„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

„Ich gehöre zu den Leuten, die den Einsatz der Bomben für angemessen hielten“

Interview mit Dr. Frederick Seitz

von Dr. Frederick Seitz und Bernd W. Kubbig

Wir haben Prof. Seitz gebeten, als ehemaliger Mitautor von »One World or None« seine Haltung zu den Atombombenabwürfen darzulegen.

Ich war Ende Juli 1945 gerade von einem etwa dreimonatigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt, als die Bomben auf Japan fielen. Vor meiner Abreise nach Europa hatte ich beim Manhattan District gearbeitet, wurde jedoch vom Verteidigungsministerium zu einer Sondermission nach Europa geschickt. Während ich im Pentagon noch auf die letzten Vorkehrungen für meine Reise wartete, hatte ich reichlich Zeit, mit einigen Leuten (im April 1945) darüber zu sprechen, was im Hinblick auf die bevorstehende Invasion Japans als nächstes zu erwarten wäre. Da die Japaner – Zivilisten wie Militärangehörige gleichermaßen – bei der Invasion von Okinawa erbitterten Widerstand geleistet hatten, wurde selbstverständlich angenommen, daß dies auch für das Festland gelten würde. 15 % unserer Verluste während des Krieges waren allein bei der Invasion von Okinawa zu beklagen. Die günstigste Schätzung ging davon aus, daß eine direkte Invasion Japans mindestens ein Jahr dauern würde und unsere Armee dabei möglicherweise mit Verlusten im Bereich von einer Million rechnen müßte.

Vor diesem Hintergrund hielt ich es für richtig, die Wirkung der Bombe an einer japanischen Stadt zu demonstrieren, in der Hoffnung, daß dadurch der Kaiser zur sofortigen Beendigung des Krieges bewogen werden könnte. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Ich kenne kein ernstzunehmendes »offizielles« Dokument, in dem die zu erwartenden amerikanischen Verluste mit lediglich 40-50.000 Soldaten angegeben wären. Die mir aus den obengenannten Gesprächen im Pentagon bekannten Schätzungen lagen weitaus höher.

Auch wenn ich durchaus bereit gewesen wäre, mit dem Abwurf der zweiten Bombe, diesmal auf Nagasaki, noch etwas abzuwarten, hatte ich keinerlei Einwände gegen Präsident Trumans Entscheidung, zumal so viel auf dem Spiel stand. Er war im Grunde human gesinnt, hatte aber eine enorme Verantwortung zu tragen. Sicher wog er die Alternativen gegeneinander ab und kam zu dem Schluß, daß der baldige Einsatz der zweiten Bombe die Handlungsweise des Kaisers entscheidend beeinflussen würde, was dann ja auch der Fall war.

Da der Krieg in Europa beendet war, bevor wir in der Lage waren zu zeigen, ob die Bombe funktioniert, stand eines im Sommer des Jahres 1945 fest: Sollte die Bombe im Zweiten Weltkrieg überhaupt zum Einsatz kommen, dann gegen Japan. Aufgrund meiner Abneigung gegen Krieg in jeder Form glaubte ich, daß alles recht war, um dem Blutvergießen ein rasches Ende zu setzen. Die Ereignisse hatten keine besondere Auswirkung auf meine Einstellung zu meiner beruflichen Tätigkeit als Physiker.

Ich gehöre zu der Gruppe von Leuten, die den Einsatz der Bomben angesichts der Umstände, die im September 1945 auf unsere Regierung zukamen, für angemessen hielt.

Ich glaube, daß die Gründe, warum viele Wissenschaftler nicht bereit waren und sind, ihre Arbeit in den Dienst nationaler oder internationaler Verteidigung zu stellen, sehr komplex sind und über eine bloße Abneigung gegen die Anwendung der Bombe hinausgehen. Allgemeine sozialpolitische Einstellungen sind hierbei entscheidender. Eine vorurteilsfreie Betrachtung dieses Themas ist sicher sehr schwierig.

Über Frederick Seitz
Frederick Seitz, geb. 1911, ist President Emeritus der Rockefeller University in New York und war in den sechziger Jahren Präsident der National Academy of Sciences in Washington, D.C. 1973 erhielt er für seinen Beitrag zur Entwicklung der Quantentheorie die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der USA, die National Medal of Science. Zusammen mit Hans Bethe prognostizierte Seitz in dem Aufsatz „How Close is the Danger?“, 1946, im programmatischen Sonderheft „One World or None“ der Federation of American Scientists erschien: in höchstens sechs Jahren seien in anderen Ländern A-Bomben verfügbar. Im Hinblick auf die UdSSR, die 1949 die erste Waffe dieser Art testete, war die Vorhersage recht präzise.
Im Gegensatz zu Bethe – und gemeinsam mit Edward Teller, mit dem ihn ein ausgeprägter Antisowjetismus und eine Ablehnung von Rüstungskontrollverträgen verbindet – wurde Seitz in den achtziger Jahren zu einem der stärksten SDI-Befürworter. Allerdings plädierte er für möglichst bald aufstellbare – aber damit militärisch wenig wirksame – Raketenabwehrwaffen. Diese Forderung machte ihn gleichzeitg zu einem Kritiker derjenigen Reaganschen SDI-Programme, die auf einen möglichst perfekten, aber erst in ferner Zukunft stationierbaren Abwehrschirm abzielten. Auch unter den heutigen veränderten Rahmenbedingungen hält Seitz – wie Teller – angesichts der aus seiner Sicht bestehenden Bedrohungen aus der Dritten Welt Raketenabwehrwaffen für notwendig.
Das schriftliche Interview mit Dr. Frederick Seitz führte Dr. Bernd W. Kubbig. (Übersetzung: Helga Wagner.)

„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

„Die Bombe verschonte japanische Menschenleben“

Hans Bethe* und die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki

von Mary Palevsky

„Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen“

„Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten“

Bethe hielt den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache.

„Die Bombe ist ein schlimmes Ding und wir dürfen sie niemals wieder einsetzen.“

Dr. Hans Bethe

Der zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland geborene Bethe erlebte nach dem 1. Weltkrieg aus erster Hand die nationalistische Gegenreaktion auf die harten Bestimmungen des Versailler Vertrages. Dieser Nationalismus brachte die Nazis an die Macht.

Da Bethes Mutter Jüdin war, durfte der junge Physiker nach den ersten judenfeindlichen Gesetzen nicht mehr im Staatsdienst arbeiten. Da alle Universitäten in Deutschland staatliche waren, verlor der 27-jährige Bethe seine Assistenzprofessur in Tübingen. Wie so viele Wissenschaftler, Intellektuelle und Akademiker floh er vor dem sich ausbreitenden Faschismus aus Europa.

1933 erhielt Bethe eine zeitlich befristete Anstellung in England, und 1935 übernahm er die Stellvertretung einer Assistenzprofessur an der Cornell University im Bundesstaat New York. J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Labors in Los Alamos, fragte ihn 1943, ob er die Abteilung für theoretische Physik des Bombenprojekts leiten wolle.

Nach dem Krieg war Bethe einer der Mitbegründer der »Federation of American Scientists« und ein führender Sprecher von über das Wettrüsten beunruhigten Naturwissenschaftlern. Er war gegen die Eile, mit der die USA die Entwicklung der Wasserstoffbombe betrieben, und unterstützte einen Atomteststopp und das »Nuclear Freeze Movement«. Vehement sprach er sich gegen die »Star Wars« genannte Strategische Verteidigungsinitiative aus.

Für seine Arbeit über Kernreaktionen und vor allem seine Entdeckung der Energie freisetzenden Kernprozesse in Sternen erhielt Bethe 1967 den Nobelpreis für Physik. Heute ist er Emeritus der Cornell University, wo er kürzlich für seine 60jährige Mitgliedschaft in der Fakultät für Physik geehrt wurde.

(…)

Für Bethe gab es drei Möglichkeiten, den Krieg im Pazifik zu beenden: Blockade, Invasion oder die Atombombe. Er glaubt nicht, daß es ohne eine dieser Optionen zu einer Kapitulation gekommen wäre. Vielmehr seien die japanischen Friedensannäherungen an Moskau von Anfang an durch Stalins expansionistische Ambitionen im Fernen Osten zum Scheitern verurteilt gewesen.

Bethe beginnt mit einer Diskussion der Option einer Blockade. „Auf dem Meer und in der Luft waren wir völlig überlegen. Die Japaner waren auf Ölimporte angewiesen; das wird auch wahrscheinlich der Hauptgrund gewesen sein, warum sie Pearl Harbor angegriffen haben. Und ohne Öl konnten sie den Krieg nicht fortsetzen.“ Eine längere Blockade hätte ein Aushungern des japanischen Volkes bedeutet.

Ein Argument gegen eine Blockade aus amerikanischer Sicht war, daß die Truppen ungeduldig nach Hause wollten. Nach der Kapitulation wäre eine noch größere Unterstützung Japans notwendig gewesen. Doch Bethes wichtigstes Argument gegen eine Blockade war die mögliche Wirkung auf die japanische Bevölkerung. „… zweifellos wäre eine Blockade erfolgreich gewesen, doch sie hätte in Japan zu starken Ressentiments geführt, ähnlich denen, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Sie hätte wahrscheinlich für die gleichen negativen Gefühle gesorgt, die ich … Anfang der 20er Jahre erlebt habe. Der deutsche Slogan »Im Felde unbesiegt« war der Keim der Nazi-Bewegung. Ich glaube, Roosevelt und ebenso die Briten … hatten dies vor Augen, als sie die bedingungslose Kapitulation forderten. Sie wollten derlei Reden weder in Japan noch in Deutschland.“

Seine glanzvolle Karriere als amerikanischer Physiker hat Bethe weit von dem Deutschland seiner Jugend entfernt. Doch seine persönliche Erfahrung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und des Nazi-Terrors, der aus ihr hervorgegangen ist, lassen ihn ernstlich die potentiellen Gefahren einer anhaltenden Blockade Japans in Betracht ziehen. Das gleiche Moment spielt in seinen Argumenten gegen eine Invasion der japanischen Hauptinseln (die zweite Alternative) eine wichtige Rolle. „Neuerdings wird viel darüber geschrieben, daß eine Invasion viel weniger teuer zu stehen gekommen wäre, als man früher behauptet hat. Truman und [sein Kriegsminister] Stimson haben die Zahl der möglichen Todesopfer auf eine halbe bis zu einer ganzen Million geschätzt. Ich denke, diese Aussagen sind wahrscheinlich richtig.“

Ich frage Bethe, wie er über die Diskrepanz dieser Zahlen zu den Opferschätzungen denkt, über die unlängst in der Presse geschrieben worden ist. Was er von der Behauptung mancher Historiker hält, die Schätzungen, die noch zu Kriegszeiten gemacht wurden, seien wesentlich niedriger gewesen.

Bethe antwortete: „Ich bin davon überzeugt, daß die Zahlen, die jetzt immer wieder genannt werden, der Phantasie entspringen. … Schließlich hatten wir die Erfahrung mit den Inseln [Iwo Jima und Okinawa]. Die Japaner hätten jetzt ihre Hauptinseln zu verteidigen gehabt, und die Kämpfe wären wahrscheinlich noch erbitterter gewesen.“

Obwohl ich nach den Todesopfern auf Seiten der Alliierten frage, antwortet Bethe mit einer Erörterung der möglichen japanischen Verluste. Er betont, daß im Fall einer Invasion die Zahl der gefallenen japanischen Soldaten höher gewesen wäre als die der Alliierten und daß die Opfer in der Zivilbevölkerung gewaltig gewesen wären.

Allein auf Okinawa starben 75.000 Zivilisten. Nur schattenhaft kann ich hinter dieser abstrakten Zahl das Bild der fürchterlichen Zerstörungen erkennen, das sie bedeutet. Doch als Bethe weiterspricht, erhellt sich blitzartig die grausame Realität des Krieges in meinem Bewußtsein.

„Bei einer Blockade oder einer Invasion wären die Brandbombardements fortgesetzt worden. Die Opfer [der Brandbomben] in Tokio kamen nahe an die von Nagasaki heran. Wir müssen uns vor Augen halten, daß diese Bombenangriffe Woche für Woche weitergegangen wären. Die Zahl der Toten und die Zerstörung wären um ein Vielfaches größer gewesen als die von Hiroshima und Nagasaki.“

„Und dann ist es wichtig“, fährt er fort, „über den sowjetischen Kriegseintritt zu sprechen. Wir haben die Sowjets im Februar 1945 in Jalta inständig gebeten, in den Krieg im Osten einzutreten. Das haben sie auch getan, aber erst nach Hiroshima. Ich denke, es war ein Fehler, sie darum zu bitten. Denn zu diesem Zeitpunkt, im Februar 1945, war es ja schon klar, daß wir eine Uran-235-Bombe haben würden. Es stand außer Frage, daß sie funktionieren würde. Es war nur eine Frage der Lieferung des nötigen Materials.“

„[Die Sowjets] wollten in den Krieg eintreten. Und natürlich haben sie sofort die Mandschurei erobert. Stalin wollte die nördliche Hälfte von Hokkaido erobern, das eine der Hauptinseln ist [… und] etwa ein Zehntel der [japanischen] Bevölkerung ausmacht. Wir hätten hier dieselben Schwierigkeiten gehabt wie mit der sowjetischen Besetzung in Deutschland. … Es wäre eine sehr schwierige Situation für die Japaner geworden.“

Angesichts der späteren Erfahrung, meint Bethe, seien die möglichen Probleme mit der Sowjetunion ein weiterer Beweis dafür, daß die Entscheidung für den Bombeneinsatz richtig gewesen sei. Dennoch kann er nicht der Behauptung zustimmen, die Bombardements seien Akte einer primär gegen die UdSSR gewandten »Nukleardiplomatie« gewesen. Die Bombe sei eingesetzt worden, um den Krieg schnell zu beenden und das Leben alliierter Soldaten zu retten.

Ich kenne viele in Europa geborene Wissenschaftler, die sich mit all ihrer Kraft für das Bombenprojekt eingesetzt haben, weil sie Angst davor hatten, das Dritte Reich könne dank einer Atomwaffe unbesiegbar werden.

Selbst der Pazifist Albert Einstein hatte 1939 sich mit einem Brief an Präsident Roosevelt gewandt, in dem er dafür warb, ein Atombombenprojekt ins Leben zu rufen. Später betrachtete er diesen Brief als den großen Fehler seines Lebens, dennoch meinte er, die deutsche Bedrohung hätte sein Handeln in gewisser Hinsicht gerechtfertigt.

Bethe erinnert sich: „Wir alle zogen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland, das wir für eine Bedrohung der ganzen Welt hielten. Schließlich hatten die Nazis … Kontinentaleuropa erobert. Ich erinnere mich noch an ihren Slogan 'Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!` Die Flüchtlinge aus Europa (und) die meisten führenden Wissenschaftler Amerikas beteiligten sich mit großer Begeisterung an einem Unternehmen, mit dem der Krieg gegen Deutschland gewonnen werden sollte.“

Auf meine Frage, ob der Sieg über Deutschland nicht die Voraussetzungen für die Entwicklung der Bombe geändert hätte, meint Bethe, er habe von Anfang an den Einsatz der Bombe für eine ausgemachte Sache gehalten. Das Ziel des Manhattan-Projektes sei der Bau einer Atombombe gewesen und der Krieg war lang und hart. Nach der Fertigstellung der Bombe würde man sie gegen Deutschland oder Japan einsetzen.

Hier befand sich Bethe im Widerspruch zu seinem Freund, dem ungarischen Physiker Leo Szilard. Szilard war die treibende Kraft hinter dem bekannten Brief an Einstein. Aber nachdem klar war, daß die Deutschen den Krieg verlieren, argumentierte Szilard, daß die Bombe, die als Verteidigung gegen die Nazis gedacht war, neu überdacht werden müsse. Er war einer von sieben Wissenschaftlern am Laboratorium, der den »Franck Report« (siehe S. 46ff.) unterschrieb. In diesem Bericht wird als Alternative zum Einsatz im Krieg gegen Japan eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet gefordert, bei der Mitglieder der gerade gegründeten Vereinten Nationen anwesend sein sollten.

(…)

Obwohl der »Franck Report« von einigen Wissenschaftlern des Manhatten-Projektes unterstützt wurde, teilte Bethe mir mit, daß er dieses niemals in Erwägung gezogen hat.

„Eine Demonstration hätte keine Wirkung gezeigt. Sie wäre wahrscheinlich von einigen [japanischen] Militärs gesehen worden. Doch es war ziemlich unwahrscheinlich, daß sie den Kaiser unterrichtet hätten. Und der Kaiser war der Schlüssel für die Kapitulation. Ohne ihn hätte der Krieg noch viel länger gedauert.

Die japanischen Militärs waren Fanatiker. … Im Kabinett saßen drei Militärs und drei Zivilisten als Minister. Selbst nach Hiroshima, als [die] drei Zivilisten für die Kapitulation waren, wollten [die] drei Militärs noch immer weitermachen. Und dann entschied der Kaiser: 'Wir ergeben uns. Ich kann dieser Zerstörung von einer Stadt nach der anderen nicht weiter zusehen.` Für mich sieht es so aus, daß der Krieg mit einer Demonstration nicht hätte beendet werden können.“

Und so kommt Bethe auf die dritte Option zu sprechen: den Einsatz des Kernsprengsatzes und dies nicht zu Demonstrationszwecken, sondern, wie ursprünglich geplant, als Bombe, die in der Lage wäre, eine ganze Stadt zu zerstören.

Zu meinem Erstaunen kann Bethe dem Einsatz der Atombombe noch eine weitere Dimension abgewinnen. „Sie schien etwas Übernatürliches zu sein. Durch die Bombe wurde es für die Japaner möglich, sich in Ehren zu ergeben. Sie konnten noch sagen: 'Wir haben sehr gut gekämpft, aber da war etwas, dem wir nicht gewachsen gewesen sind – wir mußten uns ergeben.`“

(…)

Die Erleichterung der Kapitulationsentscheidung ist Bethes letztes Argument für die Bombe. Schrecklich und schnell sei der Krieg beendet worden – und zwar so, daß ein stabiler Frieden möglich blieb. „Als wir an Bord der [U.S.S.] Missouri [in der Bucht von Tokio] ankamen, hielt General MacArthur eine sehr bewegende Rede, die einige der anwesenden hochrangigen Japaner sehr beeindruckte – keine Rache, keine bösen Gefühle, jetzt werden wir in Frieden leben.“ Im Gegensatz zu der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg habe man also jedes Ressentiment vermieden, das zu einem Wiederauferstehen des Militarismus hätte führen können.

Bethe faßt schließlich zusammen: „Ich habe eine Menge Argumente dafür, daß es den Japanern mit den beiden Bomben besser ergangen ist, als es sonst – bei einer Blockade oder bei einer Invasion – der Fall gewesen wäre. Und das ganz unabhängig davon, daß im Fall einer Invasion die Russen wahrscheinlich einen Teil Japans erobert hätten.“

(…)

Die Vorstellung, daß es den Japanern durch die verheerenden Atombombenabwürfe besser ergangen sein soll, ist schwer für mich zu akzeptieren. Beunruhigende Fragen bleiben. Ich frage Bethe, was er mit „den beiden Bomben“ gemeint hätte, ob es für ihn klar gewesen sei, daß die Bombardierung von Nagasaki notwendig sein würde. „Vielleicht nicht“, meint er. „Einen halben Tag vor Nagasaki beschloß der Kaiser die Kapitulation. Doch diese Entscheidung war in Washington nicht bekannt. Erst nach Nagasaki wurde sie über Radio Tokio verkündet.“

Ich bemerke, daß die Japaner noch unter dem Schock von Hiroshima standen und vor Nagasaki nicht genügend Zeit gehabt hätten zu reagieren. Die zweite Bombe hätte nur dann nicht eingesetzt werden sollen, wenn Truman dies ausdrücklich anordnen würde. Der Befehl des Präsidenten sei also für den Abwurf der Bombe überhaupt nicht mehr relevant gewesen, sondern nur für dessen Verhinderung.

Er meint: „Sie haben vollkommen recht. Die zweite Bombe hätte vielleicht vermieden werden können. Leider lag die Entscheidung für diesen Einsatz nicht bei Truman. Es ist möglicherweise ein Fehler gewesen, die Order so zu erteilen, weshalb die Entscheidung dem Kommandierenden vor Ort überlassen blieb.“

(…)

Neben Hiroshima und Nagasaki ist der Atompilz zu einem Symbol unserer Fähigkeit geworden, uns gegenseitig mit einem Schlag zu töten.

Im Bild der Bombe ist die schreckliche Realität des Krieges eingeschlossen. Es erinnert uns daran, daß wir heute die Möglichkeiten besitzen, die Welt zu vernichten. Ich sage zu Bethe, daß Menschen meinen könnten, daß dies eigentlich kein Grund zum Feiern sei.

Ich hatte erwartet, er würde die Logik seiner Argumente verteidigen. So bin ich über seine Antwort überrascht: „Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung. Die Bombe ist ein schlimmes Ding, daran besteht kein Zweifel. Und meine erste Reaktion nach Hiroshima war: Wir dürfen sie niemals wieder einsetzen … . Gleich nach der Kapitulation habe ich mich völlig der Rüstungskontrolle gewidmet. Doch nachdem einmal die Kernspaltung entdeckt worden war und man sich im Krieg befand, stand es von vornherein fest, daß die Bombe gebaut würde.“

Mir kommt J. Robert Oppenheimers berühmte Äußerung in den Sinn, die Atomwissenschaftler hätten „die Sünde kennengelernt“. Ich frage Bethe, was sein Freund damit gemeint habe. „Ich denke, der Satz ist richtig. Und er [Oppenheimer] sagte im gleichen Zusammenhang, daß man eines Tages den Namen »Los Alamos« verfluchen werde. Das stimmt, weil dieses schlimme Ding auf die Welt gekommen ist und auch ohne die japanischen Städte noch immer da ist.“

Und er fügt hinzu: „Ich möchte noch eine weitere Äußerung erwähnen, die auf der anderen Seite steht. Anläßlich des 40. Jahrestags … sagte ein Wissenschaftler von Los Alamos: ,Wegen Pearl Harbor geschah es ihnen recht.` Dem kann ich nicht zustimmen. Ich denke, dieser Wissenschaftler ist noch nicht der Mentalität des Krieges und seiner blinden Brutalität entwachsen.“

Als ich bemerke, daß das nicht in die bequemen Kategorien passen will, mit denen wir dem Nachdenken über unangenehme Dinge aus dem Weg gehen, entgegnet Bethe: „Meine Frau hat von mir gesagt, ich sei eine Taube, aber eine mit Haaren auf den Zähnen.“

Ich frage Bethe, wie er als Wissenschaftler, der mitgeholfen hat, das Übel der Bombe auf die Welt zu bringen, seine eigene Verantwortung sieht. „Nun – ich habe da einen pragmatischen Standpunkt. Was hätte den Japanern am wenigsten Leid zugefügt? Sie [die Bombe] verschonte japanische Menschenleben. Ich denke, das ist mein wichtigstes Argument.“

Anmerkung

Der vollständige Artikel von Mary Palevsky erschien am 25.6.1995 unter dem Titel „Tough Dove. Hans Bethe and the Birth of the Bomb“ in der »Los Angeles Times«. Wir danken Herrn Bethe und Frau Palevsky sehr herzlich, daß wir die Abdruckrechte für die Auszüge aus diesem Artikel erhielten. Den Artikel schrieb die Autorin auf der Grundlage von zwei langen Interviews und einigen Telefongesprächen mit Herrn Bethe.

Über Hans Bethe

Hans Bethe, geb. 1906 in Straßburg, gehört weltweit zu den herausragenden Physikern dieses Jahrhunderts. „Ich fand heraus, warum die Sonne scheint, und dafür bekam ich (1966) den Nobelpreis“, erklärte er am 25. Oktober 1984. Bethe, Leiter der Theoretischen Abteilung im Manhattan-Projekt, war einer der wichtigsten Wissenschaftler des Atombombenprogramms der USA, in die er bereits 1933 emigrieren mußte.

Seit 1935 war Bethe bis zu seiner Emeritierung an der Cornell University, in seinem Arbeitszimmer im Newman Laboratory ist er auch heute noch tagtäglich anzutreffen. In einem im Herbst 1993 geführten Gespräch erklärte er, daß die Atombombenabwürfe neben der Flucht aus dem Dritten Reich für ihn eine der wichtigsten Ereignisse seines Lebens darstellten.

In seinen schriftlichen Äußerungen merkt man allerdings hiervon nichts. In der repräsentativen Aufsatzsammlung „The Road from Los Alamaos“ (New York u.a. 1991) kommt Hiroshima praktisch nicht vor. Als die Redaktion des »Bulletin of the Atomic Scientists« ihn 1985 bat, für das Hiroshima-Sonderheft einen Beitrag zum Thema »Rückblicke« zu verfassen, reichte Bethe den rüstungskontrolltheoretisch orientierten Aufsatz „The technological imperative“ ein. Im Vorwort zu Martin Sherwins Studie „A World Destroyed“ (New York 1975), geht er kurz auf die Abwürfe ein, wobei er das Bombardement von Nagasaki als „in any case unnecessary“ (S.xiv) bezeichnet. In dem langen Interview (das Transkript umfaßt 168 Seiten), das er im Herbst 1967 gab, kommt in der ersten Sequenz mit Charles Weiner und Jagdish Mehra das Thema »Hiroshima« nicht vor. Im zweiten Gesprächsabschnitt mit Weiner verweist Bethe (Transkript, S. 164) lediglich auf die 1965 erschienene Studie von Alice Kimball Smith „A Peril and A Hope“ (The University of Chicago 1965) hin. Seine Bemerkung ist knapp: er könne nichts hinzufügen. Bethes Gespräch mit Lillian Hoddeson vom Frühjahr 1981 widmet sich ausschließlich naturwissenschaftlichen Fragen.

Bethes Sprachlosigkeit macht umso deutlicher, wie sehr Hiroshima ihn innerlich nicht mehr losgelassen hat, auch wenn er in einem Telefongespräch im Frühsommer 1995 meinte, das Thema verfolge ihn nicht. Allerdings sprechen Hans Bethes zahlreiche und beständige Aktivitäten als Berater amerikanischer Präsidenten und Administrationen Bände. Bethe wird in allen großen Sicherheitsdebatten der USA – von der H-Bombe über den begrenzten Teststopp bis hin zu SDI – zu einem führenden Verfechter von Rüstungskontrolle und zu einem Leitbild für eine ganze Generation von rüstungsskeptischen Physikern.

„Zunächst waren wir glücklich“, antwortete er auf die Frage nach seiner ersten spontanen Reaktion auf die Abwürfe. Nachdem er jedoch die Bilder gesehen habe, war er darüber schockiert, was für ein „schreckliches Ding“ die Bombe sei. Ungeachtet, ob Bethes Aktivitäten und Positionen auf einen Schuldkomplex zurückzuführen sind (wie Teller meint) oder nicht (Oppenheimer hatte laut Bethe einen, der Cornell-Physiker ist sich aber nicht sicher, ob das auch für ihn gilt): das Plädoyer für Rüstungskontrolle ist Bethes sichtbarster Beleg für sein Lernen aus Hiroshima, dessen Bombardierung er nach wie vor rechtfertigt. Die Devise für seine Arbeit blieb, darauf hinzuwirken, daß A-Bomben nie wieder eingesetzt werden. „Heute kann ich nur sagen, daß Nuklearwaffen nicht eingesetzt werden dürfen“, sagte er in einem Telefoninterview im Frühsommer 1995.

An Hans Bethe und seine Position sind jedoch einige Fragen zu richten, die, wenn überhaupt, teilweise wohl nur ein sorgfältiger Biograph wird beantworten können, der Zugang zu den noch verschlossenen Los Alamos-Dokumenten im Bethe-Archiv hat: Sind dies seine Argumente damals auch schon gewesen (ist nicht die Betonung auf das

Menschenleben neueren Datums)? Wie intensiv sind alle jene Fragen in Los Alamos wirklich schon erörtert worden? Was ist spätere Reflexion – und möglicherweise Rechtfertigung? Zu beachten ist auch, daß in den Sitzungen des entscheidenden „Interim-Ausschusses“, der Truman den Einsatz der Bombe empfahl, nur einmal das Für und Wider einer Demonstration erörtert wurde – und das auch nur während eines Mittagessens am 31. Mai 1945. Zu fragen ist auch, ob Bethe jemals erwogen hat, das Los Alamos-Projekt zu verlassen, nachdem klar war, daß die Bomben nicht gegen Nazi-Deutschland, sondern gegen Japan eingesetzt würden?

Mary Palevsky (Kalifornien)

Soweit ersichtlich, hat sich Hans Bethe zum ersten Mal im Gespräch mit Mary Palevsky Granados von der »Los Angeles Times« mit diesen Fragen ausführlich für die Öffentlichkeit befaßt. Bernd W. Kubbig

Editorial

Editorial

von Peter Krahulec, Bernd W. Kubbig, Caroline Thomas

Dieses Sonderheft wird gemeinsam herausgegeben von Dr. Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und von »Wissenschaft und Frieden«.

I.

Wir von W&F freuen uns über solche Bündnisse, die unseren Aktions- und Resonanzradius erweitern; zumal, wenn es sich um einen so prominenten Partner wie die HFSK und ein Jahrhundertthema wie den Atomkrieg gegen Japan und die Menschheit handelt.

Der »Gedenkmarathon« des Jahres 1995 gestattet kein relativierendes Wegverweisen auf universelle Mittäterschaften, sondern beläßt uns vor der Anstrengung der Begriffe und Wertungen im zerrissenen Weltzustande. „Die Befreiung von Auschwitz“, hat Jorge Semprun in der Bonner Oper gesagt, „ist aus einem Lande gekommen, in dem der Archipel Gulag noch aktiv war.“ Und die Verbrechen von Hiroshima und Nagasaki hatten Anteil an der Befreiung der Völker Chinas, Koreas, Burmas, Indonesiens und auf den Philippinen von einer Besatzungsmacht, die keine Gnade kannte.

Uns geht es in dieser Ausgabe um die »Verantwortung der Wissenschaft«. Um insbesondere die subjektive Motivation der einzelnen Atomwissenschaftler von damals zu verdeutlichen, dokumentieren wir auch Aussagen von Teller, Bethe, Seitz u.a., die ein explizit anderes Verständnis von »Wissenschaft« haben. Wir publizieren sie dennoch – obwohl sie der W&F-Redaktionslinie von Verantwortung von Wissenschaft zuwiderlaufen – als einen Ausdruck des Menschenmöglichen in unserem Jahrhundert.

Wenn rituelle Jahrestage ihren Sinn darin haben, Auskunft zu geben, wie staatliche und gesellschaftliche Akteure sich selber sehen, dann macht insbesondere die Debatte um die Ausstellung um den Bombenabwurf in den USA deutlich, daß der Aufklärungsbedarf noch groß ist, bis die Stimmen von Hitoshi Motoshima und Takashi Hiraoka zum politischen mainstream zählen. Auf einer Pressekonferenz im März diesen Jahres erklärten die beiden Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki es zu ihrer „Mission“, allen Menschen klarzumachen, daß der Einsatz von Atomwaffen „niemals gerechtfertigt“ sei und die „unmenschlichen Waffen“ aus den Arsenalen verschwinden müßten. In diesem Sinne mischen wir uns ein.

Wir danken der IPPNW (Ärzte gegen den Atomkrieg), der VDW (Vereinigung deutscher Wissenschaftler e.V.) und INESAP (International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation) für die finanzielle Unterstützung dieses Sonderheftes.

Die ansonsten regelmäßig erscheinenden Rubriken dieser Zeitschrift wie die »Blauen Seiten«, das Dossier, Termine und Publikationen entfallen in diesem Sonderheft.

Prof. Dr. Peter Krahulec (Vorsitzender des Herausgebervereins) Caroline Thomas (Redakteurin)

II.

gerade im 25. Jahr ihres Bestehens möchte die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) drängende Fragen unserer Welt, mit denen sich unser Institut beständig befaßt hat, in eine breite Öffentlichkeit hineintragen. Im Zentrum unserer vielfältigen Aktivitäten steht der Frankfurter Vortragszyklus »Hiroshima und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit«. Unser inhaltliches Ziel ist es, an die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 zu erinnern, das Atomzeitalter zu besichtigen und lernend nach vorn zu blicken. Die Hiroshima/Nagasaki-Projektgruppe greift die Möglichkeit gern auf, die Referate geschlossen in einem Sonderheft der anerkannten Fachzeitschrift W&F zu veröffentlichen. Caroline Thomas hat sie redigiert. Danken möchte ich Olaf Cunitz für seine verläßliche wie beständige Mitarbeit in der Projektgruppe. Mein besonderer Dank gilt Bernd Schönwälder, ohne dessen großen und phantasievollen Einsatz wir diese Reihe nicht so erfolgreich hätten durchführen können.

Für diesen Vortragszyklus konnten wir Referenten gewinnen, die als Jahrhundertzeugen das Atomzeitalter mitgeprägt haben, sei es als Teilnehmer am amerikanischen und sowjetischen Bomben-Programm während des Zweiten Weltkriegs (Edward Teller, Victor Weisskopf, Igor Golovin), als Mitkonstrukteure später entwickelter Waffen (Richard Garwin), sei es als in den USA sozialisierter Physiker (Dürr) und als (nuklear-)strategischer Denker und Praktiker (McNamara).

Einer der Referenten, Dr. Hida, ist als Überlebender des nuklearen Infernos von Hiroshima Opfer einer folgenschweren Entscheidung in diesem Jahrhundert. Mit dem Beitrag von Dieter Schulte greift der erste Repräsentant einer großen gesellschaftlichen Organisation dieses auch für die Gewerkschaften wichtige Thema auf. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Japan und Deutschland“ versuchen, sich diesem schwierigen Thema auch im Gedenk- und Erinnerungsjahr 1995 anzunähern (Teilnehmer waren Ignatz Bubis, Ian Buruma, Kenichi Mishima, Jan Niemöller und Wolfgang Schwentker).

Dieses Schwerpunktheft von »Wissenschaft und Frieden« dokumentiert den Frankfurter Vortragszyklus, reichert ihn aber durch weitere Beiträge, Interviews und wichtige, aber teilweise entlegene, Quellen an. Sie schließen notwendigerweise die Positionen der Befürworter der atomaren Bombardements ein, die die meisten von uns ablehnen.

In Hiroshima brennt die Erinnerungsflamme immer noch. Zu Recht, denn selbst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben sich die Nuklearprobleme nicht erledigt. Atomare Entwarnung zu geben ist derzeit nicht möglich. Gleichzeitig erwächst hieraus der Imperativ, über das Jahr 1995 hinaus die Voraussetzungen für eine nicht-nukleare Welt zu legen, in der auch konventionelle Kriege keine Chance haben.

Dr. Bernd W. Kubbig (Projektleiter der HSFK und Mitherausgeber des Sonderheftes)

Meine Vision einer globalen Sicherheit im 21. Jahrhundert1

Meine Vision einer globalen Sicherheit im 21. Jahrhundert1

von Robert S. McNamara

Meine frühesten Kindheitserinnerungen verbinden sich mit einer vor Freude überschäumenden Stadt. Der Name der Stadt ist San Francisco. Der Anlaß dieses Freudentaumels war der Waffenstillstand vom 11. November 1918. Ich war gerade zwei Jahre alt. Die Stadt feierte damals nicht nur das Ende des Ersten Weltkrieges, sondern zugleich auch den Sieg der von Präsident Wilson so glühend verfochtenen und von vielen Amerikanern geteilten Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten mit diesem Sieg nun allen Kriegen ein Ende bereitet hätten.
Natürlich waren sie im Irrtum. Das 20. Jahrhundert sollte zu einem der blutigsten Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit werden. Bislang verloren rund um den Erdball 160 Millionen Menschen in Kriegen ihr Leben.

Ich vertrete heute abend die These, daß sich das Gemetzel des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert auf keinen Fall wiederholen darf. Es ist höchste Zeit, daß wir eine derartige Tragödie verhindern. Dazu bedarf es konkreter Schritte:

  1. Der Verringerung der Gefahr inner- und zwischenstaatlicher Konflikte durch Errichtung eines Systems der Kollektiven Sicherheit;
  2. Der Beseitigung der Gefahr der Zerstörung von Staaten im Falle eines Versagens der Kollektiven Sicherheit durch die Rückkehr zu einer möglichst atomwaffenfreien Welt.

Systeme Kollektiver Sicherheit

Ich beginne mit einigen Ausführungen zur Kollektiven Sicherheit.

Obwohl sich das Ende des Kalten Krieges seit Mitte der 80er Jahre eindeutig abzeichnete, haben die Staaten der Welt ihre Außen- und Verteidigungspolitik nur zögerlich revidiert, z.T. vielleicht, weil nicht klar war, was die Zukunft bringen würde.

Der irakische Einmarsch in Kuwait, der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und die Unruhen im Norden des Irak, in Somalia, auf Haiti, im Sudan, in Ruanda, Burundi, Armenien und Georgien belegen eindeutig, daß es auch in Zukunft Konflikte auf der Erde geben wird, sowohl Konflikte zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes als auch grenzüberschreitende Konflikte. Die Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Rassen, Religionen und ethnischen Gruppen werden bestehenbleiben. Der Nationalismus wird überall auf der Welt eine treibende Kraft sein. Im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts werden politische Revolutionen ausbrechen. Es wird weiterhin historisch bedingte Auseinandersetzungen über politische Ländergrenzen geben. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Nationen wird aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung von Technologie und Bildung weiter zunehmen. Die tiefgreifenden Ursachen für die Konflikte in der Dritten Welt bestanden lange vor dem Beginn des Kalten Krieges und dauern nach dessen Ende weiter an. Sie werden verstärkt durch potentielle Konflikte zwischen den Staaten der früheren Sowjetunion und die anhaltenden Spannungen im Nahen Osten. Derartige Spannungen haben in den vergangenen 45 Jahren 125 Kriege ausgelöst und 40 Millionen Tote in der Dritten Welt gefordert.

