Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

von Oliver Meier

Am 17. und 18. Oktober haben mehr als 50 ExpertInnen aus den USA, Rußland und anderen europäischen Staaten in Berlin über »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit« beraten. Das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) hatte den internationalen Workshop in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert, um den Umgang mit den nuklearen Altlasten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR aus umwelt-und sicherheitspolitischer Sicht zu diskutieren.

Die TeilnehmerInnen nahmen zunächst eine Bestandsaufnahme der ökologischen Probleme und der Lage der Atomwaffen vor. Die ReferentInnen aus Deutschland, Norwegen und den USA sowie Vitaly Shelest (Berater der russischen Duma) stellten einmütig fest, daß die sichere Verwahrung von Atommüll und Sprengköpfen nicht gewährleistet ist und immer noch dringender Handlungsbedarf besteht. Alexander Nikitin (Direktor des Center for Political and International Studies in Moskau) und Igor Sutyagin (USA and Canada Institut, Moskau) verdeutlichten anschließend, daß außerdem die Gefahr einer Wiederaufwertung von Atomwaffen droht.

Danach evaluierten die TeilnehmerInnen die vorhandenen internationalen Hilfsprogramme. Auch sechs Jahre nach dem Ende der Sowjetunion bestehen erhebliche Defizite bei der Umsetzung solcher Hilfsprogramme. Dies liegt zum einen an den politischen Strukturen in Rußland selbst, wie Ulrich Albrecht von der Freien Universität darlegte. Phil Rogers von der Central European University in Budapest untermauerte diese These indem er schilderte, daß Bürgerbewegungen nur sehr begrenzten Einfluß auf die Politik der Regierung hätten.

Zum anderen werden internationale Hilfsprogramme häufig am eigentlichen Bedarf in Rußland vorbei geplant. In den USA drohen die Mittel zudem der innenpolitischen Auseinandersetzung über den richtigen Kurs gegenüber Rußland zum Opfer zu fallen, wie Jo Husbands von der amerikanischen Akademie der Wissenschaften beklagte. Annette Schaper von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bewertete anschließend die von ihrem Umfang her wesentlich bescheideneren Hilfsprogramme der Europäischen Union.

Defizite wurden auch in der nuklearen Abrüstungspolitik konstatiert. Botschafter a.D. Thomas Graham mahnte die Nuklearwaffenstaaten, ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung ernster zu nehmen und forderte, endgültig auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten. Diskutiert wurde dann unter anderem, wie die Gefahr eines versehentlichen Abschusses von Atomwaffen oder eines Unfalls verringert werden kann. In der Abschlußdiskussion wurden Alternativen zu den bestehenden Politikansätzen erörtert. Dabei wurde klar, daß es dringend einer engeren Verknüpfung von sicherheits- und umweltpolitischen Fragestellungen bei der Konzipierung von Hilfsprogrammen bedarf.

Einen stimmungsgerechten Ausklang der Tagung erlebten die Teilnehmer bei einem gemeinsamen Ausflug zu einem ehemaligen sowjetischen Atomwaffenlager in der Nähe von Berlin.

Ein Konferenzreader mit den Beiträgen der ReferentInnen kann gegen einen Unkostenbeitrag bestellt werden über das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS), Rykestr. 13, 10405 Berlin, Tel.: (030) 441 0220, FAX (020) 441 0221, e-mail: meier@zedat.fu-berlin.de

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) und Lehrbeauftragter am Fachbereich Politische Wissenschaften der FU Berlin.

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Wissenschaft und Öffentlichkeit müssen mitbestimmen

von Paul F. Walker

Außen- und Militärpolitik, insbesondere zu Fragen von Krieg und Frieden, werden von herrschenden Eliten entworfen und umgesetzt, Wissenschaft und Öffentlichkeit werden bisher kaum oder gar nicht einbezogen. Über teure Waffenbeschaffungsprogramme, wie das 45 Milliarden Dollar kostende B-52-Bomberprogramm oder das 50 Mrd. Dollar verschlingende Forschungsprogramm für den »Krieg der Sterne«, wird jährlich im US-amerikanischen Kongreß ohne nennenswerte Beteiligung von außen, abgesehen von Lobbyisten der interessierten Forschungsstätten und Industrie, abgestimmt. Öffentliche Bedenken und Kontrollen spielten und spielen bei den großen Stationierungsvorhaben der Streitkräfte im Ausland, z.B. in Haiti, Ruanda, Bosnien, Somalia, keine Rolle. Auch die Aufsicht des Kongresses wurde in manchen Fällen ausgesetzt. Ein Großteil des derzeitigen jährlichen Militärhaushaltes der USA von 268 Mrd. Dollar wird ohne öffentliche Debatte und Kontrolle beschlossen.

Die selbst in einer so starken Demokratie wie den USA weitverbreitete Ansicht, Außen- und Militärpolitik seien zu komplex, wichtig und esoterisch, um sie der Öffentlichkeit zu überlassen, könnte eine wichtige Ursache für diesen Zustand sein. Die mühsame Entscheidungsfindung wird erfahrenen und seit Jahren in die Politikgestaltung einbezogenen Experten überlassen. Ein weiterer Aspekt könnte der Glaube an Elitesysteme sein, der annimmt, daß exklusive Prozesse der Entscheidungsfindung einfacher und effektiver seien. Zumindest in den Augen traditioneller Bürokraten kompliziert die Einbeziehung von Experten von außen und der Öffentlichkeit die anstehenden Fragen nur unnötig.

Doch im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Fälle, in denen wissenschaftliche und öffentliche Ratschläge und Hinweise weitreichende Fehlentscheidungen der Regierung verhinderten, bereits vollzogene Entscheidungen neu zur Debatte stellten und schwierige politische und wirtschaftliche Programme erst durchsetzungsfähig machten.

Hierfür einige Beispiele:

