwaffen einzusetzen statt sie zu verlieren, war eindeutig sehr groß.

>Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, was in diesem Fall geschehen wäre, das Ergebnis kann mit Sicherheit vorausgesagt werden.

Die US-Invasionsstreitkräfte wären zwar nicht mit taktischen Kernsprengköpfen ausgerüstet gewesen – Präsident Kennedy und ich hatten das ausdrücklich untersagt –, aber man sollte natürlich nicht glauben, daß die USA im Falle eines nuklearen Angriffs auf ihre Truppen auf einen nuklearen Vergeltungsschlag verzichtet hätten. Und wohin hätte das geführt? In die Katastrophe.

Mir kommt es vor allem auf folgendes an: Der Mensch ist nicht unfehlbar. Wir alle machen Fehler. Im Alltag bezahlen wir sie teuer, aber wir versuchen auch, aus ihnen zu lernen. Im konventionellen Krieg kosten sie Menschenleben, manchmal sogar Tausende von Menschenleben. Wenn aber Fehler bei der Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen begangen würden, hätten sie die Vernichtung ganzer Gesellschaften zur Folge. Meiner Ansicht nach kann man daher zuverlässig voraussagen, daß die unsichere Kombination von menschlicher Fehlbarkeit und Kernwaffen ein hohes Risiko einer potentiellen Katastrophe in sich birgt.

Ist es militärisch zu rechtfertigen, dieses Risiko weiterhin als gegeben hinzunehmen? Die Antwort ist Nein.

In »Nuclear Weapons After the Cold War« wiesen Carl Kaysen, George W. Rathjens und ich darauf hin, daß die Befürworter von Kernwaffen „nur ein einziges plausibles Szenario für ihren Einsatz entworfen haben: eine Situation, in der eine Vergeltung nicht zu erwarten ist, also entweder gegen einen Staat, der nicht über Kernwaffen verfügt, oder gegen einen, der so schwach bewaffnet ist, daß die Kernwaffen einsetzende Seite auf Grund der Leistungsfähigkeit ihres eigenen nuklearen Arsenals sicher sein kann, einen völlig vernichtenden Erstschlag durchzuführen.“ Wir fügten hinzu, daß „selbst derartige Umstände bisher noch keine ausreichende Basis für den Einsatz von Kernwaffen im Kriegsfall gewesen sind. Ein Beispiel: Die amerikanischen Truppen waren zwar während des Korea-Krieges zweimal in verzweifelten Situationen – zum einen direkt nach dem Angriff Nord-Koreas im Jahre 1950 und zum anderen, als die Chinesen den Jalu überschritten –, aber die Vereinigten Staaten setzten trotzdem keine Kernwaffen ein. Zu dieser Zeit hatten Nord-Korea und China noch keine Kernwaffen, und die Schlagkraft der sowjetischen Waffen war vernachlässigbar gering.“

Die Argumentation von Kaysen, Rathjens und mir führt zu der Schlußfolgerung, daß der militärische Nutzen von Kernwaffen lediglich darin besteht, den Gegner von ihrem Einsatz abzuhalten. Wenn unser Gegner keine Kernwaffen hat, ist es daher auch für uns nicht notwendig, welche zu besitzen.

Aus den Denkschemata der Nuklearstrategie ausbrechen

Sowohl die Erkenntnis, wie nahe an der Katastrophe wir während der Kuba-Krise waren, als auch die zunehmend anerkannte Tatsache, daß die Waffen keinen militärischen Nutzen haben, haben zu einer grundlegenden Veränderung in der Einschätzung der Rolle von Kernwaffen geführt. Viele dieser Veränderungen haben sich in den letzten fünf Jahren ereignet. Zahlreiche führende Militärs, unter ihnen z.B. zwei ehemalige Vorsitzender der Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte, ein ehemaliger Oberkommandierender der Alliierten Streitkräfte in Europa und ein hochrangiger Offizier der US-Luftwaffe, der noch vor kurzem im aktiven Einsatz war, sind mittlerweile bereit, weit über das Bush-Jelzin-Abkommen hinauszugehen. Einige gehen – wie ich auch – sogar so weit, als Fernziel die weitestgehende Rückkehr zu einer atomwaffenfreien Welt zu postulieren.

Das ist allerdings eine äußerst umstrittene Aussage. In ihrer Mehrzahl glauben die westlichen Sicherheitsexperten – und zwar militärische und zivile – nach wie vor, daß die Drohung, Kernwaffen einzusetzen, Kriege verhindert. Zbigniew Brzezinski, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Carter, vertritt die Ansicht, daß ein Plan zur Beseitigung der Kernwaffen „ein Plan ist, der die Welt sicher für konventionelle Kriege macht. Deshalb bin ich davon nicht begeistert.“ Auch im Bericht eines vom ehemaligen Verteidigungsminister Richard Cheney berufenen Beratergremiums unter Vorsitz des früheren Luftwaffen-Ministers Thomas Reed wird im wesentlichen diese Meinung vertreten. Auch die derzeitige Regierung unterstützt diese Position. Aber selbst wenn man dieses Argument akzeptiert, muß man anerkennen, daß ihre abschreckende Wirkung gegen konventionelle Kriegführung auf lange Sicht teuer bezahlt wird: mit dem Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs. Nur wenige Menschen wissen, daß John Foster Dulles, Außenminister unter Präsident Eisenhower, dieses Problem schon Mitte der 50er Jahre erkannt hatte. In einem streng geheimen Memorandum, das erst kürzlich freigegeben wurde, schlug Dulles „die Universalisierung des Potentials der atomaren thermonuklearen Waffen zur Abschreckung von Aggressionen“ vor. Dies sollte durch die Übertragung der Kontrolle über die Kernwaffen an einen veto-freien UN-Sicherheitsrat erfolgen.

Dulles' Bedenken wurden in den letzten Jahren von anderen führenden Sicherheitsexperten aufgegriffen. Wie bereits erwähnt, bezweifle ich jedoch, daß die Öffentlichkeit deren Ansichten kennt. Diese wurden in drei Berichten und zahlreichen Dokumenten, die zwar nicht der Geheimhaltung unterliegen, aber keine weite Verbreitung erfahren haben, dargestellt.

Die drei Berichte wurden seit 1990 veröffentlicht:

1.

1991 stellte eine Kommission der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA in einem Bericht, der von General David C. Jones, Vorsitzender der Stabschefs der Teilstreitkräfte a.D., unterzeichnet wurde, fest: „Kernwaffen sollten ausschließlich dem Zweck der Abschreckung nuklearer Angriffe durch andere dienen.“ Die Kommission war der Meinung, daß die nuklearen Arsenale der USA und Rußlands auf 1.000 – 2.000 Sprengköpfe reduziert werden könnten.

2.

In der Frühjahrsausgabe von Foreign Affairs erschien 1993 ein Artikel, für den ein anderer früherer Vorsitzende der Stabschefs der Teilstreitkräfte, Admiral William J. Crowe Jr., als Autor mitverantwortlich zeichnete. Die Schlußfolgerung dieses Artikels lautete, daß die USA und Rußland ihre strategischen Kernwaffenarsenale bis zum Jahr 2000 auf jeweils 1.000 – 1.500 Sprengköpfe reduzieren könnten. Auf Grundlage des Artikels entstand später ein Buch, in dem es weiter hieß: „Allerdings ist 1.000 – 1.500 nicht das niedrigste Niveau, das bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht werden kann.“

3.

Im August 1993 veröffentlichte General Andrew J. Goodpaster, früherer Oberkommandierender der Alliierten NATO-Streitkräfte in Europa, einen Bericht, in dem er äußerte, daß die fünf existierenden Atommächte in der Lage sein sollten, ihre Kernwaffenarsenale auf »nicht mehr als jeweils 200« zu reduzieren, und daß eine »Null-Lösung» [Hervorheb. im engl. Original] anzustreben sei.“

Diese drei Berichte sollten niemanden überraschen. Seit fast zwanzig Jahren haben immer mehr westliche militärische und zivile Sicherheitsexperten ihre Zweifel am militärischen Nutzen von Kernwaffen zum Ausdruck gebracht. Hier einige dieser Aussagen:

  • Bis 1982 hatten fünf der sieben ehemaligen Chefs des Britischen Verteidigungsstabes die Ansicht geäußert, daß der Ersteinsatz von Kernwaffen in Übereinstimmung mit der NATO-Politik zur Katastrophe führen würde. Lord Louis Mountbatten, Stabschef von 1959-1965, erklärte einige Monate vor seiner Ermordung 1979: „Als Militär kann ich mir eine Verwendung für irgendwelche Kernwaffen nicht vorstellen.“ Und Feldmarschall Lord Carver, Stabschef von 1973-1976, schrieb 1982, daß er vollkommen gegen jeglichen Ersteinsatz von Kernwaffen durch die NATO sei.
  • In einer Rede in Brüssel 1979 machte Henry Kissinger kein Hehl aus seiner Ansicht, daß die USA nie einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion führen würden, wie groß auch die Provokation sei. „Unsere europäischen Verbündeten,“ so sagte er, „sollten aufhören, von uns immer mehr strategische Zusicherungen zu verlangen, zu denen wir nicht stehen können. Oder wenn wir doch dazu stehen, sollten wir sie nicht ausführen, da wir in diesem Fall die Vernichtung der Zivilisation riskieren.“
  • Admiral Noel Gaylor, ehemaliger Oberkommandierender der US-Luft-, Land- und Seestreitkräfte im Pazifik, äußerte 1987: „Für unsere Kernwaffen gibt es keinerlei denkbare militärische Einsatzmöglichkeit. Ihr einziger vernünftiger Zweck ist es, unsere Gegner abzuschrecken, ihrerseits Kernwaffen einzusetzen.“
  • Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte 1987 in einem BBC-Interview: „Die flexible response (Bezeichnung der NATO-Strategie, die den Einsatz von Kernwaffen als Reaktion auf einen nicht-nuklearen Angriff des Warschauer Pakts vorsah) ist sinnlos. Nicht veraltet, aber sinnlos. Das in den 50er Jahren entstandene Konzept des Westens, daß wir bereit sein müßten, als erste Kernwaffen einzusetzen, um unsere sogenannte konventionelle Unterlegenheit auszugleichen, hat mich nie überzeugt.“
  • Melvin Laird, Präsident Nixons erster Verteidigungsminister, wurde in The Washington Post vom 12. April 1992 mit den Worten zitiert: „Eine weltweite nukleare Nullösung mit entsprechender Kontrolle sollte nunmehr unser Ziel sein… Diese Waffen … sind für militärische Zwecke nutzlos.“
  • General Larry Welch, ehemaliger Stabschef der US-Luftwaffe und zuvor Befehlshaber des Strategischen Luftkommandos, kleidete den gleichen Gedanken kürzlich in folgende Worte: „Die nukleare Abschreckung beruhte auf der Annahme, daß man eine Handlung vollziehen würde, deren Vollzug vollkommen irrational ist.“
  • Und im Juli 1994 stellte General Charles A. Horner, zum damaligen Zeitpunkt Chef des US-Raumkommandos, fest: „Die Kernwaffe ist veraltet. Ich möchte alle loswerden.“

In den frühen 60er Jahren war ich zu Ergebnissen gekommen, die den soeben zitierten ähnlich sind. In langen persönlichen Gesprächen hatte ich zunächst Präsident Kennedy, dann Präsident Johnson eindringlichst geraten, nie, unter welchen Umständen auch immer, den Ersteinsatz von Kernwaffen anzuordnen. Ich glaube, sie haben meinen Rat angenommen. Aber weder sie noch ich konnten unsere Position öffentlich zur Diskussion stellen, da sie der offiziellen NATO-Politik widersprach.

Sollten wir heute, da sich die vollkommen konträren Auffassungen der US-Regierung und der Brzezinskis und Reeds auf der einen Seite und die der Lairds und Schmidts auf der anderen Seite gegenüberstehen – wobei aber allgemein anerkannt wird, daß der Ersteinsatz von Kernwaffen gegen einen atomar aufgerüsteten Gegner in die Katastrophe führen würde –, nicht sofort damit beginnen, die Vorzüge alternativer langfristiger Ziele für die fünf Atommächte zu diskutieren?

Wir haben die Wahl unter drei Möglichkeiten:

1.

Eine Fortführung der gegenwärtigen Strategie der »erweiterten Abschreckung«, der Strategie, die im vergangenen Jahr von der US-Regierung erneut bekräftigt wurde. Das würde bedeuten, daß die USA und Rußland die Zahl ihrer strategischen Kernsprengköpfe auf jeweils ca. 3.500 begrenzen, die Zahl, auf die sich die Präsidenten Bush und Jelzin geeinigt haben.

oder

2.

Ein minimales Abschreckungsarsenal – wie es vom Ausschuß der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA empfohlen und von General Jones und Admiral Crowe befürwortet wird. Dies würde für die beiden Hauptatommächte bedeuten, daß sie nicht mehr als jeweils 1.000 – 2.000 Sprengköpfe behalten.

oder

3.

Die von General Goodpaster und mir mit Entschiedenheit vertretene Rückkehr aller fünf Atommächte zu einer möglichst atomwaffenfreien Welt. (»Möglichst« bezieht sich auf die Notwendigkeit, einen Schutz gegen den »Ausbruch« in den Staaten, die vorher Kernwaffen besessen haben, bzw. gegen den Erwerb derartiger Waffen durch Risiko-Staaten oder Terroristen aufrechtzuerhalten. Die Beseitigung der Kernwaffen könnte sich in mehreren Etappen vollziehen, so wie es General Goodpaster und ich vorgeschlagen haben.)

Wenn wir es endlich wagen, aus den Denkschemata auszubrechen, die die Nuklearstrategie der Atommächte seit über vier Jahrzehnten bestimmen, dann kann es uns meiner Ansicht nach gelingen, den »Geist in die Flasche zurückzuverbannen«. Wenn wir es nicht tun, dann besteht die große Gefahr, daß das 21. Jahrhundert einen nuklearen Holocaust erlebt.

Die Frage lautet also: Wenn wir nach dem Ende des Kalten Krieges daran arbeiten, ein System der Kollektiven Sicherheit zu errichten, und wenn wir Schritte zurück zu einer atomwaffenfreien Welt unternehmen, müssen dann im 21. Jahrhundert, auch wenn dieses nicht generell friedlich sein wird, weitere 160 Millionen Menschen durch Krieg ums Leben kommen? Dies zu vermeiden darf natürlich nicht nur unsere Hoffnung sein, unser Traum, sondern es muß unser unbeirrbar verfolgtes Ziel sein. Einigen mag diese Feststellung so naiv und vereinfacht erscheinen, so idealistisch, daß es schon an Lebensfremdheit grenzt. Aber können wir als Menschen und Bürger zweier bedeutender Staaten, die die Geschicke der Welt beeinflussen können, in Frieden mit uns selbst leben, wenn wir uns mit weniger zufriedengeben? Ich glaube nicht. Und ich hoffe, Sie stimmen mir zu.

Über Robert S. McNamara

Robert S. McNamara, geb. 1916, ist, anders als die anderen
Referenten, kein Physiker. Kurze Zeit, von 1960 bis 1961, war er Präsident der Ford Motor
Corporation, bevor er von 1961 bis 1968 das Amt des Verteidigungsministers unter den
US-Präsidenten Kennedy und Johnson ausübte. Von 1968 bis 1981 war er Präsident der
Weltbank.

Die HSFK und die Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn haben
McNamara deshalb zu einer Sonderveranstaltung im Rahmen des Frankfurter Vortragszyklus'
eingeladen, weil seine enorme militärisch-strategische Expertise einen direkten Bezug zur
Hiroshima-Problematik hat. Auch er ist ein Jahrhundertzeuge auf seine Weise. Er war einer
der dynamischsten und mächtigsten US-Verteidigungsminister, der die Sicherheits- und
Militärpolitik seines Landes in einer entscheidenden Phase der US-Geschichte entscheidend
mitgestaltet hat. Sowohl während der kurzen Kuba-Krise als auch während des sich lange
hinziehenden Vietnam-Krieges stand McNamara im Zentrum der Macht.

Was ihn ferner als Referenten für diesen Vortragszyklus
qualifiziert, ist, daß er aus jener Krise, die die Welt an den Abgrund eines
Nuklearkrieges brachte, und aus jenem Krieg in Südostasien gelernt hat. Seine Memoiren
(»In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam«, New York 1995) und sein
Frankfurter Vortrag belegen, wie sehr McNamara aufgrund seiner Erfahrungen und gemachten
Fehler auf eine Welt ohne Atomwaffen drängt und wie groß seine Skepsis gegenüber dem
voreiligen Einsatz von Waffen in Konflikten ist.

Im Rückblick, so McNamara im persönlichen Gespräch, hält
er die Atombombenabwürfe für nicht notwendig, weil der sowjetische Kriegseintritt die
Niederlage Japans besiegelt und den USA die geplante Invasion des Kaiserreichs erspart
habe. Unter den damaligen Umständen hätte er die atomaren Bombardierungen befürwortet.
Die Anzahl der Toten seien bei dem Abwurf der Brandbomben auf Tokio im März 1945 viel
höher gewesen – McNamara war in der Einheit, deren Bomber vom Typ B-29 (die die
A-Bomben auf Japan warfen) auch Tokio mit konventionellen Waffen in Schutt und Asche
legten. „Was für eine Moral war das?“ Er sei „absolut
schockiert“
gewesen, als er das zerstörte Dresden gesehen habe, sagte er auf der
Pressekonferenz in Frankfurt. „Waren diese Bombardements etwa
gerechtfertigt?“
, fragte McNamara rhetorisch. Sich für Hiroshima zu
entschuldigen sei nicht der Punkt. Es komme vielmehr darauf an, den Einsatz von Waffen in
gegenwärtigen und zukünftigen Konflikten überhaupt zu verhindern.

(B.W.K.)

1) Die vorliegende Rede basiert zum Teil auf meinem kürzlich veröffentlichten Buch »In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam«, erschienen bei Times Books, New York 1995. Zurück

Literatur

Budget of the United States. Historical Tables, FY 1995, Washington: US-Government Printing Office, 1994, S. 88.

Dokochaev, Anatoly, Afterword to Sensational 100 Days Nuclear Crisis, Krasnaya Zvedzda, 6. November 1992, S. 2; und Interview von V. Badurkin mit Dimitri Volkogonov in »Operation Anadyr«, Trud, 27. Oktober 1992, S. 3.

Fialks, John J. und Kemps, Frederik, US Welcomes Soviet Arms Plans, but Dismisses Pact as Propaganda, Wall Street Journal, 17. Januar 1986; Thomas C. Reed und Michael Wheeler, The Role of Nuclear Weapons in the New World Order, Dezember 1991; und siehe Nr. 1.

Foreign Affairs, Herbst 1991, S. 95.

General Gribkov beschrieb diese Punkte auf einem Treffen im Wilson Center, Washington DC am 5. April 1994, an dem ich anwesend war.

Kaysen, Karl, Is War Obsolete, International Security, Jahrgang 14, Nr. 4 (Frühling 1990), S. 63.

Kissinger, Henry, Diplomacy (New York: Simon & Shuster, 1994), S. 805.

McNamara, Robert S., The Post-Cold War World and its Implications for Military Expenditures in Developing Countries, World Bank: Conference on Development Economics, Washington D.C., 25. April 1991, S. 805.