In dieser Hinsicht wird sich die Zukunft nicht von der Vergangenheit unterscheiden – inner- und zwischenstaatliche Konflikte wird es auch weiterhin geben. Allerdings werden sich die Beziehungen zwischen den Staaten dramatisch verändern. In der Nachkriegszeit hatten die Vereinigten Staaten genug Macht, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten – und sie setzten diese Macht auch in beträchtlichem Maße ein. Im nächsten Jahrhundert wird dies nicht mehr möglich sein.

Die Rolle Japans auf der politischen Weltbühne wird aufgrund des wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses des Landes und – dies bleibt zu hoffen – auch aufgrund der Übernahme einer größeren wirtschaftlichen und politischen Verantwortung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Das gleiche gilt für Westeuropa, das im Jahre 1993 einen großen Schritt in Richtung einer wirtschaftlichen Integration gemacht hat. Die größere politische Einheit wird dem (trotz des Widerstands gegen den Maastrichter Vertrag) unweigerlich folgen und die weltpolitische Bedeutung Europas stärken.

Mitte des nächsten Jahrhunderts werden sich verschiedene Länder, die wir in der Vergangenheit zur Dritten Welt gerechnet haben, im Hinblick auf ihr Bevölkerungswachstum und ihre Wirtschaftskraft derart entwickelt haben, daß sie eine bedeutende Rolle in den internationalen Beziehungen spielen werden. Für Indien rechnet man bis dahin mit einer Bevölkerungszahl von 1,6 Milliarden, für Nigeria mit 400 Millionen und für Brasilien mit 300 Millionen. Wenn es China gelingt, seine ehrgeizigen wirtschaftspolitischen Ziele bis zum Jahre 2000 zu verwirklichen und in den nächsten 50 Jahren weiterhin zufriedenstellende, wenn auch nicht sensationelle Zuwachsraten zu erzielen, wird das 1,6 Milliarden-Volk über ein Einkommen – und einen Wohlstand – verfügen, der dem westeuropäischen Niveau Mitte des 20. Jahrhunderts entspricht. Das Bruttoinlandsprodukt liegt dann über dem der Vereinigten Staaten, Westeuropas, Japans oder Rußlands. Wir haben es hier in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht mit einem Machtfaktor zu tun, mit dem zu rechnen sein wird. Die genannten Zahlen sind natürlich in hohem Maß spekulativ, aber ich nenne sie, um die Größenordnung der vor uns liegenden Veränderungen zu unterstreichen.

Während die USA auch in Zukunft die führende Kraft in einer multipolaren Welt bleiben werden, müssen sie ihre Außen- und Verteidigungspolitik den neuen, sich herausbildenden Realitäten anpassen. Diese neue Welt erfordert nicht nur eine grundlegende Neuordnung der Beziehungen der Großmächte – zu denen auf jeden Fall China, Europa, Japan, Rußland und die USA gehören werden –, sondern auch der Beziehungen zwischen den Großmächten und anderen Staaten.

Viele Politologen, vor allem die sogenannten »Realisten«, sagen eine Rückkehr zur traditionellen Machtpolitik voraus. Sie behaupten, daß der Wegfall der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West zu einer Revision der traditionellen Beziehungsmuster führen wird, die auf territorialen und wirtschaftlichen Erfordernissen basieren: Die USA, Rußland, Westeuropa, China, Japan und möglicherweise Indien werden versuchen, sich als Regionalmächte zu behaupten und sich zugleich ihre Einflußsphären in anderen Teilen der Welt zu sichern, wo die Machtverhältnisse noch fließend sind. Diese Ansichten vertritt beispielsweise Professor Michael Sandel von der Harvard-Universität. Er schreibt: „Das Ende des Kalten Krieges ist nicht gleichbedeutend mit der Beilegung des internationalen Wettstreits der Supermächte. Der Wegfall der ideologischen Komponente hinterläßt weder Frieden noch Harmonie, sondern führt zurück zu einer überkommenen Globalpolitik der Großmächte im Wettstreit um Einfluß und in Verfolgung ihrer nationalen Interessen.“

Henry Kissinger, ein weiterer Vertreter der realistischen Schule, kam zu einer ähnlichen Schlußfolgerung:

„Der Gewinn des Kalten Krieges hat Amerika in eine Welt katapultiert, die mit dem europäischen Staatengebilde des 18. und 19. Jahrhunderts vieles gemeinsam hat. (…) Das Fehlen einer übergreifenden ideologischen oder strategischen Bedrohung veranlaßt die Staaten in zunehmendem Maße, auf dem Gebiet der Außenpolitik ihre ureigensten nationalen Interessen durchzusetzen. In einem internationalen System, das von vielleicht fünf oder sechs Großmächten und einer Vielzahl kleiner Staaten gekennzeichnet ist, wird, ähnlich wie in vergangenen Jahrhunderten, durch Aussöhnung und das Ausbalancieren konkurrierender nationaler Interessen eine politische Ordnung entstehen müssen.“

Die Ansichten von Kissinger und Sandel über die zwischenstaatlichen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges sind zwar historisch fundiert, stehen aber meines Erachtens im Widerspruch zu den zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeiten in der Welt. Kein Land, nicht einmal die USA, kann es sich leisten, in einer Welt engster wirtschaftlicher, umwelt- und sicherheitspolitischer Verflechtungen zwischen den Staaten abseits zu stehen. Die Charta der Vereinten Nationen bietet hierfür einen weit angemesseneren Rahmen für die internationalen Beziehungen als die Doktrin der Machtpolitik. Mit dieser Auffassung stehe ich nicht allein da.

Verteidigungsfähigkeit

Carl Kaysen, der ehemalige Leiter des Institute for Advanced Study der Universität Princeton, argumentiert: „Es gibt eine Alternative zum internationalen System, das auf der Anwendung militärischer Gewalt durch die Staaten als ultimativer Sicherheitsgarantie beruht, und es gibt eine Alternative zu der Drohung, diese Gewalt zur Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung einzusetzen. Die Suche nach einem anderen System [auf der Grundlage kollektiver Sicherheit] ist nicht länger die Verfolgung einer Illusion, sondern sie ist eine notwendige Anstrengung zur Umsetzung eines notwendigen Zieles.“

Die Brookings Institution veröffentlichte kürzlich eine Studie von Janne E. Nolan mit dem Titel »Globales Handeln: Zusammenarbeit und Sicherheit im 21. Jahrhundert«, in der 20 Politiker und Wissenschaftler ein geopolitisches System untersuchen, das sich in vielen Punkten mit meinen heutigen Ausführungen deckt.

Anläßlich einer Feier im Council on Foreign Relations am 15. Februar 1994 zu Ehren des 90. Geburtstages von George F. Kennan bemerkte dieser, zum ersten Mal seit Jahrhunderten gehe von Großmachtkonflikten keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Gerade dieser Frieden zwischen den Großmächten bietet – zumindest auf mittlere Sicht – eine echte Chance zur Verwirklichung meiner Vision von einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, und durch die Wahrung der Fähigkeit, uns selbst und unsere Interessen zu schützen, falls die Welt einen Rückfall in Großmachtrivalitäten erleidet, bietet sich uns gleichzeitig die Möglichkeit, uns gegen ein Scheitern dieser Vision abzusichern.

Die Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit bedeutet nicht, daß die Verteidigungsausgaben auf dem derzeitigen, schwindelerregenden Niveau beibehalten werden sollen. In den USA belief sich der Verteidigungsetat im Haushaltsjahr 1994 auf insgesamt 282 Milliarden Dollar – das entspricht einer inflationsbereinigten Steigerung von 25% im Vergleich zu 1980. Das für die Jahre 1995 – 2000 von Präsident Clinton vorgestellte Verteidigungsprogramm sieht nur einen ganz allmählichen Rückgang der Ausgaben gegenüber dem Stand von 1994 vor. Die Prognosen für das Jahr 2000 gehen unter Berücksichtigung der Inflationsrate von einer Senkung der Verteidigungsausgaben um lediglich drei Prozent im Vergleich zu den Zahlen während des Kalten Krieges unter Präsident Nixon aus. Die Vereinigten Staaten geben für ihre nationale Sicherheit fast genauso viel aus wie der Rest der Welt zusammengenommen.

Ein solches Verteidigungsprogramm entspricht nicht meiner Vorstellung von einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Es geht davon aus, daß die USA bei Konflikten außerhalb des NATO-Gebietes, wie z.B. im Irak, im Iran oder auf der koreanischen Halbinsel, einseitig und ohne die militärische Unterstützung anderer Großmächte agieren. Außerdem geht es davon aus, daß die USA bereit sein müssen, gleichzeitig zwei derartige Auseinandersetzungen zu führen. Diese Annahmen sind meiner Meinung nach bestenfalls fraglich.

Damit die Völker optimal auf die Beendigung des Kalten Krieges reagieren können, brauchen sie zunächst die Vision – einen konzeptuellen Rahmen – einer Welt, die nicht von jener Rivalität zwischen Ost und West beherrscht wird, die die Außen- und Verteidigungspolitik rund um den Erdball im Laufe von mehr als 40 Jahren gestaltete. In dieser neuen Welt sollten die zwischenstaatlichen Beziehungen auf die folgenden fünf Ziele ausgerichtet sein:

1.

Die Sicherheit aller Staaten vor einer äußeren Aggression sollte garantiert werden. Grenzen dürfen nicht gewaltsam verändert werden.

2.

Die Rechte von Minderheiten und ethnischen Gruppen auf dem Gebiet eines Staates, z.B. die der Kurden im Iran, im Irak und in der Türkei, sollten gesetzlich festgeschrieben werden, und sie sollten die Möglichkeit erhalten, ohne Gewaltanwendung zu ihrem Recht zu kommen.

3.

Regionale Konflikte und Konflikte innerhalb einzelner Länder sollten durch die Schaffung eines geeigneten Mechanismus und ohne das einseitige Eingreifen der Großmächte gelöst werden.

4.

Die technische und finanzielle Unterstützung für Entwicklungsländer sollte verstärkt werden, um das Tempo des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts dieser Staaten zu beschleunigen.

5.

Der globale Umweltschutz als Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit sollte sichergestellt werden.

Wir sollten also alle Anstrengungen unternehmen, um eine Welt zu schaffen, in der die Beziehungen zwischen den Völkern rechtlich geregelt sind und in der die nationale Sicherheit durch ein System der kollektiven Sicherheit ergänzt wird. Die Verhinderung bzw. die Lösung von Konflikten sowie friedenssichernde Maßnahmen, die zur Umsetzung der genannten Ziele erforderlich sind, wären von multilateralen Institutionen und einer neu geordneten, gestärkten UNO im Zusammenwirken mit neuen und erweiterten regionalen Organisationen zu übernehmen.

Dies ist meine Vision einer Welt nach dem Kalten Krieg.

Eine solche Vision läßt sich einfacher mit Worten beschreiben als in die Tat umsetzen. Das Ziel ist klar, der Weg dorthin nicht. Ich habe weder ein Geheimrezept noch einen Fahrplan in Richtung Erfolg. Ich weiß, daß sich eine solche Vision nicht innerhalb eines Monats, eines Jahres oder gar eines Jahrzehnts verwirklichen läßt. Sie wird sich nur langsam und in kleinen Schritten verwirklichen lassen, durch Führungspersönlichkeiten, die dieses Ziel mit Hingabe und Beharrlichkeit verfolgen. Ich fordere Sie deshalb auf, dieses Ziel jetzt anzusteuern.

Bei dem Versuch, die unvermeidlichen inner- und zwischenstaatlichen Konflikte zu lösen und dabei gleichzeitig die Gefahr militärischer Gewaltanwendung bzw. der mit einer Gewaltanwendung verbundenen Verluste auf ein Minimum zu reduzieren, wird die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges geführt werden müssen. Diese Führungsrolle kann von verschiedenen Ländern nach der jeweiligen Problemstellung abwechselnd übernommen werden. Oft werden sicher die Vereinigten Staaten diese Rolle spielen. Aber im Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit müssen die USA kollektive Entscheidungen akzeptieren – was sehr schwierig für uns sein wird. Genauso müssen sich – wenn das System überleben soll – andere Staaten (vor allem Deutschland und Japan) an den Risiken und Kosten, d.h. an den politischen und finanziellen Risiken sowie an den möglichen Verlusten und der Gefahr des Blutvergießens, beteiligen –, und das wird für sie sehr schwierig sein.

Hätten die Vereinigten Staaten und die übrigen Mächte ihr Engagement für ein solches System der kollektiven Sicherheit deutlich gemacht und hätten sie sich zum Schutz der Völker gegen jede Art von Angriffen ausgesprochen, dann wäre der Irak vielleicht von dem Einmarsch in Kuwait im Jahre 1990 abgeschreckt worden. Ebenso ließe sich spekulieren, ob durch ein Eingreifen der Vereinten Nationen oder der NATO bei Ausbruch des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er Jahre der Tod zehntausender Unschuldiger verhindert worden wäre.

Kriterien für ein Eingreifen

In der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges sollten sich die Staaten – und vor allem die Großmächte – darüber im klaren sein, wo und wie sie im Rahmen eines Systems der Kollektiven Sicherheit militärische Gewalt anwenden. Sie können und sollten sicher nicht in jeden Konflikt eingreifen, in dem unschuldige Opfer unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind. Mehr als ein Dutzend Kriege toben gegenwärtig in der Welt: in Bosnien, in Burundi, im Irak, in Kaschmir und im Sudan, um nur einige Beispiele zu nennen. Jederzeit könnten schwerwiegende Konflikte in Kosovo, Mazedonien und Zaire ausbrechen. Wo, wenn überhaupt, sollten die Großmächte und/oder die Vereinten Nationen aktiv werden? Weder die Vereinigten Staaten noch eine andere Großmacht haben eine klare Antwort auf diese Frage. Die Antwort kann nur über Jahre hinweg und durch intensive Gespräche in unseren Ländern, zwischen den Großmächten und in den Beratungsgremien der internationalen Organisationen erarbeitet werden.

Wir müssen für den Einsatz militärischer Gewalt klar definierte Kriterien festlegen. Die Regeln für die Reaktion auf eine grenzüberschreitende Aggression lassen sich relativ einfach und klar formulieren. Doch für den Versuch zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der politischen Ordnung und zur Verhinderung eines Völkermordes innerhalb eines Landes, wie z.B. in Ruanda im Jahre 1994, sind die Regeln weit weniger einfach und klar.

Zunächst müssen einige grundlegende Fragen beantwortet werden: Wann ist die Grenze des Leidens erreicht und ein Eingreifen gerechtfertigt? Im Rahmen einer UN-Konvention, die 1989 in einen internationalen Vertrag umgewandelt wurde, haben sich auch die USA verpflichtet, Völkermorde zu verhindern. Wann aber handelt es sich um einen Völkermord? Im Juni 1994 bezeichnete die US-Regierung den Tod von mehr als 200.000 Menschen in Ruanda zwar als einen „Akt des Völkermords“, behauptete aber zugleich, das Töten falle nicht unter die Bestimmungen des obengenannten Vertrages. Gibt es nicht Fälle an der Grenze zum Völkermord, die ein Eingreifen auch rechtfertigen würden? Ab wann sollten wir intervenieren – bereits wenn Verhandlungen auf diplomatischem Wege erfolglos sind und mit Toten zu rechnen ist oder erst wenn die Zahl der Toten ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat? Wie sollen wir uns verhalten, wenn die am Konflikt beteiligten Staaten – wie es im ehemaligen Jugoslawien der Fall war – behaupten, eine äußere Einmischung sei eine eindeutige Verletzung ihrer Souveränität? Oft genug haben regionale Organisationen, insbesondere die Organisation für Afrikanische Einheit und die Organisation Amerikanischer Staaten, ihre Unterstützung für derartige Eingriffe verweigert.

Die Kriterien für eine Intervention sollten in erster Linie berücksichtigen, daß die Anwendung militärischer Gewalt nur bedingt geeignet ist, den Prozeß des »nation building« zu fördern. Militärische Gewalt an sich ist kein Mittel, einen »gescheiterten« Staat neu aufzubauen.

Unseren Völkern sollte klar gemacht werden, daß die Beantwortung derartiger Fragen günstigenfalls Jahre in Anspruch nimmt. Doch wir sollten die Diskussion in unseren Ländern und in internationalen Foren vorantreiben. Einige der Probleme werden vielleicht niemals gelöst; und es wird sicher Zeiten geben, in denen wir einsehen müssen, daß wir nicht alle Mißstände beheben können. Für die Richtigkeit unserer Entscheidung, Gewalt als Mittel zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in unserer unvollkommenen Welt anzuwenden, gibt es keine Gewähr. Es ist daher zu prüfen, ob andere Staaten mit vergleichbaren Interessen die jeweilige Entscheidung mittragen, sich an ihrer Umsetzung beteiligen und einen Teil der damit verbundenen Kosten übernehmen.

Das Ziel einer kernwaffenfreien Welt

Ich habe in den USA immer wieder darauf hingewiesen, daß eine militärische Intervention zuweilen nicht nur auf humanitären Ursachen oder friedenssichernden Maßnahmen basieren wird, sondern auch auf Gründen der nationalen Sicherheit. Wenn für unser Land eine direkte Bedrohung besteht, dann sollten wir auch einseitig handeln. Wie aber sollen sich die USA verhalten, wenn eine weniger direkte, aber immer noch ernstzunehmende Gefahr droht, wie z.B. in bezug auf die Zwistigkeiten in Kosovo oder in Mazedonien, die einen größeren Konflikt auf dem Balkan auslösen und Griechenland, die Türkei und vielleicht auch Italien darin verwickeln könnten? Ich habe stets nachdrücklich die Auffassung vertreten, daß wir uns nur an multilateralen Maßnahmen mit einer entsprechenden Aufgabenteilung beteiligen sollten.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die seit dem Ende des Kalten Krieges geführt werden, sind in den meisten Fällen »begrenzte Kriege«. Selbstverständlich haben wir Amerikaner aus den Erfahrungen in Vietnam gelernt, wie unendlich schwer es ist, einen begrenzten Krieg zu führen, der uns über einen langen Zeitraum hinweg schwere Verluste zufügt. Aber es wird auch Situationen geben, in denen sich ein begrenzter Krieg vorteilhafter als ein unbegrenzter erweist. Bevor sich unsere Völker an einem derartigen Konflikt beteiligen, müssen sie sich über die damit verbundenen Schwierigkeiten im klaren sein: Unsere Militärs müssen die Beschränkungen, unter denen sie operieren, kennen und akzeptieren, unsere Staatsführungen und unsere Völker müssen bereit sein, unseren Verlusten Einhalt zu gebieten und ggf. einem Rückzug zuzustimmen, wenn unsere begrenzten Ziele nur unter unvertretbaren Risiken oder Kosten zu erreichen sind.

Laut George Kennan ist das Risiko groß angelegter militärischer Operationen zwischen oder unter den Großmächten im Gegensatz zu begrenzten Kriegen heute möglicherweise geringer denn je seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben zwar keine Gewißheit dafür, daß es nie dazu kommen wird, aber wir können dafür sorgen, daß bei einem Versagen des Systems der Kollektiven Sicherheit und bei Ausbruch eines Krieges zwischen den Großmächten keine Kernwaffen eingesetzt und die Staaten demzufolge nicht völlig vernichtet werden.

Unsere beiden Völker und alle anderen Menschen auf unserem Erdball leben weiterhin mit der Gefahr der atomaren Vernichtung. Die Kriegspläne der USA gehen heute – wie in den 60er, 70er und 80er Jahren – von der Möglichkeit des Kernwaffeneinsatzes aus. Aber ich glaube nicht, daß sich der Durchschnittsbürger in den USA, ebenso wie in Deutschland, dieser Tatsache bewußt ist. Natürlich waren sie alle im Juni 1992 überrascht und erfreut über die Ankündigung der Präsidenten Bush und Jelzin, die Kernwaffenbestände der USA und Rußlands deutlich abzubauen. Es gibt heute 40.000 bis 50.000 Kernsprengköpfe auf der Erde. Ihre Vernichtungskraft ist 1 Million mal größer als die jener Bombe, die Hiroshima dem Erdboden gleichmachte. Unter der Voraussetzung, daß die im START 1-Vertrag festgelegten Bestandsreduzierungen tatsächlich erreicht werden, verringert sich die Gesamtzahl der Waffen auf ca. 20.000. Bush und Jelzin vereinbarten einen weiteren Rüstungsabbau, so daß den fünf offiziellen Atommächten (USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und China) im Jahre 2003 noch insgesamt ca. 10.000 Sprengköpfe bleiben. Dieser Schritt war zwar äußerst wünschenswert, aber selbst wenn der US-Senat und das russische Parlament das Abkommen ratifizieren würden – was keineswegs als sicher gilt – wäre zwar die Gefahr einer Völkervernichtung auf der Erde um einiges geringer, aber noch lange nicht beseitigt. Ich bezweifle, daß ein Überlebender – sofern es überhaupt einen gäbe – einen Unterschied feststellen würde zwischen einer Welt, in der 10.000 Kernsprengköpfe explodiert sind und einer, die von 40.000 Sprengköpfen bombardiert wurde. Können wir also nicht noch einen Schritt weitergehen? Zweifelsohne muß die Antwort Ja lauten.

Das Ende des Kalten Krieges, die wachsende Erkenntnis der Sinnlosigkeit von Kernwaffen und der immensen, mit ihrem Fortbestand verbundenen Gefahren zeigen die Möglichkeiten und die gebotene Dringlichkeit auf, unter denen die fünf offiziellen Atommächte ihre langfristigen Kernwaffenprogramme neu überdenken sollten. Wir sollten eine breite öffentliche Diskussion zu drei alternativen Nuklearstrategien in Gang setzen, die ich Ihnen kurz vorstellen möchte. Ich bin überzeugt, daß eine solche Diskussion ebenfalls zu der Schlußfolgerung gelangt, daß wir soweit wie möglich – und ich betone diese Einschränkung nochmals – zu einer kernwaffenfreien Welt zurückkehren sollten.

Ich möchte meine Position durch drei Argumente untermauern:

1.

Die Erfahrungen aus der Kuba-Krise von 1962, vor allem die Enthüllungen der jüngsten Vergangenheit, verdeutlichen, daß – solange wir und die übrigen Großmächte große Kernwaffenarsenale besitzen – potentiell mit der Gefahr ihres Einsatzes zu rechnen ist.

2.

Diese Gefahr ist nicht länger – falls sie es je war – militärisch zu rechtfertigen.

3.

In den letzten Jahren gab es seitens der führenden westlichen Sicherheitsexperten – sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich – einen gewaltigen Umdenkprozeß in bezug auf den Nutzen von Kernwaffen. Immer mehr dieser Fachleute – obgleich sie immer noch in der Minderzahl sind – vertreten ähnliche Ansichten wie ich.

Die Kuba-Krise

Es ist eine heutzutage weithin anerkannte Tatsache, daß das Vorgehen der Sowjetunion, Kubas und der Vereinigten Staaten im Oktober 1962 die drei Staaten an den Rand des Krieges gebracht hat. Aber damals war nicht bekannt, und es ist auch heutzutage noch nicht allgemein bekannt, wie nah die Welt – einschließlich Deutschlands – am Abgrund einer nuklearen Katastrophe stand. Weder die Sowjetunion, noch Kuba, noch die Vereinigten Staaten hatten die Absicht, mit ihrem Vorgehen solche Gefahren heraufzubeschwören.

Die Krise begann, als die Sowjets im Sommer und Frühherbst 1962 Atomraketen und Bomber nach Kuba verlegten – im geheimen und mit klarer Täuschungsabsicht. Die Raketen und Bombenflugzeuge sollten auf Städte an der amerikanischen Ostküste gerichtet werden. Durch Aufnahmen eines U-2-Aufklärungsflugzeugs vom Sonntag, den 14. Oktober, erfuhr Präsident Kennedy von den Stationierungen. Er und seine militärischen und zivilen Sicherheitsberater glaubten, daß die Handlungen der Sowjets eine Bedrohung für den Westen darstellten. Aus diesem Grunde verfügte Kennedy eine Seeblockade Kubas, die am Mittwoch, den 24. Oktober, in Kraft treten sollte. Gleichzeitig liefen auch Vorbereitungen für Luftangriffe und eine Wasser-Land-Invasion an. Die Einsatzpläne sahen am ersten Tag der Feindseligkeiten 1080 Luftangriffe vor. In den Häfen im Südosten der USA sammelte sich eine Invasionsstreitmacht von insgesamt 180.000 Mann. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt am Samstag, den 27. Oktober, und am Sonntag, den 28. Oktober. Wenn Chruschtschow an diesem Sonntag nicht öffentlich verkündet hätte, daß er die Raketen zurückziehe, hätte meiner Ansicht nach die Mehrheit von Kennedys militärischen und zivilen Beratern am Montag, den 29. Oktober, den Beginn des Angriffs empfohlen.

Seit 1987 fanden eine Reihe von Konferenzen statt, auf denen hochrangige sowjetische, kubanische und amerikanische Teilnehmer, die die Entscheidungen von damals mitgetragen haben, die Ursachen der Krise diskutierten – und Wege berieten, zukünftig derartige Krisen zu vermeiden. Diese Konferenzen liefen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Das Treffen unter Vorsitz von Fidel Castro in Havanna, Kuba, im Januar 1992 war das fünfte und letzte dieser Art.

Mit Abschluß des dritten Treffens in Moskau im Januar 1989 wurde klar, daß die Entscheidungen, die jeder der drei Staaten vor und im Verlauf der Krise traf, von Fehlinformationen, Fehlkalkulationen und Fehleinschätzungen beeinträchtigt waren. Ich möchte hier nur vier von vielen Beispielen anführen:

  • Die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba im Sommer 1962 beruhte auf der Annahme der Sowjetunion und Kubas, die Vereinigten Staaten beabsichtigten eine Invasion der Insel mit dem Ziel, Castro zu stürzen und seine Regierung aufzulösen. Wir hatten keinerlei derartige Absicht.
  • Die Vereinigten Staaten glaubten, die Sowjets würden niemals Kernsprengköpfe außerhalb der Sowjetunion stationieren. Sie hatten das noch nie getan – aber diesmal taten sie es eben doch. Wir erfuhren 1989 in Moskau, daß bis Oktober 1962 sowjetische Kernsprengköpfe nach Kuba gebracht worden waren, obwohl die CIA zu dieser Zeit davon ausging, daß sich keine Kernwaffen auf der Insel befanden. Wie ich schon sagte, sollten diese Sprengköpfe auf US-Städte gerichtet werden.
  • Die Sowjets glaubten, daß sie die Kernwaffen insgeheim und unentdeckt nach Kuba bringen könnten und daß die USA nicht reagieren würden, wenn die Stationierung aufgedeckt würde. Auch hier waren sie im Irrtum.
  • Schließlich waren auch jene, die bereit waren, Präsident Kennedy zu einer Zerstörung der Raketen durch einen US-Luftangriff zu drängen, dem dann mit großer Wahrscheinlichkeit eine Wasser-Land-Invasion gefolgt wäre, ganz sicher im Irrtum, wenn sie glaubten, die Sowjets würden nicht militärisch zurückschlagen. Zu dieser Zeit befanden sich nach CIA-Angaben 10.000 sowjetische Soldaten auf Kuba. Auf der Konferenz in Moskau erfuhren die Teilnehmer, daß es in Wirklichkeit 43.000 waren, dazu kamen 270.000 gut ausgerüstete kubanische Truppen. Beide Streitkräfte waren nach den Worten ihrer Kommandeure entschlossen, „bis zum letzten Mann zu kämpfen“. Die kubanischen Verantwortlichen schätzten, daß sie 100.000 Soldaten verloren hätten. Die Sowjets – unter ihnen der langjährige Außenminister Andrej A. Gromyko und der frühere Botschafter in den USA Anatoli Dobrynin – brachten ihr Erstaunen zum Ausdruck, daß wir geglaubt hätten, sie würden im Angesicht solch einer katastrophalen Niederlage nicht irgendwo anders auf der Welt militärisch reagieren. Das Ergebnis wäre höchstwahrscheinlich eine unkontrollierbare Eskalation gewesen.

Am Ende unseres Treffens in Moskau waren wir uns einig, daß wir zwei Lehren aus unseren Diskussionen ziehen können: 1) angesichts von Kernwaffen ist Krisenmanagement von Natur aus gefährlich, schwierig und unsicher; und 2) auf Grund von Fehleinschätzungen, Fehlinformationen und Fehlkalkulationen der von mir geschilderten Art ist es unmöglich, die Konsequenzen militärischer Aktionen zwischen Großmächten, die derartige Waffen besitzen, zuverlässig vorherzusagen. Aus diesem Grunde müssen wir unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die Krisenverhütung lenken.

Während der Krise 1962 glaubten einige von uns – vor allem Präsident Kennedy und ich –, daß die Vereinigten Staaten in großer Gefahr seien. Das Treffen von Moskau bestätigte diese Einschätzung. Aber auf dem Treffen von Havanna erfuhren wir, daß wir beide – und sicher auch andere – diese Gefahren beträchtlich unterschätzt hatten. In Havanna teilte uns der ehemalige Stabschef des Warschauer Paktes, General Anatoli Gribkow, mit, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba 1962 nicht nur über Kernsprengköpfe für Mittelstreckenraketen verfügten, sondern auch über Atombomben und taktische Kernsprengköpfe. Letztere sollten gegen US-Invasionsstreitkräfte eingesetzt werden. Wie ich bereits erwähnte, ging die CIA zum damaligen Zeitpunkt davon aus, daß es keine Sprengköpfe auf der Insel gäbe.

Im November 1992 erfuhren wir noch mehr. In der russischen Presse erschien ein Artikel, in dem es hieß, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise über insgesamt 162 Kernsprengköpfe verfügten, darunter mindestens 90 taktische Sprengköpfe. Darüber hinaus wurde berichtet, daß in Erwartung einer US-Invasion am 26. Oktober 1962 – einem Zeitpunkt großer Spannung – Sprengköpfe aus ihren Depots zu Stellungen gebracht wurden, die sich näher bei den Trägersystemen befanden. Am nächsten Tag erhielt der sowjetische Verteidigungsminister Malinowski ein Telegramm von General Ptijew, dem sowjetischen Oberbefehlshaber auf Kuba, der ihm über diese Aktion Bericht erstattete. Malinowski schickte es an Chruschtschow weiter. Chruschtschow sandte es Malinowski mit dem handschriftlichen Vermerk „Genehmigt“ zurück. Die Gefahr, daß die sowjetischen Streitkräfte auf Kuba angesichts eines US-Angriffs – zu dem, wie ich bereits erwähnt habe, viele Mitglieder der US-Regierung, und zwar sowohl Militärs als auch Zivilisten, Präsident Kennedy raten wollten – entschieden hätten, ihre Kernwaffen einzusetzen statt sie zu verlieren, war eindeutig sehr groß.

>Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, was in diesem Fall geschehen wäre, das Ergebnis kann mit Sicherheit vorausgesagt werden.

Die US-Invasionsstreitkräfte wären zwar nicht mit taktischen Kernsprengköpfen ausgerüstet gewesen – Präsident Kennedy und ich hatten das ausdrücklich untersagt –, aber man sollte natürlich nicht glauben, daß die USA im Falle eines nuklearen Angriffs auf ihre Truppen auf einen nuklearen Vergeltungsschlag verzichtet hätten. Und wohin hätte das geführt? In die Katastrophe.

Mir kommt es vor allem auf folgendes an: Der Mensch ist nicht unfehlbar. Wir alle machen Fehler. Im Alltag bezahlen wir sie teuer, aber wir versuchen auch, aus ihnen zu lernen. Im konventionellen Krieg kosten sie Menschenleben, manchmal sogar Tausende von Menschenleben. Wenn aber Fehler bei der Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen begangen würden, hätten sie die Vernichtung ganzer Gesellschaften zur Folge. Meiner Ansicht nach kann man daher zuverlässig voraussagen, daß die unsichere Kombination von menschlicher Fehlbarkeit und Kernwaffen ein hohes Risiko einer potentiellen Katastrophe in sich birgt.

Ist es militärisch zu rechtfertigen, dieses Risiko weiterhin als gegeben hinzunehmen? Die Antwort ist Nein.

In »Nuclear Weapons After the Cold War« wiesen Carl Kaysen, George W. Rathjens und ich darauf hin, daß die Befürworter von Kernwaffen „nur ein einziges plausibles Szenario für ihren Einsatz entworfen haben: eine Situation, in der eine Vergeltung nicht zu erwarten ist, also entweder gegen einen Staat, der nicht über Kernwaffen verfügt, oder gegen einen, der so schwach bewaffnet ist, daß die Kernwaffen einsetzende Seite auf Grund der Leistungsfähigkeit ihres eigenen nuklearen Arsenals sicher sein kann, einen völlig vernichtenden Erstschlag durchzuführen.“ Wir fügten hinzu, daß „selbst derartige Umstände bisher noch keine ausreichende Basis für den Einsatz von Kernwaffen im Kriegsfall gewesen sind. Ein Beispiel: Die amerikanischen Truppen waren zwar während des Korea-Krieges zweimal in verzweifelten Situationen – zum einen direkt nach dem Angriff Nord-Koreas im Jahre 1950 und zum anderen, als die Chinesen den Jalu überschritten –, aber die Vereinigten Staaten setzten trotzdem keine Kernwaffen ein. Zu dieser Zeit hatten Nord-Korea und China noch keine Kernwaffen, und die Schlagkraft der sowjetischen Waffen war vernachlässigbar gering.“

Die Argumentation von Kaysen, Rathjens und mir führt zu der Schlußfolgerung, daß der militärische Nutzen von Kernwaffen lediglich darin besteht, den Gegner von ihrem Einsatz abzuhalten. Wenn unser Gegner keine Kernwaffen hat, ist es daher auch für uns nicht notwendig, welche zu besitzen.

Aus den Denkschemata der Nuklearstrategie ausbrechen

Sowohl die Erkenntnis, wie nahe an der Katastrophe wir während der Kuba-Krise waren, als auch die zunehmend anerkannte Tatsache, daß die Waffen keinen militärischen Nutzen haben, haben zu einer grundlegenden Veränderung in der Einschätzung der Rolle von Kernwaffen geführt. Viele dieser Veränderungen haben sich in den letzten fünf Jahren ereignet. Zahlreiche führende Militärs, unter ihnen z.B. zwei ehemalige Vorsitzender der Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte, ein ehemaliger Oberkommandierender der Alliierten Streitkräfte in Europa und ein hochrangiger Offizier der US-Luftwaffe, der noch vor kurzem im aktiven Einsatz war, sind mittlerweile bereit, weit über das Bush-Jelzin-Abkommen hinauszugehen. Einige gehen – wie ich auch – sogar so weit, als Fernziel die weitestgehende Rückkehr zu einer atomwaffenfreien Welt zu postulieren.

Das ist allerdings eine äußerst umstrittene Aussage. In ihrer Mehrzahl glauben die westlichen Sicherheitsexperten – und zwar militärische und zivile – nach wie vor, daß die Drohung, Kernwaffen einzusetzen, Kriege verhindert. Zbigniew Brzezinski, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Carter, vertritt die Ansicht, daß ein Plan zur Beseitigung der Kernwaffen „ein Plan ist, der die Welt sicher für konventionelle Kriege macht. Deshalb bin ich davon nicht begeistert.“ Auch im Bericht eines vom ehemaligen Verteidigungsminister Richard Cheney berufenen Beratergremiums unter Vorsitz des früheren Luftwaffen-Ministers Thomas Reed wird im wesentlichen diese Meinung vertreten. Auch die derzeitige Regierung unterstützt diese Position. Aber selbst wenn man dieses Argument akzeptiert, muß man anerkennen, daß ihre abschreckende Wirkung gegen konventionelle Kriegführung auf lange Sicht teuer bezahlt wird: mit dem Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs. Nur wenige Menschen wissen, daß John Foster Dulles, Außenminister unter Präsident Eisenhower, dieses Problem schon Mitte der 50er Jahre erkannt hatte. In einem streng geheimen Memorandum, das erst kürzlich freigegeben wurde, schlug Dulles „die Universalisierung des Potentials der atomaren thermonuklearen Waffen zur Abschreckung von Aggressionen“ vor. Dies sollte durch die Übertragung der Kontrolle über die Kernwaffen an einen veto-freien UN-Sicherheitsrat erfolgen.

Dulles' Bedenken wurden in den letzten Jahren von anderen führenden Sicherheitsexperten aufgegriffen. Wie bereits erwähnt, bezweifle ich jedoch, daß die Öffentlichkeit deren Ansichten kennt. Diese wurden in drei Berichten und zahlreichen Dokumenten, die zwar nicht der Geheimhaltung unterliegen, aber keine weite Verbreitung erfahren haben, dargestellt.

Die drei Berichte wurden seit 1990 veröffentlicht:

1.

1991 stellte eine Kommission der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA in einem Bericht, der von General David C. Jones, Vorsitzender der Stabschefs der Teilstreitkräfte a.D., unterzeichnet wurde, fest: „Kernwaffen sollten ausschließlich dem Zweck der Abschreckung nuklearer Angriffe durch andere dienen.“ Die Kommission war der Meinung, daß die nuklearen Arsenale der USA und Rußlands auf 1.000 – 2.000 Sprengköpfe reduziert werden könnten.

2.

In der Frühjahrsausgabe von Foreign Affairs erschien 1993 ein Artikel, für den ein anderer früherer Vorsitzende der Stabschefs der Teilstreitkräfte, Admiral William J. Crowe Jr., als Autor mitverantwortlich zeichnete. Die Schlußfolgerung dieses Artikels lautete, daß die USA und Rußland ihre strategischen Kernwaffenarsenale bis zum Jahr 2000 auf jeweils 1.000 – 1.500 Sprengköpfe reduzieren könnten. Auf Grundlage des Artikels entstand später ein Buch, in dem es weiter hieß: „Allerdings ist 1.000 – 1.500 nicht das niedrigste Niveau, das bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht werden kann.“

3.