  • Sowohl die Behauptung einer »Bomber-Lücke« 1955 als auch die einer »Raketen-Lücke« 1960, mit denen sich die USA als in Bomber- und Raketenbestand der Sowjetunion weit unterlegen darstellte, konnten nach und nach als Fehlinterpretationen der Geheimdienste entlarvt werden. Besonders interessant ist der Fall der »Bomber-Lücke«, die auf der Zahl der strategischen Bomber beruhte, die ein US-amerikanischer Spion in Moskau am 1. Mai über dem Roten Platz gezählt hatte und die die US-amerikanische Luftwaffe veranlaßte, die Produktion der Langstreckenbomber zu forcieren, um mit dem Gegner im Kalten Krieg gleichzuziehen. Einige Jahre und Hunderte von Bombern später wurde in neuen, z.T. von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen festgestellt, daß sich hinter den Bombern vom Roten Platz nur eine Schwadron verbarg, die über Moskau kreisend wieder und wieder über die Parade zum 1. Mai geflogen war.
  • Anfang der sechziger Jahre waren es Wissenschafter, Mediziner und Zahnärzte, die in Kinderzähnen einen erhöhten Strontium 90-Gehalt feststellten und daraufhin die Öffentlichkeit über diese Tatsache informierten, weitere wissenschaftliche Untersuchungen anregten. Sie verstärkten den politischen Druck für eine Unterzeichnung des »Begrenzten Teststoppvertrages« von 1963.
  • Ein knappes Jahrzehnt später scheiterte das bedeutende US-amerikanische Vorhaben, ein Schutzschild gegen ballistische Raketen (ABM, anti-ballistic missiles) für das Land aufzubauen – die einzige aufgebaute Abfangeinrichtung arbeitete nicht einmal eine Woche – nachdem Außenseiter mit sorgfältig erarbeiteten und weitreichenden Kritiken nachweisen konnten, daß das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Programms sehr ungünstig war. Leider waren auch hier, wie in zahlreichen anderen Fällen, bereits Milliarden von Dollar ausgegeben worden, bevor das Programm aufgegeben wurde.
  • In den späten siebziger Jahren, unter der Regierung Jimmy Carter, versuchte die US-amerikanische Luftwaffe, 200 interkontinentale ballistische MX-Raketen auf riesigen Lastwagen zu stationieren. Sie sollten zu einem System mobiler Basen in den Bundesstaaten Utah und Nevada aufgebaut werden. Dieses Großprojekt, das wahrscheinlich zehnstellige Milliardenbeträge von Dollar und ungeheure Mengen an Zement, Wasser und Land verschlungen hätte, wurde vorgeschlagen, um der von den Nuklearstrategen befürchteten wachsenden atomaren Erstschlagskapazität der Sowjetunion begegnen zu können. Es wurde angenommen, daß viele der MX-Raketen, die ständig zwischen tausenden von Raketengaragen in der Wüste hin- und herbewegt werden sollten, jeden Erstschlag überstehen und für einen Vergeltungsschlag zur Verfügung stehen würden. Zahlreiche Wissenschafter, Umweltschützer und andere Angehörige der akademischen Gemeinschaft engagierten sich in weitreichenden öffentlichen Untersuchungen, Debatten und Kritiken des Programms. Es wurde z.B. nachgewiesen, daß die Hitze, die die atomar bestückten Raketen in ihren Verstecken oder auf Lastwagen abgeben würden, den jeweiligen Standort für Infrarotsatelliten sichtbar machen würde. Die Luftwaffe behauptete daraufhin, alle Garagen und LKWs würden mit Klimaanlagen ausgestattet. Doch in weiteren Untersuchungen durch die Öffentlichkeit konnte nachgewiesen werden, daß die Klimaanlagen selbst aufspürbare Hitzesignale abstrahlen würden. Weitere strittige Punkte befaßten sich mit dem Wasserverbrauch in der Wüste, den Umweltschäden an tausenden von Quadratkilometern Land und der Spionageanfälligkeit des Programms. Nach mehreren Jahren heftiger öffentlicher Debatten wurde das Projekt mobiler Basen für MX-Raketen aufgegeben, womit dem Steuerzahler die Ausgabe von Milliarden von Dollar und der Regierung Carter ein wahrhaft unnötiges und möglicherweise destabilisierendes Militärprogramm erspart blieben.

Es gab in der Geschichte viele weitere Beispiele, in denen Außen- und Militärpolitik durch wissenschaftliche und öffentliche Beteiligung positiv beeinflußt wurden, doch zwei aktuelle Innovationsprogramme verdienen hier noch besondere Erwähnung:

Die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests

Zum einen geht es um die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests. Den Lesern wird wohl bewußt sein, daß der »Begrenzte Teststoppvertrag« von 1963, der Atomtests in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum untersagt, die meisten Atomtests in den Untergrund trieb. Seismische Verifikationstechniken stehen daher im Mittelpunkt wenn bestimmt werden muß, wer wann eine nukleare Vorrichtung welcher Größe testet. Seismische Meßtechniken werden zudem ein wichtiger Teil des neuen »Umfassenden Teststoppvertrages« (CTBT) sein, der von den USA und Rußland noch ratifiziert werden muß.

Mitte August dieses Jahres, als die Debatte um die Ratifizierung des CTBT in Washington und Moskau langsam in Gang kam (der US-amerikanische Senat hatte kurz zuvor, im April, die Chemiewaffenkonvention ratifiziert), beschuldigten mit militärischen seismologischen Überwachungsanlagen arbeitende Aufklärungsexperten der US-Regierung die Russen, in der arktischen Region einen geheimen Nukleartest durchzuführen. Hätte dies zugetroffen, wäre dieser Test ein Bruch des seit langem eingehaltenen russischen Moratoriums zu Atomtests gewesen; allein die Anschuldigung hatte einen ernstzunehmenden schädlichen Einfluß auf die Aussichten des CTBT, vom US-amerikanischen Senat ratifiziert zu werden und spielte in die Hände der rechten Teststoppgegner.

Doch in den letzten Jahren wurde weltweit ein unabhängiges Netz bescheidener seismischer Lauschanlagen aufgebaut. Dieses »Incorporated Research Institutions for Seismology« oder IRIS genannte Netz wurde z.T. vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert, um sich eine zweite Verifikationsschiene für den bevorstehenden »Umfassenden Teststoppvertrag« vorzubehalten. Die erste seismische Verifikationsschiene wird eine wesentlich geringere Zahl teurer seimischer Abhörstationen umfassen, die rund um die Uhr arbeiten und Daten in Echtzeit an zentrale Verarbeitungseinrichtungen schicken. Das IRIS-Netz ist viel bescheidener, weltweit werden die seismischen Daten Tage oder Wochen nach den tatsächlichen Messungen von Studenten abgefragt und weitergeleitet. Andererseits macht allein die Größe des IRIS-Netzes mit einigen hundert Stationen, die wiederum Zugang zu einigen zehntausend weiteren zivilen Einrichtungen rund um den Globus haben, es möglich, begründete Schlußfolgerungen zu Fragen atomarer unterirdischer Tests zu ziehen.

Im Oktober stellten Wissenschaftler, die mit den von IRIS gelieferten Daten arbeiteten, fest, daß es sich bei dem verdächtigen Vorfall vom 16. August zweifelsfrei um ein Erdbeben handelte. Dr. Paul Richards und Dr. Won-Young Kim, zwei auf die Verifikation von Atomtests spezialisierte Seismologen des Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität, schrieben in der Zeitschrift Nature, daß das seismische Beben sich viele Kilometer südöstlich der Atomtestanlagen Novaya Zemlya im Karasee, einem Arm des nördlichen Polarmeeres, ereignet hatte. Die zuerst von einer Station in Finnland aufgezeichneten seismischen Daten ähnelten jenen bekannter Erdbeben in der Region.

Dr. Greg van der Vink, Direktor des seismologischen Verbundes IRIS, nannte die Untersuchung „einen Triumph“ unabhängiger und ziviler Forschung zu derart militärisch relevanten Daten. Ohne diese Entlarvung staatlicher Behauptungen eines russischen Atomtests hätten die US-amerikanischen Regierungsstellen die Chancen für die Ratifizierung des CTBT und für ein dauerhaftes Verbot von Atomtests vielleicht in Frage gestellt.