Washington Post, 11. Juni 1994, S. A1.

Die Rede wurde gehalten auf einer Sonderveranstaltung der HSFK und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankfurt am 22.6.1995 im Rahmen des Vortragszyklus` »Hiroshima und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit«.
1995 by Robert McNamara und Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Die deutsche Ausgabe des Buches »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« erscheint im Frühjahr 1996 bei Hoffmann und Campe.
Robert S. McNamara

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Der gegenwärtige Forschungsstand im Spiegel neuerer Literatur

von Bernd W. Kubbig

Mit dem Bau der Atombombe und dem Abwurf der ersten beiden Exemplare »Little Boy« und »Fat Man« geriet plötzlich die Berufsgruppe der Naturwissenschaftler, vor allem die der Physiker, in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Ohne sie wäre diese Waffe, die die Möglichkeiten der Zerstörung revolutionierte, nicht zustande gekommen. Nur sie verfügten über die naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse, nur sie besaßen die technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, dieses Wissen anzuwenden. Physiker waren es, die das gewaltige Manhattan-Projekt durch Einsteins berühmten Brief vom 2. August 1939 an Präsident Roosevelt ins Rollen brachten.1

Roosevelt setzte Einsteins Forderung um, und fortan stand der Bau der Bombe unter dem Primat politisch-militärischer Imperative, denen sich die Naturwissenschaftler organisatorisch ein- und unterordneten, denen sie aber auch wieder neue Impulse und eine neue Dynamik verliehen. Denn Naturwissenschaftler waren an führender Stelle an der organisatorischen Durchführung des Manhattan-Projekts beteiligt, und sie saßen in den entscheidenden Zentren der Macht, die über den Abwurf der ersten beiden Bomben befanden.

Es ist nicht verwunderlich, daß die beispiellose Rolle und Bedeutung der Naturwissenschaftler bald zum Gegenstand der historiographischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung wurde, die eine unübersehbare Literatur produziert hat. Die Flut von Büchern und Artikeln ist auch in den letzten fünf Jahren nicht zurückgegangen. Obwohl die frühere Forschung wichtige Fragen beantwortet hat, sind andere kontrovers geblieben und neue hinzugekommen. Viele Publikationen der letzten fünf Jahre wiederholen aber oftmals nur empirisch längst bekannte Sachverhalte.

Dieser Aufsatz konzentriert sich in den vorgestellten Publikationen zur Hiroshima/Nagasaki-Frage auf Aspekte, die die Rolle, das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Naturwissenschaftler sowie ihren Umgang mit den Abwürfen betreffen. Die sowjetischen und deutschen Physiker berücksichtigt dieser Artikel mit. Diese Dimensionen werden zunächst in den breiteren Forschungszusammenhang eingebettet.

Wer sich einen Überblick über den – abnehmenden – Einfluß der US-Naturwissenschaftler bei »kardinalen Entscheidungen« im Bereich Sicherheit seit dem Bau der A-Bombe bis zu SDI verschaffen möchte, dem sei die Studie von Gregg Herken empfohlen (Herken 1992). Wie in seinen früheren Arbeiten erweist sich der US-Zeitgeschichtler in dieser nicht systematisch, sondern chronologisch angelegen Ansammlung von Fallstudien erneut als guter Sachkenner und Stilist. Den Gründen für den Einflußverlust der einst gefürchteten »scientific-technological elite« hätte der Autor allerdings mehr Aufmerksamkeit widmen können.

Seine untersuchten Entscheidungen lassen weitere systematische Schlußfolgerungen zu – beispielsweise, daß »trans-scientific decisions«, in denen nun einmal die politische Dimension die technischen Aspekte dominiert, unterschiedlichem Rat, divergierenden Deutungen und konträren Interessen Tür und Tor öffnen. Unverkennbar ist auch, daß viele Entscheidungssituationen und die angeforderte technische Expertise durch Ambivalenz und interpretationsbedürftige »Wenn-dann-Annahmen« gekennzeichnet sind. Das politische System in den USA – und anderswo – hat sich sehr bald gegen die heterogene »Wissenschaftlergemeinde« und ihre Pro- und Contra- Empfehlungen zu wehren gewußt. Politiker und Bürokraten verstanden es, Naturwissenschaftler für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (»Pick-your-scientist-Syndrom«).

Der Forschungszusammenhang

Es hat auf das Jahr genau zwei Dekaden gedauert, bis die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in den USA einen Historikerstreit auslösten. Dies geschah, als Alperovitz seine Studie »Atomic Diplomacy« veröffentlichte und mit einem Paukenschlag die »revisionistische Geschichtsschreibung« in der Hiroshima-Forschung einleitete. Kaum ein Werk über ein zeitgeschichtliches Thema hat ein so großes Echo gefunden, Forschungsaktivitäten in Gang gebracht und Widerspruch geerntet, vor allem in den eigenen Reihen der in sich heterogenen »revisionistischen Schule« der amerikanischen Geschichtsschreibung. 1985 brachte Alperovitz eine revidierte Fassung heraus2, und pünktlich zum 50. Jahrestag der atomaren Doppel-Katastrophe wird ein neuer umfangreicher Band erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob der Historiker sein Versprechen, mit neuen Dokumenten die alte These von 1965 zu untermauern, einlösen wird.3

Diese These lautet: Die Atombomben wurden in erster Linie aus politisch-diplomatischen Gründen abgeworfen, um die Sowjetunion zu beeindrucken und sie bei einer Aufteilung der Interessensphären zu Konzessionen zu bewegen. Deshalb habe die Truman-Administration andere Optionen nicht verfolgt: die japanischen Friedensgesten auszuloten; die Kapitulationsbedingungen für Tokio annehmbarer zu machen; auf den Kriegseintritt der Sowjetunion zu warten; die Macht der Atombombe über einem unbewohnten Gelände zu demonstrieren.

Die »orthodoxe Schule« der US-Geschichtswissenschaft hingegen vertrat bis dahin unisono die Auffassung, die Atombomben seien praktisch ausschließlich aus militärischen Gründen abgeworfen worden, um das Ende des Zweiten Weltkrieges in Asien zu beschleunigen, in jedem Falle aber herbeizuführen; dies habe den Vereinigten Staaten die geplante Invasion Japans erspart und damit vielen US-Soldaten das Leben gerettet.

Bis 1965 hatte sich die Forschung von dieser verengten Frage anleiten lassen. »Atomic Diplomacy« erweiterte die »Forschungslinse« beträchtlich und machte die Beantwortung anderer Fragen dringlich: Welche Faktoren bestimmten die schicksalsschwere Entscheidung Präsident Trumans und warum war der Einsatz der A-Bombe für die relevanten Politiker attraktiver als andere Alternativen? Die Öffnung neuer Archive zentraler Enscheidungsträger – unter ihnen die Tagebücher von Kriegsminister Stimson und Teile der Papiere von Roosevelt und Truman – eröffneten eine neue empirische Forschungslage.

Aus der Fülle der durch Alperovitz angeregten Publikationen, die sich konstruktiv an der »Atomic Diplomacy«-These abarbeiteten und neues Material mit verarbeiteten, ragen zwei 1975 erschienene, unterschiedlich angelegte Studien heraus. Martin Sherwins Monographie „A World Destroyed“ und Barton Bernsteins umfassender Literaturbericht.4 Sherwin erklärte in seinem Buch die Entscheidung damit, daß die wichtigen Politiker den Einsatz der A-Bombe als legitim ansahen und nicht grundsätzlich hinterfragten; Truman übernahm diese »Erbschaft« von seinem Vorgänger Roosevelt. Ansonsten bestätigte Sherwin die »orthodoxe Schule« insofern, als für die maßgebliche Elite das militärische Motiv der Kriegsbeendigung von vorrangiger Bedeutung gewesen sei.

Allerdings hätten politisch-diplomatische Interessen durchaus eine Rolle beim Abwurf der Bombe gespielt; Sherwin hielt sie jedoch für sekundär. Ohne der Truman-Administration »teuflische Motive« zu unterstellen, bedauerte der Historiker, daß die US-Regierung Alternativen nicht ernsthaft geprüft habe. Die Lockerung der »bedingungslosen Kapitulations«-Formel hätte möglicherweise die Bombardierung Hiroshimas nicht notwendig gemacht. In einem sechs Jahre später erschienenen Aufsatz bewertete Sherwin die Truman-Administration viel härter und bewegte sich stärker auf Alperovitz zu: Der Präsident habe sich gegenüber der Kapitulationsbedingung zum einen aus innenpolitischen Gründen nicht flexibel gezeigt; zum anderen zog Truman es vor, die neue Waffe zur Stärkung der US-Position gegenüber der UdSSR einzusetzen.5

Barton Bernstein, der differenzierteste und abwägendste Kenner der Materie, unterstreicht ebenfalls, daß a) die führenden Politiker und Bürokraten zu keinem Zeitpunkt auf den Einsatz der Bombe verzichten wollten; b) sie hauptsächlich die Absicht hatten, den Krieg zu beenden und Menschenleben zu retten; c) sich vor allem Truman, Außenminister Byrnes und Stimson einen »bonus« davon versprachen, die UdSSR mit der »atomaren Karte« einzuschüchtern – aber dieses Motiv sei von untergeordneter Bedeutung gewesen. Bernstein zufolge hätten die damaligen Entscheidungsträger – ungeachtet, ob das aus heutiger Sicht zu bedauern ist oder nicht – keinen Grund gesehen, Alternativen ernsthaft zu verfolgen.6

Alperovitz und Bernstein, die Protagonisten dieses permanenten amerikanischen Historikerstreits, haben seitdem ihr so abgestecktes Terrain verteidigt. Sie haben ihre Auffassungen in einer Vielzahl von Publikationen variiert und modifiziert, aber nicht korrigiert, sondern im Gegenteil zu erhärten versucht. Die Auseinandersetzungen haben in den letzten Jahren zum Teil bizarre Formen angenommen – etwa, wenn der Streitpunkt ein Komma ist.7 Dies spiegelt den Zustand der um sich selbst kreisenden amerikanischen Hiroshima-Forschung wider, in der die längst markierten großen Linien nur durch neue, revolutionäre Funde verschoben werden könnten, die die Forschung im Sinne der einen oder anderen Auffassung voranbringen und strittige Fragen klären. Bezeichnenderweise kommt die Rolle von Naturwissenschaftlern in diesen Kontroversen nicht vor.

Die Auseinandersetzungen zwischen beiden »Richtungen« konzentrieren sich derzeit auf methodische Fragen und Interpretationen – wie also Dokumente im Sinne der unterschiedlich gewichtenden »Lehrmeinungen« gedeutet werden können. Hierzu gehören beispielsweise die persönlichen Tagebücher Trumans oder Erklärungen führender Politiker und Militärs wie Eisenhower. Hier geht es aber nicht nur um akademische Eitelkeit und Rechthaberei. Die Tagebücher Trumans etwa lassen durchaus unterschiedliche Deutungen zu; nach Hiroshima und Nagasaki geäußerte Zweifel hoher Politiker an den Atombombenabwürfen beantworten nicht zwangsläufig die Frage, was sie vor dem 6. August 1945 dachten; die Einschätzung, wie wichtig die Bombe war, um das Kriegsende zu beschleunigen, enthält notwendigerweise spekulative Elemente, die sich teilweise auch in Zukunft allenfalls durch spektakuläre empirische Funde von großer Eindeutigkeit werden beantworten lassen.

In diesem Streit spricht mancher empirische Fund für die »Atomic Diplomacy«-These. Alperovitz muß sich jedoch zuweilen den Vorwurf des methodisch oft saubereren Bernstein gefallen lassen, daß er die prä- und post-Hiroshima-Perspektive undeutlich voneinander trennt. Bernstein hat auch kritisch angemerkt, daß Alperovitz' verständliches normatives Interesse ihn dazu verleitet, a) die Schicksals-Entscheidung vom Sommer 1945 aus ihrem historischen Kontext des Kriegszustandes und Japanhasses zu sehr zu lösen, und b) die beklagenswerten, aber dennoch politikmächtigen Traditionen vom legitimen Einsatz der Bombe zu unterschätzen. Der berechtigte Wunsch, es hätte anders kommen mögen und die Analyse der Gründe, die zur Bomben-Entscheidung führten, dürfen nicht vermischt werden.

Auch wenn unter den beiden Protagonisten Dissens darüber besteht, wie der gegenwärtige Konsens der US-Historikerzunft in der Hiroshima-Frage zu definieren sei (die Art, wie beide Seiten die Konsens-Beschreibung des als Autorität vielfach herbeigerufenen Samuel Walker unterschiedlich interpretieren, ist ebenfalls bizarr): Hier soll mit Walker8 der »consensus among scholars« festgehalten werden, wonach

  • „die Bombe nicht notwendig war, um eine Invasion in Japan zu vermeiden und den Krieg in verhältnismäßig kurzer Zeit zu beenden“ (was immer Walkers unpräzise Zeitangabe hier meint, die von Alperovitz im übrigen nicht mitzitiert wird);9
  • „es klar (sei), daß es Alternativen zur Bombe gab und daß Truman und seine Berater dies wußten“;
  • „kein Wissenschaftler Alperovitz' These, daß politische Erwägungen die Bomben-Entscheidung diktierten, in unveränderter Form übernommen hat“;
  • „der Konsens von Mitte der siebziger Jahre weiterhin vorherrscht, demzufolge die Bombe primär aus militärischen und sekundär aus politischen Gründen eingesetzt wurde“;
  • „es innerhalb dieses breiten Konsenses genügend Raum für Uneinigkeit und unterschiedliche Gewichtungen gibt“.

Auch andere Historiker gehen in ihrer Darstellung vom Kriegsende im Pazifik und der Beurteilung des fatalen US-Beschlusses von diesen unterschiedlichen Prämissen aus. In seiner großangelegten Studie, die hier nicht gewürdigt werden kann, läßt sich Gerhard L. Weinberg von der Auffassung leiten, daß für die Truman-Administration das Ziel der Kriegsbeendigung „zum damaligen Zeitpunkt das wichtigste Anliegen“ (S. 923) war (Weinberg 1995). Den Gegenakzent setzt auf mindestens so plausible Weise Wieland Wagner, der in seinem prägnanten Aufsatz „Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki“ in einem von Michael Salewski herausgegebenen Band ebenfalls die wichtigste Literatur berücksichtigt (Salewski 1995, S. 72-94).

Der skizzierte Streit unter einigen wenigen US-Historikern hat sich in den letzten Jahrzehnten jenseits der breiten Öffentlichkeit vollzogen. Das hat sich im Zuge der in den Medien seit 1994 bitter ausgetragenen Kontroversen um die offizielle »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum in Washington, D.C., abrupt geändert. Hier findet der Historikerstreit sein popularisiertes wie hochpolitisiertes Pendant, allerdings bar aller Differenzierungen und Nuancierungen. Zum 50. Jahrestag der Abwürfe ist aus jenen rituellen Auseinandersetzungen zwischen den Protagonisten ein erbitterter Kampf zwischen der Air Force Association, der American Legion und ihren Verbündeten gegen engagierte Rüstungskontroll- und Abrüstungsbefürworter geworden. Die Vergangenheit holt im Jahr 1995, dem Jahr des Rückblicks und der Erinnerungen, auch die USA ein, die bisher als einziges Land A-Bomben abgeworfen haben, und rüttelt an den Grundfesten des Selbstverständnisses und der Moralität. Die »Enola-Gay-Ausstellung« ist inzwischen entpolitisiert worden und hat mit dem ursprünglichen Konzept nichts mehr gemein.

Der Streit unter den Historikern wird indes auch in der Öffentlichkeit verstärkt weitergehen. Dafür dürfte allein das auf Provokation angelegte Buch von Robert P. Newman „Truman and the Hiroshima Cult“ sorgen, das termingerecht im August erscheinen wird (Newman 1995). Es ist auf den Kontext der öffentlichen Debatte hin geschrieben und liest sich wie ein Skript der Bomben-Befürworter. Aus politischen Gründen muß dieses Buch deshalb ernst genommen werden.

Warum warf Truman die Bombe? War Japan bereit, zu kapitulieren? War die Politik der bedingungslosen Kapitulation gerechtfertigt? Warum gab es keine Warnung oder Demonstration? War die zweite Bombe notwendig, um den Krieg zu beenden? War der Abwurf dieser Bomben moralisch gerechtfertigt?

Das sind Newmans Fragen. Wer hätte nicht gern eine eindeutige Antwort darauf! Newman hat sie. Das Buch ist griffig geschrieben, setzt sich durchaus mit Gegenargumenten auseinander und kommt an jedem Kapitelende zu einer klaren Aussage. So einfach ist das in einem Manifest, das sich weniger als „archive centered effort“ (S.XV) versteht, sondern als Buch einseitiger Deutungen angesehen werden muß.<>

Newman, emeritierter Kommunikationswissenschaftler an der Universität von Pittsburgh, hat das Buch gegen einen Historiker – Gar Alperovitz – und seine Mitstreiter geschrieben, die scheinbar homogene Gruppe der »Hiroshima cultists«. Newman versucht das Rad des historiographischen Diskurses zurückzudrehen und fällt hinter den erreichten Konsens zurück. Denn die von ihm angegriffene »Atomic Diplomacy«-These versucht er zu ignorieren. Anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist er bestrebt, Alperovitz' Auffassung auszuhebeln, indem er erklärt, wie es zu ihr kam: Es war das »American terror bombing« in Vietnam, das viele auf den »Hiroshima guilt trip« brachte (S.183). Eine solche Vorgehensweise ist unseriös, wenn nicht infam. Newmans Buch ist – auch wenn man mit Alperovitz in vielem nicht übereinstimmt – eine neue Variante jener Literatur, die früher bereits seine Studie als ein Werk »kreativen Schreibens« abtun wollte.10

Hier soll das Kapitel im Mittelpunkt stehen, in dem sich Newman mit den folgenden Fragen befaßt: Hätte die Demonstration einer Bombe die Japaner zur Kapitulation gezwungen oder das Ende des Krieges beschleunigt? Hätte sie innerhalb des Kriegskabinetts in Tokio die Fraktion der Kompromißbereiten gegenüber den »hardlinern« gestärkt? Hierauf läßt sich keine endgültige Antwort geben, weil die Geschichte nun einmal ihren alternativen Verlauf nicht enthüllt. Newman hat aber auch hier eine klare Antwort: „Die Alternative einer Demonstration war bankrott.“ (S. 96)

Führende Wissenschaftler wie Conant und Compton sprachen sich als Mitglieder des hochrangigen »Interim Committee« (siehe unten) damals gegen eine solche Option aus, ähnlich Hans Bethe. Ihre Gründe, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind, macht sich Newman zu eigen. Wenn man die Japaner warnte, bevor die Bombe demonstriert wurde, könnten sie das Flugzeug mit der Waffe an Bord abschießen; ihr Mechanismus könnte versagen; sie könnte ein Blindgänger sein, für die es keinen schnellen Ersatz gab, da in Los Alamos nur zwei Waffen relativ rasch fertiggestellt werden konnten, während es mehrere Wochen gedauert hätte, bis eine dritte einsatzbereit gewesen wäre.