Im August 1993 veröffentlichte General Andrew J. Goodpaster, früherer Oberkommandierender der Alliierten NATO-Streitkräfte in Europa, einen Bericht, in dem er äußerte, daß die fünf existierenden Atommächte in der Lage sein sollten, ihre Kernwaffenarsenale auf »nicht mehr als jeweils 200« zu reduzieren, und daß eine »Null-Lösung» [Hervorheb. im engl. Original] anzustreben sei.“

Diese drei Berichte sollten niemanden überraschen. Seit fast zwanzig Jahren haben immer mehr westliche militärische und zivile Sicherheitsexperten ihre Zweifel am militärischen Nutzen von Kernwaffen zum Ausdruck gebracht. Hier einige dieser Aussagen:

  • Bis 1982 hatten fünf der sieben ehemaligen Chefs des Britischen Verteidigungsstabes die Ansicht geäußert, daß der Ersteinsatz von Kernwaffen in Übereinstimmung mit der NATO-Politik zur Katastrophe führen würde. Lord Louis Mountbatten, Stabschef von 1959-1965, erklärte einige Monate vor seiner Ermordung 1979: „Als Militär kann ich mir eine Verwendung für irgendwelche Kernwaffen nicht vorstellen.“ Und Feldmarschall Lord Carver, Stabschef von 1973-1976, schrieb 1982, daß er vollkommen gegen jeglichen Ersteinsatz von Kernwaffen durch die NATO sei.
  • In einer Rede in Brüssel 1979 machte Henry Kissinger kein Hehl aus seiner Ansicht, daß die USA nie einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion führen würden, wie groß auch die Provokation sei. „Unsere europäischen Verbündeten,“ so sagte er, „sollten aufhören, von uns immer mehr strategische Zusicherungen zu verlangen, zu denen wir nicht stehen können. Oder wenn wir doch dazu stehen, sollten wir sie nicht ausführen, da wir in diesem Fall die Vernichtung der Zivilisation riskieren.“
  • Admiral Noel Gaylor, ehemaliger Oberkommandierender der US-Luft-, Land- und Seestreitkräfte im Pazifik, äußerte 1987: „Für unsere Kernwaffen gibt es keinerlei denkbare militärische Einsatzmöglichkeit. Ihr einziger vernünftiger Zweck ist es, unsere Gegner abzuschrecken, ihrerseits Kernwaffen einzusetzen.“
  • Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte 1987 in einem BBC-Interview: „Die flexible response (Bezeichnung der NATO-Strategie, die den Einsatz von Kernwaffen als Reaktion auf einen nicht-nuklearen Angriff des Warschauer Pakts vorsah) ist sinnlos. Nicht veraltet, aber sinnlos. Das in den 50er Jahren entstandene Konzept des Westens, daß wir bereit sein müßten, als erste Kernwaffen einzusetzen, um unsere sogenannte konventionelle Unterlegenheit auszugleichen, hat mich nie überzeugt.“
  • Melvin Laird, Präsident Nixons erster Verteidigungsminister, wurde in The Washington Post vom 12. April 1992 mit den Worten zitiert: „Eine weltweite nukleare Nullösung mit entsprechender Kontrolle sollte nunmehr unser Ziel sein… Diese Waffen … sind für militärische Zwecke nutzlos.“
  • General Larry Welch, ehemaliger Stabschef der US-Luftwaffe und zuvor Befehlshaber des Strategischen Luftkommandos, kleidete den gleichen Gedanken kürzlich in folgende Worte: „Die nukleare Abschreckung beruhte auf der Annahme, daß man eine Handlung vollziehen würde, deren Vollzug vollkommen irrational ist.“
  • Und im Juli 1994 stellte General Charles A. Horner, zum damaligen Zeitpunkt Chef des US-Raumkommandos, fest: „Die Kernwaffe ist veraltet. Ich möchte alle loswerden.“

In den frühen 60er Jahren war ich zu Ergebnissen gekommen, die den soeben zitierten ähnlich sind. In langen persönlichen Gesprächen hatte ich zunächst Präsident Kennedy, dann Präsident Johnson eindringlichst geraten, nie, unter welchen Umständen auch immer, den Ersteinsatz von Kernwaffen anzuordnen. Ich glaube, sie haben meinen Rat angenommen. Aber weder sie noch ich konnten unsere Position öffentlich zur Diskussion stellen, da sie der offiziellen NATO-Politik widersprach.

Sollten wir heute, da sich die vollkommen konträren Auffassungen der US-Regierung und der Brzezinskis und Reeds auf der einen Seite und die der Lairds und Schmidts auf der anderen Seite gegenüberstehen – wobei aber allgemein anerkannt wird, daß der Ersteinsatz von Kernwaffen gegen einen atomar aufgerüsteten Gegner in die Katastrophe führen würde –, nicht sofort damit beginnen, die Vorzüge alternativer langfristiger Ziele für die fünf Atommächte zu diskutieren?

Wir haben die Wahl unter drei Möglichkeiten:

1.

Eine Fortführung der gegenwärtigen Strategie der »erweiterten Abschreckung«, der Strategie, die im vergangenen Jahr von der US-Regierung erneut bekräftigt wurde. Das würde bedeuten, daß die USA und Rußland die Zahl ihrer strategischen Kernsprengköpfe auf jeweils ca. 3.500 begrenzen, die Zahl, auf die sich die Präsidenten Bush und Jelzin geeinigt haben.

oder

2.

Ein minimales Abschreckungsarsenal – wie es vom Ausschuß der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA empfohlen und von General Jones und Admiral Crowe befürwortet wird. Dies würde für die beiden Hauptatommächte bedeuten, daß sie nicht mehr als jeweils 1.000 – 2.000 Sprengköpfe behalten.

oder

3.

Die von General Goodpaster und mir mit Entschiedenheit vertretene Rückkehr aller fünf Atommächte zu einer möglichst atomwaffenfreien Welt. (»Möglichst« bezieht sich auf die Notwendigkeit, einen Schutz gegen den »Ausbruch« in den Staaten, die vorher Kernwaffen besessen haben, bzw. gegen den Erwerb derartiger Waffen durch Risiko-Staaten oder Terroristen aufrechtzuerhalten. Die Beseitigung der Kernwaffen könnte sich in mehreren Etappen vollziehen, so wie es General Goodpaster und ich vorgeschlagen haben.)

Wenn wir es endlich wagen, aus den Denkschemata auszubrechen, die die Nuklearstrategie der Atommächte seit über vier Jahrzehnten bestimmen, dann kann es uns meiner Ansicht nach gelingen, den »Geist in die Flasche zurückzuverbannen«. Wenn wir es nicht tun, dann besteht die große Gefahr, daß das 21. Jahrhundert einen nuklearen Holocaust erlebt.

Die Frage lautet also: Wenn wir nach dem Ende des Kalten Krieges daran arbeiten, ein System der Kollektiven Sicherheit zu errichten, und wenn wir Schritte zurück zu einer atomwaffenfreien Welt unternehmen, müssen dann im 21. Jahrhundert, auch wenn dieses nicht generell friedlich sein wird, weitere 160 Millionen Menschen durch Krieg ums Leben kommen? Dies zu vermeiden darf natürlich nicht nur unsere Hoffnung sein, unser Traum, sondern es muß unser unbeirrbar verfolgtes Ziel sein. Einigen mag diese Feststellung so naiv und vereinfacht erscheinen, so idealistisch, daß es schon an Lebensfremdheit grenzt. Aber können wir als Menschen und Bürger zweier bedeutender Staaten, die die Geschicke der Welt beeinflussen können, in Frieden mit uns selbst leben, wenn wir uns mit weniger zufriedengeben? Ich glaube nicht. Und ich hoffe, Sie stimmen mir zu.

Über Robert S. McNamara

Robert S. McNamara, geb. 1916, ist, anders als die anderen
Referenten, kein Physiker. Kurze Zeit, von 1960 bis 1961, war er Präsident der Ford Motor
Corporation, bevor er von 1961 bis 1968 das Amt des Verteidigungsministers unter den
US-Präsidenten Kennedy und Johnson ausübte. Von 1968 bis 1981 war er Präsident der
Weltbank.

Die HSFK und die Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn haben
McNamara deshalb zu einer Sonderveranstaltung im Rahmen des Frankfurter Vortragszyklus'
eingeladen, weil seine enorme militärisch-strategische Expertise einen direkten Bezug zur
Hiroshima-Problematik hat. Auch er ist ein Jahrhundertzeuge auf seine Weise. Er war einer
der dynamischsten und mächtigsten US-Verteidigungsminister, der die Sicherheits- und
Militärpolitik seines Landes in einer entscheidenden Phase der US-Geschichte entscheidend
mitgestaltet hat. Sowohl während der kurzen Kuba-Krise als auch während des sich lange
hinziehenden Vietnam-Krieges stand McNamara im Zentrum der Macht.

Was ihn ferner als Referenten für diesen Vortragszyklus
qualifiziert, ist, daß er aus jener Krise, die die Welt an den Abgrund eines
Nuklearkrieges brachte, und aus jenem Krieg in Südostasien gelernt hat. Seine Memoiren
(»In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam«, New York 1995) und sein
Frankfurter Vortrag belegen, wie sehr McNamara aufgrund seiner Erfahrungen und gemachten
Fehler auf eine Welt ohne Atomwaffen drängt und wie groß seine Skepsis gegenüber dem
voreiligen Einsatz von Waffen in Konflikten ist.

Im Rückblick, so McNamara im persönlichen Gespräch, hält
er die Atombombenabwürfe für nicht notwendig, weil der sowjetische Kriegseintritt die
Niederlage Japans besiegelt und den USA die geplante Invasion des Kaiserreichs erspart
habe. Unter den damaligen Umständen hätte er die atomaren Bombardierungen befürwortet.
Die Anzahl der Toten seien bei dem Abwurf der Brandbomben auf Tokio im März 1945 viel
höher gewesen – McNamara war in der Einheit, deren Bomber vom Typ B-29 (die die
A-Bomben auf Japan warfen) auch Tokio mit konventionellen Waffen in Schutt und Asche
legten. „Was für eine Moral war das?“ Er sei „absolut
schockiert“
gewesen, als er das zerstörte Dresden gesehen habe, sagte er auf der
Pressekonferenz in Frankfurt. „Waren diese Bombardements etwa
gerechtfertigt?“
, fragte McNamara rhetorisch. Sich für Hiroshima zu
entschuldigen sei nicht der Punkt. Es komme vielmehr darauf an, den Einsatz von Waffen in
gegenwärtigen und zukünftigen Konflikten überhaupt zu verhindern.

(B.W.K.)

1) Die vorliegende Rede basiert zum Teil auf meinem kürzlich veröffentlichten Buch »In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam«, erschienen bei Times Books, New York 1995. Zurück

Literatur

Budget of the United States. Historical Tables, FY 1995, Washington: US-Government Printing Office, 1994, S. 88.

Dokochaev, Anatoly, Afterword to Sensational 100 Days Nuclear Crisis, Krasnaya Zvedzda, 6. November 1992, S. 2; und Interview von V. Badurkin mit Dimitri Volkogonov in »Operation Anadyr«, Trud, 27. Oktober 1992, S. 3.

Fialks, John J. und Kemps, Frederik, US Welcomes Soviet Arms Plans, but Dismisses Pact as Propaganda, Wall Street Journal, 17. Januar 1986; Thomas C. Reed und Michael Wheeler, The Role of Nuclear Weapons in the New World Order, Dezember 1991; und siehe Nr. 1.

Foreign Affairs, Herbst 1991, S. 95.

General Gribkov beschrieb diese Punkte auf einem Treffen im Wilson Center, Washington DC am 5. April 1994, an dem ich anwesend war.

Kaysen, Karl, Is War Obsolete, International Security, Jahrgang 14, Nr. 4 (Frühling 1990), S. 63.

Kissinger, Henry, Diplomacy (New York: Simon & Shuster, 1994), S. 805.

McNamara, Robert S., The Post-Cold War World and its Implications for Military Expenditures in Developing Countries, World Bank: Conference on Development Economics, Washington D.C., 25. April 1991, S. 805.

Washington Post, 11. Juni 1994, S. A1.

Die Rede wurde gehalten auf einer Sonderveranstaltung der HSFK und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankfurt am 22.6.1995 im Rahmen des Vortragszyklus` »Hiroshima und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit«.
1995 by Robert McNamara und Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Die deutsche Ausgabe des Buches »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« erscheint im Frühjahr 1996 bei Hoffmann und Campe.
Robert S. McNamara

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Hiroshima, Nagasaki und die Rolle der Naturwissenschaftler

Der gegenwärtige Forschungsstand im Spiegel neuerer Literatur

von Bernd W. Kubbig

Mit dem Bau der Atombombe und dem Abwurf der ersten beiden Exemplare »Little Boy« und »Fat Man« geriet plötzlich die Berufsgruppe der Naturwissenschaftler, vor allem die der Physiker, in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Ohne sie wäre diese Waffe, die die Möglichkeiten der Zerstörung revolutionierte, nicht zustande gekommen. Nur sie verfügten über die naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse, nur sie besaßen die technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, dieses Wissen anzuwenden. Physiker waren es, die das gewaltige Manhattan-Projekt durch Einsteins berühmten Brief vom 2. August 1939 an Präsident Roosevelt ins Rollen brachten.1

Roosevelt setzte Einsteins Forderung um, und fortan stand der Bau der Bombe unter dem Primat politisch-militärischer Imperative, denen sich die Naturwissenschaftler organisatorisch ein- und unterordneten, denen sie aber auch wieder neue Impulse und eine neue Dynamik verliehen. Denn Naturwissenschaftler waren an führender Stelle an der organisatorischen Durchführung des Manhattan-Projekts beteiligt, und sie saßen in den entscheidenden Zentren der Macht, die über den Abwurf der ersten beiden Bomben befanden.

Es ist nicht verwunderlich, daß die beispiellose Rolle und Bedeutung der Naturwissenschaftler bald zum Gegenstand der historiographischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung wurde, die eine unübersehbare Literatur produziert hat. Die Flut von Büchern und Artikeln ist auch in den letzten fünf Jahren nicht zurückgegangen. Obwohl die frühere Forschung wichtige Fragen beantwortet hat, sind andere kontrovers geblieben und neue hinzugekommen. Viele Publikationen der letzten fünf Jahre wiederholen aber oftmals nur empirisch längst bekannte Sachverhalte.

Dieser Aufsatz konzentriert sich in den vorgestellten Publikationen zur Hiroshima/Nagasaki-Frage auf Aspekte, die die Rolle, das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Naturwissenschaftler sowie ihren Umgang mit den Abwürfen betreffen. Die sowjetischen und deutschen Physiker berücksichtigt dieser Artikel mit. Diese Dimensionen werden zunächst in den breiteren Forschungszusammenhang eingebettet.

Wer sich einen Überblick über den – abnehmenden – Einfluß der US-Naturwissenschaftler bei »kardinalen Entscheidungen« im Bereich Sicherheit seit dem Bau der A-Bombe bis zu SDI verschaffen möchte, dem sei die Studie von Gregg Herken empfohlen (Herken 1992). Wie in seinen früheren Arbeiten erweist sich der US-Zeitgeschichtler in dieser nicht systematisch, sondern chronologisch angelegen Ansammlung von Fallstudien erneut als guter Sachkenner und Stilist. Den Gründen für den Einflußverlust der einst gefürchteten »scientific-technological elite« hätte der Autor allerdings mehr Aufmerksamkeit widmen können.

Seine untersuchten Entscheidungen lassen weitere systematische Schlußfolgerungen zu – beispielsweise, daß »trans-scientific decisions«, in denen nun einmal die politische Dimension die technischen Aspekte dominiert, unterschiedlichem Rat, divergierenden Deutungen und konträren Interessen Tür und Tor öffnen. Unverkennbar ist auch, daß viele Entscheidungssituationen und die angeforderte technische Expertise durch Ambivalenz und interpretationsbedürftige »Wenn-dann-Annahmen« gekennzeichnet sind. Das politische System in den USA – und anderswo – hat sich sehr bald gegen die heterogene »Wissenschaftlergemeinde« und ihre Pro- und Contra- Empfehlungen zu wehren gewußt. Politiker und Bürokraten verstanden es, Naturwissenschaftler für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (»Pick-your-scientist-Syndrom«).

Der Forschungszusammenhang

Es hat auf das Jahr genau zwei Dekaden gedauert, bis die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in den USA einen Historikerstreit auslösten. Dies geschah, als Alperovitz seine Studie »Atomic Diplomacy« veröffentlichte und mit einem Paukenschlag die »revisionistische Geschichtsschreibung« in der Hiroshima-Forschung einleitete. Kaum ein Werk über ein zeitgeschichtliches Thema hat ein so großes Echo gefunden, Forschungsaktivitäten in Gang gebracht und Widerspruch geerntet, vor allem in den eigenen Reihen der in sich heterogenen »revisionistischen Schule« der amerikanischen Geschichtsschreibung. 1985 brachte Alperovitz eine revidierte Fassung heraus2, und pünktlich zum 50. Jahrestag der atomaren Doppel-Katastrophe wird ein neuer umfangreicher Band erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob der Historiker sein Versprechen, mit neuen Dokumenten die alte These von 1965 zu untermauern, einlösen wird.3

Diese These lautet: Die Atombomben wurden in erster Linie aus politisch-diplomatischen Gründen abgeworfen, um die Sowjetunion zu beeindrucken und sie bei einer Aufteilung der Interessensphären zu Konzessionen zu bewegen. Deshalb habe die Truman-Administration andere Optionen nicht verfolgt: die japanischen Friedensgesten auszuloten; die Kapitulationsbedingungen für Tokio annehmbarer zu machen; auf den Kriegseintritt der Sowjetunion zu warten; die Macht der Atombombe über einem unbewohnten Gelände zu demonstrieren.

Die »orthodoxe Schule« der US-Geschichtswissenschaft hingegen vertrat bis dahin unisono die Auffassung, die Atombomben seien praktisch ausschließlich aus militärischen Gründen abgeworfen worden, um das Ende des Zweiten Weltkrieges in Asien zu beschleunigen, in jedem Falle aber herbeizuführen; dies habe den Vereinigten Staaten die geplante Invasion Japans erspart und damit vielen US-Soldaten das Leben gerettet.

Bis 1965 hatte sich die Forschung von dieser verengten Frage anleiten lassen. »Atomic Diplomacy« erweiterte die »Forschungslinse« beträchtlich und machte die Beantwortung anderer Fragen dringlich: Welche Faktoren bestimmten die schicksalsschwere Entscheidung Präsident Trumans und warum war der Einsatz der A-Bombe für die relevanten Politiker attraktiver als andere Alternativen? Die Öffnung neuer Archive zentraler Enscheidungsträger – unter ihnen die Tagebücher von Kriegsminister Stimson und Teile der Papiere von Roosevelt und Truman – eröffneten eine neue empirische Forschungslage.

Aus der Fülle der durch Alperovitz angeregten Publikationen, die sich konstruktiv an der »Atomic Diplomacy«-These abarbeiteten und neues Material mit verarbeiteten, ragen zwei 1975 erschienene, unterschiedlich angelegte Studien heraus. Martin Sherwins Monographie „A World Destroyed“ und Barton Bernsteins umfassender Literaturbericht.4 Sherwin erklärte in seinem Buch die Entscheidung damit, daß die wichtigen Politiker den Einsatz der A-Bombe als legitim ansahen und nicht grundsätzlich hinterfragten; Truman übernahm diese »Erbschaft« von seinem Vorgänger Roosevelt. Ansonsten bestätigte Sherwin die »orthodoxe Schule« insofern, als für die maßgebliche Elite das militärische Motiv der Kriegsbeendigung von vorrangiger Bedeutung gewesen sei.

Allerdings hätten politisch-diplomatische Interessen durchaus eine Rolle beim Abwurf der Bombe gespielt; Sherwin hielt sie jedoch für sekundär. Ohne der Truman-Administration »teuflische Motive« zu unterstellen, bedauerte der Historiker, daß die US-Regierung Alternativen nicht ernsthaft geprüft habe. Die Lockerung der »bedingungslosen Kapitulations«-Formel hätte möglicherweise die Bombardierung Hiroshimas nicht notwendig gemacht. In einem sechs Jahre später erschienenen Aufsatz bewertete Sherwin die Truman-Administration viel härter und bewegte sich stärker auf Alperovitz zu: Der Präsident habe sich gegenüber der Kapitulationsbedingung zum einen aus innenpolitischen Gründen nicht flexibel gezeigt; zum anderen zog Truman es vor, die neue Waffe zur Stärkung der US-Position gegenüber der UdSSR einzusetzen.5

Barton Bernstein, der differenzierteste und abwägendste Kenner der Materie, unterstreicht ebenfalls, daß a) die führenden Politiker und Bürokraten zu keinem Zeitpunkt auf den Einsatz der Bombe verzichten wollten; b) sie hauptsächlich die Absicht hatten, den Krieg zu beenden und Menschenleben zu retten; c) sich vor allem Truman, Außenminister Byrnes und Stimson einen »bonus« davon versprachen, die UdSSR mit der »atomaren Karte« einzuschüchtern – aber dieses Motiv sei von untergeordneter Bedeutung gewesen. Bernstein zufolge hätten die damaligen Entscheidungsträger – ungeachtet, ob das aus heutiger Sicht zu bedauern ist oder nicht – keinen Grund gesehen, Alternativen ernsthaft zu verfolgen.6

Alperovitz und Bernstein, die Protagonisten dieses permanenten amerikanischen Historikerstreits, haben seitdem ihr so abgestecktes Terrain verteidigt. Sie haben ihre Auffassungen in einer Vielzahl von Publikationen variiert und modifiziert, aber nicht korrigiert, sondern im Gegenteil zu erhärten versucht. Die Auseinandersetzungen haben in den letzten Jahren zum Teil bizarre Formen angenommen – etwa, wenn der Streitpunkt ein Komma ist.7 Dies spiegelt den Zustand der um sich selbst kreisenden amerikanischen Hiroshima-Forschung wider, in der die längst markierten großen Linien nur durch neue, revolutionäre Funde verschoben werden könnten, die die Forschung im Sinne der einen oder anderen Auffassung voranbringen und strittige Fragen klären. Bezeichnenderweise kommt die Rolle von Naturwissenschaftlern in diesen Kontroversen nicht vor.

Die Auseinandersetzungen zwischen beiden »Richtungen« konzentrieren sich derzeit auf methodische Fragen und Interpretationen – wie also Dokumente im Sinne der unterschiedlich gewichtenden »Lehrmeinungen« gedeutet werden können. Hierzu gehören beispielsweise die persönlichen Tagebücher Trumans oder Erklärungen führender Politiker und Militärs wie Eisenhower. Hier geht es aber nicht nur um akademische Eitelkeit und Rechthaberei. Die Tagebücher Trumans etwa lassen durchaus unterschiedliche Deutungen zu; nach Hiroshima und Nagasaki geäußerte Zweifel hoher Politiker an den Atombombenabwürfen beantworten nicht zwangsläufig die Frage, was sie vor dem 6. August 1945 dachten; die Einschätzung, wie wichtig die Bombe war, um das Kriegsende zu beschleunigen, enthält notwendigerweise spekulative Elemente, die sich teilweise auch in Zukunft allenfalls durch spektakuläre empirische Funde von großer Eindeutigkeit werden beantworten lassen.

In diesem Streit spricht mancher empirische Fund für die »Atomic Diplomacy«-These. Alperovitz muß sich jedoch zuweilen den Vorwurf des methodisch oft saubereren Bernstein gefallen lassen, daß er die prä- und post-Hiroshima-Perspektive undeutlich voneinander trennt. Bernstein hat auch kritisch angemerkt, daß Alperovitz' verständliches normatives Interesse ihn dazu verleitet, a) die Schicksals-Entscheidung vom Sommer 1945 aus ihrem historischen Kontext des Kriegszustandes und Japanhasses zu sehr zu lösen, und b) die beklagenswerten, aber dennoch politikmächtigen Traditionen vom legitimen Einsatz der Bombe zu unterschätzen. Der berechtigte Wunsch, es hätte anders kommen mögen und die Analyse der Gründe, die zur Bomben-Entscheidung führten, dürfen nicht vermischt werden.

Auch wenn unter den beiden Protagonisten Dissens darüber besteht, wie der gegenwärtige Konsens der US-Historikerzunft in der Hiroshima-Frage zu definieren sei (die Art, wie beide Seiten die Konsens-Beschreibung des als Autorität vielfach herbeigerufenen Samuel Walker unterschiedlich interpretieren, ist ebenfalls bizarr): Hier soll mit Walker8 der »consensus among scholars« festgehalten werden, wonach

  • „die Bombe nicht notwendig war, um eine Invasion in Japan zu vermeiden und den Krieg in verhältnismäßig kurzer Zeit zu beenden“ (was immer Walkers unpräzise Zeitangabe hier meint, die von Alperovitz im übrigen nicht mitzitiert wird);9
  • „es klar (sei), daß es Alternativen zur Bombe gab und daß Truman und seine Berater dies wußten“;
  • „kein Wissenschaftler Alperovitz' These, daß politische Erwägungen die Bomben-Entscheidung diktierten, in unveränderter Form übernommen hat“;
  • „der Konsens von Mitte der siebziger Jahre weiterhin vorherrscht, demzufolge die Bombe primär aus militärischen und sekundär aus politischen Gründen eingesetzt wurde“;
  • „es innerhalb dieses breiten Konsenses genügend Raum für Uneinigkeit und unterschiedliche Gewichtungen gibt“.

Auch andere Historiker gehen in ihrer Darstellung vom Kriegsende im Pazifik und der Beurteilung des fatalen US-Beschlusses von diesen unterschiedlichen Prämissen aus. In seiner großangelegten Studie, die hier nicht gewürdigt werden kann, läßt sich Gerhard L. Weinberg von der Auffassung leiten, daß für die Truman-Administration das Ziel der Kriegsbeendigung „zum damaligen Zeitpunkt das wichtigste Anliegen“ (S. 923) war (Weinberg 1995). Den Gegenakzent setzt auf mindestens so plausible Weise Wieland Wagner, der in seinem prägnanten Aufsatz „Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki“ in einem von Michael Salewski herausgegebenen Band ebenfalls die wichtigste Literatur berücksichtigt (Salewski 1995, S. 72-94).

Der skizzierte Streit unter einigen wenigen US-Historikern hat sich in den letzten Jahrzehnten jenseits der breiten Öffentlichkeit vollzogen. Das hat sich im Zuge der in den Medien seit 1994 bitter ausgetragenen Kontroversen um die offizielle »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum in Washington, D.C., abrupt geändert. Hier findet der Historikerstreit sein popularisiertes wie hochpolitisiertes Pendant, allerdings bar aller Differenzierungen und Nuancierungen. Zum 50. Jahrestag der Abwürfe ist aus jenen rituellen Auseinandersetzungen zwischen den Protagonisten ein erbitterter Kampf zwischen der Air Force Association, der American Legion und ihren Verbündeten gegen engagierte Rüstungskontroll- und Abrüstungsbefürworter geworden. Die Vergangenheit holt im Jahr 1995, dem Jahr des Rückblicks und der Erinnerungen, auch die USA ein, die bisher als einziges Land A-Bomben abgeworfen haben, und rüttelt an den Grundfesten des Selbstverständnisses und der Moralität. Die »Enola-Gay-Ausstellung« ist inzwischen entpolitisiert worden und hat mit dem ursprünglichen Konzept nichts mehr gemein.

Der Streit unter den Historikern wird indes auch in der Öffentlichkeit verstärkt weitergehen. Dafür dürfte allein das auf Provokation angelegte Buch von Robert P. Newman „Truman and the Hiroshima Cult“ sorgen, das termingerecht im August erscheinen wird (Newman 1995). Es ist auf den Kontext der öffentlichen Debatte hin geschrieben und liest sich wie ein Skript der Bomben-Befürworter. Aus politischen Gründen muß dieses Buch deshalb ernst genommen werden.

Warum warf Truman die Bombe? War Japan bereit, zu kapitulieren? War die Politik der bedingungslosen Kapitulation gerechtfertigt? Warum gab es keine Warnung oder Demonstration? War die zweite Bombe notwendig, um den Krieg zu beenden? War der Abwurf dieser Bomben moralisch gerechtfertigt?

Das sind Newmans Fragen. Wer hätte nicht gern eine eindeutige Antwort darauf! Newman hat sie. Das Buch ist griffig geschrieben, setzt sich durchaus mit Gegenargumenten auseinander und kommt an jedem Kapitelende zu einer klaren Aussage. So einfach ist das in einem Manifest, das sich weniger als „archive centered effort“ (S.XV) versteht, sondern als Buch einseitiger Deutungen angesehen werden muß.<>

Newman, emeritierter Kommunikationswissenschaftler an der Universität von Pittsburgh, hat das Buch gegen einen Historiker – Gar Alperovitz – und seine Mitstreiter geschrieben, die scheinbar homogene Gruppe der »Hiroshima cultists«. Newman versucht das Rad des historiographischen Diskurses zurückzudrehen und fällt hinter den erreichten Konsens zurück. Denn die von ihm angegriffene »Atomic Diplomacy«-These versucht er zu ignorieren. Anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist er bestrebt, Alperovitz' Auffassung auszuhebeln, indem er erklärt, wie es zu ihr kam: Es war das »American terror bombing« in Vietnam, das viele auf den »Hiroshima guilt trip« brachte (S.183). Eine solche Vorgehensweise ist unseriös, wenn nicht infam. Newmans Buch ist – auch wenn man mit Alperovitz in vielem nicht übereinstimmt – eine neue Variante jener Literatur, die früher bereits seine Studie als ein Werk »kreativen Schreibens« abtun wollte.10

Hier soll das Kapitel im Mittelpunkt stehen, in dem sich Newman mit den folgenden Fragen befaßt: Hätte die Demonstration einer Bombe die Japaner zur Kapitulation gezwungen oder das Ende des Krieges beschleunigt? Hätte sie innerhalb des Kriegskabinetts in Tokio die Fraktion der Kompromißbereiten gegenüber den »hardlinern« gestärkt? Hierauf läßt sich keine endgültige Antwort geben, weil die Geschichte nun einmal ihren alternativen Verlauf nicht enthüllt. Newman hat aber auch hier eine klare Antwort: „Die Alternative einer Demonstration war bankrott.“ (S. 96)

Führende Wissenschaftler wie Conant und Compton sprachen sich als Mitglieder des hochrangigen »Interim Committee« (siehe unten) damals gegen eine solche Option aus, ähnlich Hans Bethe. Ihre Gründe, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind, macht sich Newman zu eigen. Wenn man die Japaner warnte, bevor die Bombe demonstriert wurde, könnten sie das Flugzeug mit der Waffe an Bord abschießen; ihr Mechanismus könnte versagen; sie könnte ein Blindgänger sein, für die es keinen schnellen Ersatz gab, da in Los Alamos nur zwei Waffen relativ rasch fertiggestellt werden konnten, während es mehrere Wochen gedauert hätte, bis eine dritte einsatzbereit gewesen wäre.

Keinem Geringeren als Oppenheimer sind im Nachhinein Zweifel an seinem damaligen klaren Ja zum Abwurf der Bombe und zu seiner Skepsis gegenüber einer technischen Demonstration gekommen. Newman tut die oft zitierten Worte Oppenheimers, die Physiker „didn't know beans about the military situation in Japan“ (S. 92) mit der zynischen und durch nichts belegten Behauptung ab: Die Naturwissenschaftler seien noch „nicht infiziert gewesen“ (S. 93) von der Hypothese des Strategic Bombing Survey von 1946, derzufolge Japan bereit zur Kapitulation gewesen sei. Des weiteren führt er Leo Szilard als Kronzeugen gegen eine Demonstration an, aber er bricht das Zitat ab (S. 93f.) und wird der Argumentation des damals engagiertesten Befürworters einer Demonstration nicht gerecht – bei allen Zweifeln, die Szilard im Nachhinein an dieser Option gekommen sein mögen.11

Eingehend untersucht der streitbare Kommunikationswissenschaftler in diesem sprunghaften Kapitel den „heiligen Text der Anti-Atombewegung“ (S. 87), den Franck-Report (siehe S. 46<0><|><>ff. in diesem Heft). Er arbeitet durchaus schwache Punkte dieses dennoch wichtigsten Versuchs von sieben in Chicago arbeitenden Naturwissenschaftlern heraus, die Entscheidungsträger in Washington von einem Abwurf möglichst abzubringen. Dabei fällt Newman jedoch hinter die Autoren zurück, die sich bereits kritisch mit dem unter der Leitung von Chemie-Nobelpreisträger James Franck zustande gekommenen Report auseinandergesetzt haben – sei es, daß Newman nicht systematisch vorgeht wie sie12, die Bandbreite der möglichen Alternativen nicht diskutiert und auch entscheidende Schwächen der »scientists« nicht benennt13, sei es, daß er nicht differenziert genug ist und die Leistungen des Berichts nicht anerkennt14.

Zu spät in ihren Initiativen, zu unpräzise in ihren Empfehlungen und zu unkoordiniert in ihrer Kontaktaufnahme mit Politikern – so läßt sich aus meiner Sicht die Kritik an den Verfassern des Franck-Reports zusammenfassen. Sie haben es den Befürwortern eines Abwurfs sehr leicht gemacht. Newman kritisiert zu Recht, daß es unter den Gremien, die die Wissenschaftler in Chicago einrichteten, um die »atomare Frage« zu erörtern, keinen Ausschuß gab, der sich mit den Abwürfen auf Japan intensiv befaßte. Der Franck-Report war und ist ein bedeutendes rüstungskontrollpolitisches Manifest, ein detaillierter technischer Bericht über die Durchführung und die Vorzüge einer Demonstration aber ist er nicht. Ein solche gründliche Evaluierung, mit der die »scientists« ihre vielbeschworene einzigartige Expertise hätten einbringen können, blieb aus (Edward Teller hat dieses Versäumnis in seinem Frankfurter Vortrag besonders kritisiert). Er hätte die Entscheidungsträger in Washington wohl am ehesten unter Druck setzen können, ihrerseits Alternativen zum Abwurf der Bombe intensiv zu untersuchen.

Den Autoren des in einigen Tagen zusammengezimmerten Berichts ging es in erster Linie darum, die langfristigen Negativ-Auswirkungen der A-Bombe in Form des Rüstungswettlaufs zu vermeiden. Gleichzeitig forderten die Verfasser internationale Kontrollregelungen. Die kurzfristig anstehende Frage der Abwürfe auf Japan war von untergeordneter Bedeutung. Beide Dimensionen werden im Report verknüpft – am Morgen nach einer Demonstration gehe das Wettrüsten los, wenn es nicht zu einer internationalen Abmachung komme. Der Bericht vermischt die lang- und kurzfristigen Aspekte aber auch und präsentiert den Entscheidungsträgern schwer zu vergleichendende Folgen, die Newman – und mehrere Autoren vor ihm – zu recht kontrastiert: der Abwurf, so der Bericht einerseits, könnte kurzfristig Menschenleben retten und den Krieg verkürzen; der Verzicht auf ein atomares Bombardement könnte andererseits einen Rüstungswettlauf hinauszögern und langfristig amerikanische Menschenleben schonen.

Es fällt nicht schwer, zu erraten, wie sich die Politiker und Bürokraten in der damaligen Situation entschlossen hätten. Newman führt den Ansatz und die unterschiedlichen Gewichtungen des Franck-Reports auf den »Eurozentrismus« unter den Autoren zurück. Dies überzeugt aus zwei Gründen nicht. Erstens waren nur zwei der sieben Verfasser – Franck und Szilard – europäische Emigranten; zweitens ist es Szilard gewesen, der den Japan-Aspekt überhaupt in den Report – und in die damalige Diskussion – hineingebracht hat.15 Im Rückblick hat der Physiker es jedoch als größtes Versäumnis angesehen, daß die Niederlage Japans nicht genug erörtert worden sei, wobei er hinzufügte, daß der Krieg mit politischen Mitteln hätte beendet werden können und daß die Abwürfe nicht notwendig gewesen seien.

Aus heutiger Perspektive ist es leicht, den kritischen Naturwissenschaftlern von damals Versäumnisse anzulasten. In der früheren Literatur ist die – müßige – Frage gestellt (und tentativ bejaht) worden, ob die Physiker den Einsatz der Atomwaffen hätten verhindern können – etwa wenn Franck vor dem »Interim Committee« erschienen wäre, um eine Demonstration ausführlich zu erörtern.16 Skepsis ist angebracht. Denn in den entscheidenden Sitzungen des Ausschusses wurde diese Option nur einmal – am 31. Mai 1945 – und auch damals nur eilig und nebenbei – beim Mittagessen besprochen.17 Newman erweckt im übrigen durch seine Art der Darstellung (S. 85f.) den gegenteiligen Eindruck. Die führenden Entscheidungsträger interessierte nicht, ob die Bombe, sondern wie sie eingesetzt werden sollte. Was der Kommunikationswissenschaftler im übrigen geflissentlich übersieht, ist, daß die vier Physiker – Oppenheimer, Fermi, Lawrence und Compton – die das »Interim Committe« berieten, dem Franck-Report nicht die Aufmerksamkeit schenkten, die ihm gebührte.18

Für Newman war die neue Waffe der entscheidende Faktor, der zur Kapitulation führte. Den eindeutigen Beweis bleibt er schuldig. Von den 1946 befragten japanischen Politikern meinten acht, daß die Bombe und die Sowjetunion in etwa gleich ausschlaggebend für die Kapitulation waren, während acht weitere die Bedeutung der neuen Waffe hervorhoben. Einer von denen, Marquis Kido Koichi, wird später (S. 110) so zitiert, daß er eigentlich in die erste Kategorie der Befragten hineingehört. Auch die Einschätzungen der von Newman zitierten japanischen Historiker sind nicht so eindeutig, wie von ihm behauptet und gewünscht (S. 102). Die bis heute maßgebliche Studie von Robert Butow, von Newman ausführlich zitiert, führt den »großen Schock« ebenfalls auf Hiroshima, Nagasaki und den sowjetischen Einmarsch in die Mandschurei zurück (S. 103). Der Faktor Sowjetunion holt den Autor gegen seinen Willen auffallend häufig ein.