Auch diese unabhängigen, von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen zu seismischen, mit Atomtests in Verbindung stehenden Fragen haben Vorläufer. 1993 etwa entdeckte eine interessierte Gruppe der Öffentlichkeit, daß China eine Testeinrichtung für einen neuen Atomtest vorbereitete. Die Öffentlichkeit, die daraufhin zu dem chinesischen Test hergestellt wurde, förderte den Aufbau seismischer Meßeinrichtungen und den öffentlichen Druck für einen Teststopp.

Chemiewaffenvernichtung

Im Zusammenhang mit der Vernichtung von Chemiewaffen zeigt sich ein zweites und aktuelles Beispiel, welch entscheidende Rolle Bürger und Wissenschaftler bei der Entscheidungsfindung in der Außen- und Militärpolitik spielen können. Die seit Dutzenden von Jahren verhandelte, jetzt von mehr als 150 Staaten aus allen Teilen der Welt unterzeichnete Chemiewaffenkonvention verbietet die Forschung zu, die Produktion, Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen und verlangt die vollständige Vernichtung chemischer Wirkstoffe und Munition binnen zehn Jahren. Die Vereinigten Staaten begannen vor einem Jahrzehnt mit der Forschung zu Vernichtungstechnologien und haben bis heute zwei große Verbrennungsanlagen aufgebaut, einen Prototyp auf dem pazifischen Johnson-Atoll und eine zweite in Tooele in Utah. In der pazifischen Verbrennungsanlage wurden bereits chemische Waffen verbrannt, die kürzlich aus Deutschland und Okinawa abgezogen wurden, während in der Verbrennungsanlage von Tooele mit Wirkstoffen aus dem Lager in Utah, einer von acht Einrichtungen in den USA, begonnen wurde.

Öffentliche Ablehnung und wissenschaftliche Bedenken wegen der Risiken der Verbrennung für die allgemeine Gesundheit und die Umwelt sind zwei der Problemkreise, die mit diesem Programm verbunden sind. Während die US-amerikanische Armee auf andere Staaten wie Deutschland verweist, die alte Chemiewaffenbestände verbrennen, und behauptet, daß beide Verbrennungsanlagen sämtlichen in Frage kommenden gesundheitsbezogenen und Sicherheitsstandards entsprechen, weisen mehrere Gouverneure und Kongreßabgeordnete auf zeitweilig auftretende Freisetzungen von Wirkstoffen, Dioxinen und Furanen, aus der Verbrennungsanlage im Pazifik sowie auf die Unfähigkeit der Epidemologie hin, gesicherte Erkenntnisse über die langfristigen, kumulativen gesundheitlichen Wirkungen minimaler Dosen von Wirkstoffen und Giften in der Luft bereitzustellen. Infolge dieser Bedenken wurden in Utah zivilrechtliche Klagen und Prozesse angestrengt. Zudem haben bis heute vier ausgesprochen glaubwürdige »whistleblowers« (Insider, die geheime, kritische Informationen an die Öffentlichkeit weitergeben) die Sicherheit der Anlage in Tooele öffentlich in Frage gestellt.

U.a. wegen dieser Bedenken hinsichtlich der Vernichtung chemischer Waffen hat der US-amerikanische Kongreß 1996 ein »Alternative Technology«-Programm (AltTech II) geschaffen, das der Erforschung, Entwicklung und Demonstration von Technologien dienen soll, die nicht auf Verbrennung basieren. Im Rahmen dieses Prozesses lud der Leiter des AltTech II-Programms zu einem »nationalen Dialog« interessierter Gruppen ein. Wissenschaftler, Umweltschützer, staatliche Vermittler, vor Ort betroffene Aktivisten, Vertreter des Bundesstaates und nationale Umweltschutzorganisationen, die sich mit der Vernichtung von Chemiewaffen befassen, sollen gemeinsam die Kriterien erörtern und festlegen, anhand derer neue, alternative Technologien bewertet werden. Die »Dialogue on Assembled Chemical Weapons Assessment« oder DACWA genannte Gesprächsgruppe traf sich in einem Zeitraum von sechs Monaten viermal für jeweils ein bis drei Tage und vereinbarte erst kürzlich ein Treffen mit einem neuen Beratungskomitee zu alternativen Vernichtungstechnologien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Der Dialog hat 35 Mitglieder und hat bereits sehr deutlich gemacht, daß eine tatsächliche und nicht nur symbolische Einbeziehung von Betroffenen und Beteiligten schwierige Entscheidungsfindungsprozesse zu kontroversen Projekten erleichtern kann. Beide Seiten, Gegner und Befürworter der Verbrennung, sind einbezogen und alle Mitglieder des Dialogs erkennen an, daß Chemiewaffen vernichtet werden müssen, daß die Verbrennung bis heute strittig ist und daß es daher schwierig ist, den Zeitplan und Haushaltsvorgaben einzuhalten sowie, daß die Entwicklung von Alternativen letztendlich der Konsensbildung zugute kommt.

Fazit

In der Vergangenheit wurden schwierige und kontroverse Entscheidungen entweder durch Klassifizierung oder das Prozeßdesign offiziell unter Verschluß gehalten. Jetzt wird deutlich, daß die aktive öffentliche Teilhabe u.a. der wissenschaftlichen Gemeinschaft, der regionalen und lokalen Wählerschaften und der allgemeinen Interessengruppen nicht nur hilfreich, sondern notwendig ist. Auf den ersten Blick mag Transparenz in der Entscheidungsfindung und Konsensbildung, der alle Beteiligten vertrauen und in deren Verlauf sie ein originäres Interesse an dem Prozeß und dem Ergebnis erlangen, zwar schwierig und teuer sein, aber langfristig verhindert solch ein Prozeß zeitraubende gerichtliche Verfahren, politische Mißstimmungen und manchmal schwerwiegende Fehlentscheidungen.

Regierungen müssen für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, und Teilhabe der Öffentlichkeit und wissenschaftliche Zweifel und Analysen sind ein Schlüssel hierzu. So werden bedeutende politische Entscheidungsfindungsprozesse zu Erfahrungen, in denen alle gewinnen und nicht alle verlieren oder einige gewinnen und andere verlieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Kolter.

Paul F. Walker ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer von Global Green USA, einer Mitgliedsorganisation des Internationalen Grünen Kreuzes. Er war Mitglied des Armed Services Committee des Repräsentantenhauses der USA.

Atomwaffen für Regionalkonflikte?

Atomwaffen für Regionalkonflikte?

Modernisierung untergräbt bestehende Verträge

von Oliver Meier • Lutz Hager

In den ersten Jahren nach dem Ende der nuklearen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Rußland schienen die Atomwaffen der Vereinigten Staaten langsam aber stetig an Bedeutung zu verlieren. Eine öffentliche Debatte um die Rolle von Atomwaffen in der Außen- und Sicherheitspolitik fand nicht statt. Die beiden strategischen Rüstungskontrollabkommen (START) aus den Jahren 1991/93 wurden vom amerikanischen Senat ratifiziert, und es wurde mit ihrer Umsetzung begonnen. Die Verlängerung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NPT) und der Abschluß der Verhandlungen über einen vollständigen Atomteststopp (CTBT) schrieben die nukleare Rüstungskontrolle fort.

