Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof

Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof

von Xanthe Hall

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hörte Anfang November die Erklärungen diverser Staaten zu der Frage, ob der Einsatz von Atomwaffen oder seine Androhung völkerrechtswidrig seien. Diese Frage ist durch die Anregung einer Koalition von Friedensorganisationen mit dem Namen »Projekt Weltgerichtshof« vor den Gerichtshof gebracht worden. Das Projekt läuft seit drei Jahren und gewann die Unterstützung der blockfreien Länder sowie aller Staaten des Pazifik.

Nach der Charta der Vereinten Nationen sind die Generalversammlung, der Sicherheitsrat und unter bestimmten Bedingungen (Ermächtigung der Generalversammlung) auch alle anderen Organe der UN berechtigt, ein beratendes Rechtsgutachten vom IGH zu erbeten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben dem Gerichtshof zwei Fragen zur Klärung angetragen. Die WHO fragt, ob der Einsatz von Atomwaffen „im Hinblick der Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit“ völkerrechtswidrig sei. Dieses wird durch die UN-Frage ergänzt, die nicht nur den Einsatz, sondern auch die Androhung des Atomwaffeneinsatzes rechtlich geprüft haben möchte.

Das Projekt Weltgerichthof – World Court Project

Das Projekt wurde in Mai 1992 öffentlich gestartet von den Internationen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) und dem Internationalen Friedensbüro (IPB).1 Die Idee, den Einsatz von Atomwaffen von dem Internationalen Gerichtshof völkerrechtlich prüfen zu lassen, ist aber viel älter. Sie wurde 1987 erstmals in Neuseeland vorgestellt, von dem pensionierten Richter Harold Evans, dem »Vater des Projekts«. Er schrieb einen offenen Brief an die Premierminister Neuseelands und Australiens, in dem er sie bat, eine Aktion zu initiieren, die zu einem Gutachten des Gerichtshofes bezüglich des Rechtsstatus von Atomwaffen führen sollte. Nicht weniger wichtig waren Kate Dewes (The New Zealand/Aotearoa Foundation for Peace Studies) und Richard Falk (internationale Völkerrechtler), die mit Harold Evans 1986 die erste Diskussion über diese Idee führten.

Nach langer Lobby-Arbeit der IPPNW verabschiedete am 14. Mai 1993 die 46. Weltgesundheitsversammlung (das höchste Organ der WHO) in Genf eine historische Resolution, die sich wahrscheinlich als Meilenstein in der Geschichte der Abrüstung erweisen wird. Sie enthält die Anweisung an die Weltgesundheitsorganisation, beim Internationalen Gerichtshof ein Gutachten darüber anzufordern, welcher rechtliche Status dem Einsatz nuklearer Waffen zukommt. Die Resolution wurde von 22 Staaten eingebracht und in einer Geheimabstimmung mit 73 Stimmen, bei 40 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen verabschiedet.

Mit einem Schreiben vom 27. August 1993 ersuchte der Generalsekretär der WHO, Dr. Hiroshi Nakajima, den Internationalen Gerichtshof in offizieller Form um ein Rechtsgutachten in folgender Frage: „Wäre der Einsatz von Atomwaffen durch einen Staat in einem Krieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ein Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates gemäß Völkerrecht und der Satzung der WHO?“ 2

Die IALANA konzentrierte ihre Bemühungen auf die Generalversammlung der UN. Im Herbst 1994 wurde eine von den Ländern der blockfreien Staaten befürwortete Resolution ebenfalls mit 78 zu 43, bei 38 Enthaltungen, verabschiedet, in der um ein Gutachten vom Gerichtshof ersucht wird. Die Frage der UN unterscheidet sich von der WHO-Frage insofern, als sie auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in Frage stellt: „Kann die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen unter bestimmten Umständen völkerrecht legal sein?“ 3

Die Koalition der drei Organisationen IPPNW, IALANA und IPB suchte andere unterstützende Organisationen aus allen Ländern der Welt für das Projekt. Das Projekt hat heute über 500 unterstützende Organisationen. In Großbritannien, Kanada und Neuseeland wurden Bürgerinitiativen mit dem Namen World Court Project gegründet. Aus Großbritannien kam die Idee (von der Organisation International Law and Peace), eine „Erklärung des öffentlichen Gewissens“ abzugeben. Diese Idee beruht auf der Haager Konvention von 1899 und 1907. In der Präambel der Konvention ist die sogenannte de Martens-Klausel enthalten, die festlegt, daß in Fällen, die in der Konvention nicht geregelt sind, „nach den Gesetzen der Menschlichkeit und dem Diktat des öffentlichen Gewissens“ entschieden wird.4 Hauptsächlich durch die Arbeit von George Farebrother (World Court UK) wurden zusammen mit den anderen unterstützenden Organisationen über drei Millionen „Erklärungen des öffentlichen Gewissens“ unterschrieben. Die gesammelten Erklärungen wurden zusammen mit über 100 Millionen Unterschriften des Hiroshima-Appelles gegen Atomwaffen dem Internationalen Gerichtshof überreicht.

Die Stellungnahmen der Staaten

Der Internationale Gerichtshof entschied, die zwei Fragen zusammen zu behandeln. Daß 44 Staaten schriftliche Stellungnahmen beim Gerichtshof einreichten, zeigt, wie stark Friedensaktivisten sich engagierten. Die japanische Regierung mußte unter dem Druck des 18 Millionen starken Vereins der Konsumenten seine Stellungnahme in letzter Minute ändern. Japan wollte den Einsatz von Atomwaffen unter unvorhersehbaren Bedingungen für legal erklären. Durch Druck von unten wurde aber eine Korrektur erzwungen; Japan sprach sich für die Illegalität von Atomwaffen aus. In Deutschland wurden eine kleine Anfrage und zwei Anträge im Bundestag gestellt. In vielen anderen Ländern der Welt wurden die schriftlichen Stellungnahmen öffentlich debattiert. In Schweden verwarf das Parlament sogar die Entscheidung des Außenministeriums.

Bis September 1994 wurden dem IGH 35 Stellungnahmen zu der WHO-Frage eingereicht. 23 davon sprachen sich mehr oder weniger für die Ächtung der Atomwaffen aus, 9 für Nichtbefassung oder sogar für die Legalität von Atomwaffen. Bis Juni 1995 reichten 27 Staaten Stellungnahmen zur UN-Frage ein, 18 davon für Illegalität, 1 Staat war unentschieden, und 8 sprachen sich für Nichtbefassung oder Legalität von Atomwaffen aus. Deutschland gehörte zu dem Nichtbefassungslager.

Die mündlichen Verhandlungen liefen vom 30. Oktober bis zum 15. November 1995. 25 Staaten wollten ursprünglich aussagen. In letzter Minute aber sprangen drei der blockfreien Staaten ab: Kolumbien, Guyana und Nauru. Die drei Staaten gehörten zuvor zu den stärksten Unterstützern des Projekts. Bislang wurde keine Erklärung für diesen überraschenden Rückzieher abgegeben. Es ist zu vermuten, daß ähnlicher Druck wie bei der Konferenz über den Atomwaffensperrvertrag im Mai dieses Jahres ausgeübt worden ist.

Die Verhandlung begann mit der Aussage der WHO. Im Vordergrund der Stellungnahme stand die Begründung, warum die WHO meint, überhaupt berechtigt zu sein, eine solche Frage beim Gerichtshof klären zu lassen. Die Kompetenz der WHO in dieser Frage wurde u.a. von allen Atomwaffenstaaten verneint. Die WHO begründete ihre Berechtigung zur Fragestellung, indem sie die Arbeit der WHO im Bereich der Prävention eines Atomkriegs schilderte. Diese Kompetenz bestritt u.a. Deutschland sowohl in seiner schriftlichen Stellungnahme als auch in der mündlichen Verhandlung. Dr. Hartmut Hillgenberg, Direktor der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, erklärte, die Fragen nach der Legalität des Einsatzes von Atomwaffen seien deshalb unzulässig, weil sie politisch und nicht juristisch zu beantworten seien. Eine Ächtung der Atomwaffen, so argumentierte er, würde ihre Abrüstung ver- und die Atomteststopp-Verhandlungen im kommenden Jahr behindern. Er erklärte dem IGH zudem, daß Atomwaffen erfolgreich Freiheit und Frieden erhielten.5

Interessant ist die neue »Friedenskonkurrenz« zwischen Australien und Neuseeland. Bis zur Wiederaufnahme der französischen Atomtests verhielten sich beide Staaten reserviert gegenüber dem Projekt Weltgerichtshof. Australien plädierte in seiner schriftlichen Stellungnahme auf Nichtbefassung, weil eine »negative« (d.h. Atomwaffen sind legal) Aussage des Gerichtshofes die Entwicklung des Völkerrechtes zu Atomwaffen verhindern würde. Überraschenderweise plädierte der australische Außenminister aber vor dem Gerichtshof nicht nur für die Illegalität des Einsatzes und seiner Androhung, sondern auch für die Illegalität des Erwerbs, der Entwicklung, des Besitzes und der Tests von Atomwaffen. Er berichtete, daß die australische Regierung eine internationale Gruppe von namhaften Fachleuten mit Visionen und Ideen zusammenbringen wird, um Vorschläge für Wege in eine atomwaffenfreie Welt zusammenzutragen. Trotzdem blieb Australien bei seinem Appell auf Nichtbefassung.

Neuseeland spielte seinen Trumpf eine Woche später aus; es war eine Aussage ohne wenn und aber: Atomwaffen sind völkerrechtswidrig und müssen vom Gerichtshof geächtet werden. Der Justizminister schloß mit den Worten: „Ein Urteil der Illegalität würde ein beeindruckender Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen sein.“

Die japanische Regierung präsentierte als Zeugen die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki. Dies war u.a. dem enormen Druck japanischer Bürgerinitiativen geschuldet. In einem parallel zur Verhandlung stattfindenden NGO-Seminar zum Projekt Weltgerichtshof wurde berichtet, daß die zwei Bürgermeister von der Regierung klare Anweisungen erhalten hatten, zwar im Endeffekt für die Illegalität zu plädieren, das Wort Illegalität aber nicht zu erwähnen. Diese Anweisung wurde von den Bürgermeistern nicht befolgt; daraufhin distanzierte sich die japanische Regierung von den Ausführungen. Die Richter waren sichtbar bewegt von japanischen Schilderungen, die die Auswirkungen der Atombombenabwürfe auf die Bevölkerung der zwei Städte beschrieben.

Die Marshall-Inseln entsandten ein Atomwaffenopfer. Lijon Eknilang berichtete über die Auswirkung der amerikanischen Atomtests auf dem Bikini-Atoll: „Ich hatte sieben Fehl- und Stillgeburten. Insgesamt gibt es auf der Insel acht Frauen, die Säuglinge geboren haben, die wie Geleeklümpchen aussahen. Manchmal tragen wir so etwas acht, neun Monate aus. Sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, nichts. Andere Kinder wurden geboren, die diese Welt und ihre Eltern niemals erkennen werden. Sie liegen nur mit krummen Armen und Beinen da und werden nie sprechen.“

Von 23 Staaten sprachen sich vor dem Gerichtshof 14 für die Illegalität von Atomwaffen aus. Frankreich, USA, Großbritannien und Rußland lehnten jegliche Einmischung in dieser Frage ab. Die UN solle die Finger von Abrüstungsfragen lassen, so Frankreichs Juristen; dies sei Aufgabe des Sicherheitsrates. Deutschland und Italien spielten die Lakaien der Atomwaffenmächte, und China hielt sich ganz aus dem Prozeß heraus.

Schlußfolgerungen

Die Wiederaufnahme der französischen Atomtests hat das öffentliche Interesse an Atomwaffenfragen aufgefrischt; trotzdem liest man in der Presse kaum über die Verhandlungen des Gerichtshofes. Ist die Mehrheit der Deutschen gegen Atomtests, aber nicht gegen Atomwaffen? Für die Deutschen ist m.E. längst klar, daß alle Atomwaffen zu ächten und abzuschaffen sind. Sie sind deswegen empört über Chiracs Atomtests, weil sie belegen, daß die Atomwaffenmächte die atomare Abrüstung nicht ernst nehmen. Sie nutzen sogar die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags aus, um ihren Besitz (und daher den Einsatz) von Atomwaffen vor dem Gericht zu legimitieren.

Die wichtigste Stütze der Atommächte ist die deutsche Regierung. Wie bereits oben erwähnt, erklärte der deutsche Vertreter, daß die Ächtung der Atomwaffen Abrüstung verhindern würde und betonte die positive Rolle der Atomwaffen, die erfolgreich Frieden und Freiheit erhielten. Was sogar der IGH-Richter Schwebel in Frage stellte, entspricht der Verdrehung der Tatsachen, denn der deutsche Vertreter verschwieg damit, daß die Atomwaffen in den letzten 50 Jahren weder die Kriege in Bosnien, Ruanda, Somalia, Tschechenien, Afghanistan, Vietnam noch all die anderen Kriege auf der Welt verhindert haben. Aus diesem Grund ist die Haltung der deutschen Bundesregierung äußerst unbefriedigend. Viele glauben, daß Deutschland wegen seines Verzichts auf Atomwaffen diese prinzipiell ablehnen würde. Doch die deutsche Regierung spricht sich nicht prinzipiell gegen Atomwaffen aus, sondern ist lediglich politisch und völkerrechtlich durch ihre Geschichte in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Präsident Chirac bietet bereits die Mitverfügung an. Spätestens wenn Europa ein Bundesstaat wird, ist Deutschlands Verzicht fraglich, weil Europa ein Atomwaffenstaat werden wird. Für diese Mitverfügung hält die Bundesregierung sich alle Türen offen.

Mehrfach wurde vor Gericht gewürdigt, daß es dem Engagement vieler Friedensorganisationen zu verdanken sei, daß der IGH die Legalität von Atomwaffen überprüfe. Wie der Justizminister von Neuseeland bekräftigte, wäre eine Verurteilung ein wichtiger Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen. Es bleibt aber offen, wie der Gerichtshof entscheiden wird. Ein Urteil ist erst Anfang 1996 zu erwarten. Selbst wenn entschieden würde, daß Atomwaffen nicht »inhuman« seien und nicht völkerrechtswidrig mehr Zivilisten als Soldaten treffen, werden viele Menschen weiterhin die Frage stellen: Warum sind chemische und biologische Waffen völkerrechtswidrig, atomare Waffen aber nicht?

Anmerkungen

1) Grief, Nicholas, Völkerrecht gegen Kernwaffen, IALANA, IPPNW und IPB, Marburg 1993. Zurück

2) WHA 46.40, Health and Environment Effects of Nuclear Weapons, Genf, 14. Mai 1993. Zurück

3) UN Resolution 49/75 K, Request for an Advisory Opinion from the International Court of Justice on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, New York, 15. Dezember 1994. Zurück

4) Eine dem Wortlaut ähnliche Klausel enthalten die Genfer Konventionen von 1949 und das Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977. Die Klausel ist auch vom IGH in seiner Entscheidung zum Nicaragua-Fall anerkannt worden. (ICJ Reports 1986, Nicaragua vs. Unites States, Abs. 218; Urteil betreffend militärische und paramilitärische Aktivitäten gegen Nicaragua.) Zurück

5) Oral Statement of the Federal Republic of Germany at the Public Sitting of the International Court of Justice, November 2 1995. Zurück

Xanthe Hall ist Leiterin der Anti-Atom-Kampagne der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

Der Schaden ist groß!

Der Schaden ist groß!

Frankreichs Außenpolitik unter Chirac

von Harald Bauer

In dem folgenden Artikel wird zunächst die Genese der neuen französischen Testserie untersucht. Wesentlich dabei waren die Interessen der Atomlobby. In einem zweiten Teil soll die Außenpolitik unter Chirac beleuchtet werden. Bereits in der Zeit der zweiten Kohabitationsregierung, mit Premier Balladur, zeichnete sich ab, daß ein stärker nationaler Einschlag zu erwarten war. In der Europapolitik ist eine Annäherung an britische Positionen unverkennbar.

Zuerst war da das Lamento des großen Vorsitzenden »HiroChirac«, wie er vom Satireblatt Canard enchainé getauft wurde, er sei von seinen Beratern nicht auf jenen fatalen 50. Jahrestag des ersten Abwurfs einer Atombombe aufmerksam gemacht worden. Doch da konnte er schon nicht mehr zurück, ohne bereits nach wenigen Monaten Amtszeit politisch erledigt zu sein. Der erste Atomversuch wurde folgerichtig am 6. September gezündet. Der Schaden ist groß. Für alle Beteiligten. Die sich gaullistisch gebende Sturheit, mit der vom neuen Präsidenten die Wiederaufnahme der Atomtests angekündigt und durchgedrückt wurde, schadet in erster Linie Frankreich selber. Sein Ansehen hat gelitten, die Beziehungen zu vielen Staaten sind stark ramponiert, in erster Linie zu den Südseeanrainern. Der wirtschaftliche Boykott trifft die Wirtschaft erheblich, und zwar Gerechte wie Ungerechte, Teilhaber am Atomgeschäft wie einfache Bauern und Winzer.

Aber auch die Beziehungen innerhalb der Europäischen Union werden von Chiracs nationalem Alleingang belastet. Die antiatomare Haltung der nordischen EU-Mitglieder wird auf eine harte Probe gestellt. Das deutsch-französische Verhältnis, durch die gegensätzliche Bosnienpolitik sowieso schon unter Anspannung, gerät durch die Atomtests und den Protest, Boykottaufrufe und wechselseitiges Unverständnis noch weiter unter Druck. In Deutschland erhalten die Kräfte Auftrieb, denen die Frankophilie von je her verdächtig war, in Frankreich diejenigen, die den Boches noch nie trauen wollten. Das Fehlen einer grenzübergreifenden Debatte macht sich ein weiteres Mal fatal bemerkbar.

Die immer stärkeren Hinweise und Angebote von französischer Seite für eine Europäisierung ihrer Atomwaffe helfen ihr auch nicht weiter. Zum einen sind sie nichts neues. Bereits in den 80er Jahren sprach Präsident Mitterrand im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte davon, daß die französische Abschreckung auch die europäischen Partner schütze, in erster Linie die Bundesrepublik. Nur wurde nie präzisiert, wie weit das geht. Dies hängt auch mit der französischen Strategie zusammen. Die will nämlich den potentiellen Gegner bewußt darüber im unklaren lassen, wann er den Einsatz der als letzte Warnung gedachten sogenannten prästrategischen Atomwaffen (die als taktische Atomwaffen anzusehen sind) zu gewärtigen habe. Leider gilt diese Unsicherheit auch für den Verbündeten. Darüber beklagten sich die bundesdeutschen Politiker stets. Sie wollten genauere Informationen über die französische Planung, zumal die Kurzstreckenwaffen »Pluton« und »Hadès« nur bis auf deutsches oder tschechisches Territorium gereicht hätten. Das andere Ziel der Deutschen war, die Franzosen wieder näher an die NATO heranzuführen. Dabei gab es bereits eine doppelte französische Zielplanung: eine rein nationale und eine mit der NATO koordinierte. Das war aber bis 1989 streng geheim.

Die Planlosigkeit in den französischen Europaangeboten ist allein schon Ausweis genug dafür, daß es sich bei dem Nuklearschirmangebot um den Versuch eines Befreiungsschlages und eines Einklagens der EU-Staaten-Solidarität handelt. Zunächst wurde vage vom Beitrag zur europäischen Sicherheit gesprochen, weil diese sonst allein von amerikanischen Waffen abhinge. Europaminister Barnier brachte Mitte August nicht weiter präzisierte Hinweise auf die Verhandlungen zu Maastricht II und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ins Spiel. Anfang September legte Parlamentspräsident Séguin in der Herald Tribune nach. Mit den Staaten des Eurokorps, Belgien, Deutschland und Spanien, könne man über ein neues System nuklearer Garantien reden. Der Planungsprozeß werde den Partnern viel mehr Mitsprache geben als von den USA in der NATO je eingeräumt worden sei. Im Extremfall sei es denkbar, auf den französischen Atom-U-Booten ein System mit zwei Schlüsseln zu installieren. Einen Tag später griff Premier Juppé in das Verwirrspiel ein. Er will den französischen atomaren Schutzschirm mit den Deutschen teilen. Nach einem politisch zielgerichteten Vorgehen sieht das nicht aus.

Testen, weil die Atomlobby es so will

Allem Anschein nach ist Chiracs Gang in die Sackgasse auf den Versuch zurückzuführen, vor der Wahl die Unterstützung der Militärs und der militärischen Atomtechniker der staatlichen Atombehörde CEA zu erhalten. Diese sind sehr einflußreich und wohlorganisiert, ihre führenden Köpfe gehören zu den renommierten Ingenieurkorps aus der Ecole Polytechnique, genau wie ihre Kollegen in den Rüstungsbetrieben. Sie kontrollieren praktisch den gesamten Energiebereich, angefangen von der Atombehörde CEA über die Ölmultis Elf und Total bis hin zu den einschlägigen Abteilungen im Industrieministerium.

An den Atomwaffen und den Trägersystemen hängen aber noch viele weitere, meist staatliche Betriebe wie die Arsenalbetriebe der Rüstungsbehörde DGA, der Luft- und Raumfahrtkonzern Aérospatiale und der Spezialist für Rüstungselektronik Thomson-CSF. Alles in allem einige wichtige zigtausend Stimmen, die wertvoll sind, wenn der Wahlausgang knapp erscheint. Es war klar, daß die Sozialisten am Moratorium festhalten würden und der Gegner aus dem eigenen Lager, Balladur, hatte sich vorsichtig ablehnend geäußert. Deshalb beschloß der Kandidat Chirac, durch die öffentliche Ankündigung, im Falle seiner Wahl die Versuche wieder aufzunehmen, seine Siegeschancen zu erhöhen. Mit zweischneidigem Erfolg.

Die Militärs und die CEA sprachen seit längerem davon, daß sie noch 10 bis 20 Tests benötigten. Das von Mitterrand 1992 verkündete Moratorium war für Roger Baléras, bis 1994 Leiter der DAM, der Abteilung für Atomsprengköpfe der CEA, und seine Kollegen ein »Schock«. Laut einem Sicherheitsexperten formuliert er die Position zum Thema für Chirac. Das geht aus einer Studie US-amerikanischer Atomwaffenspezialisten hervor, die im November 1994 eine Erkundungstour in Frankreich unternahmen. Diese Mission sollte die französische Einschätzung zur Notwendigkeit weiterer Atomtests in Zusammenhang mit einem umfassenden Teststoppabkommen (CTBT, Comprehensive Test Ban Treaty) erkunden.

In den Verhandlungen bestand Frankreich bisher darauf, Tests von 100 bis 200 Tonnen Sprengkraft weiterhin zuzulassen. Das Abkommen soll 1996 unter Dach und Fach gebracht werden. Die Zeit drängt also. Vor allem, wenn man 10 bis 20 Tests für notwendig hält und Mitterrand die Tour vermasselt hat. Die französischen Atomtechniker meinen, sie hätten im Vergleich zu den US-Kollegen sehr viel weniger Erfahrung, Probleme bestünden bei der Mischung der verschiedenen Komponenten unmittelbar vor der Zündung der Sprengköpfe. Die Materialien müßten getestet werden, weil die Sprengköpfe alterten. Französische Sprengköpfe seien nicht robust genug. Darüber hinaus müßten die Sprengköpfe für die neue M-5 Rakete sowie den Marschflugkörper längerer Reichweite ASLP (Air – Sol Longue Portée) erprobt werden.

Später sollen die Tests auf Laser-Fusionsanlagen mit Computerunterstützung simuliert werden, ein entsprechendes Abkommen für den Bau einer geeigneten Anlage wurde bereits zwischen den USA und Frankreich geschlossen. Beim Beschluß, die Atomversuche simulieren zu wollen, stand ein Parlamentsbericht des neogaullistischen Abgeordneten Galy-Dejean aus dem Dezember 1993 zur Computersimulation von Atomversuchen Pate. Er gab die Initialzündung für die Umsetzung der schon bestehenden Pläne der CEA zur Computersimulation. Ein Programm namens PALEN – übersetzt heißt das Vorbereitung auf die Einschränkung von Atomversuchen – wurde gebilligt. In fünf Jahren sollen dafür 10 Mrd. FF, rund 3 Mrd. DM, ausgegeben werden. Die US-Experten kritisieren vehement einige der Annahmen des Berichts. Sie sagen, neue Atomsprengköpfe ließen sich nicht erst nach einigen realen Tests über Simulation weiterentwickeln. Die Betonung der Simulation im Parlamentsbericht sei eine „gefährliche und falsche Auffassung“.

Dennoch werden die USA den Aufbau der Anlage unterstützen. Das setzt eine langjährige Praxis fort. Zwar lehnten die USA zunächst die französische Atombombe ab und behinderten deren Entwicklung. Seit Anfang der 70er Jahre wurde jedoch höchst geheim kooperiert. 1985 und 1989 schloß man dann richtige Abkommen. Daraus erwuchs die 1994 besiegelte Übereinkunft, das US-Know-how von der NIF (National Ignition Facility), vom Lawrence Livermore Labor gebaut, dem französischen Pendant des LMJ (Laser Mega Joule), ebenfalls ein Fusionslaser, in Limeil zugute kommen zu lassen.

Über Zahl und Ziel der letzten Versuchsreihe vor dem Zeitalter der Simulation gibt es die verschiedensten Angaben und Mutmaßungen. Schon die Zahl verblüfft: lediglich acht, wo die Experten doch 10 bis 20 fordern. Und plötzlich sagt ein französischer Minister, vielleicht reichten doch sieben aus. Angeblich kennen nur etwa sieben Eingeweihte alle Einzelheiten des Atomprogramms wirklich. Es wird das Bonmot kolportiert, wer wisse, rede nicht und wer rede, wisse nichts. Die Atomingenieure lassen sich auch von den verantwortlichen Politikern nicht in alle Karten sehen. Einer von ihnen ist Jacques Bouchard, der neue Leiter der DAM. Er sprach über die Ziele der Testserie. Ein Versuch soll danach zum Test des Sprengkopfes TN-75 der M-45 Rakete sein, drei bis vier für nicht weiter spezifizierte andere Sprengköpfe, u.U. für die ASLP, drei weitere zur Vorbereitung der Simulationen und eine für den neuen TN-100 Sprengkopf der M-5 Rakete.