Leo Szilard oder der verzweifelte Wettlauf gegen den Abwurf der Bombe

Der bereits mehrfach erwähnte ungarische Emigrant Leo Szilard war der Physiker, der Einstein mit dazu bewegt hatte, jenen Brief an Präsident Truman zu schreiben, der das Manhattan-Projekt ins Rollen gebracht hatte; zusammen mit Enrico Fermi hatte er im Dezember 1942 die erste Kettenreaktion in einem Reaktor erzeugt und damit einen wesentlichen Beitrag zum Bau der Atombombe geleistet. Leo Szilard war es auch, der ab Frühjahr 1945 die stärksten Aktivitäten unter den Physikern und gegenüber der US-Regierung entfaltete, um den Abwurf der Bombe auf Japan wenn nicht zu verhindern, so doch hinauszuzögern. William Lanouette stellt in der ersten umfassenden Szilard-Biographie die verzweifelten und erfolglosen Versuche des Physikers anschaulich dar (Lanouette 1992): sein Memorandum an Roosevelt, das diesen aber nicht mehr erreichte, weil der Präsident überraschend starb; sein Treffen in Spartanburg mit dem zukünftigen Außenminister der Truman-Administration, Byrnes, das unglücklich verlief, da sich beide nicht mochten und von völlig unterschiedlichen Prämissen ausgingen; seine Mitarbeit am Franck-Report; und schließlich die von ihm entworfene und Anfang Juli 1945 an seine Kollegen verteilte Petition an den Präsidenten.

Lanouette präsentiert kaum neue Fakten, was angesichts einer systematischen Auswertung der Szilard-Archive überrascht. Aber er stellt die von vielen Autoren sowie von Szilard selbst beschriebenen Versuche zusammenfassend in den biographischen Kontext des plastisch porträtierten Exzentrikers und brillianten Theoretikers. Das Szilard-Memorandum an Truman, von fast 70 Naturwissenschaftlern unterzeichnet, ist schwächer formuliert als etwa der Franck-Report. Die Erklärung (S. 272f.) schließt die „Angriffe mit Atombomben“ als „wirksames Mittel der Kriegsführung“ keinesfalls aus. Allerdings seien solche Angriffe auf Japan nicht zu rechtfertigen, solange a) es keine Möglichkeit habe, sich zu ergeben und die Kapitulationsbedingungen nicht im Detail kenne; und b) die moralischen Aspekte nicht genügend bedacht seien. Es ist auffallend, daß die Petition ein bedingungsloses Sich-ergeben, das als Hauptbarriere der Japaner für eine Kapitulation angesehen wurde, nicht kritisch als Stolperstein erwähnt. Erst im Nachhinein hat Szilard geäußert, der den Japanern damals „tatsächlich gemachte Friedensvertrag“, in dem die USA auf die bedingungslose Kapitulation verzichteten, hätte zu einem „ausgehandelten Frieden“ führen können.19 Der abgeschwächte Wortlaut der Petition drückt aus, daß Szilard den Kampf für eine Demonstration der Bombe bereits als verloren ansah.

Lanouette verzichtet leider in der Regel darauf, die bündig dargestellten Argumente des Physikers und seiner Verbündeten zu analysieren und sich mit den Positionen der Gegenseite auseinanderzusetzen. Der Biograph schildert jedoch eindringlich, wie Szilard auf den Abwurf reagierte. Zuerst war ein „Gefühl der Erleichterung“ (S. 276) da, daß die Geheimhaltung vorbei sei und daß man den Menschen sagen könne, was sie in diesem Jahrhundert erwarte. Als er die ersten Berichte über das nukleare Grauen hört, packt ihn Entsetzen. Es sollte ihn nie wieder loslassen. Szilard hält den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima ohne Punkt und Fragezeichen für einen tragischen Fehler, die Bombardierung Nagasakis für eine Grausamkeit (S. 277). In den folgenden Monaten entwickelt er hektische Tätigkeiten. Sie offenbaren die hilflose Phantasie des genialen Physikers, etwa wenn er dazu auffordert, daß seine Kollegen am Met Lab in Chicago als Zeichen ihrer Tauer schwarze Armbinden tragen sollten (S. 277).

Hiroshima und Nagasaki werden zur wichtigsten Rahmenbedingung für Szilards Denken und Wirken bis zu seinem Tod im Jahre 1964. Ob man dem Physiker einen »Schuldkomplex« unterstellt oder nicht – er selbst stritt ihn rückblickend ab, meinte aber gleichzeitig: „It was we (die Amerikaner, B.W.K.) who used the bomb (…) Somewhere, below the level of the consciousness, we have a stake in the bomb (…).“ 20 Es ist ein Defizit dieser Biographie, daß sie nicht erörtert, warum der Physiker einen A-Bombenabwurf auf Deutschland befürwortete; die entsprechenden Quellen, die z.B. Bernstein ausgewertet hat, werden in der Biographie nicht berücksichtigt. Ihnen zufolge war Szilard 1944 für ein solches atomares Bombardement selbst für den Fall eingetreten, daß die Waffe militärisch nicht notwendig gewesen wäre. Ein solcher Einsatz – so sein Argument – würde die US-Bevölkerung gegen einen gefährlichen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion mobilisieren. Anfang 1945 setzte dann, offensichtlich ausgelöst durch die Flächenbombardements der USA auf japanische Städte, bei ihm und anderen Kollegen am Met Lab in Chicago ein Umdenken ein, das zu den dargestellten Aktivitäten führte.21

Szilard hat nie erklärt, warum er – anders als Joseph Rotblat (siehe S. 30) das Manhattan-Projekt nicht verlassen hat. Eine solche Entscheidung hätte allerdings vorausgesetzt, daß Szilard wußte, wie es um Deutschland stand und daß Japan längst als Ziel für eine A-Bombe auserkoren war. Rückblickend gab er zu verstehen, daß er weder von der Lage des Dritten Reichs noch von der militärischen Zielplanung Kenntnisse hatte – diese Position vertraten übrigens im Frühjahr 1995 Teilnehmer des Manhattan-Projekts wie Hans Bethe22 und Edward Teller (s. Teller-Interview S. 26ff.) Für die Zeit nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands überzeugt Szilards Argument nicht mehr.

Lanouette präsentiert geradezu spannend die gesamte Bandbreite von Initiativen des rastlosen Aktivisten und Visionärs Szilard. Sie sind, zunächst im internationalen, dann im US-sowjetischen Rahmen, darauf gerichtet, die Verbreitung der Atomwaffen sowie den bilateralen Rüstungswettlauf unter Kontrolle zu halten. Unverkennbar ist, daß die politischen – und nicht die militärtechnologischen Elemente – in den Aktivitäten des Physikers überwiegen. In der Regel sind seine Anregungen unkonventionell und phantasievoll, oft waren sie ihrer Zeit voraus (und sind jetzt noch zeitgemäß), meistens hatte er kein Durchhaltevermögen. Mitunter machte er Vorschläge, von denen man nicht wußte, ob sie ernst gemeint waren. Zur letzten Kategorie gehören im übrigen seine Anregungen, die Verwundbarkeit der USA gegenüber feindlichen Waffen nicht durch neue Rüstungsprojekte, sondern durch die Umsiedlung von 30 bis 60 Mio. Amerikanern aus den Ballungsräumen zu horrenden Kosten zu vermindern (später sah er scharfsichtig in der Raketenabwehr bereits ein Problem für die siebziger Jahre).

Szilards Einfluß als Wissenschaftler kann nicht nur im Hinblick auf sein Scheitern in der Hiroshima/Nagasaki-Frage gemessen werden. Insgesamt blieb sein Wirken alles andere als folgenlos – die Gründung des heute noch aktiven »Council for a Liveable World« und die Mitinitiierung der Pugwash-Bewegung sind nur zwei Beispiele.

James Conant oder das kühle Plädoyer für den Abwurf der Bomben

Verkörpert Leo Szilard den Physiker, der 1945 vom Rande des Manhattan-Projekts gegen die offizielle Bomben-Politik gegenüber Japan aufbegehrt, so repräsentiert der Chemiker James Conant den neuen Typus des Wissenschaftsadministrators im Zentrum der Macht. Höchst unterschiedlich sind die Persönlichkeitsprofile der beiden. Dem undisziplinierten Genie ungarischer Herkunft steht der unterkühlte »Yankee scientist« des Ostküsten-Establishments gegenüber. Dessen »Several Lives«, wie Conant seine Memoiren betitelte, hat James Hershberg in einer Biographie umfassend und aus anderem – kritischerem – Blickwinkel dargestellt.

Hershbergs Buch über den Harvard-Professor, späteren Harvard-Präsidenten und Botschafter in Deutschland ist ein Meilenstein in der biographischen Erschließung des Atomzeitalters. Denn Conant hat zusammen mit Vannavar Bush das US-Atomprogramm maßgeblich vorangetrieben und ihm seine Organisationsstruktur gegeben. Bereits im Zweiten Weltkrieg war er gleichzeitig ein herausragender Architekt der nuklearen US-Politik der Nachkriegszeit. Hershbergs Leistung besteht darin, das bisherige umfangreiche Material durch die detaillierte Auswertung neuer Quellen zu bereichern und in einer gut lesbaren Studie zu präsentieren. Sie besticht zudem dadurch, daß, anders als bei Lanouette, die großen politischen Zeitbezüge hergestellt und analysiert werden.

Die Erarbeitung der nuklearen Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit war dem im Frühjahr 1945 geschaffenen »Interim Committee« übertragen worden. In die Geschichte eingegangen ist dieser bereits erwähnte Ausschuß, weil er Präsident Truman die folgenschwere Empfehlung unterbreitete, Japan atomar zu bombardieren. Beraten wurde das »Committee« hierbei von den vier führenden Physikern Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Arthur Compton und Ernest Lawrence. In diesem mächtigen Ausschuß saß Conant und mit ihm Vannevar Bush und MIT-Präsident Karl Compton, also zwei weitere Wissenschaftsorganisatoren. Kriegsminister Stimson leitete das »Interim Committee«, Außenminister Byrnes fungierte als Trumans Sonderberater, zwei weitere hochrangige Politiker waren Undersecretary of the Navy Ralph A. Bard (s. Auszug S. 78) sowie Assistant Secretary of State William L. Clayton.

Durch neue empirische Funde führt Hershberg die Forschung weiter. Besonders beeindruckend und erstaunlich sind die apokalyptischen Empfindungen des sonst so rationalen Conant beim ersten atomaren Test in der Wüste von Alamogordo: Viele anwesende Naturwissenschaftler dachten an das Ende der Welt, Conant glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, daß er der letzte Mensch war (S. 234). Dieser Schrecken hat ihn nicht davon abgehalten, auch weiterhin für einen Abwurf der Bombe auf Japan zu plädieren. Vorrangig war aus seiner Sicht die einzigartige Schockwirkung, die auch er sich von einer einzigen gewaltigen und beispiellosen Explosion der Atombombe versprach: die japanische Führung würde kapitulieren.

Conant schloß sich der vorherrschenden Begründung an, daß der Abwurf ohne vorherige Warnung den Krieg am schnellsten beenden und viele amerikanische Menschenleben retten würde. Kriegsminister Stimson berichtete dem »Interim-Ausschuß« von Plänen einer Invasion Japans mit amerikanischen Bodentruppen. Befürworter der Abwürfe wie Truman und Churchill sprachen nach dem Krieg von einer halben bis zu einer Million von Toten, die die Alliierten im Falle eines Einmarsches hätten in Kauf nehmen müssen (die Forschung hat diese Kalkulationen in den achtziger Jahren als Mythos entlarvt). Als dann die Auffassung vertreten wurde, daß Japan auch ohne die Atombombe kapituliert hätte, verteidigte sich Conant. Die Anzeichen eines bevorstehenden japanischen Zusammenbruchs und die »Friedensfühler« Tokios gegenüber Moskau seien dem »Interim-Ausschuß« am 21. Juni 1945 nicht bekannt gewesen, als er seine frühere Empfehlung für den Abwurf wiederholte. Überhaupt habe Conant sein Wissen über die militärische Lage von Stimson erhalten, der dem »Committee« keine detaillierte militärische Analyse präsentiert habe.

Die von Hershberg herausgearbeitete Einstellung Conants zum Abwurf einer einsatzbereiten A-Bombe ist ebenfalls repräsentativ für die meisten amerikanischen Wissenschaftler und Politiker im Zentrum der Entscheidungsprozesse. Praktisch alle haben die neue Waffe als ein legitimes Mittel in einem Krieg angesehen. Unmißverständlich weist Hershberg auch auf den Druck hin, der von dem sich damals auf ca. 2 Mrd. Dollar belaufenden Manhattan-Projekt ausging. Wie viele vor ihm zitiert der Autor Außenminister Byrnes: „Wie bringt man den Kongreß dazu, Gelder für Atomenergie zu bewilligen, wenn sie keine Ergebnisse der bereits ausgegebenen Mittel vorweisen können?“ 23 Ohne eine spezifische Quelle anzugeben, schreibt Hershberg im unmittelbaren Anschluß auch von Conant, daß er ein „akutes Bedürfnis“ (S. 226) hatte, seine während des Krieges unternommenen Anstrengungen vor allem gegenüber zukünftigen Untersuchungsausschüssen des Kongresses zu rechtfertigen.

Wenn man davon ausgeht, daß Conant den Einsatz der Bombe von Anfang an immer grundsätzlich befürwortete, ist es folgerichtig, die sich teilweise ändernde Begründung für das gesamte Manhattan-Projekt als »subtile Transformation« zu deuten. Die Angst vor einer Nazi-Bombe stand am Anfang, ergänzt durch die Auffassung, daß die USA diese – funktionierende – Waffe wegen ihres revolutionären Potentials unbedingt besitzen sollten, und zwar unabhängig davon, ob sie andere Staaten entwickeln würden oder nicht.

Der Autor weist darauf hin, daß mit der möglichen »post-war control«-Funktion der neuartigen Waffe das kostenaufwendige Mammut-Projekt vor dem Kongreß und der US-Öffentlichkeit allein nicht zu rechtfertigen war. Nach der Niederlage Deutschlands mußte der ursprüngliche Feind durch einen anderen ersetzt werden. „Deuschland war besiegt. Japan hatte keine Möglichkeit, atomare Waffen zu bauen. Der Wettlauf war vorbei. Conant fand trotzdem andere Rechtfertigungen, um die Bombe so früh wie möglich einzusetzen.“ (S.227)

Leider bündelt der US-Historiker seinen empirischen Befund nicht, er präsentiert auch keine eindeutige Rangordnung von Conants Motiven für den Abwurf der Bombe. Der Autor macht aber indirekt deutlich, daß sich dieser wichtige Akteur keinesfalls ausschließlich dem einen oder anderen vorherrschenden Motiv- und Interessenmuster für das atomare Bombardement zuordnen läßt. Sie ergänzen sich vielmehr. Der Biograph macht für seine Deutungen Anleihen sowohl bei der durch Bernstein als auch bei der durch Alperovitz vertretenen Richtung.

Die von Hershberg beschriebene Kontroverse zwischen Conant und – ausgerechnet! – dem führenden »Realisten« unter den protestantischen Theologen, Reinhold Niebuhr, ist ebenfalls in Vielem repräsentativ für den Streit in der unmittelbaren Nachkriegszeit um die moralische Dimension der Bombardements. Der Angegriffene fragt zurück: „Wenn das amerikanische Volk den Einsatz der Atombombe tief bereuen soll, warum sollte es dann nicht gleichermaßen die ein paar Monate vorher durchgeführte Zerstörung Tokios durch (…) Brandbomben bereuen?“ (S. 284) Er glaubte zeitlebens, daß es keine glaubwürdige Alternative zu einem Abwurf gab, später bereute er lediglich, daß die Bombe nicht früher fertig gewesen sei (S.227). Schuldgefühle hat er auch in seinen privaten Gesprächen mit Familienangehörigen nie ausgedrückt, weil er keine gehabt hat. Seinem Großsohn Jim zufolge hat er später eingeräumt, daß die Bombardierung Nagasakis ein Fehler gewesen sein mag (S.228). Mit dieser Frage war er als Mitglied des »Interim-Ausschusses« jedoch konkret nicht befaßt gewesen.

Nur einmal scheint Conant die Angst befallen zu haben, in der Hiroshima-/Nagasaki-Frage auf der aus seiner Sicht falschen Seite der Geschichte zu enden. Das war 1946, nachdem John Herseys kritische Reportage »Hiroshima« erschienen war (leider ist die deutsche Ausgabe dieses Klassikers vergriffen). Conant befürchtete, daß die überwältigende Zustimmung in den USA für die Bombenabwürfe umschlagen könne. In erster Linie war er darum besorgt, daß eine kritische Einschätzung der Abwürfe die USA im sich anbahnenden Kalten Krieg mit Moskau lähmt und daß sie in einem »Heißen Krieg« den von Conant befürworteten Einsatz von Atombomben auf die UdSSR unmöglich macht.

Der spätere »Praeceptor Americae« wurde deshalb aktiv, um dies zu verhindern. Conants Manipulationen hat Hershberg im spannendsten Kapitel seiner Biographie erstmals und ausführlich beschrieben: Wie Conants über das »old boys' network« seine Fäden spann, um mit dem damaligen Kriegsminister Stimson die autoritativste Figur für ein solches Unterfangen zu bekommen; wie stark er stilistisch und inhaltlich in die Entwürfe des Aufsatzes „The Decision to Use the Atomic Bomb“ eingriff. Dieser Artikel – „das einflußreichste Statement, das jemals über die Atombombe abgegeben wurde“ (Hershberg, S. 298) – beeinflußte die »orthodoxe Geschichtsschreibung« unangefochten bis in die Mitte der sechziger Jahre, als Gar Alperovitz seine Studie veröffentlichte.

Neuerscheinungen mit wenig Neuem

Drei in Deutschland erschienene Naturwissenschaftler-Biographien können es, obwohl zwei von ihnen ebenfalls voluminös sind, im Hinblick auf die Dichte der Darstellung, die Einarbeitung der politischen Rahmenbedingungen und vor allem hinsichtlich neuer Informationen in keiner Weise mit Hershbergs monumentaler Biographie aufnehmen. Albrecht Fölsings dickleibiges Einstein-Buch (Fölsing 1993) ähnelt zumindest in dem hier ausschließlich zur Debatte stehenden Abschnitt „Der Pazifist und die Bombe“ (S. 741ff.) auffallend der bereits 1971 erschienenen Einstein-Biographie von Ronald W. Clark24, die leider verkürzt ins Deutsche übertragen wurde; über Einsteins Nachkriegsaktivitäten informiert Clark im übrigen detaillierter als Fölsing.

Über weite Teile geschwätzig ist Norman Macraes Beschreibung des aus Ungarn in die USA emigrierten Mathematikers John von Neumann (Macrae 1994). Dieser interessiert hier als wichtiges Mitglied des »Target Committee«, das die Ziele der tödlichen Last über Japan mitbestimmte. In diesem Punkt geht der Autor durchaus über die Doppelbiographie von Steve J. Heims25 hinaus (Heims' Darstellung ist für die Positionen des ultra-konservativen Mathematikers in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings informativer). Wie Groves, dessen Vertrauen von Neumann besaß, hatte auch das Mathematik-Genie u.a. die Stadt Kyoto, ein für die Japaner heiliges religiöses Zentrum, für die Zerstörung ausgewählt. Der Journalist und Biograph Macrae bescheinigt dem Naturwissenschaftler im Dienste der Militärs hier lediglich „Mangel an psychologischem Fingerspitzengefühl“ (S.214). Die unverblümte Diktion in den entsprechenden Passagen von General Groves` Autobiographie „Now it Can be Told“ vermitteln einen weitaus besseren Eindruck von der Eiseskälte des »Target Committee«, das sich ausschließlich von militärischen Erwägungen leiten ließ.

Mit den Worten „Einige Leute bekennen sich schuldig, um den Lohn für die Sünde zu beanspruchen“ (S. 215), soll von Neumann Oppenheimers Schock-Reaktion auf den Trinity-Test kommentiert haben. James Gleick, der Biograph des Physikers Richard Feynman (Gleick 1993), fügt dessen Reaktion auf die Frage eines Journalisten neben ihm nach dem Knall in der Wüste von Alamogordo hinzu: „That's the thing!“ (in der deutschen Ausgabe unpräzise übersetzt mit „Das ist die Bombe!“ (S. 229). Der von Gleick auszugsweise zitierte Brief an seine Mutter vom 9. August (S. 231) bestätigt auf beeindruckende Weise den Freudentaumel, den der erst 27-jährige Physiker mit vielen Kollegen teilt; Richard Rhodes hat den allgemeinen Enthusiasmus der am Trinity-Test Beteiligten in seiner klassischen Studie, die leider im deutschen Buchhandel nicht zu haben ist, eindringlich beschrieben.26 An die Stelle der Ausgelassenheit tritt auch bei Feynman später Nüchternheit (S. 299), die bei ihm jedoch politisch folgenlos bleibt.

Informativ wie bündig hat Lawrence Wittner die wichtigsten Gruppierungen und ihre politischen Vorstellungen im Amerika der ersten Jahre nach Hiroshima bis 1953 dargestellt (Wittner 1993). Seine kenntnisreichen Ausführungen basieren sowohl auf der Verarbeitung von Sekundärliteratur als auch auf der beeindruckenden Auswertung vieler Archive (er ist meines Wissens der einzige Historiker, der unabhängig von Hershberg Conants pro-nukleare Manipulationen entdeckt hat). Neben vielem ausreichend Bekanntem führen die beiden Kapitel dort am ehesten weiter, wo Wittner die Reaktionen des linken Spektrums der USA auf Hiroshima (z.B. bei den Kirchen) beschreibt und wo er die zum Teil rüden Praktiken der US-Regierungen gegenüber Naturwissenschaftlern und Pazifisten darstellt.

Wer sich einen raschen Überblick über das Manhattan-Projekt verschaffen möchte, sei auf den Aufsatz von Stefan Fröhlich in dem von Michael Salewski edierten Band (Salewski 1995, S. 50-71) verwiesen. Leider brücksichtigt dieser Beitrag die neueste Literatur gerade über die Los-Alamos Jahre nicht. Auch seinem eigenen Anspruch, die „Erklärungsmuster der Zeitzeugen für ihre Entscheidungen heranzuziehen“ (S. 52), wird der Autor nur sehr begrenzt gerecht. Die Erinnerungen etwa von Peierls, Weisskopf, Wigner und Zacharias wertet er nicht aus, die relevanten Passagen in Conants Memoiren überprüft er nicht anhand der Hershberg-Biographie. Die am Ende des Aufsatzes von Fröhlich angestellten Spekulationen hätten sich durch eine Kenntnis des vorzüglich aufbereiteten Szilard-Materials empirisch verläßlich beantworten lassen. Die drei von Fröhlich für das Manhattan-Projekt herausgearbeiteten Hauptcharakterisierungen sind in der Tat zutreffend: Der Krieg als Stimulus für die wissenschafts-technologische Innovation; das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik; die Führung der Wissenschaft im Projekt und dessen gleichzeitige Kontrolle durch des Militär.

Aus techniksoziologischer Perspektive beschreibt einer der Vertreter dieser Ausrichtung, Thomas Hughes, das Manhattan-Projekt (Hughes 1991). Er sieht es in dieser ungewöhnlichen Sicht einerseits als Teil der „noch nicht abgeschlosssenen Entstehungsgeschichte großer technologischer Systeme“ (S. 387). Andererseits deutet er es als beispielloses Unternehmen, bei dem die Regierung die zentrale Koordinations- und Kontrollinstanz für die Herstellung eines einzigen »Produkts« wird, nachdem die Erfindungen gemacht und weiterentwickelt worden waren. Parallelen zu Industrieunternehmen stellt der Autor jedoch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Wissenschaftlern, Technikern und Managern (S. 387) fest. Der Primat des Militärischen bleibt allerdings einzigartig. Hughes' Arbeit hätte die Forschung dann weitergeführt, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die bisher kaum berücksichtigte industrielle Infrastruktur des Manhattan-Projekts zu analysieren; statt dessen wertet er vor allem die klassische Studie von Hewlett und Anderson aus.27 Glücklicherweise erliegt Hughes nicht der Versuchung seines Ansatzes, die Bomben-Entscheidung mit technologischen Zwängen zu erklären.

Hiroshima und die sowjetischen Naturwissenschaftler in der Stalin-Ära

David Holloways Studie „Stalin and the Bomb“ ist ein großer und solider Wurf. Der ausgewiesene Experte wartet in dieser historisch wie systematisch vorzüglich angelegten Arbeit mit vielen neuen Informationen auf, und zwar nicht nur über die Rolle der Naturwissenschaftler während der sowjetischen A- und H-Bombenprogramme. Vielmehr analysiert der Autor auch die Rahmenbedingungen und Imperative Stalinscher Politik, die industriell-wirtschaftliche Struktur der Projekte sowie die Einbettung der Wissenschaftler in die bürokratische Organisation der Atomprogramme. Holloways Buch beruht auf der Auswertung vieler Archive und geführter Interviews, entscheidende Dokumenten-Sammlungen blieben ihm allerdings verschlossen. Auch in dieser Studie Holloways erfährt der Leser etwa wichtige Aussagen Stalins nach wie vor aus den Aufzeichnungen amerikanischer Akteure und Politiker (dieses Werk »überholt« in Vielem auch das einführende Buch von Heinemann-Grüder 1992, das allerdings in seinen Kapiteln über die Rolle deutscher Wissenschaftler in Stalins Atombombenprogramm nach wie vor lesenswert bleibt). Eine abschließende Studie konnte Holloway zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorlegen. Das schmälert ihren Verdienst jedoch keineswegs.

Die Atombombenabwürfe der USA bedeuteten, wie der Autor eingehend darlegt, eine entscheidende Zäsur in der Atompolitik Stalins. Während des Zweiten Weltkrieges hatte der Diktator viele militärtechnologische Projekte, darunter auch das Nuklearprogramm, vernachlässigt. Das änderte sich schlagartig nach Hiroshima und Nagasaki. Bereits am 20. August setzte ein geheimes Dekret Stalins das sowjetische Projekt in Gang. Die (Kommando-)Struktur und die Organisation des Unternehmens, das nun höchste Priorität bekam, waren schnell etabliert. An die Spitze des Geheimprojekts berief Stalin keinen Militär, sondern Geheimdienstchef Berija, der das von Holloway kenntnisreich dargestellte »sowjetische Manhattan-Projekt« mit der ihm eigenen Mischung aus Effizienz und enormem Druck leitete (siehe Golovin S. 51ff.)

Holloway gibt Einblicke in die Arbeitsweise der Wissenschaftler, die vom Gebot der Geheimhaltung gekennzeichnet ist. Hier gibt es viele Parallelen zum Arbeitszusammenhang der amerikanischen Kollegen in Los Alamos. Der Historiker legt ferner überzeugend dar, wie sehr das sowjetische Atombombenprogramm von außen angeregt wurde, und er analysiert ebenso plausibel, daß Stalin die A-Bombe unter allen Umständen haben wollte. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse von Holloways Studie, auch wenn man sie nicht gern hören mag. „Hiroshima“, soll Stalin zu Kurchatov und Vannikov gesagt haben, „hat die ganze Welt erschüttert. Das Gleichgewicht ist zerstört“ (S. 132). Jetzt setzte der Diktator alles daran, um die Balance wiederherzustellen. Die Atombombe war aber aus Stalins Sicht nicht nur eine mächtige Waffe, sondern auch das mächtigste Symbol für die wirtschaftliche und technologische Stärke der USA. Holloway legt dar, daß die A-Bombe nicht das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entworfene Design sowjetischer Außenpolitik veränderte, das auf die Konsolidierung der territorialen Gewinne und auf die Etablierung einer Interessenzone in Osteuropa ausgerichtet war. Allerdings mußte die Führung die Bombe als neuen Faktor in dieses Konzept einpassen. Zu fragen ist, ob hier der Verfasser deren Bedeutung nicht unterschätzt.

„Aufholen und überholen“ hieß die Devise (S.133) für das sowjetische Atomprojekt. Stalin wollte das Monopol der USA brechen und in der Zwischenzeit die USA daran hindern, die »atomare Karte« erfolgreich gegen die UdSSR zu spielen. Seine Sorge war nicht, daß ein Atomkrieg unmittelbar bevorstand. Vielmehr galt es, sich durch den Bomben-Faktor nicht einschüchtern zu lassen. Die neue Waffe trug, wie Holloway herausarbeitet, auf diese Weise zur Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehung bei.

Stalins Politik ging, wie der Autor gut dokumentiert, im großen und ganzen auf. 1949 führte die UdSSR den ersten erfolgreichen Kernwaffenversuch vor. In der Zwischenzeit gelang es der Truman-Administration nicht, aufgrund ihres Monopols Stalin zu außenpolitischen Konzessionen zu bewegen – etwa in Osteuropa oder auf internationalem Parkett durch den Baruch-Plan, der die Vormachtstellung der USA verstetigt und der UdSSR die eigene atomare Option verweigert hätte. Am 30. Dezember 1946 stimmte der Atomenergieausschuß der UN mehrheitlich für den Plan. Fünf Tage vorher war dem »sowjetischen Oppenheimer« Igor Kurchatov – auf den Monat genau vier Jahre nach Fermis und Szilards erfolgreichem Versuch in Chicago – die (damals geheimgehaltene) Kettenreaktion erstmals in einem Experimentalreaktor gelungen.

Wie für die am Manhattan-Projekt beteiligten Physiker stellte das sowjetische Parallelunternehmen eine große intellektuelle Herausforderung für die sowjetischen Kollegen dar. Hinzu kam der Konkurrenzaspekt. Das Projekt brachte zudem Arbeit und Brot. Nachdem das Nuklearprogramm erste Priorität bekommen hatte, wurden die Atomphysiker zu einer privilegierten Kaste. Von den wissenschaftlichen Säuberungen des Jahres 1949 blieben sie verschont, weil die »westliche« und »idealistische« Quantenmechanik und Relativitätstheorie die theoretische Basis für den Bau der neuen Waffe darstellten. „Es war die Atombombe, die die sowjetische Physik 1949 rettete,“ resümiert Holloway (S. 211) in spannenden Passagen über die damaligen wissenschaftlich-idologischen Turbulenzen. Ungefährdet war und blieb auch diese Berufsgruppe nicht. In jenem Klima soll Stalin über die Physiker zu Berija gesagt haben: „Laß sie in Frieden. Wir können sie später immer noch erschießen.“ (S. 211)

Die sowjetischen Atomphysiker haben ihre Aktivitäten zum Teil anders begründet als ihre amerikanischen Kollegen. Sie reagierten ja »nur« auf den von den US-Naturwissenschaftlern mitinitiierten Rüstungswettlauf. Sie übernahmen Stalins Devise von der Wiederherstellung des Gleichgewichts oder waren davon überzeugt, daß die UdSSR eine eigene Bombe brauche, um sich gegen den Feind zu schützen oder ihn davon abzuhalten, sie gegen die UdSSR einzusetzen. Die Bombardierung Hiroshimas wurde als »zynischer Antihumanismus« bezeichnet. Vertraut ist die universal vorgebrachte Begründung, der Bau der – in diesem Fall sowjetischen – Bombe sei nicht dasselbe wie ihr Abwurf auf friedliche Städte, und: Nicht die Naturwissenschaftler, sondern die Politiker und Militärs würden diese Entscheidung treffen. Intensive moralische Diskussionen gab es wahrscheinlich gar nicht, sie wären sehr gefährlich gewesen (siehe Golovin-Interview S. 55). Ohnehin konnte man sich nur in den ersten Jahren weigern, am Atomprojekt teilzunehmen.

Für andere Wissenschaftler war der Bau der Bombe eine Fortsetzung des Krieges gegen Nazi-Deutschland. Der mächtige »Wissenschaftskommissar« Kurchatov unterschrieb oft mit »Soldat Kurchatov«. Er war es übrigens, der nach dem ersten Test der H-Bombe um die Entlassung aus dem Projekt bat. In die Entstehung und Entwicklung dieses Waffenprogramms gibt die grundlegende Studie Holloways ebenfalls erstaunlich viele neue Einblicke.

Deutsche Atomphysiker im Dritten Reich und danach

So verständlich es ist, daß sich hauptsächlich US-Historiker mit der Hiroshima/Nagasaki-Frage befassen, so unverständlich ist es, warum die bundesdeutsche Zunft der Historiker den amerikanischen Kollegen auch da das Feld überläßt, wo es um die Aufarbeitung der eigenen (Wissenschafts-)Geschichte geht. Ohne die Angst vor der Nazi-Bombe hätte es das Manhattan-Projekt in dieser Form nicht gegeben. Vor allem Mark Walker hat sich in einer wichtigen, auch hierzulande breit rezipierten Studie mit diesem Thema auf eine Weise befaßt, die die bis dahin jahrzehntelang dominierende Auffassung als Mythos entlarvte.28 Insbesondere Robert Jungk hatte nach Gesprächen mit Heisenberg, von Weizsäcker und anderen Kollegen die These kolportiert, daß sich die führenden Physiker aus moralischen Gründen der Mitarbeit am Bau einer Nazi-Bombe versagt hätten. In einer neuen Studie (Walker 1995) greift der Autor diesen Themenbereich wieder auf (siehe Artikel von M. Walker S. 59ff.)

Die monumentale Heisenberg-Biographie des amerikanischen Wissenschaftshistorikers David C. Cassidy zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, daß sie zwischen den Mythen und den Realitäten gut zu trennen weiß (Cassidy 1995). Der Verfasser unterstreicht die These, daß Heisenberg und seine Kollegen der Nazi-Führung deshalb kein »crash program« abforderten, weil sie keine Chance sahen, ein solches Projekt während des Krieges fertigzustellen. Demgegenüber wartet die Publikation von Thomas Powers mit der spektakulären, aber nicht belegten und deshalb nicht ernst zu nehmenden Behauptung auf, die noch über den langjährigen Mythos hinausgeht (Powers 1993). Um den Bomben-Bau zu vereiteln, soll Heisenberg bewußt Informationen gegenüber den zuständigen Behörden und den eigenen Kollegen zurückgehalten haben. Powers' Buch taugt als Thriller, aber nicht als seriöse Studie.

Eine wissenschaftsgeschichtliche Quelle ersten Ranges für die Rolle und das Selbstverständnis der deutschen Atomphysiker im Dritten Reich stellen die von Dieter Hoffmann sorgfältig edierten Farm-Hall-Protokolle dar (Hoffmann 1993). Die Niederschrift der von den Alliierten abgehörten und aufgezeichneten Gespräche der führenden deutschen Atomphysiker, die im britischen Farm Hall im Sommer 1945 interniert waren, vermitteln einen weitgehend unverstellten Zugang zu den damaligen Auffassungen der Wissenschaftler. Deren Positionen hat der Herausgeber in seinem Vorwort kritisch wie kenntnisreich kommentiert.

Einer der Internierten war der heute noch lebende Physiker Erich Bagge, der in dem von Michael Salewski herausgegebenen Band (Salewski 1995, S. 27-49) mit dem Aufsatz „Keine Atombombe für Hitler“ vertreten ist. Der Herausgeber führt in seinem Vorwort Bagge als prominenten Zeitzeugen für die Stimmungsschwankungen der Physiker zwischen Himmel und Hölle an (S. 26). In Bagges Aufsatz ist nichts davon zu spüren. Zutreffender dürfte auch heute noch die Charakterisierung der Allierten aus den Farm-Hall-Protokollen sein, wenn man Bagges buchhalterischen Duktus bedenkt: „Er ist durch und durch deutsch (…) Seine Freundschaft mit Diebner macht ihn verdächtig.“ (Hoffmann 1993, S. 60) Bagges Beitrag vermittelt den Eindruck, als sollte die Bombe gar nicht gebaut werden: „Ich möchte feststellen, daß in der Rede von Herrn Basche das Wort 'Atombombe' mit Sicherheit überhaupt nicht vorkam. Ich achtete sehr darauf, weil es mir beim Empfang im HWS durch Diebner am 8. September so einprägsam aufgefallen war.“ (S. 33)

In Bagges abgehörter und nachlesenswerter Äußerung in Farm Hall (S. 164) stellt sich dieser Sachverhalt jedoch anders dar.

Der Umgang der bundesdeutschen Naturwissenschaftler mit der Bomben-Problematik in den fünfziger Jahren ist ein wichtiger Aspekt in der hervorragenden Arbeit von Ilona Stölken-Fitschen. Auf der Grundlage umfangreicher und vielfach unbekannter Materialien analysiert die Autorin die politische und kulturelle Verarbeitung der A-Bombe insbesondere in der bundesdeutschen Diskussion (Stölken-Fitschen 1995). Die Grundhaltung ist durch Ambivalenz gekennzeichnet. Sie schwankt zwischen Grauen und Faszination, Angst und Hoffnung vor den »Segnungen« der zivilen Kernenergienutzung, zwischen atomarem Schrecken und atomarer Abschreckung. Der Kalte Krieg als wesentliche Rahmenbedingung für dieses Perzeptionsmuster überlagerte das »Mahnmal Hiroshima« bald bei den diversen Akteuren in unterschiedlich starker Weise.

Diese gute geschriebene Studie ist einer der überzeugendsten zeitgeschichtlichen Beiträge zur aktuellen »Hiroshima-Diskussion«. Im Spektrum der bundesdeutschen Literatur geht diese Arbeit weit über die bisher in der Regel analysierten Gruppierungen (Parteien, Friedensbewegung) hinaus. Thematisch erweitert sie den Fokus der verfahrenen und repetitiven US-Diskussion um eine wichtige Dimension und stellt damit das deutsche Pendant zur wegweisenden Untersuchung von Paul Boyer dar.29

Forschungsdefizite und -desiderate

Anstatt auf weitere Nuancierungen der amerikanischen Kabinettspolitik fixiert zu sein, ist es an der Zeit, die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Weltbilder und Traditionen zu untersuchen, die Hiroshima und Nagasaki möglich gemacht haben. Viel stärker als bisher müßte die Situation in Japan mit in die Untersuchungen einbezogen werden. Dies aber verlangt eine andere Organisation von Forschung. Anstatt daß die US-Historiker (und möglicherweise ihre Kollegen in Japan) nur zu sich selbst reden, wäre ein solches bilaterales Arrangement ein Zeichen gemeinsamen Lernens aus der Doppel-Katastrophe vom August 1945.