Diese positiven Ansätze in der nuklearen Rüstungskontrolle drohen aber zunehmend durch den amerikanischen Atomwaffenkomplex konterkariert zu werden. Unbemerkt von der Öffentlichkeit sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von nuklearen Modernisierungsprogrammen begonnen und zum Teil bereits erfolgreich abgeschlossen worden. Die wichtigsten land-, see- und luftgestützten Nuklearwaffen wurden und werden modernisiert. Wie üblich werden diese Programme mit dem Erhalt der Sicherheit und Einsatzfähigkeit der Kernwaffen begründet. Tatsächlich wird aber die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Waffen gesteigert, und es werden »neuartige« Waffen entwickelt. Offensichtlich geht es unter anderem darum, amerikanische Atomwaffen in regionalen Krisen einsetzbar zu machen. Vor dem Hintergrund der immer wieder neu beschworenen Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sollen Kernwaffen der Abschreckung von Regionalmächten dienen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts beendeten die USA offiziell alle Forschungsprogramme, die die Entwicklung neuer Atomwaffen zum Ziel hatten. Damit verloren die amerikanischen Kernwaffenlaboratorien ihre Hauptaufgabe. Sie kamen aber bald wieder ins Geschäft, indem sie sich die Zustimmung zu einem »zero-yield test-ban«1 mit einem umfangreichen Forschungsprogramm abkaufen ließen. Präsident Clinton erklärte die Sicherung der Zuverlässigkeit der US-Kernwaffen zu einem „supreme national interest“ und versprach, daß die USA die technologischen und personellen Kapazitäten aufrecht erhalten würden, um die Entwicklung von Atomwaffen und auch Atomtests wieder aufzunehmen, falls die internationale Situation dies erforderlich mache (The White House 1995).

Stockpile Stewardship: Deckmantel für Atomwaffenmodernisierung

Auf dieser Grundlage konnten die Labors das Stockpile Stewardship and Management Program“ (SSMP) entwerfen.2 Für einen Preis von über vier Milliarden Dollar jährlich3 wird das für den Kernwaffenkomplex zuständige amerikanische Energieministerium (Department of Energy, DOE) weiterhin dem Präsidenten formell bestätigen, daß land-, luft- und seegestützte Atomwaffen auch in Zukunft mit derselben tödlichen Sicherheit funktionieren werden wie in der Atomtest-Ära.

Die hohen Kosten des Programms ergeben sich daraus, daß man sich nicht darauf beschränken will, bereits entwickelte Atomsprengköpfe nachzuproduzieren und so das Arsenal ständig zu erneuern, sondern, um die technische Basis zu erhalten, einen Forschungskomplex aufbaut, der in der Lage sein soll, die Funktionsweise von Atombomben anhand von Computermodellen zu simulieren (Science Based Stockpile Stewardship).4 Atomtests sollen durch dieses »virtual testing« ersetzt werden. Dadurch lassen sich, so das DOE, Designfehler und mögliche Alterungserscheinungen frühzeitig erkennen und ausschalten (Meier 1995). Abgesehen von dem enormen finanziellen Aufwand ergeben sich zwei politisch brisante Folgen:

  • Die US-Forschungsanstrengungen untergraben den Teststoppvertrag. Dies wird besonders deutlich im Fall der sogenannten »subcritical tests«, in denen das Verhalten von spaltbarem Material unter hohem Druck durch die Explosion von konventionellen Sprengstoffen untersucht werden kann. Da es dabei nicht zu einer nuklearen Kettenreaktion kommt, handelt es sich im Sinne des CTBT nicht um einen Atomtest. Andere Nationen sehen in diesen Beinahe-Atomtests allerdings den Versuch der USA, den Teststoppvertrag zu umgehen.5 Wenn aber der Testverzicht der USA in den Ländern des Südens als unglaubwürdig angesehen wird, kann kaum erwartet werden, daß der CTBT seiner Aufgabe als Instrument zur Verhütung von Kernwaffenproliferation gerecht wird.
  • Daran knüpft der zweite »Nebeneffekt« des Stockpile Stewardship-Programms an. Ein Ziel der Forschungsanstrengungen ist es, bestehende Atomsprengköpfe so zu verändern, daß sie sicherer und haltbarer werden. Kürzlich veröffentlichte Dokumente des amerikanischen Energieministeriums6 belegen, daß Stockpile Stewardship aber als Vorwand genutzt wird, die nuklearen Fähigkeiten der USA qualitativ zu verbessern. Die durch dieses Programm gewonnenen Forschungsergebnisse fließen in die in den gleichen Laboratorien betriebenen Modernisierungsprogramme ein. Darüber hinaus schaffen sie die wissenschaftliche Grundlage, um im Bedarfsfall komplett neue Atomwaffen zu entwickeln.7 Die Vereinigten Staaten werden besser als andere Staaten in der Lage sein, auch ohne Atomtests neuartige Atomwaffen zu entwickeln, zu produzieren und zu stationieren. Damit wird die neben der Verhinderung von Kernwaffenproliferation zweite wichtige Intention des CTBT – den qualitativen Rüstungswettlauf zu beenden – konterkariert, noch bevor der Vertrag in Kraft getreten ist.

Atomwaffenmodernisierung: Neue alte Waffen

Die USA erneuern ihr Atomwaffenarsenal grundlegend, alle drei Stützen der nuklearen Triade werden gegenwärtig aufwendig modernisiert. Gemeinsamer Nenner dieser vielfältigen Bemühungen ist eine Anpassung der atomaren Fähigkeiten an eine Welt, die vor allem von regionalen Konflikten geprägt ist.

Die auf U-Booten stationierten Trident-Raketen bilden auch in Zukunft die Hauptstütze der amerikanischen nuklearen Abschreckung. Die Trident II ist die modernste amerikanische Atomwaffe, trotzdem wird sie gegenwärtig modernisiert. Offiziell hat das »Navy SLBM Warhead Protection Program« (SWPP) das Ziel, sicherzustellen, daß auch nach der Einstellung von Atomtests Ersatz für alternde Sprengköpfe produziert werden kann. Kernsprengköpfe müssen aufgrund der in ihnen stattfindenden chemischen Reaktionen nach einem bestimmten Zeitraum ersetzt werden. (Das DOE spricht verharmlosend von der »Überarbeitung“/“remanufacturing« von Atomsprengköpfen). Da sich Produktionstechnologien und Materialien jedoch ständig verändern, behaupten die Kernwaffenlaboratorien, daß schon der »Nachbau« bereits vorhandener Nuklearsprengköpfe ein anspruchsvolles Forschungsprogramm notwendig mache.8

Das DOE sieht hier insbesondere beim W76-Sprengkopf der ersten (C4) Generation der Trident SLBM einen Bedarf. Dieser wurde bereits vor rund 20 Jahren erstmalig stationiert; mehr als tausend Stück werden auch künftig im US-Arsenal verbleiben.9 Für die Modernisierung wesentlicher Komponenten werden unter anderem Sicherheitsgründe angeführt. Aber nicht nur vergleichsweise alte Sprengköpfe werden erneuert. Der Gefechtskopf Mk5 des neuen W88-Sprengkopfes der neueren Trident D5 wird ebenfalls modifiziert. Ziel ist unter anderem zu beweisen, daß das Design von Atomsprengköpfen geändert werden kann, ohne daß ihre Funktionsfähigkeit in einem »echten« Atomtest demonstriert werden muß.10 Zugleich wird das Kommandosystem für die Trident so erneuert, daß die Rakete schneller ihre Zielkoordinaten ändern kann.11