Keinem Geringeren als Oppenheimer sind im Nachhinein Zweifel an seinem damaligen klaren Ja zum Abwurf der Bombe und zu seiner Skepsis gegenüber einer technischen Demonstration gekommen. Newman tut die oft zitierten Worte Oppenheimers, die Physiker „didn't know beans about the military situation in Japan“ (S. 92) mit der zynischen und durch nichts belegten Behauptung ab: Die Naturwissenschaftler seien noch „nicht infiziert gewesen“ (S. 93) von der Hypothese des Strategic Bombing Survey von 1946, derzufolge Japan bereit zur Kapitulation gewesen sei. Des weiteren führt er Leo Szilard als Kronzeugen gegen eine Demonstration an, aber er bricht das Zitat ab (S. 93f.) und wird der Argumentation des damals engagiertesten Befürworters einer Demonstration nicht gerecht – bei allen Zweifeln, die Szilard im Nachhinein an dieser Option gekommen sein mögen.11

Eingehend untersucht der streitbare Kommunikationswissenschaftler in diesem sprunghaften Kapitel den „heiligen Text der Anti-Atombewegung“ (S. 87), den Franck-Report (siehe S. 46<0><|><>ff. in diesem Heft). Er arbeitet durchaus schwache Punkte dieses dennoch wichtigsten Versuchs von sieben in Chicago arbeitenden Naturwissenschaftlern heraus, die Entscheidungsträger in Washington von einem Abwurf möglichst abzubringen. Dabei fällt Newman jedoch hinter die Autoren zurück, die sich bereits kritisch mit dem unter der Leitung von Chemie-Nobelpreisträger James Franck zustande gekommenen Report auseinandergesetzt haben – sei es, daß Newman nicht systematisch vorgeht wie sie12, die Bandbreite der möglichen Alternativen nicht diskutiert und auch entscheidende Schwächen der »scientists« nicht benennt13, sei es, daß er nicht differenziert genug ist und die Leistungen des Berichts nicht anerkennt14.

Zu spät in ihren Initiativen, zu unpräzise in ihren Empfehlungen und zu unkoordiniert in ihrer Kontaktaufnahme mit Politikern – so läßt sich aus meiner Sicht die Kritik an den Verfassern des Franck-Reports zusammenfassen. Sie haben es den Befürwortern eines Abwurfs sehr leicht gemacht. Newman kritisiert zu Recht, daß es unter den Gremien, die die Wissenschaftler in Chicago einrichteten, um die »atomare Frage« zu erörtern, keinen Ausschuß gab, der sich mit den Abwürfen auf Japan intensiv befaßte. Der Franck-Report war und ist ein bedeutendes rüstungskontrollpolitisches Manifest, ein detaillierter technischer Bericht über die Durchführung und die Vorzüge einer Demonstration aber ist er nicht. Ein solche gründliche Evaluierung, mit der die »scientists« ihre vielbeschworene einzigartige Expertise hätten einbringen können, blieb aus (Edward Teller hat dieses Versäumnis in seinem Frankfurter Vortrag besonders kritisiert). Er hätte die Entscheidungsträger in Washington wohl am ehesten unter Druck setzen können, ihrerseits Alternativen zum Abwurf der Bombe intensiv zu untersuchen.

Den Autoren des in einigen Tagen zusammengezimmerten Berichts ging es in erster Linie darum, die langfristigen Negativ-Auswirkungen der A-Bombe in Form des Rüstungswettlaufs zu vermeiden. Gleichzeitig forderten die Verfasser internationale Kontrollregelungen. Die kurzfristig anstehende Frage der Abwürfe auf Japan war von untergeordneter Bedeutung. Beide Dimensionen werden im Report verknüpft – am Morgen nach einer Demonstration gehe das Wettrüsten los, wenn es nicht zu einer internationalen Abmachung komme. Der Bericht vermischt die lang- und kurzfristigen Aspekte aber auch und präsentiert den Entscheidungsträgern schwer zu vergleichendende Folgen, die Newman – und mehrere Autoren vor ihm – zu recht kontrastiert: der Abwurf, so der Bericht einerseits, könnte kurzfristig Menschenleben retten und den Krieg verkürzen; der Verzicht auf ein atomares Bombardement könnte andererseits einen Rüstungswettlauf hinauszögern und langfristig amerikanische Menschenleben schonen.

Es fällt nicht schwer, zu erraten, wie sich die Politiker und Bürokraten in der damaligen Situation entschlossen hätten. Newman führt den Ansatz und die unterschiedlichen Gewichtungen des Franck-Reports auf den »Eurozentrismus« unter den Autoren zurück. Dies überzeugt aus zwei Gründen nicht. Erstens waren nur zwei der sieben Verfasser – Franck und Szilard – europäische Emigranten; zweitens ist es Szilard gewesen, der den Japan-Aspekt überhaupt in den Report – und in die damalige Diskussion – hineingebracht hat.15 Im Rückblick hat der Physiker es jedoch als größtes Versäumnis angesehen, daß die Niederlage Japans nicht genug erörtert worden sei, wobei er hinzufügte, daß der Krieg mit politischen Mitteln hätte beendet werden können und daß die Abwürfe nicht notwendig gewesen seien.

Aus heutiger Perspektive ist es leicht, den kritischen Naturwissenschaftlern von damals Versäumnisse anzulasten. In der früheren Literatur ist die – müßige – Frage gestellt (und tentativ bejaht) worden, ob die Physiker den Einsatz der Atomwaffen hätten verhindern können – etwa wenn Franck vor dem »Interim Committee« erschienen wäre, um eine Demonstration ausführlich zu erörtern.16 Skepsis ist angebracht. Denn in den entscheidenden Sitzungen des Ausschusses wurde diese Option nur einmal – am 31. Mai 1945 – und auch damals nur eilig und nebenbei – beim Mittagessen besprochen.17 Newman erweckt im übrigen durch seine Art der Darstellung (S. 85f.) den gegenteiligen Eindruck. Die führenden Entscheidungsträger interessierte nicht, ob die Bombe, sondern wie sie eingesetzt werden sollte. Was der Kommunikationswissenschaftler im übrigen geflissentlich übersieht, ist, daß die vier Physiker – Oppenheimer, Fermi, Lawrence und Compton – die das »Interim Committe« berieten, dem Franck-Report nicht die Aufmerksamkeit schenkten, die ihm gebührte.18

Für Newman war die neue Waffe der entscheidende Faktor, der zur Kapitulation führte. Den eindeutigen Beweis bleibt er schuldig. Von den 1946 befragten japanischen Politikern meinten acht, daß die Bombe und die Sowjetunion in etwa gleich ausschlaggebend für die Kapitulation waren, während acht weitere die Bedeutung der neuen Waffe hervorhoben. Einer von denen, Marquis Kido Koichi, wird später (S. 110) so zitiert, daß er eigentlich in die erste Kategorie der Befragten hineingehört. Auch die Einschätzungen der von Newman zitierten japanischen Historiker sind nicht so eindeutig, wie von ihm behauptet und gewünscht (S. 102). Die bis heute maßgebliche Studie von Robert Butow, von Newman ausführlich zitiert, führt den »großen Schock« ebenfalls auf Hiroshima, Nagasaki und den sowjetischen Einmarsch in die Mandschurei zurück (S. 103). Der Faktor Sowjetunion holt den Autor gegen seinen Willen auffallend häufig ein.

Leo Szilard oder der verzweifelte Wettlauf gegen den Abwurf der Bombe

Der bereits mehrfach erwähnte ungarische Emigrant Leo Szilard war der Physiker, der Einstein mit dazu bewegt hatte, jenen Brief an Präsident Truman zu schreiben, der das Manhattan-Projekt ins Rollen gebracht hatte; zusammen mit Enrico Fermi hatte er im Dezember 1942 die erste Kettenreaktion in einem Reaktor erzeugt und damit einen wesentlichen Beitrag zum Bau der Atombombe geleistet. Leo Szilard war es auch, der ab Frühjahr 1945 die stärksten Aktivitäten unter den Physikern und gegenüber der US-Regierung entfaltete, um den Abwurf der Bombe auf Japan wenn nicht zu verhindern, so doch hinauszuzögern. William Lanouette stellt in der ersten umfassenden Szilard-Biographie die verzweifelten und erfolglosen Versuche des Physikers anschaulich dar (Lanouette 1992): sein Memorandum an Roosevelt, das diesen aber nicht mehr erreichte, weil der Präsident überraschend starb; sein Treffen in Spartanburg mit dem zukünftigen Außenminister der Truman-Administration, Byrnes, das unglücklich verlief, da sich beide nicht mochten und von völlig unterschiedlichen Prämissen ausgingen; seine Mitarbeit am Franck-Report; und schließlich die von ihm entworfene und Anfang Juli 1945 an seine Kollegen verteilte Petition an den Präsidenten.

Lanouette präsentiert kaum neue Fakten, was angesichts einer systematischen Auswertung der Szilard-Archive überrascht. Aber er stellt die von vielen Autoren sowie von Szilard selbst beschriebenen Versuche zusammenfassend in den biographischen Kontext des plastisch porträtierten Exzentrikers und brillianten Theoretikers. Das Szilard-Memorandum an Truman, von fast 70 Naturwissenschaftlern unterzeichnet, ist schwächer formuliert als etwa der Franck-Report. Die Erklärung (S. 272f.) schließt die „Angriffe mit Atombomben“ als „wirksames Mittel der Kriegsführung“ keinesfalls aus. Allerdings seien solche Angriffe auf Japan nicht zu rechtfertigen, solange a) es keine Möglichkeit habe, sich zu ergeben und die Kapitulationsbedingungen nicht im Detail kenne; und b) die moralischen Aspekte nicht genügend bedacht seien. Es ist auffallend, daß die Petition ein bedingungsloses Sich-ergeben, das als Hauptbarriere der Japaner für eine Kapitulation angesehen wurde, nicht kritisch als Stolperstein erwähnt. Erst im Nachhinein hat Szilard geäußert, der den Japanern damals „tatsächlich gemachte Friedensvertrag“, in dem die USA auf die bedingungslose Kapitulation verzichteten, hätte zu einem „ausgehandelten Frieden“ führen können.19 Der abgeschwächte Wortlaut der Petition drückt aus, daß Szilard den Kampf für eine Demonstration der Bombe bereits als verloren ansah.

Lanouette verzichtet leider in der Regel darauf, die bündig dargestellten Argumente des Physikers und seiner Verbündeten zu analysieren und sich mit den Positionen der Gegenseite auseinanderzusetzen. Der Biograph schildert jedoch eindringlich, wie Szilard auf den Abwurf reagierte. Zuerst war ein „Gefühl der Erleichterung“ (S. 276) da, daß die Geheimhaltung vorbei sei und daß man den Menschen sagen könne, was sie in diesem Jahrhundert erwarte. Als er die ersten Berichte über das nukleare Grauen hört, packt ihn Entsetzen. Es sollte ihn nie wieder loslassen. Szilard hält den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima ohne Punkt und Fragezeichen für einen tragischen Fehler, die Bombardierung Nagasakis für eine Grausamkeit (S. 277). In den folgenden Monaten entwickelt er hektische Tätigkeiten. Sie offenbaren die hilflose Phantasie des genialen Physikers, etwa wenn er dazu auffordert, daß seine Kollegen am Met Lab in Chicago als Zeichen ihrer Tauer schwarze Armbinden tragen sollten (S. 277).

Hiroshima und Nagasaki werden zur wichtigsten Rahmenbedingung für Szilards Denken und Wirken bis zu seinem Tod im Jahre 1964. Ob man dem Physiker einen »Schuldkomplex« unterstellt oder nicht – er selbst stritt ihn rückblickend ab, meinte aber gleichzeitig: „It was we (die Amerikaner, B.W.K.) who used the bomb (…) Somewhere, below the level of the consciousness, we have a stake in the bomb (…).“ 20 Es ist ein Defizit dieser Biographie, daß sie nicht erörtert, warum der Physiker einen A-Bombenabwurf auf Deutschland befürwortete; die entsprechenden Quellen, die z.B. Bernstein ausgewertet hat, werden in der Biographie nicht berücksichtigt. Ihnen zufolge war Szilard 1944 für ein solches atomares Bombardement selbst für den Fall eingetreten, daß die Waffe militärisch nicht notwendig gewesen wäre. Ein solcher Einsatz – so sein Argument – würde die US-Bevölkerung gegen einen gefährlichen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion mobilisieren. Anfang 1945 setzte dann, offensichtlich ausgelöst durch die Flächenbombardements der USA auf japanische Städte, bei ihm und anderen Kollegen am Met Lab in Chicago ein Umdenken ein, das zu den dargestellten Aktivitäten führte.21

Szilard hat nie erklärt, warum er – anders als Joseph Rotblat (siehe S. 30) das Manhattan-Projekt nicht verlassen hat. Eine solche Entscheidung hätte allerdings vorausgesetzt, daß Szilard wußte, wie es um Deutschland stand und daß Japan längst als Ziel für eine A-Bombe auserkoren war. Rückblickend gab er zu verstehen, daß er weder von der Lage des Dritten Reichs noch von der militärischen Zielplanung Kenntnisse hatte – diese Position vertraten übrigens im Frühjahr 1995 Teilnehmer des Manhattan-Projekts wie Hans Bethe22 und Edward Teller (s. Teller-Interview S. 26ff.) Für die Zeit nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands überzeugt Szilards Argument nicht mehr.

Lanouette präsentiert geradezu spannend die gesamte Bandbreite von Initiativen des rastlosen Aktivisten und Visionärs Szilard. Sie sind, zunächst im internationalen, dann im US-sowjetischen Rahmen, darauf gerichtet, die Verbreitung der Atomwaffen sowie den bilateralen Rüstungswettlauf unter Kontrolle zu halten. Unverkennbar ist, daß die politischen – und nicht die militärtechnologischen Elemente – in den Aktivitäten des Physikers überwiegen. In der Regel sind seine Anregungen unkonventionell und phantasievoll, oft waren sie ihrer Zeit voraus (und sind jetzt noch zeitgemäß), meistens hatte er kein Durchhaltevermögen. Mitunter machte er Vorschläge, von denen man nicht wußte, ob sie ernst gemeint waren. Zur letzten Kategorie gehören im übrigen seine Anregungen, die Verwundbarkeit der USA gegenüber feindlichen Waffen nicht durch neue Rüstungsprojekte, sondern durch die Umsiedlung von 30 bis 60 Mio. Amerikanern aus den Ballungsräumen zu horrenden Kosten zu vermindern (später sah er scharfsichtig in der Raketenabwehr bereits ein Problem für die siebziger Jahre).

Szilards Einfluß als Wissenschaftler kann nicht nur im Hinblick auf sein Scheitern in der Hiroshima/Nagasaki-Frage gemessen werden. Insgesamt blieb sein Wirken alles andere als folgenlos – die Gründung des heute noch aktiven »Council for a Liveable World« und die Mitinitiierung der Pugwash-Bewegung sind nur zwei Beispiele.

James Conant oder das kühle Plädoyer für den Abwurf der Bomben

Verkörpert Leo Szilard den Physiker, der 1945 vom Rande des Manhattan-Projekts gegen die offizielle Bomben-Politik gegenüber Japan aufbegehrt, so repräsentiert der Chemiker James Conant den neuen Typus des Wissenschaftsadministrators im Zentrum der Macht. Höchst unterschiedlich sind die Persönlichkeitsprofile der beiden. Dem undisziplinierten Genie ungarischer Herkunft steht der unterkühlte »Yankee scientist« des Ostküsten-Establishments gegenüber. Dessen »Several Lives«, wie Conant seine Memoiren betitelte, hat James Hershberg in einer Biographie umfassend und aus anderem – kritischerem – Blickwinkel dargestellt.

Hershbergs Buch über den Harvard-Professor, späteren Harvard-Präsidenten und Botschafter in Deutschland ist ein Meilenstein in der biographischen Erschließung des Atomzeitalters. Denn Conant hat zusammen mit Vannavar Bush das US-Atomprogramm maßgeblich vorangetrieben und ihm seine Organisationsstruktur gegeben. Bereits im Zweiten Weltkrieg war er gleichzeitig ein herausragender Architekt der nuklearen US-Politik der Nachkriegszeit. Hershbergs Leistung besteht darin, das bisherige umfangreiche Material durch die detaillierte Auswertung neuer Quellen zu bereichern und in einer gut lesbaren Studie zu präsentieren. Sie besticht zudem dadurch, daß, anders als bei Lanouette, die großen politischen Zeitbezüge hergestellt und analysiert werden.

Die Erarbeitung der nuklearen Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit war dem im Frühjahr 1945 geschaffenen »Interim Committee« übertragen worden. In die Geschichte eingegangen ist dieser bereits erwähnte Ausschuß, weil er Präsident Truman die folgenschwere Empfehlung unterbreitete, Japan atomar zu bombardieren. Beraten wurde das »Committee« hierbei von den vier führenden Physikern Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur Compton und Ernest Lawrence. In diesem mächtigen Ausschuß saß Conant und mit ihm Vannevar Bush und MIT-Präsident Karl Compton, also zwei weitere Wissenschaftsorganisatoren. Kriegsminister Stimson leitete das »Interim Committee«, Außenminister Byrnes fungierte als Trumans Sonderberater, zwei weitere hochrangige Politiker waren Undersecretary of the Navy Ralph A. Bard (s. Auszug S. 78) sowie Assistant Secretary of State William L. Clayton.

Durch neue empirische Funde führt Hershberg die Forschung weiter. Besonders beeindruckend und erstaunlich sind die apokalyptischen Empfindungen des sonst so rationalen Conant beim ersten atomaren Test in der Wüste von Alamogordo: Viele anwesende Naturwissenschaftler dachten an das Ende der Welt, Conant glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, daß er der letzte Mensch war (S. 234). Dieser Schrecken hat ihn nicht davon abgehalten, auch weiterhin für einen Abwurf der Bombe auf Japan zu plädieren. Vorrangig war aus seiner Sicht die einzigartige Schockwirkung, die auch er sich von einer einzigen gewaltigen und beispiellosen Explosion der Atombombe versprach: die japanische Führung würde kapitulieren.

Conant schloß sich der vorherrschenden Begründung an, daß der Abwurf ohne vorherige Warnung den Krieg am schnellsten beenden und viele amerikanische Menschenleben retten würde. Kriegsminister Stimson berichtete dem »Interim-Ausschuß« von Plänen einer Invasion Japans mit amerikanischen Bodentruppen. Befürworter der Abwürfe wie Truman und Churchill sprachen nach dem Krieg von einer halben bis zu einer Million von Toten, die die Alliierten im Falle eines Einmarsches hätten in Kauf nehmen müssen (die Forschung hat diese Kalkulationen in den achtziger Jahren als Mythos entlarvt). Als dann die Auffassung vertreten wurde, daß Japan auch ohne die Atombombe kapituliert hätte, verteidigte sich Conant. Die Anzeichen eines bevorstehenden japanischen Zusammenbruchs und die »Friedensfühler« Tokios gegenüber Moskau seien dem »Interim-Ausschuß« am 21. Juni 1945 nicht bekannt gewesen, als er seine frühere Empfehlung für den Abwurf wiederholte. Überhaupt habe Conant sein Wissen über die militärische Lage von Stimson erhalten, der dem »Committee« keine detaillierte militärische Analyse präsentiert habe.