Die weitere Erforschung der Rolle der Naturwissenschaftler hätte dann einen festen Platz in einem solchen Design, wenn die technokulturellen und außenpolitischen Weltbilder der Physiker, ihre europäischen Traditionen und die Vermischungen mit dem »amerikanischen technologischen Enthusiasmus« (Hughes) untersucht würden. Ein derartiges Design, angemessen umgesetzt, enthält das Versprechen, daß Neuerscheinungen auch wirklich Neues vermitteln.

Rudolf Peierls: Gedanken über die Bombe

Ich werde oft gefragt: „Als Sie
daran arbeiteten, die Atombombe entwickeln zu helfen, haben Sie da nicht gewußt, welche
Schrecken sie bringen würde?
Anfangs war Ihr Motiv die Angst, Hitler könne es als
erster schaffen. Warum haben Sie die Arbeit nach der Niederschlagung Deutschlands
fortgesetzt?“

Auf diese Frage zu antworten, ist
schwer. Niemand konnte die Berichte und Bilder von Hiroshima und Nagasaki anders aufnehmen
als mit Schrecken, und es gab keinen, der in irgendeiner Weise Stolz darüber empfunden
hätte, daran mitgewirkt zu haben, daß es dazu kam. Aber es war Krieg, und im Krieg sind
Tod, Leid und Zerstörung unvermeidlich. Bei den Atombombenabwürfen sind nicht mehr
Menschen gestorben, als ein großer Feuerangriff auf Tokio gekostet hätte. Nicht das
Ausmaß der Zerstörung ist es, das dem Krieg mit dem Einsatz der Atombombe eine neue
Dimension verlieh; neu war die Mühelosigkeit, mit der die Waffe benutzt werden kann: Mit
einem einzigen Flugzeug kann eine solche Zerstörung bewirkt werden, wie sie zuvor nur
durch eine massive Militäroperation erreicht werden konnte. Wir kannten die
Zerstörungskräfte der Bombe ebenso wie ihre Strahlenwirkungen, und Frisch und ich haben
in unserem ersten Memorandum auch ausdrücklich darauf hingewiesen. Wir wußten, wie
mühelos die Bombe einsetzbar war, und deshalb wußten wir auch, welche ungeheuer große
Verantwortung damit den führenden Politikern und Militärs auferlegt wurde, die über das
Ob und Wann des Bombeneinsatzes würden entscheiden müssen.

Es war uns klar, wie wichtig es war
sicherzustellen, daß die Entscheidungsträger die neue Lage einschließlich sämtlicher
Folgen der Existenz dieser neuen Waffe begriffen. Wir dachten, daß über all dies
gesprochen worden wäre. Zu der Zeit, als ich in England war, lag die Fertigstellung der
Waffe noch in weiter Ferne. In Los Alamos hatten wir keinen direkten Kontakt mit den
maßgeblichen amerikanischen Verantwortlichen, aber wir wußten, daß Oppenheimer mit
ihnen in Verbindung stand, und wir hatten Vertrauen in dessen Fähigkeiten, die Sache
verständlich und deutlich darzulegen. Wir waren der Meinung, die Verantwortlichen seien
vernünftige und intelligente Leute und würden verantwortungsvoll entscheiden.

Rückblickend ist klar, daß wir mit
dieser unserer Meinung zu optimistisch waren. Ich will nicht sagen, daß es den
Entscheidungsträgern an gutem Willen gefehlt hätte, aber wir haben ihre
Vorstellungskraft und ihr Vermögen, sich auf eine völlig neue Situation einzustellen,
überschätzt. Meiner Ansicht nach wäre die naheliegende Reaktion gewesen, eine Bombe
über einem dünn besiedelten Gebiet abzuwerfen, um ihre Wirkungen vorzuführen, und
gleichzeitig die japanische Regierung ultimativ zu Friedensverhandlungen zu bewegen mit
dem Ziel, einen Atombombenangriff größeren Ausmaßes zu vermeiden. Das hätte bedeutet,
daß einige Menschen getötet und einige Gebäude zerstört worden wären, denn anders
wäre die Kraft der Bombe nicht augenfällig geworden: Nach dem Alamogordo-Test waren die
sichtbaren Wirkungen für den Experten zwar beängstigend, für den Laien aber nicht
beeindruckend. Natürlich hätte man mit einem solchen Ultimatum scheitern können, aber
es wäre doch wenigstens ein Versuch gewesen, unnötiges Sterben zu vermeiden. Offenbar
ist niemand auf den Gedanken gekommen, diese Möglichkeit zu prüfen; jedenfalls stand sie
in den führenden Politiker- und Militärkreisen nicht zur Diskussion. Was erörtert
wurde, war ein Test, der vorher angekündigt und zu dem Beobachter eingeladen werden
sollten (wie später bei einem Test auf dem Bikini-Atoll geschehen). Dieser Vorschlag
wurde abgelehnt, weil das zuverlässige Funktionieren des Zündmechanismus' nicht
gewährleistet war und ein Fehlschlag des Tests gegenteilige Wirkung gehabt hätte.

Auch wenn wir nun, viele Jahre später,
klüger sein mögen als damals – was hätten wir tun sollen? Hätten wir es von
Anfang an unterlassen sollen, an der Atombombe zu arbeiten, oder hätten wir nach der
Niederschlagung Deutschlands aufhören sollen, daran weiterzuarbeiten? Ersteres hätte ein
untragbares Risiko bedeutet, und nach dem Sieg über Deutschland war schließlich immer
noch ein blutiger und grausamer Krieg im Gange, der durch die neue Waffe verkürzt werden
konnte (und wurde). Im übrigen: Nachdem das Phänomen der Kernspaltung entdeckt war und
sich nicht wieder unentdeckt machen ließ, und nachdem man begriffen hatte, daß eine
Atombombe tatsächlich machbar war, ergab sich unweigerlich der Schluß, daß sie früher
oder später von jemandem entwickelt werden würde. Eine generelle Weigerung aller
Wissenschaftler, an Kernwaffen zu arbeiten, konnte nicht zustande kommen, es sei denn, es
hätte bei ihnen ein genereller Vertrauensmangel geherrscht in der Weise, daß sie ihrer
Regierung die Fähigkeit zum angemessenen Umgang mit der Situation abgesprochen hätten.
Deshalb halte ich den Gedanken eines solchen »Streiks« der Wissenschaftler für
wirklichkeitsfremd.

Oder: Hätten wir darauf bestehen
sollen, die Kontrolle darüber zu behalten, wie die Ergebnisse unserer Arbeit genutzt
werden? Das hätte bedeutet, daß wir von der anmaßenden Vermutung ausgegangen wären,
besser qualifiziert zu sein als andere, die richtigen politischen und militärischen
Entscheidungen zu fällen, und im übrigen wäre eine derartige Kontrolle auch niemals zu
verwirklichen gewesen. Ich bedaure, daß wir nicht darauf bestanden haben, mehr Gespräche
mit den führenden Militärs und Politikern zu führen, Gespräche, in denen die Folgen
und möglichen Handlungsverläufe auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes
ausführlich und in aller Deutlichkeit erörtert worden wären. Daß solche Gespräche am
Ende einen Unterschied gemacht hätten, ist freilich nicht gewiß.

Dies ist in Kurzform die Antwort auf
Fragen, die ein eigenes Buch verdient hätten.

Quelle: Rudolf Peierls, Bird of Passage.
Recollections of a Physicist, Princeton 1985, S. 203-205; (Übersetzung: Hedda Wagner.)

Vorgestellte Bücher

Cassidy, David C.: Werner Heisenberg. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1995 (Spektrum Akademischer Verlag), 600 S., 68 DM

Fölsing, Albrecht: Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp), 959 S., 78 DM

Gleick, James: Richard Feynman. Leben und Werk des genialen Physikers, München 1993 (Droemer Knaur), 712 S., 56 DM

Heinemann-Grüder, Andreas: Die Sowjetische Atombombe, Münster 1992 (Westfälisches Dampfboot), 168 S., 26 DM

Herken, Gregg: Cardinal Choices. Presidential Science Advising from the Atomic Bomb to SDI, New York/Oxford 1992 (Oxford University Press), 317 S., $ 24.95

Hershberg, James: James B. Conant. Harvard to Hiroshima and the Making of the Nuclear Age, New York 1993 (Alfred Knopf), 948 S., $ 35

Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993 (Rowohlt), 381 S., 42 DM

Holloway, David: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy 1939-1956, New Haven/London (Yale University Press), 464 S., $ 30

Hughes, Thomas: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991 (C.H. Beck), 528 S., 58 DM

Lanouette, William, with Bela Silard: Genius in the Shadows. A Biography of Leo Szilard, New York 1992 (Charles Scribner`s Sons), 588 S., $ 35

Macrae, Norman: John von Neumann. Mathematik und Computerforschung – Facetten eines Genies, Basel u.a. 1994 (Birkhäuser Verlag), 349 S., 78 DM

Newman, Robert P.: Truman and the Hiroshima Cult, East Lansing 1995 (Michigan State University Press), 272 S., $ 34.95

Powers, Thomas: Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe, Hamburg 1993 (Hoffmann und Campe), 768 S., 78 DM

Salewski, Michael (Hrsg.): Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995 (Verlag C.H. Beck, Beck'sche Reihe), 334 S., 24 DM

Stölken-Fitschen, Ilona: Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995 (Nomos), 357 S., 78 DM

Walker, Mark: Nazi Science: Myth, Truth, and the German Atomic Bomb, New York 1995 (Plenum Press), 330 S., $ 28.95

Weinberg, Gerhard L.: Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1995 (Deutsche Verlags-Anstalt), 1174 S., 98 DM

Wittner, Lawrence S.: One World or None. A History of the World Nuclear Disarmament Movement Through 1953. Vol. 1: The Struggle Against the Bomb, Stanford 1993 (Stanford University Press), 456 S., $ 29.95

Anmerkungen

1) Der epochale Brief ist abgedruckt in: Verfuß, Klaus/Hartmann Wunderer (Bearbeiter): Hiroshima. Geschichte und Aktualität der atomaren Bedrohung, Wiesbaden 1995 (Hrsg.: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung/Hessisches Institut für Lehrerfortbildung, Außenstelle Wiesbaden, in Kooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung), S. 13. Zurück

2) Alperovitz, Gar: Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam, Boulder/London 1985 (erw. und neu durchgesehene Ausgabe; ursprüngliche Edition: New York 1965, dt. 1966). Zurück

3) In den letzten Jahren – man könnte etwas überspitzt sagen: Jahrzehnten – haben sowohl Alperovitz als auch Bernstein in vielen Beiträgen immer das Gleiche gesagt, ohne wesentlich neue Dokumente zu präsentieren. Siehe z.B. den Briefwechsel zwischen Alperovitz, Gar/Robert L. Messer und Barton J. Bernstein, in: International Security, 16, 3 (Winter 1991/92), S.204-221. Eiligen Leser sei dieser Briefwechsel empfohlen, da er im Kern alle Argumente und Probleme zusammenfaßt, die sich auch im Laufe der letzten Jahre nicht geändert haben. Siehe ferner Alperovitz, Gar: Beyond the Smithonian Flap: Historians' New Consensus, in: The Washington Post, 16. 10. 1994, sowie ders., Enola Gay: A New Consensus, in: Washington Post, 4. 2. 1995. Diese Positionen finden sich ausführlicher in seinem Aufsatz »Hiroshima: Historians Reassess« wieder, den die »Blätter für deutsche und internationale Politik« in ihrem Juli-Heft 1995 abdrucken werden (leicht gekürzte Fassung des Beitrages aus der Sommer-Ausgabe von »Foreign Policy«). Zu Barton Bernstein siehe The Atomic Bombings Reconsidered, in: Foreign Affairs, 74, 1 (Frühjahr 1995), S. 135-152. Zurück

4) Sherwin, Martin J.: A World Destroyed. The Atomic Bomb and the Grand Alliance, New York 1975; Bernstein, Barton J.: Roosevelt, Truman, and the Atomic Bomb, 1941-1945: A Reinterpretation, in: Political Science Quarterly, 90, 1 (Frühjahr 1975), S. 23-69, sowie ders. (Hrsg.): The Atomic Bomb. The Critical Issues, Boston/Toronto 1975. Zurück

5) Sherwin, Martin J.: Hiroshima and Modern Memory, in: Nation, 10. 10. 1981, S. 349-353. Zurück

6) Briefwechsel (Anm. 3), S. 220. Zurück

7) Ebd., S. 215. Zurück

8) Walker, Samuel J.: The Decision to Use the Bomb: A Historiographical Update, in: Diplomatic History, 14, 1 (Winter 1990), S. 110f. Zurück

9) Siehe z.B. seinen Artikel in der Washington Post, 4.2.1995. Zurück

10) Maddox, Robert James: Atomic Diplomacy: A Study in Creative Writing, in: Journal of American History, 59, März 1973, S. 925-934. Zurück

11) Das von Newman abgebrochene Zitat findet sich vollständig in: Szilard, Leo: Recollections, in: Weart, Spencer R./Gertrud Weiss Szilard (Hrsg.), Leo Szilard: His Version of the Facts. Selected Recollections and Correspondence, Cambridge, Mass./London 1978, S. 186. Zurück

12) Villa, Brian L.: A Confusion of Signals: James Franck, the Chicago Scientists and Early Efforts to Stop the Bomb, in: Bulletin of the Atomic Sientists, 31, 10 (Dezember 1975), S. 36-42. Zurück

13) Frisch, David H.: Scientists and the Decision to Bomb Japan, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 26, 6 (Juni 1970), S. 107-115. Zurück

14) Steiner, Arthur: Scientists, Statesmen, and Politicians: The Competing Influence on American Atomic Energy Policy 1945-46, in: Minerva, 12,4 (Oktober 1974), S. 469-509. Zurück

15) Szilard (Anm. 11), S. 186, Anm. 13. Zurück

16) Frisch (Anm. 13), S. 115. Zurück

17) Steiner (Anm. 14), S. 508ff. Zurück

18) Sherwin (Anm. 4), S. 207f. Zurück

19) Interview mit: U.S. News & World Report, 15. 8. 1960, S. 68. Zurück

20) Ebd., S. 71. Zurück

21) Bernstein, Barton J.: Introduction, in: Hawkins, Helen S. u.a. (Hrsg.): Toward a Livable World. Leo Szilard and the Crusade for Nuclear Arms Control, Cambridge, Mass./London 1987, S. xxxiiiff. Zurück

22) New York Times, 18. 4. 1995. Zurück

23) Zitiert von Szilard (Anm. 11), S. 184. Zurück

24) Clark, Ronald W.: Einstein. The Life and Times, New York 1971. Zurück

25) Heims, Steve J.: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Life and Death, Cambridge, Mass./London 1980. Zurück

26) Rhodes, Richard: Die Atombombe oder Die Geschichte des 8. Schöpfungstages, Nördlingen 1988. Zurück

27) Hewlett, Richard G./Oscar E. Anderson, Jr.: The New World, 1939/46, University Park/Pa., 1962. Zurück

28) Walker, Mark: Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990. Zurück

29) Boyer, Paul: By the Bomb's Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age, New York 1985. Zurück

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

Waren die Atombombenabwürfe ein Fehler?

von Edward Teller

Meine Damen und Herren, ich bin hergekommen mit vielen Zweifeln und vielen Fragen. Ich möchte Sie bitten, das, was ich sage, immer in einem zweideutigen Sinne anzunehmen. Ich rede über schwierige Gegenstände, und ich finde, daß die meisten Leute darüber gewissenlos reden. Sie reden, als ob sie die Frage verstanden hätten, und sie geben klare Antworten. Ich werde auch klare Antworten geben, aber das tue ich nur der Kürze halber. Vor jeder Antwort sollte ich eigentlich »vielleicht«, »möglicherweise«, gelegentlich »wahrscheinlich« sagen. In diesen menschlichen und nationalen Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Und es ist sehr wichtig, daß man die Zukunft so gestaltet, daß man weiß: Man muß seinen Weg mit der größten Vorsicht wählen.

Zunächst will ich einen Glaubensartikel aufstellen, und zwar möchte ich etwas mehr positiv sein, vielleicht ungerechtfertigterweise. Ich habe den größten Teil des 20. Jahrhunderts miterlebt. Als Prinz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo umgebracht worden sind, war ich sechs Jahre alt. Meine Eltern erzählten mir von dem Doppelmord und fügten hinzu: „Aber es wird keinen Krieg geben“. Ich erinnere mich noch an das Gespräch. Ich habe sofort gefragt: „Warum gibt es keinen Krieg?“ Die Antwort: „Warum sollte es einen Krieg geben? Es gibt keinen Grund!“„Ja, aber warum sagt Ihr mir dann, daß es keinen Krieg geben wird, wenn es sowieso keinen Grund gibt?“ – Die tiefen Zweifel darüber, warum dieser Unsinn vom Ersten Krieg überhaupt notwendig war, warum es überhaupt geschehen ist, diese Zweifel habe ich als 6-jähriger mit den naivsten Fragen miterlebt.

Ich will fortfahren mit ein wenig Optimismus. Im Moment gibt es Hoffnung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ging vonstatten, ohne daß Menschen dabei umgekommen sind; die Befreiung von mehr als 200 Millionen Menschen, wenn man die Satelliten einschließlich Ostdeutschlands mitrechnet, ist etwas Großartiges. Die Tatsache, daß das möglich war, hat zwei Bedeutungen: die Bedeutung der Hoffnung und die Bedeutung der Pflicht. Die Hoffnung, daß wir beginnen, die Anzahl der Kriege zu reduzieren und den Krieg abzuschaffen; die Pflicht, diese Möglichkeit vollständig auszunutzen.

Man kann Waffen nicht regulieren

Ich teile die allgemeine Meinung nicht, daß man den Krieg abschaffen wird, indem man Waffen unter Kontrolle bringt. Es ist nicht möglich, Waffen zu regulieren. Die Möglichkeit, Rüstungskontrollverträge zu verletzen, und die Schwierigkeit, solche Verträge in der Realität durchzusetzen, ist überwältigend. Meiner Meinung nach liegt die Antwort weniger im Regulieren von Waffen. Den Krieg kann man nur abschaffen, wenn man die Ursachen des Krieges ausmerzt. Man muß ein Zusammenwirken der Völker in der Praxis durchsetzen, so daß jedem bewußt wird: Wer einem anderen schadet, einem anderen Volk schadet, der schadet auch sich selbst. Von diesem Bewußtsein war aber unglaublich wenig da, sogar noch im letzten Jahrhundert. Aber trotz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts glaube ich, daß das Bewußtsein der Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit in diesem Jahrhundert bereits stärker vorhanden war als je zuvor und sich im Laufe des Jahrhunderts immer stärker ausprägte.

Ich sagte, ich kam her mit Zweifeln. Ich wollte aber kommen. Warum? Die Vereinigung Europas war, als ich jung war, ein unmöglicher Wunschtraum. Sie ist noch immer nicht da. Aber sie ist heute viel mehr als ein Wunschtraum. Zusammenarbeit findet statt, Probleme, wie das große Problem der Wiedervereinigung Deutschlands, werden gelöst – das sind die positiven Schritte. Man muß nicht den Krieg abschaffen, man muß den Frieden auf ein Niveau heben, auf dem die Zusammenarbeit und der Frieden unanfechtbar werden. Der Frieden an sich muß stark werden. Daß Amerika, die Heimat meiner Wahl, es fertiggebracht hat, die bitteren Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges bezüglich Deutschlands und bezüglich Japans nicht auszumerzen, aber abzuschwächen, zu reduzieren, wenigstens einiges, was falsch war, wiedergutzumachen – dies sind Ereignisse in der Weltgeschichte, wie sie nie vorher zu beobachten waren. Auf diese Entwicklungen müssen wir bauen.

Meine Damen und Herren, ich könnte hier aufhören. Das ist das Wesentliche, das ich sagen will. Ich will aber doch ein, zwei Dinge konkret hinzufügen als Beispiele und weil Sie es erwarten.

Die Verantwortung war mir zu groß

Am Anfang des schicksalsreichen Sommers 1945 bekam ich einen Brief von meinem guten Freund Leo Szilard – einem Ungarn, er war 10 Jahre älter als ich, ein wunderbarer Mensch. Er hatte ein Prinzip, nie etwas zu sagen, was von ihm erwartet wurde. Wenn er jemanden verletzte, war ihm das gleichgültig. Aber er hat niemals jemanden gelangweilt. Er schrieb mir einen Brief: Atombomben. Neues Weltzeitalter. Atombomben nicht benutzen, wenigstens nicht sofort. Erst vorführen, erst zeigen, damit wir und die Japaner wissen, worum es sich handelt.

Mit diesem Brief zog ich zu dem Direktor von Los Alamos, Oppenheimer, der der einzige im Labor war, der Zutritt in Washington hatte und der etwas von Politik verstand; darüber hinaus war er sehr populär. Ich zeigte ihm den Brief. Er war wütend und machte mir klar, daß es überhaupt keine Frage sei, die Atombombe müsse benutzt werden. Wir Wissenschaftler würden die Japaner ja nicht verstehen. Seines Erachtens müßten wir die Entscheidung den Politikern überlassen.

Es tut mir leid, es gestehen zu müssen: Er hat mich überredet. Warum? Die Verantwortung, in dieser Lage zu versuchen, etwas zu tun, war mir zu groß. Ich wußte, ich glaubte – das glaube ich auch noch immer – wir mußten es wissen, was man mit der Atombombe anfangen kann. Wir haben die Atombombe nicht gemacht. Wir haben die Atombombe gefunden. Die Frage war nicht, ob es eine Atombombe geben wird; es ging darum, ob die Kenntnis der Atombombe zuerst in einer gemäßigten Regierung vorhanden sein wird. Wir mußten daran arbeiten, da hatte ich keinen Zweifel. Aber was tun, um den Krieg zu beenden? Die Antwort – zu schwer. In diesem Sinn hat mich Oppenheimer überredet.

Dann wußten wir, was wir getan haben. Es tat mir leid.

Nicht viel später lag ich da, 20 km vom Explosionspunkt, wo der erste Versuch in Alamogordo stattfinden sollte, mit einem dunklen Glas an mein Gesicht gepreßt. Da kam nun das erste Zeichen, ganz schwach. Im ersten Bruchteil einer Sekunde, daran erinnere ich mich noch sehr deutlich, dachte ich: Ist das alles? Und dann erinnerte ich mich, daß ich ja dieses äußerst schwere Glas hatte. Ich schob es etwas weg und sah von der Seite Licht, in keiner Weise direkt. Es war 6 Uhr morgens. Das war, als ob ein schwerer Vorhang aufging und die strahlende Sonne ins Zimmer kam. Da war ich beeindruckt, und in dem Moment wußte ich: In einer kurzen Zeit wird das alles andere sein als nur ein Versuch. – Und dann kamen die Bilder. Dann wußten wir, was wir getan haben. – Es tat mir leid.

Ich kann nicht sagen, was richtig gewesen wäre. Ich kann aber sagen, daß wir das Richtige nicht getan haben oder nicht genug. Wir haben es fertiggebracht, die Atombombe zu bauen. Wir haben aber unserem Präsidenten keine Wahl angeboten. Er konnte sie benutzen oder nicht. Einen anderen Weg gab es nicht, denn einen anderen Weg haben die Wissenschaftler nicht geschaffen. Nachher, als es zu spät war, habe ich darüber oft nachgedacht. Es gibt eine Möglichkeit, die wir hätten ausarbeiten sollen. Wir hätten sagen können: Die erste Bombe soll keinem Menschen schaden. Sie soll abgeworfen werden über der Bucht von Tokio, 10 km über der Erdoberfläche, bei gutem Wetter abends um 8 Uhr. Dann wird es hell für 3 Sekunden, so hell, wie ich es in Alamogordo gesehen habe. Und dann, nach weniger als einer Minute, kommt der Donner, wie es noch keiner gehört hat. Das wird gesehen und gehört von 10 Millionen Japanern. Und dann sollen wir sagen: Der Krieg muß beendet werden. Wenn ihr nicht aufhört, benutzen wir dieses, aber so, daß darunter Menschen wirklich leiden werden.

Wir Wissenschaftler müssen Wissenschaft betreiben

Wir müssen uns vergegenwärtigen, was damals geschehen ist. Wir haben Bomben gebraucht. Im japanischen Kabinett – da gibt es ein wunderbares Buch von John Toland1 – wurde nach dem Abwurf keine einzige Stimme geändert. Sie stimmten nicht für die Beendigung des Krieges oder wenigstens gab es keine Mehrheit. Aber der Kaiser Hirohito griff ein. Er hörte die Nachricht und er entschied, zum Volk zu reden und zu sagen: Wir müssen das Unmögliche leiden, wir müssen uns ergeben.

Meine Damen und Herren, die Frage, die sich stellt, ist: Wenn wir die 100.000 in Hiroshima nicht getötet hätten, sondern die Bombe bloß gezeigt hätten, hätte das nicht dasselbe Resultat ergeben können? Ich weiß es nicht. Ich will auch sogar nicht sagen, daß wir das hätten befürworten sollen. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir Wissenschaftler Wissenschaft treiben müssen. Wir müssen ausfindig machen, was geht und was nicht geht. Die Entscheidungen muß das Volk treffen und besonders die Politiker, die das Volk repräsentieren. Das ist der Sinn der Demokratie. Und wir müssen dem Volke und den Repräsentanten des Volkes, den Politikern, eine Wahl darbieten.

Meine Kritik ist nicht, daß wir die Atombombe abgeworfen haben, meine Kritik, mein Einwand ist, daß wir das als eine Möglichkeit erschaffen haben, ohne daran zu arbeiten, eine Alternative darzubieten, so daß die, wie unser Präsident Truman, die entscheiden mußten, es in der Hand gehabt hätten: dieses oder jenes. Es hätte sein können – die Möglichkeit war sehr groß, daß eine Demonstration keinen Effekt gehabt hätte. Aber selbst wenn wir Erfolg gehabt hätten, hätte es passieren können, daß dann ohne Hiroshima die Angst nicht groß genug gewesen wäre, um spätere Atomkonflikte zu verhindern. Ich kann argumentieren, es war richtig, die Bombe abzuwerfen, und ich kann argumentieren, es war falsch. Meine Gefühle sagen, es war falsch. Aber meine Gefühle können sich irren. Es ist nicht ein Gefühl, es ist eine feste Überzeugung, daß wir Wissenschaftler der Allgemeinheit und den Politikern schuldig waren, eine Wahl zu präsentieren, ihnen möglich zu machen, diese schwere Entscheidung so zu treffen, wie sie getroffen werden sollte in einer Demokratie.

Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten

Meine Damen und Herren, ich sage all das im Sinne, wie es hier in der Einleitung gesagt worden ist: Die Entdeckungen sind nicht an ihrem Ende. Es gibt und es wird neue Waffen geben. Ich bin durchaus dafür, diese neuen Waffen auszuarbeiten. Ich bin nicht dafür, davon Abstand zu nehmen. Ich bin auch nicht dafür, daß wir Wissenschaftler Euch sagen sollen, was Ihr mit den Waffen anzufangen habt. Was wir wirklich haben tun müssen, ist, mit einer jeden neuen Waffenmöglichkeit die Konsequenzen darzustellen und die Alternativen der Benutzung oder Nichtbenutzung Euch darzulegen. Der Krieg wird nicht vermieden dadurch, daß wir nicht über die Waffen Bescheid wissen. Das Wissen kommt, ob wir es wollen oder nicht. Was wir anstreben müssen, ist ein klares und ein vollständiges Wissen, so vollständig, wie es menschenmöglich ist. Diese Möglichkeiten müssen wir Euch und den Politikern mitteilen, damit diese dann die Wahl treffen.

Und hier ein allerletztes Wort: Mit jeder neuen Möglichkeit, eine Waffe zu schaffen, gibt es auch Möglichkeiten, das, was wir schaffen, für das allgemeine Wohl zu verwenden. Wir gebrauchen Atomenergie viel zu wenig. Die Angst vor der Radioaktivität ist unnnötig groß. Wir haben heute einen Plan, uns gegen die Natur zu wehren. Wir wissen, daß von Zeit zu Zeit ein Meteorit ankommt, und der schlägt ein mit einer Kraft von Hiroshima oder mit einer noch größeren. Wir wissen heute, daß so große Explosionen wie in Hiroshima in der hohen Atmosphäre ungefähr einmal im Jahr vorkommen. Wir wissen, daß 1908 in Sibirien ein Meteorit eingeschlagen hat, der eine Explosionskraft von 10 Mio. Tonnen TNT hatte, der den Wald im Umkreis von 1.000 km2 vernichtet und zwei Menschen getötet hat. Glücklicherweise war es nicht über Frankfurt, sonst gäbe es Frankfurt nicht mehr. Das wissen wir heute. Wie verhindern? Wir wissen, daß ein ganz großes Objekt vor 65 Mio. Jahren eingeschlagen hat, und das war das Ende des historischen Mittelalters der Lebewesen, des Mesozoikums. Das war der Anfang der Neuzeit, und es war der Tod von allen großen Lebewesen. Die Gefahren, in denen wir leben, kommen von den Menschen und in noch viel stärkerem Maße von der Natur.

Ich behaupte, daß heute, sogar am Ende des 20. Jahrhunderts, das Leben besser ist als je zuvor. Wir haben kein Recht, Pessimisten zu sein. Wir haben die Pflicht, uns eine weiter verbesserte Zukunft vorzustellen und den Weg zu finden. Es ist in diesem Sinne, daß ich denke, und ich versuche, dieses Denken auf Euch zu übertragen. Dankeschön.

Anmerkungen

1) John Toland, The Rising Sun. The Decline and Fall of the Japanese Empire, New York, 1970. (Anm. d. Hg.) Zurück

Edward Teller.

Opfer und Täter von Hiroshima

Opfer und Täter von Hiroshima

Was ist 50 Jahre danach aus ihnen geworden?

von Sven Sohr

Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben. (Anders, 1982, S.66)

Gib die Menschen wieder.
Gib meinen Vater wieder und meine Mutter.
Gib meine Geschwister zurück.
Gib mir meine Söhne und Töchter.
Gib mir mich selbst zurück. Gib die Menschheit wieder.
Solange dieses Leben dauert, dieses Leben,
gib den Frieden wieder, der nie mehr endet.

Sankichi Toge

So leben wir also im Jahr 50! Runde Geburtstage pflegt man gewöhnlich zu feiern. Was werden wir tun? Werden wir uns erinnern? Kurz nachdem der Autor dieses Artikels angefragt wurde, ob er einen Überblicksbeitrag psycholgischer Forschung zu den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schreiben könne, fand er eine kleine Randnotiz in seiner Tageszeitung, überschrieben mit den Worten: „Japan gegen US-Atombomben-Briefmarke“ (Tagesspiegel, 4.12.1994, S. 32). Berichtet wird von einer dem US-Außenministerium übergebenen Note der japanischen Botschaft, in der Japan die USA auffordert, die Einführung einer Briefmarke mit einem Atombombenpilz zu überdenken. Das Bild des Atombombenpilzes ist unterschrieben mit „Atombomben beschleunigen Beendigung des Krieges, August 1945“. Dieser Vorfall, der an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist, verletzt nicht nur die tiefen Gefühle der japanischen Bevölkerung, er ist auch sachlich zumindest zu bezweifeln. – Aber wie so oft im Leben gerade dann am meisten in Bewegung gerät, wenn Menschen sich »betroffen« fühlen, wurde diese kleine Zeitungsnotiz zum emotionalen Anlaß des vorliegenden Versuchs, der Frage nach den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki wissenschaftlich nachzugehen.

Im Zentrum des ersten Teils der folgenden »Erinnerung« stehen die Opfer, unter anderem die Untersuchungen des Psychiaters Robert Lifton über das Phänomen der »psychischen Taubheit« bei den Überlebenden. Psychologisch ebenso interessant, wenn es auch zynisch klingen mag, ist das »Schicksal« der Täter, um die es im zweiten Teil des Aufsatzes geht. Exemplarisch werden dabei ganz unterschiedliche Wege der »Verarbeitung« anhand zweier Hiroshima-Piloten beschrieben: Zum einen Paul Tibbets, der auch heute noch »absolut nichts« bedauert, zum anderen Claude Eatherly, der in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, um seine »Gewissensbisse« zu kurieren. Es ist das Verdienst des Philosophen Günther Anders, durch einen jahrelangen Briefwechsel mit Claude Eatherly auf dessen »Problem« aufmerksam gemacht zu haben. Da Günther Anders einer der ersten war, die sich wissenschaftlich mit den Folgen von Hiroshima auseinandersetzten und darauf reagierten, wird seinen Überlegungen zu den Konsequenzen der Katastrophe besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Abschnitt des Artikels mündet schließlich in der Frage, ob und inwiefern uns das Thema heute betrifft.

„Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt.“

In der Nacht zum 6. August 1945 starteten auf Tinian im Beisein von 100 Reportern sieben B 29-Bomber. Die ersten drei sollten eine Stunde vor der Hauptgruppe Japan erreichen und das Wetter über Hiroshima, Kokura und Nagasaki erkunden. Die fünf Tonnen wiegende Atombombe, von den Militärs »Little Boy« genannt, wurde in der von Oberst Tibbets befehligten und zu diesem Zweck extra umgerüsteten Maschine »Enola Gay« befördert. Zwei Bomber sollten diese Maschine begleiten; einer hatte den Auftrag, über dem »Objekt« Apparate zur Feststellung der Explosionsstärke abzuwerfen, und der andere sollte Foto- und Filmaufnahmen machen. Der siebente Bomber sollte nach Iwoshima fliegen, einer Insel auf dem halben Weg nach Japan, um einzuspringen, falls die Maschine Tibbets eine Panne haben sollte. Um 7.09 Uhr meldeten die Aufklärungsflüge, daß der Himmel über Hiroshima und Nagasaki wolkenlos sei. Von dem Flugzeug, das Kokura überflogen hatte, war die gleiche Meldung gekommen. Oberst Tibbets in der »Enola Gay« erhielt das chiffrierte Telegramm: „Empfehlung: erstes Objekt“. Um 8.13 Uhr erschienen über dem Himmel von Hiroshima die drei Flugzeuge. Um 8.14 Uhr öffnete sich die Bombenluke. Am wolkenlosen Himmel zeigte sich ein Fallschirm, an dem die fünf Tonnen schwere Atombombe rasch abwärts glitt. Um 8.15 Uhr, als die Bombe 580 Meter von der Erde entfernt war, schaltete der Zündmechanismus. Über Hiroshima blitzte eine zweite Sonne auf: eine Todessonne. Diejenigen, die Hiroshima überlebt haben, sprechen von einem tödlichen Licht, grell, stark, sich ständig verändernd. In Sekunden wurden ungefähr 80.000 Menschen vernichtet, von denen Überreste auffindbar waren. Weitere 14.000 Menschen verschwanden spurlos. Über 100.000 Menschen starben in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren.

Ein Mitglied der Besatzung der »Enola Gay« schreibt in seinen Erinnerungen: „Erst blitzte grell die Detonation, dann ein blendendes Licht, in dem die anrollende Explosionswelle zu sehen war, dann eine pilzförmige Wolke. Es sah aus, als ob über der Stadt ein Meer siedenden Teers brodelte.“ (vgl. Greune & Mannhardt 1982, S. 17f.). Die erste auf eine Stadt abgeworfene Atombombe war um ein Vielfaches vernichtender, als ihre Väter es vorausgesagt hatten. Eine Viertelstunde nach der Explosion ging von der »Enola Gay« ein Funkspruch zur Insel Tinian ab: „Alles planmäßig und in jeder Hinsicht geglückt. Empfehle sofort Vorbereitung der nächsten Aktion. Nach Bombenabwurf an Bord alles normal. Kehren zum Stützpunkt zurück.“ Kurze Zeit später ging die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas an den Panzerkreuzer »Augusta« weiter, auf dem der US-Präsident Truman von der Potsdamer Konferenz heimreiste. In seinen Erinnerungen schildert Truman diesen Moment so: „Am 6. August (…) kam die Nachricht, die die Welt erschütterte. Ich saß (…) beim Lunch, da brachte mir Hauptmann Frank Graham folgende Nachricht: 'An den Präsidenten vom Kriegsminister. Große Bombe abgeworfen (…) Erste Meldungen besagen: voller Erfolg, sogar noch größer als bei früherem Test`.“ Truman ließ Sekt bringen, hob sein Glas und sagte: „Gentlemen, wir haben soeben auf Japan eine Bombe abgeworfen, die die Sprengkraft von 20|000 Tonnen TNT hatte. Sie heißt Atombombe.“ Drei Tage später, am 9. August 1945, sollte sich in Nagasaki alles noch einmal wiederholen.

Medizinische Akut- und Spätfolgen der Atombombenopfer

Die medizinischen Akut- und Spätfolgen beschreibt Ohkita (1985). Die von den Atomwaffen hervorgerufenen akuten Verletzungen werden in thermische, mechanische und Strahlenverletzungen unterteilt. Am häufigsten waren allerdings Kombinationsverletzungen. Viele Menschen starben praktisch sofort an den Auswirkungen der Druckwelle und der Hitze, aber häufig erlagen die Menschen auch ihren Verletzungen, bevor sich die Strahlenkrankheit entwickeln konnte. Fast alle Menschen, die innerhalb von 10 Wochen starben, ließen Strahlenschäden erkennen.

Thermische Verletzungen (Verbrennungen): Auf dem Erdboden wurden bei den Atombombenexplosionen in Japan nach Schätzungen 3000-4000 Grad Celsius erreicht. Diese Hitze dauerte zwar nur ungefähr eine Sekunde an, dennoch betrug die Temperatur in jeweils über 1 km Entfernung der beiden Städte noch mehr als 573 Grad Celsius. So erlitten auch Menschen, die mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt waren, tödliche Verbrennungen.