Auch die an Land stationierten Interkontinentalraketen (ICBMs) werden weiter modernisiert. Nach der Umsetzung des START II-Vertrages wird die Minuteman III (MMIII) die einzige verbleibende amerikanische landgestützte Rakete sein. Die MMIII ist ein vergleichsweise altes System, sie ist (in der jetzigen Version mit dem W78 Sprengkopf) seit Ende der siebziger Jahre im Dienst. Im Rahmen von Stockpile Stewardship wird die MMIII, von der 500 Raketen stationiert bleiben sollen, grunderneuert. Am Ende des Programmes werden fast alle Komponenten der Rakete durch verbesserte ausgetauscht sein. Zunächst wird der Atomsprengkopf ersetzt. Da die MMIII als Folge von START II nur noch einen Sprengkopf besitzen darf, wird sie mit dem hochmodernen W87 Sprengkopf ausgestattet, der von der zur Verschrottung vorgesehenen MX-Rakete übernommen wird.

Bereits abgeschlossen ist eine Modernisierung des Steuerungssystems der MMI<0> <>II. Offiziell wurde das Programm mit dem Titel REACT (Rapid Execution and Combat Targeting) mit einer Verbesserung der Sicherheit der Atomrakete begründet. Da der neue Computer in Sekundenschnelle neu programmiert werden kann, ist es nun möglich, die MMIII »ungerichtet« zu stationieren und ihr erst im Ernstfall kurzfristig die Zielkoordinaten einzugeben. Das Programm hat aber noch einen ganz anderen Sinn. Es stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und sollte es den Vereinigten Staaten ermöglichen, mobile sowjetische Interkontinentalraketen durch eine schnelle Umprogrammierung zu vernichten. Heute ermöglicht die schnelle Umprogrammierung, die ICBMs auch als Drohpotential in verschiedenen regionalen Krisen einzusetzen. Ob eine mobile SS-25 oder eine mobile Scud das Ziel ist, stellt schließlich keinen praktischen Unterschied dar (Arkin 1996 und Kristensen 1997).

Wahrscheinlich am deutlichsten wird die neue Rolle für amerikanische Atomwaffen an der B61 »mod 11«. Ohne öffentliche und parlamentarische Debatte ist es den Kernwaffenlaboratorien gelungen, eine neuartige Atomwaffe zu entwickeln, die mittlerweile schon produziert und stationiert ist.12 Die B61-11 ersetzt die alte B53, ein neun Megatonnen-Monster, das zudem erhebliche Sicherheitsprobleme aufweist. Die B61-11 soll eine militärische Lücke schließen, die nach Ansicht vieler amerikanischer Militärs besonders im Krieg gegen den Irak deutlich geworden ist: Trotz erheblicher Anstrengungen war die amerikanische Luftwaffe mit konventionellen Mitteln nicht in der Lage, das unterirdische irakische Kommandosystem zu zerstören. »Earth penetrating weapons«, d.h. Waffen, die auch tief in der Erde verbunkerte Ziele »unter Risiko« halten können, stehen daher seit langem auf der Wunschliste der amerikanischen Streitkräfte (Mello 1997).

Dies haben die Kernwaffenlaboratorien geschickt ausgenutzt. Offiziell ist die B61-11 keine neue Waffe, sondern lediglich eine Modifikation der in verschiedenen Versionen vorhandenen und auch in Europa stationierten Atombombe B61. Da der Sprengkopf unverändert geblieben sei und lediglich die Hülle der Bombe so verändert wurde, daß die Waffe vor der Explosion etwa drei bis sechs Meter in die Erde dringe, sei dies keine Neuentwicklung, argumentieren die Laboratorien (Fulghum 1997). Kritiker hingegen betonen, daß die B61-11 neuartige Eigenschaften besitze. Es sei unerheblich, ob dafür der eigentliche Sprengkopf verändert worden sei, entscheidend sei lediglich, daß die Vereinigten Staaten qualitative Verbesserungen an den vorhandenen Waffen vornähmen.

Von offizieller Seite wird immer wieder betont, daß die B61-11 als Waffe zum Einsatz gegen Kommandozentren anderer Nuklearwaffenstaaten entwickelt worden sei. Inzwischen mehren sich aber die Anzeichen, daß Atomwaffen auch in regionalen Krisen eine Rolle spielen sollen. So hat die Defense Special Weapons Agency des amerikanischen Verteidigungsministeriums die amerikanische Industrie aufgefordert, Vorschläge zur Entwicklung eines Planungsinstruments zur Erfassung und Zerstörung unterirdischer Tunnel einzureichen. Dieses Projekt soll zur Zielplanung für konventionelle und nukleare Waffen dienen (Janets Defense Weekly 1997). Die B61-11 ist zudem weltweit einsetzbar. Während ihr Vorgänger, die B53 zu schwer war, um von einem B-2 Bomber transportiert zu werden, kann die vergleichsweise kleine B61 problemlos von diesen Tarnkappenbombern global ins Ziel gebracht werden.

Strategie: »Schurkenstaaten« im Visier

Egal ob man der Meinung ist, daß hier eine neue Atomwaffe entwickelt worden ist oder »nur« eine alte leistungsgesteigert wurde, fest steht, daß sich Atomwaffenforschung in den USA nicht nur darauf beschränkt, die vorhandenen Waffen sicher und einsatzfähig zu halten. Leistungssteigerung, nicht der Erhalt und die Sicherung vorhandener Fähigkeiten ist das Ziel vieler dieser Forschungsprogramme. Die amerikanischen Atomwaffen sollen flexibler und zielgenauer einsetzbar sein und »Kollateralschäden« möglichst gering gehalten werden. Dies alles sind Anforderungen, die vor allem in regionalen Krisen, bei denen es um die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen geht, gestellt werden.

In den USA droht gegenwärtig eine Entwicklung, die zu einem Bedeutungszuwachs für Atomwaffen führen könnte. Nach wie vor sind riesige Bürokratien in den Vereinigten Staaten und innerhalb der NATO damit beschäftigt, Ziel- und Einsatzplanungen für den Einsatz von Atomwaffen zu erstellen. Der Fokus dieser Planungen geht immer mehr in Richtung Entwicklungsländer. Sogenannte Schurkenstaaten (»rogue states«) rücken als Feindbild an die Stelle der Sowjetunion. In einer Vorschrift der Vereinigten Stabschefs der USA von 1995 für alle drei amerikanischen Teilstreitkräfte über den Einsatz taktischer Atomwaffen heißt es beispielsweise: „Die Abschreckung von Massenvernichtungswaffen sollte unsere erste Priorität sein. (…) Eine selektive Fähigkeit, (Atom-) Waffen kleinerer Sprengkraft zur Vergeltung einzusetzen, ohne den Konflikt zu destabilisieren, ist eine nützliche Entscheidungsalternative für den amerikanischen Präsidenten“ 13, dessen Zustimmung bei einem Atomwaffeneinsatz immer notwendig ist.