Beide, M-45 und M-5, sind für das Rückgrat der französischen strategischen Atomwaffe, die U-Boote, geplant worden. Sie gehören zum Programm der U-Boote der neuen Generation (SNLE-NG). Das erhielt 1983 die parlamentarische Billigung. Die ASLP soll im Jahr 2010 die ASMP (mittlere Reichweite) ablösen, die ihrerseits freifallende Bomben ersetzte. Sie soll sowohl in 20.000 als auch in ein paar hundert Metern Höhe fliegen können, vom Flugzeug aus gestartet. In französischer Diktion sind das prästrategische Waffen, denn die Strategie kennt keine taktischen Atomwaffen. Schließlich stand am Anfang die Ablehnung des amerikanischen Konzepts der »flexible response«, des Denkens, Konflikte atomar führen und begrenzen zu können. Dennoch wurde auch das französische Konzept in Frage gestellt und harrt, nach 1989, der Überarbeitung.

Die U-Boote sind der Kern des französischen Abschreckungskonzepts des »Schwachen gegen den Starken«. Mit ihnen sollte einem übermächtigen Angreifer, der Sowjetunion, unakzeptabler Schaden zugefügt werden. Bei der Modernisierung ist mit der neuen Generation, nach dem ersten Boot »Le Triomphant« genannt, ein Quantensprung im Arsenal eingeleitet worden. Die alten U-Boote waren von der M-20, ein Sprengkopf von einer Megatonne und 3.000 km Reichweite, auf die M-4, 6 Sprengköpfe à 150 kt und 4.500 km Reichweite, aufgerüstet worden. Pro U-Boot 16 Raketen, bei allen Typen. Die M-45 Raketen des »Le Triomphant«, der im März 1996 in Dienst gestellt wird, haben 6 TN-75-Sprengköpfe, die leichter, für Radar schwerer erfaßbar (furtiver) und penetrationsfähiger sind, mit 5.000 km Reichweite. Für die M-5 sind 8 bis 12 Sprengköpfe pro Rakete vorgesehen, mit 6.000 km Reichweite und weiter verbesserten Penetrationsfähigkeiten. Ein Aufrüstungsprogramm aus dem Kalten Krieg soll hier ungerührt durchgezogen werden. Zwar wird über das Programm M-5 (soll 87 Mrd. FF kosten) erst 1997 endgültig entschieden, doch angesichts der Vorinvestitionen und der Durchsetzungsfähigkeit der Atomlobby ist an der Billigung kaum zu zweifeln.

Die Kosten des gesamten Programms der vier neuen U-Boote, mit M-45 und M-5 Raketen , werden offiziell mit 186 Mrd. FF angegeben. Eine Studie von CDRPC und Greenpeace kommt auf 280,12 Mrd., denn es wurden Kosten für Industrialisierung, wie tiefere Hafenbecken, Infrastruktur, Kommunikationssysteme, Begleitschutz etc. mit einberechnet. Das heißt, neben den 5.700 Arbeitsplätzen der DAM und weiteren Abteilungen der CEA haben Aérospatiale (Raketen), die staatlichen Werften der DCN, Firmen aus den Bereichen Elektronik, Telekommunikation, Maschinenbau und Bauwesen ein Interesse an dem Programm und mit den Ingenieurskorps an ihrer Spitze eine starke und durchsetzungsfähige Lobby.

»Monsieur Ungestüm« und die Außenpolitik

Das Schwanken, gepaart mit einem unüberlegten Ungestüm, sind eine Konstante der politischen Karriere des neuen Präsidenten aller Franzosen. Unvergessen ist beispielsweise die Episode aus den 70er Jahren, als er in seiner Funktion als Premier bei einer Ratssitzung der EU im Konflikt mit Frau Thatcher auf seine Genitalien zu sprechen kam. Ähnlich Drastisches wird sich wohl kaum wiederholen, doch auf manchen Gemütsausbruch kann man sich schon einrichten.

Der jüngste Wahlkampf sah nicht zum ersten Mal einen neuen Jacques Chirac. Um sich von seinem (mittlerweile ex-) Freund Edouard Balladur abzusetzen, griff der Kandidat Chirac tief in die Kiste des Gaullismus und holte dessen sozialverantwortliche Seite hervor. Er gab sich einen linksgaullistisch-populistischen Anstrich. Arbeitsplätze und deren Schaffung, der soziale Ausschluß wurden seine Themen. Der Technokratie erklärte er den Kampf – obwohl er selbst als »ENArch« zum Herzen der technokratischen Elite gehört und auch sein neuer Premier Juppé, zusätzlich zum ENA-Abschluß, mit der Agrégation der Ecole Normale Supérieure zu den Geistesgrößen des Landes zählt.

In den politischen Maximen ist das alte Schwanken deutlich zu erkennen. Als Beispiel können Wirtschafts- und Finanz- sowie Europapolitik gelten. Während des Wahlkampfes hat Chirac Versprechen gegenüber den sozial Schwachen abgegeben, die sich auf viele Milliarden Franc belaufen. Beschäftigungsplan (contrat initiative emploi) inklusive Senkung der Sozialabgaben, Lohnerhöhungen (Mindestlohn), Absicherung des Sozialsystems (la sécu, wie die Krankenkasse, Alterssicherung und Arbeitsamt umfassende französische Organisation genannt wird), neue Formen der Altersvorsorge und Bau von Sozialwohnungen für die »exclus« (Ausgeschlossenen). Gleichzeitig will Chirac die Defizite erheblich reduzieren, z.B. die Schulden der »sécu« nicht einfach à la Balladur der Staatsschuld zuschlagen, die Erlöse der Privatisierung für den Schuldenabbau nutzen, und nicht für die Haushaltsfinanzierung. Die Kriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion sollen erfüllt werden. Gleichzeitig soll »in den Grenzen von Maastricht« eine größere Marge für unabhängigere Politik gesucht werden – letztendlich unabhängig von der Politik der Bundesbank. Aber andererseits soll die junge Unabhängigkeit der Banque de France auch nicht angetastet werden. In der Wirtschaftspolitik gilt weiter das liberale Credo, das die Kräfte durch Überschuldung und Bürokratie gehemmt sieht. Außerdem, wir erinnern uns, soll die unpersönliche Technokratie umgewandelt werden.

Frankreich nähert sich britischen Europapositionen an

In der Europapolitik lassen sich die Widersprüche Chiracs sogar personifizieren. Er hat zwei Ratgeber, den Antieuropäer und Parlamentspräsidenten aus den Vogesen Philippe Séguin und den gemäßigten Proeuropäer Alain Juppé, Premier, Bürgermeister von Bordeaux und Vorsitzender der RPR. Beide rivalisieren überdies um die Nachfolge Chiracs nach der Jahrtausendwende. Im Verlauf des Wahlkampfes hielt Chirac eine neue Volksabstimmung über den Eintritt in die dritte Stufe der WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) für eine gute Idee. Nach unvorteilhaftem Echo nahm er wieder Abstand davon. Das Bemühen um mehr Abstand von »Maastricht«, um einen größeren nationalen Spielraum, ist unverkennbar. In der Finanzpolitik wollte noch jede neue Regierung in Frankreich in den letzten 15 Jahren mehr Spielraum erkämpfen, um nach kurzer Zeit vor der Übermacht der Finanzmärkte und der Bundesbank zu kapitulieren. Bleibt abzuwarten, wie sich die erste Regierung unter Chirac aus der Affäre zieht.

Doch auch in der sonstigen Europapolitik zeichnet sich ein Wandel ab. Als Außenminister hatte Juppé, als Proeuropäer bezeichnet, immer mehr Sympathie für britische Positionen erkennen lassen. Als ersten außenpolitischen Akt nach der Amtsübernahme traf sich Chirac mit Kanzler Kohl in Straßburg, um ihm die Kontinuität der deutsch-französischen Beziehungen und der französischen Europapolitik zu versichern. Das hinderte ihn aber nicht, eine weitere Annäherung an britische Positionen zu konstatieren. Frankreichs Europapolitik werde sich, so ist zu hören, auf eine Mittlerfunktion zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik zu bewegen. Unverkennbar hat die Stärkung der nationalen Parlamente bei der Kontrolle der Kommission in Brüssel und die Konzentration auf den intergouvernementalen Bereich der Zusammenarbeit Priorität in der zukünftigen französischen Europapolitik. Nicht das Europäische Parlament ist in dieser Sicht der Ort der parlamentarischen Überwachung der Politik der Union, sondern das nationale Parlament. Nicht die Entwicklung der Union in Richtung auf mehr Supranationalität ist gewollt, sondern die Stärkung der Rolle der nationalen Regierungen im Rahmen der Kooperation der 15 Mitgliedstaaten. Auch ist zunehmender Widerstand gegen das »Einheitsdenken« (la pensée unique) – Credo der französischen Europapolitik der letzten zwölf Jahre – zu konstatieren. Die Betonung der Währungsstabilität und die Finanzpolitik in der Nachfolge der Bundesbank, die damit gemeint sind, werden von Parlamentspräsident Séguin und dem Unternehmer mit Schnellschreiberqualitäten Alain Minc in einem neuen Buch kritisiert. Das heißt in letzter Konsequenz, die Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage zu stellen. Für die Kommission und die Befürworter einer weiteren Vergemeinschaftung von Politikfeldern brechen harte Zeiten an. Das gilt um so mehr, wenn es den britischen »Euroskeptikern« eines Tages doch noch gelingen sollte, Premier Major zu stürzen.

Gegensätzliche Vorstellungen in den deutsch-französischen Beziehungen

Aber auch im deutsch-französischen Verhältnis werden die Probleme eher zunehmen. Denn die verkündete Politik Kanzler Kohls und die außenpolitischen Papiere der CDU besagen so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was die Tendenzen der französischen Europapolitik ankündigen. Einen europäischen Bundesstaat will man, ein immer engeres Zusammenwachsen der Gemeinschaft und die Vergemeinschaftung weiterer Politikfelder, inklusive der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik). Allein schon bei der Frage der weiteren Ausdehnung der Union stehen sich die Interessen der Regierungen diametral entgegen. Die jüngste Erweiterung erbrachte eine in französischer Sicht schmerzliche Verschiebung des Schwerpunktes nach Norden. Die Union ist »erblondet«. Die Aufnahme der Länder Mittel- und Osteuropas, die dem deutschen Einflußbereich zugerechnet werden, ist da ohne Ausgleich im Süden nicht akzeptabel. Eine Debatte um eine mögliche gemeinsame Politik im Osten wie im Süden gibt es nicht. Bisher sind, wie zuletzt beim Gipfel in Essen, die Interessen nur frontal aufeinandergestoßen. Geld für Osteuropa gibt es nur bei einem Ausgleich für den Mittelmeerraum. Dieses Gebiet ist in deutschen Augen Sache der Franzosen.

Die aus der französischen Not geborene Debatte um eine atomare Garantie Frankreichs für Deutschland, die Union oder auch nur Teile von ihnen wird wenig dazu beitragen, die politische Lage zu beruhigen. Zum einen ist, so bei Séguin, die alte Richtung solcher Vorstöße in den 60er und späteren Jahren erkennbar, die USA beiseite zu drängen und zu ersetzen. Unter solchen Umständen hat sich bundesrepublikanische Politik noch stets für die Seite der USA entschieden. Darüber hinaus weiß ja auch die französische Seite nicht so recht, was man denn genau anbieten will. Auf der anderen Seite wissen die politischen Strategen von CDU/CSU, FDP und SPD ebenfalls nicht genau, was sie von französischen Politikern und ihrer Force de Frappe erwarten sollen. Früher überwog das Interesse an Information, Einbindung und Selbstschutz, man wollte im Kriegsfall nicht zusätzlich französische Sprengköpfe abbekommen. Jetzt gibt es ein vages Interesse an die Einbindung in eine zukünftige Gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Einem Herrn Rühe und einem Herrn Lamers (CDU) könnte Außenpolitik mit Rückendeckung französischer Atomwaffen eher zusagen. Dabei muß ihnen klar sein, daß die letzte Entscheidung über den Einsatz stets beim französischen Präsidenten läge und bliebe. An einen zukünftigen Präsidenten der Union als oberstem politischen Machthaber glaubt wohl niemand. Aber nur einem solchen würde Frankreich den Oberbefehl über die Atomwaffen übergeben, jedenfalls nach bisherigen Aussagen.

Bei so vielen offenen und nicht einmal andiskutierten Fragen wird das Vorgehen der französischen Regierung eher die Konfusion weiter steigern und den Widerstand gegen eine Europäisierung ihrer Atomwaffen anstacheln. Bei den nordischen Mitgliedstaaten, Österreich und Irland ist jedenfalls wenig Verständnis zu erwarten. Damit soll nicht gesagt werden, es gebe keine Risiken hinsichtlich einer Europäisierung französischer und britischer Atomwaffen. Doch das chaotische Vorgehen der Politiker eröffnet alle Möglichkeiten, dagegen vorzusorgen.

Harald Bauer ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied des Institutes für Internationale Politik (Berlin).

Frankreich verletzt Euratom-Vertrag

Frankreich verletzt Euratom-Vertrag

Gutachten der IALANA zu den französischen Atomtests

von IALANA

Frankreich hat mit seinem Atomtest gegen den EURATOM-Vertrag verstoßen. Ohne vorherige Zustimmung der Brüsseler EU-Kommission durfte und darf Frankreich seine geplanten Atomwaffenversuche auf dem Mururoa-Atoll nicht durchführen. Zu diesem Ergebnis kommt das im folgenden abgedruckte Gutachten der »International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms« (IALANA) vom 22.8.1995. Während der EU-Kommissions-Präsident Santers mittlerweile immerhin bestätigt hat, daß der EURATOM-Vertrag auf die französischen Atomtests anwendbar ist, verhält sich die Kommission aber immer noch auffällig still. IALANA fordert den EU-Kommissionspräsidenten Santer auf, nicht weiter untätig den Atomtests zuzusehen, sondern gegen Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 141 des EURATOM-Vertrages einzuleiten, Klage gegen Frankreich vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben und zugleich eine einstweilige Anordnung des Gerichts zu beantragen.

Sehr geehrter Herr Präsident,

die Mitteilung des französischen Präsidenten Jacques Chirac vom 13. Juni 1995, daß er die Wiederaufnahme einer Serie von acht Atomwaffenversuchen auf dem Mururoa-Atoll für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angeordnet habe, hat in der ganzen Welt große Proteste hervorgerufen, die an Intensität von Woche zu Woche zunehmen. Wie wir Pressemitteilungen entnommen haben, hat sich zwischenzeitlich auch der Umweltausschuß des Europäischen Parlaments an die Kommission der Europäischen Union mit der Bitte um Prüfung der Frage gewandt, ob die französischen Atomwaffenversuche mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar sind.

Wir, die deutsche Sektion der IALANA (International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms), möchten hiermit das Anliegen des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments nachdrücklich unterstützen und die EU-Kommission auffordern, gegenüber dem EU-Mitgliedsstaat Frankreich nachhaltig auf die Einhaltung der Bestimmungen des EURATOM-Vertrages (im folgenden: EAGV) zu drängen. Konkret möchten wir Sie auffordern,

  1. gegen den EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 141 Abs. 1 EAGV einzuleiten,
  2. nach fruchtlosem Ablauf der Dreimonatsfrist nach Art. 141 Abs. 2 EAGV gegen den Mitgliedsstaat Frankreich den Europäischen Gerichtshof (im folgenden: EUGH) anzurufen,
  3. gegen den Mitgliedsstaat Frankreich beim EUGH gemäß Art. 158 EAGV in Verbindung mit Art. 53 der Verfahrensordnung des EUGH eine einstweilige Anordnung zu beantragen.

Begründung:

I. Vertragswidriges Verhalten des Mitgliedsstaates Frankreich

Bekanntlich haben die Atomwaffen-Staaten USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China seit 1945 mehr als 2.000 Atomwaffen-Tests durchgeführt, darunter mehr als 500 in der Atmosphäre. Ob solche militärischen Atomwaffen-Versuche mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar sind, ist in der Völkerrechtsgemeinschaft umstritten.

Möglicherweise werden die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1993 und von der UN-Generalversammlung im Jahre 1994 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingeleiteten Gutachten-Verfahren, in denen es um die Frage der Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes und der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen geht und zu denen der IGH ab 30. Oktober 1995 in Den Haag mündliche Anhörungen durchführen wird, zu einer Klärung beitragen können.

Allerdings gehört es schon jetzt unbestrittenermaßen zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, daß jeder Staat verpflichtet ist, jede Nutzung seines Hoheitsgebietes zu vermeiden, die einen Schaden im Gebiet eines anderen Staates verursacht (vgl. u. a. Internationaler Gerichtshof (IGH), Urteil vom 09. April 1949, ICJ Rep. 1949, S. 4 ff., 22).

Unabhängig von der Frage, ob die Durchführung von Atomwaffenversuchen mit den allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts vereinbar ist, stellt sich jedoch für den EU-Mitgliedsstaat Frankreich die zusätzliche Frage einer Vereinbarkeit seines Handelns mit dem Rechtssystem der Europäischen Union, speziell mit dem EURATOM-Vertrag.

1. Der EURATOM-Vertrag ist auf die französischen Versuche auf dem Mururoa-Atoll anwendbar

1.1 Das Mururoa-Atoll gehört zum räumlichen Geltungsbereich des EURATOM-Vertrags

Das Mururoa-Atoll ist Teil des französischen Übersee-Territoriums Polynesien. Die Vorschriften des EURATOM-Vertrages finden nach seinem Art. 198 Abs. 1 nicht nur „auf die europäischen Hoheitsgebiete“ der EURATOM-Mitgliedsstaaten, sondern auch „auf die ihnen unterstehenden außereuropäischen Hoheitsgebiete“ Anwendung, soweit im EURATOM-Vertrag „nichts anderes bestimmt ist“. Weder in Art. 198 EAGV noch in anderen Vorschriften des EURATOM-Vertrages werden die Frankreich „unterstehenden außereuropäischen Hoheitsgebiete“ in Polynesien (einschließlich des Mururoa-Atolls) aus dem räumlichen Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages herausgenommen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem EG-Vertrag, da nach Art. 232 Abs. 2 EG-Vertrag der EG-Vertrag die Vorschriften des Vertrags zur Gründung der »Europäischen Atomgemeinschaft« (= EAGV) nicht beeinträchtigt. Die Regelungen des EAGV sind mit anderen Worten Spezialvorschriften zum EG-Vertrag und gehen diesem in ihrem sachlichen und räumlichen Regelungsbereich vor.

1.2 Die militärische Nutzung der Atomenergie ist vom sachlichen Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages nicht ausgenommen

Eine Vorschrift, die die militärische Nutzung der Atomenergie generell aus dem sachlichen Anwendungsbereich des EAGV ausdrückiich ausnimmt, ist im EAGV nicht enthalten.

Lediglich für einzelne Fragen enthält der EAGV Sonderregelungen für den Bereich der militärischen Nutzung der Atomenergie (Art. 24 Abs. 1 EAGV und Art. 84 Abs. 3 EAGV). Art. 24 Abs. 1 EAGV ordnet lediglich den Geheimschutz für Kenntnisse an, die von der EURATOM-Gemeinschaft im Rahmen ihrer Forschungsarbeit erworben wurden und deren Preisgabe den Verteidigungsinteressen eines Mitgliedsstaates schaden könnte. Art. 84 Abs. 3 EAGV regelt, daß sich „die Überwachung“, d.h. die speziellen Überwachungsmaßnahmen nach Kapitel VII EAGV, nicht auf Stoffe erstrecken, „die für die Zwecke der Verteidigung bestimmt sind, soweit sie sich im Vorgang der Einfügung in Sondergeräte für diese Zwecke befinden oder soweit sie nach Abschluß dieser Einfügung gemäß einem Operationsplan in eine militärische Anlage eingesetzt oder dort gelagert werden“. Andere EURATOM-Zuständigkeiten nach anderen Vorschriften des EAGV werden von Art. 84 Abs. 3 EAGV nicht erfaßt. Die Existenz dieser bereichspezifischen Sonderregelung des Art. 84 Abs. 3 EAGV macht mithin gerade deutlich, daß die Anwendbarkeit des EURATOM-Vertrages außerhalb des von ihr erfaßten Regelungsbereiches unberührt bleibt: Die militärische Nutzung der Atomenergie wird von den Regelungen des EURATOM-Vertrages nur insoweit ausgenommen, wie der Regelungsbereich der genannten Aufnahmevorschrift reicht.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluß des EUGH vom 14. November 1978 (Rs 1/78, Sammlung 1979, S. 2151 ff.). In dieser Entscheidung des EUGH ging es um die Frage, ob das „Abkommen über den Objektschutz von Kernmaterial, kerntechnischen Anlagen und Nukleartransporten“ mit dem EURATOM-Vertrag vereinbar ist. Der EUGH hat in jenem Verfahren lediglich entschieden, daß „die für die militärischen Zwecke bestimmten Materialien und Anlagen“ von den Überwachungsmaßnahmen sowohl des genannten Abkommens (in Übereinstimmung mit dessen Art. 2) als auch des EURATOM-Vertrages ausgeschlossen sind. Eine darüber hinausgehende allgemeine Schlußfolgerung, militärische Nuklearversuche innerhalb oder außerhalb von Anlagen eines EURATOM-Mitgliedsstaates seien nicht nur von den speziellen Überwachungsmaßnahmen der §§ 77 bis 85 EAGV und der besondere Überwachungsmaßnahmen voraussetzenden Regelung des Art. 86 EAGV (betr. das Eigentumsrecht von EURATOM an spaltbaren Stoffen), sondern generell und radikal vom Anwendungsbereich des EAGV ausgenommen, läßt sich daraus nicht ziehen.

Namentlich werden die Regelungen des EURATOM-Vertrages über den Gesundheitsschutz nicht von der Sonderregelung des § 84 Abs. 3 EAGV erfaßt.

So gelten namentlich die Vorschriften des EURATOM-Vertrages über den Gesundheitsschutz (Art. 30 bis 39 EAGV) für alle Bereiche der Atomenergie-Nutzung im EURATOM-Bereich, insbesondere auch für Nuklear-Versuche; militärspezifische Ausnahmeregelungen hinsichtlich dieser dem Gesundheitsschutz dienenden Vorschriften lassen sich dem EURATOM-Vertrag nicht entnehmen.

2. Die französischen Atomwaffen-Versuche verstoßen gegen Art. 34 EAGV

Nach Art. 34 EAGV ist jeder Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet „besonders gefährliche Versuche“ stattfinden sollen, verpflichtet, zusätzliche Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz zu treffen; er hat hierzu vorher die „Stellungnahme“ der Kommission einzuholen (Abs. 1). Besteht die Möglichkeit, daß sich die Auswirkungen der Versuche auf die Hoheitsgebiete anderer Mitgliedsstaaten erstrecken, so ist die „Zustimmung“ der Kommission erforderlich (Abs. 2).

2.1 Besonders gefährliche Versuche

Art. 34 EAGV findet sowohl auf zivile als auch auf militärische „besonders gefährliche Versuche“ Anwendung (so u.a. auch Grunwald, Europarecht, 1 986, S. 31 5 ff., 336 mit weiteren Nachweisen). Eine Ausnahme für letztere läßt sich dem EURATOM-Vertrag nicht entnehmen. Auch der damalige Staatssekretär im französischen Außenministerium, Maurice Faure, hat im Rahmen der Debatten zur Ratifzierung des EURATOM-Vertrages in der Französischen Nationalversammlung am 21. Juni 1957 dies zum Ausdruck gebracht: „Les dispositions de l'article 34 s'appliquent à toutes les expériences particuliérement dangereuses, civites ou militaires.“ Eine entsprechende Aussage findet sich im Bericht des Ausschusses für Familie, Bevölkerung und öffentliche Gesundheit der Französischen Nationalversammlung zur Gesetzesvorlage Nr. 4676 („Die Bestimmungen des Art. 34 finden auf sämtliche besonders gefährliche Versuche Anwendung, zivile wie militärische.“).

Dementsprechend hat Frankreich auch Anfang der 60er Jahre seine militärischen Zwecken dienenden Nuklear-Tests in der Sahara der EURATOM-Kommission nach Art. 34 Abs. 1 EAGV vorab förmlich zur Kenntnis gebracht, d.h. „notifiziert“ (vgl. EURATOM, 3. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft, 1960, S. 101 f.; 4. Gesamtbericht, 1961, S. 113).

Von dieser Rechtsauffassung von der Anwendbarkeit des Art. 34 EAGS ist dann auch die EURATOM-Kommission bei ihrer Stellungnahme vom Februar 1960 ausgegangen (allerdings hat sie damals hinsichtlich der französischen Versuche in der Sahara Auswirkungen für andere EURATOM-Staaten nach ihrem damaligen Kenntnisstand verneint).

Ebenso wie bei den zwischenzeitlich verbotenen oberirdischen Nuklear-Tests handelt es sich auch bei den bis 1991 durchgeführten und bei den für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten Atombomben-Versuchen auf dem Mururoa-Atoll im Süd-Pazifik um „besonders gefährliche Versuche“ im Sinne des Artikels 34 EAGV.

Zu den bisher durchgeführten Versuchen gibt es drei offiziöse, d.h., unter Beteiligung der französischen Behörden durchgeführte Untersuchungen: Den Bericht von Haroun Tazieff von 1982, den Bericht der Atkinson-Kommission von 1984 und den Bericht von Cousteau von 1988.

Bereits der Bericht von Haroun Tazieff, des damaligen Präsidenten des französischen »Commissariat à l'etude et à la prévention des risques naturels majeurs«, räumte ein, daß auf längere Sicht nach den vorliegenden Meßdaten das Risiko der Ausbreitung radioaktiver Materialien nicht ausgeschlossen werden kann.

Im Bericht von Jacques-Yves Cousteau werden zahlreiche Risse und Erdrutsche im Korallensockel des Mururoa-Atolls und eine beschleunigte Alterung seiner Kalkschichten, auf der die Korallenablagerungen ruhen, konstatiert; der Cousteau-Bericht wirft deshalb die Frage auf, „si l'onde de choc d'une explosion ne modifie pas le confinement des produits radioactifs des précédents tirs en entraînant une fissuration des réservoirs vitrifiés“.

Im Abschlußbericht von Hugh Atkinson werden schließlich die von den französischen Behörden verlautbarten Angaben, daß mehr als 99<0> <>% der bei den Nuklear-Tests entstehenden Radioaktivität durch die versiegelten Ummantelungen der Versuchsanlage von der Außenwelt ferngehalten würden, ausdrücklich bestritten (vgl. dazu auch Le Monde vom 21. Juni 1995).

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die genannten drei Forschungsgruppen von den französischen Behörden nur wenige Tage eingeräumt bekamen, um vor Ort zu recherchieren.