Strahlenwirkungen: Obwohl die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal dazu Gelegenheit gaben, die Auswirkungen einer massiven Bestrahlung bei Menschen zu beobachten, ist nur wenig über schwere Strahlenverletzungen bekannt, die sofort zum Tode führten, da diese Fälle nicht obduziert wurden. Zusätzlich verhinderte die große Zahl der Todesfälle und der Verletzungen in den ersten Tagen nach den Explosionen eine genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkungen. Als ein verläßliches Zeichen einer Strahlenverletzung wird Haarausfall angesehen. Das Haar fiel beim Kämmen in dichten Büscheln aus.

Bis heute konnte die genaue Anzahl der Opfer, die durch die Bomben getötet wurden, nicht ganz geklärt werden. Die Anzahl der Personen unter den Überlebenden, die durch Verbrennung, mechanische Traumen, Strahlen oder durch eine Kombination dieser Schädigungen verletzt wurden, sind ebenfalls geschätzt worden. In Hiroshima geht man von 60.000 Menschen mit Verbrennungen, 78.000 mit mechanischen Verletzungen und 35.000 mit Strahlenschäden aus. In Nagasaki belaufen sich die Zahlen auf 41.000 Verbrennungen, 45.000 mechanische Verletzungen und 22.000 Strahlenschädigungen. Alle diese Verletzungen können kombiniert vorgelegen haben.

Psychologische und soziale Folgen für die Atombombenopfer

Um eine Vorstellung von der gesamten Situation nach dem Atombombenangriff zu erhalten, muß man nicht nur die ungeheure Zahl von getöteten Menschen berücksichtigen, sondern auch die Familien, die zerrissen wurden, Alte und Kranke, Frauen und Kinder, die oft hilflos zurückblieben. Einige tausend Kinder wurden zu Waisen, die durchschnittliche Zahl der Todesfälle je Familie wird mit 2/3 angenommen (Greune & Mannhardt 1982, S.65).

Die Atombombe zerstörte nicht nur Familien, sondern auch andere Formen der Gesellschaft, sie riß benachbarte Menschen auseinander und führte zum Untergang traditioneller Nachbarschaftshilfe. Jene, die mit dem nackten Leben davongekommen waren, hatten nicht nur ihre Angehörigen verloren, sondern darüber hinaus auch Nachbarn und Freunde; das Zusammenleben in seiner Gesamtheit war gestört. Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freunde ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Tiefe Schuldgefühle erfaßte die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten.

Die besondere Lage, in der sich die Atomüberlebenden befanden und heute noch befinden, hat dazu geführt, daß eine besondere Bezeichnung für sie entstanden ist: Man nennt sie »Hibakusha« (die direkte japanische Übersetzung lautet »explosionsgeschädigte Personen«). In Japan lebten 1981 rund 400.000 Hibakusha, von denen knapp 60% krank und körperbehindert sind. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Zur besonderen Behandlung der Hibakusha sind spezielle Atombomben-Hospitäler eingerichtet worden.

Es war vor allem der amerikanische Psychiater Robert Lifton, der sich der Tragödie der Hibakushas annahm und Untersuchungen über die psychischen Auswirkungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vorlegte. Lifton berichtet in seinem 1966 erschienenen Buch „Death in Life: Survivors of Hiroshima“ von einem Effekt der psychischen Taubheit (»psychic numbing«). Viele Menschen konnten sich nicht mehr an ihre Wahrnehmung erinnern: Was sie wahrnahmen, hielten sie für einen Blitz oder ein plötzliches Gefühl der Hitze, gefolgt von Bewußtlosigkeit.

Ein Lehrer mittleren Alters, der sich etwa 5000 Meter vom Zentrum entfernt befand, beschreibt seine Gefühle angesichts der Zerstörung. Es wird deutlich, wie Schuldgefühle gegenüber den Toten die psychischen Abwehrmechanismen durchdringen und sich schmerzhaft bemerkbar machen: „Ich ging in die Stadt, um meine Familie zu suchen. Irgendwie wurde ich mitleidlos, weil ich sonst nicht durch die Stadt hätte gehen und über die vielen Leichen steigen können. Am beeindruckendsten war der Ausdruck in den Augen der Menschen – ihre Körper waren schwarzverfärbt – ihre Augen blickten suchend umher, nach jemandem, der kommen und ihnen helfen würde.(…) Ich suchte nach meiner Familie und schaute jeden an, den ich traf, um zu sehen, ob sie oder er ein Familienmitglied war. Doch die Augen – die Leere – der hilflose Ausdruck – dies alles werde ich nie vergessen können (…) Ich nahm die Enttäuschung in ihren Augen wahr. Sie schauten mich erwartungsvoll an und blickten durch mich hindurch. Ich konnte es kaum ertragen von ihren Augen angestarrt zu werden (…).“ Der Lehrer nahm durch die Augen der anonymen Toten und Sterbenden eine Anklage seiner Unterlassung und seiner Schuld wahr, daß er ihnen nicht half, daß er sie sterben ließ, daß er »egoistischerweise« am Leben blieb.

Die Überlebenden litten nicht nur daran, daß die Menschen, die sie umgaben, starben, sondern auch an deren Todesart: eine brutale Art schnellen körperlichen Verfalls, die mit den normalen und »würdigen« Formen des Todes nichts mehr zu tun hatte – eine Tatsache, die im übrigen auch für jüdische KZ-Opfer von großer Bedeutung war. Darüber hinaus sind die Überlebenden von Hiroshima über die allgemeine Besorgnis und die Kontroverse über die negativen genetischen Auswirkungen der Atombombenexplosion informiert, die meisten von ihnen befürchten in der Tat negative Folgen für die nachfolgenden Generationen. Dies wiegt umso schwerer gerade in der ostasiatischen Kultur, die die Ahnenreihe und die Kontinuität der Generationen als den Hauptzweck des menschlichen Lebens und – zumindest symbolisch – als Weg zur Unsterblichkeit betont.

Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß die Atombombe das Dasein der Überlebenden sowohl in ihren eigenen Augen als auch in der Wahrnehmung anderer Menschen völlig verändert hat. Durch die unmittelbare Erfahrung und durch die späteren Erlebnisse wurden die Überlebenden Mitglied einer neuen psychosozialen Gruppe. Auf die Frage an die Überlebenden, was sie mit dem Wort »hibakusha« assoziierten, und was sie dabei fühlten, drückten sie in Liftons Untersuchungen ohne Ausnahme das Gefühl aus, daß sie zur Übernahme dieser neuen Existenzform gezwungen seien und diese trotz aller Bemühungen nicht mehr ablegen könnten.

Die Überlebenden scheinen nicht nur das Ereignis erlebt zu haben, sondern es auch einschließlich seiner Schrecken, seiner Folgen und besonders seines tödlichen Charakters in ihre Existenz aufgenommen zu haben. Sie fühlen sich gezwungen, sich mit den Toten zu vereinigen. Die Identität der Hibakusha wird symbolisch zu einer Identität der Toten, die sich durch die besonders starke japanische Fähigkeit zur Identifizierung und durch die besondere Form der Schuldgefühle für das Überleben noch verstärkt. Dieses vorherrschende Gefühl wird außerdem noch durch die Wahrnehmung der Überlebenden geprägt, als Versuchskaninchen benutzt worden zu sein, da sie die Opfer des ersten »Experiments« mit Atomwaffen geworden sind. Sie leiden unter der Wahrnehmung, daß sie die schlimmste der von Menschen erzeugten Katastrophen erlebt haben, und darunter, daß zur gleichen Zeit ihre persönlichen Erfahrungen durch die fortschreitende weitere Entwicklung und Erprobung schrecklichster Waffen sinnlos erscheinen.

Was für die Opfer (nicht) getan wurde…

Unmittelbar nach den beiden Atombombenangriffen kapitulierte die japanische Regierung. Nun sprach die offizielle Propaganda von „Opfern für den Frieden“ und unterdrückte zugleich alle Nachrichten über die Lage der Hibakusha. Nach der Kapitulation Japans im September 1945 machten sich sogleich die ersten amerikanischen Untersuchungskommissionen auf den Weg nach Hiroshima. Die Siegermacht USA wollte möglichst schnell die Auswirkungen der neuen Bombe in den beiden betroffenen Städten kennenlernen. Was die Fachleute dem Oberkommando zu berichten hatten, veranlaßte die amerikanischen Militärs unverzüglich zum Handeln. Über Hiroshima und Nagasaki wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Nicht einmal Gedichte und Zeichnungen, die in den ersten Jahren nach der Explosion entstanden, passierten den amerikanischen Zensor, geschweige denn solche Erfahrungen, wie sie die »Kinder von Hiroshima« später aufgeschrieben haben. Erst als die USA und Japan 1951 den Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet hatten, wurde die Nachrichtensperre aufgehoben.

So makaber es klingt, aber die Leiden der Opfer, ihre Krankheiten und Schmerzen stellten für die amerikanische Atomwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir für Forschungen dar. Um die Untersuchungen möglichst systematisch zu betreiben, richteten die Amerikaner 1949 in Hiroshima eine Kommission für Atombombenopfer ein (»Atomic Bomb Casualty Commission«, kurz ABCC), ein Institut, das die wichtigsten Daten über die in Hiroshima in Verbindung mit der Atombombe auftretenden Krankheiten gesammelt hat. Seit Anfang der fünfziger Jahre sind japanische Ärzte und Wissenschaftler ebenfalls daran beteiligt; die gewonnenen Forschungsergebnisse werden zweisprachig veröffentlicht.

Weitgehend unerforscht bis auf den heutigen Tag sind allerdings die möglichen Folgen der Bestrahlung für die menschliche Erbmasse. Beschädigungen der Chromosomen können noch in der zweiten oder dritten Generation zu Mißbildungen führen. Mit dieser Angst müssen die 367.000 anerkannten Atombombenopfer in Japan leben, diese Angst bestimmt ihr Leben. Zu den möglichen Veränderungen der Erbmasse heißt es bei Hoffmann (1980): „Die Genetiker sind sich darüber einig, daß eine Verdoppelung der genetischen Effekte ernsthafte Folgen für die Bevölkerung eines Landes haben wird. Bereits eine addierte Strahlenzufuhr von 30 bis 80 Röntgen über die 30 Jahre einer Generation könnte diesen verheerenden Effekt hervorrufen. Hierzu ist nur eine vergleichsweise beschränkte Anzahl an Atomexplosionen in einem Nuklearkrieg nötig. Schon 750 Sprengungen von je 20 MT (Megatonnen) reichen aus, um die gesamte Menschheit genetisch zu entstellen.“

Die ABCC hatte nicht die primäre Funktion, den Überlebenden zu helfen. Auch von Seiten der japanischen Regierung aus waren die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Hibakusha völlig ungenügend. Die meisten von ihnen sind in einen Teufelskreis aus Armut und Krankheit geraten, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nur begrenzt arbeitsfähig. Im Jahre 1952 trat zwar in Japan ein Gesetz über Entschädigungen von Kriegsschäden in Kraft, schloß Hibakusha jedoch mit der Begründung aus, es handele sich hierbei um Zivilisten, die nicht unter den Verordnungen dieses Gesetzes erfaßt würden. So gründeten im gleichen Jahr die beiden Schriftsteller Toge und Tamashiro in Hiroshima eine Organisation, die 1953 zu der Entstehung eines „Hiroshima City Council“ führte.

Mit Hilfe einer landesweiten Spendenaktion und Geldern der Regierung in Tokio konnte drei Jahre später endlich ein Hospital für die Überlebenden des nuklearen Holocaust eingerichtet werden. Viele tausend Patienten erhielten seitdem von Spezialisten von Strahlenkrankheiten und anderen Fachärzten eine medizinische Behandlung. Noch mehr warteten allerdings vergeblich auf einen Platz im Atombombenkrankenhaus; die einen weil das Hospital ausgelastet war, die anderen, weil sie die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen konnten. Im Jahre 1982 waren 150 Atombombenkranke im Hospital untergebracht. Das Durchschnittsalter der Dauerpatienten betrug 71 Jahre, der jüngste Patient war 36 Jahre alt – er wurde bereits im Mutterleib bestrahlt (Vinke 1986, S. 97).

Ein Gesetz über die Behandlung der Atombombenopfer wurde erst im Jahre 1957 beschlossen. Zwölf Jahre vergingen also, bis erste Versorgungsregelungen für die Hibakusha durchgesetzt werden konnten. Bis 1968 mußten die Überlebenden warten, um eine unentgeltliche ärztliche Betreuung zu bekommen. Trotz allem ist auch heute noch die materielle Situation der Hibakusha mehr als unbefriedigend. Alljährlich sterben viele, denen es bis heute nicht gelang, eine bescheidene Rente zu erhalten.

Um so erstaunlicher ist es, daß zahlreiche Atombombenüberlebende den Mut und die Kraft fanden, auf zahlreichen internationalen Konferenzen, u.a. schon 1955 auf der ersten Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, Zeugnis von ihren Leiden abzulegen. Das Engagement der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki ist bis heute beispielhaft für die weltweite Mobilisierung gegen die Atomrüstung. Im Jahre 1978 reisten z.B. 500 von ihnen zur ersten Sondertagung der Vereinten Nationen zur Abrüstung nach New York und übergaben 32 Millionen Unterschriften zur Ächtung der Atombombe. Sofern es ihre Gesundheit erlaubt, bereisen sie andere Länder, um von ihrem Schicksal zu berichten und die Öffentlichkeit für atomare Abrüstung zu mobilisieren.

Über die Hiroshimapiloten Paul Tibbets und Claude Eatherly

Das vorangehende und mit „Hiroshima“ betitelte Gedicht trifft zumindest auf Oberst Tibbets zu, der sich als der Atombombenpilot, der die Bombe letztendlich »ausklicken« ließ, mehrere Male zu seinem Einsatz am 6. August 1945 geäußert hat. Zeichen von Reue, Scham oder Mitgefühl ließ Tibbets dabei nicht erkennen. Dafür ließ er sich mit Überlebenden fotographieren, als Beleg einer makaberen »Versöhnung«. Die folgenden Gesprächsauszüge sind der Zeitschrift „Metall“ vom 26. August 1981 entnommen (Vinke 1986, S. 110ff.):

“Frage: Wie denken Sie heute über die Bombardierung von Hiroshima und über Ihren Auftrag – bedauern Sie es?

Tibbets: Ich bedaure überhaupt nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs war ich von seiner Notwendigkeit überzeugt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. (…)

Frage: Hätten Sie nicht 'nein` sagen können?

Tibbets: Das hat man mich schon oft gefragt. Aber nun frage ich Sie: Was wäre wohl geschehen, wenn jemand in der deutschen Wehrmacht zu Hitler 'nein` gesagt hätte? Ich bin als Soldat aufgewachsen, bin dazu erzogen worden, Befehle von kompetenter Autorität zu befolgen. Und damals bekam ich meine Instruktionen von allerhöchster Stelle. (…)

Frage: Seit Jahren wird am 6. August auf der ganzen Welt der Hiroshimaopfer gedacht. Haben Sie ein schlechtes Gewissen an diesem Tag?

Tibbets: Nein. Damit halte ich mich nicht auf. Darüber denke ich nicht nach. All das ist Vergangenheit. Hiroshima ist Geschichte. Es war eine Lektion, gewisse Dinge konnte man daraus lernen. Aber es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muß ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“

Diese Worte sprechen für sich. Sie bedürfen eigentlich kaum noch einer Kommentierung – oder vielleicht doch? Wie ist das Ausbleiben jeglicher Humanität und Moral zu erklären? Oder ist sein Gehorsam nicht völlig »normal« gewesen? Diese Fragen wären einen eigenständigen Aufsatz wert<0> <>! Psychologisch sei an dieser Stelle nur an das zigfach replizierte Milgram-Experiment (1974) erinnert, bei dem weit über die Hälfte aller (männlichen<0> <>!) Versuchspersonen von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre (simulierten) Opfer mit einer tödlichen Stromstärke von 450 Volt zu bestrafen. Bei interkulturellen Vergleichsstudien war die Quote derjenigen, die bis zur vollen Bestrafung tendierten, in Deutschland übrigens am höchsten (Mantell 1971). Insofern macht die rhetorische Gegenfrage Tibbets bezüglich Nazi-Deutschland bei aller Absurdität sogar noch Sinn.

Auch Major Claude Eatherly saß im Flugzeug, das am 6. August 1945 die Bombe abwarf. Jungk schreibt zum Anblick eines Photos von Eatherly (Anders 1982, S. 196ff.): „Wer das Photo des jungen Claude Robert Eatherly betrachtet, des Kriegsfreiwilligen, der sich zur amerikanischen Luftwaffe meldete, sieht in das Gesicht des typischen amerikanischen »clean cut boy«. Es steht noch nicht viel darin geschrieben, aber das Wenige scheint alle Lesebuchtugenden wiederzugeben: Gradheit, Mut, Sauberkeit und Unschuld. Tausende und Tausende solcher Milchbärte sind damals zu den Waffen geeilt, um für »decency and democracy« gegen die Barberei des Nationalsozialismus zu kämpfen. Der Student Eatherly durfte, als er von der Lehrerbildungsanstalt in die Kaserne hinüberwechselte, noch daran glauben, daß Freiheit und Menschlichkeit sich mit Waffengewalt verteidigen ließen.“

Es wird erzählt, daß Major Eatherly nach dem erschütternden Erlebnis Hiroshima tagelang mit niemandem mehr gesprochen habe. Man nahm das jedoch auf dem Inselstützpunkt Tinian, wo der Flieger mit seiner Bombertruppe auf die Demobilisierung wartete, nicht besonders ernst. »Battle fatigue« – »Schlachtenmüdigkeit« hieß dieser Zustand. Von ihm wurde mancher befallen, und Eatherly selbst hatte schon einmal im Jahre 1943, nach 13 Monate langem, ununterbrochenem Partouilliendienst im südlichen Stillen Ozean an solcher nervlichen Erschlaffung gelitten. Damals hatte er sich schon nach vierzehntägiger Behandlung in einer New Yorker Klinik wieder erholt, und auch diesmal schien er ziemlich bald wieder zu dem Geisteszustand zurückzukehren, den man unter den Veteranen des Pazifiks als »normales Benehmen« in Ruhezeiten betrachtete: stundenlanges Pokern, unterbrochen von Flüchen, Witzen und Reminiszenzen.

Bald nach der Abmusterung, nach Hause zurückgekehrt, versuchte Eatherly – wie alle um ihn herum – zu vergessen, Geld zu verdienen, sich seinem Privatleben zu widmen. Er arbeitete als Angestellter eines Petroleumkonzerns in Houston, wo er es bis zum Verkaufsdirektor brachte. Tagsüber ging er ins Büro, abends besuchte er eine weiterbildende Schule, um Rechtswissenschaft (!) zu studieren. Seit 1943 war Eatherly verheiratet mit einer jungen Schauspielerin, die er während seiner Ausbildungszeit in Kalifornien kennengelernt hatte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sich die beiden stets nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen lang sehen können. Nun führten sie endlich ein etwas normaleres Leben mit Haus, Garten, Kindern und bescheidener sozialer Aufstiegschance.

Doch das war nur die eine Seite seines Lebens; in den Nächten quälten den Kampfflieger zunehmend Ängste und die Schatten von Gesichtern. Noch konnten ein paar Drinks die Depressionen und ein paar Pillen die Schlaflosigkeit verscheuchen. Doch schon bald genügten so einfache Beruhigungsmittel nicht mehr. Eatherly meinte in seinen Träumen die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima Verbrennenden zu sehen. Im Gegensatz zu Paul Tibbet litt Claude Eatherly unter der Schuld, als Mitglied der Flugzeugbesatzung mitverantwortlich einen Befehl ausgeführt zu haben, der zur Auslöschung einer Stadt und eines Großteils ihrer Bewohner führte. Sein Schuldbekenntnis mußte in einer Zeit, als man die Kriegsheimkehrer in Amerika als Helden feierte, verhindert werden. Eatherly begann an Depressionen zu leiden und versuchte 1950, sich das Leben zu nehmen, nachdem er von der Planung der Wasserstoffbombe erfahren hatte, die den Effekt der Hiroshima-Bombe noch um ein Vielfaches übertreffen sollte. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Militärhospital, der keine Veränderung seines depressiven Zustands bewirkte, beschloß er, das nationale Leitbild des Kriegshelden an Hand seiner eigenen Person zu dementieren. Er beging geringfügige Delikte, schickte gefälschte Schecks an Anti-Atom-Organisationen in Hiroshima und unternahm einen bewaffneten Raubüberfall, bei dem er das erbeutete Geld unangetastet liegenließ. Klinikaufenthalte und Gerichtsverhandlungen wechselten sich ab, bis er 1959 auf Veranlassung seines Bruders für längere Zeit eingewiesen wurde. Jungk (1961, S. 13) kommentierte den »Fall Eatherly« wie folgt: „Immerhin hat Major Eatherly etwas erreicht, das er sich vornahm. Es ist ihm schließlich doch gelungen, die Öffentlichkeit auf seinen »Fall« aufmerksam zu machen. Allerdings reagierte sie zunächst auf die Nachrichten über den »verrückten Piloten von Hiroshima« ganz anders, als Eatherly gehofft hatte. Er wollte die Menschen aufrühren, aber er rührte sie nur.“

In diese Zeit fiel der berühmt gewordene 70 Briefe umfassende Schriftwechsel mit dem Philosophen Günther Anders, der sich zu einer wahren Brieffreundschaft entwickelte, die für beide Seiten sehr wertvoll wurde. Als Eatherly die Nervenklinik verlassen hatte, verstärkte sich seine Korrespondenz mit zahlreichen Persönlichkeiten und Gruppen, die ein Ende des Rüstungswettlaufs forderten. Sein Engagement wurde von den Behörden als psychischer Defekt interpretiert und führte abermals zu einer Einweisung ins Hospital, diesmal auf eine geschlossene Abteilung. In dieser Situation durfte Eatherly auch keine Briefe mehr nach draußen schicken. Im Herbst 1960 floh er aus dem Hospital, versteckte sich bei Freunden und beschloß, nach Mexico auszuwandern. Im Dezember 1960 wurde Eatherly jedoch von einer Polizeistreife aufgegriffen, nachdem kurz zuvor eine Großfahndung ausgelöst worden war, und erneut in das Militärhospital eingewiesen. Eatherly gelang 1962 noch einmal die Flucht aus dem Hospital. Obwohl die zuständigen Behörden Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatten, reagierten sie nicht mehr. Der Briefwechsel zwischen Eatherly und Anders wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er erschien in politisch so unterschiedlichen Ländern wie dem francistischen Spanien und der Sowjetunion.

Unter allen Teilnehmern an den beiden Atombombardements war Claude Eatherly wohl der einzige, der der Versuchung widerstand, sich als Held feiern zu lassen. Für Anders (1982, S. 359) war er „der erste, der das Kennzeichen unserer Epoche in die Sprache persönlichen Lebens übersetzt hat – der erste, dessen persönliches Leben ausschließlich von den Gegebenheiten und Ängsten des Atomzeitalters bestimmt worden ist –, der erste, der es abgelehnt hat, mit dem Verhalten konform zu gehen, das eine konformistische Gesellschaft fordert –, der sich selbst darauf beschränkt hat, zu warnen statt sich darauf zu verlegen, die Gefahr zu verharmlosen, zu übertreiben oder Nutzen aus ihr zu ziehen, wie man es von uns erwartet. (…) Der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache.“

Zur Gefahr eines Atomkrieges in den 90er Jahren

Auf längere Sicht muß man (…) erwarten, daß die Zahl der atomar bewaffneten Mächte – jetzt sind es die USA, die UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China – zunimmt. Die Gefahr eines Atomkriegs und die Wahrscheinlichkeit ernsthafter Folgen für Klima und globale Ökologie würden sich dann enorm vergrößern.

Crutzen/Hahn 1985, S. 233

Am Ende dieses Artikels steht die Frage, was diese Gefahr eigentlich qualitativ für Konsequenzen nach sich zieht. Nach 1945 mußte die Welt begreifen lernen, daß tatsächlich eine neue Epoche angebrochen war. Der Physiker Albert Einstein, selbst an der Entwicklung der Bombe beteiligt, sprach bald darauf den bemerkenswerten Satz aus (vgl. Gottstein 1986, S. 51): „Im Zeitalter der Nuklearwaffen braucht die Menschheit ein substantiell neues Denken, wenn sie überleben will.“ Das neue Denken ließ jedoch auf sich warten. Seit Hiroshima und Nagasaki wurden weit mehr als 1000 Atomtestexplosionen durchgeführt, Hiroshima und Nagasaki sind millionenfach reproduzierbar und potenzierbar geworden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war der Philosoph Günther Anders einer der ersten, der die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki in ihrer ganzen Dimension erkannte. Anders begriff dieses Ereignis als »Tag Null einer neuen Zeitrechnung«, als das Ereignis, von dem aus alles anders sein würde. Denn diese Taten bewiesen, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, sich selbst – und noch mehr – auszulöschen. Dieses ungeheure Vorkommnis, dessen Dimensionen erst allmählich sichtbar wurden, stellten den Auftakt der globalen Bedrohung der Menschheit dar. Dieses neue Zeitalter wurde nicht nur von Anders als »Endzeit« bezeichnet. Denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Erde eines Tages wieder atomwaffenfrei abzurüsten, kann das Wissen, was einmal erdacht wurde, nicht wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit verbannt werden.

An Szenarien über die Bedeutung eines Atomkrieges heutzutage mangelt es nicht. Die direkten Auswirkungen auf uns Menschen, d.h. die physischen und psychischen Folgen, sind wiederum auf erschütternde Art und Weise bei Lifton (1985, S. 283ff.) beschrieben: „Versuchen Sie sich einmal 100 Millionen oder mehr Tote und ein riesiges mit tödlicher Radioaktivität verseuchtes Gebiet vorzustellen (…).“ Die Szenen würden an das erinnern, was wir aus Science-Fiction-Filmen kennen. Das Zielgebiet, karg und verlassen, würde einer Mondlandschaft gleichen, und die wenigen Überlebenden hätten die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu helfen oder zu trösten. Es gäbe niemand, um die Verwundeten zu pflegen oder sie in Krankenhäuser zu bringen, es gäbe gar keine Krankenhäuser, kein Morphium und keine Antibiotika mehr. Auch könnte niemand die Überlebenden mit dem Vertrauen in die Kontinuität des Lebens erfüllen, die gerade Katastrophenopfer so dringend benötigen. Sie würden erkennen, daß alle Menschen und alle Dinge, die ihnen jemals etwas bedeutet haben, zerstört worden sind. Und niemand der Überlebenden würde in der Lage sein, dem grundlegendsten aller menschlichen Rituale zu folgen, nämlich die eigenen Toten zu bestatten. Lifton schließt (1985, S. 288): „Die so oft gestellte Frage, ob die Überlebenden die Toten beneideten, hätte eine einfache Antwort: Nein, die Überlebenden wären solcher Gefühle gar nicht mehr fähig. Sie würden die Toten nicht so sehr beneiden als ihnen, innerlich und äußerlich, sehr ähnlich.“

Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde (vgl. Boehnke et al. 1988, Sohr 1993) belegen, daß Ängste vor einem Atomkrieg in den 80er Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sehr verbreitet waren und daß diese Bedrohungsgefühle auch in den 90er Jahren nicht aus den Köpfen völlig verschwunden sind. So hält fast jeder zweite der befragten Jugendlichen einen Atomkrieg „in der Zukunft“ für „ziemlich wahrscheinlich“. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig Widerstand sich in den letzten Jahren gegen diese negativen Zukunftsaussichten regte, insbesondere auch gegenüber den auf Jahrtausende bestehenden Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Anders (1987, S. 13f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß wir Heutigen „im Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“ leben. Angesichts der Größe der uns umgebenden Gefahren gelänge es uns nicht, adäquat zu reagieren, wir seien geradezu »Analphabeten der Angst« und »apokalypseblind«. Aus diesem Grund postuliert Anders, unsere Mitmenschen „zur Angst zu erziehen“.

Als psychologisch bedeutsam scheint sich zu erweisen, was Lifton als »psychische Abstumpfung« bezeichnete (vgl. oben). Obwohl das Phänomen dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung und im Verhalten der Apathie ähnelt, stellt diese Abstumpfung dennoch eine spezielle Reaktionsform auf eine überwältigende äußere Bedrohung dar. Die psychische Abstumpfung, die durch die Katastrophe von Hiroshima erzeugt wurde, beschränkt sich nicht nur auf die Opfer selbst, sie erstreckt sich auch auf die Menschen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Unsere Unfähigkeit, uns den Tod vorzustellen, der ausgefeilte Mechanismus der Verdrängung und das tiefe innere Bedürfnis des Menschen, für sich den Anschein der Unsterblichkeit zu erwecken, sind allgegenwärtige Hindernisse beim Nachdenken über den Tod.

Dieser Artikel wurde mit der Intention geschrieben, an der Überwindung dieser Abwehrmechanismen zu arbeiten. Falls wir der Gefahr, in der wir heute schweben, überhaupt begegnen können, dann wohl nur, wenn wir bereit sind, uns die Folgen eines atomaren (und ökologischen) Infernos auch nur ansatzweise vorzustellen. Von dieser Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Widerstandes ist, hängt möglicherweise das Überleben der Menschheit ab. Wenn wir dagegen weiterhin der Verdrängung Vorschub leisten, waren alle Worte umsonst, wie Jungk mahnt (1982, S. 195): „Millionen Worte sind seit 1945 von westlichen Fachleuten über die »Effekte der Kernwaffen« geschrieben worden. Dennoch klafft in dieser umfangreichen Literatur eine ganz wesentliche Lücke. Wohl haben Sachverständige Tausende von Trümmern, Zehntausende von Überlebenden der großen Katastrophe genauestens untersucht, aber sie schlossen etwas sehr Wichtiges von ihren so gründlichen Studien aus: sich selbst.“

Literatur

Anders, G. (1982), Hiroshima ist überall. München: Beck.

Anders, G. (1987), Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck.

Boehnke, K., Meador, M., Macpherson, M.J., Petri, H. (1988), Leben unter atomarer Bedrohung – Zur Bedeutung existentieller Ängste im Jugendalter. Gruppendynamik 19 (4), 429-452.

Crutzen, P.J. & Hahn , J. (1985), Schwarzer Himmel. Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt. Frankfurt: Fischer.

Gottstein, U. (1986), 40 Jahre nach Hiroshima: Teststop – unser aller Chance. In T. Bastian, Wir warnen vor dem Atomkrieg. Dokumentation zum 5. Medizinischen Kongreß zur Verhinderung des Atomkriegs in Mainz. Neckarsulm: Jungjohann.

Greune, G. & Mannhardt, K. (1982), Hiroshima und Nagasaki. Köln: Pahl-Rugenstein.

Hoffmann, H. (1980), Atomkrieg – Atomfrieden. München.

IPPNW (1985), Last Aid. Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges. Neckarsulm: Jungjohann.

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Sven Sohr ist Diplom-Psychologe und arbeitet zur Zeit an einer von buntstift/Regenbogen e.V. geförderten Dissertation über ökopolitisches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Dienstanschrift: TU Chemnitz-Zwickau, Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, 09107 Chemnitz (Fax: 0371-5613925).

Atomare Frage und Individualisierung

Atomare Frage und Individualisierung

Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung

von Bernhard Nolz

Meine didaktische und methodische Vorbereitung als Friedenspädagoge auf die Vermittlungsarbeit, die die atomare Frage in vorwiegend schulischen Bildungszusammenhängen zum Inhalt hat, gleicht der Beschäftigung mit einem Puzzle: Viele Teile ergeben ein Ganzes – doch bin ich nicht sicher, ob es denn je dazu kommen wird, ein Ganzes zu werden!

Die atomare Frage ist ein wichtiges Bildungsthema. Im Themenkanon der naturwissenschaftlichen und der historisch-politischen Schulfächer hat sie ihren festen Platz. Im Politikunterricht war sie in die Behandlung des Ost-West-Konfliktes eingebettet, mit dem sich atomares Wettrüsten auf finalem Destruktionsniveau politisch legitimieren ließ. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schwand auch bei Friedenspädagogen und -pädagoginnen das Interesse an der Problematik der atomaren Rüstungspotentiale. Wie in anderen Disziplinen wurde in den Friedenswissenschaften die Dominanz der internationalen Perspektive zugunsten subjektbezogener Betrachtungsweisen verdrängt. Auf diese Weise gewinnen innerhalb des atomaren Themenkomplexes die friedenspädagogischen Forschungs- und Vermittlungsarbeiten an Bedeutung, die beispielsweise Opfer- und Minderheitenproblematiken offenlegen oder die Bedingungen untersuchen, unter denen neue Solidaritäten entstehen oder gewaltfreie Handlungsoptionen wahrgenommen werden können. Dafür könnte das Jahr 1995 mit seinen vielen Jahrestagen und wichtigen Daten ausreichenden Anlaß geben: 20 Jahre: Verhinderung des Atomkraftwerkes Wyhl durch Besetzung; 25 Jahre: Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen; 40 Jahre: Todestag von Albert Einstein; 50 Jahre: 1. Zündung einer Atombombe in USA, Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki; unvorstellbare Atomwaffenarsenale und Bedrohungspotentiale bestehen weiter und suchen sich neue Märkte; die »Störfälle« von Atomkraftwerken in aller Welt reißen nicht ab und damit verbundene Gesundheitsrisiken nehmen zu; atomare End- und Zwischenlagerprobleme erscheinen unlösbar …1

Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten können Lehrende und Lernende entwickeln angesichts der an der atomaren Thematik erkennbaren Erscheinungsformen der Gegenmoderne?

„Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, die die Moderne aufwirft, auftischt und auffrischt. (…) Sie erlaubt, sichert, stellt Fraglosigkeit im Horizont der Bewußtheit her.“ 2

Wer sich darauf einläßt, wird kaum noch fähig sein, sich in Friedensutopien verwickeln zu lassen. Friedensfähigkeiten würden in ihrer Weiterentwicklung blokkiert, beispielsweise die Fähigkeit der Empathie, der Aggressionskontrolle, des politischen Engagements oder der Selbstreflexion. Das bestehende Bildungssystem bietet – trotz aller Beteuerungen der Verantwortlichen – wenig Raum für Reflexions- und Selbstfindungsprozesse des einzelnen (und gewinnt immer mehr Züge eines Projektes der Gegenmoderne). Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Atomthematik in der Schule, die eine mögliche Organisationsform für Individualisierungsprozesse erst noch finden muß, könnte ein pädagogischer Weg erkennbar werden, auf dem der Abbau von personaler, struktureller und kultureller Gewalt thematisiert und praktiziert werden kann.

„“Individualisierung« meint vieles nicht (…) beispielsweise nicht: Atomisierung, Vereinzelung, Vereinsamung, das Ende jeder Art von Gesellschaft, Beziehungslosigkeit… »Individualisierung« meint erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern müssen.“ 3

Hitzler/Honer sprechen von einer „Bastelexistenz“ 4, wobei „die alltägliche Lebenswelt des Menschen zersplittert (ist) in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es (nicht trotz, sondern wegen der breiten Angebots-Palette) keine verläßlichen »Rezepte« mehr gibt. Für jeden einzelnen besteht mithin ein Anspruch und ein Zwang zugleich zu einem (mehr oder weniger) »eigenen« Leben.“ 5

Dabei hat der einzelne in der Regel durch die vielfältigen Medieninformationen einen Überblick über die aktuellen Lebenssinn- und Lebensstil-Angebote und kann sich zwischen den vorhandenen Alternativen „(stets: bis auf weiteres) zugunsten einer Sinn-Heimat entscheiden.“ 6 Die Jugendforschung hat ähnliche Individualisierungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen7, verweist aber auch auf die Bedeutung von Orientierungsangeboten für die Jugendlichen.

Die Ausstellung »Bombensicher«

Wie können Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule darauf reagieren? Für die Beschäftigung mit der atomaren Frage ist »Bombensicher« ein interessantes Angebot. »Bombensicher« ist eine Fotoausstellung der Atomic Photographers Guild (AFG), die versucht, das breite Spektrum der atomaren Frage zu zeigen.8 23 Fotografinnen und Fotografen präsentieren eine faszinierende Palette von Darstellungen zur Atomproblematik. Z.B. Robert Del Tredici, der Begründer der AFG, der das Unsichtbare des Atoms endlich einmal sichtbar machen wollte, indem er dort eindringt, wo mit dem Atom gearbeitet wird. Oder Hans Madej, der die Kinder von Tschernobyl portraitiert hat, solange sie noch leben. Carole Gallagher dokumentiert die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomversuche auf die Beschäftigten auf dem Nevada-Testgelände. Barbara Norfleet führte ein Fotoprojekt über eine Atomfabrik und die Leute durch, die ihre Höfe oder ihre Geschäfte – ihre Heimat, wie sie sagen – verloren haben.

23 unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen, 23 unterschiedliche Zugänge zur Thematik werden vorgestellt, die in einer fast gleich großen Anzahl von Schulfächern für eine Auseinandersetzung aufgegriffen werden können. Die Fotografien beinhalten Themenkomplexe wie: Uranbergbau, Bombenproduktion, Bombentest, Der Atomstaat, Beschäftigte, Die Opfer, Widerstand. Das differenzierte oder in immer wieder neuen Kombinationen differenzierbare Bildmaterial ist es, das das Angebot »Bombensicher« spannend macht für Pädagoginnen und Pädagogen, die mit den Schülerinnen und Schülern in unbekannte Wissensräume und mehrdimensionale Gedankengefüge aufbrechen wollen. Ein solches Unternehmen ist für Lehrende und Lernende ungewohnt; dann können gemeinsame Zweifel und die Kommunikation darüber den an einem Partnerschaftsmodell orientierten Lernprozeß fördern.