Ende des Winterschlafs?

Gegenwärtig scheint der amerikanische Atomwaffenkomplex langsam aus dem Winterschlaf zu erwachen, in den er nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gefallen war. Die Kernwaffenlaboratorien versuchten sich zunächst auf eine Welt ohne neue Waffenprojekte einzustellen, das amerikanische Militär gab die knapperen Haushaltsmittel lieber für moderne konventionelle als für Atomwaffen aus (Meier 1996). Langsam aber sicher bahnt sich nun eine Rückorientierung an. Die Atomlabors, frustriert von erfolglosen Konversionsbemühungen, besinnen sich auf das, was sie schließlich am besten können, nämlich Atomwaffen konstruieren. Und einige Teile des US-Militärs, insbesondere die Luftwaffe, aber auch die U-Bootflotte, unterstützen die Forscher bei ihren Bemühungen. Der amerikanische Kongreß nimmt seine Kontrollfunktion hier nur unvollständig wahr (Weismann 1997).

Ein Atomwaffen-Comeback in den Vereinigten Staaten dürfte aber nicht nur den noch nicht einmal in Kraft getretenen Teststopp-Vertrag schwächen, eine solche Entwicklung würde das Nichtverbreitungs-Regime insgesamt ins Wanken bringen. Die Entwicklung und Stationierung neuer oder neuartiger Atomwaffen ist ein Schlag ins Gesicht der wachsenden Schar jener internationalen und nationalen Akteure, die eine vollständige Eliminierung von Atomwaffen fordern.

Literatur

Arkin, William M. (1996): The Six-Hundred Million Dollar Mouse, in: Bulletin of Atomic Scientists, November/ December, p. 68

CBO Papers 1997: Preserving the Nuclear Weapons Stockpile Under a Comprehensive Test Ban, Washington, D.C.: Congressional Budget Office, May 1997.

Fulghum, David A. (1997): Standoff, Penetrating Nuclear Bomb Seen for B-2, Aviation Week & Space Technology, April 7, p. 38.

Green Book (1996): Stockpile Stewardship and Management Plan, US Department of Energy, Office of Energy Programs, declassified version, Washington, DC, 29, Februar 1996.

Jane's Defense Weekly (1997): Use of nuclear arms still viable in some cases, says US agency, , 27 August, p. 3.

Kristensen, Hans M. (1997): Targets of Opportunity, in: Bulletin of Atomic Scientists, September/ October, pp. 22-28.

Mello, Greg (1997): New bomb, no mission, in: Bulletin of Atomic Scientists, May/ June, pp. 28-32.

Meier, Oliver (1995): Atomwaffenforschung ohne Tests? Die USA lehnen einen vollständigen Teststopp ab, in: Wissenschaft und Frieden, 1/1995, S. 14-18.

Meier, Oliver (1996): Die amerikanische Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts: Rüstungsdynamik ohne Systemkonfrontation?, Unveröffentlichte Dissertation am Fachbereich Politische Wissenschaften der FU Berlin, Juli 1996.

Nassauer,Otfried / Oliver Meier/ Nicola Butler/ Stephen Young (1997): Amerikanische Atomwaffen in Europa 1996-97, Berlin, London, Washington: Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit/ British American Security Information Council (BASIC-BITS-Research Note 97.1), April 1997.

Nuclear Notebook (1997), in: Bulletin of Atomic Scientists, September/ October, p. 64.

Otto,Erdmute und Martin Kalinowski (1993): Los Alamos im Umbruch? Grenzen und Umgehungsversuche von Kernwaffenteststopp und Forschungskonversion in den USA, in: Wissenschaft & Frieden, 3/93, S. 65-70.

Paine, Christopher E. und Matthew G. McKinzie: End Run. The US Government's Plan for Designing Nuclear Weapons and Simulating Nuclear Explosions under the Comprehensive Test Ban Treaty, Washington, D.C.: NRDC (An Interim Report on the Department of Energy Stockpile Stewardship & Management Program) August 1997.

Weisman, Jonathan (1997): Who's minding the sto<0> <>re?, in: Bulletin of Atomic Scientists, July/ August, pp. 32-37.

<>The White House (1995): Office of the Press Secretary: Statement by the President: »Comprehensive Test Ban Treaty«, Washington, D.C., August 11.<>

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) und Lehrbeauftragter am Fachbereich Politische Wissenschaften der FU Berlin. Lutz Hager ist studentischer Mitarbeiter am BITS und studiert Politische Wissenschaften an der FU Berlin.

Anmerkungen

1) Dies bedeutet, daß sämtliche Atomwaffenexplosionen, auch solche mit geringer Sprengkraft, unter den Vertrag fallen. Zurück

2) „In response to this directive [Inhalt von Clintons Erklärung vom 11. August 1995, d. Verfasser], the DOE initiated a process to develop a Stockpile Stewardship and Management Plan with the intent of ensuring high confidence in the safety, reliability, and performance of the stockpile without nuclear testing. Meeting this responsibility will not be quick or easy and will require a competent technical staff supported by scientific tools and facilities not presently available.“ (Green Book 1996: p III.) Zurück

3) Zwischen vier und fünf Milliarden US-Dollar sind bis 2010 jährlich für SSMP veranschlagt. Zahlen aus CBO Papers 1997 Zurück

4) „Computational modeling, once a tool to facilitate design and evaluation, must now serve as the integrating factor to link aboveground experiments, historical nuclear test data, and design experience into a nuclear predictive simulation capability.“ (Green Book 1996, p. IV 2). Zurück

5) So reagierte z.B. Indien mit einer Protestnote an die US-Regierung. Zurück

6) Es handelt sich um das bereits oben zitierte Green Book. Die Freigabe dieses Dokuments wurde vom Natural Resources Defense Council, einer in Washington ansässigen Nichtregierungsorganisation, erzwungen. Eine Zusammenfassung und Bewertung des Dokuments ist veröffentlicht in: Paine / McKinzie 1997 Zurück

7) „The nuclear design activities of this program [maintenance and refurbishment program, Teil des stockpile stewardship programs, d. Verfasser] will be broadly based and will provide present and future weapons scientists and engineers with the opportunity to exercise the complete set of skills required to design and develop a stockpile warhead“. (Green Book 1996, p. V 10). Zurück

8) Eine Produktionskapazität für ca. 50 Sprengköpfe pro Jahr wird gegenwärtig im Los Alamos National Laboratory aufgebaut. Siehe unter anderem Otto / Kalinowski 1993 Zurück

9) „Planned life extension modifications include a replacement gas transfer system and replacement neutron generators. The high explosives, pit, and secondary components need to be requalified or replaced as part of the life extension program.“ (Green Book 1996, pp. IV-13 – IV-14). Zurück

10) „One objective of the calculational program will be the development of a methodology to ensure demonstrably large design margins in critical performance measures.“ (Green Book 1996, p. IV-15). Zurück

11) „The Navy is installing a system to enable Trident submarines to 'quickly, accurately, and reliably retarget missiles' and 'allow timely and reliable processing of an increased number of targets.“ Kristensen 1997, p. 26 Zurück

12) 50 B61-11 sollen auf der B-2 Basis Whiteman AFB mittlerweile stationiert sein.(Nuclear Notebook 1997) Von einer Stationierung der B61-11 in Europa ist nichts bekannt, obwohl in Europa vermutlich noch rund 200 B61 älteren Typs stationiert sind und die B61-11 leicht genug sein soll um auch von F-16 Kampfbombern ins Ziel gebracht zu werden. (Nassauer u.a. 1997) Zurück

13) „WMD deterrence should be the first priority. (… A selective capability of being able to use lower-yield weapons in retaliation, without destabilizing the conflict, is a useful alternative for US National Command Authorities.“ Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Pub 3-12, 18 December 1995, p. I-3. Zurück

(Die Autoren danken der W. Alton Jones Foundation für ihre Unterstützung).