Zwischenzeitlich liegen zahlreiche weitere – ohne Zeitdruck zustande gekommene – Untersuchungen und Veröffentlichungen von Wissenschaftlern und Umweltorganisationen vor, die die Schlußfolgerung nahelegen, daß bereits mit den bisher, d.h. bis 1991 durchgeführten unterirdischen Atom-Tests zumindest langfristig gravierende Gefahren für Öko-Systeme und sogar für Menschen verbunden sind. Wir verweisen u.a. auf den Bericht von A. C. McEwan in Goldblat/Cox (Hg.), Nuclear Weapons Tests: Prohibition or Limitation?, Oxford 1988, S. 75 ff.

2.2 Möglichkeit von Auswirkungen auf das Hoheitsgebiet eines anderen EURATOM-Mitgliedsstaates

Im Sinne des Art. 34 Abs. 2 EAGV besteht zumindest die Möglichkeit, daß sich die Auswirkungen der französischen Nuklearversuche auf die Hoheitsgebiete anderer EURATOM-Mitgliedsstaaten erstrecken.

Im Einwirkungsbereich der französischen Nuklear-Versuche auf dem Mururoa-Atoll liegt u.a. die zum Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gehörende Pitcairn-Insel (vgl. dazu u.a. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band XVIII, 1976, S. 728; Encyclopaedia Britannica, Band IX, S. 474). Die (bewohnte) Pitcairn-Insel ist gemäß Art. 198 Abs. 3 c EAGV nicht vom Anwendungsbereich des EURATOM-Vertrages ausgenommen (sie ist im Anhang IV des EWG-Vertrages ausdrücklich als zum Vertragsgebiet gehörend aufgeführt).

Spätestens seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl und seinen schrecklichen Folgen ist weltweit bekannt, daß – ungeachtet der vor der Tschernobyl-Katastrophe ergangenen gegenteiligen Verlautbarungen namhafter Angehöriger der »nuclear community« in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – Nuklearexplosionen großräumige Auswirkungen in einem Umfeld von mehr als 1.000 km haben können.

Die zum Hoheitsgebiet des EURATOM-Mitgliedsstaates Großbritannien zählende (bewohnte) Pitcairn-Insel liegt ca. 800 bis 1.000 km vom Mururoa-Atoll entfernt.

Die Atomwaffen-Versuche im Pazifik haben deshalb in den letzten Jahren vielfältige Besorgnisse ausgelöst, die bisher nicht durch hinreichende wissenschaftliche Studien ausgeräumt werden konnten. Im Gegenteil: Es gibt zahlreiche Untersuchungen und Stellungnahmen, die die Möglichkeit einer Kontamination des Meerwassers und der Atmosphäre nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar für relativ wahrscheinlich halten. Stellvertretend möchten wir insoweit anführen:

  • Norman Buske, Caesium-134 at Mururoa – Review of the Calypso Water Sample, Davenport (SEARCH Technical Services), 1990
  • Bengt Danielsson, Poisoned Pacific: The Legacy of French Nuclear Testing, in: Bulletin of the Atomic Scientists, March 1 990, S. 22 ff.
  • McEwan, Environmental effects of underground nuclear explosions, in: Jozef Goldblat/David Cox, Nuclear Weapon Tests: Prohibitions or Limitations?, Oxford 1988, S. 75
  • Tilman Ruff, Fish Poisoning in the Pacific: A Link with Military Activities, Canberra (Australian National University), 1989

Nach den uns zugänglichen Informationen bestätigt selbst der von der Cousteau-Kommission im Jahre 1987 an der Küste von Mururoa gedrehte Unterwasserfilm „die Existenz von spektakulären Rissen und Brüchen, von Erdrutschen unter Wasser und von einem Absinken des Atolls“ (vgl. Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, 1989, S. 329 f.).

Naturgemäß vermögen wir die Validität der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien nicht abschließend zu beurteilen, zumal die französischen Behörden in ihrer lnformationspolitik und in ihrer Bereitschaft, unabhängigen Wissenschaftlern ungehinderten und zeitlich nicht begrenzten Zugang zum Testgebiet zu gewähren, bislang sehr restriktiv waren. Gerade deshalb kommt der dem Gesundheitsschutz dienenden Vorschrift des Art. 34 EAGV eine besondere Bedeutung bei. Sie soll gerade sicherstellen, daß die EURATOM-Kommission, also die von Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, präsidierte Behörde, die notwendigen Informationen von Frankreich anfordert, in einer sorgfältigen eigenen Stellungnahme bewertet und schließlich die Entscheidung nach Art. 34 Abs. 2 EAGV trifft, ob sie dem Nuklearversuch des betreffenden EURATOM-Mitgliedsstaates zustimmt oder nicht. Für ihre Entscheidung muß die Kommission dann die politische und rechtliche Verantwortung übernehmen; ggf. kann sie wegen Pflichtverletzung vor dem EUGH verklagt werden.

3. Schlußfolgerung

Nach den uns vorliegenden Informationen hat der EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich weder vor Durchführung der Atombomben-Versuche auf dem Mururoa-Atoll bis zum Jahre 1991 noch vor dem Start der jetzt für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten Nuklear-Tests die von Art. 34 Abs. 1 EAGV vorgeschriebene „Stellungnahme der Kommission“ (der Europäischen Union) eingeholt.

Da, wie dargelegt, zumindest die Möglichkeit besteht, daß sich die Auswirkungen der Versuche u.a. auf die lediglich ca. 1.000 km entfernt liegende bewohnte Pitcairn-Insel und damit auf das Hoheitsgebiet des EURATOM-Mitgliedsstaates Großbritannien und Nordirland erstrecken, war bereits hinsichtlich der bis 1991 durchgeführten und ist auch jetzt hinsichtlich der für die Zeit von September 1995 bis Mai 1996 angekündigten französischen Nuklear-Tests auf dem Mururoa-Atoll die vorherige „Zustimmung der Kommission“, d.h., sehr verehrter Herr Präsident, die Zustimmung Ihrer Behörde, erforderlich.

Die Weigerung des EURATOM-Mitgliedsstaats Frankreich, vor Durchführung der Nuklear-Tests die Vertragspflichten aus Art. 34 EAGV zu erfüllen, stellt mithin ein vertragswidriges Verhalten im Sinne des Art. 141 EAGV dar, das die eingangs von uns geforderten Konsequenzen dringend erfordert.

Deshalb möchten wir Sie und die von Ihnen präsidierte EU-Kommission dringend auffordern, Ihre Amtspflichten nach dem EURATOM-Vertrag wahrzunehmen und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich unverzüglich einzuleiten sowie unter Beachtung der einschlägigen Verfahrensvorschriften den Europäischen Gerichtshof anzurufen und eine einstweilige Anordnung gegen Frankreich zu beantragen.

II.

Gestatten Sie uns abschließend noch eine Frage zur Handhabung der Art. 35 und 36 des EURATOM-Vertrages durch die EU-Kommission.

Nach Art. 35 EAGV hat jeder EURATOM-Mitgliedsstaat die notwendigen Einrichtungen zur ständigen Überwachung des Gehalts der Luft, des Wassers und des Bodens an Radioaktivität sowie zur Überwachung der Einhaltung der von EURATOM festgelegten Grundnormen zu schaffen (Abs. 1). Die EU/EURATOM-Kommission hat Zugang zu diesen Überwachungseinrichtungen; sie kann ihre Arbeitsweise und Wirksamkeit nachprüfen (Abs. 2).

Nach Art. 36 sind die Auskünfte über die in Art. 35 EAGV genannten Überwachungsmaßnahmen der EU/EURATOM-Kommission von den zuständigen Behörden (des Mitgliedsstaates) regelmäßig zu übermitteln, damit die Kommission ständig über den Gehalt an Radioaktivität unterrichtet ist, dem die Bevölkerung ausgesetzt ist.

Wir möchten Sie deshalb ergänzend fragen: Hat der EURATOM-Mitgliedsstaat Frankreich hinsichtlich der Nuklear-Tests in seinem Hoheitsgebiet Französisch-Polynesien im Pazifik zumindest seine Überwachungs- und Auskunftspflichten nach Art. 35 und 36 EAGV erfüllt?

Hat, sehr geehrter Herr Präsident, Ihre Behörde, die EU/EURATOM-Kommission, ihrerseits ihre Prüfungspflichten nach Art. 35 und Art. 36 EAGV hinsichtlich der bis zum Jahr 1991 durchgeführten französischen Nuklear-Tests erfüllt? Mit weichem konkreten Ergebnis?

Wir wären Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, sehr dankbar, wenn Sie uns Ihre geschätzte Antwort möglichst bald zukommen lassen könnten.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Peter Becker (Vorsitzender)
Dr. Deiseroth (stellv. Vorsitzender)

IALANA, Juristinnen und Juristen gegen atomare biologische und chemische Waffen, Sektion Bundesrepublik Deutschland der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms (Postfach 1169, 35001 Marburg).

Wiederaufnahme der Atomtests gefährdet Nichtverbreitungsregime

Erklärung von Friedensforschungsinstituten und Gruppen der naturwissenschaftlichen Abrüstungsforschung zu den französischen Nukleartests

Wiederaufnahme der Atomtests gefährdet Nichtverbreitungsregime

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Mitte Juni 1995 kündigte der im Mai neugewählte französische Präsident Jacques Chirac die Wiederaufnahme der seit 1992 eingestellten französischen Atomwaffentests an. Zwischen September 1995 und Mai 1996 sollen mindestens acht Tests auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik durchgeführt werden.

Nur einen Monat nach der unbegrenzten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages in New York, in dessen Schlußdokument sich die Atommächte zu „äußerster Zurückhaltung“ bei Nukleartests bis zum Abschluß eines Vollständigen Teststoppvertrages verpflichtet hatten, haben die weltweiten Bemühungen um nukleare Abrüstung und Nichtweiterverbreitung damit einen schweren Rückschlag erlitten. Neben Frankreich hatte bereits China am 14. Mai 1995 einen Nukleartest durchgeführt. Werden die Nukleartests wiederaufgenommen und kommt in nächster Zeit keine Einigung über einen umfassenden Teststopp zustande, so wird nicht nur die Distanz zwischen den Nuklear- und den Nichtnuklearmächten weiter erheblich vergrößert, sondern das in den letzten Jahrzehnten aufgebaute Nichtweiterverbreitungsregime könnte irreversiblen Schaden erleiden; die weitere nukleare Abrüstung wäre gefährdet.

Sind Nukleartests notwendig?

Zwischen 1945 und 1994 wurden weltweit über 2.000 Atomtests durchgeführt; seit 1963 sind Atomversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser vertraglich verboten. Seit 1974 halten sich auch Frankreich und seit 1980 China daran. Die USA haben in dieser Zeit 1.030 Tests (815 unterirdisch) durchgeführt, die Sowjetunion 715 (508 unterirdisch), Großbritannien 45 (24 unterirdisch), China 41 (18 unterirdisch) und Frankreich 204 (159 unterirdisch).

Zwei wesentliche Begründungen für die Durchführung von Tests werden immer wieder angeführt: a) die Überprüfung der Sicherheit existierender Arsenale sowie b) die Entwicklung neuer Sprengkopftypen. Angesichts von über 200 durchgeführten Tests (d.h fünfmal soviel wie Großbritannien und China) liegen Frankreich genügend Erfahrungen vor, um die Funktionsfähigkeit und Zuverlässigkeit des vorhandenen Arsenals zu garantieren. Die Atomwaffen werden ständig kontrolliert und gewartet. Zusätzlich können Komponenten der Sprengköpfe ausgebaut und einzeln getestet bzw. im Schadensfalle durch neue Komponenten ersetzt werden. Nukleartests sind dazu nicht notwendig. Ein Hauptgrund für die Atomtests ist vielmehr die Weiterentwicklung und »Verbesserung« von Nuklearwaffen. Es ist offenkundig, daß ein neuer Sprengkopf für die für U-Boote vorgesehene strategische Rakete M-5 und ein Sprengkopf für die luftgestützte Abstandswaffe ASLP getestet werden soll. Hiermit setzt Frankreich den qualitativen Rüstungswettlauf durch die angestrebte Realisierung kleiner, zielgenauer Nuklearwaffen fort, die bereits in das Arsenal z.B. der USA eingeführt wurden.

Können Computersimulationen Nukleartests ersetzen?

Immer wieder wird das Argument ins Feld geführt, Simulationen könnten Nukleartests ersetzen. Um Simulationsrechnungen an die Realität anzupassen, werden stets auch experimentelle Daten benötigt. Bei über 200 Tests liegen Frankreich jedoch genügend Daten vor, um Berechnungen für die bisherigen Sprengkopftypen durchzuführen. Auch eine gewisse Extrapolation in bezug auf geänderte Anordnungen sollte damit möglich sein. Allerdings kann man grundlegend neue Bombentypen auf diese Weise nicht entwerfen. Außerdem hat das Militär große Bedenken, sich auf ungetestete Waffen zu verlassen. Dies ist seit über 30 Jahren ein Hauptmotiv der Rüstungskontrollbemühungen für den fehlenden Abschluß eines Vollständigen Teststopps. Daher liegt die Befürchtung nahe, daß ein Teil der Tests der Gewinnung von neuen Daten für »fortgeschrittene Nuklearwaffen« dienen. Darunter sind miniaturisierte Atomwaffen mit selektiver Wirkung zu verstehen, die z.B. gegen unterirdische Bunker eingesetzt werden können.

Durch den geplanten Teststoppvertrag voraussichtlich nicht verbotene Labortests, sog. hydronukleare Tests und Laserfusionsexperimente, könnten, zusammen mit Simulationsrechnungen, dazu dienen, kleinere Sprengköpfe mit begrenzter Energiefreisetzung im niedrigen kt-Bereich weiterzuentwickeln. Bei hydronuklearen Tests wird eine Kettenreaktion mit geringfügiger nuklearer Energiefreisetzung durchgeführt.

Bei den Genfer Teststoppverhandlungen ist nicht nur umstritten, ob den Atommächten hydronukleare Tests überhaupt weiter gestattet sein sollen und, wenn ja, welche Schwellen dabei noch erlaubt sind. Während die USA eine nukleare Energiefreisetzung von über 2 kg TNT-Äquivalent verbieten wollen, tritt Großbritannien für Obergrenzen von 50 kg, Rußland für 10 Tonnen, Frankreich für 100-200 Tonnen und China für 1.000 Tonnen ein. China verlangt zudem, Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken weiterhin durchführen zu können. Jede Nuklearmacht fordert eine Grenze der Testexplosionen, die ihrer eigenen technischen Fähigkeit angepaßt ist. Die USA sind sowohl auf dem Gebiet der Entwicklung von nuklearen Kleinsprengköpfen als auch in der Anwendung von Computersimulationen am weitesten fortgeschritten. Während eine Schwelle von nur 2 kg als solche militärisch nicht relevant ist, können bei einer Grenze von einigen 100 Tonnen bereits neue Miniatursprengköpfe entwickelt und im Orginal erprobt werden. Die Tests dieser »neuen Generation von Nuklearwaffen« auf den bekannten Testgeländen würden die Verifikation eines Teststopps zudem erheblich erschweren. Es ist davon auszugehen, daß die französischen Tests auch der Gewinnung von neuen Testdaten für Miniatursprengköpfe dienen. Damit verbunden wäre die Ablösung der bisherigen französischen Abschreckungsstrategie »des Schwachen gegen den Starken« durch eine nukleare Kriegsführungsstrategie. Die angekündigten Tests gefährden einen Abschluß eines Vollständigen Teststopps deshalb aufs schwerste.

Sind die Nukleartests im Südpazifik ökologisch verantwortbar?

Die 187 Tests auf Mururoa und Umgebung haben bereits großen ökologischen Schaden angerichtet. Die »Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg« (IPPNW) schätzen, daß ca. 20 kg Plutonium auf dem Grund des Atolls abgelagert sind. Hohe Konzentrationen von Plutonium wurden im Plankton festgestellt. Angesichts der vielen Tests und möglicher geologischer Instabilitäten ist nicht auszuschließen, daß zumindest langfristig radioaktive Spaltprodukte ins Meer und damit in die Nahrungskette gelangen. Die geologische Struktur des Mururoa-Atolls ist höchstwahrscheinlich ungeeignet, um die bei Tests entstehenden radioaktiven Substanzen auf Dauer von der Umwelt abzuschirmen. Der tiefergelegene Basalt, in dem die Tests stattfinden, ist nach glaubwürdigen Aussagen von Geologen nicht nur von natürlichen Bruchlinien und Explosionsrissen durchzogen, sondern er ist auch durch Wasser gesättigt, was den Transport von Radioaktivität an die Oberfläche begünstigt. Das vulkanische Gestein Mururoas bildet nicht die geologische Barriere, die immer wieder betont wird. Bisher war es keiner unabhängigen Wissenschaftlerkommission erlaubt, umfassend zu überprüfen, ob die geologische Struktur so sicher ist, wie von offizieller französischer Seite behauptet wird.

Folgende Konsequenzen sind bei der Durchführung der französischen Tests zu erwarten:

1.) Bisher hatte sich nur China nicht dem Teststopp-Moratorium der Atommächte USA, Rußland, Frankreich und Großbritannien von 1992 angeschlossen. Es besteht nun die Gefahr, daß in diesen Ländern wieder die Stimmen Unterstützung finden, die seit Jahren die Wiederaufnahme der nationalen Atomtests fordern. In den USA und in Rußland sind 1996 Präsidentschaftswahlen. Nationalistisch ausgerichtete Kandidaten werden verstärkt für die Wiedereinführung von Nukleartests zur Stärkung der »nationalen Sicherheit« eintreten und sie im Falle ihrer Wahl durchsetzen. Zudem würde eine Chance vertan, China zum Einlenken zu bewegen.

2.) Trotz des Widerstands einiger weniger entwickelter Länder konnte der Nichtverbreitungsvertrag im Mai 1995 ohne Kampfabstimmung unbefristet verlängert werden. Die Sorge vieler Vertragsstaaten, die Atommächte würden bei unbefristeter Verlängerung die begonnene nukleare Abrüstung nicht mit genügendem Ernst vorantreiben, konnte durch zusätzliche Entschließungen notdürftig entkräftet werden. Für viele Nichtnuklearwaffenstaaten ist die Wiederaufnahme der Atomtests nunmehr ein Schlag ins Gesicht. Sie fühlen sich regelrecht betrogen. Damit könnte das internationale Nichtverbreitungsregime nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden.

3.) Die Verhandlungen für einen »universellen, effektiven und verifizierbaren« Vollständigen Teststopp, die in Genf stattfinden und die bis 1996 abgeschlossen sein sollen, werden durch die Tests Chinas und Frankreichs ein weiteres Mal schwer belastet. Zu den ohnehin schwierig zu lösenden Problemen (Gibt es eine Grenze für eine Testexplosion? Sind Laborexperimente und Computersimulationen erlaubt? Wie können die Tests verifiziert werden?) gesellt sich nun die Frage nach der Ernsthaftigkeit des erklärten Willens der Atommächte, die nukleare Abrüstung weiter voranzutreiben. Die Geduld und Kompromißbereitschaft mancher Nichtnuklearwaffenstaaten könnten auf Dauer ein Ende finden.

4.) Ein vollständiger Teststopp ist für die Nichtnuklearwaffenstaaten Symbol und Garant für das Ende des qualitativen Wettrüstens, d.h. für das Ende der Weiterentwicklung immer kleinerer und selektiv wirksamer Atomwaffen. Insbesondere die Atommächte treiben diese Entwicklungen bisher voran. Einerseits besteht die Gefahr, daß die Einsatzschwelle dieser Waffen in einem Krisenfall gesenkt wird. Zum anderen könnten potentielle Nuklearwaffenstaaten veranlaßt werden, den deklarierten Nuklearwaffenstaaten mit eigenen Entwicklungen nachzueifern. Ein Teststoppvertrag, der den klassischen Atommächten hydronukleare Tests und andere Laborexperimente nicht verbietet, beendet nicht die geplanten, qualitativen Weiterentwicklungen. Es wäre kein vollständiger Teststopp, sondern lediglich ein Schwellenvertrag für die Vertragsstaaten, die sich einem solchen Regime anschließen. Er beendet weder die Weiterentwicklung noch die Weiterverbreitung von Atomwaffen. Wenn es das Ziel der fünf erklärten Atommächte ist, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu unterbinden, müssen sie selbst ihre eigenen Tests vollständig beenden.

5.) Nach der Epochenwende von 1989 haben Atomwaffen erheblich an Bedeutung verloren. Fünfzig Jahre nach Hiroshima und Nagasaki sind Nuklearwaffen kein rechtfertigungsfähiges und politisch verantwortbares Instrument internationaler Politik. Zur Aufrechterhaltung einer Abschreckung gegen eine atomare Bedrohung reichen wenige Atomwaffen der ersten Generation aus. Frankreich besitzt mehr als genügend moderne Nuklearwaffen, um eine solche Abschreckung zu gewährleisten. Den heutigen Friedensbedrohungen ist mit wirtschaftlicher Hilfe, Entwicklungsprogrammen und präventiver Diplomatie zu begegnen und nicht mit einer Verfeinerung der Nukleararsenale. Die meisten kriegerischen Auseinandersetzungen haben innerstaatliche Gründe und sind mit Nuklearwaffen nicht zu lösen. Friedensdienlicher wäre es vor dem Hintergrund vieler aktueller Konflikte in der Welt, funktionierende Instrumente für eine effektive Konfliktvorsorge oder ein Krisenmanagement zu entwickeln.

Wir appellieren deshalb an Präsident Chirac und die französische Nation, auf weitere Nukleartests zu verzichten und sich statt dessen für eine Stärkung des Nichtverbreitungsregimes und die möglichst baldige Ratifizierung eines Vollständigen Teststoppvertrages einzusetzen. Wir appellieren an die chinesische Regierung, sich dem Atomtestmoratorium anzuschließen. Schnellstmöglich sollten die Verhandlungen über einen Vollständigen Teststopp in Genf zu Ende geführt werden. Wir appellieren an die Bundesregierung, klar gegen eine Wiederaufnahme der französischen Nukleartests Stellung zu beziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die französische Politik einzuwirken, keine weiteren Nukleartests durchzuführen. Statt dessen sollte sie sich verstärkt für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle engagieren. Wir fordern weiterhin von den Atommächten, ein einseitiges Produktionsmoratorium für kernwaffenfähige, spaltbare Materialien und Tritium zu verkünden sowie dies zu einem dauerhaften »Cut-off-Vertrag» auszubauen. Die überschüssigen, aus dem Rüstungsabbau stammenden, waffenfähigen Inventare aller Kernwaffenstaaten sollen einer internationalen Kontrolle übergeben werden. Dieses Material sollte jeglichem nationalen Zugriff entzogen werden, damit der Abrüstungsprozeß unumkehrbar wird.

  • Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit (CENSIS) in der Universität Hamburg
  • Bonn International Center for Conversion (BICC), Bonn
  • Bochumer Verifikationsprojekt (BVP), Ruhr-Universität Bochum
  • Forschungsgruppe »Non-Proliferation« (Dr. Harald Müller, Dr. Annette Schaper), in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main
  • Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hamburg
  • Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS), TH Darmstadt

Kontakt: Götz Neuneck, IFSH, Falkenstein 1, 22587 Hamburg (T: (040) 869054; F:(040) 8663615)

Wir können nichts mehr für euch tun

Wir können nichts mehr für euch tun

Medizinische Auswirkungen der amerikanischen Atombomben-Einsätze in Hiroshima und Nagasaki

von Wolfgang Köhnlein

Das Jahr 1995 ist ein denkwürdiges Jahr, wir erinnern uns an die Entdeckung der Röntgenstrahlung vor 100 Jahren und an die Atombomben-Explosionen vor 50 Jahren. In diesen Wochen jährte sich darüber hinaus der bisher größte Reaktorunfall des Atomzeitalters zum neunten Mal. Dabei denkt man natürlich sofort an die Unfälle in Windscale 1957, Harrisburg 1979 und die nie ganz aufgeklärten Nuklearkatastrophen in der Sowjetunion in den späten fünfziger Jahren. Es ist nur wenige Wochen her, da erlebten wir den ersten Transport eines Kastorbehälters von Philippsburg nach Gorleben.

Wenn ich heute über die Auswirkungen atomarer Explosionen auf die Gesundheit des Menschen und seine Umwelt sprechen soll, so wird das kein schöner und erbaulicher Vortrag. Ich muß über schlimme und schreckliche Dinge berichten, und ich habe mich bei der Vorbereitung auf diesen Nachmittag oft gefragt, ob es richtig ist, dies alles wieder hervorzukramen, all das Elend und Leid, das durch die Atombombenexplosionen ausgelöst wurde und das bis heute noch nicht beendet und abgeschlossen ist. Noch heute erkranken Menschen an Krebs und sterben daran, die vor 50 Jahren der Atombombenstrahlung ausgesetzt waren. An all die menschenverachtenden Handlungen der siegreichen Amerikaner in Japan, mit ihren Untersuchungen an den Atombombenüberlebenden, an die sich anschließende Eskalation in der Atomwaffenproduktion.

Ist es denn sinnvoll, über die Folgen eines Nuklearkrieges zu referieren? Die Ost-West-Konfrontation ist überwunden – ist sie es wirklich? Einen nuklearen Holocaust wird es nicht geben! Warum also darüber sprechen? Sind nicht andere Probleme viel dringlicher? Etwa die ethnischen Kriege in Afrika oder der Völkermord vor unserer Haustür in Jugoslawien? Doch ist mit der Beendigung der Ost-West-Konfrontation auch das Problem der Atombombenarsenale gelöst? Droht wirklich keine Gefahr? In den zurückliegenden Jahrzehnten sind diese Arsenale geradezu paranoid angefüllt worden. Das Zerstörungspotential hat unfaßbare Dimensionen angenommen. Ein ganz geringer Teil davon ist bis heute »entschärft« worden.

Angesichts dieser Perspektiven ist es vielleicht doch sinnvoll, daran zu erinnern, was zwei kleine reichlich primitive Atombomben vor 50 Jahren bereits für Unheil und Elend über eine zivile Bevölkerung gebracht haben. Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, mit welcher Bedrohung wir gelebt haben und leben.

Eigentlich blieben in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der früheren Jahrhunderte die Kampfhandlungen nicht auf die Truppen beschränkt. Schon immer wurden von der zivilen Bevölkerung hohe Opfer verlangt. Diese Tendenz hat sich in den Kriegen dieses zu Neige gehenden Jahrhunderts zunehmend verstärkt. Die immer schlimmere Brutalisierung und Automatisierung der Kampfhandlungen mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Gegners wird durch die modernen Kriegstechnologien und Strategien begünstigt. Die Achtung vor dem Leben und Ehrfurcht vor der Schöpfung werden nur noch sehr partiell in das Kalkül der strategischen Überlegungen einbezogen. Ich denke an den zweiten Weltkrieg, an Uganda oder Jugoslawien.