Die von Hershberg herausgearbeitete Einstellung Conants zum Abwurf einer einsatzbereiten A-Bombe ist ebenfalls repräsentativ für die meisten amerikanischen Wissenschaftler und Politiker im Zentrum der Entscheidungsprozesse. Praktisch alle haben die neue Waffe als ein legitimes Mittel in einem Krieg angesehen. Unmißverständlich weist Hershberg auch auf den Druck hin, der von dem sich damals auf ca. 2 Mrd. Dollar belaufenden Manhattan-Projekt ausging. Wie viele vor ihm zitiert der Autor Außenminister Byrnes: „Wie bringt man den Kongreß dazu, Gelder für Atomenergie zu bewilligen, wenn sie keine Ergebnisse der bereits ausgegebenen Mittel vorweisen können?“ 23 Ohne eine spezifische Quelle anzugeben, schreibt Hershberg im unmittelbaren Anschluß auch von Conant, daß er ein „akutes Bedürfnis“ (S. 226) hatte, seine während des Krieges unternommenen Anstrengungen vor allem gegenüber zukünftigen Untersuchungsausschüssen des Kongresses zu rechtfertigen.

Wenn man davon ausgeht, daß Conant den Einsatz der Bombe von Anfang an immer grundsätzlich befürwortete, ist es folgerichtig, die sich teilweise ändernde Begründung für das gesamte Manhattan-Projekt als »subtile Transformation« zu deuten. Die Angst vor einer Nazi-Bombe stand am Anfang, ergänzt durch die Auffassung, daß die USA diese – funktionierende – Waffe wegen ihres revolutionären Potentials unbedingt besitzen sollten, und zwar unabhängig davon, ob sie andere Staaten entwickeln würden oder nicht.

Der Autor weist darauf hin, daß mit der möglichen »post-war control«-Funktion der neuartigen Waffe das kostenaufwendige Mammut-Projekt vor dem Kongreß und der US-Öffentlichkeit allein nicht zu rechtfertigen war. Nach der Niederlage Deutschlands mußte der ursprüngliche Feind durch einen anderen ersetzt werden. „Deuschland war besiegt. Japan hatte keine Möglichkeit, atomare Waffen zu bauen. Der Wettlauf war vorbei. Conant fand trotzdem andere Rechtfertigungen, um die Bombe so früh wie möglich einzusetzen.“ (S.227)

Leider bündelt der US-Historiker seinen empirischen Befund nicht, er präsentiert auch keine eindeutige Rangordnung von Conants Motiven für den Abwurf der Bombe. Der Autor macht aber indirekt deutlich, daß sich dieser wichtige Akteur keinesfalls ausschließlich dem einen oder anderen vorherrschenden Motiv- und Interessenmuster für das atomare Bombardement zuordnen läßt. Sie ergänzen sich vielmehr. Der Biograph macht für seine Deutungen Anleihen sowohl bei der durch Bernstein als auch bei der durch Alperovitz vertretenen Richtung.

Die von Hershberg beschriebene Kontroverse zwischen Conant und – ausgerechnet! – dem führenden »Realisten« unter den protestantischen Theologen, Reinhold Niebuhr, ist ebenfalls in Vielem repräsentativ für den Streit in der unmittelbaren Nachkriegszeit um die moralische Dimension der Bombardements. Der Angegriffene fragt zurück: „Wenn das amerikanische Volk den Einsatz der Atombombe tief bereuen soll, warum sollte es dann nicht gleichermaßen die ein paar Monate vorher durchgeführte Zerstörung Tokios durch (…) Brandbomben bereuen?“ (S. 284) Er glaubte zeitlebens, daß es keine glaubwürdige Alternative zu einem Abwurf gab, später bereute er lediglich, daß die Bombe nicht früher fertig gewesen sei (S.227). Schuldgefühle hat er auch in seinen privaten Gesprächen mit Familienangehörigen nie ausgedrückt, weil er keine gehabt hat. Seinem Großsohn Jim zufolge hat er später eingeräumt, daß die Bombardierung Nagasakis ein Fehler gewesen sein mag (S.228). Mit dieser Frage war er als Mitglied des »Interim-Ausschusses« jedoch konkret nicht befaßt gewesen.

Nur einmal scheint Conant die Angst befallen zu haben, in der Hiroshima-/Nagasaki-Frage auf der aus seiner Sicht falschen Seite der Geschichte zu enden. Das war 1946, nachdem John Herseys kritische Reportage »Hiroshima« erschienen war (leider ist die deutsche Ausgabe dieses Klassikers vergriffen). Conant befürchtete, daß die überwältigende Zustimmung in den USA für die Bombenabwürfe umschlagen könne. In erster Linie war er darum besorgt, daß eine kritische Einschätzung der Abwürfe die USA im sich anbahnenden Kalten Krieg mit Moskau lähmt und daß sie in einem »Heißen Krieg« den von Conant befürworteten Einsatz von Atombomben auf die UdSSR unmöglich macht.

Der spätere »Praeceptor Americae« wurde deshalb aktiv, um dies zu verhindern. Conants Manipulationen hat Hershberg im spannendsten Kapitel seiner Biographie erstmals und ausführlich beschrieben: Wie Conants über das »old boys' network« seine Fäden spann, um mit dem damaligen Kriegsminister Stimson die autoritativste Figur für ein solches Unterfangen zu bekommen; wie stark er stilistisch und inhaltlich in die Entwürfe des Aufsatzes „The Decision to Use the Atomic Bomb“ eingriff. Dieser Artikel – „das einflußreichste Statement, das jemals über die Atombombe abgegeben wurde“ (Hershberg, S. 298) – beeinflußte die »orthodoxe Geschichtsschreibung« unangefochten bis in die Mitte der sechziger Jahre, als Gar Alperovitz seine Studie veröffentlichte.

Neuerscheinungen mit wenig Neuem

Drei in Deutschland erschienene Naturwissenschaftler-Biographien können es, obwohl zwei von ihnen ebenfalls voluminös sind, im Hinblick auf die Dichte der Darstellung, die Einarbeitung der politischen Rahmenbedingungen und vor allem hinsichtlich neuer Informationen in keiner Weise mit Hershbergs monumentaler Biographie aufnehmen. Albrecht Fölsings dickleibiges Einstein-Buch (Fölsing 1993) ähnelt zumindest in dem hier ausschließlich zur Debatte stehenden Abschnitt „Der Pazifist und die Bombe“ (S. 741ff.) auffallend der bereits 1971 erschienenen Einstein-Biographie von Ronald W. Clark24, die leider verkürzt ins Deutsche übertragen wurde; über Einsteins Nachkriegsaktivitäten informiert Clark im übrigen detaillierter als Fölsing.

Über weite Teile geschwätzig ist Norman Macraes Beschreibung des aus Ungarn in die USA emigrierten Mathematikers John von Neumann (Macrae 1994). Dieser interessiert hier als wichtiges Mitglied des »Target Committee«, das die Ziele der tödlichen Last über Japan mitbestimmte. In diesem Punkt geht der Autor durchaus über die Doppelbiographie von Steve J. Heims25 hinaus (Heims' Darstellung ist für die Positionen des ultra-konservativen Mathematikers in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings informativer). Wie Groves, dessen Vertrauen von Neumann besaß, hatte auch das Mathematik-Genie u.a. die Stadt Kyoto, ein für die Japaner heiliges religiöses Zentrum, für die Zerstörung ausgewählt. Der Journalist und Biograph Macrae bescheinigt dem Naturwissenschaftler im Dienste der Militärs hier lediglich „Mangel an psychologischem Fingerspitzengefühl“ (S.214). Die unverblümte Diktion in den entsprechenden Passagen von General Groves` Autobiographie „Now it Can be Told“ vermitteln einen weitaus besseren Eindruck von der Eiseskälte des »Target Committee«, das sich ausschließlich von militärischen Erwägungen leiten ließ.

Mit den Worten „Einige Leute bekennen sich schuldig, um den Lohn für die Sünde zu beanspruchen“ (S. 215), soll von Neumann Oppenheimers Schock-Reaktion auf den Trinity-Test kommentiert haben. James Gleick, der Biograph des Physikers Richard Feynman (Gleick 1993), fügt dessen Reaktion auf die Frage eines Journalisten neben ihm nach dem Knall in der Wüste von Alamogordo hinzu: „That's the thing!“ (in der deutschen Ausgabe unpräzise übersetzt mit „Das ist die Bombe!“ (S. 229). Der von Gleick auszugsweise zitierte Brief an seine Mutter vom 9. August (S. 231) bestätigt auf beeindruckende Weise den Freudentaumel, den der erst 27-jährige Physiker mit vielen Kollegen teilt; Richard Rhodes hat den allgemeinen Enthusiasmus der am Trinity-Test Beteiligten in seiner klassischen Studie, die leider im deutschen Buchhandel nicht zu haben ist, eindringlich beschrieben.26 An die Stelle der Ausgelassenheit tritt auch bei Feynman später Nüchternheit (S. 299), die bei ihm jedoch politisch folgenlos bleibt.

Informativ wie bündig hat Lawrence Wittner die wichtigsten Gruppierungen und ihre politischen Vorstellungen im Amerika der ersten Jahre nach Hiroshima bis 1953 dargestellt (Wittner 1993). Seine kenntnisreichen Ausführungen basieren sowohl auf der Verarbeitung von Sekundärliteratur als auch auf der beeindruckenden Auswertung vieler Archive (er ist meines Wissens der einzige Historiker, der unabhängig von Hershberg Conants pro-nukleare Manipulationen entdeckt hat). Neben vielem ausreichend Bekanntem führen die beiden Kapitel dort am ehesten weiter, wo Wittner die Reaktionen des linken Spektrums der USA auf Hiroshima (z.B. bei den Kirchen) beschreibt und wo er die zum Teil rüden Praktiken der US-Regierungen gegenüber Naturwissenschaftlern und Pazifisten darstellt.

Wer sich einen raschen Überblick über das Manhattan-Projekt verschaffen möchte, sei auf den Aufsatz von Stefan Fröhlich in dem von Michael Salewski edierten Band (Salewski 1995, S. 50-71) verwiesen. Leider brücksichtigt dieser Beitrag die neueste Literatur gerade über die Los-Alamos Jahre nicht. Auch seinem eigenen Anspruch, die „Erklärungsmuster der Zeitzeugen für ihre Entscheidungen heranzuziehen“ (S. 52), wird der Autor nur sehr begrenzt gerecht. Die Erinnerungen etwa von Peierls, Weisskopf, Wigner und Zacharias wertet er nicht aus, die relevanten Passagen in Conants Memoiren überprüft er nicht anhand der Hershberg-Biographie. Die am Ende des Aufsatzes von Fröhlich angestellten Spekulationen hätten sich durch eine Kenntnis des vorzüglich aufbereiteten Szilard-Materials empirisch verläßlich beantworten lassen. Die drei von Fröhlich für das Manhattan-Projekt herausgearbeiteten Hauptcharakterisierungen sind in der Tat zutreffend: Der Krieg als Stimulus für die wissenschafts-technologische Innovation; das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik; die Führung der Wissenschaft im Projekt und dessen gleichzeitige Kontrolle durch des Militär.

Aus techniksoziologischer Perspektive beschreibt einer der Vertreter dieser Ausrichtung, Thomas Hughes, das Manhattan-Projekt (Hughes 1991). Er sieht es in dieser ungewöhnlichen Sicht einerseits als Teil der „noch nicht abgeschlosssenen Entstehungsgeschichte großer technologischer Systeme“ (S. 387). Andererseits deutet er es als beispielloses Unternehmen, bei dem die Regierung die zentrale Koordinations- und Kontrollinstanz für die Herstellung eines einzigen »Produkts« wird, nachdem die Erfindungen gemacht und weiterentwickelt worden waren. Parallelen zu Industrieunternehmen stellt der Autor jedoch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Wissenschaftlern, Technikern und Managern (S. 387) fest. Der Primat des Militärischen bleibt allerdings einzigartig. Hughes' Arbeit hätte die Forschung dann weitergeführt, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die bisher kaum berücksichtigte industrielle Infrastruktur des Manhattan-Projekts zu analysieren; statt dessen wertet er vor allem die klassische Studie von Hewlett und Anderson aus.27 Glücklicherweise erliegt Hughes nicht der Versuchung seines Ansatzes, die Bomben-Entscheidung mit technologischen Zwängen zu erklären.

Hiroshima und die sowjetischen Naturwissenschaftler in der Stalin-Ära

David Holloways Studie „Stalin and the Bomb“ ist ein großer und solider Wurf. Der ausgewiesene Experte wartet in dieser historisch wie systematisch vorzüglich angelegten Arbeit mit vielen neuen Informationen auf, und zwar nicht nur über die Rolle der Naturwissenschaftler während der sowjetischen A- und H-Bombenprogramme. Vielmehr analysiert der Autor auch die Rahmenbedingungen und Imperative Stalinscher Politik, die industriell-wirtschaftliche Struktur der Projekte sowie die Einbettung der Wissenschaftler in die bürokratische Organisation der Atomprogramme. Holloways Buch beruht auf der Auswertung vieler Archive und geführter Interviews, entscheidende Dokumenten-Sammlungen blieben ihm allerdings verschlossen. Auch in dieser Studie Holloways erfährt der Leser etwa wichtige Aussagen Stalins nach wie vor aus den Aufzeichnungen amerikanischer Akteure und Politiker (dieses Werk »überholt« in Vielem auch das einführende Buch von Heinemann-Grüder 1992, das allerdings in seinen Kapiteln über die Rolle deutscher Wissenschaftler in Stalins Atombombenprogramm nach wie vor lesenswert bleibt). Eine abschließende Studie konnte Holloway zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorlegen. Das schmälert ihren Verdienst jedoch keineswegs.

Die Atombombenabwürfe der USA bedeuteten, wie der Autor eingehend darlegt, eine entscheidende Zäsur in der Atompolitik Stalins. Während des Zweiten Weltkrieges hatte der Diktator viele militärtechnologische Projekte, darunter auch das Nuklearprogramm, vernachlässigt. Das änderte sich schlagartig nach Hiroshima und Nagasaki. Bereits am 20. August setzte ein geheimes Dekret Stalins das sowjetische Projekt in Gang. Die (Kommando-)Struktur und die Organisation des Unternehmens, das nun höchste Priorität bekam, waren schnell etabliert. An die Spitze des Geheimprojekts berief Stalin keinen Militär, sondern Geheimdienstchef Berija, der das von Holloway kenntnisreich dargestellte »sowjetische Manhattan-Projekt« mit der ihm eigenen Mischung aus Effizienz und enormem Druck leitete (siehe Golovin S. 51ff.)

Holloway gibt Einblicke in die Arbeitsweise der Wissenschaftler, die vom Gebot der Geheimhaltung gekennzeichnet ist. Hier gibt es viele Parallelen zum Arbeitszusammenhang der amerikanischen Kollegen in Los Alamos. Der Historiker legt ferner überzeugend dar, wie sehr das sowjetische Atombombenprogramm von außen angeregt wurde, und er analysiert ebenso plausibel, daß Stalin die A-Bombe unter allen Umständen haben wollte. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse von Holloways Studie, auch wenn man sie nicht gern hören mag. „Hiroshima“, soll Stalin zu Kurchatov und Vannikov gesagt haben, „hat die ganze Welt erschüttert. Das Gleichgewicht ist zerstört“ (S. 132). Jetzt setzte der Diktator alles daran, um die Balance wiederherzustellen. Die Atombombe war aber aus Stalins Sicht nicht nur eine mächtige Waffe, sondern auch das mächtigste Symbol für die wirtschaftliche und technologische Stärke der USA. Holloway legt dar, daß die A-Bombe nicht das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entworfene Design sowjetischer Außenpolitik veränderte, das auf die Konsolidierung der territorialen Gewinne und auf die Etablierung einer Interessenzone in Osteuropa ausgerichtet war. Allerdings mußte die Führung die Bombe als neuen Faktor in dieses Konzept einpassen. Zu fragen ist, ob hier der Verfasser deren Bedeutung nicht unterschätzt.

„Aufholen und überholen“ hieß die Devise (S.133) für das sowjetische Atomprojekt. Stalin wollte das Monopol der USA brechen und in der Zwischenzeit die USA daran hindern, die »atomare Karte« erfolgreich gegen die UdSSR zu spielen. Seine Sorge war nicht, daß ein Atomkrieg unmittelbar bevorstand. Vielmehr galt es, sich durch den Bomben-Faktor nicht einschüchtern zu lassen. Die neue Waffe trug, wie Holloway herausarbeitet, auf diese Weise zur Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehung bei.

Stalins Politik ging, wie der Autor gut dokumentiert, im großen und ganzen auf. 1949 führte die UdSSR den ersten erfolgreichen Kernwaffenversuch vor. In der Zwischenzeit gelang es der Truman-Administration nicht, aufgrund ihres Monopols Stalin zu außenpolitischen Konzessionen zu bewegen – etwa in Osteuropa oder auf internationalem Parkett durch den Baruch-Plan, der die Vormachtstellung der USA verstetigt und der UdSSR die eigene atomare Option verweigert hätte. Am 30. Dezember 1946 stimmte der Atomenergieausschuß der UN mehrheitlich für den Plan. Fünf Tage vorher war dem »sowjetischen Oppenheimer« Igor Kurchatov – auf den Monat genau vier Jahre nach Fermis und Szilards erfolgreichem Versuch in Chicago – die (damals geheimgehaltene) Kettenreaktion erstmals in einem Experimentalreaktor gelungen.

Wie für die am Manhattan-Projekt beteiligten Physiker stellte das sowjetische Parallelunternehmen eine große intellektuelle Herausforderung für die sowjetischen Kollegen dar. Hinzu kam der Konkurrenzaspekt. Das Projekt brachte zudem Arbeit und Brot. Nachdem das Nuklearprogramm erste Priorität bekommen hatte, wurden die Atomphysiker zu einer privilegierten Kaste. Von den wissenschaftlichen Säuberungen des Jahres 1949 blieben sie verschont, weil die »westliche« und »idealistische« Quantenmechanik und Relativitätstheorie die theoretische Basis für den Bau der neuen Waffe darstellten. „Es war die Atombombe, die die sowjetische Physik 1949 rettete,“ resümiert Holloway (S. 211) in spannenden Passagen über die damaligen wissenschaftlich-idologischen Turbulenzen. Ungefährdet war und blieb auch diese Berufsgruppe nicht. In jenem Klima soll Stalin über die Physiker zu Berija gesagt haben: „Laß sie in Frieden. Wir können sie später immer noch erschießen.“ (S. 211)

Die sowjetischen Atomphysiker haben ihre Aktivitäten zum Teil anders begründet als ihre amerikanischen Kollegen. Sie reagierten ja »nur« auf den von den US-Naturwissenschaftlern mitinitiierten Rüstungswettlauf. Sie übernahmen Stalins Devise von der Wiederherstellung des Gleichgewichts oder waren davon überzeugt, daß die UdSSR eine eigene Bombe brauche, um sich gegen den Feind zu schützen oder ihn davon abzuhalten, sie gegen die UdSSR einzusetzen. Die Bombardierung Hiroshimas wurde als »zynischer Antihumanismus« bezeichnet. Vertraut ist die universal vorgebrachte Begründung, der Bau der – in diesem Fall sowjetischen – Bombe sei nicht dasselbe wie ihr Abwurf auf friedliche Städte, und: Nicht die Naturwissenschaftler, sondern die Politiker und Militärs würden diese Entscheidung treffen. Intensive moralische Diskussionen gab es wahrscheinlich gar nicht, sie wären sehr gefährlich gewesen (siehe Golovin-Interview S. 55). Ohnehin konnte man sich nur in den ersten Jahren weigern, am Atomprojekt teilzunehmen.