Deutschland und die Atomwaffen

Deutschland und die Atomwaffen

Konferenz 40 Jahre nach dem Göttinger Appell

von Jürgen Scheffran

Einige hundert Teilnehmer hatten am 11. April 1997 den Weg ins Audimax der Ludwig-Maximilian-Universität in München gefunden, um drei Physikern die Reverenz zu erweisen. Anlaß war der 40. Jahrestag der Göttinger Erklärung von 18 Atomwissenschaftlern gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik, die im April 1957 für Furore gesorgt hatte. Carl-Friedrich von Weizsäcker, der die Erklärung seinerzeit initiiert hatte, konnte eindrücklich von den z.T. heftigen Reaktionen der Adenauer-Regierung berichten, wobei der damalige Atomminister Franz-Josef Strauß vor Kraftausdrücken gegenüber den Größen der Physik wie Otto Hahn und Werner Heisenberg nicht zurückschreckte. Es half aber alles nichts: Der Besitz der Atombombe blieb deutschen Politikern vorenthalten.

Zweifellos konnte der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 Deutschland und Japan die Verfügung über Atomwaffen verweigern, doch ist der Vertrag auf lange Sicht nicht geeignet, die Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern, geschweige denn, diese abzuschaffen, solange den fünf Atommächten ein Sonderstatus eingeräumt bleibt. Dies machte, Joseph Rotblat, Pugwash-Präsident und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, deutlich. Er verwies auf zahlreiche Bestrebungen für eine atomwaffenfreie Welt aus der jüngsten Zeit und zeigte, daß erste Schritte unverzüglich eingeleitet werden können. Rotblat unterstützte die Bemühungen um den Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention, der nur vier Tage zuvor bei der Vorbereitungskonferenz zum NVV in New York von einem Komitee von Nichtregierungsorganisationen (NROs) vorgestellt worden war, wobei er den Beitrag deutscher Wissenschaftler hervorhob. Er betonte, wie auch schon am Tag zuvor bei einem von IANUS organisierten Vortrag an der Technischen Hochschule Darmstadt, daß die Abschaffung der Atomwaffen ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Abschaffung des Krieges sei.

Hans-Peter Dürr, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), forderte schließlich dazu auf, mit dem atomaren Wahnsinn Schluß zu machen, der Ausdruck eines rücksichtslosen Umgangs mit Mensch und Natur sei. Vehement setzte er sich für ein Ende des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs ein und forderte eine Umkehr in Richtung auf eine friedliche und nachhaltige Entwicklung.

Die öffentliche Veranstaltung, die neben der VDW und der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« von international agierenden NROs (IALANA, INESAP, IPPNW) und dem Münchner Friedensbündnis organisiert worden war, diente zugleich als Auftakt für eine zweitägige Konferenz »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!«, an der mehr als 150 Menschen teilnahmen. Während Vorträge und Diskussionen Samstag- und Sonntagvormittag im Plenum durchgeführt wurden, wurde am Samstagnachmittag in fünf Arbeitsgruppen diskutiert.

Es zeigte sich, daß die Konferenz gerade zur rechten Zeit stattfand. Bezüge zur Situation vor vier Jahrzehnten waren nicht zu übersehen. Während es damals um die Atombewaffnung der Bundeswehr ging, nachdem die Remilitarisierung bereits politisch durchgesetzt war, geht es heute um die Frage, ob Deutschland eine größere Verfügungsgewalt über Atomwaffen erlangen soll, nachdem Auslandseinsätze der Bundeswehr inzwischen von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden. So ging es in München dann auch um die Frage, wie deutsche Zugriffe auf die Atombombe verhindert werden können, etwa in der NATO und einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie etwa in der deutsch-französischen Erklärung vom 9. Dezember 1996 vorgedacht wurde.

Verschiedene Vorschläge wurden diskutiert, von Protestaktionen an Atomwaffenstandorten (Büchel), über atomwaffenfreie Zonen und Kommunen in Europa bis hin zum globalen Konzept einer Nuklearwaffenkonvention. Besondere Beachtung fanden die von Renate Reupke (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms, IALANA) vorgestellten »Zeichen der Ermutigung«, die vom Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Illegalität der Atomwaffen über neue atomwaffenfreie Zonen und den Atomwaffenteststopp bis zum globalen Netzwerk Abolition-2000 und den UNO-Resolution für eine Nuklearwaffenkonvention reichten. Der niederländische Brigadegeneral Henny van der Graaf war eingeladen worden, um von der Erklärung der Generäle für die Abschaffung der Atomwaffen zu berichten, die in NATO-Kreisen für Unruhe sorgt.

Um den politischen Impuls für die Abschaffung der Atomwaffen zu verstärken, wurden in der abschließenden Podiumsdiskussion Handlungsperspektiven aus deutscher Sicht diskutiert, wobei neben FriedensaktivistInnen auch zwei Politikerinnen zu Wort kamen. Während Uta Zapf (SPD) vorschlug, sich Schritt-für-Schritt der atomwaffenfreien Welt zu nähern, machte sich Angelika Beer (Bündnis 90/Die Grünen) für den umfassenden Ansatz einer Nuklearwaffenkonvention stark. In der Diskussion wurde betont, hier keine künstlichen Gegensätze enstehen zu lassen; Verhandlungen über einer Nuklearwaffenkonvention könnten dazu dienen, bereits mögliche Einzelmaßnahmen zu realisieren und so »schrittweise« und »umfassende Ansätze« zu verbinden. Die Abschlußerklärung des Kongresses (siehe blaue Seiten) forderte, in Anknüpfung an den Göttinger Appell, u.a. den Ausstieg Deutschlands aus der Atomwaffenstrategie der NATO, den Abzug der Atomwaffen von deutschem Boden und den Abschluß einer Atomwaffenkonvention.