Seit den Schrecken und Leiden, die die Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausgelöst haben, ist das nukleare Zerstörungspotential ins geradezu Groteske gesteigert worden und hat Elend, Not und Hunger über viele Länder gebracht, weil finanzielle, intellektuelle und natürliche Ressourcen divertiert wurden. Die Menschheit ist in der Lage, die Grundlagen ihrer Existenz und damit sich selbst zu vernichten.

Ich glaube, daß Naturwissenschaftler und Ärzte in dieser Situation sich ihrer großen Verantwortung bewußt werden müssen. Wir müssen unsere Intelligenz, unser Wissen und unsere Weisheit einsetzen, um die Massenvernichtungswaffen zu ächten und das spaltbare Material von dieser Erde zu verbannen. Die dabei anstehenden Probleme sind offensichtlich von Politikern alleine nicht zu bewältigen, sie brauchen unsere Hilfe.

Ich persönlich sehe eine Möglichkeit dazu, indem ich mein Wissen über die Auswirkungen von Kernexplosionen nicht für mich behalte, sondern weitergebe und damit Aufklärung betreibe. Ich habe selbst erfahren, daß das Ausmaß einer Nuklearkatastrophe für den Menschen nicht faßbar ist. Unser Vorstellungsvermögen reicht dafür nicht aus. Aufgewachsen in einer Periode des 50-jährigen Friedens und Wohlstands sträubt sich unser Intellekt vor einer solchen Realität, und wir begegnen einer Nuklearkatastrophe mit Verdrängung.

Vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, in einer Situation mit mehr Sprengstoff pro Mensch als Nahrungsmittel – und das weltweit – nicht den Verstand zu verlieren.

Ich will durch meine Ausführungen Ihnen heute darlegen, welche schlimmen Auswirkungen die Atombomben auf die Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki hatten, welche Konsequenzen für die medizinische Forschung daraus folgten, wie bereits von 1945 an das wahre Ausmaß der Katastrophe durch die offiziellen politischen und militärischen Stellen verschleiert wurde und wie das Schicksal der Atombombenüberlebenden zur Grundlage der internationalen Richtlinien für den Strahlenschutz wurde.

Eine gewisse Strukturierung meines Vortrags ist bereits durch das Thema gegeben. Ich möchte dennoch eine kurze Gliederung vorstellen. Ich werde zunächst etwas über die Energie, die bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird, sagen und dann auf die akuten medizinischen Folgen eingehen, die an der japanischen Bevölkerung beobachtet wurden. In einem weiteren Abschnitt möchte ich die medizinischen Langzeitfolgen beschreiben.

Unmittelbare medizinische Folgen der Kernexplosionen

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, daß die Bomben in Japan nach heutiger Vorstellung kleine Atombomben waren. Sie hatten eine Sprengkraft von 15 kt bzw. 22 kt TNT. Moderne Atombomben besitzen eine Zerstörungsgewalt im Megatonnenbereich.

Will man eine Megatonne TNT mit der Eisenbahn transportieren, so benötigt man einen Güterzug von ca. 400 km Länge. (Bochum bis Mannheim). Mit dem Energieinhalt einer Megatonne kann man eine Million Tonnen Eis in überhitzten Dampf verwandeln.

Wenn eine Kernwaffe explodiert, wird eine gewaltige Menge Energie freigesetzt. Wo kommt diese Energie her? In welcher Zeit wird sie freigesetzt? In welcher Form tritt sie in Erscheinung? Was bewirkt diese Energie? Wo kommt die Energie her?

In schweren Atomkernen sind die Kernbausteine (Protonen und Neutronen) weniger stark gebunden als in Kernen mittleren Atomgewichts. Wird ein Urankern gespalten, so ist die Bindungsenergie in den Spaltkernen größer als im Ausgangskern. Jedes Nukleon hat kinetische Energie verloren, die nun in der kinetischen Energie der Spaltkerne nach außen in Erscheinung tritt.

Wird ein Uran235-Kern gespalten, so werden im Durchschnitt 200 MeV Energie und zusätzlich zwei bis drei Neutronen freigesetzt, die ihrerseits Uran235 oder Plutonium239 spalten können (Kettenreaktion). Bei jeder Spaltung verdoppelt sich die Anzahl der Neutronen. In Uran235 sind 6×1023 Kerne. Will man alle spalten, so braucht man 6×1023 Neutronen.

Wie viel Zeit braucht man, um so viele Neutronen durch eine Kettenreaktion herzustellen? Wenn wir mit einem Neutron starten, dann benötigen wir 79 Verdopplungsschritte. Die Neutronen haben fast Lichtgeschwindigkeit. Sie gelangen von einem Urankern zum anderen in 10-11 sec. Die Zeit zur Spaltung aller Urankerne ist etwa 80 mal so lang, also 8×10-10 sec.

In welcher Form wird die Energie freigesetzt?

Dies hängt sehr vom Bombentyp ab. Wir müssen also verschiedene Bombentypen betrachten. Eine einfache Spaltbombe (Nagasaki-Typ) besteht aus etwa 10 kg Plutonium239 (Kugel mit Radius 10 cm). Das sind rund 2,5×1025 Plutoniumkerne. Wenn alle gespalten werden, wird eine Energie von 6×1027 MeV oder 6×1014 Joule freigesetzt. In Wirklichkeit werden nur ca. 10% der Kerne gespalten, also rund 6×1013 Joule freigesetzt.

Wenn so viel Energie in einem so kleinen Volumen frei wird, dann erhitzt sich das Volumen auf 108C und es entsteht ein Überdruck von 100 Millionen Atmosphären.

Neben den reinen Spaltbomben gibt es die thermonuklearen Bomben, die auch Wasserstoffbomben genannt werden. Es sind Fusionsbomben mit einem Spaltbombenzünder. Bei der Fusion wird ebenfalls viel Energie frei und außerdem sehr schnelle Neutronen, die sogar Uran238 spalten können. Das führt zur Spaltungs-Fusions-Spaltungsbombe.

Eine thermonukleare Waffe ohne den äußeren Uran238-Mantel ist eine Bombe mit besonders hoher Neutronenstrahlung (Neutronenbombe). Der Spaltungsprozess führt zu einer extrem heißen, sich rasend schnell ausbreitenden Masse von radioaktiven Kernfragmenten.

Dieser Feuerball dehnt sich schnell aus. Zwei Mechanismen sind dafür verantwortlich.

1. Der Feuerball emittiert Gamma- und Röntgenstrahlung, die die umgebende Luft so stark erhitzen, daß sie für Röntgenstrahlung transparent wird. Weitere Schichten werden dadurch exponiert, die dann UV- und sichtbares Licht emit tieren.

2. Der unwahrscheinlich hohe Druck innerhalb des Feuerballs komprimiert die umgebende Luft plötzlich, dadurch wird die Luft extrem erhitzt, so daß sie leuchtet.

In der ersten Sekunde nach der Explosion breitet sich ein glühender überhitzter Luftwall und ein gigantischer Strahlenpuls, dessen Strahlung sich von Röntgenlicht über UV- und sichtbares Licht zu thermischer Infrarot-Strahlung ändert, vom Detonationspunkt her aus und verschlingt alles, was in seinem Weg steht.

Bei Testexplosionen in der Wüste von Nevada hat man an Häusern, die mit dem in Japan üblichen Baumaterial erstellt wurden, die Wirkung von Hitze- und Druckwelle untersucht. Bei einer 15 kt Explosion entzündet sich ein rund 1200 m vom Explosionsort entferntes Haus fast augenblicklich und wird bereits 2,3 sec später durch die Druckwelle völlig zerstört.

Was bewirkt die plötzlich freigesetzte Energie?

Der sich ausdehnende Feuerball erzeugt eine Reihe physikalischer Phänomene:.

1. Hitzestrahlung

2. unmittelbare radioaktive Strahlung (Gamma, Neutronen)

3. Schockwellen mit Überdruck

4. Explosionskrater

5. Erdbeben

6. Elektromagnetische Pulse

7. Radioaktivität (»Fall-out«)

8. Zerstörung der Ozonschicht

Während Hitzestrahlung, unmittelbare radioaktive Strahlung und Fallouteffekte von meteorologischen Bedingungen abhängig sind, ist das bei der Überdruck-Schockwelle weniger der Fall.

Die akuten, durch Atombombenexplosionen hervorgerufenen Verletzungen kann man einteilen in Verbrennungen, mechanische Verletzungen (Knochenbrüche, innere Verletzungen, große Wunden, durch umherfliegende Trümmer verursacht) und Strahlenschäden. Am häufigsten kamen in Hiroshima und Nagasaki Kombinationen dieser Verletzungen vor. Viele Menschen starben sofort an dem unmittelbaren Druck und an den Hitzewirkungen. Andere erlagen den Verbrennungen und Wundtraumata, bevor sich ein akutes Strahlensyndrom ausbilden konnte.

Sehr viele Menschen wären an den Strahlendosen gestorben, wenn sie die Verbrennungen und Verwundungen überlebt hätten. Fast alle Menschen, die innerhalb der ersten zehn Wochen nach der Bombe starben, zeigten die Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Die strahleninduzierte Zerstörung des Knochenmarks war hier der kritische Strahlenschaden, der zum Tode führte. In diesen Fällen ist die verminderte Anzahl der Leukozyten und Plättchenzellen im Blut Grund für erhöhte Infektionsgefahr und innere Blutungen, die dann die Haupttodesursachen waren.

Verletzungen durch die Hitzewelle

Die Hitzestrahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und erreicht ihr Ziel noch vor der Druckwelle. Die durch die Explosion erzeugte Hitze hatte in der Nähe des Hypozentrums eine Temperatur von 3000 – 4000C. Die Hitzewelle war kurz, etwa eine sec. lang. In etwa zwei km Entfernung betrug die Temperatur »nur noch« 500 – 600C. Diese intensive Wärmestrahlung erzeugte direkte Verbrennungen, aber auch indirekt durch entzündete Feuer. Alle Menschen, die sich im Freien innerhalb 4 km vom Hypozentrum aufgehalten hatten, erlitten Verbrennungen, zum Teil schwere Verbrennungen.

Menschen innerhalb eines Kilometers verdampften oder verkohlten. Auch Menschen, die sich in Gebäuden aufhielten, erlitten teilweise schwerste Verbrennungen durch die heißen Gase und glühenden Staubmassen, obwohl sie der direkten thermischen Strahlung nicht ausgesetzt waren.

Während die direkten Verbrennungen nur auf der dem Explosionsball zugewendeten Körperseite zu finden sind, treten die indirekten Verbrennungen an allen Körperseiten auf. Sie dringen tiefer ein als die Blitzverbrennungen. Unterschiede im Heilungsprozess dieser Verbrennungsarten wurden offenbar nicht beobachtet. In Hiroshima und Nagasaki waren die Verbrennungen extrem häufig, denn viele Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Weg zur Arbeit. Verbrennungen waren die Haupttodesursache am Tag der Bombenexplosion. Viele, die durch die Druckwelle verletzt wurden, waren unfähig, der Feuerwelle und dem Feuersturm, der noch viele Stunden nach der Explosion wütete, zu entfliehen. Verbrennungen wurden selbst unter der Kleidung noch 2,5 km von Hypozentrum entfernt hervorgerufen.

Bei Menschen, die sich im Augenblick der Explosion vier km vom Zentrum im Freien aufhielten, wurden noch leichte Verbrennungen festgestellt. Die Befunde von Hiroschima und Nagasaki über die Verbrennungen sind recht ähnlich. Blitzverbrennungen 1. Grades wurden noch bei Personen, die fünf km vom Epizentrum in Nagasaki entfernt waren, festgestellt.

Bei einer Energiedichte von:

12 Joule/cm² Verbrennungen 1. Grades

35 Joule/cm² Verbrennungen 2. Grades

20 Joule/cm² Blätter und Papier entzünden sich

60 Joule/cm² Möbel, Kleider, Gardinen brennen

Viele Menschen, die in den Feuerball blickten, erblindeten, teilweise vorübergehend. Nach dem Verheilen der schweren Verbrennungen wurde häufig eine Wucherung des Narbengewebes beobachtet, besonders bei Überlebenden aus der 2,5 km Zone. Diese Keloide genannten Wucherungen entstellten die Opfer und führten unter anderem zu einer sozialen Ausgrenzung der Hibakusha (Überlebende der Atombombenabwürfe).

Aus der 1,5 km Zone gab es fast keine Überlebenden mit Verbrennungen. Die Überlebenden, die es aus dieser Zone gab, waren offensichtlich vor der direkten Wärmestrahlung und der Atomstrahlung geschützt, denn sie hielten sich in Kellern oder Schutzräumen auf.

Verletzungen durch die Druckwelle

Im allgemeinen wird jedes Gebäude, das nicht speziell für eine besondere Druckresistenz gebaut ist, zerstört, wenn es einem Überdruck von fünf oder mehr p.s.i. (entsp. 35 kPa) ausgesetzt ist. Gebäude, die bei diesem Druck nicht zusammenstürzen, werden jedoch so geschädigt, daß eine Reparatur nicht mehr möglich ist.

Drucke werden in verschiedenen Dimensionen angegeben. Zur Umrechnung dient die folgende Gleichung: 1 p.s.i.=70 g/cm2=700 kg/m² ; 5 p.s.i.=3,5 t/m2=35 kPa

Der durch die Bombe erzeugte Explosionsdruck lag in Japan bei 35 bis 55 kPa am Hypozentrum.

Die Explosion besteht aus zwei Phasen: Kompression und Unterdruck. Die Kompressionsphase dauerte 1 bis 2 sec. Die mechanischen Verletzungen, hervorgerufen durch die Druckwelle, sind direkt aber häufiger indirekt. Hauptsächlich werden sie durch einstürzende Gebäude und durch mit hoher Geschwindigkeit umherfliegende Trümmer verursacht. Da der menschliche Körper höhere Drucke aushalten kann als die meisten Gebäude, wurden die meisten Opfer der Druckwelle durch indirekte Effekte bedingt, aber auch dadurch, daß Menschen von der Druckwelle erfaßt, zu Boden geschleudert oder auf feste Strukturen geworfen wurden. Dagegen gab es weniger Opfer in den japanischen Holzhäusern. Menschen, die sich im Freien aufhielten, hatten am wenigsten unter der Druckwelle zu leiden. Wir beobachten also hier genau die entgegengesetzte Reihenfolge als bei den Verbrennungen. Feste Gebäude und Wände bedeuteten also das größere Risiko, besonders in dem dem Hypozentrum nahen Bereich. Bei den Überlebenden waren alle Arten von Verletzungen zu finden. Angefangen von kleineren Verwundungen bis hin zu schweren Quetschungen und Knochenverletzungen. Am häufigsten waren die Verletzungen durch Glassplitter und herabfallende Trümmer.

Die Schwerverletzten hatten keine Chance zu überleben. Da fast keine ärztliche Hilfe unmittelbar nach der Explosion zur Verfügung stand – die meisten Krankenhäuser und Sanitätsstationen waren der Explosion zum Opfer gefallen, genauso wie die meisten im Gesundheitswesen tätigen Personen – und wegen der bald einsetzenden Leukopenie als Folge der Strahlenwirkung, führten bereits geringfügige Verletzungen und Wunden, die normalerweise schnell verheilt wären, zu schweren Infektionen. Die Druckwelle führte auch zu großen Schäden am Gehörorgan. Teilweise waren es Dauerschäden.

Aus den Erfahrungen der Explosionen in Hiroshima und Nagasaki hat die Atom-Energie-Kommission (AEC) das Konzept der Todeszone entwickelt. Dabei wird angenommen, daß auf der Fläche, die mindestens einen Überdruck von 35 kPa erhalten hat, die Anzahl der Überlebenden gleich der Anzahl der Opfer außerhalb dieser Fläche ist, die dann weniger Überdruck abbekommen hat. Diese Annahme ergibt dann die Sofort-Toten aus der Fläche und der Bevölkerungsdichte.

Die Wirkung der radioaktiven Strahlung

Obwohl die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki die erste Gelegenheit waren, um die Wirkung massiver Strahlendosen auf den Menschen zu beobachten, ist doch wenig über die schweren Strahlenverletzungen, die unmittelbar zum Tode führten, bekannt, weil die Fälle nicht autopsiert wurden. Weiterhin verhinderte die sehr hohe Zahl der Todesfälle und der schweren Verletzungen in den ersten Tagen nach der Bombe jede genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkung. Außerdem war den überlebenden Ärzten unbekannt, daß es sich um radioaktive Strahlung handelte.

Bei einer 20 kt Atombombe ist die unmittelbare Strahlung in 1.000 m Entfernung in 2 sec. auf rund 80% des Gesamtwerts angestiegen (100%=50 Gray (Gy)). Bei 5 Mt in 2,3 km Entfernung dauert es rund 8 sec. (100%=400 Gy). Selbst wenn man zum Zeitpunkt der Explosion in einen tiefen Schützengraben springen könnte, hätte man bereits 40 Gy im ersten Fall und 90 Gy im zweiten Fall abgekriegt. Beide Dosen sind absolut tödlich.

Die Symptome der Strahlenkrankheit bei Opfern, die drei Wochen nach der Bombe noch am Leben waren, sind etwas genauer erfaßt worden. Man muß aber beachten, daß die Kriterien für die Diagnose der Strahlenschädigung nur sehr schwierig festzulegen sind, da die Schädigungen sich in vielen Fällen nicht unmittelbar manifestieren und bestimmte Symptome auch anderen Ursachen zugeschrieben werden können und damit das Bild weiter verkomplizieren. So waren die Menschen, die einer hohen Dosis ausgesetzt waren, natürlich auch im Bereich der Hitzewelle und der Druckwelle. Die psychische Belastung blieb ebenfalls nicht ohne Folgen.

Die klinischen Symptome

Die Überlebenden innerhalb eines Kreises von 1.000 m waren großen Dosen ausgesetzt. Nur die Menschen, die sich in geschützten Kellern aufhielten, waren weniger exponiert. Bei 1.000 m betrug die Dosis in der Luft noch ca. 4,5 Gy. Bei der Explosion einer 1 Mt Bombe führte die radioaktive Strahlung im Zentrum zu einer Dosis von 110 Gy und in 3 km noch 100 Gy. In Hiroshima führten die Dosen bis 4,5 Gy zu Haarausfall, Blutungen in das Hautgewebe und in die inneren Organe, zu Ulcerationen im Rachen, zur Zerstörung der Kryptzellen im Darm, zur Zerstörung des roten Knochenmarks und zum Verlust der Immunabwehr.

Chronologisch können die Symptome und Anzeichen folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Die Phasen des Strahlensyndroms

Phase I Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit für einige Tage

Phase II Vorübergehende Besserung. Die Dauer ist der Dosis umgekehrt proportional.

Phase III Fieberanfälle mehrere Wochen lang, Haarausfall, Ulceration der Schleimhäute, Infektionen, innere Blutungen, Durchfälle

Phase IV Entweder Verschlechterung des Zustandes und Tod oder langsame Rekonvaleszenz mit möglicher Gesundung

In vielen Fällen wurde die zweite Phase der vorübergehenden Besserung nicht beobachtet. Bei Schwerverletzten begann die Fieberphase oft schon am 3. Tag mit schweren Durchfällen, bis der Tod eintrat. Bei leichter Verletzten wurde der Haarausfall etwa 10 bis 14 Tage nach der Bombe beobachtet, gleichzeitig begann die Fieberphase und bald darauf traten die inneren Blutungen und Schleimhautschäden auf. Die Schwere der jeweiligen Schäden war dosisproportional. Wer mit Dosen um 4,5 Gy und mehr bestrahlt wurde, verstarb innerhalb zwei Wochen. Weniger hoch, aber immer noch mit letalen Dosen bestrahlte Menschen starben unter entsetzlichen Qualen und im Delirium in der 6. bis 8. Woche nach der Bombe.

Klinischer Verlauf und Prognose

Grobe Abschätzungen sagen, daß rund 200.000 bis 250.000 Menschen innerhalb der ersten 8 Wochen nach der Bombe umkamen. Davon sind rund 50% in den ersten 6 Tagen gestorben und 96% in den ersten 3 Wochen. Man kann sich denken, welche Probleme allein die Beseitigung der Leichen aufgab. Da Vielfach-Verletzungen (Hitze, Druck, Strahlung) besonders häufig vorkamen, war die Todesursache in vielen Fällen unbekannt, dies gilt vor allem für die Opfer, die innerhalb der ersten 3 Wochen starben.

Doch zeigten gerade diese fast durchweg die Symptome der Strahlenkrankheit. Natürlich trugen auch die Verbrennungen und Verletzungen dazu bei, daß viele nicht überleben konnten. Die meisten Menschen, die innerhalb der ersten 2 bis 3 Wochen starben, hatten auch abnorm veränderte Blutbilder. Der klinische Verlauf und die Prognosen waren sehr unterschiedlich wegen der unterschiedlichen Verletzungsursachen (Hitze, Druck, Strahlung). Genaue Dosis-Wirkungsbeziehungen beim Menschen sind nicht bekannt, selbst bei homogener Ganzkörperbestrahlung. So kann man nur eine Einteilung in verschiedene Gruppen machen:

Gruppe 1: Dosisbereich bis 6 Gy, bereits nach 2 Wochen keine Überlebenden, Gruppe 2: 3 bis 4 Gy, nach 3 bis 6 Wochen nur noch 50% Über lebende, Gruppe 3: 2 bis 3 Gy, nach 6 Wochen rund 90 % Überlebende, Gruppe 4: 1 bis 2 Gy, keine Todesfälle.

Anzahl der Opfer

Es gibt auch heute noch keine genauen Angaben über die Anzahl der Opfer. Das kommt zum einen daher, weil die Opfer nicht alle geborgen werden konnten, weil die Unterlagen über die damalige Bevölkerung mit zerstört wurden, und weil es keine Angaben mehr über die Soldaten und die koreanischen Zwangsarbeiter gibt, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki stationiert bzw. dort gearbeitet haben. Die genaue Größe dieser beiden Gruppen ist unbekannt. Man weiß nur, daß es sehr viele waren.

Die Atomic Bomb Casuality Commission (ABCC), der in den Wochen und Monaten nach der japanischen Kapitulation vor allem daran gelegen war, daß keine Informationen über die verheerende Wirkung der Atombomben an die Weltöffentlichkeit drangen, die sogar verbot, das Wort »Atombombe« zu benutzen, gibt in ihren zunächst geheimen Berichten folgende geschätzte Zahlen an:

Hiroshima Nagasaki
60.000 41.000
Verbrennungsverletzte Verbrennungverletzte
78.000 45.000
Druckverletzte Druckverletzte
35.000 22.000
Strahlenverletzte Strahlenverletzte

Hämatologische Befunde

Verlust der Knochenmarkszellen als Bestrahlungsfolge ist eine sehr kritische Schädigung, die zum Tod führt. Ebenso wurde eine Abnahme der roten und weißen Blutzellen beobachtet. Es wurden aber in den ersten Tagen nach der Bombe nur wenig Knochenmarksuntersuchungen und Blutanalysen durchgeführt, da die überlebenden Ärzte mit anderen Aufgaben überlastet waren.

Auswirkung der Bestrahlung auf die Spermatogenese

Die Anzahl der Spermien ist stark reduziert in den Überlebenden. Diese Reduktion hält lange an und ist teilweise permanent. Ganz ähnliche Befunde wurden später auch bei den Überlebenden der Strahlenunfälle auf dem Bikini-Atoll beobachtet.

Hygienische Folgen

Die Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki zeigen, daß neben den mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Kernexplosion auch die Zerstörung der sozialen Strukturen einhergeht. Neben den bereits beschriebenen Auswirkungen, die die Psyche der Überlebenden weit über die Grenzen des Erträglichen belastet, kommt die Aufgabe, die Opfer zu beerdigen, sanitäre Einrichtungen zu erstellen und den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, die bei den ebenfalls geschwächten Überlebenden katastrophale Auswirkungen hatten. In Japan war diese Aufgabe teilweise zu lösen, weil noch eine partiell intakte Umwelt bestand, aus der Hilfe gebracht werden konnte. Diese Hilfe war natürlich gering, da Japan militärisch wie wirtschaftlich bereits durch die konventionelle Bombardierung der Städte am Ende war. Trotz dieser bald von außen eintreffenden Hilfe war in den Tagen und Wochen nach der Bombe in Hiroshima und Nagasaki eine enorme Insektenplage zu beobachten. Unzählige Fliegen quälten die Leidenden und Sterbenden, die zu schwach waren, sich zu wehren.

In den Wunden vieler Opfer fand man Maden. Die Kadaver der Haustiere, die überall herumlagen, boten den Insekten einen hervorragenden Boden zur Vermehrung. Die nur mit unzureichenden sanitären Mitteln versorgten Menschen bekamen Läuse, Infektionskrankheiten breiteten sich aus. Die Beerdigung der Toten wurde zu einem großen Problem. Überall verwesten Leichen und Tierkadaver in der Sommerhitze. Haustiere und Vögel litten unter dem Strahlensyndrom und verendeten. Die Versorgung der Kranken und Verwundeten überforderte die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. Der Geruch von Tod und Verwesung lag über den Trümmern der Städte.

Medizinische Langzeitfolgen

Die katastrophalen Folgen hoher Bestrahlungsdosen haben wir kennengelernt. Was sind die Folgen kleinerer Dosen? Hier spielen die sogenannten stochastischen Strahlenwirkungen eine große Rolle. Damit sind die Veränderungen im Erbmaterial, also die Mutationen in den Zellen, gemeint. Finden diese in den Oozyten oder in den Spermien statt, so kann das zu veränderten, d.h. mutierten Individuen in der nächsten Generation führen. Sind dagegen die Körperzellen der Bestrahlten verändert, so kann es zu einer Krebserkrankung kommen, die erst viele Jahre später klinisch manifest wird.

Die Organisationen, die mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der medizinischen Folgen der Atombombenexplosion beauftragt waren, die ABCC und später die RERF, haben in langjährigen Studien zunächst etwa 135.000 Überlebende, deren Aufenthalt und Position zum Zeitpunkt der Bombe angebbar war, in eine Lebenszeitstudie aufgenommen, sie in verschiedene Dosiskohorten eingeteilt und immer wieder Teilergebnisse ihrer Analysen publiziert.

Dabei haben sie sich besonders der Frage der Kanzerogenität gewidmet. Genetische Folgeschäden und allgemeine Schwächung des Gesundheitszustandes waren nicht ihr Untersuchungsziel.