Für andere Wissenschaftler war der Bau der Bombe eine Fortsetzung des Krieges gegen Nazi-Deutschland. Der mächtige »Wissenschaftskommissar« Kurchatov unterschrieb oft mit »Soldat Kurchatov«. Er war es übrigens, der nach dem ersten Test der H-Bombe um die Entlassung aus dem Projekt bat. In die Entstehung und Entwicklung dieses Waffenprogramms gibt die grundlegende Studie Holloways ebenfalls erstaunlich viele neue Einblicke.

Deutsche Atomphysiker im Dritten Reich und danach

So verständlich es ist, daß sich hauptsächlich US-Historiker mit der Hiroshima/Nagasaki-Frage befassen, so unverständlich ist es, warum die bundesdeutsche Zunft der Historiker den amerikanischen Kollegen auch da das Feld überläßt, wo es um die Aufarbeitung der eigenen (Wissenschafts-)Geschichte geht. Ohne die Angst vor der Nazi-Bombe hätte es das Manhattan-Projekt in dieser Form nicht gegeben. Vor allem Mark Walker hat sich in einer wichtigen, auch hierzulande breit rezipierten Studie mit diesem Thema auf eine Weise befaßt, die die bis dahin jahrzehntelang dominierende Auffassung als Mythos entlarvte.28 Insbesondere Robert Jungk hatte nach Gesprächen mit Heisenberg, von Weizsäcker und anderen Kollegen die These kolportiert, daß sich die führenden Physiker aus moralischen Gründen der Mitarbeit am Bau einer Nazi-Bombe versagt hätten. In einer neuen Studie (Walker 1995) greift der Autor diesen Themenbereich wieder auf (siehe Artikel von M. Walker S. 59ff.)

Die monumentale Heisenberg-Biographie des amerikanischen Wissenschaftshistorikers David C. Cassidy zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, daß sie zwischen den Mythen und den Realitäten gut zu trennen weiß (Cassidy 1995). Der Verfasser unterstreicht die These, daß Heisenberg und seine Kollegen der Nazi-Führung deshalb kein »crash program« abforderten, weil sie keine Chance sahen, ein solches Projekt während des Krieges fertigzustellen. Demgegenüber wartet die Publikation von Thomas Powers mit der spektakulären, aber nicht belegten und deshalb nicht ernst zu nehmenden Behauptung auf, die noch über den langjährigen Mythos hinausgeht (Powers 1993). Um den Bomben-Bau zu vereiteln, soll Heisenberg bewußt Informationen gegenüber den zuständigen Behörden und den eigenen Kollegen zurückgehalten haben. Powers' Buch taugt als Thriller, aber nicht als seriöse Studie.

Eine wissenschaftsgeschichtliche Quelle ersten Ranges für die Rolle und das Selbstverständnis der deutschen Atomphysiker im Dritten Reich stellen die von Dieter Hoffmann sorgfältig edierten Farm-Hall-Protokolle dar (Hoffmann 1993). Die Niederschrift der von den Alliierten abgehörten und aufgezeichneten Gespräche der führenden deutschen Atomphysiker, die im britischen Farm Hall im Sommer 1945 interniert waren, vermitteln einen weitgehend unverstellten Zugang zu den damaligen Auffassungen der Wissenschaftler. Deren Positionen hat der Herausgeber in seinem Vorwort kritisch wie kenntnisreich kommentiert.

Einer der Internierten war der heute noch lebende Physiker Erich Bagge, der in dem von Michael Salewski herausgegebenen Band (Salewski 1995, S. 27-49) mit dem Aufsatz „Keine Atombombe für Hitler“ vertreten ist. Der Herausgeber führt in seinem Vorwort Bagge als prominenten Zeitzeugen für die Stimmungsschwankungen der Physiker zwischen Himmel und Hölle an (S. 26). In Bagges Aufsatz ist nichts davon zu spüren. Zutreffender dürfte auch heute noch die Charakterisierung der Allierten aus den Farm-Hall-Protokollen sein, wenn man Bagges buchhalterischen Duktus bedenkt: „Er ist durch und durch deutsch (…) Seine Freundschaft mit Diebner macht ihn verdächtig.“ (Hoffmann 1993, S. 60) Bagges Beitrag vermittelt den Eindruck, als sollte die Bombe gar nicht gebaut werden: „Ich möchte feststellen, daß in der Rede von Herrn Basche das Wort 'Atombombe' mit Sicherheit überhaupt nicht vorkam. Ich achtete sehr darauf, weil es mir beim Empfang im HWS durch Diebner am 8. September so einprägsam aufgefallen war.“ (S. 33)

In Bagges abgehörter und nachlesenswerter Äußerung in Farm Hall (S. 164) stellt sich dieser Sachverhalt jedoch anders dar.

Der Umgang der bundesdeutschen Naturwissenschaftler mit der Bomben-Problematik in den fünfziger Jahren ist ein wichtiger Aspekt in der hervorragenden Arbeit von Ilona Stölken-Fitschen. Auf der Grundlage umfangreicher und vielfach unbekannter Materialien analysiert die Autorin die politische und kulturelle Verarbeitung der A-Bombe insbesondere in der bundesdeutschen Diskussion (Stölken-Fitschen 1995). Die Grundhaltung ist durch Ambivalenz gekennzeichnet. Sie schwankt zwischen Grauen und Faszination, Angst und Hoffnung vor den »Segnungen« der zivilen Kernenergienutzung, zwischen atomarem Schrecken und atomarer Abschreckung. Der Kalte Krieg als wesentliche Rahmenbedingung für dieses Perzeptionsmuster überlagerte das »Mahnmal Hiroshima« bald bei den diversen Akteuren in unterschiedlich starker Weise.

Diese gute geschriebene Studie ist einer der überzeugendsten zeitgeschichtlichen Beiträge zur aktuellen »Hiroshima-Diskussion«. Im Spektrum der bundesdeutschen Literatur geht diese Arbeit weit über die bisher in der Regel analysierten Gruppierungen (Parteien, Friedensbewegung) hinaus. Thematisch erweitert sie den Fokus der verfahrenen und repetitiven US-Diskussion um eine wichtige Dimension und stellt damit das deutsche Pendant zur wegweisenden Untersuchung von Paul Boyer dar.29

Forschungsdefizite und -desiderate

Anstatt auf weitere Nuancierungen der amerikanischen Kabinettspolitik fixiert zu sein, ist es an der Zeit, die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Weltbilder und Traditionen zu untersuchen, die Hiroshima und Nagasaki möglich gemacht haben. Viel stärker als bisher müßte die Situation in Japan mit in die Untersuchungen einbezogen werden. Dies aber verlangt eine andere Organisation von Forschung. Anstatt daß die US-Historiker (und möglicherweise ihre Kollegen in Japan) nur zu sich selbst reden, wäre ein solches bilaterales Arrangement ein Zeichen gemeinsamen Lernens aus der Doppel-Katastrophe vom August 1945.

Die weitere Erforschung der Rolle der Naturwissenschaftler hätte dann einen festen Platz in einem solchen Design, wenn die technokulturellen und außenpolitischen Weltbilder der Physiker, ihre europäischen Traditionen und die Vermischungen mit dem »amerikanischen technologischen Enthusiasmus« (Hughes) untersucht würden. Ein derartiges Design, angemessen umgesetzt, enthält das Versprechen, daß Neuerscheinungen auch wirklich Neues vermitteln.

Rudolf Peierls: Gedanken über die Bombe

Ich werde oft gefragt: „Als Sie
daran arbeiteten, die Atombombe entwickeln zu helfen, haben Sie da nicht gewußt, welche
Schrecken sie bringen würde?
Anfangs war Ihr Motiv die Angst, Hitler könne es als
erster schaffen. Warum haben Sie die Arbeit nach der Niederschlagung Deutschlands
fortgesetzt?“

Auf diese Frage zu antworten, ist
schwer. Niemand konnte die Berichte und Bilder von Hiroshima und Nagasaki anders aufnehmen
als mit Schrecken, und es gab keinen, der in irgendeiner Weise Stolz darüber empfunden
hätte, daran mitgewirkt zu haben, daß es dazu kam. Aber es war Krieg, und im Krieg sind
Tod, Leid und Zerstörung unvermeidlich. Bei den Atombombenabwürfen sind nicht mehr
Menschen gestorben, als ein großer Feuerangriff auf Tokio gekostet hätte. Nicht das
Ausmaß der Zerstörung ist es, das dem Krieg mit dem Einsatz der Atombombe eine neue
Dimension verlieh; neu war die Mühelosigkeit, mit der die Waffe benutzt werden kann: Mit
einem einzigen Flugzeug kann eine solche Zerstörung bewirkt werden, wie sie zuvor nur
durch eine massive Militäroperation erreicht werden konnte. Wir kannten die
Zerstörungskräfte der Bombe ebenso wie ihre Strahlenwirkungen, und Frisch und ich haben
in unserem ersten Memorandum auch ausdrücklich darauf hingewiesen. Wir wußten, wie
mühelos die Bombe einsetzbar war, und deshalb wußten wir auch, welche ungeheuer große
Verantwortung damit den führenden Politikern und Militärs auferlegt wurde, die über das
Ob und Wann des Bombeneinsatzes würden entscheiden müssen.

Es war uns klar, wie wichtig es war
sicherzustellen, daß die Entscheidungsträger die neue Lage einschließlich sämtlicher
Folgen der Existenz dieser neuen Waffe begriffen. Wir dachten, daß über all dies
gesprochen worden wäre. Zu der Zeit, als ich in England war, lag die Fertigstellung der
Waffe noch in weiter Ferne. In Los Alamos hatten wir keinen direkten Kontakt mit den
maßgeblichen amerikanischen Verantwortlichen, aber wir wußten, daß Oppenheimer mit
ihnen in Verbindung stand, und wir hatten Vertrauen in dessen Fähigkeiten, die Sache
verständlich und deutlich darzulegen. Wir waren der Meinung, die Verantwortlichen seien
vernünftige und intelligente Leute und würden verantwortungsvoll entscheiden.

Rückblickend ist klar, daß wir mit
dieser unserer Meinung zu optimistisch waren. Ich will nicht sagen, daß es den
Entscheidungsträgern an gutem Willen gefehlt hätte, aber wir haben ihre
Vorstellungskraft und ihr Vermögen, sich auf eine völlig neue Situation einzustellen,
überschätzt. Meiner Ansicht nach wäre die naheliegende Reaktion gewesen, eine Bombe
über einem dünn besiedelten Gebiet abzuwerfen, um ihre Wirkungen vorzuführen, und
gleichzeitig die japanische Regierung ultimativ zu Friedensverhandlungen zu bewegen mit
dem Ziel, einen Atombombenangriff größeren Ausmaßes zu vermeiden. Das hätte bedeutet,
daß einige Menschen getötet und einige Gebäude zerstört worden wären, denn anders
wäre die Kraft der Bombe nicht augenfällig geworden: Nach dem Alamogordo-Test waren die
sichtbaren Wirkungen für den Experten zwar beängstigend, für den Laien aber nicht
beeindruckend. Natürlich hätte man mit einem solchen Ultimatum scheitern können, aber
es wäre doch wenigstens ein Versuch gewesen, unnötiges Sterben zu vermeiden. Offenbar
ist niemand auf den Gedanken gekommen, diese Möglichkeit zu prüfen; jedenfalls stand sie
in den führenden Politiker- und Militärkreisen nicht zur Diskussion. Was erörtert
wurde, war ein Test, der vorher angekündigt und zu dem Beobachter eingeladen werden
sollten (wie später bei einem Test auf dem Bikini-Atoll geschehen). Dieser Vorschlag
wurde abgelehnt, weil das zuverlässige Funktionieren des Zündmechanismus' nicht
gewährleistet war und ein Fehlschlag des Tests gegenteilige Wirkung gehabt hätte.

Auch wenn wir nun, viele Jahre später,
klüger sein mögen als damals – was hätten wir tun sollen? Hätten wir es von
Anfang an unterlassen sollen, an der Atombombe zu arbeiten, oder hätten wir nach der
Niederschlagung Deutschlands aufhören sollen, daran weiterzuarbeiten? Ersteres hätte ein
untragbares Risiko bedeutet, und nach dem Sieg über Deutschland war schließlich immer
noch ein blutiger und grausamer Krieg im Gange, der durch die neue Waffe verkürzt werden
konnte (und wurde). Im übrigen: Nachdem das Phänomen der Kernspaltung entdeckt war und
sich nicht wieder unentdeckt machen ließ, und nachdem man begriffen hatte, daß eine
Atombombe tatsächlich machbar war, ergab sich unweigerlich der Schluß, daß sie früher
oder später von jemandem entwickelt werden würde. Eine generelle Weigerung aller
Wissenschaftler, an Kernwaffen zu arbeiten, konnte nicht zustande kommen, es sei denn, es
hätte bei ihnen ein genereller Vertrauensmangel geherrscht in der Weise, daß sie ihrer
Regierung die Fähigkeit zum angemessenen Umgang mit der Situation abgesprochen hätten.
Deshalb halte ich den Gedanken eines solchen »Streiks« der Wissenschaftler für
wirklichkeitsfremd.

Oder: Hätten wir darauf bestehen
sollen, die Kontrolle darüber zu behalten, wie die Ergebnisse unserer Arbeit genutzt
werden? Das hätte bedeutet, daß wir von der anmaßenden Vermutung ausgegangen wären,
besser qualifiziert zu sein als andere, die richtigen politischen und militärischen
Entscheidungen zu fällen, und im übrigen wäre eine derartige Kontrolle auch niemals zu
verwirklichen gewesen. Ich bedaure, daß wir nicht darauf bestanden haben, mehr Gespräche
mit den führenden Militärs und Politikern zu führen, Gespräche, in denen die Folgen
und möglichen Handlungsverläufe auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes
ausführlich und in aller Deutlichkeit erörtert worden wären. Daß solche Gespräche am
Ende einen Unterschied gemacht hätten, ist freilich nicht gewiß.

Dies ist in Kurzform die Antwort auf
Fragen, die ein eigenes Buch verdient hätten.

Quelle: Rudolf Peierls, Bird of Passage.
Recollections of a Physicist, Princeton 1985, S. 203-205; (Übersetzung: Hedda Wagner.)

Vorgestellte Bücher

Cassidy, David C.: Werner Heisenberg. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1995 (Spektrum Akademischer Verlag), 600 S., 68 DM

Fölsing, Albrecht: Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp), 959 S., 78 DM

Gleick, James: Richard Feynman. Leben und Werk des genialen Physikers, München 1993 (Droemer Knaur), 712 S., 56 DM

Heinemann-Grüder, Andreas: Die Sowjetische Atombombe, Münster 1992 (Westfälisches Dampfboot), 168 S., 26 DM

Herken, Gregg: Cardinal Choices. Presidential Science Advising from the Atomic Bomb to SDI, New York/Oxford 1992 (Oxford University Press), 317 S., $ 24.95

Hershberg, James: James B. Conant. Harvard to Hiroshima and the Making of the Nuclear Age, New York 1993 (Alfred Knopf), 948 S., $ 35

Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993 (Rowohlt), 381 S., 42 DM

Holloway, David: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy 1939-1956, New Haven/London (Yale University Press), 464 S., $ 30

Hughes, Thomas: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991 (C.H. Beck), 528 S., 58 DM

Lanouette, William, with Bela Silard: Genius in the Shadows. A Biography of Leo Szilard, New York 1992 (Charles Scribner`s Sons), 588 S., $ 35

Macrae, Norman: John von Neumann. Mathematik und Computerforschung – Facetten eines Genies, Basel u.a. 1994 (Birkhäuser Verlag), 349 S., 78 DM

Newman, Robert P.: Truman and the Hiroshima Cult, East Lansing 1995 (Michigan State University Press), 272 S., $ 34.95

Powers, Thomas: Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe, Hamburg 1993 (Hoffmann und Campe), 768 S., 78 DM

Salewski, Michael (Hrsg.): Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995 (Verlag C.H. Beck, Beck'sche Reihe), 334 S., 24 DM

Stölken-Fitschen, Ilona: Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995 (Nomos), 357 S., 78 DM

Walker, Mark: Nazi Science: Myth, Truth, and the German Atomic Bomb, New York 1995 (Plenum Press), 330 S., $ 28.95

Weinberg, Gerhard L.: Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1995 (Deutsche Verlags-Anstalt), 1174 S., 98 DM

Wittner, Lawrence S.: One World or None. A History of the World Nuclear Disarmament Movement Through 1953. Vol. 1: The Struggle Against the Bomb, Stanford 1993 (Stanford University Press), 456 S., $ 29.95

Anmerkungen

1) Der epochale Brief ist abgedruckt in: Verfuß, Klaus/Hartmann Wunderer (Bearbeiter): Hiroshima. Geschichte und Aktualität der atomaren Bedrohung, Wiesbaden 1995 (Hrsg.: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung/Hessisches Institut für Lehrerfortbildung, Außenstelle Wiesbaden, in Kooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung), S. 13. Zurück

2) Alperovitz, Gar: Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam, Boulder/London 1985 (erw. und neu durchgesehene Ausgabe; ursprüngliche Edition: New York 1965, dt. 1966). Zurück

3) In den letzten Jahren – man könnte etwas überspitzt sagen: Jahrzehnten – haben sowohl Alperovitz als auch Bernstein in vielen Beiträgen immer das Gleiche gesagt, ohne wesentlich neue Dokumente zu präsentieren. Siehe z.B. den Briefwechsel zwischen Alperovitz, Gar/Robert L. Messer und Barton J. Bernstein, in: International Security, 16, 3 (Winter 1991/92), S.204-221. Eiligen Leser sei dieser Briefwechsel empfohlen, da er im Kern alle Argumente und Probleme zusammenfaßt, die sich auch im Laufe der letzten Jahre nicht geändert haben. Siehe ferner Alperovitz, Gar: Beyond the Smithonian Flap: Historians' New Consensus, in: The Washington Post, 16. 10. 1994, sowie ders., Enola Gay: A New Consensus, in: Washington Post, 4. 2. 1995. Diese Positionen finden sich ausführlicher in seinem Aufsatz »Hiroshima: Historians Reassess« wieder, den die »Blätter für deutsche und internationale Politik« in ihrem Juli-Heft 1995 abdrucken werden (leicht gekürzte Fassung des Beitrages aus der Sommer-Ausgabe von »Foreign Policy«). Zu Barton Bernstein siehe The Atomic Bombings Reconsidered, in: Foreign Affairs, 74, 1 (Frühjahr 1995), S. 135-152. Zurück

4) Sherwin, Martin J.: A World Destroyed. The Atomic Bomb and the Grand Alliance, New York 1975; Bernstein, Barton J.: Roosevelt, Truman, and the Atomic Bomb, 1941-1945: A Reinterpretation, in: Political Science Quarterly, 90, 1 (Frühjahr 1975), S. 23-69, sowie ders. (Hrsg.): The Atomic Bomb. The Critical Issues, Boston/Toronto 1975. Zurück

5) Sherwin, Martin J.: Hiroshima and Modern Memory, in: Nation, 10. 10. 1981, S. 349-353. Zurück