„Die Hereinnahme der Unsicherheit in unser Denken und Tun kann genau die Verkleinerung der Zwecke, die Langsamkeit, die Revidierbarkeit und Lernfähigkeit, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Toleranz, Ironie erringen helfen, die zum Wechsel in eine andere Moderne notwendig sind.“ 9

In einer Schule dieser anderen Moderne wird nach individuellen Lernentwicklungen gefragt, die in Lerngruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, in unterschiedlichen Kombinationen, Größen und Zeiträumen realisiert werden. Dafür stellt »Bombensicher« ein geeignetes Medium dar, weil es individuelle Zugänge der Fotografinnen und Fotografen zum Thema präsentiert, mit denen sich Besucher/innen individuell auseinandersetzen können. Ein friedenspädagogisches Programm als Schulveranstaltung wird neben der Ermöglichung von Freiräumen für individuelle Lerninteressen und -entwicklungen immer auch Anregungen geben und Voraussetzungen dafür schaffen, daß Kommunikation untereinander stattfinden kann. Auf diese Weise werden soziale Aspekte des Lernens (in der Klasse, in der Gruppe, mit der Partnerin/mit dem Partner) gewährleistet bzw. sind zumindest als Lern- und Erfahrungsangebot gegenwärtig. Allerdings können in einer nach Fächern gegliederten und im 45-Minuten-Takt organisierten Schule fächerübergreifende Aspekte nur in Maßen oder gar nicht zum Tragen kommen. Projektarbeit bzw. projektorientierter Unterricht, in denen noch am ehesten die Komplexität und die Globalität der atomaren Frage- und Problemstellung in Bildung umgesetzt werden könnte, wird nicht oder nur selten realisiert.

In Konzepten zur Friedenserziehung in der Schule werden am konsequentesten Bildungsaspekte der atomaren Frage, ihre Dimension der politischen Bildung und die Notwendigkeit einer interdisziplinären bzw. einer integrativen Herangehensweise entwickelt.10 Ein Beispiel dafür ist die Realisierung der Ausstellung »Bombensicher« als friedenspädagisches Projekt in Schleswig-Holstein. Den Veröffentlichungen dazu können weiterführende Anregungen entnommen werden.11 Die Städte Kiel und Itzehoe, in denen das Projekt durchgeführt wurde, gehören dem internationalen Bündnis »Städtesolidarität Hiroshima/Nagasaki« an. Das Städtebündnis will die Verwirklichung einer friedlichen Ordnung der Welt fördern und verfolgt das Ziel der vollständigen Abschaffung der Atomwaffen. In einer Erklärung der deutschen Solidaritätsstädte aus dem Jahre 1987 heißt es: „Durch eigene Initiativen können die Kommunen im Rahmen ihrer Aufgaben dazu beitragen, das Friedensengagement ihrer Bürger zu wecken und zu unterstützen. Sie können so die Voraussetzungen schaffen helfen, daß die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung in der Welt, eines gewaltfreien Umgangs miteinander, immer mehr Menschen bewußt wird und so die Chance eröffnet wird für eine Welt ohne Waffen.“12

up>Mit der Durchführung des Ausstellungsprojektes »Bombensicher« können vor allem Kommunikationsprozesse angeregt werden. In der Regel wird sich für die Realisierung des Projektes ein breiter Unterstützer/innen-Kreis bilden, in dem die Vertreter/innen von Gruppen, Organisationen und Initiativen aus dem Anti-Atom-, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsspektrum, aus Parteien, Kirchen, Gewerkschaften usw. zusammenkommen. Die Unterstützergruppen ergänzen durch ihre speziellen Informations- und Unterhaltungsangebote während des Ausstellungszeitraumes die Themenpalette, die im Gesamtprojekt zur Geltung kommen kann. Daran kann auch ein Schul- oder Unterrichtsvorhaben beteiligt sein, in dem sich Schüler/innen mit einem ausstellungsrelevanten Aspekt auseinandergesetzt haben. Es entspricht einer optimistischen, aber durchaus realistischen Einschätzung, wenn behauptet wird, daß ein derartiges Ausstellungsprojekt einen Rahmen schaffen kann für die Festigung oder Erweiterung bzw. den Aufbau eines Netzwerkes der kommunalen Friedensarbeit. Friedensarbeit wird von individuellem Engagement einzelner Menschen getragen, läßt sich aber nur in solidarischen Organisationsformen wirkungsvoll gestalten.

Eine wichtige Motivation für die Akteure in sozialen Bewegungen ist die durchaus berechtigte Erwartung, aus einer aktuellen Minderheitensituation – eventuell mit Hilfe verschiedenartigster Zusammenschlüsse – die Machtposition der Mehrheit einnehmen zu können.13 Allerdings ist der Versuch, über den Aufbau eines Netzwerkes der alternativen Bewegungen längerfristig einen entscheidenden Einfluß auf die Politik auszuüben oder gar stabile Mehrheiten mit reformerischem Impetus zu schaffen, in den meisten Kommunen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien stekkengeblieben. Heute kommt es m.E. insbesondere darauf an, Möglichkeiten der Kommunikation zu organisieren und offene Foren einzurichten, wo Ad-hoc-Bündnisse geschlossen sowie neue Formen der Zusammenarbeit konzipiert und erprobt sowie Alternativen entwickelt werden können, denn nur Nein z.B. zur Atomenergie zu sagen, reicht nicht aus.14

Ein Aspekt, der möglicherweise individuelle Zugänge zur Atomthematik ermöglicht, könnte die »Bearbeitung« von Ängsten im atomaren Kontext sein. Natürliche Anknüpfungspunkte bieten die in »Bombensicher« dargestellten Opfer des Atoms, aber auch ihr unermüdlicher Widerstand gegen atomare Einrichtungen bzw. ihr Abwehrkampf gegen die Fortsetzung von Verseuchung, Enteignung und Entmündigung. Pädagoginnen und Pädagogen werden einen ihnen spezifischen Zugang zur atomaren Frage finden, der sich aus ihrer individuellen Lebens- und Arbeitsbiographie oder der ihrer Schüler/innen ergibt. Ich denke z.B. an die vielen Pädagoginnen und Pädagogen, die in der Arbeit der Anti-Atomkraft-Bewegung alt geworden sind. Vor ihren heutigen Schülerinnen und Schülern oder sonstigen »Schutzbefohlenen« zitieren sie nun Ulrich Beck: „Der Hauptgegner der Atomindustrie (…) sind nicht die Demonstranten vor den Bauzäunen, die kritische Öffentlichkeit (…), der überzeugendste und andauerndste Gegner der Atomindustrie ist – die Atomindustrie selbst. (…) Der Protest kann erlahmen, der Skandal der Gefahr bleibt.“ 15

Und es sind die Vorstellungen der Politik und der Atomwirtschaft von einer angebotsdominierten Atomtechnikentwicklung und -umsetzung gewesen, die zu entsprechender staatlicher Finanzierung und öffentlicher Legitimation verholfen haben. Dagegen haben z.B. »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF) Widerstand geleistet. Sie bekennen sich zu einem aktiven Pazifismus und verpflichten sich, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „in ihrer Kritik an jedem militärischen und nationalistischen Denken zu bestärken und ihnen friedliche Alternativen positiv erlebbar zu machen; (…) ihnen auch bei der Entscheidung für einen zivilen Friedensdienst praktische Hilfen zu bieten und sie vor Diskriminierungen zu schützen.“ 16

Deshalb wäre es in ihrem Sinne, daß Deutschland im Lichte des Atomwaffensperrvertrages und des »2+4-Vertrages« als politisches Vorbild dastehen könnte: „Derzeit (hat) kein anderes Land eine vergleichbar starke nichtnukleare Verpflichtung.“ 17 Aber: „In der Bundesrepublik wird die quantitative Abrüstung derzeit von einer materiellen und ideologischen Umrüstung der Bundeswehr und einer Militarisierung von Politik konterkariert.“ 18

Diese widersprüchlichen Aspekte beschreiben die augenblickliche politische Entwicklung und gewinnen Bedeutung für den Bildungsprozeß des einzelnen Menschen, weil er mit ihnen leben muß. Das gilt unabhängig davon, ob die Frage ein öffentliches oder pädagogisches (Mode-) Thema ist oder in den Medien Konjunktur hat. Die Konjunktur eines Themas in den Medien darf auch nicht mit thematischer Orientierungshilfe für die sich informierenden Menschen gleichgesetzt werden, sondern weist eher auf pädagogische Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungsnotwendigkeiten hin. Denn die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes allenthalben – z.T. auch in Teilen der Friedensbewegung – geradezu schlagartig einsetzenden Verharmlosungs- und Verdrängungstendenzen atomarer Bedrohungen – die sich allerdings auch qualitativ, nicht quantitativ! verändert haben – erscheinen angesichts unsicherer Politikentwicklungen nicht angemessen.19 Tatsächlich entlasten diese Verhaltensweisen viele Menschen von Ängsten. Andere aktivieren sich als politisch denkende und handelnde Menschen und kehren auf eine Weise in die Gesellschaft zurück, was „zunächst auf eine Erschwerung, Verhinderung alter Politik hinaus(läuft)“.20 Dabei müssen Handlungsfelder für eine eingreifende Politik von unten nicht erst lange in den unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbereichen der Menschen gesucht werden. Für die schulische Arbeit gilt es, sie wahr- und aufzunehmen. Z.B. durch die Realisierung einer Ausstellung wie »Bombensicher«. Der Vorteil der (Pflicht-)Schule – insbesondere der Gesamtschule – ist es ja gerade, daß in ihr Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zusammenkommen, um an einem Bildungsprozeß teilzunehmen. Hier werden – zumindest ist es intendiert – Chancen für die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Leistungen angeboten. Zukünftig wird es darauf ankommen, den Bildungsprozeß in der Schule bzw. das schulische Bildungsangebot so offenzuhalten und zu differenzieren, daß seine Wahrnehmung den Lernenden nicht nur sinnvoll erscheint, sondern daß es auch individuelle Gestaltungsfreiräume eröffnet und Entscheidungskompetenzen einräumt, die im derzeitigen Schulsystem undenkbar erscheinen. Von der Projektarbeit sind sie aber intendiert, im Projekt »Bombensicher« könnte damit begonnen werden.

Meine Überlegungen zu einer Bildungsarbeit zur atomaren Frage finden ein vorläufiges Ende. Didaktische und methodische Aspekte des Themas aus der Sicht eines Friedenspädagogen konnten nur angedeutet werden. Ihre schriftliche Fixierung ist von einer Unsicherheit geprägt, die Offenheit und Lernbereitschaft signalisieren möchte für das, was dem Frieden dienen könnte.

„Hier wie in anderen Bereichen auch: Mit den Chancen, die die Moderne eröffnet, kommen zugleich neue Fragen, neue Konflikte. Und die Traditionen, aus denen sich Antworten ableiten lassen, sind längst brüchig geworden. So ist das Grundmerkmal der Moderne wohl nicht Autonomie, sondern eher Bastelbiographie, vielleicht auch Bastelmoral.“ 21

Bernhard Nolz ist Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); er ist als Gesamtschullehrer und als Moderator in der Lehrerfortbildung tätig.

Die Ausstellung »Bombensicher« eröffnet die Beschäftigung mit folgenden Aspekten und Themen:

Anmerkungen

1) Zur friedenspädagogischen Bedeutung der atomaren Frage vgl.: Edgar Weiß: Nukleare Bedrohung, ihre Darstellung und deren friedenspädagoische Bedeutung, in: Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991, S. 37 – 58. Zurück

2) Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zur Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M. 1993, S. 102/103. Zurück

3) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 149 f. Zurück

4) Ronald Hitzler/Anne Honer: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung; in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 307 – 315. Zurück

5) Hitzler/Honer, S. 308. Zurück

6) Hitzler/Honer, S. 311. Zurück

7) Vgl.: Peter Büchner/Anna Brake/Burkhard Fuhs: Wie geht es unseren Kindern? Erste Ergebnisse des Marburger Kinder-Surveys. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 4, Marburg 1994; Peter Büchner/Burkhard Fuhs: Kinderkulturelle Praxis: Kindliche Handlungskontexte und Aktivitätsprofile im außerschulischen Lebensallltag. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 5, Marburg 1994; Sigrid Metz-Göckel: Jugend '92. Zur 11. Shell-Jugendstudie. In: Jugendliche und politische Kultur. SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 47 – 63; Jürgen Mansel: Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Risiken. In: SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 31 – 46. Zurück

8) Siehe hierzu das kurze Portrait in dieser Ausgabe. Information und Ausstellungskatalog: kultur publik, Killertalstr. 13, 72379 Hechingen, Tel: 07477/1606; Fax: 07477/8206. Zurück

9) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 260. Zurück

10) Vgl. Jörg Calließ/Reinhold E. Lob (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung, 2 Bde. Düsseldorf 1988; Carsten Budke/Bernd Nolz/Walter Westphal: Grundsätze zur Friedenserziehung in den Schulen. PFK-texte Nr. 2. Kiel 1991. Zurück

11) Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991. Siehe auch: Bernd Nolz: »Bombensicher« – ein Ausstellungsprojekt zur Friedenserziehung, in: Peter Häußler (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung. Kiel 1992; Bernhard Nolz: Projektarbeit in der Friedenserziehung als Beitrag zur Politischen Bildung. Hamburg 1993; Ilse Valentin: Atomare Bedrohung und Friedenspädagogik. Manuskript. Kiel 1994. Zurück

12) Zitiert nach: Günther Gugel/Uli Jäger (Hrsg.): Handbuch Kommunale Friedensarbeit. Tübingen 1988, S. 201. Zurück

13) Vgl.: Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling: Vom Umgang mit Minderheiten – ein soziokulturelles Problem in der politischen Kontroverse; in: dies. (Hrsg.): Minderheiten – Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft? Baden-Baden 1991. Zurück

14) Vgl.: Günter Wippel: Die neue Internationale der Atomopfer; in: Klemens Ludwig/Susanne Voigt (Hrsg.): Phantom Atom. Abgründe der Atomtechnologie und Wege aus der Gefahr. Gießen 1993. Zurück

15) Ulrich Beck: Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M. 1988. S. 153/163. Zurück

16) Aufruf der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF): Gegen den neuen Militarismus – Für einen aktiven Pazifismus! Vgl.: »et cetera ppf« Nr. 3/93, 1/94, 2/94. Zurück

17) Annette Schaper: Die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages: Schlüssel zur nuklearen Rüstungskontrolle; in: Hanne-Margret Birckenbach/Uli Jäger/ Christian Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1995. Konflikte – Abrüstung – Friedensarbeit. München 1994, S. 155. Zurück

18) Martin Grundmann: Die Bundeswehr: Eine Bilanz nach vier Jahren »Abrüstung«; in: Birckenbach/Jäger/Wellmann, S. 144. Zurück

19) Vgl. B. Marquardt/J. Mayer/H. Mikelskis (Hrsg.): Umwelt. Lexikon ökologisches Grundwissen. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 68 ff. Zurück

20) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 170. Zurück

21) Elisabeth Beck-Gernsheim: Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten, S. 332. Zurück

Alternativen, Anti-Atombewegung, Atomforschung, Atomkraftwerke, Störfälle, Krankheitsbilder, Atomstaat, Bastelbiographie, Beschäftigte der Atomindustrie, Biographisches Arbeiten, Bombenproduktion, Bombentests, Deutsche Atompolitik, Erziehung zum Frieden, Fotoanalyse, Friedensfähigkeiten, Friedensutopien, Gefahrenminimierung, Geschichte der Atomtechnologie, Hiroshima/Nagasaki, Individualisierungsprozesse, Kommunale Friedensarbeit, Mediendarstellung, Militarisierung, Moderne – Gegenmoderne, Modethemen, Neue Weltordnung, Opfer, Pazifismus, Politische Bildung, Politische Entscheidungsprozesse, Projektunterricht, Protestbewegung, Risikogesellschaft, Soziales Lernen, Städtesolidarität, Technikentwicklung, Tschernobyl, Uranbergbau, Verantwortung, Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Verweigerung, Widerstand, Wissensvermittlung, Zeitbombe.

Das Tauziehen um den Nichtverbreitungsvertrag

Das Tauziehen um den Nichtverbreitungsvertrag

Festschreibung des Kernwaffenstatus oder Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen?

von Jürgen Scheffran • Martin Kalinowski

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ist seit 1970 in Kraft (siehe Infokasten). Gemäß Artikel X des NVV soll nach einer Laufzeit von 25 Jahren darüber entschieden werden, ob der Vertrag „auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird“. Zu dem Zweck wurde eine Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz (Review and Extension Conference) einberufen, die vom 17. April bis zum 12. Mai 1995 in New York stattfinden wird.

Es gab bereits vier Überprüfungskonferenzen, die alle fünf Jahre stattfanden. Die Aufgabe der Überprüfung bestand darin, die Umsetzung des Vertrages und die Erreichung seiner Ziele zu bewerten. Die Diskussion, ob die Kernwaffenmitgliedsstaaten des NVV ihre Abrüstungsverpflichtungen aus Artikel VI hinreichend erfüllt haben, wurde als Hauptstreitpunkt immer sehr kontrovers geführt. Die prinzipielle Uneinigkeit darüber brachte die Überprüfungskonferenz von 1990 zum Scheitern, auf der u.a. wegen des Widerstands Mexikos keine gemeinsame Abschlußerklärung zustande kam. Angesichts dieser Erfahrung wird es nicht als sicher angesehen, ob bei der dieses Jahr anstehenden NVV-Konferenz eine Einigung erzielt werden kann.

Um die Verlängerung nicht vom erfolgreichen Abschluß der Überprüfung abhängig zu machen, haben einige Staaten auf der dritten Vorbereitungskonferenz im September 1994 vorgeschlagen, die Verlängerungsentscheidung vor der Überprüfung vorzunehmen. Diese Position vermochte sich wegen ihrer fehlenden Logik nicht durchzusetzen. Erst muß die Realisierung des Vertrages überprüft und bewertet werden, bevor sich die Staaten eine Position zur Form der Verlängerung endgültig bilden können.

Bei den Vorbereitungen der NVV-Konferenz ging es nicht um eine Verbesserung des Vertrages, sondern lediglich um die Art der Verlängerung. Es wird keine realistische Chance gesehen, den NVV zu verändern, da dann viele miteinander nicht vereinbare Änderungswünsche vorgebracht würden, die eine Einigung in der vorgegebenen Frist unwahrscheinlich machen. Es genügt nicht nur die einfache Mehrheit der Mitgliedsstaaten, sondern es müssen auch alle Kernwaffenstaaten zustimmen, die Mitglied des NVV sind, d.h. USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und China.

Alle weiteren Schritte, insbesondere verbindliche Abrüstungsmaßnahmen wie ein Kernwaffen-Teststopp oder die Beseitigung von Kernwaffen und deren Nuklearmaterialien, müssen also außerhalb des NVV als zusätzliche Bestandteile des gesamten Nichtverbreitungsregimes vereinbart werden. Einige Staaten schlagen vor, eine engere Verbindung derartiger Zusatzverträge mit dem NVV zu erreichen, indem die Art der Fortführung des Vertrages abhängig gemacht wird von Fortschritten bei der Abrüstung. Doch auch einer solchen bedingten Verlängerung werden wenig Chancen gegeben, weil die Mehrheit aller Vertragsstaaten dem nicht zustimmen würde.

Zur Disposition stehen demnach die in Artikel X festgelegten drei Alternativen:

1. die unbefristete Verlängerung;

2. die auf einen Zeitraum befristete Verlängerung;

3. eine zyklische Verlängerung (rolling extension) mit erneuter Entscheidung über die Fortführung nach jeweils einer bestimmten Periode (die Vorschläge reichen von 5 bis 25 Jahren).1

Während die fünf Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten (darunter alle europäischen Staaten) für die unbefristete Verlängerung sind, treten die meisten der blockfreien Staaten für die dritte Variante ein, der Rest ist noch unentschieden. Das Gesamtmeinungsbild ist noch nicht klar.

Für die Vorbereitung der NVV-Konferenz 1995 in New York waren vier Sitzungen eines Vorbereitungskomitees (Preparatory Committee, PrepCom) angesetzt, dem alle Mitgliedstaaten angehören. Die ersten beiden dieser Treffen fanden in New York statt (Mai 1993, Januar 1994) und befaßten sich nur mit formalen Aspekten. Zur dritten »PrepCom« im September 1994 in Genf durften erstmals auch Nichtregierungsorganisationen (NROs) erscheinen, die u.a. in Form vorbereiteter Statements während einer Anhörung am Rande an der inhaltlichen Diskussion teilnehmen konnten. Die vierte »PrepCom« fand im Januar 1995 wieder in New York statt und ließ einige Fragen offen, die auf einer Sondersitzung kurz vor der Konferenz im April geklärt werden müssen.2

Während an den ersten beiden »PrepComs« 128 bzw. 117 Staaten teilnahmen, verringerte sich bei der dritten Vorbereitungskonfrenz die Zahl auf 89 Staaten, weil in Genf nicht so viele Delegationen eine permanente Mission unterhalten wie in New York. An der vierten und letzten »PrepCom« in New York nahmen 142 Mitgliedsstaaten teil, weitere 7 Staaten als Beobachter sowie 72 NROs. Zum Vergleich: nach den Beitritten Algeriens, Argentiniens, Bosniens, Moldaviens, Turkmenistans und der Ukraine war die Zahl der NPT-Mitgliedsstaaten bis zum Februar 1995 auf 172 angestiegen.

Position der blockfreien Staaten

Im Verlauf dieser Sitzungen setzten sich die blockfreien Länder energisch dafür ein, daß nicht nur über Verfahrensfragen für die NVV-Konferenz verhandelt wird, sondern auch eine inhaltliche Diskussion stattfindet. Sie trugen erneut ihre Forderungen vor, daß die Kernwaffenstaaten wesentliche Abrüstungsschritte gemeinsam einleiten und präsentieren müßten, damit die NVV-Konferenz zum Erfolg führen kann. In einem von Kolumbien, Ägypten, Indonesien, Iran, Mexiko, Myanmar und Nigeria vorgelegten Papier heißt es:

„Der Erfolg der 1995 stattfindenden Konferenz kann nicht an der Frage der automatischen Verlängerung gemessen werden, sondern eher an der Ernsthaftigkeit, mit der die NVV-Mitgliedsstaaten die gegenwärtigen Herausforderungen im Bereich nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung bewerten und lösen.“

Gefordert wurden in diesem Papier fünf Maßnahmen:

  1. ein umfassender Teststopp-Vertrag;
  2. ein Verbot der Produktion spaltbarer Materialien für Kernwaffenzwecke, das die Vorräte und deren Auslaufenlassen beinhaltet;
  3. volle Sicherheitsgarantien für die Nicht-Kernwaffenstaaten;
  4. Sicherstellung des Zugangs zu Nukleartechnologien für friedliche Zwecke für alle Mitgliedsstaaten des NVV;
  5. Sicherstellung der Universalität des NVV.

Vor allem sollten die Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur vollständigen Abschaffung der Kernwaffen erneut bekräftigen, die sie mit der Unterzeichnung des NVV eingegangen sind. Das Problem liegt darin, daß der NVV keinerlei Vorgaben macht, wann dieses Ziel erreicht werden soll und wie die Einhaltung dieser Verpflichtung überprüft werden kann. Viele Staaten sind der Ansicht, daß die Erfüllung dieses Ziels nicht befriedigend gegeben ist und daß nur durch zukünftige Überprüfungskonferenzen und erneute Verlängerungsentscheidungen ein – wenn auch als unzureichend empfundener – Druck auf die Kernwaffenstaaten ausgeübt werden kann.

Unbefristete Verlängerung?

Wie groß die Basis für die Abschaffung der Kernwaffen ist, zeigte sich bei den Abstimmungen über mehrere Resolutionen der UNO-Generalversammlung im November 1994, in denen die westlichen Kernwaffenstaaten weitgehend isoliert waren.3

Obwohl die Zahl und Qualität der Kernwaffen heute höher ist als 1970, verweisen die Kernwaffenstaaten darauf, daß sie zumindest in den letzten Jahren mit START I und II, mit einseitigen Abzügen taktischer Kernwaffen sowie mit den begonnenen Teststoppverhandlungen endlich erste Abrüstungsschritte erreicht haben, und argumentieren, daß dies hinreichend sei. Allerdings räumte der Botschafter der USA, Thomas Graham, ein, daß der NVV nicht den permanenten Besitz von Kernwaffen legitimiert. Viele Nicht-Kernwaffenstaaten und Nicht-Regierungsorganisationen befürchten dennoch, daß mit einer unbefristeten Verlängerung des NVV faktisch die Möglichkeit für den permanenten Erhalt des Kernwaffenstatus für fünf Länder manifestiert wird. Sie treten dafür ein, den NVV nicht unbegrenzt zu verlängern, solange nicht ein Fahrplan für umfassende Abrüstungschritte vereinbart wurde.

Auf der dritten »PrepCom«, die u.a. die Hintergrundpapiere, die Tagesordnung und die Verfahrensregeln für die NVV-Konferenz 1995 verabschieden sollte, prallten die unterschiedlichen Positionen erstmals offen aufeinander. Mithilfe von Entscheidungen über Prozeduren und Ablauf der Konferenz wurde versucht, bestimmte Positionen zu stärken. Konflikte ergaben sich nicht nur in der Frage, ob die Verlängerungsentscheidung vor oder nach der Überprüfung des NVV stattfinden sollte, sondern auch über die Abstimmungsmodalitäten.

Bei den Vereinten Nationen ist es üblich, daß Abstimmungen vermieden werden und ein Konsens gefunden wird. Einige blockfreie Staaten haben betont, daß eine knappe Entscheidung für eine unbegrenzte Verlängerung gegen eine substantielle Minderheit bei vielen Staaten die Motivation, den Vertrag mit allen Kräften zu unterstützen, senken kann.

Westliche Befürworter einer unbegrenzten Verlängerung schoben die Verantwortung an der wenig kooperativen dritten »PrepCom« besonders auf den mexikanischen Botschafter Miguel Marin Bosch, der – von den mangelnden Fortschritten bei den Teststopp-Verhandlungen in Genf enttäuscht – die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtung in Artikel VI einklagte, sowie den iranischen Botschafter M. Sirous Nasseri, der geschickt die Interessen blockfreier Staaten an der zivilen Kernenergienutzung ausnutzte. So forderte der Iran bei der Diskussion eines Hintergrundpapiers der IAEO zur Kernenergie, daß die Implementierung von Artikel IV des NVV (friedliche Nutzung der Kernenergie) separat und nicht nur in Kombination mit anderen Artikeln überprüft wird. Dahinter steht der politische Konflikt, daß sich der Iran von den USA und anderen Ländern mit Exportbeschränkungen bei Nukleartechnologien in der Fortführung seines zivilen Kernenergieprogramms behindert fühlt und diese Exportkontrollpolitik als Verletzung des Artikels IV brandmarken möchte. Es wird vermutet, daß der Iran trotz seiner Mitgliedschaft im NVV ein geheimes militärisches Programm verfolgt.

Nicht geklärt werden konnten auf der dritten »PrepCom« u.a. die Prozedur für die Verlängerungsentscheidung, die Tagesordnung für die NVV-Konferenz, die Vorlage von Hintergrundpapieren sowie der Vorsitz für die NVV-Konferenz und die verschiedenen Komitees.

Im Unterschied zur dritten »PrepCom« wurde die unter Vorsitz des finnischen Botschafters Pasi Patokallio vom 23.-27. Januar 1995 in New York stattfindende vierte »PrepCom« allgemein als kooperativ charakterisiert, obwohl auch hier nicht alle wichtigen Fragen geklärt werden konnten. In einigen bedeutenden Problembereichen konnte eine Einigung erzielt werden, so bei der Festlegung der Vorsitzenden für die Konferenz und die Komitees, der Aufteilung der Kosten sowie über die Tagesordnung für die NVV-Konferenz. Deutlicher noch als in Genf agierten die Delegierten in drei Gruppen. Die Bewegung der Blockfreien Staaten wurde von Indonesien koordiniert, die Westgruppe (NATO, EU, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland) von Großbritannien, die osteuropäische Gruppe von Lettland. Während die beiden ersten Gruppen bemüht waren, ihre Strategie untereinander abzustimmen und koordiniert zu handeln, war die dritte Gruppe relativ schlecht organisiert und folgte weitgehend den Ansichten der Westgruppe.

Eine ambivalente Rolle spielte China, das als Kernwaffenstaat und Führungsmacht der »Dritten Welt« widersprüchliche Interessen vertritt. Zum einen setzt sich China offiziell für eine kernwaffenfreie Welt ein und fordert eine No-First-Use-Erklärung der Kernwaffenstaaten, zum anderen verzögert China rasche Fortschritte bei den Teststopp-Verhandlungen, u.a. mit dem Beharren auf »friedlichen« Kernexplosionen. Die Haltung zur unbegrenzten Verlängerung ist nicht eindeutig. In Erklärungen wird von einer »glatten Verlängerung« (smooth extension) gesprochen.

Streitpunkte der Verlängerungskonferenz

Gemäß der vereinbarten Tagesordnung wird die NVV-Konferenz wie folgt verlaufen. Nachdem in der ersten Woche unter Vorsitz von Botschafter Jayantha Dhanapala aus Sri Lanka hochrangige Regierungsvertreter ihre Stellungsnahmen abgeben werden, wird in den folgenden beiden Wochen der NVV in drei Hauptkomitees überprüft. Dabei handelt es sich um die Komitees für

  • Abrüstung, internationalen Frieden und Sicherheit (Vorsitzender Isaac Ayewah aus Nigeria),
  • Safeguards und kernwaffenfreie Zonen (Andre Erdos aus Ungarn) und
  • friedliche Nutzung der Kernenergie (Jaap Ramaker aus den Niederlanden).

In zwei weiteren Komitees (Drafting Committee unter Tadeusz Strulak aus Polen; Credentials Committee, vermutlich unter Leitung von Julio Londono aus Kolumbien) werden die Verlängerungsentscheidung und das Abschlußdokument vorbereitet. Erst in der letzten Woche soll die Frage der Verlängerung verstärkt diskutiert und dann entschieden werden.

Deutlich sichtbar waren weiterhin die ungelösten Problemfelder, allen voran die schleppenden Fortschritte bei den Verhandlungen der Genfer Abrüstungskonferenz zum Teststopp, zum Produktionsstopp für Spaltstoffe und zur Frage der Sicherheitsgarantien für Nicht-Kernwaffenstaaten. Auch die regionalen Probleme der Kernwaffenproliferation wurden erneut offensichtlich durch die Forderung Ägyptens, den NVV nur zu verlängern, wenn Israel dem Vertrag beitrete. Angesichts dieser und anderer Kritikpunkte war eine Mehrheit für die unbegrenzte Verlängerung des NVV nicht erkennbar. Lediglich 60 bis 70 Staaten unterstützten bislang diese Option. Die dadurch ausgelöste Verunsicherung im westlichen Lager führte zu einer wachsenden Kritik aus Rüstungskontrollkreisen der USA an der ungenügenden Verhandlungsdiplomatie der Clinton-Regierung und zur Forderung nach weiteren Zugeständnissen in der Abrüstung.4 Erstmals zog US-Botschafter Graham eine weitere Option in Erwägung, wonach eine automatische Verlängerung des NVV alle 25 Jahre vorgesehen sei, sofern nicht eine Mehrheit der Staaten dagegen stimme.5 Die Aufgabe der Mehrheitsbeschaffung würde damit umgekehrt. In Abschwächung dieser »Gedankenspielerei« zeigte sich Graham jedoch zuversichtlich, eine knappe Mehrheit für die unbegrenzte Verlängerung erreichen zu können.6 Unklar ist, ob die US-Regierung den dadurch für den NVV möglicherweise entstehenden Schaden riskieren will.

Auch wenn es im Einzelfall schwer nachweisbar sein dürfte, kann davon ausgegangen werden, daß die USA und andere Industriestaaten die Zeit bis zur NVV-Konferenz nutzen, um mit Lock- und Druckmitteln einzelne Staaten von der »erwünschten« Entscheidung zu überzeugen. Umgekehrt mögen manche Staaten die anstehende NVV-Entscheidung als Mittel benutzen, um westliche Unterstützung zu erhalten. In der Presse wurde spekuliert, der Milliardenkredit der USA an Mexiko könne gekoppelt sein an mexikanisches Wohlverhalten bei der NVV-Konferenz. Solche Vermutungen erhielten neue Nahrung durch die Ankündigung, der mexikanische Botschafter Bosch werde sein Amt niederlegen, allerdings erst nach der NVV-Konferenz.

Angesichts der unklaren Situation war das Abstimmungsverfahren der Hauptstreitpunkt bei der vierten »PrepCom«. Keine Einigung konnte erzielt werden bei der Regel 28, in der die Abstimmungsprozedur für die Verlängerungsentscheidung und die Abschlußdokumente festgelegt werden soll. Nach einem von Indonesien eingereichten Vorschlag sollen alle Verlängerungsvorschläge geichzeitig auf einem Wahlzettel zur Abstimmung stehen und der schwächste jeweils ausscheiden, bis bei einer wiederholten Wahlprozedur ein Vorschlag die Mehrheit erhält. Demgegenüber bevorzugt die Westgruppe sukzessive Abstimmungen über jeden einzelnen Vorschlag, in der Hoffnung, die unbegrenzte Verlängerung könne bereits in der ersten Runde die einfache Mehrheit erhalten. Die Entscheidung über das Abstimmungsverfahren nach Regel 28 wurde auf den 14./15. April vertagt.

Ungeklärt ist auch, was geschieht, wenn kein Vorschlag die erforderliche Mehrheit erhält. Da der NVV hier keine eindeutige Antwort gibt, kursieren verschiedene Interpretationsvorschläge. Während einzelne Beobachter hierin das Ende des NVV sehen, ist die gängige Ansicht, daß der NVV in Kraft bleibe, solange keine Entscheidung gefällt wurde. Indonesien schlug vor, daß ohne eine Einigung bis zum 12. Mai die NVV-Konferenz um maximal ein Jahr vertagt werden solle, Ägypten schlug sogar zwei Jahre vor. Dies gäbe zugleich die Gelegenheit, weitere Fortschritte bei den Teststopp-Verhandlungen abzuwarten. Nach einem Gegenvorschlag Rußlands solle die NVV-Konferenz nicht ohne eine Entscheidung beendet werden.

Rolle der Nichtregierungsorganisationen

Eine positive Rolle bei den beiden letzten »PrepComs« spielten die NROs, die in Genf und New York aktiv versuchten, auf den Verhandlungsprozeß Einfluß zu nehmen. Zugleich erwiesen sich die »PrepComs« als ein wichtiges Forum, um NROs aus aller Welt zusammenzubringen und über gemeinsame Strategien beraten zu lassen. Trotz unterschiedlicher Ansichten in der Verlängerungsfrage verständigten sich einige NROs in New York darauf, daß mehr getan werden müsse, damit die Atomwaffenstaaten die Abrüstungsverpflichtung nach Artikel VI erfüllen. Gemeinsam mit den Blockfreien Staaten teilten viele NROs die Sorge, daß der NVV jetzt in Erwartung von weiteren Abrüstungsfortschritten (insbesondere Teststopp) unbegrenzt verlängert werden könne, ohne daß es jedoch eine Garantie für solche Abrüstungsschritte gebe. Die Frage der Verlängerung dürfe daher nicht losgelöst vom Inhalt diskutiert werden. Eine Reihe von NROs setzte sich für die baldige Abschaffung aller Kernwaffen ein. Neben einer Anhörung, bei der fast alle NROs ihre Positionen darlegten,7 gab es weitere Veranstaltungen, die sich auch an die Delegierten richten sollten. So gab es kurz vor der 4. »PrepCom« in New York ein internationales Symposium des Institute for Energy and Environmental Research über die Kontrolle von Kernwaffenmaterialien, auf dem eine Erklärung zum Plutoniumproblem vorgestellt wurde.8 Am 27.1. führten neun Organisationen ein »Briefing« zur Kernwaffenmodernisierung und zu Initiativen für eine kernwaffenfreie Welt durch. Sehr positiv war, daß einige NROs die Gelegenheit nutzten, ihre Abrüstungskampagnen international zu vernetzen und sich auf die NVV-Konferenz zu konzentrieren.

So finden in der ersten Woche der NVV-Konferenz eine Reihe von Veranstaltungen der »International Citizen's Assembly To Stop the Spread of Weapons« statt, in der sich viele US-Friedens-Organisationen zusammengefunden haben. Die »International Coalition for Nuclear Nonproliferation and Disarmament«, die von vier internationalen Organisationen 1993 gegründet wurde (International Lawyers Against Nuclear Arms IALANA, International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility INES, International Physicians for the Prevention of Nuclear War IPPNW, International Peace Bureau IPB), will den NVV-Verhandlungsprozeß und das öffentliche Interesse nutzen, um das Ziel einer kernwaffenfreien Welt voranzubringen. Dazu wird am 25. und 26. April eine zweitägige gemeinsame Veranstaltung in New York durchgeführt. Während am ersten Tag das zu INES gehörige International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) eine Studie »Beyond the NPT – A Nuclear Weapon Free World« vorstellt, die derzeit von einer Gruppe von etwa als 50 Experten aus 17 Ländern erarbeitet wird, werden am zweiten Tag eine Reihe von Organisationen Strategien und Schritte zur Abschaffung von Kernwaffen diskutieren. Unterstützt wird die Veranstaltung von weiteren Organisationen, darunter Nuclear Age Peace Foundation, Peace Action und Fourth Freedom Forum in den USA.

Gemeinsam ist all diesen Aktivitäten die Hoffnung, daß die NVV-Konferenz nicht den bestehenden unbefriedigenden Zustand festschreibt, sondern der Anfang eines Verhandlungsprozesses wird, der in eine kernwaffenfreie Welt einmündet. Das von Befürwortern einer unbegrenzten Verlängerung vorgebrachte Argument, die Kopplung der NVV-Verlängerung an den Abrüstungsprozeß gefährde den Vertrag, wirkt wenig überzeugend angesichts der Tatsache, daß kein Mitgliedsstaat den Vertrag aufgeben möchte. Alle Kritik richtet sich nur darauf, daß der NVV nicht genügend und in allen Teilen eingehalten wird, besonders nicht von den Kernwaffenstaaten. Wenn der NPT gefährdet ist, dann nur durch deren einseitiges Festhalten an ihrem Nuklearstatus, das erst den Nuklearclub erzeugt, in den auch andere Staaten eintreten wollen. Das Beharren auf Kernwaffen als legitimes Element der Sicherheitspolitik verhindert ihre Ächtung und die Abschaffung durch eine Nuklearwaffenkonvention, die langfristig den NVV ersetzen könnte.