Das hatte zur Folge, daß solche Strahlenwirkungen, wenn sie bei den Fallout-Geschädigten oder anderen strahlenbelasteten Populationen beobachtet wurden, von den offiziellen Stellen nicht mit der Strahlung in Verbindung gebracht wurden, weil eben allgemeine Gesundheitschwächungen und genetische Folgeschäden in Hiroshima und Nagasaki nicht berichtet wurden.

So wurde in den Jahren 1950 bis 1965 fast nur in den höher exponierten Teilkohorten eine mit der Dosis zunehmende Krebsrate beobachtet. Da weitaus der größte Teil der in die Studie aufgenommenen Personen, nur mit Dosen unter 100 cGy belastet wurde und bei ihnen keine statistisch gesicherte Zunahme der Krebsrate zu beobachten war, glaubte man bis in die Mitte der siebziger Jahre, daß Bestrahlungen mit niedrigen Dosen, wie sie in der Nuklearindustrie oder bei medizinisch-diagnostischer Anwendung von Röntgenstrahlung auftreten, kein zusätzliches Risiko für die menschliche Gesundheit bewirken.

Inzwischen häuften sich aber die Berichte, daß auch kleine Dosen kanzerogene Wirkung haben. Aber die Autorität der RERF-Wissenschaftler und die politischen Kräfte hinter ihnen waren so mächtig, daß wissenschaftliche Ergebnisse über die Mutagenität und Kanzerogenität kleiner Dosen, die nicht mit den Japandaten übereinstimmten, als fehlerhaft und unglaubwürdig abgetan wurden.

Die Kritik an den Ergebnissen der RERF wurde immer lauter und wissenschaftlich immer fundierter. Dann zeigte sich, daß mit längerer Beobachtungsdauer auch in den niedrig belasteten Kohorten die Krebshäufigkeit signifikant erhöht war. Außerdem ergaben neuere Berechnungen und Messungen über die Strahlungsstärke der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, daß man bisher die Dosen überschätzt hatte. Es wurde auch langsam klar, daß die Neutronendosen wegen der relativ hohen Luftfeuchtigkeit damals im August 1945 kleiner waren als angenommen.

Schließlich zeigte sich, daß die als unbestrahlt betrachtete Kohorte teilweise erhebliche Fallout-Dosen abbekommen hatte.

Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich ein erheblich höheres Strahlenkrebsrisiko als bisher angenommen wurde. Die alten Vorstellungen sind aber immer noch die Grundlage für unserer Strahlenschutzverordung.

Mit Hilfe der publizierten Rohdaten der RERF haben verschiedene Wissenschaftlergruppen ebenfalls Risikoanalysen durchgeführt und sind zu wesentlich höheren Strahlenrisiken gekommen (siehe Tabelle).

Teilweise liegen diese Werte um den Faktor 10-20 über den Werten der RERF und sind vergleichbar mit den so lange geächteten Ergebnissen von Untersuchungen an anderen exponierten Personengruppen (Nukleararbeiter, Patienten, in utero exponierte Feten etc.) Diese Diskrepanz in einer eminent wichtigen Frage, in der die offiziellen Strahlenschützer so sehr auf Übereinstimmung bedacht waren, hat zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung geführt, die noch lange nicht beendet ist. Doch zeichnet sich immer mehr ab, daß mit den Hiroshima/Nagasaki-Daten zu viel herum manipuliert wurde, nachdem die ersten Teilergebnisse vorhanden waren und damit eine der Grundregeln der epidemiologischen Forschung nicht beachtet wurde (keine Änderung der Ausgangsdaten, nachdem erste Ergebnisse vorliegen).

Ich persönlich habe große Bedenken, diese Daten auch weiterhin als die wesentlichen Grundlagen unserer Strahlenschutzgesetzgebung zu akzeptieren. (Die Bestrahlungsbedingungen in Japan sind nicht vergleichbar mit Expositionen am Arbeitsplatz. Die Strahlenqualität unterscheidet sich erheblich von diagnostischer Röntgenexposition.) Ich stehe damit nicht ganz alleine da, aber die Mehrheit der Strahlenbiologen, Radiologen und Anwender von Strahlung ist da anderer Auffassung.

Was kann man tun?

Gestatten Sie mir nach all den schrecklichen Tatsachen und Perspektiven, die ein ausgedehnter Einsatz von Atomwaffen mit sich bringt, einige Worte darüber, was wir aus dem Gehörten und Gesehenen eigentlich folgern müßten:

Was kann man tun, Herr Doktor? Wie oft haben Ärzte diese Frage gestellt bekommen, sei es von schwerkranken Patienten selbst oder von den Angehörigen angesichts unheilbarer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen. Niemals ist es gerechtfertigt, eine solche Frage negativ zu beantworten. Niemals, denn selbst wenn nichts mehr getan werden kann, so können doch Schmerzen gelindert und Zuspruch erteilt und Trost gespendet werden. Können Ärzte auch keine Heilung mehr anbieten, so können sie doch immer noch den Kranken versorgen. Auch aus diesem Grunde genießen Ärzte Vertrauen. Die Menschen würden also sehr wohl aufmerken und zuhören, wenn Ärzte wie etwa die IPPNW einmütig und eindeutig aussprechen, daß nichts, aber auch gar nichts getan werden kann, um die physikalischen und psychologischen Wirkungen von Atombomben zu mildern oder erträglich zu machen. Eine thermonukleare Katastrophe ist ganz einfach nicht zu ertragen. Wer davon noch nicht überzeugt ist, sollte nur einmal die Berichte der wenigen überlebenden Ärzte aus Hiroshima und Nagasaki lesen. Die medizinischen Perspektiven müssen auch den Politikern klargemacht werden und wer könnte das besser als die Ärzte? Ich frage mich oft, woran die Physiker und Ingenieure denken, die diese Waffen entwickelt und ihren Einsatz logistisch vorgeplant haben! Die Zahlen der zu erwartenden Todesopfer bei verschiedenen nuklearen Szenarien können für den Militärstrategen durchaus unterschiedliche Bedeutung haben. Sie haben aber nur eine Bedeutung für den Arzt.

Was ist das für eine Sprache!: Da ist die Rede von nur 2 Millionen oder 20 Millionen Toten nach einem »chirurgischen« Angriff auf gewisse Ziele! Der Militärstratege sagt dann nach Substraktion der Toten, es wird immer noch soviel Millionen Überlebende geben. Ein Arzt weiß, welcher Aufwand erforderlich ist, um nur einen schwer brandverletzten oder einen Strahlenpatienten zu versorgen und kann leicht mit der Anzahl der Verwundeten und Hilfebedürftigen multiplizieren. Dieses sind die Perspektiven, die die Ärzte den Strategen vermitteln müssen. Noch vor 10 bis 15 Jahren machte das Wort vom begrenzten und führbaren und gewinnbaren Atomkrieg die Runde, was auch immer die strategischen Implikationen sein mögen, das ist aber absolut sinnlos in medizinischer Betrachtungsweise. Die heute von mir angesprochenen Perspektiven sind schon lange bekannt. Sie geraten aber zunehmends in Vergessenheit, besonders in einer Zeit des Friedens und der Entspannung.

Trotzdem müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die noch vorhandenen nuklearen Zerstörungspotentiale zu vernichten. Nur durch den totalen Abbau der Kernwaffen werden die Führer der nuklearen Supermächte die Wahrscheinlichkeit verringern, daß nämlich eines Tages die überlebenden Ärzte zu den Opfern sagen müssen: Wir können nichts mehr für euch tun.

Anmerkung

Der Artikel basiert auf einem Manuskript eines Vortrages, den der Autor in der Vorlesungsreihe »50 Jahre Hiroshima« an der Ruhr-Universität Bochum am 30. Mai 1995 hielt.

Literatur

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Für die Tabelle ausgewertete Einzelquellen

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300.000 deutsche Ärzte fordern Abschaffung aller Atomwaffen

Der 98. Deutsche Ärztetag 1995, der letzte Woche in Stuttgart tagte, forderte einstimmig die verantwortlichen Politiker auf, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen (Drucksache IV-25). Der Deutsche Ärztetag ist die Vertretung der 300.000 Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland.

50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, an denen mindestens 100.000 Menschen sofort und 400.000 Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung starben, tritt die deutsche Ärzteschaft mit dieser Forderung gegen die atomare Bedrohung von Leben und Gesundheit ein. Dabei läßt sie sich von der Erkenntnis leiten, daß es bei radioaktiver Verstrahlung keine effektive medizinische Hilfe mehr geben kann.

Die deutschen Ärzte stehen damit an der Seite der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die den Weltgerichtshof in Den Haag beauftragten, die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen zu prüfen.

Heute gibt es immer noch über 48.000 atomare Sprengköpfe auf der Welt. Diese haben eine Sprengkraft von 50.000 Hiroshima-Atombomben. Die Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima zur Explosion gebracht wurde, hatte eine Sprengkraft von 13 Tonnen. Mehr als 360 Tonnen atomwaffenfähiges Plutonium lagern auf der Welt. Die Gefahr einer Atombombenexplosion, sei es durch Unfall, Terrorismus oder Krieg ist noch lange nicht gebannt.

Mit ihrer Forderung, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen, setzen die deutschen Ärzte für ihre Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt ein Zeichen, sich dieser Forderung anzuschließen und sich für eine Welt frei von atomarer Bedrohung einzusetzen.

Berlin, 1. Juni 1995

Dr. Wolfgang Köhnlein ist Biologe und arbeitet am Institut für Strahlenbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

im Elysee-Palast wird gerne von glorreichen Zeiten geträumt. Vor allem, wenn ein neuer Präsident in die Fußstapfen des großen General de Gaulles treten möchte. Der Rückgriff auf die nukleare Abschreckungsmacht scheint in der Welt der Neunziger obsolet. Aber die »grande nation« muß sich schließlich behaupten: Deutschland, Japan und andere Staaten drängen in den UN-Sicherheitsrat; mit Maastricht II soll eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas angebahnt werden. Da scheint die Positionierung Frankreichs als exklusiver Macht besonders angebracht.

Nicht gerechnet hat die Chirac-Regierung indes mit einer solchen Protestwelle, wie sie derzeit von Papeete bis Paris rollt. In Europa ist Frankreich isoliert. Chirac muß daher einiges tun, um sich aus dieser unschönen Lage zu befreien. Die französischen Atomwaffen könnten einen Schutzschirm für ganz Westeuropa bilden, wird verkündet. Ein alter Hut. Das wurde in Paris schon vor mehr als zwanzig Jahren behauptet. Also noch zu Zeiten, als französische Kurzstreckenraketen im Ernstfall deutsches Territorium verwüstet hätten. Nur zum Schutz versteht sich. Wenn jetzt diese schöne Mär wiederbelebt wird, riecht das nach Taktik. Noch am 21. Juni hatte der französische Botschafter in einem Schreiben an alle Bundestagsfraktionen das Loblied „autonomer Abschreckung“, die „die letzte Garantie für Frankreichs Sicherheit“ sei, gesungen. Viel spricht dafür, daß es darum geht, die Gemüter zu beruhigen und die selbstverschuldete Isolation zu überwinden.

Vielfältige französische Offerten liegen inzwischen auf dem Tisch. Frankreich sei bereit, seine Atomwaffen in eine europäische Verteidigung »zu integrieren«. Der Dialog über die Rolle der Atomwaffen in der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wird angeboten. Premierminister Juppé prägte das Wort von der „konzertierten Abschreckung“. Allen Vorschlägen gemeinsam ist, daß sie auffallend vage bleiben.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Pflüger hat, gerade aus Paris zurückgekehrt, treuherzig versichert, einige dächten dort sogar an ein »Zwei-Schlüssel-System«, also eine Art Mitentscheidungsrecht für Deutschland. Gott erhalte dem Manne seine Naivität. Dies wird auf absehbare Zeit nicht Wirklichkeit werden. Realitätsnäher scheinen Überlegungen zu sein, eine Art nukleare Teilhabe für Deutschland einzuräumen, wie sie ja auch in der NATO praktiziert wird. Deutschland solle z.B. im deutsch-französischen Verteidigungsrat über Strategie, Einsatzdoktrin und -planung mitreden können. Im Zusammenhang mit der Bildung eines neuen, westeuropäischen Militärblocks (WEU) bahnt sich hier eine Debatte an, die ernst genommen werden muß.

Es ist ein altes Motiv französischer Außenpolitik, Deutschland »einbinden« zu wollen. Die Sorge vor einem übermächtig werdenden Deutschland ist in den letzten Jahren – nicht ohne Grund – gewachsen. Angebote zur nuklearen Teilhabe können auch als Rückversicherung verstanden werden, einem deutschen Griff nach der Bombe »im Alleingang« zu wehren.

Ein weiterer Aspekt: Es dürfte Paris schwerfallen, die beanspruchte weltpolitische Gestaltungsrolle allein auszufüllen.

Es braucht Deutschland als Partner. Dieses Tandem soll Europa anführen und damit Europa gebührende Weltgeltung verschaffen.

Seitenverkehrt wird hier am Rhein in ähnliche Richtung gedacht. In Schäubles Papier über Kerneuropa wurde der militärischen Integration eine bevorzugte Rolle eingeräumt. Nicht unmaßgebliche Teile der Regierungskoalition in der Bundesrepublik halten die Situation für günstig, die offengehaltene nukleare Option dezent ins Spiel zu bringen. In den Debatten des Bundestages über die Atomtests haben Unionspolitiker von den „nuklearen Komponenten“ europäischer Verteidigungspolitik gesprochen. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Karl Lamers drängt seit Jahren: Deutschland müsse im vereinigten Europa über die Atomwaffen Frankreichs und Englands mitverfügen. Auch Lamers u. Co. wissen, daß die Bundesrepublik nicht selbständige Atommacht werden kann.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes hat sich nach der ersten Einlassung Juppés beeilt zu sagen, man wolle „den Eindruck vermeiden, Deutschland strebe nach einer nuklearen Teilhabe“. Ähnlich zurückhaltend die Minister Kinkel und Rühe. Über eine Änderung der französischen Strategie solle selbstredend „im Rahmen der europäischen Verteidigungspolitik“ gesprochen werden. Man braucht der Bundesregierung nicht zu unterstellen, daß sie auf nukleare Mitverfügung versessen sei. Die Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik wird als Chance gesehen, um eigene Machtinteressen besser durchsetzen zu können. Eine zweite nukleare Teilhabe in diesem Rahmen wird als Aufwertung der Bundesrepublik, als Machtzuwachs interpretiert. Die exklusive Rolle der Atommächte Frankreich und Großbritannien soll aufgeweicht werden. Schließlich möchte die Regierung ja als gleichberechtigtes Mitglied in den UN-Sicherheitsrat.

Für die kritische Öffentlichkeit höchste Zeit, wachsam die Pläne über diese Ambitionen der Bundesregierung zu verfolgen. Noch erfolgt der Aufbau eines neuen Militärblocks namens WEU ohne allzu großen Widerstand. Dies sollte sich bald ändern.

Ihr Paul Schäfer

Zukunft der Atomrüstung

Zukunft der Atomrüstung

Vor 50 Jahren sprengte sich die Atomwaffe in das Bewußtsein der Welt

von Richard L. Garwin

Der 8. Mai, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 50. Mal jährte, liegt gerade hinter uns, doch ich werde hier sprechen, weil das Jahr 1945 auch der Beginn des militärischen Atomzeitalters gewesen ist. Der erste der beiden einzigen Atomsprengsätze, die bisher in einem Krieg eingesetzt wurden, sprengte sich am 6. August 1945 mit einer Explosivkraft von 20.000 Tonnen TNT in das Bewußtsein der Welt. Er tötete mindestens 50.000 Menschen. Drei Tage später vernichtete eine Atombombe von vergleichbarer Stärke Nagasaki. Abgesehen von ein paar Hundert Mitarbeitern des Manhattan-Projekts, hatte zu diesem Zeitpunkt niemand in den USA erfahren, daß wenige Wochen zuvor, am 16. Juli, der Zwilling der Nagasaki-Bombe beim »Trinity«-Test in der Wüste von New Mexico gezündet worden war. Nach Nagasaki gab es vorerst keine einzige Atomwaffe mehr auf der Welt.

Am 14. August, weniger als eine Woche nach der Zerstörung von Nagasaki, verkündete der Kaiser von Japan in einer Radioansprache seine Entscheidung zu kapitulieren. Damit war der Zweite Weltkrieg endgültig zu Ende.

Noch im gleichen Monat erschien der vom Kommandanten des Manhattan-Projekts, General Leslie C. Groves, in Auftrag gegebene »Smyth Report«, der zahlreiche Informationen über die Konstruktion und die technischen Voraussetzungen von Atomwaffen enthielt. Das Plutonium für die »Trinity«- und die Nagasaki-Bombe sei in Kernreaktoren erzeugt worden.

Das amerikanische Atomwaffenprojekt hatte außerordentlichen Nutzen aus jenen Analysen gezogen, die in Großbritannien über die Möglichkeit von Waffen angestellt worden waren, die sich die Kernspaltung zunutze machen sollten. Ebenso aus der Mitarbeit britischer Wissenschaftler. Die amerikanischen Naturwissenschaften befanden sich damals nicht auf Weltklasseniveau, und das Manhattan-Projekts profitierte ungemein von jenen Wissenschaftlern, die wie Hans Bethe, Enrico Fermi, Leo Szilard und Edward Teller (um nur ein paar der prominentesten zu nennen) vor faschistischen Regimes aus Europa hatten fliehen müssen. In der Tat hätte keiner von ihnen angesichts der Tatsache, daß sie selber oder ihre Ehefrauen jüdischer Herkunft waren, in Europa bleiben können.

In Cleveland im amerikanischen Mittelwesten geboren und aufgewachsen, war ich 1945 17 Jahre alt. Die hohe Politik in Washington und die Hochfinanz in New York waren weit von unserer Familie entfernt. Doch der Kriegsausbruch in Europa und die offenkundig unersättlichen Ziele Hitlers beunruhigten uns sehr.

Ich muß gestehen, daß wir bis zum 8. Mai 1945 von den Vernichtungslagern in Europa keine Ahnung gehabt hatten, und ich nehme an, daß es sich mit den emigrierten Wissenschaftlern, die im Manhattan-Projekt arbeiteten, ähnlich verhielt. Tatsächlich hatte die US-Regierung alles vor den Menschen in den USA geheimgehalten, was sie darüber wußte. Ich glaube, die Motivation der Wissenschaftler des Manhattan-Projekts rührte von der Furcht her, daß Deutschland sich in den Besitz einer Atomwaffe bringen und mit dieser die Welt erobern könnte. Sie wollten weitere deutsche Eroberungen verhindern und wieder eine zivile Rechtsordnung in Europa herstellen. Seit wenigen Monaten erst ist die Behauptung zu lesen, daß von Anfang an die Absicht bestanden hätte, die Atombombe gegen Japan einzusetzen, doch meines Wissens war kein einziger von denen, die am Manhattan-Projekt mitarbeiteten, dieser Meinung. All ihre Anstrengungen galten dem Bau einer Atombombe, damit Deutschland diese nicht zuerst bekam.

Und für mich besteht kein Zweifel, daß man sie über einer deutschen Stadt und deren Rüstungsfabriken abgeworfen hätte, wenn sie schon 1944 fertig gewesen wäre.

In der Tat hatten die Alliierten die Lektion der deutschen Angriffe auf die Zivilbevölkerung nur zu gut gelernt, und die Skrupel davor, auf diese mit Gleichem zu antworten, waren gegen Kriegsende verschwunden. Die Zerstörung Dresdens durch Brandbomben ist ein Beispiel.

Ein Blick zurück: Meine Position im Jahre 1977

In einem 1977 veröffentlichten Buch1 habe ich versucht, eine realistische politische Strategie zu beschreiben, die es den Atommächten ermöglichen sollte:

  1. wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen zu treffen;
  2. die Ausgaben für strategische Atomarsenale auf ein Minimum zu begrenzen und gleichzeitig eine hinreichende Sicherheit zu gewährleisten;
  3. eine Überbewertung strategischer Bedrohungen zu vermeiden (die zur Vernachlässigung realer und wichtiger Probleme führt, die auch eine gesellschaftliche Existenzbedrohung auf nationaler und globaler Ebene darstellen) und dadurch das Problem der Atomrüstung (zu einem gewissen Grad) von dem Prozedere der Weltpolitik trennen zu können, d.h. ihre Bedeutung als machtpolitisches Instrument zu verringern;
  4. dem Einzelnen das Gefühl zu geben, daß die internationale Staatenwelt durchschaubar und kontrollierbar ist und seine eigene Situation besser wird;
  5. eine stabile Ausgangsbasis zu erarbeiten, von der aus ein internationales Regime ohne Atomwaffen entwickelt werden kann (aber nicht muß).

Dieser Aufsatz empfahl eine Atomdoktrin, die auf der Abschreckung von Angriffen und nicht auf atomarer Verteidigung basieren sollte. Sie strebte die Abschaffung der »taktischen« oder atomaren Gefechtsfeldwaffen der USA und eine Strategie an, die sich statt dessen auf konventionell bewaffnete und von einem Global Positioning System (GPS) gelenkte Cruise Missiles stützen sollte.

Auf der politischen Seite empfahl ich eine internationale Vereinbarung, in der auf den Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Staaten ohne Atomwaffen verzichtet wird, nicht aber eine generelle »No-first-use«-Übereinkunft. „Die USA“, so schrieb ich damals, „können ihre Absicht kundtun, Atomwaffen nur als Antwort auf die Atomwaffen anderer einzusetzen, ohne deswegen eine formelle Vereinbarung unterzeichnen zu müssen, die den Ersteinsatz von Atomwaffen als Extremoption ausschließt, und daher ohne auf die Unsicherheit der Sowjetunion hinsichtlich der amerikanischen Strategie verzichten zu müssen, die diese vor konventionellen Angriffen in Europa zurückschrecken läßt.“

Außerdem schlug ich für die landgestützte Raketenstreitmacht ein »deMIRVing« vor, also die Zahl von Gefechtsköpfen pro Rakete auf einen zu reduzieren.

Rüstungskontrollergebnisse

Wir haben im Augenblick in Rußland eine sehr anfällige Demokratie und eine Art von Banditenkapitalismus, der eine freie wirtschaftliche Aktivität in der Industrie und im Transportwesen kaum kennt, wohl aber im Handel mit im Westen erzeugten Gütern.

Es gibt kein kohärentes Rechtssystem, und eben aus diesem Grund scheuen sich westliche Unternehmen sehr häufig davor, in Rußland zu investieren.

Trotzdem besitzt das gleiche Rußland mindestens 20.000 Kernsprengköpfe.

Ich denke, die Clinton-Administration hat sich gute Noten für ihr Problembewußtsein (doch wesentlich schlechtere für ihr politisches Handeln) verdient, was die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch die Auflösung der UdSSR betrifft. Das Problem von »vagabundierenden Atomwaffen« (»loose nukes«) haben Verteidigungsminister William J. Perry und sein (für atomare Sicherheit und Atomproliferation zuständiger) Stellvertreter Ashton B. Carter (der vor seiner Ernennung in Harvard lehrte) klar erkannt.

Den Senatoren Sam Nunn (aus Georgia) und Richard G. Lugar (Indiana) ist es hoch anzurechnen, daß sie angeregt haben, von den Mitteln des Pentagon jährlich 600 Millionen Dollar für »kooperativen Bedrohungsabbau« in der ehemaligen Sowjetunion zu verwenden.

Bereits ein Jahr zuvor hatte der damalige Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus (und spätere Verteidigungsminister) Les Aspin vorgeschlagen, eine Milliarde Dollar des Verteidigungshaushalts für einen ähnlichen Zweck aufzuwenden. Doch seine Initiative ist nie vom Kongreß verabschiedet worden.

Die USA und die Ukraine haben sich darauf geeinigt, daß bis 1996 alle Atomsprengköpfe aus der Ukraine nach Rußland überführt werden. Von den ehemaligen Sowjetrepubliken der UdSSR besitzen nur die Ukraine, Belarus und Kasachstan Atomwaffen. Belarus hat sich noch vor der Ukraine dazu verpflichtet, all seine Atomwaffen Rußland zu übergeben, und wir können zuversichtlich sein, daß Kasachstan das gleiche tun wird, so daß Rußland als einziger atomarer Nachfolgestaat der Sowjetunion übrigbleibt.

In START-II ist die Abschaffung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs – Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles) auf landgestützten Interkontinentalraketen vereinbart worden; der Vertrag beseitigt damit einen Faktor, der zum Anwachsen der strategischen Raketenstreitkräfte beigetragen hat. Der ABM-Vertrag von 1972 sollte dem Prinzip nach einen anderen Faktor, die Abwehrwaffen, einschränken. Allerdings habe ich noch nicht erwähnt, daß offiziell drei weitere Atommächte (Großbritannien, Frankreich und China) auf der Welt existieren, die alle zwischen 300 bis 1.000 Atomsprengköpfe besitzen.

Der Atomwaffensperrvertrag (NPT) ist gerade eben von der New Yorker Überprüfungskonferenz auf unbegrenzte Zeit verlängert worden. Doch es besteht keine bindende Verpflichtung der fünf offiziellen Atommächte (die ja nur bezogen auf den NPT »offizielle« sind), ihre Atomarsenale zu verkleinern oder abzuschaffen.

Südafrika gehört nicht zu den fünf offiziellen Atommächten des NPT, und es hat erklärt, sechs Bomben vom Hiroshima-Typ gebaut zu haben. Das dazu erforderliche U-235 sei in selbständig entwickelten Anlagen angereichert worden. Diese Waffen und das verwendete waffenfähige Material seien wieder vernichtet worden, und man habe dies der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nachgewiesen.

Es gibt jedoch drei weitere Staaten, von denen man gemeinhin annimmt, daß sie ein Atomwaffenpotential besitzen: Israel, Indien und Pakistan.

Der »Club« der Atomwaffenstaaten hat sich wesentlich langsamer vergrößert, als in den sechziger Jahren erwartet wurde. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich die Struktur von Staaten und nicht-staatlichen Gruppierungen beträchtlich verändert.

Das Plutonium-Problem

Zwar ist es wichtig, auch weiterhin das Ziel des NPT im Auge zu behalten, daß Nicht-Atomwaffenstaaten ihre Sicherheit durch den Verzicht auf Atomwaffen verbessert sehen und sich auf Sicherheitsgarantien verlassen können und daß die Atomwaffenstaaten ihre Arsenale abbauen und sie vielleicht schließlich ganz verschrotten oder dem Kommando der UNO unterstellen. Doch ebenso wichtig ist es heute zu verhindern, daß Atomwaffenpotentiale in die Hände von isolierten Staaten außerhalb des NPT, von NPT-Unterzeichnerstaaten, die sich an ihre Verpflichtungen nicht halten, oder von nichtstaatlichen Verbänden (z.B. der »Milizen« in den USA oder militanter religiöser Gruppen usw.) geraten.