6) Briefwechsel (Anm. 3), S. 220. Zurück

7) Ebd., S. 215. Zurück

8) Walker, Samuel J.: The Decision to Use the Bomb: A Historiographical Update, in: Diplomatic History, 14, 1 (Winter 1990), S. 110f. Zurück

9) Siehe z.B. seinen Artikel in der Washington Post, 4.2.1995. Zurück

10) Maddox, Robert James: Atomic Diplomacy: A Study in Creative Writing, in: Journal of American History, 59, März 1973, S. 925-934. Zurück

11) Das von Newman abgebrochene Zitat findet sich vollständig in: Szilard, Leo: Recollections, in: Weart, Spencer R./Gertrud Weiss Szilard (Hrsg.), Leo Szilard: His Version of the Facts. Selected Recollections and Correspondence, Cambridge, Mass./London 1978, S. 186. Zurück

12) Villa, Brian L.: A Confusion of Signals: James Franck, the Chicago Scientists and Early Efforts to Stop the Bomb, in: Bulletin of the Atomic Sientists, 31, 10 (Dezember 1975), S. 36-42. Zurück

13) Frisch, David H.: Scientists and the Decision to Bomb Japan, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 26, 6 (Juni 1970), S. 107-115. Zurück

14) Steiner, Arthur: Scientists, Statesmen, and Politicians: The Competing Influence on American Atomic Energy Policy 1945-46, in: Minerva, 12,4 (Oktober 1974), S. 469-509. Zurück

15) Szilard (Anm. 11), S. 186, Anm. 13. Zurück

16) Frisch (Anm. 13), S. 115. Zurück

17) Steiner (Anm. 14), S. 508ff. Zurück

18) Sherwin (Anm. 4), S. 207f. Zurück

19) Interview mit: U.S. News & World Report, 15. 8. 1960, S. 68. Zurück

20) Ebd., S. 71. Zurück

21) Bernstein, Barton J.: Introduction, in: Hawkins, Helen S. u.a. (Hrsg.): Toward a Livable World. Leo Szilard and the Crusade for Nuclear Arms Control, Cambridge, Mass./London 1987, S. xxxiiiff. Zurück

22) New York Times, 18. 4. 1995. Zurück

23) Zitiert von Szilard (Anm. 11), S. 184. Zurück

24) Clark, Ronald W.: Einstein. The Life and Times, New York 1971. Zurück

25) Heims, Steve J.: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Life and Death, Cambridge, Mass./London 1980. Zurück

26) Rhodes, Richard: Die Atombombe oder Die Geschichte des 8. Schöpfungstages, Nördlingen 1988. Zurück

27) Hewlett, Richard G./Oscar E. Anderson, Jr.: The New World, 1939/46, University Park/Pa., 1962. Zurück

28) Walker, Mark: Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990. Zurück

29) Boyer, Paul: By the Bomb's Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age, New York 1985. Zurück

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

von Edward Teller

Meine Damen und Herren, ich bin hergekommen mit vielen Zweifeln und vielen Fragen. Ich möchte Sie bitten, das, was ich sage, immer in einem zweideutigen Sinne anzunehmen. Ich rede über schwierige Gegenstände, und ich finde, daß die meisten Leute darüber gewissenlos reden. Sie reden, als ob sie die Frage verstanden hätten, und sie geben klare Antworten. Ich werde auch klare Antworten geben, aber das tue ich nur der Kürze halber. Vor jeder Antwort sollte ich eigentlich »vielleicht«, »möglicherweise«, gelegentlich »wahrscheinlich« sagen. In diesen menschlichen und nationalen Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Und es ist sehr wichtig, daß man die Zukunft so gestaltet, daß man weiß: Man muß seinen Weg mit der größten Vorsicht wählen.

Zunächst will ich einen Glaubensartikel aufstellen, und zwar möchte ich etwas mehr positiv sein, vielleicht ungerechtfertigterweise. Ich habe den größten Teil des 20. Jahrhunderts miterlebt. Als Prinz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo umgebracht worden sind, war ich sechs Jahre alt. Meine Eltern erzählten mir von dem Doppelmord und fügten hinzu: „Aber es wird keinen Krieg geben“. Ich erinnere mich noch an das Gespräch. Ich habe sofort gefragt: „Warum gibt es keinen Krieg?“ Die Antwort: „Warum sollte es einen Krieg geben? Es gibt keinen Grund!“„Ja, aber warum sagt Ihr mir dann, daß es keinen Krieg geben wird, wenn es sowieso keinen Grund gibt?“ – Die tiefen Zweifel darüber, warum dieser Unsinn vom Ersten Krieg überhaupt notwendig war, warum es überhaupt geschehen ist, diese Zweifel habe ich als 6-jähriger mit den naivsten Fragen miterlebt.

Ich will fortfahren mit ein wenig Optimismus. Im Moment gibt es Hoffnung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ging vonstatten, ohne daß Menschen dabei umgekommen sind; die Befreiung von mehr als 200 Millionen Menschen, wenn man die Satelliten einschließlich Ostdeutschlands mitrechnet, ist etwas Großartiges. Die Tatsache, daß das möglich war, hat zwei Bedeutungen: die Bedeutung der Hoffnung und die Bedeutung der Pflicht. Die Hoffnung, daß wir beginnen, die Anzahl der Kriege zu reduzieren und den Krieg abzuschaffen; die Pflicht, diese Möglichkeit vollständig auszunutzen.

Man kann Waffen nicht regulieren

Ich teile die allgemeine Meinung nicht, daß man den Krieg abschaffen wird, indem man Waffen unter Kontrolle bringt. Es ist nicht möglich, Waffen zu regulieren. Die Möglichkeit, Rüstungskontrollverträge zu verletzen, und die Schwierigkeit, solche Verträge in der Realität durchzusetzen, ist überwältigend. Meiner Meinung nach liegt die Antwort weniger im Regulieren von Waffen. Den Krieg kann man nur abschaffen, wenn man die Ursachen des Krieges ausmerzt. Man muß ein Zusammenwirken der Völker in der Praxis durchsetzen, so daß jedem bewußt wird: Wer einem anderen schadet, einem anderen Volk schadet, der schadet auch sich selbst. Von diesem Bewußtsein war aber unglaublich wenig da, sogar noch im letzten Jahrhundert. Aber trotz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts glaube ich, daß das Bewußtsein der Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit in diesem Jahrhundert bereits stärker vorhanden war als je zuvor und sich im Laufe des Jahrhunderts immer stärker ausprägte.

Ich sagte, ich kam her mit Zweifeln. Ich wollte aber kommen. Warum? Die Vereinigung Europas war, als ich jung war, ein unmöglicher Wunschtraum. Sie ist noch immer nicht da. Aber sie ist heute viel mehr als ein Wunschtraum. Zusammenarbeit findet statt, Probleme, wie das große Problem der Wiedervereinigung Deutschlands, werden gelöst – das sind die positiven Schritte. Man muß nicht den Krieg abschaffen, man muß den Frieden auf ein Niveau heben, auf dem die Zusammenarbeit und der Frieden unanfechtbar werden. Der Frieden an sich muß stark werden. Daß Amerika, die Heimat meiner Wahl, es fertiggebracht hat, die bitteren Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges bezüglich Deutschlands und bezüglich Japans nicht auszumerzen, aber abzuschwächen, zu reduzieren, wenigstens einiges, was falsch war, wiedergutzumachen – dies sind Ereignisse in der Weltgeschichte, wie sie nie vorher zu beobachten waren. Auf diese Entwicklungen müssen wir bauen.

Meine Damen und Herren, ich könnte hier aufhören. Das ist das Wesentliche, das ich sagen will. Ich will aber doch ein, zwei Dinge konkret hinzufügen als Beispiele und weil Sie es erwarten.

Die Verantwortung war mir zu groß

Am Anfang des schicksalsreichen Sommers 1945 bekam ich einen Brief von meinem guten Freund Leo Szilard – einem Ungarn, er war 10 Jahre älter als ich, ein wunderbarer Mensch. Er hatte ein Prinzip, nie etwas zu sagen, was von ihm erwartet wurde. Wenn er jemanden verletzte, war ihm das gleichgültig. Aber er hat niemals jemanden gelangweilt. Er schrieb mir einen Brief: Atombomben. Neues Weltzeitalter. Atombomben nicht benutzen, wenigstens nicht sofort. Erst vorführen, erst zeigen, damit wir und die Japaner wissen, worum es sich handelt.

Mit diesem Brief zog ich zu dem Direktor von Los Alamos, Oppenheimer, der der einzige im Labor war, der Zutritt in Washington hatte und der etwas von Politik verstand; darüber hinaus war er sehr populär. Ich zeigte ihm den Brief. Er war wütend und machte mir klar, daß es überhaupt keine Frage sei, die Atombombe müsse benutzt werden. Wir Wissenschaftler würden die Japaner ja nicht verstehen. Seines Erachtens müßten wir die Entscheidung den Politikern überlassen.

Es tut mir leid, es gestehen zu müssen: Er hat mich überredet. Warum? Die Verantwortung, in dieser Lage zu versuchen, etwas zu tun, war mir zu groß. Ich wußte, ich glaubte – das glaube ich auch noch immer – wir mußten es wissen, was man mit der Atombombe anfangen kann. Wir haben die Atombombe nicht gemacht. Wir haben die Atombombe gefunden. Die Frage war nicht, ob es eine Atombombe geben wird; es ging darum, ob die Kenntnis der Atombombe zuerst in einer gemäßigten Regierung vorhanden sein wird. Wir mußten daran arbeiten, da hatte ich keinen Zweifel. Aber was tun, um den Krieg zu beenden? Die Antwort – zu schwer. In diesem Sinn hat mich Oppenheimer überredet.

Dann wußten wir, was wir getan haben. Es tat mir leid.

Nicht viel später lag ich da, 20 km vom Explosionspunkt, wo der erste Versuch in Alamogordo stattfinden sollte, mit einem dunklen Glas an mein Gesicht gepreßt. Da kam nun das erste Zeichen, ganz schwach. Im ersten Bruchteil einer Sekunde, daran erinnere ich mich noch sehr deutlich, dachte ich: Ist das alles? Und dann erinnerte ich mich, daß ich ja dieses äußerst schwere Glas hatte. Ich schob es etwas weg und sah von der Seite Licht, in keiner Weise direkt. Es war 6 Uhr morgens. Das war, als ob ein schwerer Vorhang aufging und die strahlende Sonne ins Zimmer kam. Da war ich beeindruckt, und in dem Moment wußte ich: In einer kurzen Zeit wird das alles andere sein als nur ein Versuch. – Und dann kamen die Bilder. Dann wußten wir, was wir getan haben. – Es tat mir leid.

Ich kann nicht sagen, was richtig gewesen wäre. Ich kann aber sagen, daß wir das Richtige nicht getan haben oder nicht genug. Wir haben es fertiggebracht, die Atombombe zu bauen. Wir haben aber unserem Präsidenten keine Wahl angeboten. Er konnte sie benutzen oder nicht. Einen anderen Weg gab es nicht, denn einen anderen Weg haben die Wissenschaftler nicht geschaffen. Nachher, als es zu spät war, habe ich darüber oft nachgedacht. Es gibt eine Möglichkeit, die wir hätten ausarbeiten sollen. Wir hätten sagen können: Die erste Bombe soll keinem Menschen schaden. Sie soll abgeworfen werden über der Bucht von Tokio, 10 km über der Erdoberfläche, bei gutem Wetter abends um 8 Uhr. Dann wird es hell für 3 Sekunden, so hell, wie ich es in Alamogordo gesehen habe. Und dann, nach weniger als einer Minute, kommt der Donner, wie es noch keiner gehört hat. Das wird gesehen und gehört von 10 Millionen Japanern. Und dann sollen wir sagen: Der Krieg muß beendet werden. Wenn ihr nicht aufhört, benutzen wir dieses, aber so, daß darunter Menschen wirklich leiden werden.

Wir Wissenschaftler müssen Wissenschaft betreiben

Wir müssen uns vergegenwärtigen, was damals geschehen ist. Wir haben Bomben gebraucht. Im japanischen Kabinett – da gibt es ein wunderbares Buch von John Toland1 – wurde nach dem Abwurf keine einzige Stimme geändert. Sie stimmten nicht für die Beendigung des Krieges oder wenigstens gab es keine Mehrheit. Aber der Kaiser Hirohito griff ein. Er hörte die Nachricht und er entschied, zum Volk zu reden und zu sagen: Wir müssen das Unmögliche leiden, wir müssen uns ergeben.

Meine Damen und Herren, die Frage, die sich stellt, ist: Wenn wir die 100.000 in Hiroshima nicht getötet hätten, sondern die Bombe bloß gezeigt hätten, hätte das nicht dasselbe Resultat ergeben können? Ich weiß es nicht. Ich will auch sogar nicht sagen, daß wir das hätten befürworten sollen. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir Wissenschaftler Wissenschaft treiben müssen. Wir müssen ausfindig machen, was geht und was nicht geht. Die Entscheidungen muß das Volk treffen und besonders die Politiker, die das Volk repräsentieren. Das ist der Sinn der Demokratie. Und wir müssen dem Volke und den Repräsentanten des Volkes, den Politikern, eine Wahl darbieten.

Meine Kritik ist nicht, daß wir die Atombombe abgeworfen haben, meine Kritik, mein Einwand ist, daß wir das als eine Möglichkeit erschaffen haben, ohne daran zu arbeiten, eine Alternative darzubieten, so daß die, wie unser Präsident Truman, die entscheiden mußten, es in der Hand gehabt hätten: dieses oder jenes. Es hätte sein können – die Möglichkeit war sehr groß, daß eine Demonstration keinen Effekt gehabt hätte. Aber selbst wenn wir Erfolg gehabt hätten, hätte es passieren können, daß dann ohne Hiroshima die Angst nicht groß genug gewesen wäre, um spätere Atomkonflikte zu verhindern. Ich kann argumentieren, es war richtig, die Bombe abzuwerfen, und ich kann argumentieren, es war falsch. Meine Gefühle sagen, es war falsch. Aber meine Gefühle können sich irren. Es ist nicht ein Gefühl, es ist eine feste Überzeugung, daß wir Wissenschaftler der Allgemeinheit und den Politikern schuldig waren, eine Wahl zu präsentieren, ihnen möglich zu machen, diese schwere Entscheidung so zu treffen, wie sie getroffen werden sollte in einer Demokratie.

Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten

Meine Damen und Herren, ich sage all das im Sinne, wie es hier in der Einleitung gesagt worden ist: Die Entdeckungen sind nicht an ihrem Ende. Es gibt und es wird neue Waffen geben. Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten. Ich bin nicht dafür, davon Abstand zu nehmen. Ich bin auch nicht dafür, daß wir Wissenschaftler Euch sagen sollen, was Ihr mit den Waffen anzufangen habt. Was wir wirklich haben tun müssen, ist, mit einer jeden neuen Waffenmöglichkeit die Konsequenzen darzustellen und die Alternativen der Benutzung oder Nichtbenutzung Euch darzulegen. Der Krieg wird nicht vermieden dadurch, daß wir nicht über die Waffen Bescheid wissen. Das Wissen kommt, ob wir es wollen oder nicht. Was wir anstreben müssen, ist ein klares und ein vollständiges Wissen, so vollständig, wie es menschenmöglich ist. Diese Möglichkeiten müssen wir Euch und den Politikern mitteilen, damit diese dann die Wahl treffen.

Und hier ein allerletztes Wort: Mit jeder neuen Möglichkeit, eine Waffe zu schaffen, gibt es auch Möglichkeiten, das, was wir schaffen, für das allgemeine Wohl zu verwenden. Wir gebrauchen Atomenergie viel zu wenig. Die Angst vor der Radioaktivität ist unnnötig groß. Wir haben heute einen Plan, uns gegen die Natur zu wehren. Wir wissen, daß von Zeit zu Zeit ein Meteorit ankommt, und der schlägt ein mit einer Kraft von Hiroshima oder mit einer noch größeren. Wir wissen heute, daß so große Explosionen wie in Hiroshima in der hohen Atmosphäre ungefähr einmal im Jahr vorkommen. Wir wissen, daß 1908 in Sibirien ein Meteorit eingeschlagen hat, der eine Explosionskraft von 10 Mio. Tonnen TNT hatte, der den Wald im Umkreis von 1.000 km2 vernichtet und zwei Menschen getötet hat. Glücklicherweise war es nicht über Frankfurt, sonst gäbe es Frankfurt nicht mehr. Das wissen wir heute. Wie verhindern? Wir wissen, daß ein ganz großes Objekt vor 65 Mio. Jahren eingeschlagen hat, und das war das Ende des historischen Mittelalters der Lebewesen, des Mesozoikums. Das war der Anfang der Neuzeit, und es war der Tod von allen großen Lebewesen. Die Gefahren, in denen wir leben, kommen von den Menschen und in noch viel stärkerem Maße von der Natur.

Ich behaupte, daß heute, sogar am Ende des 20. Jahrhunderts, das Leben besser ist als je zuvor. Wir haben kein Recht, Pessimisten zu sein. Wir haben die Pflicht, uns eine weiter verbesserte Zukunft vorzustellen und den Weg zu finden. Es ist in diesem Sinne, daß ich denke, und ich versuche, dieses Denken auf Euch zu übertragen. Dankeschön.

Anmerkungen

1) John Toland, The Rising Sun. The Decline and Fall of the Japanese Empire, New York, 1970. (Anm. d. Hg.) Zurück

Edward Teller.

Opfer und Täter von Hiroshima

Opfer und Täter von Hiroshima

Was ist 50 Jahre danach aus ihnen geworden?

von Sven Sohr

Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben. (Anders, 1982, S.66)

Gib die Menschen wieder.
Gib meinen Vater wieder und meine Mutter.
Gib meine Geschwister zurück.
Gib mir meine Söhne und Töchter.
Gib mir mich selbst zurück. Gib die Menschheit wieder.
Solange dieses Leben dauert, dieses Leben,
gib den Frieden wieder, der nie mehr endet.

Sankichi Toge

So leben wir also im Jahr 50! Runde Geburtstage pflegt man gewöhnlich zu feiern. Was werden wir tun? Werden wir uns erinnern? Kurz nachdem der Autor dieses Artikels angefragt wurde, ob er einen Überblicksbeitrag psycholgischer Forschung zu den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schreiben könne, fand er eine kleine Randnotiz in seiner Tageszeitung, überschrieben mit den Worten: „Japan gegen US-Atombomben-Briefmarke“ (Tagesspiegel, 4.12.1994, S. 32). Berichtet wird von einer dem US-Außenministerium übergebenen Note der japanischen Botschaft, in der Japan die USA auffordert, die Einführung einer Briefmarke mit einem Atombombenpilz zu überdenken. Das Bild des Atombombenpilzes ist unterschrieben mit „Atombomben beschleunigen Beendigung des Krieges, August 1945“. Dieser Vorfall, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist, verletzt nicht nur die tiefen Gefühle der japanischen Bevölkerung, er ist auch sachlich zumindest zu bezweifeln. – Aber wie so oft im Leben gerade dann am meisten in Bewegung gerät, wenn Menschen sich »betroffen« fühlen, wurde diese kleine Zeitungsnotiz zum emotionalen Anlaß des vorliegenden Versuchs, der Frage nach den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki wissenschaftlich nachzugehen.