Inhalte des Nichtverbreitungsvertrages

1. Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten

  • Keine Weitergabe von Kernwaffen an andere oder Hilfe bei der Beschaffung; Übergabe der
    Verfügungsgewalt ist verboten (Artikel I)<>
  • Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« werden den Vertragsparteien
    zugänglich gemacht (Artikel V).
  • Verhandlungen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung
    sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung (explizit genannt
    werden Kernwaffenteststopp, Einstellungen der Kernwaffenproduktion) sollen geführt werden
    (Artikel VI und Präambel).

2. Verpflichtungen der Nicht-Kernwaffenstaaten

  • Keine Annahme von Kernwaffen oder Verfügungsgewalt darüber; keine Herstellung oder
    Produktion, keine Unterstützung anderer oder Annahme von fremder Unterstützung (Artikel
    II).
  • Annahme von Sicherheitsmaßnahmen (»Safeguards« der Internationalen
    Atomenergieorganisation IAEO), die auf alles Ausgangsmaterial und besondere spaltbare
    Materialien sowie alle Nuklearaktivitäten angewandt werden (Artikel III).

3. Gemeinschaftliche Verpflichtungen

  • Weitergabe von besonderem spaltbarem Material und entsprechenden Ausrüstungen, nur wenn
    sie Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).
  • Erleichterung und Förderung der zivilen

Kernenergienutzung, wissenschaftlich-technologischer Austausch (Artikel IV und
Präambel).

Statement for the International Network of Engineers and Scientists Against
Proliferation (INESAP) at the NGO briefing at the 4th NPT PrepCom, New York, 25 January
1995

The 1995 NPT Review and Extension Conference comes at a crucial juncture in the nuclear
age. On the one hand, there have been recent ominous indications of propensity and
capacity to breach the treaty. On the other, there is a clear end-of-the-Cold-War
opportunity to greatly scale back or even eliminate nuclear arsenals altogether. 50 years
after nuclear proliferation started in the desert of New Mexico and killed hundreds of
thousands in Hiroshima and Nagasaki, it is a critical issue whether the political pressure
is strong enough to transform the traditional non-proliferation regime into a global
nuclear disarmament regime.

Although one surely can appreciate the NPT as the cornerstone of the current
non-proliferation regime, its shortcomings should not be ignored:

1. The NPT is discriminatory in effectively dividing the world into nuclear weapon
»haves« and »have-nots«;

2. it does not define a clear path and provides no procedures for nuclear disarmament;

3. it largely ignores the civil-military ambivalence and dual-use potential of nuclear
research and technology;

4. it permits »peaceful« nuclear explosions;

5. the IAEA, as the main agent of the NPT, has a contradictory double role as promoter
as well as controller of nuclear energy and technology.

To focus only on the length of extension of the NPT, without dealing with its content
and implementation is too narrow and inadequate to the complex problems we are facing
today. In calling for an indefinite, unconditional extension, the NPT nuclear weapon
states divert attention from the NPT's ultimate goal, set out in the preamble „the
elimination from national arsenals of nuclear weapons and the means of their
delivery“
. This goal is obviously contradictory to indefinite extension of the
status of the nuclear weapon powers. A growing number of countries, who now have the power
to vote on the NPT extension, is concerned that after an indefinite extension they might
never be asked to vote again on this issue, as long as no further procedures towards
nuclear disarmament are agreed upon.

It is imperative that the 1995 NPT Conference go on record with a strong endorsement of
the Article VI obligations of the nuclear weapon states to pursue negotiations in good
faith „on effective measures relating to cessation of the nuclear arms race at an
early date and to nuclear disarmament“
. The ultimate aim of these negotiations
should be a Nuclear Weapons Convention (NWC) to prohibit and eliminate nuclear weapons,
which would be an essential step towards „a treaty on general and complete
disarmament under strict and effective international control“
(Article VI).

To work out such a treaty in detail many difficult issues need to be dealt with and
years of negotiation may be required. As the model of experience with the Chemical Weapons
Convention has shown, success depends on political will and mutual confidence. The
negotiation process would offer many opportunities to focus public attention on this
issue. The historic opportunity of 1995 should not be missed.

It is important that we don't block our thinking by what is acceptable for the nuclear
weapon states. Both non-governmental organizations and those governments willing to
actively promote disarmament should develop their own ideas on a Nuclear Weapons
Convention as part of a concerted effort. The International Network of Engineers and
Scientists Against Proliferation (INESAP), in particular, has convened a Study Group of
more than 40 experts from 17 countries to clarify the technical and legal issues, to
specify the ultimate goal of a nuclear weapons free world and a step-by-step transition
towards it, and to help in facilitating negotiations beyond the NPT.

As its first activity the Study Group is preparing a scientific document which will be
presented in April 1995, at the time of the NPT Conference in New York. One part of this
work will be to outline a Draft Nuclear Weapon Convention and to examine strategies to
implement it. An essential part would be steps towards that goal including a Comprehensive
Test Ban Treaty, a comprehensive cutoff in the production of weapons-usable nuclear
materials, further disarmament of nuclear arsenals and related delivery systems. Regional
approaches, modeled after the successful Nuclear Weapon Free Zone negotiations in Latin
America and the South Pacific, would serve as a cornerstone of implementing a NWC.

To have an effect, the activities towards a nuclear weapons free world, to be enshrined
in a Nuclear Weapon Convention, need a concerted effort. Therefore, we invite all who are
willing to contribute to join these efforts.

Jürgen Scheffran and Barry M. Casper

Anmerkungen

1) Venezuela hat vorgeschlagen, den NVV in seiner jetzigen Form zu verlängern, was einen Zeitraum von wieder 25 Jahren impliziert. Zurück

2) Zur dritten und vierten »PrepCom« siehe die ausführlichen ACRONYM-Reports Nr. 3 vom September 1994 und Nr. 4 vom Februar 1995 von Rebecca Johnson. Das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) berichtete täglich über Internet aus Genf. Siehe die Zusammenfassung in: M. Kalinowski, Report from Geneva, INESAP Information Bulletin, Nr.3, Oktober 1994. Zurück

3) Nuclear Powers Suffer Set Back in G.A. Votes, Disarmament Times, 20.12.1994. Zurück

4) Atoms Arms Pact Runs Into a Snag, New York Times, 26.1.1995. Zurück

5) U.S. Weighs Extension on UN Nuclear Treaty, Associated Press in January 25, 1995, Boston Globe. Zurück

6) So bei einer großen internationalen Konferenz der Carnegie Endowment for International Peace unmittelbar nach der 4. »PrepCom« in Washington. Hier gab auch US-Sicherheitsberater Anthony Lake bekannt, daß die US-Regierung von ihrer Bedingung abgerückt sei, von einen Teststopp-Vertrag nach 10 Jahren zurücktreten können. Zurück

7) Zur Stellungnahme von INESAP siehe Kasten. Zurück

8) Siehe Blaue Seiten in w&f 1/95 Zurück

Martin Kalinowski und Jürgen Scheffran arbeiten als Physiker bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TH Darmstadt. Weiterhin sind sie engagiert bei der Arbeit des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

Vom Nichtverbreitungsvertrag zur Nuklearwaffenkonvention

Vom Nichtverbreitungsvertrag zur Nuklearwaffenkonvention

Schritte zur atomwaffenfreien Welt

von Wolfgang Liebert

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) für Kernwaffen steht nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung an. Die Frage muß gestellt werden, ob dieser Vertrag tatsächlich sein Ziel erreicht, zur nuklearen Abrüstung zu führen sowie die Weiterverbreitung der Atomwaffentechnologie wirksam zu verhindern. Weiterhin ist zu fragen, welche Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung bestehen.

Auch wenn seit Aushandlung des NVV in den sechziger Jahren »nur« Israel, Indien, Pakistan und Südafrika neu zu Kernwaffenstaaten wurden, so bleiben doch gewichtige Mängel des Vertrages zu konstatieren, die langfristig kontraproduktiv wirken1.

Der Vertrag ist de-jure und in seiner Praxis de-facto diskriminatorisch. Er schreibt fünf Atommächte auf Dauer fest, läßt eine Fortentwicklung der nuklearen Arsenale in diesen Staaten zu und sieht dort keinerlei Kontrollen vor. Einer zweiten Gruppe von Staaten, zu der im wesentlichen hochentwickelte Industrieländer zählen, ist zwar der Zugriff auf Atomwaffen verwehrt, aber alle sensitiven Nukleartechnologien mit Relevanz für mögliche Kernwaffenprogramme können in diesen Ländern genutzt und innerhalb dieser und der erstgenannten Gruppe exportiert werden. Einer dritten Gruppe von Staaten ist sowohl der Zugriff auf Atomwaffen als auch auf bestimmte sensitive Nukleartechnologie verwehrt, die hier als Ausdruck einer Kernwaffenoption interpretiert wird. Unterstützt durch einseitige Exportkontrolle wichtiger Lieferländer für Nukleartechnologie und -material kann dieses Mehrklassensystem notdürftig aufrechterhalten werden. Einerseits immer in der Gefahr, unzureichend durchgeführt zu werden, steht Exportkontrolle auf der anderen Seite immer in dem Ruch, ein »Technologie-Embargo« des Nordens gegen den Süden darzustellen, was entsprechende vehemente Kritik von Vertretern der sogenannten Dritten Welt heraufbeschwört.

Eine weitere herausragende Schwachstelle des NVV ist, daß er in Artikel VI und in seiner Präambel zwar baldige Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung – und sogar zur vollständigen Abrüstung – fordert, aber keine verbindlichen Wege dorthin festschreibt. Die Nichtbeachtung der zivil-militärischen Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie2 ist ein weiterer zentraler Mangel des NVV. Zivile Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen. Die in der Präambel und im Artikel IV erfolgende Propagierung der weltweiten zivilen Nutzung der Kernenergie und ihre ungebremste Fortentwicklung kann nicht losgelöst betrachtet werden von der damit immer auch erfolgenden Weiterverbreitung, Beibehaltung oder Verbesserung wissenschaftlich-technischer Grundlagen für Kernwaffenoptionen.

Die nukleare Wirklichkeit

Der NVV war eigentlich gedacht als ein erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen, die auf dem besonders dringlichen Feld der nuklearen Abrüstung beginnen und dabei die als sehr bedrohlich empfundene nukleare Weiterverbreitung in den Blick nehmen sollte. Dies belegen zahlreiche Dokumente der Generalversammlung der Vereinten Nationen.3 Die Wirklichkeit der letzen 25 Jahre spricht eine andere Sprache. Der technologisch dominierte Rüstungswettlauf zwischen dem westlichen und östlichen Block, angeführt von den beiden damaligen Supermächten, wurde nach 1970 noch weiter intensiviert. Die vertikale Proliferation, also die Weiterentwicklung und Vergrößerung von Kernwaffenarsenalen, ging verstärkt weiter.

Ende 1994, also fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges waren die strategischen Nuklearpotentiale der USA und der GUS/Sowjetunion mit je 8380 bzw. etwa 9650 Sprengköpfen noch immer deutlich höher als im Jahr des Inkrafttretens des NVV mit geschätzt je 4200-5240 bzw. unter 2000 bis 2210 strategischen Atomwaffen (exakte Zahlen sind nicht bekannt). Mehr als 22.000 Sprengköpfe, deren Sprengkraft mehr als einer halben Million Hiroshimabomben entspricht, waren Ende 1994 in den einsatzfähigen Arsenalen der fünf offiziellen und der zur Zeit sechs De-facto-Atommächte (vergl. Karte S. 25). Noch immer sind 45.000 intakte Atomsprengköpfe in der Welt, denn die Demontage geht in den USA und in Rußland nur langsam vonstatten (nur etwa 1500 bzw. 2500 Sprengköpfe jährlich) und eine in seiner Größenordnung nicht öffentlich bezifferte »nukleare Reserve« soll zusätzlich bestehen bleiben.

Während klar ist, daß die für das Jahr 2003 angekündigten Abrüstungsschritte der beiden alten Supermächte dort offiziell insgesamt etwa 10.000 Sprengköpfe belassen werden und die kleineren Atommächte ihre Arsenale eher modernisieren und erweitern und gar nicht an Abrüstung denken, versuchen die Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten die horizontale Proliferation, also die Weiterverbreitungsgefahr, allein ins Zentrum der Debatte um den NVV zu schieben. Sie fordern gemeinsam mit ihren Verbündeten eine unbegrenzte Verlängerung des Vertrages. Gleichzeitig beharren die etablierten Atommächte auf der Rationalität ihres Kernwaffenbesitzes. In Südostasien vertreten die »Falken« die These, ein System nuklearer Abschreckung könne dort den Frieden sichern.

Tatsächlich sind die Abschreckungsdoktrinen nach Beendigung der Blockkonfrontation nicht beseitigt. Nukleare Abschreckung war ursprünglich gedacht als eine wechselseitige Abschreckung zwischen Atommächten gegen den möglichen Gebrauch durch die jeweils andere Seite. Diese ursprüngliche Konzeption wurde erweitert durch den »Schutz« von Verbündeten gegen mögliche Kernwaffenangriffe und entsprechende »Sicherheitsgarantien«, ausgesprochen gegenüber weiteren Staaten. Der Aufbau »gesicherter Zweitschlagskapazitäten« setzte eine Spirale der nuklearen Aufrüstung in Gang. In einer zweiten Stufe wurden Kernwaffen als letztes Mittel interpretiert (Weapons of Last Resort), die notfalls beispielsweise gegen einen konventionell überlegenen Angreifer eingesetzt werden sollten, ohne daß ein Nuklearangriff der »anderen Seite« vorausgehen müßte. Dies wurde die bis heute gültige NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz lebt.

Eine dritte Stufe der »Abschreckungslogik« wird im alten westlichen Bündnis diskutiert. Hier wird geglaubt, Atomwaffenbesitz und die Drohung mit seinem Einsatz könne (oder solle) vor dem Gebrauch anderer sogenannter Massenvernichtungswaffen abschrecken. Eine vierte und fünfte Stufe »neuer Aufgaben« für Kernwaffen werden in NATO-Kreisen, aber vorrangig in den USA, vorgeschlagen. Die Möglichkeit einer Abschreckung gegen die Entwicklung von Atomwaffen mit der eigenen Einsatzdrohung wird postuliert, sowie eine regionale Einsatzmöglichkeit oder eine begrenzte Verwendung gegen verbunkerte Ziele. Für die letztere neuartige Mission wird die Fortentwicklung von Kernwaffen zu kleineren, einsatzfähigeren Typen diskutiert4.

Gegen alle diese Stufen der Abschreckungslogik lassen sich sehr rationale Gegenargumente vortragen5. Insbesondere die letzten drei erscheinen äußerst fragwürdig; sie würden eher einen weiteren Anreiz für die Beschaffung von entsprechenden Drohpotentialen durch diejenigen bieten, die eigentlich »abgeschreckt« werden sollen. Dies gilt auch für die Ersteinsatzdoktrin. Das erschreckende Argument, man müsse eine letzte vernichtende Waffe in der Hand haben, um für jede Eventualität gerüstet zu sein, sollte nach Ende des Kalten Krieges endgültig obsolet geworden sein. übrig bliebe allenfalls – solange Kernwaffen existieren – der alte Kern der Abschreckung, der durch den eigenen Atomwaffenbesitz den Gebrauch von Atomwaffen durch andere existierende Kernwaffenstaaten verhindern will.

Weiterverbreitung im zivilen Bereich

Die Hoffnung, durch »Überwachungsmaßnahmen« der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die eindeutige Abgrenzung gegen die mögliche militärische Nutzung ziviler Programme sicherzustellen, ist nicht in Erfüllung gegangen. In zunehmendem Maße sind Mitgliedsländer des NVV in Verdacht geraten, geheime Kernwaffenprogramme zu verfolgen, die in Zusammenhang mit angeblich »rein zivilen« Aktivitäten zu bringen sind. Das Konzept und die Praxis der IAEO-Sicherungsmaßnahmen hat einige deutlich aufzeigbare Schwächen6. Bei gutem Willen aller Beteiligten wäre mit entsprechenden Reformen einiges behebbar, aber es bleiben aus technischen Gründen auch prinzipielle Lücken der Überwachung bestehen, die direkt die Nichtentdeckbarkeit einer möglichen Abzweigung waffengrädiger Nuklearmaterialien aus zivilen Programmen betreffen.

Der Zugriff auf waffengrädiges Material, insbesondere Plutonium und hochangereichertes Uran7, ist eines der wichtigsten Indizien für die Atomwaffenfähigkeit eines Landes. Mehr als 20 Länder beherrschen inzwischen entsprechende Produktionstechnologien (Urananreicherung und Wiederaufarbeitung von Reaktorbrennstoffen) oder besitzen Lager waffengrädigen Materials, das direkt eine Bombenproduktion ermöglichen würde. Die Bandbreite des »nuklearen Status« reicht vom gegenwärtigen Atomwaffenbesitz bis zu einer Zugriffsmöglichkeit, die eine über einige Jahre erfolgende geheime Spaltmaterialproduktion erforderlich machen würde. (Vergl. Karte S. 25)

Direkt für den Gebrauch in Atomwaffenprogrammen sind etwa 270 Tonnen Plutonium und über 2.200 Tonnen hochangereichertes Uran (HEU) produziert worden8. Im zivilen Bereich werden jährlich etwa 70 Tonnen Plutonium in den weltweit mehr als 400 Leistungsreaktoren produziert. Mehr als 100 Tonnen sogenannten »Reaktorplutoniums«, das gleichwohl waffentauglich ist9, wird in abgetrennter Form in einer Reihe von Ländern gelagert, ohne daß klar wäre, ob es jemals wieder genutzt wird. Es ist allgemein anerkannt, daß die Verwendung von Plutonium in Mischoxid-Brennelementen (MOX) heute unwirtschaftlich ist. Ähnliches gilt für eine zukünftige Nutzung von Plutonium in Schnellen Brutreaktoren, deren Weiterentwicklung immer unwahrscheinlicher wird. Es wird erwartet, daß die auf Lager befindlichen »zivilen Plutoniummengen« schon zu Beginn des nächsten Jahrhunderts die Mengen im militärischen Bereich übersteigen werden.

Die Nutzung von HEU im zivilen Bereich ist heute beschränkt auf die Verwendung als Brennstoff für Forschungsreaktoren, die Neutronen für die Forschung zur Verfügung stellen. Internationale Umstellungsprogramme bemühen sich seit 1978, den HEU-Reaktorbrennstoff überflüssig zu machen durch Bereitstellung von neuen hochdichten Brennstoffen, die unter Verwendung von nicht waffentauglichem schwach angereichertem Brennstoff ähnliche Neutronenflüsse wie unter HEU-Nutzung ermöglichen. Noch haben 30 von knapp 300 weltweit betriebenen Forschungsreaktoren HEU-Beladungsmengen von mehr als 5 Kilogramm. Dies ist aber im Prinzip unnötig geworden.

Die Weiterentwicklung von ziviler Kerntechnologie unter Nutzung waffengrädiger Stoffe wird durch den Nichtverbreitungsvertrag nicht berührt. Entsprechende Bereiche sollen überwacht, aber mitnichten beschränkt werden. Die prinzipielle Lückenhaftigkeit der Überwachungsmaßnahmen und die quantitative Zunahme der »rein zivilen« Nuklearaktivitäten haben eine wachsende Proliferationsgefahr zur Folge.

Transformation des Nichtweiterverbreitungsregimes

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) war ein Kind des Kalten Krieges und der Kernenergieeuphorie der sechziger Jahre. Die Welt hat sich seither gewandelt und eine kritische Einschätzung der möglichen Zukunft für die Kernenergie hat Überhand genommen. In der Praxis hat sich lediglich ein unvollständiges und teilweise in sich widersprüchliches Nichtweiterverbreitungsregime für Kernwaffen entwickelt, in dessen Zentrum der NVV steht. Dieser Vertrag wird nicht für veränderbar gehalten. Bereits seine diesbezüglichen Bestimmungen in Artikel VIII sprechen für eine solche Einschätzung. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß der Vertrag und das Non-Proliferation-Regime in seiner bestehenden Form das Problem der Kernwaffenverbreitung nicht löst.

Der Glaube an die Rationalität von Atomwaffen war schon in den Zeiten der Blockkonfrontation mehr als fragwürdig. Solange bei uns angeblich rationale, alte oder neue Nukleardoktrinen Gültigkeit besitzen, solange werden Atomwaffen auch begehrlich bleiben für bestimmte Staatenlenker in anderen Regionen der Welt. Begegnet man der drohenden Weiterverbreitung von Kernwaffen wirklich damit am Besten, daß man die angebliche Sinnhaftigkeit von Sicherheitskonzeptionen auf der Basis von Kernwaffenbesitz fortschreibt oder gar erweitert? Wäre es nicht viel rationaler, eine baldige globale Eliminierung dieser Waffen anzustreben? Die fortgesetzte Drohung mit dem Ersteinsatz ist jedenfalls der größte Widerspruch zu einer offiziell verlautbarten strikten Nichtverbreitungpolitik, die im Deklamatorischen stehen zu bleiben droht.10

Eine Alternative wäre die Transformation des existierenden Regimes zu einem Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen, das diesen Namen auch verdient11. Daher sollte unter Beibehaltung des Nichtverbreitungsvertrages auf Zeit ein neues Regime der atomwaffenfreien Welt angesteuert werden. Dafür können zwei Grundannahmen gemacht werden. Erstens: Die Weiterverbreitung kann auf Dauer nur gestoppt werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Zweitens: Die Vermeidung einer Aufrechterhaltung wissenschaftlich-technologischer Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich ist auf lange Sicht entscheidend.

Im Zentrum dieses für alle Staaten ungeteilt und gleichermaßen verbindlichen Regimes sollte eine Kernwaffenkonvention stehen – nach dem Vorbild der bereits existierenden C- und B-Waffen Konventionen. Wesentlich ist die Organisierung eines schrittweisen Veränderungsprozesses, der die positiven Seiten des existierenden Nichtweiterverbeitungsregimes nicht gefährdet. Solche Transformationsschritte, die die genannten Mängel des NVV ausgleichen müssen, könnten sein:

  • einseitige (völkerrechtlich verbindliche) Erklärungen in Bezug zum NVV und Selbstbeschränkungen, die über Bestimmungen des NVV hinausgehen;
  • multilaterale Vereinbarungen, die den NVV neu einbetten und fortdauernde Gültigkeit für das angestrebte echte Nichtverbreitungsregime haben können;
  • neue global gültige Verträge, die den Übergang in die atomwaffenfreie Welt sichern.

Besondere Verantwortung haben hier die Kernwaffenstaaten – ob offiziell deklariert oder nicht, spielt hier keine Rolle – und die im Prinzip kernwaffenfähigen Staaten, zu denen Deutschland gehört.

Transformationsschritte und die Nuklearwaffenkonvention

Große Bedeutung hat der alsbaldige Abschluß eines seit Jahrzehnten geforderten vollständigen Teststoppabkommens, das jegliche Weiterentwicklung oder Neuentwicklung von Kernwaffen ausschließt.12 Die nukleare Abrüstung muß über das hinausgehen, was die USA und Rußland bislang vereinbart haben; in weitere Abrüstungsschritte sollten dringlich die weiteren Atommächte einbezogen werden, die bislang immer noch die gegensätzliche Strategie der Erweiterung oder Modernisierung ihrer Arsenale verfolgen. Ein »Fahrplan« der nuklearen Abrüstung auf Null in allen Ländern müßte ausgehandelt und dann unter Angabe zeitlicher Vorgaben verbindlich gemacht werden.13

Das Ende jeglicher Produktion waffengrädiger Nuklearmaterialien (hochangereichertes Uran (HEU), Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium) in für Atomwaffen relevanten Mengen sollte in einer »Cutoff Convention«14 geregelt werden. Ergänzend könnte der Verzicht auf die Nutzung und Weiterentwicklung sensitiver Nukleartechnologien, die im Prinzip im NVV erlaubt sind, ausgesprochen werden. Parallel sollten die Überwachungsmaßnahmen in allen Ländern verbessert werden und endlich auch sämtliche Anlagen der etablierten Kernwaffenstaaten einbezogen werden. Die Internationalisierung aller Lager waffengrädiger Spaltstoffe (unter Einschluß von Tritium) wäre eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung der Aufrechterhaltung von möglichen Kernwaffenoptionen. Wirksam wäre ebenfalls die Internationalisierung von Anreicherungsanlagen, die Reaktorbrennstoffe produzieren – aber theroetisch auch waffengrädiges HEU herstellen könnten.

Der multilateral ausgesprochene Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen (No-first-use Treaty) wäre der erste Schritt zur Aufhebung gültiger Nukleardoktrinen. Ein Abzug aller Atomwaffen von fremden Territorien wäre ein weiteres Signal, das die Rolle der Atomwaffen in der internationalen Politik minimiert.

Als Ersatz für das alte »Geschäft« des NVV (zivile Kerntechnik gegen Verzicht auf die militärische Nutzung) sollte ein neues international wirksames Angebot der Industrieländer entwickelt werden, daß die Verbreitung und Weiterentwicklung nicht-nuklearer Energieträger in offener internationaler Kooperation anstrebt.

Die Etablierung einer kernwaffenfreien Welt15 erfordert schließlich einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt, damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Kernwaffenstaat bekommen und unbegrenzt beibehalten.16 Eine solche Nuklearwaffenkonvention (NWK) sollte unendliche Gültigkeit haben können und keine Sonderrechte für einige wenige sichern. Sie sollte den NVV (sowie weitere Verträge) eines Tages ersetzen und dabei seine Schwachstellen ausgleichen. Die Aushandlung einer NWK wird Jahre dauern, die technische und politische Verwirklichung vielleicht sogar Jahrzehnte. Es wäre ein eindeutiges und begrüßenswertes Signal, wenn sich die NVV Konferenz in ihrem Abschlußdokument für ein entsprechendes Verhandlungsmandat der Genfer Abrüstungskonferenz ausspräche.

Deutsche Schritte auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt

Deutschland spielt eine Sonderrolle, was die Atomwaffenfrage angeht. Deutschland hat zwar völkerrechtlich verbindlich auf Atomwaffen verzichtet, aber die deutsche Regierung setzt sich weder für einen baldigen Ausstieg aus den Nuleardoktrinen der Vergangenheit ein, noch erteilt sie einer Erweiterung des Aufgabenkatalogs für Atomwaffen eine Absage, im Gegenteil, sie tut alles, um dies im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« vom deutschen Territorium aus mitvorzubereiten.17 Gleichzeitig hat Deutschland Zugriff auf Technologien, mit denen Bombenstoff hergestellt werden kann; es lagern hier bereits große Mengen waffengrädigen Nuklearmaterials (insbesondere eine öffentlich nicht bekannte Tonnenmenge abgetrennten Plutoniums), das direkt für Atomwaffen verwendbar wäre. Das deutsche technologische Know-how ließe theoretisch eine sehr rasche Herstellung von Atomwaffen zu. Daraus ergibt sich eine besondere deutsche Verantwortung, die Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik, sowie die Forschungs-, Technologie- und Energiepolitik haben sollte.

Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bundesregierung zwar eindeutig für eine Verlängerung des NVV aber genauso eindeutig gegen eine unbegrenzte Verlängerung des NVV ausspräche und auf die Kernwaffenstaaten und weitere Bündnispartner einwirken würde, die weiter oben skizzierten Schritte zu erreichen. Dabei sollten die außerhalb des NVV stehenden De-facto-Kernwaffenstaaten miteinbezogen werden. Auch andere für nicht vertrauenswürdig gehaltene Staaten innerhalb des NVV könnten durch eindeutige Vorbilder bei den hochentwickelten Industriestaaten in Richtung auf einen Verzicht auf Atomwaffenoptionen beeinflußt werden.

Überzeugend würde eine solche deutsche Position allerdings erst, wenn eigene entschiedene Schritte in die anvisierte Richtung ergriffen würden. Wichtig wäre die Erreichung einer maximalen Glaubwürdigkeit durch Übertragbarkeit der Position auf alle Staaten. Hierbei spielt ein eindeutiger Selbstverzicht in Richtung auf maximale Proliferationsresistenz des genutzten Brennstoffkreislaufes eine wesentliche Rolle. Die Wahrnehmung des NVV als diskriminierendes Dokument kann nur aufgehoben werden durch radikale nukleare Abrüstung und konsequente Vermeidung des Erhaltes wissenschaftlich-technologischer Optionen, die für Kernwaffen wesentliche Voraussetzungen sind.

Daraus können eine Reihe von direkten Maßnahmen für die deutsche Exekutive abgeleitet werden. Einige von ihnen hätten deutliche Handlungs-Konsequenzen. Eine völkerrechtlich verbindliche deutsche Erklärung zum NVV könnte abgegeben werden, die ein Desinteresse an der Nutzung ziviler Kernsprengungen dauerhaft festschreibt. Der im NVV ausgedrückten Wertschätzung für »zivile Kernsprengungen«, die weder von militärischen Waffentests zu unterscheiden sind, noch irgendeinen zivilen Sinn machen, zeigt deutlich, daß der NVV als historisches Dokument anzusehen ist, das keine unbefristete Gültigkeit haben sollte. Die Abgabe der Erklärung im direkten Bezug zum NVV hätte keine Handlungskonsequenzen, wäre aber das »Einfallstor« für die Transformationsidee.

Ein klar ausgesprochener Verzicht auf Produktion und Nutzung hochangereicherten Urans (HEU) könnte die weltweiten Bemühungen, diesen Waffenstoff gänzlich aus dem zivilen Bereich zu verbannen, unterstützen. In der Konsequenz müßte auf die gegenwärtige Konzeption des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors (FRM II) verzichtet werden. Ähnliches könnte schrittweise für die Plutoniumproduktion und -nutzung im zivilen Bereich erfolgen. Zunächst könnte der Verzicht auf Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente auf deutschem Boden erklärt werden. Dies hätte nach der Aufgabe der Pläne für Wackersdorf und die Schließung der Karlsruher Versuchsanlage de-facto keine weitere Handlungskonsequenz. Ein genereller Verzicht auf Plutoniumnutzung hätte zur Konsequenz: 1. Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge im Ausland, insbesondere mit der französischen Cogema und der britischen THORP; 2. Ende der Mischoxidnutzung (MOX) in deutschen Reaktoren; 3. Keine Fertigstellung bzw. Inbetriebnahme der im Bau befindlichen neuen Hanauer Brennelementefabrik.

Abschließend wäre eine allgemeine Erklärung der Nicht-Produktion und Nicht-Nutzung waffengrädigen Nuklearmaterials in für Kernwaffen relevanten Mengen wünschenswert. Damit wäre auch die Nichtnutzung von Tritium eingeschlossen. Zuvor könnten nationale Schritte zur Internationalisierung aller Lager waffenfähigen Materials ergriffen werden, beispielsweise durch die Übergabe der deutschen Plutoniumvorräte an eine internationale Behörde.

Der erklärte Verzicht auf Weiterentwicklung neuer proliferationsträchtiger Nukleartechnologie wäre ein weiteres wünschenswertes international wirksames Signal. Stattdessen könnte Deutschland sein wissenschaftliches und technologisches Know-how einsetzen, um Wege zur Zerstörung von Plutonium zu erforschen.

Eine Aufrechterhaltung der strikter gewordenen Exportkontrolle und ihre ungeteilte Anwendung auf alle Länder ist in einer Übergangszeit dringend notwendig, solange bis das Prinzip »exportiert werden kann, was auch im eigenen Land für unverzichtbar gehalten wird« maßgeblicher werden kann. Demnach darf keine Aufweichung der Gesetzgebung im Dual-use-Bereich (die aber leider bereits erfolgt) oder im Rahmen der anstehenden europäischen »Harmonisierung« der Kontrollrichtlinien stattfinden.

Die deutsche Regierung sollte sich für die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Mitteleuropa einsetzen. Damit verbunden wäre die Abzugsforderung für die noch immer auf deutschem Boden stationierten Kernwaffen. Vorausgehen müßte ein Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe, d.h. keine Trägersysteme sollten mehr für Atomwaffen bereitgehalten werden. Innerhalb der NATO müßte Deutschland dringlich seinen Einfluß geltend machen für eine schnelle Abkehr von der Doktrin der Flexible Response, die den Ersteinsatz von Atomwaffen ermöglicht. Ebenso könnte die deutsche Regierung für ein Verhandlungsmandat der Abrüstungskonferenz über eine Nuklearwaffenkonvention werben.

Die massive Entwicklung von Alternativen zur Kernenergienutzung insbesondere in Kooperation mit sich entwickelnden Ländern würde der globalen Sicherheit mehr dienen als das Setzen auf neue nukleare Energieoptionen. Eine Initiative für eine entsprechende internationale Behörde wäre wünschenswert. Dabei könnte auch eine Beschränkung der Rolle einer gründlich reformierten IAEO allein auf den Bereich der Überwachung, Kontrolle und Reaktorsicherheit erfolgen.

Dies alles wären eindeutige, glaubwürdige und unumkehrbare Schritte auf dem Weg in eine nuklearwaffenfreie Welt. Eine Umsetzung im nationalen Rahmen könnte die beste Werbung für den internationalen Erfolg einer solchen Neukonzeption im Bereich der Non-Proliferation und Abrüstung darstellen. Eine aktive Wahrnehmung der deutschen Verantwortung für diesen Übergang in die atomwaffenfreie Welt wäre dringend geboten.

Anmerkungen

1) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtverbreitungsvertrag, Wissenschaft und Frieden, 12. Jg, 1/1994, S.57-64. Zurück

2) W. Liebert, Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck (Hrsg.), Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1991, S.147-168. Zurück

3) Vergl. W. Epstein, The Non-Proliferation Treaty and the Review Conferences – 1965 to the Present, in: R.D. Burns (ed.), Encycolpedia of Arms Control and Disarmament, New York: Charles Scribner's Sons, 1993, p.855-875; W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtbverbreitungsvertrag, op.cit. Zurück

4) W. Arkin, Nuclear Junkies: Those Lovable Little Bombs, The Bulletin of the Atomic Scientists, July/August 1993, 22-27. Zurück

5) Vergl. beispielsweise W. Panofsky, G. Bunn, The Doctrine of the Nuclear-Weapon States and the Future of Non-Proliferation, Arms Control Today, July/August 1984, 3-9; M. MccGwire, Is there a future for nuclear weapons?, International Affaires 70,2 (1994), 211-228; aber teilweise auch A. Dregger, Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik, in: Das Parlament, Beilage, 3.1.1995, S.21-26. Zurück

6) Vergl. beispielsweise W. Liebert, M. Kalinowski, Safeguards und Verifikation der Nichtverbreitung von Kernwaffen, antimilitarismus information (ami), 24.Jg., Dez. 1994, 23-32. Zurück

7) Die Nutzung des schweren Wasserstoffisotops Tritium spielt im zivilen Bereich noch eine untergeordnete Rolle, während er für fortgeschrittene Atomwaffenstaaten große Bedeutung hat: Grammengen von Tritium in bestimmte Konzepte von Spaltwaffen eingesetzt kann die Effektivität des verwendeten Spaltmaterials erheblich erhöhen (»Boosting«). Zurück

8) Als Mindestmengen für einen relativen Neuling im Atomwaffenbau lassen sich grob angeben: etwa 20 bis 25 Kilogramm HEU für eine einfache Atomwaffe (Kanonenrohrprinzip); etwa 10 Kilogramm HEU für eine Uranbombe oder etwa 4 Kilogramm Plutonium für eine Bombe, die durch eine konzentrisch angeordnete Sprengladung gezündet wird (Implosionstyp) und bei dessen Konzipierung einige weitere technische Kniffs (wie beispielsweise Neutronenreflektoren) genutzt werden. Zurück

9) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, Darmstadt, IANUS-Arbeitsbericht 2/1989. Zurück

10) Vergl. beispielsweise K. Kinkel, Deutsche 10-Punkte-Initiative zur Nichtverbreitungspolitik, Auswärtiges Amt, Pressereferat, Bonn, 15.12.1993. Zurück

11) W. Liebert, Improvements around the extension of the nuclear non-proliferation treaty, in: W. Liebert, J. Scheffran (Hrsg.), Against Proliferation – Towards General Disarmament, Münster: agenda Verlag, 1994, S. 112-115. Zurück

12) Verhandlungen für einen Teststopp sind endlich seit gut einem Jahr in Gang, aber ein unterschriftsreifer Vertrag wird erst frühestens für 1996 erwartet. Die »Vollständigkeit« eines Teststopps steht ebenfalls in Frage, da in den Kernwaffenstaaten bereits in Entwicklung und im Aufbau befindliche Ersatztechnologien für unterirdische Tests voraussichtlich erlaubt bleiben werden. Zurück

13) Vergl. W. Epstein, Give more to get more, Bulletin of the Atomic Scientists, Nov./Dez. 1994, S. 15-18. Zurück

14) W. Liebert, M. Kalinowski, Proposal for a Comprehensive Cutoff including civilian weapon-usable material, INESAP Information Bulletin, No.4, Januar 1995, S.11-14. Zurück

15) Vergl. J. Rotblat, J. Steinberger, B. Udgaonkar, A nuclear-weapon-free-world – Desirable? Feasible ?, Oxford: Westview Press, 1993. Zurück

16) Vergl. genauer W. Liebert, Outline substance of a proposal for the Nuclear Weapons Convention to replace the NPT, INESAP Information Bulletin No.4, Jan. 1995, S.5-7. Zurück

17) Vergl. Beitrag von D. Deiseroth in dieser W&F-Ausgabe. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert (Physiker) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Hochschule Darmstadt und Mitglied des Koordinationskomitees des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).