Ich sollte hier anmerken, daß ich mich seit langem dafür ausspreche, daß die USA und Rußland die Anzahl ihrer Atomsprengköpfe um 95% oder mehr reduzieren sollten, so daß beide noch jeweils 1.000 (einschließlich der Reservesprengköpfe) besitzen würden. Gleichzeitig sollten Großbritannien, China und Frankreich ihre Arsenale freiwillig auf jeweils 300 Sprengköpfe begrenzen, und die Welt sollte die Notwendigkeit ernst nehmen, daß die Unterzeichnerstaaten des NPT ohne Atomwaffen sowohl positive als auch negative Sicherheitsgarantien erhalten.

Doch unter anderem infolge der erfolgreich ausgehandelten Schritte zur (80-, 90- oder sogar 95%igen) Reduzierung der amerikanischen und russischen Atomwaffenbestände stehen wir vor dem neuen Problem, daß in den USA und in der ehemaligen UdSSR Atomwaffen von hochgeschätzten Rüstungsgütern zu einem heiklen Abfall geworden sind.

Infolge der Verträge START-I und START-II und zahlreicher unilateraler, aber abgestimmter Erklärungen und Maßnahmen von Bill Clinton und Boris Jelzin werden in den USA und in Rußland Atomsprengköpfe außer Dienst gestellt und verschrottet. In den USA geschieht dies zur Zeit mit einer Geschwindigkeit von etwa 1.800 Sprengköpfen pro Jahr, wobei die atomaren Komponenten des primären Waffenmaterials (der versiegelte Kern) in Einzelbehältern in einfachen »Iglus« auf einem Gelände der texanischen Fabrikationsanlage Pantex des amerikanischen Energieministeriums gelagert werden. Wie berichtet wird, findet in vier russischen Anlagen eine entsprechende Zerlegung statt.

Plutonium ist nicht nur ein Material, aus dem Atomwaffen gebaut werden können, es ist überdies hoch radioaktiv und äußerst gefährlich für Leben und Gesundheit (vor allem wenn kleine Partikel dieses Metalls oder einer Pu-haltigen Verbindung eingeatmet werden). Dagegen besteht bei den aus hochangereichertem Uran (HEU) bestehenden Atomwaffenkomponenten nur das Risiko der Proliferation oder der Wiederverwendung, sie stellen keine radiologische Gefährdung dar. In den USA werden die HEU-Komponenten nach Oak Ridge geschafft, wo sie weiter behandelt und schließlich mit normalem oder abgereichertem Uran zu Brennstäben für kommerzielle Stromreaktoren verarbeitet werden.

Mehr als 50 Tonnen überschüssiges Waffenplutonium werden in den USA bis zum Jahr 2003 bei der Verschrottung von Atomwaffen anfallen, in Rußland wird die Menge sogar noch größer sein. Außerdem werden 500 Tonnen HEU zurückgewonnen. Man führe sich das Ausmaß des dadurch entstehenden Problems vor Augen, daß dieses Material und damit Atomwaffen in die Hände von terroristischen Regierungen oder Gruppen gelangen könnten. Aus der etwas willkürlich bezifferten Menge von »50 Tonnen« waffenfähigem Plutonium können mehr als 8.000 Nagasaki-Bomben hergestellt werden, und die 500 Tonnen HEU reichen aus, um etwa 30.000 Bomben vom implosionsgezündeten Typ zu bauen, aus dem die ersten chinesischen Atombomben bestanden.

Dieses waffenfähige Material stellt ein enormes Risiko dar, dem zumindest seit 1991 in den USA zahlreiche Studien und Aktivitäten gewidmet worden sind. Die Clinton-Administration hat das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt, und ein Ausschuß der National Academy of Sciences (CISAC) hat im Januar letzten Jahres unter dem Titel „Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium“ eine wichtige Untersuchung zu dem Thema veröffentlicht.

Der Studie ging es um die Verringerung der drei Gefahren, die von überschüssigem Atomwaffenmaterial in Rußland ausgehen – »Breakup«, »Breakout« und »Breakdown«.

Mit Breakup bezeichnete sie das (nicht eingetretene) Problem, daß die UdSSR in noch mehr kleinere staatliche Einheiten auseinanderbrechen könnte, die sich alle im Besitz von Atomwaffen befinden. Tatsächlich konnten dank aktiver Diplomatie, und wohl auch dank guten Willens, auf beiden Seiten alle ehemals sowjetischen taktischen Atomwaffen nach Rußland zurückgebracht werden. Außerdem wurden die in Belarus stationierten strategischen Waffen nach Rußland geschafft, mit denen in der Ukraine und in Kasachstan wird dies in den nächsten Jahren geschehen.

Breakout meinte die Möglichkeit, daß Rußland mit dem waffenfähigen Material seiner zerlegten Waffen irgendwann sein gewaltiges Atomarsenal rasch wieder aufbauen könnte. Wir hoffen, mit den Russen in der Frage der Nutzung oder der Entsorgung von spaltbarem Material zusammenarbeiten zu können, so daß es nicht so einfach wieder für Waffen verwendet werden kann. Z.B. hat Rußland mit den USA vereinbart, ihnen in den nächsten 20 Jahren 500 Tonnen HEU zu verkaufen, das so gemischt wird, daß aus ihm Brennelemente aus schwach angereichertem Uran für Stromreaktoren hergestellt werden können. Für dieses Material wird Rußland zwölf Milliarden Dollar erhalten.

Breakdown bezieht sich auf die Transformation der russischen Gesellschaft. Die Zunahme der Kriminalität und die inflationsbedingt niedrigen Löhne vergrößern die Gefahr, daß Atommaterial gestohlen wird, das (womöglich über eine Kette von Zwischenhändlern) schließlich in die Hände einer Regierung oder einer nicht-staatlichen Gruppe geraten könnte, die daraus Atomwaffen herstellt und damit droht, von diesen auf terroristische Weise Gebrauch zu machen.

Diesen Gefahren sollen Programme zur Verbesserung der »Sicherung, Kontrolle und Erfassung von Atommaterial« (Material Protection, Control and Accountancy – MPC&A) und auch die Vorschläge für seine weitere Verwendung begegnen. Deutschland könnte in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen. Ich habe im Februar in Bonn an dem Treffen eines Projekts des German-American Academic Council teilgenommen, das sich mit Deutschlands Beitrag zur Lösung dieses Problems befaßt – vor allem, was sein Know-how in der Herstellung von Reaktorbrennelementen anbelangt.

Unsere CISAC-Analysen haben gezeigt, daß es insgesamt teurer wäre, das »freigewordene« Waffenplutonium für die Herstellung von Brennelementen für Stromreaktoren zu verwenden, als wenn man das Geld für den Kauf von schwach angereichertem Reaktorbrennstoff ausgeben würde. Doch egal wie man Waffenplutonium entsorgt – Geld wird es immer kosten. Und das Verbrennen von Waffenplutonium in kommerziellen Stromreaktoren scheint ein grundvernünftiges Vorgehen zu sein, das mit staatlichen Subventionen in der Größenordnung von einer Milliarde Dollar für 50 Tonnen Waffenplutonium kommerziell machbar wäre.

Der umfassende Teststoppvertrag

Dem »Comprehensive Test Ban Treaty« CTBT erging es ähnlich wie Waffen, die oft auf eine Weise am wirksamsten eingesetzt werden, die ihre Konstrukteure überhaupt nicht im Sinn hatten. Ursprünglich bestand das Ziel, das mit einem umfassenden Teststopp erreicht werden sollte, darin, das Wettrüsten zwischen den Supermächten dadurch zu verlangsamen, daß die Entwicklung von moderneren Atomwaffen unterbunden wird.

Später erkannte und betonte man, daß ein CTBT die Weiterverbreitung von Atomwaffen bedeutend erschweren würde. Allerdings haben die Beispiele von Südafrika und wahrscheinlich von Israel und Pakistan (und natürlich das der Hiroshima-Bombe, die im Kampf eingesetzt wurde, ohne jemals zuvor getestet worden zu sein) gezeigt, daß Tests nicht notwendig sind, um ein gewisses Vertrauen in die Zuverlässigkeit eines einfach konstruierten Atomwaffensystems zu haben.

Meines Erachtens würde der größte Nutzen eines CTBT heute und in Zukunft darin liegen, daß er dem Besitz von Atomwaffen durch verhältnismäßig wenige Staaten eine gewisse Legitimität verleihen und gleichzeitig demonstrieren würde, daß der allgemeine Trend in der Atomrüstung auf die Verringerung der Stückzahl von Waffen zielt, die nicht mehr qualitativ verbessert werden.

Die Agenda für die Zukunft

Meiner Ansicht nach sind folgende Punkte von entscheidender Bedeutung:

Die Vereinbarungen, die wir eingegangen sind, müssen umgesetzt und die Atomwaffen außer Dienst gestellt und demontiert werden.

Das dabei anfallende waffenfähige Plutonium und Uran muß sicher gelagert werden.

Staaten mit und ohne Atomwaffen sollten ihre Verantwortung ernst nehmen, die sie am 11. Mai dieses Jahres mit der unbegrenzten Verlängerung des NPT eingegangen sind. Das heißt vor allem, daß die Bedeutung positiver und negativer Sicherheitsgarantien gegen einen Atomangriff begriffen werden muß und daß diese Garantien gegeben werden müssen.

Die Atommächte sollten spätestens 1996 einen Vertrag über das Verbot sämtlicher Atomwaffenversuche unterzeichnen, wie sie es in den Begleitdokumenten zur NPT-Verlängerung versprochen haben. Dieser CTBT sollte auch jene Tests mit sehr kleiner Spaltkomponente verbieten, die als »hydronukleare Experimente« bezeichnet werden. Außerdem sollte der CTBT keine Ausnahmen für »Atomexplosionen zu friedlichen Zwecken« zulassen. Eventuell könnte zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des CTBT eine internationale Konferenz stattfinden, auf der der mögliche Nutzen, die Kosten und die Probleme von solchen Atomexplosionen erörtert werden, um gegebenenfalls einen separaten Vertrag auszuhandeln, falls zwingende Gründe dafür sprechen sollten.

Die G-7-Staaten sollten nicht die Investitionen und die harte Arbeit scheuen, die nötig sind, damit das atomwaffenfähige Material in Rußland auch weiterhin unter Kontrolle gehalten wird.

Außerdem muß die Welt dauerhafte Regelungen treffen, welche die Abzweigung von Plutonium aus aufgebrauchtem Reaktorbrennstoff für den Bau von Atomwaffen verhindern. Denn entgegen der seit Jahrzehnten weitverbreiteten Annahme können auch aus solchem Plutonium Atomwaffen hergestellt werden.

Wenn die Demilitarisierung und die Entsorgung von atomwaffenfähigem Material voranschreiten, ist es wichtig, daß die nächste Sprosse beim Abstieg von der atomaren Rüstungsleiter in Angriff genommen wird, auf der die USA und Rußland noch ein Arsenal von jeweils 1.000 Atomsprengköpfen behalten dürften (aber ohne Reservegefechtsköpfe). Gleichzeitig sollten die Bestände Großbritanniens, Chinas und Frankreichs auf je 300 Atomsprengköpfe reduziert bzw. begrenzt werden.

Die Gefahr von Raketenangriffen muß durch Rüstungskontrolle vermindert werden. Es sollte ein Verbot von Waffen im Weltraum ausgehandelt werden; es müßte auch das Verbot beinhalten, Antisatelliten-Waffen (ASAT) zu testen und einzusetzen.

Über Richard L. Garwin

Dr. Richard L. Garwin, 1928 geboren, hat zwar nicht am Manhattan-Projekt der USA mitgearbeitet, ist aber am Bau der Wasserstoffbombe mitbeteiligt gewesen. Von den Atombombenabwürfen erfuhr er als Siebzehnjähriger aus der Zeitung. Er hält sie, wie er in der Diskussionsrunde nach seinem Vortrag in Frankfurt einfließen ließ, damals wie heute mit den gängigen Argumenten der Befürworter für gerechtfertigt.

Garwin wird vielfach als »Wunderkind« der amerikanischen Physik bezeichnet. Mit 21 Jahren promovierte er bereits in diesem Fach. 41 Jahre lang war er von 1952 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1993 als Forscher am Watson Research Center der IBM Corporation in Yorktown Heights, N.Y., tätig. Seine Liste der Erfindungen im zivilen und militärischen Bereich ist lang; 41 Patente haben sie ihm eingebracht.

Neben seinen Forschungen für IBM hat er einen Teil seiner Arbeitszeit beständig als Berater von US-Präsidenten und verschiedenen Ministerien verwandt. Kongreßausschüsse suchen regelmäßig seinen Rat. Diese Doppelgleisigkeit als Forscher und militär- und rüstungskontrollpolitischer Berater ist selbst für amerikanische Maßstäbe einzigartig, in der Bundesrepublik ist sie undenkbar. Die Arbeit für die Regierungen hat ihn nicht davon abgehalten, sich gegen bestimmte Programme auszusprechen. Hierzulande ist er vor allem als Kritiker der Strategischen Verteidigungsinitiative von Präsident Reagan bekannt geworden. Den Kritikern der Raketenabwehr hat er mit die besten Argumente geliefert. Richard Garwin hat mehrere Auszeichnungen erhalten, die seine wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Leistungen würdigen (1983 den Wright Prize, 1988 die AAAS Scientific Freedom and Responsibility Award, 1991 den Erice Science for Peace Prize).
Am 17. Mai hielt er im Rahmen des Vortragszyklus` »Hiroshima und Nagasaki« den hier abgedruckten Vortrag.

(B.W.K.)

Anmerkungen

1) Richard Garwin: Reducing Dependence on Nuclear Weapons. In: David C. Gompert u.a.: Nuclear Weapons and World Politics. Alternatives for the Future. New York u.a. 1977, S.84ff. Zurück

Richard L. Garwin

Ein amerikanischer »hibakusha«

Ein amerikanischer »hibakusha«

Zu der Debatte um die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

von Thomas Smith

Ich heiße Thomas Smith und bin Überlebender der Atomversuche, also ein amerikanischer hibakusha. Während meiner Dienstzeit bei der amerikanischen Marine wurde ich 17mal Zeuge von Atombombendetonationen im Pazifik. Das war im Jahre 1958. Ich war damals aufder USS-Hooper-Island stationiert, die beim Eniwetok-Atoll, im Archipel der Marshall-Inseln lag.

Als Zeuge habe ich die Sprengungen aus verschiedenen Entfernungen erlebt (…). So nah, daß man die Hitzewelle spüren konnte; so heiß, daß man dachte, die Kleider am Leib könnten in Flammen aufgehen. (…)

Viele Jahre danach habe ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu schaffen gehabt;Beschwerden, die niemand vorher in meiner Familie gehabt hat; Beschwerden, die kein Arzt erklären konnte, und schließlich gesundheitliche Beschwerden, die nun auch meine Kinder hinnehmen müssen. Sowohl meine Tochter als auch mein Sohn zeigen genetische Auffälligkeiten, die durch meine Verstrahlung verursacht wurden. Und jetzt bange ich um die Gesundheit meiner Enkel.

<>Jene Detonationen und damit verbunden die gesundheitlichen Schäden bei meinen Kindern und bei mir selbst gehören zu dem dauernden Vermächtnis der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki; und das National Air & Space Museum hat sich entschlossen, die Spuren dieses Vermächtnisses aus seiner »Enola-Gay«-Ausstellung zu entfernen.

Erst Jahre nach jenen Tests habe ich andere Menschen mit ähnlichen Beschwerden gefunden. Menschen aus allen Teilen der Welt und mit den unterschiedlichsten Lebensläufen– Veteranen, »downwinders«, Menschen, die in Uranbergwerken gearbeitet haben, und natürlich die japanischen hibakusha. Eines hatten wir gemeinsam, wir waren radioaktiven Strahlungen ausgesetzt gewesen, entweder durch Berührung bei der Arbeit oder durch die Strahlung nach der Detonation einer nuklearen Bombe.

Ich habe 25 Operationen über mich ergehen lassen (…). Allein sechs Eingriffe an der Wirbelsäule einschließlich zahlreicher Knochentransplantationen aus dem Beckenbereich habe ich hinnehmen müssen, außerdem Eingriffe zur Wiederherstellung von Gelenken und zur Entfernung von Tumoren. (…) Heute muß ich mit einem geschwächten Immunsystem, Diabetes und chronischer Leberentzündung leben, und trotz-alledem rechne ich mich zu den Glücklichen. Heute bin ich noch am Leben und rede zu Ihnen, viele meiner Gefährten sind es nicht. Sie sind vor ihrer Zeit gestorben.

Die Ausstellung soll die Amerikaner ehren

Zu der Debatte über die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

Als B 29-Kampfflieger des Zweiten Weltkrieges und Mitglied des Enola Gay-Komitees möchte ich meine Unzufriedenheit über die geplante Ausstellung des B 29-Bombers, der am 6. August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf, durch das Nationale Luft- und Raumfahrt-Museum zum Ausdruck bringen. Trotz der angekündigten Ergänzungen läuft das ganze auf eine »Anti-Bomben«-Ausstellung hinaus.

Die ein Jahr dauernden Verhandlungen mit Martin Harwit, dem Museums-Direktor, haben gezeigt, daß sämtliche Korrekturen rein kosmetischer Natur sind und nichts am Grundkonzept der Ausstellung ändern.

Die Ausstellung sollte eine Feier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes sein. Sie sollte die Amerikaner ehren, die so lange auf so vieles verzichteten, und das sind fast alle amerikanischen Bürger, die zwischen 1941 und 1945 lebten.

Sie sollte unsere Führung für ihre großartige Leistung ehren, den Krieg so schnell zu beenden. Sie sollte die arbeitende Bevölkerung ehren, die oft erhebliche persönliche Opfer brachte, um ihre Arbeitskraft den kriegswichtigen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Und sie sollte die siebeneinhalb Millionen Mitbürger ehren, die in dieser Zeit für ihr Land kämpften.

Für all dies ist die »Enola Gay« ein einzigartiges Symbol. Sie ist der berühmteste von allen B 29-Bombern. Mit dem Luftbombardement Japans konnte zum ersten Mal ein Krieg ohne Invasion beendet werden.

Uns allen sind die schrecklichen Ereignisse von »D-Day« bekannt. Und bei dieser Invasion ging es lediglich um den Transport über den Ärmelkanal. Dagegen hätten die Schrecken einer Invasion auf der Insel Honschu »D-Day« als Kinderspiel erscheinen lassen.

Wenn wir die Schrecken Hiroshimas zeigen, dann müssen wir auch Dresden, Tokio, London und all die anderen Städte zeigen, auf die Bomben fielen.

Wir sollten den Schwerpunkt der Ausstellung völlig verändern. Wir sollten mit dieser Ausstellung das Ende des Zweiten Weltkrieges gebührend feiern. Es leben schließlich noch viele von uns, die an diesem Krieg auf die eine oder andere Weise teilgenommen haben.

Leserzuschrift, New York Times, 10.9.1994. (Übersetzung: Helga Wagner.)

Presseerklärung von Thomas Smith. Veteran von Atomversuchen und Erster Vorsitzender der Vereinigung überlebender Strahlenopfer in Amerika. (Übersetzung Bill Hadfield)

Hiroshima und Nagasaki

Hiroshima und Nagasaki

Die Zerstörung der Städte und die Formen der Erinnerung in Japan

von Wolfgang Schwentker

Am Morgen des 6. August 1945 warf eine B-29 der amerikanischen Luftwaffe die erste Atombombe über Hiroshima ab. In Bruchteilen von Sekunden verwandelten eine gewaltige Explosion etwa 500 Meter über dem Erdboden und die unmittelbar folgenden Hitzewellen die Stadt mit ihren 350.000 Einwohnern in ein Inferno.1

Augenzeugenberichte, die versuchen, das Unvorstellbare in Worte zu fassen, ja selbst später veröffentlichte Photographien geben uns heute ein nur unvollkommenes Bild des Grauens. Die genaue Zahl der Opfer am Tag des Abwurfs ist unbekannt. Bis heute wird darüber viel spekuliert. Sicher wissen wir nur, daß bis Ende 1945 ca. 140.000 Menschen an den Folgen der Atombombenexplosion starben; bis zum Jahre 1950 waren es etwa 200.000 Menschen. Die Stadt selbst wurde nahezu völlig verwüstet; 90<0> <>% aller Gebäude wurden im Umkreis von 13 Quadratkilometern infolge der Explosion zerrissen oder gingen in den folgenden Stunden in Flammen auf. Die Infrastruktur der Stadt war vollkommen zerstört. Wer in dieser atomaren Apokalypse die ersten Stunden überlebt hatte oder gar unverletzt geblieben war, versuchte aus der Stadt zu kommen. Jene, die sich in der Nähe des Epizentrums aufgehalten hatten, blieben zurück, die meisten tot oder schwer verletzt und hilflos, Opfer von Verbrennungen und Verstrahlungen.2

In Tokio machte man sich unterdessen Sorgen um die Stellung des Tenno und das japanische »Nationalwesen« (kokutai) für den Fall, daß Japan vor der Übermacht der alliierten Streitkräfte doch kapitulieren müßte.3 Der amerikanische Präsident Truman hatte es abgelehnt, der japanischen Regierung irgendwelche Garantien für den Fortbestand des Kaiserhauses zu geben, Kern und wichtigstes Symbol der nationalen Identität Japans. So mußten letzten Endes auch die Friedensangebote, die Tôkyo über die sowjetische Regierung lancieren wollte, wegen des Beharrens auf der Unantastbarkeit des Tenno erfolglos bleiben. Die Falken in der japanischen Regierung, allen voran die Spitzen von Flotte und Armee, wollten deshalb alles auf eine Karte setzen und glaubten, das Blatt doch noch wenden zu können.

Als die ersten Nachrichten über die Katastrophe aus Hiroshima eintrafen, wurden sie deshalb zunächst nur zögerlich und ungläubig aufgenommen. Man wußte noch zu wenig über die wirklichen Auswirkungen und einigte sich in der Öffentlichkeit auf die Sprachregelung, daß eine »neuartige Bombe« in Hiroshima beträchtlichen Schaden angerichtet habe. Die politischen Auswirkungen der Atombombe blieben also zunächst begrenzt; die japanische Regierung dachte zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, einzulenken und die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation anzunehmen. Immerhin entsandte man zwei Tage später Beobachter nach Hiroshima, um dem Verdacht nachzugehen, daß es sich bei der Bombe um eine Atombombe handeln könnte. Erst die Kriegserklärung der UdSSR an Japan am 8. August brachte Bewegung in die Verhandlungen, da nun das gefürchtete Schreckensgemälde einer möglichen kommunistischen Revolution und ein Sturz des Kaiserhauses konkretere Formen annahm.

In dieser Situation warf die amerikanische Luftwaffe am folgenden Tag, dem 9. August 1945, eine zweite Atombombe auf Nagasaki ab. Die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner waren ähnlich verheerend.4 Von den etwa 270.000 Einwohnern kamen als Folge der ungeheuren Explosion und der Hitzewellen von mehreren tausend Grad ca. 70.000 Menschen um. In den nächsten fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Opfer infolge der Strahlenerkrankungen. Die Überlebenden, die hibakusha, sollten wie ihre Leidensgenossen in Hiroshima noch auf Jahrzehnte von schweren Erkrankungen, genetischen Fehlentwicklungen bei ihren Nachkommen und seelischen Schmerzen gezeichnet sein. Wenn auch wegen der andersartigen geographischen Lage der Stadt mit ihren Hügelketten die Auswirkungen der Atombombe relativ begrenzter als in Hiroshima waren, so wurde aber auch hier die Infrastruktur der Stadt nahezu vollkommen zerstört. Auf einer Fläche von ca. 7 Quadratkilometern um das Epizentrum der Bombe wurde sämtliches Leben ausgelöscht und alle Gebäude wurden verwüstet.

Die Nachrichten vom Abwurf einer zweiten Atombombe auf Nagasaki haben auf die Beratungen der Regierung in Tokio am 9. August keinen sonderlich großen Einfluß gehabt. Von wesentlich größerer Bedeutung war, wie man dem Kriegseintritt der Sowjetunion begegnen könne und ob man eine Entscheidungsschlacht auf dem japanischen Festland suchen müsse. Nach stundenlangen, aber ergebnislosen Beratungen überließ man schließlich dem Tenno die letzte Entscheidung, wonach sich Japan am 10. August zu einer bedingten Annahme der Potsdamer Deklaration entschloß. Mit einer verklausulierten Garantie für den Fortbestand des japanischen Kaiserhauses kamen die Amerikaner dem Kriegsgegner dabei diplomatisch entgegen. Am 14. August war die Kapitulation beschlossene Sache. Sie war das Ergebnis eines diplomatischen Tauziehens zwischen den USA und Japan und eines „unübersichtlichen Palastspektakels“ (Wagner) in Tokio. Dahinter stand auf allen Seiten das Bemühen, die Sowjetunion aus Japan herauszuhalten. Der Abwurf der beiden Atombomben hat, entgegen den Erwartungen, die die amerikanische Administration mit dem militärischen Einsatz der Atombombe verband, im Entscheidungsprozeß der japanischen Regierung eine nur untergeordnete Rolle gespielt.5

Der Krieg war mit der Kapitulation Japans zu Ende gegangen. Am 15. August richtete sich der Tenno aus diesem Anlaß in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung, in der auch von den schrecklichen Auswirkungen der Atombombe die Rede war.6 Die Bewältigung der ungeheuer schwierigen Probleme, die sich aus der atomaren Zerstörung der Städte vor allem für die unmittelbar Betroffenen ergaben, nahm jetzt erst ihren Anfang. Damit eng verknüpft war die politische Behandlung der Atombombenfrage, im Innern wie nach außen. Sie ist bis heute in Japan höchst aktuell und umstritten. Dies zeigten in jüngster Zeit die scharfen Reaktionen auf die amerikanischen Planungen zur Herausgabe einer Briefmarke, mit der der Abwurf der Atombombe noch einmal gerechtfertigt werden sollte, oder die kühle Resonanz auf die amerikanische Diskussion über das Ausstellungsprojekt der »Smithonian Institution« in Washington. Wie läßt sich heute, 50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben, die sozial-psychologische Verarbeitung der Zerstörungen und Verletzungen nach 1945 beschreiben? Wie ist die Erinnerung an diese bislang einmaligen Vorgänge politisch organisiert, wie ist sie von verschiedenen Interessengruppen in Japan instrumentalisiert worden?7 Es gibt hier angesichts der Komplexität der zu erörternden Probleme keine griffigen Formeln, mit denen sich das Thema bündig ordnen ließe. Doch lassen sich in der Behandlung von Hiroshima und Nagasaki durch die Regierung und in der Öffentlichkeit drei Phasen unterscheiden, deren Zäsuren von äußeren Faktoren, insbesondere dem Verhältnis Japans zu den USA, und dem Wandel in der Bewertung des japanischen Verhaltens im Krieg vom Opfer (higaisha) zum Täter (kagaisha) bestimmt wurden.