Im Zentrum des ersten Teils der folgenden »Erinnerung« stehen die Opfer, unter anderem die Untersuchungen des Psychiaters Robert Lifton über das Phänomen der »psychischen Taubheit« bei den Überlebenden. Psychologisch ebenso interessant, wenn es auch zynisch klingen mag, ist das »Schicksal« der Täter, um die es im zweiten Teil des Aufsatzes geht. Exemplarisch werden dabei ganz unterschiedliche Wege der »Verarbeitung« anhand zweier Hiroshima-Piloten beschrieben: Zum einen Paul Tibbets, der auch heute noch »absolut nichts« bedauert, zum anderen Claude Eatherly, der in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, um seine »Gewissensbisse« zu kurieren. Es ist das Verdienst des Philosophen Günther Anders, durch einen jahrelangen Briefwechsel mit Claude Eatherly auf dessen »Problem« aufmerksam gemacht zu haben. Da Günther Anders einer der ersten war, die sich wissenschaftlich mit den Folgen von Hiroshima auseinandersetzten und darauf reagierten, wird seinen Überlegungen zu den Konsequenzen der Katastrophe besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Abschnitt des Artikels mündet schließlich in der Frage, ob und inwiefern uns das Thema heute betrifft.

„Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt.“

In der Nacht zum 6. August 1945 starteten auf Tinian im Beisein von 100 Reportern sieben B 29-Bomber. Die ersten drei sollten eine Stunde vor der Hauptgruppe Japan erreichen und das Wetter über Hiroshima, Kokura und Nagasaki erkunden. Die fünf Tonnen wiegende Atombombe, von den Militärs »Little Boy« genannt, wurde in der von Oberst Tibbets befehligten und zu diesem Zweck extra umgerüsteten Maschine »Enola Gay« befördert. Zwei Bomber sollten diese Maschine begleiten; einer hatte den Auftrag, über dem »Objekt« Apparate zur Feststellung der Explosionsstärke abzuwerfen, und der andere sollte Foto- und Filmaufnahmen machen. Der siebente Bomber sollte nach Iwoshima fliegen, einer Insel auf dem halben Weg nach Japan, um einzuspringen, falls die Maschine Tibbets eine Panne haben sollte. Um 7.09 Uhr meldeten die Aufklärungsflüge, daß der Himmel über Hiroshima und Nagasaki wolkenlos sei. Von dem Flugzeug, das Kokura überflogen hatte, war die gleiche Meldung gekommen. Oberst Tibbets in der »Enola Gay« erhielt das chiffrierte Telegramm: „Empfehlung: erstes Objekt“. Um 8.13 Uhr erschienen über dem Himmel von Hiroshima die drei Flugzeuge. Um 8.14 Uhr öffnete sich die Bombenluke. Am wolkenlosen Himmel zeigte sich ein Fallschirm, an dem die fünf Tonnen schwere Atombombe rasch abwärts glitt. Um 8.15 Uhr, als die Bombe 580 Meter von der Erde entfernt war, schaltete der Zündmechanismus. Über Hiroshima blitzte eine zweite Sonne auf: eine Todessonne. Diejenigen, die Hiroshima überlebt haben, sprechen von einem tödlichen Licht, grell, stark, sich ständig verändernd. In Sekunden wurden ungefähr 80.000 Menschen vernichtet, von denen Überreste auffindbar waren. Weitere 14.000 Menschen verschwanden spurlos. Über 100.000 Menschen starben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren.

Ein Mitglied der Besatzung der »Enola Gay« schreibt in seinen Erinnerungen: „Erst blitzte grell die Detonation, dann ein blendendes Licht, in dem die anrollende Explosionswelle zu sehen war, dann eine pilzförmige Wolke. Es sah aus, als ob über der Stadt ein Meer siedenden Teers brodelte.“ (vgl. Greune & Mannhardt 1982, S. 17f.). Die erste auf eine Stadt abgeworfene Atombombe war um ein Vielfaches vernichtender, als ihre Väter es vorausgesagt hatten. Eine Viertelstunde nach der Explosion ging von der »Enola Gay« ein Funkspruch zur Insel Tinian ab: „Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt. Empfehle sofort Vorbereitung der nächsten Aktion. Nach Bombenabwurf an Bord alles normal. Kehren zum Stützpunkt zurück.“ Kurze Zeit später ging die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas an den Panzerkreuzer »Augusta« weiter, auf dem der US-Präsident Truman von der Potsdamer Konferenz heimreiste. In seinen Erinnerungen schildert Truman diesen Moment so: „Am 6. August (…) kam die Nachricht, die die Welt erschütterte. Ich saß (…) beim Lunch, da brachte mir Hauptmann Frank Graham folgende Nachricht: 'An den Präsidenten vom Kriegsminister. Große Bombe abgeworfen (…) Erste Meldungen besagen: voller Erfolg, sogar noch größer als bei früherem Test`.“ Truman ließ Sekt bringen, hob sein Glas und sagte: „Gentlemen, wir haben soeben auf Japan eine Bombe abgeworfen, die die Sprengkraft von 20|000 Tonnen TNT hatte. Sie heißt Atombombe.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, sollte sich in Nagasaki alles noch einmal wiederholen.

Medizinische Akut- und Spätfolgen der Atombombenopfer

Die medizinischen Akut- und Spätfolgen beschreibt Ohkita (1985). Die von den Atomwaffen hervorgerufenen akuten Verletzungen werden in thermische, mechanische und Strahlenverletzungen unterteilt. Am häufigsten waren allerdings Kombinationsverletzungen. Viele Menschen starben praktisch sofort an den Auswirkungen der Druckwelle und der Hitze, aber häufig erlagen die Menschen auch ihren Verletzungen, bevor sich die Strahlenkrankheit entwickeln konnte. Fast alle Menschen, die innerhalb von 10 Wochen starben, ließen Strahlenschäden erkennen.

Thermische Verletzungen (Verbrennungen): Auf dem Erdboden wurden bei den Atombombenexplosionen in Japan nach Schätzungen 3000-4000 Grad Celsius erreicht. Diese Hitze dauerte zwar nur ungefähr eine Sekunde an, dennoch betrug die Temperatur in jeweils über 1 km Entfernung der beiden Städte noch mehr als 573 Grad Celsius. So erlitten auch Menschen, die mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt waren, tödliche Verbrennungen.

Strahlenwirkungen: Obwohl die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal dazu Gelegenheit gaben, die Auswirkungen einer massiven Bestrahlung bei Menschen zu beobachten, ist nur wenig über schwere Strahlenverletzungen bekannt, die sofort zum Tode führten, da diese Fälle nicht obduziert wurden. Zusätzlich verhinderte die große Zahl der Todesfälle und der Verletzungen in den ersten Tagen nach den Explosionen eine genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkungen. Als ein verläßliches Zeichen einer Strahlenverletzung wird Haarausfall angesehen. Das Haar fiel beim Kämmen in dichten Büscheln aus.

Bis heute konnte die genaue Anzahl der Opfer, die durch die Bomben getötet wurden, nicht ganz geklärt werden. Die Anzahl der Personen unter den Überlebenden, die durch Verbrennung, mechanische Traumen, Strahlen oder durch eine Kombination dieser Schädigungen verletzt wurden, sind ebenfalls geschätzt worden. In Hiroshima geht man von 60.000 Menschen mit Verbrennungen, 78.000 mit mechanischen Verletzungen und 35.000 mit Strahlenschäden aus. In Nagasaki belaufen sich die Zahlen auf 41.000 Verbrennungen, 45.000 mechanische Verletzungen und 22.000 Strahlenschädigungen. Alle diese Verletzungen können kombiniert vorgelegen haben.

Psychologische und soziale Folgen für die Atombombenopfer

Um eine Vorstellung von der gesamten Situation nach dem Atombombenangriff zu erhalten, muß man nicht nur die ungeheure Zahl von getöteten Menschen berücksichtigen, sondern auch die Familien, die zerrissen wurden, Alte und Kranke, Frauen und Kinder, die oft hilflos zurückblieben. Einige tausend Kinder wurden zu Waisen, die durchschnittliche Zahl der Todesfälle je Familie wird mit 2/3 angenommen (Greune & Mannhardt 1982, S.65).

Die Atombombe zerstörte nicht nur Familien, sondern auch andere Formen der Gesellschaft, sie riß benachbarte Menschen auseinander und führte zum Untergang traditioneller Nachbarschaftshilfe. Jene, die mit dem nackten Leben davongekommen waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen verloren, sondern darüber hinaus auch Nachbarn und Freunde; das Zusammenleben in seiner Gesamtheit war gestört. Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freunde ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Tiefe Schuldgefühle erfaßte die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten.

Die besondere Lage, in der sich die Atomüberlebenden befanden und heute noch befinden, hat dazu geführt, daß eine besondere Bezeichnung für sie entstanden ist: Man nennt sie »Hibakusha« (die direkte japanische Übersetzung lautet »explosionsgeschädigte Personen«). In Japan lebten 1981 rund 400.000 Hibakusha, von denen knapp 60% krank und körperbehindert sind. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Zur besonderen Behandlung der Hibakusha sind spezielle Atombomben-Hospitäler eingerichtet worden.

Es war vor allem der amerikanische Psychiater Robert Lifton, der sich der Tragödie der Hibakushas annahm und Untersuchungen über die psychischen Auswirkungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vorlegte. Lifton berichtet in seinem 1966 erschienenen Buch „Death in Life: Survivors of Hiroshima“ von einem Effekt der psychischen Taubheit (»psychic numbing«). Viele Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Wahrnehmung erinnern: Was sie wahrnahmen, hielten sie für einen Blitz oder ein plötzliches Gefühl der Hitze, gefolgt von Bewußtlosigkeit.

Ein Lehrer mittleren Alters, der sich etwa 5000 Meter vom Zentrum entfernt befand, beschreibt seine Gefühle angesichts der Zerstörung. Es wird deutlich, wie Schuldgefühle gegenüber den Toten die psychischen Abwehrmechanismen durchdringen und sich schmerzhaft bemerkbar machen: „Ich ging in die Stadt, um meine Familie zu suchen. Irgendwie wurde ich mitleidlos, weil ich sonst nicht durch die Stadt hätte gehen und über die vielen Leichen steigen können. Am beeindruckendsten war der Ausdruck in den Augen der Menschen – ihre Körper waren schwarzverfärbt – ihre Augen blickten suchend umher, nach jemandem, der kommen und ihnen helfen würde.(…) Ich suchte nach meiner Familie und schaute jeden an, den ich traf, um zu sehen, ob sie oder er ein Familienmitglied war. Doch die Augen – die Leere – der hilflose Ausdruck – dies alles werde ich nie vergessen können (…) Ich nahm die Enttäuschung in ihren Augen wahr. Sie schauten mich erwartungsvoll an und blickten durch mich hindurch. Ich konnte es kaum ertragen von ihren Augen angestarrt zu werden (…).“ Der Lehrer nahm durch die Augen der anonymen Toten und Sterbenden eine Anklage seiner Unterlassung und seiner Schuld wahr, daß er ihnen nicht half, daß er sie sterben ließ, daß er »egoistischerweise« am Leben blieb.

Die Überlebenden litten nicht nur daran, daß die Menschen, die sie umgaben, starben, sondern auch an deren Todesart: eine brutale Art schnellen körperlichen Verfalls, die mit den normalen und »würdigen« Formen des Todes nichts mehr zu tun hatte – eine Tatsache, die im übrigen auch für jüdische KZ-Opfer von großer Bedeutung war. Darüber hinaus sind die Überlebenden von Hiroshima über die allgemeine Besorgnis und die Kontroverse über die negativen genetischen Auswirkungen der Atombombenexplosion informiert, die meisten von ihnen befürchten in der Tat negative Folgen für die nachfolgenden Generationen. Dies wiegt umso schwerer gerade in der ostasiatischen Kultur, die die Ahnenreihe und die Kontinuität der Generationen als den Hauptzweck des menschlichen Lebens und – zumindest symbolisch – als Weg zur Unsterblichkeit betont.

Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß die Atombombe das Dasein der Überlebenden sowohl in ihren eigenen Augen als auch in der Wahrnehmung anderer Menschen völlig verändert hat. Durch die unmittelbare Erfahrung und durch die späteren Erlebnisse wurden die Überlebenden Mitglied einer neuen psychosozialen Gruppe. Auf die Frage an die Überlebenden, was sie mit dem Wort »hibakusha« assoziierten, und was sie dabei fühlten, drückten sie in Liftons Untersuchungen ohne Ausnahme das Gefühl aus, daß sie zur Übernahme dieser neuen Existenzform gezwungen seien und diese trotz aller Bemühungen nicht mehr ablegen könnten.

Die Überlebenden scheinen nicht nur das Ereignis erlebt zu haben, sondern es auch einschließlich seiner Schrecken, seiner Folgen und besonders seines tödlichen Charakters in ihre Existenz aufgenommen zu haben. Sie fühlen sich gezwungen, sich mit den Toten zu vereinigen. Die Identität der Hibakusha wird symbolisch zu einer Identität der Toten, die sich durch die besonders starke japanische Fähigkeit zur Identifizierung und durch die besondere Form der Schuldgefühle für das Überleben noch verstärkt. Dieses vorherrschende Gefühl wird außerdem noch durch die Wahrnehmung der Überlebenden geprägt, als Versuchskaninchen benutzt worden zu sein, da sie die Opfer des ersten »Experiments« mit Atomwaffen geworden sind. Sie leiden unter der Wahrnehmung, daß sie die schlimmste der von Menschen erzeugten Katastrophen erlebt haben, und darunter, daß zur gleichen Zeit ihre persönlichen Erfahrungen durch die fortschreitende weitere Entwicklung und Erprobung schrecklichster Waffen sinnlos erscheinen.

Was für die Opfer (nicht) getan wurde…

Unmittelbar nach den beiden Atombombenangriffen kapitulierte die japanische Regierung. Nun sprach die offizielle Propaganda von „Opfern für den Frieden“ und unterdrückte zugleich alle Nachrichten über die Lage der Hibakusha. Nach der Kapitulation Japans im September 1945 machten sich sogleich die ersten amerikanischen Untersuchungskommissionen auf den Weg nach Hiroshima. Die Siegermacht USA wollte möglichst schnell die Auswirkungen der neuen Bombe in den beiden betroffenen Städten kennenlernen. Was die Fachleute dem Oberkommando zu berichten hatten, veranlaßte die amerikanischen Militärs unverzüglich zum Handeln. Über Hiroshima und Nagasaki wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Nicht einmal Gedichte und Zeichnungen, die in den ersten Jahren nach der Explosion entstanden, passierten den amerikanischen Zensor, geschweige denn solche Erfahrungen, wie sie die »Kinder von Hiroshima« später aufgeschrieben haben. Erst als die USA und Japan 1951 den Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet hatten, wurde die Nachrichtensperre aufgehoben.

So makaber es klingt, aber die Leiden der Opfer, ihre Krankheiten und Schmerzen stellten für die amerikanische Atomwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir für Forschungen dar. Um die Untersuchungen möglichst systematisch zu betreiben, richteten die Amerikaner 1949 in Hiroshima eine Kommission für Atombombenopfer ein (»Atomic Bomb Casualty Commission«, kurz ABCC), ein Institut, das die wichtigsten Daten über die in Hiroshima in Verbindung mit der Atombombe auftretenden Krankheiten gesammelt hat. Seit Anfang der fünfziger Jahre sind japanische Ärzte und Wissenschaftler ebenfalls daran beteiligt; die gewonnenen Forschungsergebnisse werden zweisprachig veröffentlicht.

Weitgehend unerforscht bis auf den heutigen Tag sind allerdings die möglichen Folgen der Bestrahlung für die menschliche Erbmasse. Beschädigungen der Chromosomen können noch in der zweiten oder dritten Generation zu Mißbildungen führen. Mit dieser Angst müssen die 367.000 anerkannten Atombombenopfer in Japan leben, diese Angst bestimmt ihr Leben. Zu den möglichen Veränderungen der Erbmasse heißt es bei Hoffmann (1980): „Die Genetiker sind sich darüber einig, daß eine Verdoppelung der genetischen Effekte ernsthafte Folgen für die Bevölkerung eines Landes haben wird. Bereits eine addierte Strahlenzufuhr von 30 bis 80 Röntgen über die 30 Jahre einer Generation könnte diesen verheerenden Effekt hervorrufen. Hierzu ist nur eine vergleichsweise beschränkte Anzahl an Atomexplosionen in einem Nuklearkrieg nötig. Schon 750 Sprengungen von je 20 MT (Megatonnen) reichen aus, um die gesamte Menschheit genetisch zu entstellen.“

Die ABCC hatte nicht die primäre Funktion, den Überlebenden zu helfen. Auch von Seiten der japanischen Regierung aus waren die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha völlig ungenügend. Die meisten von ihnen sind in einen Teufelskreis aus Armut und Krankheit geraten, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nur begrenzt arbeitsfähig. Im Jahre 1952 trat zwar in Japan ein Gesetz über Entschädigungen von Kriegsschäden in Kraft, schloß Hibakusha jedoch mit der Begründung aus, es handele sich hierbei um Zivilisten, die nicht unter den Verordnungen dieses Gesetzes erfaßt würden. So gründeten im gleichen Jahr die beiden Schriftsteller Toge und Tamashiro in Hiroshima eine Organisation, die 1953 zu der Entstehung eines „Hiroshima City Council“ führte.

Mit Hilfe einer landesweiten Spendenaktion und Geldern der Regierung in Tokio konnte drei Jahre später endlich ein Hospital für die Überlebenden des nuklearen Holocaust eingerichtet werden. Viele tausend Patienten erhielten seitdem von Spezialisten von Strahlenkrankheiten und anderen Fachärzten eine medizinische Behandlung. Noch mehr warteten allerdings vergeblich auf einen Platz im Atombombenkrankenhaus; die einen weil das Hospital ausgelastet war, die anderen, weil sie die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen konnten. Im Jahre 1982 waren 150 Atombombenkranke im Hospital untergebracht. Das Durchschnittsalter der Dauerpatienten betrug 71 Jahre, der jüngste Patient war 36 Jahre alt – er wurde bereits im Mutterleib bestrahlt (Vinke 1986, S. 97).

Ein Gesetz über die Behandlung der Atombombenopfer wurde erst im Jahre 1957 beschlossen. Zwölf Jahre vergingen also, bis erste Versorgungsregelungen für die Hibakusha durchgesetzt werden konnten. Bis 1968 mußten die Überlebenden warten, um eine unentgeltliche ärztliche Betreuung zu bekommen. Trotz allem ist auch heute noch die materielle Situation der Hibakusha mehr als unbefriedigend. Alljährlich sterben viele, denen es bis heute nicht gelang, eine bescheidene Rente zu erhalten.

Um so erstaunlicher ist es, daß zahlreiche Atombombenüberlebende den Mut und die Kraft fanden, auf zahlreichen internationalen Konferenzen, u.a. schon 1955 auf der ersten Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, Zeugnis von ihren Leiden abzulegen. Das Engagement der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist bis heute beispielhaft für die weltweite Mobilisierung gegen die Atomrüstung. Im Jahre 1978 reisten z.B. 500 von ihnen zur ersten Sondertagung der Vereinten Nationen zur Abrüstung nach New York und übergaben 32 Millionen Unterschriften zur Ächtung der Atombombe. Sofern es ihre Gesundheit erlaubt, bereisen sie andere Länder, um von ihrem Schicksal zu berichten und die Öffentlichkeit für atomare Abrüstung zu mobilisieren.