Die erste Phase vom Kriegsende bis etwa Mitte der fünfziger Jahre umschließt den Wiederaufbau der zerstörten Städte unter den Bedingungen der amerikanischen Besatzung. Die zweite Periode reicht vom Widerstand der japanischen Friedensbewegung gegen die amerikanischen Atomtests im Pazifik nach 1955 bis in die siebziger Jahre, in denen sich in der Atomfrage Kritiker und politisches Establishment in zwei Lagern gegenüberstehen. In der dritten Phase ab etwa 1980 verschärft sich die Kritik an den damaligen Entscheidungen der USA für den Einsatz der Bombe vor dem Hintergrund eines neuen japanischen Nationalismus. Gleichzeitig kommt es auf Seiten der Linken zu einer stärkeren Thematisierung der Kriegsschuldfrage und angesichts der Würdigung der zahlreichen koreanischen Opfer zu einer Relativierung der These, daß Japan das „einzige und alleinige Opfer der Atombomben“ („Nihon wa yuiitsu no hibaku kuni“) sei.8

Das Schicksal der Überlebenden

Nur wenige Wochen blieben den Japanern Zeit, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß ihr Land bald von fremden Truppen besetzt werden würde. Die japanische Übergangsregierung protestierte zwar noch nach der Kapitulation über diplomatische Kanäle in der Schweiz gegen die Anwendung atomarer Waffen, doch fand ihre Note im Taumel des Zusammenbruchs selbst in Japan keinen Widerhall. Es waren ja nicht nur Hiroshima und Nagasaki im August 1945 vollkommen zerstört, auch andere japanische Großstädte waren seit dem Frühjahr Ziel strategischer Flächenbombardements amerikanischer Flugzeuge gewesen. Am 10. März 1945 hatten Angriffe auf die japanische Hauptstadt mehr als 80.000 Menschenleben gefordert. Anderen Städten mit ihren Bewohnern war es ähnlich ergangen. Die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Strom war deshalb in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen. Jeder kämpfte um das eigene Überleben und versuchte, sich und die eigene Familie in den ersten Monaten nach Kriegsende durchzubringen. An das besondere Schicksal der Atombombenopfer in Hiroshima und Nagasaki dachten in dieser Situation nur wenige. Für die beiden betroffenen Städte kam erschwerend hinzu, daß der »Supreme Commander of the Allied Powers« (SCAP) unmittelbar nach der Besetzung Japans am 10. September 1945 eine Verfügung erließ, die Presse und Radio unter die Zensur der Besatzungsbehörden stellte und ihnen auferlegte, sich jeder Kritik, die die Autorität der Besatzer untergraben könnte, zu enthalten.9 Dies betraf auch alle Berichte und Kommentare über die Folgen der atomaren Bombardierung.

Wie ernst es den Amerikanern mit diesem Erlaß war, bekamen auch westliche Journalisten zu spüren. Der australische Journalist Wilfried Burchett, der für den »London Daily Express« schrieb, hatte sich noch im August auf eigene Faust nach Westjapan durchgeschlagen und im September den ersten Bericht über die Verwüstungen in den Westen telegraphiert, zum Ärger der amerikanischen Behörden, die daraufhin allen westlichen Journalisten fürs erste den Zugang zu Hiroshima und Nagasaki verwehrten. Die Berichte der japanischen Journalisten wurden zensiert oder für mehrere Jahre zurückgehalten. Dies galt insbesondere für Berichte über die unzureichende medizinische und sozialpsychologische Betreuung der Überlebenden. Zwar wurde japanischen Wissenschaftlern gestattet, in beiden Städten Untersuchungen anzustellen. Die Ergebnisse der Kommissionen wurden jedoch konfisziert, ebenso das von den wissenschaftlichen Teams hergestellte Filmmaterial. Es wurde in die USA verbracht und blieb dort über 25 Jahre unter Verschluß.

Auch literarische Zeugnisse, wie der Bericht des Arztes Nagai Takashi aus Nagasaki, fielen unter die Zensur. Sein Buch „Die Glocken von Nagasaki“ konnte 1947 erst erscheinen, nachdem ihm auf Anordnung der Besatzer ein Bericht über japanische Kriegsgreuel auf den Philippinen angehängt wurde, – ein erstes Beispiel für die Verknüpfung von Atombombenproblematik und Kriegsschuldfrage. Es wäre aber wohl verfehlt, diese Beobachtungen zum Anlaß zu nehmen, um von einer totalen Nachrichtensperre zu sprechen und die Verhältnisse unter amerikanischer Besatzung mit der Zeit vor dem Kriege zu vergleichen, wie dies einige japanische Autoren in der Vergangenheit getan haben.10 Immerhin konnte die berühmte Sammlung von Augenzeugenberichten von John Hersey, die die amerikanische Öffentlichkeit aufgewühlt hatte, 1949 in japanischer Übersetzung erscheinen.11

Der mangelhafte Fluß an Nachrichten und Hintergrundinformationen über die Folgewirkungen der atomaren Verwüstung machte es den betroffenen Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki zusätzlich schwer, von seiten der Bevölkerung und der Regierung Unterstützung zu erhalten. Die Überlebenden blieben mit ihren Sorgen und Leiden in den ersten Jahren nach der Katastrophe weitgehend allein. Unrühmlich war vor allem die dilatorische Behandlung der Probleme durch die japanische Regierung und ihre nur schleppend arbeitende Bürokratie. So blieb die Hilfe, als sie am dringendsten benötigt wurde, aus. Das Gesetz zur Linderung der Kriegsopfer von 1942 lief im Oktober 1945 aus und wurde nicht verlängert. Bis 1957 mußten die Überlebenden, die hibakusha, die medizinische und soziale Versorgung aus eigenen Mitteln bestreiten oder waren, wenn sie dazu nicht in der Lage waren, auf die Hilfe ihrer Familien angewiesen. Viele Opfer fühlten sich noch zusätzlich durch die Behandlung der von der amerikanischen Regierung 1947 eingesetzten »Atomic Bomb Casualty Commission« (ABCC) gedemütigt. Sie führte als wissenschaftliche Untersuchungskommission mit den betroffenen Opfern zahlreiche Tests durch, ohne gleichzeitig medizinische Hilfeleistungen anzubieten. Einzig und allein die städtischen Behörden traten für die Versorgung der hibakusha ein; ohne ihr Engagement hätten viele nicht überlebt. Sie organisierten in den ersten Nachkriegsjahren die medizinische Grundversorgung mit eigenen Mitteln und unter äußeren Bedingungen, die keine Beschreibung wirklich erfassen kann. Die dramatische, ja bisweilen aussichtslose Lage der beiden Städte verbesserte sich erst ab Mai 1949, als sich das japanische Parlament nach großem Zögern zu einem Wiederaufbauprogramm für Hiroshima und Nagasaki entschloß. Hiroshima wurde zur »Gedenkstadt für den Frieden« und Nagasaki zur »Internationalen Stadt der Kultur« erkoren. In beiden Städten wurde mit dem Bau von Erinnerungsstätten, Mahnmalen und Museen begonnen. An einem der regelmäßig stattfindenden Gedenktage, am 6. August 1952, wurde der Gedenkstein für die Opfer der ersten Atombombe eingeweiht. Die Inschrift ist absichtlich vage formuliert und unterstreicht die Absicht von Regierung und Stadtverwaltung, Hiroshima zu einem universalen Symbol der Anti-Atom- und Friedensbewegung zu machen: „Laßt die Seelen hier in Frieden ruhen, damit sich das Unheil nie wieder wiederholt.12

Auch in den fünfziger Jahren blieb die Lage der hibakusha unbefriedigend. Der Regierung lag nach 1950 eher an nationaler Friedenssymbolik. Außerdem war sie bestrebt, den wirtschaftlichen Aufbau mit einem Kernenergieprogramm zu betreiben, bei dem eine allzu kritische Haltung der Öffentlichkeit in der Atombombenfrage eher hinderlich gewesen wäre. Staatliche Hilfeleistungen kamen auch wegen der nur schwerfällig arbeitenden Bürokratie kaum voran. So lag die Last für den Wiederaufbau der zerstörten Städte weiterhin bei den lokalen Verwaltungen. Mit der Einrichtung spezieller Krankenhäuser und Rehabilitationszentren für die Atombombenopfer konnten die Leiden der Opfer zumindest gelindert werden. Private Hilfsorganisationen, Bürgergruppen und Ärzte wirkten an der Nachsorge mit. Doch auch sie konnten nicht verhindern, daß viele hibakusha bis weit in die sechziger Jahre in Baracken hausen mußten, in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebten und manche wegen ihres Aussehens in die gesellschaftliche Isolierung getrieben wurden. Für viele Japaner galten sie, wie andere Behinderte auch, nach der shintoistischen Tradition als »unrein«. Man hielt sich lieber von ihnen fern und wirkte stattdessen am wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes mit. Darüber hinaus erinnerten die Atombombenopfer an die demütigende Niederlage von 1945. Dies war seit etwa 1960 dem neuen japanischen Selbstbewußtsein, das sich mit den wirtschaftlichen Erfolgen nach dem Korea-Krieg einstellte, eher abträglich. So gerieten die Opfer der Atombomben bei einem Großteil der Bevölkerung nahezu in Vergessenheit. Der Abschluß des Friedensvertrags von San Francisco, der Japan wieder in die Souveränität entließ – von den Kautelen der militärischen Geheimabmachungen abgesehen –, besiegelte die Hoffnung der hibakusha auf Entschädigungen von amerikanischer Seite. In Art. 19 des Vertrags verzichtete Japan ausdrücklich auf alle dahin gehenden Ansprüche, ohne zu diesem Zeitpunkt für die Betroffenen selbst Kompensationen in Aussicht zu stellen.

Aufarbeitung zwischen 1950 und 1980

Die Jahre 1952/54 bedeuteten bezüglich der Formen der Erinnerung in Japan an die atomare Katastrophe in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt. Mit Inkrafttreten des Friedensvertrags wurden auch die Zensurmaßnahmen hinfällig. Es kam in der Atombombenfrage in der Folge zu einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen wissenschaftlicher und literarischer Art. In der bekannten Kulturzeitschrift »Chûô Kôron« publizierte Ibuse Masuji 1951 die Hiroshima-Erzählung „Kakitsubata“ („Die Schwertlilie“; dt. 1985). Im Jahre 1965 erschien sein bedeutender Roman „Kuroi ame“ („Schwarzer Regen“; dt. 1974). Bekannt wurden auch die Reportagen über die hibakusha aus der Feder des japanischen Nobelpreisträgers Oe Kenzaburô, die seit 1963 in der Zeitschrift »Sekai« erschienen waren und später in Buchform unter dem Titel „Hiroshima nôto“ (Hiroshima-Notizen) berühmt wurden. Das Thema der Atombomben kehrte mit diesen und anderen Publikationen wieder in die öffentlichen Debatten zurück.13

Befördert wurde diese Entwicklung von äußeren Ereignissen. Die atomare Aufrüstung der Großmächte als Folge des sich verschärfenden Kalten Krieges, der Korea-Krieg und der japanisch-amerikanische Sicherheitspakt hielten die Erinnerung an die nukleare Bedrohung wach. Einen Proteststurm entfachten in Japan 1954 die amerikanischen Tests mit Wasserstoffbomben auf dem Bikini-Atoll. Es kam dabei zur radioaktiven Verseuchung der Besatzung eines japanischen Fischkutters. Die Affäre um die »Daigo Fukuryû Maru« weitete sich schnell aus. Wieder waren Japaner Opfer der atomaren Experimente geworden. Dies gab Anlaß für die zahlenmäßige und organisatorische Stärkung der japanischen Anti-Atombewegung. Sie vereinigte binnen weniger Monate mehrere hunderttausend Anhänger in ihren Organisationen. Davon profitierten auch die Vereinigungen und Hilfsorganisationen der hibakusha, die sich 1956 zu einem Dachverband, der »Nihon Gensuibaku Higaisha Dantai Kyôgikai«, zusammenschlossen. In dieser Situation war in den japanischen Medien immer öfter von „Japan als alleinigem und einzigem Atombombenopfer“ die Rede. Die Formel diente den konservativen Kräften schnell dazu, die für die japanische Politik gegenüber den asiatischen Nachbarn unangenehmere Kriegsschuldfrage in den Hintergrund zu drängen.14 Der anti-amerikanische Akzent der japanischen Friedensbewegung, die Hiroshima und Nagasaki in den sechziger Jahren zu einem ihrer wichtigsten Themen machten, verschärfte sich noch im Zuge des amerikanischen Engagements in Vietnam. Der Anti-Amerikanismus führte in Japan die Friedensbewegung und die politische Linke zusammen. Gleichwohl konnte eine parteipolitische Aufspaltung der Anti-Atombewegung, an der sich auch viele hibakusha beteiligten, nicht verhindert werden. Das Thema ließ sich dafür zu leicht politisch für unterschiedliche Zwecke instrumentalisieren. Im Jahre 1966 wurde noch einmal ein Versuch unternommen, mit einem einigenden Appell gegen die atomare Aufrüstung und für eine staatliche Unterstützung der Atombom<>benopfer die verschiedenen Strömungen zusammenzuführen. Doch blieben diese Bemühungen letzten Endes ergebnislos.15

Die japanische Regierung geriet gleichwohl seit den scharfen Auseinandersetzungen um die Verlängerung des Sicherheitsvertrags Anfang der 1960er Jahre auch in der Atombombenfrage unter Druck. Schon im Gefolge der Kritik an den Testversuchen im Bikini-Atoll hatte sich Tôkyô veranlaßt gesehen, im Jahre 1957 ein spezielles Gesetz für die gesundheitliche Betreuung der hibakusha zu verabschieden. Weitere Fonds zur Unterstützung der Atombombenopfer wurden per Gesetz im Jahre 1968 ins Leben gerufen, nachdem der Tôkyôter Gerichtshof einer Klage auf Entschädigung mit dem Argument stattgegeben hatte, daß die japanische Regierung wegen ihrer Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auch für seine Opfer aufkommen müsse.16 Man war um 1970 mit Blick auf die Festigung des transpazifischen Bündnisses mit den USA offiziell bemüht, die anti-amerikanischen Wogen nicht zu hoch schlagen zu lassen. In Meinungsumfragen zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, die 1970 von der japanischen Zeitung »Mainichi Shimbun« durchgeführt wurden, zeigte sich, daß die ablehnende Haltung gegenüber den USA in der Atombombenfrage noch lange nicht abgebaut war. 40<0> <>% aller Befragten machten die amerikanische Regierung für den Abwurf der Bomben verantwortlich (in Hiroshima dagegen nur 21<0> <>%), für 19<0> <>% trug die japanische Militärregierung die Hauptverantwortung dafür, daß es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen konnte.17 Die anti-amerikanischen Ressentiments wurden um 1970 noch zusätzlich dadurch verstärkt, daß bei entsprechenden Vergleichsumfragen in den USA 83<0> <>% der Befragten die Anwendung der Atombomben nicht bedauerten. Besonders scharf war die anti-amerikanische Grundstimmung in der jüngeren, erst nach dem Krieg geborenen Generation ausgeprägt. Mitte der siebziger Jahre hielt die Mehrzahl der japanischen Studenten von der sog. militärischen Rationalisierungsthese der Truman-Administration, wonach die Bomben dazu dienten, den Krieg möglichst schnell zu beenden, ganz wenig. Im Gegenteil, die meisten befragten Studenten erblickten in der Anwendung der Bomben ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Instrument globaler Machtpolitik in der Anfangsphase des Kalten Krieges. Andere Gründe, die besonders von jüngeren Japanern in den Meinungsumfragen angegeben wurden, bezeichneten die Vermeidung von Verlusten auf amerikanischer Seite, die Beendigung des Krieges vor dem Kriegseintritt der UdSSR, die Rechtfertigung der immensen Kosten des Atomprogramms und schließlich die Revanche für den japanischen Überfall auf Pearl Harbor als Gründe für die atomare Bombardierung. Vorrangig wurde aber auch in den kommenden Jahren die »Atomic Diplomacy«-These des amerikanischen Historikers Gar Alperovitz genannt.18

Auch die japanischen Historiker sind dieser These, die vor Alperovitz in Japan schon durch die kritischen Publikationen des britischen Physikers P.M.S. Blackett verbreitet worden waren, weitgehend gefolgt. In einem bekannten Buch zur Geschichte der Shôwa-Zeit haben etwa Tôyama Shigeki und andere die These vertreten, daß der Abwurf der Atombomben nicht der letzte Akt des Zweiten Weltkriegs war, sondern die erste Operation im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion.19 Die Autoren der linksgerichteten »Rekishigaku Kenkyûkai« (Forschungsgesellschaft für Geschichtswissenschaft) gingen noch einen Schritt weiter und vertraten die Auffassung, daß 500.000 Menschen ohne Grund dem politischen Machtkalkül der USA geopfert wurden.20 Neuerdings fallen die Beurteilungen wieder etwas moderater aus, doch auch heute noch wird von führenden japanischen Historikern die These vertreten, daß die Entscheidung für den Abwurf der Atombomben in erster Linie aus den gegen die UdSSR gerichteten Planungen der Truman-Administration herausgewachsen sei.21

Diese Thesen der Fachwelt haben in den vergangenen Jahren über die Medien, die Schulbücher und die sehr einflußreichen Lehrerverbände eine starke Verbreitung erfahren und die japanische Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki wesentlich geprägt. Ein Kommentator der Asahi Shimbun konnte 1975 vermerken, daß nunmehr allseits anerkannt sei, daß der wahre Grund für den Abwurf der Atombomben nicht in einer schnellen Beendigung des Krieges gelegen habe, sondern in der Einschüchterung der Sowjetunion.22 Diese Einschätzung, wenngleich weit verbreitet, ist denn doch wohl zu einseitig. Die Auffassungen zu Hiroshima und Nagasaki hängen heute auch in starkem Maße von der politischen Orientierung des einzelnen ab. So favorisierten 1980 selbst in der Stadt Hiroshima die Anhänger der konservativen Liberal-Demokratischen Partei die sog. militärische Option. Als Grund für den Abwurf der Bomben nannten 48<0> <>% der Befragten die schnelle Kapitulation Japans, 28<0> <>% verwiesen auf die Minimalisierung der Verluste für die amerikanische Seite, und nur 18<0> <>% rekurrierten auf das Weltmachtstreben der USA. Dagegen votierten 30<0> <>% der Anhänger der Kommunistischen Partei Japans und 25<0> <>% der Sozialisten für die geostrategische »Atomic-Diplomacy«-These.23 Signifikant ist für die retrospektive Wahrnehmung der Atombombenproblematik in Japan bei allen politischen Gruppierungen und durch die Generationen hindurch das zählebige, aber historisch falsche Argument, wonach die atomare Bombardierung japanischer Städte auch wegen rassistischer Vorurteile möglich gewesen sei und für die USA die Anwendung atomarer Waffen gegenüber dem Dritten Reich niemals in Frage gekommen wäre.24

Die Rolle des »Opfers« wird durch Rolle des »Täters« ergänzt

Die Beurteilungskriterien in den Diskussionen über den Abwurf der Atombomben haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verschoben und damit die Formen der Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki um neue Facetten bereichert. In den Jahren 1979/80 hatte sich die internationale Lage infolge des russischen Einmarschs in Afghanistan dramatisch zugespitzt. Die Phase relativer Entspannung schien plötzlich abgelaufen zu sein. Nach Auffassung westlicher und japanischer Sicherheitsexperten verschob sich das militärische Schwergewicht eindeutig zugunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Die »Hardliner« in der regierenden konservativen LDP nahmen dies zum Anlaß, neu über eine militärische Aufrüstung der japanischen Streitkräfte nachzudenken. Von manchen Wortführern in der Debatte war dabei vereinzelt auch zu hören, daß dies eine Option auf Nuklearwaffen nicht mehr ausschließen dürfe. Nationalistische und militaristische Töne waren in diesen Diskussionen unüberhörbar. Shimizu Ikutarô, ein bekannter Sozialwissenschaftler und ehemals ein Wortführer der Pazifisten, votierte im Juli 1980 offen für eine »nukleare Option«. Autoren wie Etô Jun forderten eine Revision der japanischen Verfassung, die es Japan nach Art. 9 eigentlich verbat, eine reguläre Armee zu unterhalten und Krieg zu führen. Sie war 1947 das Produkt der Erfahrungen mit Imperialismus und Militarismus und schien nun nicht mehr angemessen für ein Land, daß mittlerweile zu einer wirtschaftlichen Macht erster Ordnung geworden war. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Osteuropa ist es um die wenigen, aber unnachgiebigen Verfechter einer atomaren Aufrüstung Japans wieder stiller geworden. Schon die friedenserhaltenden Missionen des japanischen Militärs in Kambodscha wurden von der Öffentlichkeit angesichts der immer noch starken pazifistischen Grundströmung mit großem Mißtrauen beobachtet. Doch hat die traditionelle »Friedenserziehung« in Medien und schulischem Unterricht nicht mehr die Ausstrahlungskraft, die sie noch in den sechziger Jahren besessen hat. Damals wurden die Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki in den Schulbüchern noch auf mehreren Seiten behandelt. Heute sind davon oft nur noch wenige Zeilen übriggeblieben.

Ein anderer, neuer Trend darf abschließend nicht unerwähnt bleiben. Seit dem Tode Shôwa Tennôs im Januar 1989 wird die Frage nach einer japanischen Kriegsschuld (sensô sekinin) wieder offener und intensiver diskutiert. Offizielle Vertreter der Städte Hiroshima und Nagasaki und Anhänger der Friedensbewegung versäumen in der Regel nicht, in ihren Appellen für den Weltfrieden auch die japanischen Kriegsgreuel einfließen zu lassen. Die Integration dieser Problematik in die kollektive Erinnerung an die atomare Katastrophe bleibt hingegen schwierig und umstritten. Angesichts der Tatsache, daß bei den Bombenangriffen auch mehrere zehntausend Koreaner ums Leben kamen, die während der japanischen Herrschaft in Korea von dort verschleppt wurden, läßt sich das Bild vom »einzigen und alleinigen Opfer Japan« nicht mehr aufrechterhalten. Die Rolle des »Opfers« Japan (higaisha) wird neuerdings auch in der Öffentlichkeit durch das Bild vom »Täter« (kagaisha) ergänzt.25 Die Problematik der Atombomben und die Kriegsschuldfrage sind damit verknüpft worden, wenngleich zurecht davor gewarnt wird, beides gegeneinander aufzurechnen. Dies gefällt nicht allen, wie die zum Teil unwürdigen Debatten zur Erklärung des japanischen Parlaments zum Ende des Krieges vor 50 Jahren erst kürzlich gezeigt haben. Eine systematische und offene Behandlung der Kriegsschuldproblematik steht in Japan immer noch aus. Sie wäre aus außenpolitischen Gründen dringend geboten. Die asiatischen Nachbarn werden sich jedenfalls mit der japanischen »Opferrolle« allein niemals zufriedengeben.

Japan sucht eine Gelegenheit zur Kapitulation

Einschätzungen aus dem Marineministerium im Mai/Juni 1945

Ein Memorandum, das ich am 7. Mai 1945 für
den Marineminister verfaßte, enthält zwar nicht die Auffassungen so hoher Instanzen,
gibt aber Aufschluß über die Meinungen im Marineministerium gegen Kriegsende:

„Lieber Jim!

… Es besteht die Möglichkeit, daß der
Sieg in Japan schneller auf den Sieg in Europa folgt, als es vom Standpunkt der
Kriegsanstrengung her anzunehmen ratsam ist. Ratsam wäre jedoch, sich auf ein recht
frühes Kriegsende einzustellen. Vielleicht wäre es deshalb ganz nützlich, von den
verschiedenen Abteilungen des Ministeriums Berichte darüber anzufordern, was für
Maßnahmen hinsichtlich (a) neu abzuschließender Lieferverträge, (b) laufender Aufträge
und (c) des Personalstandes unter der Voraussetzung zu ergreifen wären, daß der Krieg
mit Japan zum Beispiel am 1. August oder spätestens bis zum 31. Dezember dieses Jahres
beendet ist.“

Von diesen individuellen Beurteilungen der
Lage ganz abgesehen, besaßen die Vereinigten Staaten eine verläßliche
Informationsquelle über Japan in der Möglichkeit, praktisch den gesamten Funkverkehr
zwischen dem japanischen Außenministerium und den Botschaften in Übersee abzufangen und
schnell zu dechiffrieren. Daher wußten wir, daß die Japaner nicht nur von ihrer
Niederlage überzeugt waren, sondern auch so schnell wie möglich den Krieg beenden
wollten.

(…)

Staatssekretär Ralph Bard, der das
Marineministerium im interministeriellen Ausschuß für Atomenergie (dem Vertreter des
Verteidigungs-, Marine- und Außenministeriums angehörten) vertrat, brachte damals seine
Ansichten freimütig zu Papier:

„27. Juni 1945

Memorandum zum Einsatz der S-1-Bombe

Solange ich mich mit diesem Programm befaßt
habe, bin ich der Meinung, daß Japan beim Einsatz der Bombe etwa zwei oder drei Tage vor
ihrem Abwurf auf irgendeine Weise gewarnt werden sollte. Dafür sprechen in erster Linie
die Stellung der Vereinigten Staaten als Vorkämpfer der Humanität und der
Gerechtigkeitssinn unseres Volkes. In den letzten Wochen habe ich auch den sehr bestimmten
Eindruck gehabt, daß die japanische Regierung nach einer Gelegenheit zur Kapitulation
sucht. Nach der Dreimächtekonferenz könnten amerikanische Unterhändler an einem
geeigneten Ort an der chinesischen Küste mit Vertretern Japans zusammentreffen und sie
über die Haltung Rußlands sowie den geplanten Einsatz der Atombombe informieren. Daneben
könnten sie ihnen mitteilen, was der Präsident hinsichtlich des Kaisers von Japan und
der Behandlung des japanischen Volkes nach der bedingungslosen Kapitulation zuzusichern
bereit ist. Es erscheint mir sehr wohl möglich, daß dies die Gelegenheit darstellen
würde, nach der die Japaner suchen.