Über die Hiroshimapiloten Paul Tibbets und Claude Eatherly

Das vorangehende und mit „Hiroshima“ betitelte Gedicht trifft zumindest auf Oberst Tibbets zu, der sich als der Atombombenpilot, der die Bombe letztendlich »ausklicken« ließ, mehrere Male zu seinem Einsatz am 6. August 1945 geäußert hat. Zeichen von Reue, Scham oder Mitgefühl ließ Tibbets dabei nicht erkennen. Dafür ließ er sich mit Überlebenden fotographieren, als Beleg einer makaberen »Versöhnung«. Die folgenden Gesprächsauszüge sind der Zeitschrift „Metall“ vom 26. August 1981 entnommen (Vinke 1986, S. 110ff.):

“Frage: Wie denken Sie heute über die Bombardierung von Hiroshima und über Ihren Auftrag – bedauern Sie es?

Tibbets: Ich bedaure überhaupt nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs war ich von seiner Notwendigkeit überzeugt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. (…)

Frage: Hätten Sie nicht 'nein` sagen können?

Tibbets: Das hat man mich schon oft gefragt. Aber nun frage ich Sie: Was wäre wohl geschehen, wenn jemand in der deutschen Wehrmacht zu Hitler 'nein` gesagt hätte? Ich bin als Soldat aufgewachsen, bin dazu erzogen worden, Befehle von kompetenter Autorität zu befolgen. Und damals bekam ich meine Instruktionen von allerhöchster Stelle. (…)

Frage: Seit Jahren wird am 6. August auf der ganzen Welt der Hiroshimaopfer gedacht. Haben Sie ein schlechtes Gewissen an diesem Tag?

Tibbets: Nein. Damit halte ich mich nicht auf. Darüber denke ich nicht nach. All das ist Vergangenheit. Hiroshima ist Geschichte. Es war eine Lektion, gewisse Dinge konnte man daraus lernen. Aber es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muß ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“

Diese Worte sprechen für sich. Sie bedürfen eigentlich kaum noch einer Kommentierung – oder vielleicht doch? Wie ist das Ausbleiben jeglicher Humanität und Moral zu erklären? Oder ist sein Gehorsam nicht völlig »normal« gewesen? Diese Fragen wären einen eigenständigen Aufsatz wert<0> <>! Psychologisch sei an dieser Stelle nur an das zigfach replizierte Milgram-Experiment (1974) erinnert, bei dem weit über die Hälfte aller (männlichen<0> <>!) Versuchspersonen von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre (simulierten) Opfer mit einer tödlichen Stromstärke von 450 Volt zu bestrafen. Bei interkulturellen Vergleichsstudien war die Quote derjenigen, die bis zur vollen Bestrafung tendierten, in Deutschland übrigens am höchsten (Mantell 1971). Insofern macht die rhetorische Gegenfrage Tibbets bezüglich Nazi-Deutschland bei aller Absurdität sogar noch Sinn.

Auch Major Claude Eatherly saß im Flugzeug, das am 6. August 1945 die Bombe abwarf. Jungk schreibt zum Anblick eines Photos von Eatherly (Anders 1982, S. 196ff.): „Wer das Photo des jungen Claude Robert Eatherly betrachtet, des Kriegsfreiwilligen, der sich zur amerikanischen Luftwaffe meldete, sieht in das Gesicht des typischen amerikanischen »clean cut boy«. Es steht noch nicht viel darin geschrieben, aber das Wenige scheint alle Lesebuchtugenden wiederzugeben: Gradheit, Mut, Sauberkeit und Unschuld. Tausende und Tausende solcher Milchbärte sind damals zu den Waffen geeilt, um für »decency and democracy« gegen die Barberei des Nationalsozialismus zu kämpfen. Der Student Eatherly durfte, als er von der Lehrerbildungsanstalt in die Kaserne hinüberwechselte, noch daran glauben, daß Freiheit und Menschlichkeit sich mit Waffengewalt verteidigen ließen.“

Es wird erzählt, daß Major Eatherly nach dem erschütternden Erlebnis Hiroshima tagelang mit niemandem mehr gesprochen habe. Man nahm das jedoch auf dem Inselstützpunkt Tinian, wo der Flieger mit seiner Bombertruppe auf die Demobilisierung wartete, nicht besonders ernst. »Battle fatigue« – »Schlachtenmüdigkeit« hieß dieser Zustand. Von ihm wurde mancher befallen, und Eatherly selbst hatte schon einmal im Jahre 1943, nach 13 Monate langem, ununterbrochenem Partouilliendienst im südlichen Stillen Ozean an solcher nervlichen Erschlaffung gelitten. Damals hatte er sich schon nach vierzehntägiger Behandlung in einer New Yorker Klinik wieder erholt, und auch diesmal schien er ziemlich bald wieder zu dem Geisteszustand zurückzukehren, den man unter den Veteranen des Pazifiks als »normales Benehmen« in Ruhezeiten betrachtete: stundenlanges Pokern, unterbrochen von Flüchen, Witzen und Reminiszenzen.

Bald nach der Abmusterung, nach Hause zurückgekehrt, versuchte Eatherly – wie alle um ihn herum – zu vergessen, Geld zu verdienen, sich seinem Privatleben zu widmen. Er arbeitete als Angestellter eines Petroleumkonzerns in Houston, wo er es bis zum Verkaufsdirektor brachte. Tagsüber ging er ins Büro, abends besuchte er eine weiterbildende Schule, um Rechtswissenschaft (!) zu studieren. Seit 1943 war Eatherly verheiratet mit einer jungen Schauspielerin, die er während seiner Ausbildungszeit in Kalifornien kennengelernt hatte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sich die beiden stets nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen lang sehen können. Nun führten sie endlich ein etwas normaleres Leben mit Haus, Garten, Kindern und bescheidener sozialer Aufstiegschance.

Doch das war nur die eine Seite seines Lebens; in den Nächten quälten den Kampfflieger zunehmend Ängste und die Schatten von Gesichtern. Noch konnten ein paar Drinks die Depressionen und ein paar Pillen die Schlaflosigkeit verscheuchen. Doch schon bald genügten so einfache Beruhigungsmittel nicht mehr. Eatherly meinte in seinen Träumen die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima Verbrennenden zu sehen. Im Gegensatz zu Paul Tibbet litt Claude Eatherly unter der Schuld, als Mitglied der Flugzeugbesatzung mitverantwortlich einen Befehl ausgeführt zu haben, der zur Auslöschung einer Stadt und eines Großteils ihrer Bewohner führte. Sein Schuldbekenntnis mußte in einer Zeit, als man die Kriegsheimkehrer in Amerika als Helden feierte, verhindert werden. Eatherly begann an Depressionen zu leiden und versuchte 1950, sich das Leben zu nehmen, nachdem er von der Planung der Wasserstoffbombe erfahren hatte, die den Effekt der Hiroshima-Bombe noch um ein Vielfaches übertreffen sollte. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Militärhospital, der keine Veränderung seines depressiven Zustands bewirkte, beschloß er, das nationale Leitbild des Kriegshelden an Hand seiner eigenen Person zu dementieren. Er beging geringfügige Delikte, schickte gefälschte Schecks an Anti-Atom-Organisationen in Hiroshima und unternahm einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem er das erbeutete Geld unangetastet liegenließ. Klinikaufenthalte und Gerichtsverhandlungen wechselten sich ab, bis er 1959 auf Veranlassung seines Bruders für längere Zeit eingewiesen wurde. Jungk (1961, S. 13) kommentierte den »Fall Eatherly« wie folgt: „Immerhin hat Major Eatherly etwas erreicht, das er sich vornahm. Es ist ihm schließlich doch gelungen, die Öffentlichkeit auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen. Allerdings reagierte sie zunächst auf die Nachrichten über den »verrückten Piloten von Hiroshima« ganz anders, als Eatherly gehofft hatte. Er wollte die Menschen aufrühren, aber er rührte sie nur.“

In diese Zeit fiel der berühmt gewordene 70 Briefe umfassende Schriftwechsel mit dem Philosophen Günther Anders, der sich zu einer wahren Brieffreundschaft entwickelte, die für beide Seiten sehr wertvoll wurde. Als Eatherly die Nervenklinik verlassen hatte, verstärkte sich seine Korrespondenz mit zahlreichen Persönlichkeiten und Gruppen, die ein Ende des Rüstungswettlaufs forderten. Sein Engagement wurde von den Behörden als psychischer Defekt interpretiert und führte abermals zu einer Einweisung ins Hospital, diesmal auf eine geschlossene Abteilung. In dieser Situation durfte Eatherly auch keine Briefe mehr nach draußen schicken. Im Herbst 1960 floh er aus dem Hospital, versteckte sich bei Freunden und beschloß, nach Mexico auszuwandern. Im Dezember 1960 wurde Eatherly jedoch von einer Polizeistreife aufgegriffen, nachdem kurz zuvor eine Großfahndung ausgelöst worden war, und erneut in das Militärhospital eingewiesen. Eatherly gelang 1962 noch einmal die Flucht aus dem Hospital. Obwohl die zuständigen Behörden Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatten, reagierten sie nicht mehr. Der Briefwechsel zwischen Eatherly und Anders wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er erschien in politisch so unterschiedlichen Ländern wie dem francistischen Spanien und der Sowjetunion.

Unter allen Teilnehmern an den beiden Atombombardements war Claude Eatherly wohl der einzige, der der Versuchung widerstand, sich als Held feiern zu lassen. Für Anders (1982, S. 359) war er „der erste, der das Kennzeichen unserer Epoche in die Sprache persönlichen Lebens übersetzt hat – der erste, dessen persönliches Leben ausschließlich von den Gegebenheiten und Ängsten des Atomzeitalters bestimmt worden ist –, der erste, der es abgelehnt hat, mit dem Verhalten konform zu gehen, das eine konformistische Gesellschaft fordert –, der sich selbst darauf beschränkt hat, zu warnen statt sich darauf zu verlegen, die Gefahr zu verharmlosen, zu übertreiben oder Nutzen aus ihr zu ziehen, wie man es von uns erwartet. (…) Der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache.“

Zur Gefahr eines Atomkrieges in den 90er Jahren

Auf längere Sicht muß man (…) erwarten, daß die Zahl der atomar bewaffneten Mächte – jetzt sind es die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China – zunimmt. Die Gefahr eines Atomkriegs und die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Folgen für Klima und globale Ökologie würden sich dann enorm vergrößern.

Crutzen/Hahn 1985, S. 233

Am Ende dieses Artikels steht die Frage, was diese Gefahr eigentlich qualitativ für Konsequenzen nach sich zieht. Nach 1945 mußte die Welt begreifen lernen, daß tatsächlich eine neue Epoche angebrochen war. Der Physiker Albert Einstein, selbst an der Entwicklung der Bombe beteiligt, sprach bald darauf den bemerkenswerten Satz aus (vgl. Gottstein 1986, S. 51): „Im Zeitalter der Nuklearwaffen braucht die Menschheit ein substantiell neues Denken, wenn sie überleben will.“ Das neue Denken ließ jedoch auf sich warten. Seit Hiroshima und Nagasaki wurden weit mehr als 1000 Atomtestexplosionen durchgeführt, Hiroshima und Nagasaki sind millionenfach reproduzierbar und potenzierbar geworden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war der Philosoph Günther Anders einer der ersten, der die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki in ihrer ganzen Dimension erkannte. Anders begriff dieses Ereignis als »Tag Null einer neuen Zeitrechnung«, als das Ereignis, von dem aus alles anders sein würde. Denn diese Taten bewiesen, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, sich selbst – und noch mehr – auszulöschen. Dieses ungeheure Vorkommnis, dessen Dimensionen erst allmählich sichtbar wurden, stellten den Auftakt der globalen Bedrohung der Menschheit dar. Dieses neue Zeitalter wurde nicht nur von Anders als »Endzeit« bezeichnet. Denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Erde eines Tages wieder atomwaffenfrei abzurüsten, kann das Wissen, was einmal erdacht wurde, nicht wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit verbannt werden.

An Szenarien über die Bedeutung eines Atomkrieges heutzutage mangelt es nicht. Die direkten Auswirkungen auf uns Menschen, d.h. die physischen und psychischen Folgen, sind wiederum auf erschütternde Art und Weise bei Lifton (1985, S. 283ff.) beschrieben: „Versuchen Sie sich einmal 100 Millionen oder mehr Tote und ein riesiges mit tödlicher Radioaktivität verseuchtes Gebiet vorzustellen (…).“ Die Szenen würden an das erinnern, was wir aus Science-Fiction-Filmen kennen. Das Zielgebiet, karg und verlassen, würde einer Mondlandschaft gleichen, und die wenigen Überlebenden hätten die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu helfen oder zu trösten. Es gäbe niemand, um die Verwundeten zu pflegen oder sie in Krankenhäuser zu bringen, es gäbe gar keine Krankenhäuser, kein Morphium und keine Antibiotika mehr. Auch könnte niemand die Überlebenden mit dem Vertrauen in die Kontinuität des Lebens erfüllen, die gerade Katastrophenopfer so dringend benötigen. Sie würden erkennen, daß alle Menschen und alle Dinge, die ihnen jemals etwas bedeutet haben, zerstört worden sind. Und niemand der Überlebenden würde in der Lage sein, dem grundlegendsten aller menschlichen Rituale zu folgen, nämlich die eigenen Toten zu bestatten. Lifton schließt (1985, S. 288): „Die so oft gestellte Frage, ob die Überlebenden die Toten beneideten, hätte eine einfache Antwort: Nein, die Überlebenden wären solcher Gefühle gar nicht mehr fähig. Sie würden die Toten nicht so sehr beneiden als ihnen, innerlich und äußerlich, sehr ähnlich.“

Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde (vgl. Boehnke et al. 1988, Sohr 1993) belegen, daß Ängste vor einem Atomkrieg in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet waren und daß diese Bedrohungsgefühle auch in den 90er Jahren nicht aus den Köpfen völlig verschwunden sind. So hält fast jeder zweite der befragten Jugendlichen einen Atomkrieg „in der Zukunft“ für „ziemlich wahrscheinlich“. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig Widerstand sich in den letzten Jahren gegen diese negativen Zukunftsaussichten regte, insbesondere auch gegenüber den auf Jahrtausende bestehenden Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Anders (1987, S. 13f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß wir Heutigen „im Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ leben. Angesichts der Größe der uns umgebenden Gefahren gelänge es uns nicht, adäquat zu reagieren, wir seien geradezu »Analphabeten der Angst« und »apokalypseblind«. Aus diesem Grund postuliert Anders, unsere Mitmenschen „zur Angst zu erziehen“.

Als psychologisch bedeutsam scheint sich zu erweisen, was Lifton als »psychische Abstumpfung« bezeichnete (vgl. oben). Obwohl das Phänomen dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung und im Verhalten der Apathie ähnelt, stellt diese Abstumpfung dennoch eine spezielle Reaktionsform auf eine überwältigende äußere Bedrohung dar. Die psychische Abstumpfung, die durch die Katastrophe von Hiroshima erzeugt wurde, beschränkt sich nicht nur auf die Opfer selbst, sie erstreckt sich auch auf die Menschen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Unsere Unfähigkeit, uns den Tod vorzustellen, der ausgefeilte Mechanismus der Verdrängung und das tiefe innere Bedürfnis des Menschen, für sich den Anschein der Unsterblichkeit zu erwecken, sind allgegenwärtige Hindernisse beim Nachdenken über den Tod.

Dieser Artikel wurde mit der Intention geschrieben, an der Überwindung dieser Abwehrmechanismen zu arbeiten. Falls wir der Gefahr, in der wir heute schweben, überhaupt begegnen können, dann wohl nur, wenn wir bereit sind, uns die Folgen eines atomaren (und ökologischen) Infernos auch nur ansatzweise vorzustellen. Von dieser Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Widerstandes ist, hängt möglicherweise das Überleben der Menschheit ab. Wenn wir dagegen weiterhin der Verdrängung Vorschub leisten, waren alle Worte umsonst, wie Jungk mahnt (1982, S. 195): „Millionen Worte sind seit 1945 von westlichen Fachleuten über die »Effekte der Kernwaffen« geschrieben worden. Dennoch klafft in dieser umfangreichen Literatur eine ganz wesentliche Lücke. Wohl haben Sachverständige Tausende von Trümmern, Zehntausende von Überlebenden der großen Katastrophe genauestens untersucht, aber sie schlossen etwas sehr Wichtiges von ihren so gründlichen Studien aus: sich selbst.“

Literatur

Anders, G. (1982), Hiroshima ist überall. München: Beck.

Anders, G. (1987), Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck.

Boehnke, K., Meador, M., Macpherson, M.J., Petri, H. (1988), Leben unter atomarer Bedrohung – Zur Bedeutung existentieller Ängste im Jugendalter. Gruppendynamik 19 (4), 429-452.

Crutzen, P.J. & Hahn , J. (1985), Schwarzer Himmel. Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt. Frankfurt: Fischer.

Gottstein, U. (1986), 40 Jahre nach Hiroshima: Teststop – unser aller Chance. In T. Bastian, Wir warnen vor dem Atomkrieg. Dokumentation zum 5. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung des Atomkriegs in Mainz. Neckarsulm: Jungjohann.

Greune, G. & Mannhardt, K. (1982), Hiroshima und Nagasaki. Köln: Pahl-Rugenstein.

Hoffmann, H. (1980), Atomkrieg – Atomfrieden. München.

IPPNW (1985), Last Aid. Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges. Neckarsulm: Jungjohann.

Jungk, R. (1961), Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders. Reinbek: Rowohlt.

Komitee zur Dokumentation der Schäden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki (1988), Leben nach der Atombombe. Hiroshima und Nagasaki 1945-1985. Frankfurt/Main: Campus.

Lifton, R.J. (1966), Death in Life: Survivors of Hiroshima. New York: Basic Books.

Lifton, R.J. (1985), Psychologische Auswirkungen der Atombombenabwürfe. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 48-68). Neckarsulm: Jungjohann.

Lifton, R.J. & Erikson, K. (1985), Überlebende eines Atomkrieges: Psychologischer und sozialer Zusammenbruch. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S. 283-288). Neckarsulm: Jungjohann.

Mantell, D.M. (1971), Das Potential zur Gewalt in Deutschland. Eine Replikation und Erweiterung des Milgramschen Experiments. In: Der Nervenarzt 5, S. 252-57.

Milgram, S. (1974), Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt.

Ohkita, T. (1985), Medizinische Auswirkungen in Hiroshima und Nagasaki. In IPPNW, Last Aid, Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges (S.69-107). Neckarsulm: Jungjohann.

Sohr, S. (1993), „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“. Seelische Gesundheit junger Menschen im Zeichen globaler Katastrophen. FU Berlin: unv. Diplomarbeit.

Vinke, H. (1986), Als die erste Atombombe fiel. Kinder aus Hiroshima berichten. Ravensburg: Otto Maier.

Sven Sohr ist Diplom-Psychologe und arbeitet zur Zeit an einer von buntstift/Regenbogen e.V. geförderten Dissertation über ökopolitisches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Dienstanschrift: TU Chemnitz-Zwickau, Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, 09107 Chemnitz (Fax: 0371-5613925).