Ich wüßte nicht, was wir bei einem solchen
Vorgehen zu verlieren hätten. Es steht so ungeheuer viel auf dem Spiel, daß ein Plan
dieser Art meiner Überzeugung nach sehr ernsthaft erwogen werden sollte. Ich glaube
nicht, daß es in den Vereinigten Staaten unter den gegenwärtigen Umständen irgend
jemand gibt, dessen Beurteilung der Erfolgsaussichten eines solchen Vorhabens sehr
verläßlich wäre. Was dabei herauskommt, läßt sich nur durch den Versuch herausfinden.

(gez.) Ralph A. Bard“

Quelle: Lewis L. Strauss, Kette der
Entscheidungen. Amerikas Weg zur Atommacht, Droste Verlag, Düsseldorf 1964, S. 216 und
220.

Anmerkungen

1) Die Folgen der Atombomben sind umfassend dokumentiert in Iijima Sôichi u.a. (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki no genbaku saigai (Die Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki), Tôkyô 1979. Eine gekürzte englischsprachige Fassung erschien zwei Jahre später: The Committee for the Compilation of Materials on Damage Caused by the Atomic Bombs in Hiroshima and Nagasaki (ed.), Hiroshima and Nagasaki. The Physikal, Medical, and Social Effects of the Atomic Bombings, Tôkyô 1981. Für die Vorgeschichte und die unmittelbaren Folgewirkungen der Atombombenabwürfe vgl. neuerdings den konzisen Beitrag von Wieland Wagner, Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki, in: Michael Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, S. 72-94. Bei der Nennung japanischer Eigennamen folge ich der Konvention, wonach der Familienname vorangestellt wird. Zurück

2)) Siehe Elke und Jannes K. Tashiro, Hiroshima. Menschen nach dem Atomkrieg. Zeugnisse, Berichte, Folgerungen, München 1982. Zurück

3)) Vgl. Robert J.C. Butow, Japan's Decision to Surrender, Stanford/Cal. 1954, S. 76ff; Alvin D. Coox, The Pacific War, in: Peter Duus (ed.), The Cambridge History of Japan, Vol. 6, Cambridge 1988, S. 372ff; Hattori Takushirô, Japans Weg aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Andreas Hillgruber (Hrsg.), Probleme des Zweiten Weltkriegs, Köln/Berlin 1967, S. 389-435. Zurück

4)) Akiba Tadatoshi, Atomic Bomb, in: Kodansha Encyclopedia of Japan, Vol 1, Tôkyô 1983, S. 107ff. Zurück

5)) Vgl. Wagner, Inferno, S. 89. Zurück

6)) Vgl. den Abdruck der kaiserlichen Erklärung in Butow, Japan's Decision, S. 248. Zurück

7))Vgl. dazu das wichtige Buch von Ian Buruma, The Wages of Guilt. Memories of War in Germany and Japan, London 1994, S. 92ff (auch in deutscher Übersetzung im Hanser-Verlag erschienen). Zurück

8) Vgl. zur Frage der Atombombenfolgen in der öffentlichen Meinung Japans die Artikelserie Hibaku mondai to hôdô (Die Problematik der Atombombenopfer und die Presseberichterstattung), in: Asahi Shimbun vom 28.3., 29.3. und 30.3.1995. ) Zurück

9)) Vgl. dazu Monica Braw, The Atomic Bomb Suppressed. American Censorship in Occupied Japan, 2. Aufl., New York 1991, S. 89ff. Zurück

10)) Vgl. Etô Jun, Wasureta koto to wasuresaserareta koto (Was wir vergessen haben und was man uns vergessen ließ), Tôkyô 1979. Zurück

11)) Siehe John Hersey, Hiroshima, New York 1946, – ein bewegendes Buch, das die Kritik an den Atombombenabwürfen weltweit befördert hat. Für die amerikanische Resonanz vgl. Michael J. Yavenditti, John Hersey and the American Conscience: the Reaction of »Hiroshima«, in: Pacific Historical Review 43 (1974), S. 24-49. Zurück

12)) Vgl. Hiroshima Peace Culture Foundation (Hrsg.), Hiroshima Peace Reader, 10. Aufl., Hiroshima 1994, S. 49. Zurück

13))Für die literarischen Zeugnisse vgl. Itô Narihiko, Siegfried Schaarschmidt, Wolfgang Schamoni (Hrg.), Seit jenem Tag. Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur, Frankfurt 1984; sowie Jürgen Berndt (Hrg.), An jenem Tag. Literarische Zeugnisse über Hiroshima und Nagasaki, Berlin (DDR), 1985. Zurück

14)) Vgl. Wolfgang Schwentker, Die Last der Geschichte. Die historischen Grenzen einer japanischen Hegemonialpolitik, in: Hartwig Hummel, Reinhard Drifte (Hrsg.), Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt 50 Jahre nach dem Untergang des japanischen Reiches, Bad Boll 1995, S. 29-36. Zurück

15) Siehe dazu Committee (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki, S. 567ff. Zurück

16) Vgl. Akiba, Atomic Bomb, S. 110. Zurück

17) Siehe Asada Sadao, Japanese Perceptions of the A-Bomb-Decision, 1945-1980, in: Joe C. Dixon (Hrsg.), The American Military and the Far East, Washington 1980, S. 204. Zurück

18) Ebd., S. 207. Vgl. auch Gar Alperovitz, Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam. The Use of the Atomic Bomb and The American Confrontation with the Soviet Power, New York 1965. Das Buch erschien im selben Jahr in Auszügen auch auf japanisch in der Zeitschrift »Economisuto«. Zurück

19) Vgl. Tôyama Shigeki u.a., Shôwashi (Geschichte der Shôwa-Zeit), Tôkyô 1959, S. 366. Zurück

20) Rekishigaku Kenkyûkai (Hrsg.), Taiheiyô sensôshi (Geschichte des pazifischen Krieges), Bd. 5, Tôkyô 1973, S. 363 ff. Zurück

21) Vgl. Fujimura Michio, Nihon gendaishi (Neuere japanische Geschichte), Tôkyô 1981, S. 273f. Zurück

22) Vgl. Asada, Japanese Perceptions, S. 207. Zurück

23) Ebd., S. 208. Zurück

24) Ebd., S. 214. Zurück

25) Vgl. Asahi Shimbun vom 30. März 1995. Zurück

Dr. Wolfgang Schwentker ist Historiker und arbeitet am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf. Dieser Aufsatz ist der erweiterte Kurzbeitrag des Autors für die HSFK-Podiumsdiskussion »Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Japan und Deutschland«, die am 29.6.1995 in Frankfurt stattfand.

Das Uran-Projekt

Das Uran-Projekt

Handlung, Intention und die deutsche Atombombe

von Mark Walker

Die Geschichte des »Uran-Projektes« ist die ebenso interessante wie frustrierende Geschichte der deutschen Erforschung der wirtschaftlichen und militärischen Ausnutzung der nuklearen Spaltung während des Krieges. Wissenschaftler und Gelehrte sehen es als schwierig – wenn nicht sogar unmöglich – an, sich auf eine Interpretation dieser Forschungsarbeiten zu einigen. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele historische Beweise zutage gefördert wurden oder wie sorgfältig sie untersucht wurden. Dieses Kapitel der Geschichte ist politisiert worden, da es zum einen im Schatten des nationalsozialistischen Regimes stattfand und zum anderen wegen des seit Kriegsende angsteinflößenden Gespenstes des Atomkrieges. Das Problem unseres historischen Verständnisses dieser Forschungsarbeiten jedoch liegt tiefer und ist das Ergebnis unserer kollektiven Unfähigkeit, deutlich und konsequent zwischen Intention und Handlung zu unterscheiden – zwischen dem, was hätte geschehen können, und dem, was geschehen ist. Die vorliegende Abhandlung wird diese Unterscheidung vor allem durch eine Darstellung der Geschehnisse während des Krieges deutlich herausstellen; dabei wird auf Spekulationen hinsichtlich der Motivationen einzelner Akteure entschieden verzichtet. Erst nach dieser Beschreibung wird die Frage der Intention, die Frage, was hätte geschehen können, wenn alles anders abgelaufen wäre, behandelt.

Handlung

Die Entdeckung der nuklearen Spaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann gegen Ende des Jahres 1938 und die darauffolgende theoretische Erläuterung des Phänomens durch ihre frühere Kollegin Lise Meitner und andere überraschte die Wissenschaft. Als dieses Ergebnis veröffentlicht wurde, widmeten sich jedoch sehr viele Wissenschaftler unterschiedlicher Nationalitäten dem Problem mit Enthusiasmus.

Diese übersteigerten Bemühungen, die nukleare Spaltung zu verstehen und zu beherrschen, waren das Ergebnis der üblichen Kräfte, welche Forschung vorantreiben: wissenschaftliche Neugier und beruflicher Ehrgeiz

Das große Interesse an Uran war schwer zu kontrollieren, selbst am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Der Schleier der Geheimhaltung fiel erst auf die Nuklearforschung, als die wichtigsten Ergebnisse bereits veröffentlicht worden waren. Isotopisches 235Uran konnte mit langsamen Neutronen gespalten werden, während isotopisches 238Uran diese gewöhnlich absorbierte. Bei der Spaltung von Urankernen wurden zwei oder mehr Neutronen freigesetzt. Da sich diese Neutronen mit hoher Geschwindigkeit bewegten, war eine energieproduzierende Atomspaltungskettenreaktion möglich. Ein Atomreaktor, bestehend aus Uran und einem Moderator, konnte eine solche Kettenreaktion kontrollieren und so nukleare Energie erzeugen. Bei der Absorption von Neutronen durch 238Uran fand eine schrittweise Umwandlung in transuranische Elemente (Neptunium und Plutonium) statt, die wahrscheinlich ebenso spaltbar waren wie 235Uran.

Schließlich hielten Wissenschaftler aller Staaten eine Veröffentlichung ihrer wichtigsten Ergebnisse zurück. Ihre Forschungsarbeiten wurden jedoch erst durch den Krieg unmöglich gemacht. In der Folge wurde die Arbeit in Frankreich und in der Sowjetunion bis zur deutschen Invasion fortgeführt. Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 wurden die meisten Bereiche der Nuklearforschung in allen Staaten von der jeweiligen Regierung und somit vom Militär kontrolliert. In Deutschland wurden einige Dutzend Wissenschaftler vom Heereswaffenamt verpflichtet, das wirtschaftliche und militärische Potential der Kernspaltung zu untersuchen. Einige dieser Wissenschaftler waren mit der Uranforschung bereits vertraut, andere nicht. Viele der Wissenschaftler wurden zwangsrekrutiert; da das Uran-Projekt jedoch unter der Aufsicht des Heereswaffenamtes stand, waren sie so in der Lage, eine Form des Kriegsdienstes – die Arbeit mit Uran – gegen eine andere einzutauschen. Das Heereswaffenamt übertrug den Wissenschaftlern eine ganz spezielle Aufgabe: Sie sollten ermitteln, ob Atomwaffen – von welcher Seite auch immer – rechtzeitig entwickelt werden könnten, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen. Dieser Auftrag enthielt jedoch ein subjektives Element, da »rechtzeitig« davon abhängig war, wie der Beobachter, und insbesondere das Heereswaffenamt, die Dauer des Konfliktes einschätzte. Während des Blitzkrieges von September 1939 bis zu den letzten Monaten des Jahres 1941 kamen die deutschen Wissenschaftler, die gemeinsam am Uran-Projekt arbeiteten, zu dem Schluß, das nukleare Sprengstoffe in Form von reinem 238Uran und Plutonium durch Isotopentrennung beziehungsweise einen Nuklearreaktor erzeugt werden könnten. Während dieser Phase glaubte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung – und höchstwahrscheinlich auch die Wissenschaftler – jedoch an ein baldiges Ende des Krieges und einen deutschen Sieg.

Sobald die Beteiligten am Uran-Projekt zu wichtigen Ergebnissen gelangt waren, teilten sie diese dem Heereswaffenamt mit und betonten zugleich die Relevanz der Ergebnisse im Hinblick auf die Herstellung atomarer Waffen. Werner Heisenberg hatte z. B. gegen Ende des Jahres 1939 dem Heereswaffenamt mitgeteilt, daß isotopisches 235Uran ein starker atomarer Sprengstoff wäre. Im Sommer 1940 meldete Carl Friedrich von Weizsäcker an die gleiche Stelle, daß ein spaltbares transuranisches Element (welches die Deutschen in der Folge als Plutonium erkannten) in einem Atomreaktor erzeugt werden könne. Zu einem späteren Zeitpunkt des gleichen Jahres bezog Otto Hahn sich auf die militärische Bedeutung der Arbeit von Weizsäckers, als er dem Heer deutlich machte, daß die Erforschung transuranischer Elemente in seinem Institut Unterstützung verdiente.

Die Arbeit des deutschen Uran-Projektes während des Blitzkrieges war dem amerikanischen Atomwaffenprojekt ebenbürtig. Mit einigen Ausnahmen befaßten sich beide Seiten mit den gleichen Problemen, fanden dieselben Lösungen und kamen zu den gleichen Ergebnissen. Somit teilten nicht nur diese Wissenschafter ihre Ergebnisse dem Heereswaffenamt ohne Verzögerung mit; die gleichen Ergebnisse wurden fast zur gleichen Zeit von ihren amerikanischen Kollegen der Regierung der Vereinigten Staaten mitgeteilt. Es existiert kein Beweis dafür, daß ein deutscher Wissenschaftler seine Arbeit falsifiziert, verzögert oder dem Heer des nationalsozialistischen Staates vorenthalten hätte. Ebenso existiert kein Beweis, daß diese Wissenschaftler während des Blitzkrieges ihre Arbeit als relevant für den in Europa wütenden Konflikt ansahen.

Das Ende des Blitzkrieges verwandelte das Uran-Projekt weder in eine mit aller Kraft vorangetragene Bemühung, atomare Waffen zu entwickeln und herzustellen, noch wurde das Projekt auf die sogenannten friedlichen Nutzungen atomarer Energie beschränkt. Im Januar 1942 fragte das Heereswaffenamt die Wissenschaftler des Projektes zum ersten und letzten Mal, ob Atomwaffen realisierbar seien und wann mit ihnen zu rechnen sei. Die Wissenschaftler stimmten zu, daß Atomwaffen erzeugt werden könnten, daß dies aber mindestens einige Jahre in Anspruch nehmen würde.

Der Leiter der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes Erich Schumann kam zu dem berechtigten Schluß, daß die Nuklearforschung für den Krieg, den Deutschland führte, irrelevant war und gab das Uran-Projekt in zivile Hände.

Die Arbeit wurde im Labor von etwa fünfzig vollzeit- oder teilzeitbeschäftigten Forschern fortgeführt; man untersuchte alle Aspekte der angewandten Kernspaltung. Diese Wissenschaftler waren insbesondere bemüht, die beiden starken nuklearen Sprengstoffe 235Uran und Plutonium zu analysieren und zu erzeugen.

Während die Deutschen bis zum Winter 1941/1942 grundsätzlich mit ihren amerikanischen und britischen Kollegen Schritt halten konnten, fielen sie jetzt rapide zurück, da die Nuklearforschung in den Vereinigten Staaten die Laborebene verließ und in die Industrie wanderte.

Obwohl die Deutschen weiterhin sehr hart an Atomreaktoren und der Isotopentrennung arbeiteten, konnten sie erst am Ende des Krieges die Ergebnisse vorweisen, zu denen Amerikaner und Briten bereits im Sommer 1942 gelangt waren. Die deutschen Wissenschaftler betonten gegenüber dem nationalsozialistischen Staat auch weiterhin den militärischen Aspekt ihrer Arbeit.

Paul Harteck versuchte 1942 das Heereswaffenamt zu überzeugen, daß die Erforschung der Isotopentrennung mehr Unterstützung verdiene, da sie die besten Aussichten auf die Erzeugung nuklearer Sprengstoffe böte. Im Februar desselben Jahres hielt Werner Heisenberg einen berühmten Vortrag über »Die theoretische Grundlage für die Energieerzeugung durch Uranspaltung« vor einem Publikum führender Vertreter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der Staatsbürokratie, der Streitkräfte und der deutschen Industrie. Einerseits teilte Heisenberg dem Publikum mit, daß 235Uran und Plutonium nukleare Sprengstoffe mit einer „vollkommen unvorstellbaren Wirkung“ seien, auf der anderen Seite betonte der Physiker jedoch, daß die Gewinnung dieser Sprengstoffe sehr schwierig sei und daß noch viel Arbeit vor ihnen liege.

Die Mitarbeiter des Uran-Projektes ließen die Arbeit an diesen Stoffen nie ruhen. Als sich jedoch mit fortschreitender Zeit die Lage der Deutschen im Krieg verschlechterte, wurde die militärische Nutzung der Kernspaltung nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert.

Bei Kriegsende wurden die meisten dieser Wissenschaftler verhaftet und von der Alsos-Mission verhört, einer wissenschaftlichen Geheimdiensttruppe der amerikanischen Streitkräfte. Ironischerweise glaubten die Deutschen, daß ihre Errungenschaft – die vollständige Trennung kleinster Mengen von 235Uran und ein Atomreaktor bestehend aus natürlichem Uran und schwerem Wasser, welche fast kritisch wurde (d.h. er ermöglichte beinahe eine Atomspaltungskettenreaktion und hielt diese aufrecht) – die Alliierten überflügelt hätte. Die Amerikaner hemmten das deutsche Gefühl der Überlegenheit nicht, aber sie erzeugten es ebensowenig.

Die deutschen Wissenschaftler änderten abrupt ihre Meinung, als die Nachricht des Angriffs auf Hiroshima enthüllte, daß die Amerikaner Atomwaffen gebaut und eingesetzt hatten. Zehn dieser Wissenschaftler waren in England interniert. Sie wollten die Nachricht zunächst nicht glauben. Sogar nachdem sie überzeugt waren, daß die Amerikaner eine Atombombe gebaut hatten, hielten die Deutschen in Farm Hall untereinander an ihrer Argumentation fest, daß einige Aspekte ihrer Arbeit der Arbeit der Amerikaner überlegen sein könnten.

Nach und nach, als immer mehr Informationen über das amerikanische Projekt zu ihnen durchdrangen, mußten sie zugeben, daß die Amerikaner sie übertroffen hatten.

Intention

Handlungen sind natürlich nicht alles. Intentionen sind ebenfalls von Bedeutung. Wir wollen wissen, warum etwas getan wurde, nicht nur, was geschehen ist. Intentionen sind jedoch viel schwieriger zu bestimmen als Handlungen; und vor allem sind Intentionen nicht immer relevant. So besteht z.B. zwischen den folgenden Fragenpaaren ein großer Unterschied: (1) „Haben sie die Alliierten vor der Gefahr der deutschen Atomwaffen gewarnt?“ und „Würden sie die Alliierten vor der Gefahr der deutschen Atomwaffen gewarnt haben?“; (2) „Haben sie nur an den friedlichen Einsätzen atomarer Energie gearbeitet?“ und „Würden sie nur an den friedlichen Einsätzen atomarer Energie gearbeitet haben?“; (3) „Haben diese Wissenschaftler vor Hitler Atomwaffen verschwiegen?“ und „Würden diese Wissenschafter Atomwaffen vor Hitler verschwiegen haben?“.

Für die ersten Fragen dieser Paare können Handlungen eine Antwort bieten, Intentionen sind irrelevant. Deutsche Wissenschaftler haben die Alliierten niemals vor der Gefahr deutscher Atomwaffen gewarnt, aus dem einfachen Grund, weil sie wußten, daß keine Gefahr bestünde, daß solche Waffen vor Beendigung des Krieges entwickelt und eingesetzt werden könnten. Einige Beteiligte am Uranprojekt haben ihre Forschungen mit ausländischen Kollegen diskutiert und brachten ihre ambivalente Einstellung im Hinblick auf mögliche Konsequenzen für die Zukunft zum Ausdruck. Sie behaupteten jedoch niemals, daß sie oder ihre Kollegen die Nationalsozialisten mit Atomwaffen versorgen würden – weder zu diesem Zeitpunkt noch in naher Zukunft.

Die deutschen Wissenschaftler konnten nicht ausschließlich an den friedlichen Nutzungen nuklearer Energie arbeiten, da wirtschaftliche und militärische Nutzungen miteinander in Verbindung stehen. Wie alle Beteiligten des Uran-Projektes wußten, konnten die Techniken der Isotopentrennung, die sie verbesserten, sowohl Uran für die Nutzung in einem Uran-Leichtwasserreakor anreichern als auch reines 235Uran, einen Atomsprengstoff, erzeugen; die Kernreaktoren, die sie herstellten, würden Plutonium als Nebenprodukt jeder andauernden Kettenreaktion produzieren.

Schließlich verschwiegen diese Wissenschaftler Atomwaffen nicht vor Hitler. Statt dessen führten sie die Forschungen durch, mit denen man sie beauftragt hatte. Sie machten ihre Arbeit gut, vergleichbar mit der Arbeit der Alliierten, und sie teilten ihre Ergebnisse sofort dem Heereswaffenamt mit. Es war dann die nationalsozialistische Regierung, die beschloß, die Uranforschung auf der Laborebene einzufrieren und so sicherzustellen, daß diese Wissenschaftler bis zur Beendigung des Krieges nur bescheidene Ergebnisse erlangen konnten. Die deutschen Uranwissenschaftler gaben Hitler keine Waffen; dies bedeutet jedoch nicht, daß sie die Waffen vor ihm verschwiegen.

Für die zweite Frage der obengenannten Paare können Handlungen keine Antwort bieten, da sie die Frage stellen, was diese Wissenschaftler getan hätten, wenn alles anders verlaufen wäre. Intentionen sind aus demselben Grund irrelevant.

Ob diese Wissenschaftler die Welt zu warnen versucht hätten, wenn die Gefahr deutscher Atomwaffen bestanden hätte, ob sie sich entschlossen hätten, nur auf der friedlichen Seite dieser Forschung zu arbeiten, wenn es möglich gewesen wäre, und ob sie getan hätten, was nötig gewesen wäre, um Atomwaffen vor Hitler zu verschweigen, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, daß er sie hätte bekommen können – diese Fragen liegen außerhalb der Grenzen von Geschichtswissenschaft. Niemand weiß mit Sicherheit, was sie getan hätten; dies bedeutet wiederum, daß niemand leugnen kann, sie hätten das Richtige getan; und niemand kann beweisen, daß sie dies getan hätten. Es ist noch nicht einmal klar, daß man sich darauf geeinigt hätte, was das »Richtige« gewesen wäre.

Es gibt keine Kombinationsmöglichkeit für den Bereich der Handlung und der Intention, die uns helfen könnte, diesen Teil der Geschichte zu verstehen.

Historiker können nach den Motivationen dieser Wissenschafter für ihre Taten fragen, nicht danach, was sie getan hätten, wenn alles anders verlaufen wäre. Selbst in diesem Fall wußte niemand mit Sicherheit, welche Motive sie hatten, aber wir können uns wenigstens der historischen Fakten ihrer Handlungen bedienen, um eine plausible Erklärung ihrer Intention zu konstruieren.

Die Tatsache, daß diese Wissenschaftler ihre Arbeit an der angewandten Kernspaltung ohne Unterbrechung fortsetzten und – in einigen Fällen – ausländische Kollegen über ihre Forschung informierten, läßt darauf schließen, daß wenigstens einige der Wissenschaftler des Uran-Projektes ihrer Arbeit ambivalent gegenüberstanden. Sie sorgten sich nicht genug, um aufzuhören, aber sie waren besorgt. Dies ist in der Tat ein begründeter Schluß – unter der Voraussetzung, daß sie an mächtigen neuen Energiequellen und Sprengstoffen für die nationalsozialistische Regierung während des Zweiten Weltkrieges arbeiteten und daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Wissenschaftlergemeinschaft für den Krieg mobilgemacht worden war. Es wäre überraschender gewesen, wenn sie keine Bedenken dem Uran-Projekt gegenüber gehabt hätten oder wenn sie sich ad hoc geweigert hätten, am Projekt teilzunehmen.

Die Tatsache, daß diese Wissenschaftler in ihren technischen Berichten demonstrierten, daß sie die Dualität von Kernenergie und Atomwaffen erkannten und mit einigen Ausnahmen – wie 1942 Heisenberg – gewöhnlich nur von der friedlichen Nutzung der Kernspaltung sprachen, legt nahe, daß sie dem zerstörerischen Potential ihrer Forschung ambivalent gegenüberstanden.

Diese Aussicht sorgte sie nicht in dem Maße, daß sie ihre Arbeiten beendeten; es erfüllte sie jedoch auch nicht mit Enthusiasmus.

Die letzte Frage ist vielleicht die beunruhigendste, da diese Wissenschaftler ohne Ausnahme das taten, was ihre Regierung ihnen befohlen hatte. Sie taten es nach bestem Wissen und leiteten ihre Informationen sofort an die verantwortlichen militärischen und zivilen Vorgesetzten weiter. Es existiert kein Beweis dafür, daß ein Beteiligter des Uran-Projektes eine gestellte Aufgabe nicht erfüllt hätte, weder wegen der Regierung, der er diente, noch wegen des zerstörerischen Potentials seiner Forschung. Es existiert kein Beweis, daß ein Beteiligter bewußt minderwertige Arbeit geleistet hätte oder sie verlangsamt hätte; und es gibt keinen Beweis, daß ein Beteiligter seine Ergebnisse Vorgesetzten vorenthalten hätte.

Wie andere Fragen gezeigt haben, gibt es keinen Grund zu bezweifeln, daß diese Wissenschaftler ihrer Arbeit ambivalent gegenüberstanden, die Frage nach der Ämbivalenz stellt sich hier jedoch nicht, eher die Frage nach dem Gehorsam: Wenn sie Atomwaffen rechtzeitig hätten herstellen können, so daß die deutschen Streitkräfte sie hätten nutzen können, und wenn sie gefragt worden wären oder man ihnen befohlen hätte, dies zu tun, was hätten sie getan? Niemand kann diese Frage beantworten, nicht einmal die Wissenschaftler selbst.

Anmerkung

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Der Griff nach dem atomaren Feuer. Die Wissenschaft 50 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki“. Herausgegeben von U. Albrecht, U. Beisiegel, R. Braun und W. Buckel, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995. Es wird Ende diesen Jahres im Peter Lang Verlag erscheinen. Wir danken dem Autor, dem Verlag und der Herausgeberschaft für die Abdruckgenehmigung.

Mark Walker studierte Mathematik und Geschichte. Er lehrt am Union College in New York.