Der Bezug zur Region München wurde an zwei Punkten deutlich. Zum einen hatten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) die Konferenz dazu genutzt, ihre Studie über die Möglichkeiten und Folgen von Atomwaffeneinsätzen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Feststellung, der Abwurf einer relativ »kleinen« Uranbombe vom Hiroshima-Typ auf die Münchner Innenstadt würde bereits am ersten Tag 28.000 Menschenleben kosten, rief in Erinnerung, was zu Hochzeiten der Friedensbewegung Gemeingut war. Daß das für Bombenzwecke nutzbare waffentaugliche Uran direkt vor den Toren Münchens im Garchinger Forschungsreaktor eingesetzt wird, war Anlaß für eine Demonstration in der Münchner Innenstadt. Bei der Kundgebung, die die zivil-militärische Verflechtung der Atomtechnologie zum Gegenstand hatte, wurde eine Torte verspeist, die als Geschenk zum 150. Geburtstag von Siemens gedacht war, dem Betreiber des Garchinger Reaktors. Bei der Gelegenheit wurde die Aufforderung zum Siemensboykott erneuert.

Daß die Tagung ein wichtiger Beitrag war, um die Atomwaffenproblematik bundesweit aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, zeigte sich insbesondere am unerwartet großen Medienecho. Der Pressespiegel enthält mehr als 100 Artikel in der regionalen und überregionalen Presse, hinzu kommen Berichte in Fernsehen (Tagesschau) und Radio. Mit diesem Wind im Rücken könnte es gelingen, das der Atomwaffenfrage zustehende öffentliche Interesse erneut zu wecken, wenn weitere Aktivitäten auf kommunaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene folgen. Künftige Kristallisationspunkte sind etwa die Jahrestage von Hiroshima und Nagasaki, der erste Jahrestag des IGH-Gutachtens am 8.Juli, an dem zugleich der NATO-Gipfel in Madrid stattfindet, sowie die am 13.-15. Juni im Friedenszentrum Burgschlaining in Österreich stattfindende NGO-Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa. In einer weltweiten Bewegung für die Abschaffung der Atomwaffen liegt die einmalige Chance, die weiter bestehende atomare Bedrohung zur Jahrtausendwende endgültig zu beseitigen.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Assistent in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der Technischen Hochschule Darmstadt und Herausgeber des INESAP Information Bulletin.

Tahiti Mon Amour

Tahiti Mon Amour

Tagung von »Abolition 2000« im Südpazifik

von Lars Pohlmeier • Jürgen Scheffran

Die französischen Atombomben im Südpazifik sind abgezogen, doch die Unsicherheit über die Folgen der Atomtests ist bei den Menschen geblieben. Ein Jahr nach dem vorerst letzten französischen Test organisierte »Abolition 2000«, das globale Netzwerk für die Abschaffung der Atomwaffen, vom 20. – 27. Januar eine Welt-Konferenz auf Moorea, der Nachbarinsel von Tahiti, um die Aufmerksamkeit erneut auf diese Region zu lenken. „Die französische Regierung soll ihre Daten über den Gesundheitszustand der zivilen Inselbevölkerung der Te Ao Maohi und der ehemaligen lokalen Arbeiter auf Mururoa und Fangataufa im Südpazifik offenlegen und öffentlich zugängliche Studien durchführen,“ forderte Gabriel Tetiarahi von der tahitianischen Bürgerbewegung Hiti Tau vor 140 TeilnehmerInnen aus 65 Ländern.

»Abolition 2000«: Die anti-nukleare Kettenreaktion

Ins Leben gerufen wurde das Friedens-Netzwerk »Abolition 2000« im April 1995 während der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz zum Atomwaffen-Sperrvertrag (NPT: Non-Proliferation Treaty) in New York. Hier traf eine »kritische Masse« von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) zusammen; verschiedene Flüsse vereinten sich zu einem breiten Strom, mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Gelegenheit zum Zusammentreffen gab es während des täglich stattfindenden NGO Abolition Caucus (Ratschlag für die Abschaffung der Atomwaffen). Hier wurde am 25. April eine Erklärung verabschiedet, die in New York bereits von mehr als 200 NGOs unterstützt wurde. Kernpunkt der 11-Punkte-Erklärung ist der sofortige Beginn und Abschluß von „Verhandlungen über eine Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen, die die stufenweise Eliminierung aller Atomwaffen innerhalb eines Zeitplans festlegt, mit Vorschriften zur effektiven Vertragsüberprüfung und -durchsetzung.“ Am gleichen Tag stellte im Rahmen eines zweitägigen Forums das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) den Bericht einer Expertengruppe zur atomwaffenfreien Welt vor, dessen Kernpunkt ebenfalls die Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention (NWK) ist. Am folgenden Tag diskutierten etwa hundert NGO-Vertreter Strategien für die Abschaffung der Atomwaffen und vereinbarten eine längerfristige Zusammenarbeit.1

Im November 1995 wurde das Netzwerk »Abolition 2000« in Den Haag offiziell gegründet. Grundlage der Zusammenarbeit ist die New Yorker Erklärung, die heute von fast 700 NGOs weltweit unterstützt wird. In Den Haag wurden auch verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet (Nuklearwaffenkonvention, Eurobombe, Projekt Weltgerichtshof, Kernwaffentests, Tschernobyl und Kernenergie). Im März 1996 wurde in Edinburgh die Einrichtung eines Kontaktbüros beschlossen sowie einer Interim Management Group, die eine lockere Koordination des Netzwerks durchführt. Die Kommunikation verläuft vorwiegend über eine email discussion group im Internet (abolition-caucus@igc.apc.org), die sehr stark genutzt wird. Die Zusammenarbeit erfolgt auch in nationalen oder regionalen Koalitionen, in Deutschland durch den Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen«, der schon 1994 ins Leben gerufen worden war und inzwischen 20 Organisationen umfaßt. Zu den Aktionsschwerpunkten in Deutschland gehörten bislang Unterschriftenaktionen und Beilagen in überregionalen Zeitungen, Plakataktionen, offene Briefe, Presseerklärungen und Diskussionrunden.

In den fast zwei Jahren nach Initiierung des Netzwerks wurde »Abolition 2000« von positiven Entwicklungen geradezu verwöhnt. Dies betrifft neben dem starken Wachstum des Unterstützerkreises vielfältige politische Entwicklungen, die zu einer politischen Kettenreaktion für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt geführt haben. Zu nennen sind hier nur der Proteststurm gegen die französischen Atomtests, der Friedensnobelpreis für Joseph Rotblat, das Interesse an Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl, die atomwaffenfreien Zonen in Afrika und in Südostasien, das Urteil des Weltgerichtshofs zur Illegalität der Atomwaffen, der Bericht der Canberra-Kommission zur Abschaffung der Atomwaffen, der Atomwaffenteststopp, die Erklärung von 60 Generälen und Admirälen für die Abschaffung der Atomwaffen und schließlich die breite Mehrheit in der UNO für eine Nuklearwaffenkonvention Ende 1996. Was hiervon auf das Konto von »Abolition 2000« geht, ist im einzelnen schwer auszumachen. In einigen Fällen ist ein Einfluß jedoch nachzuweisen, etwa beim Urteil des Weltgerichtshofs und bei der Nuklearwaffenkonvention, die beide von NGOs vorweggenommen wurden. Die Gegenkräfte dürfen jedoch nicht übersehen werden, allen voran das Beharren des mächtigen NATO-Blocks, an Atomwaffen festzuhalten.

Die Tagung in Tahiti/Moorea fand nach dem als Erfolg angesehenen Jahr 1996 statt und zu Beginn des für die Bewegung kritischen Jahrs 1997. Ob das derzeitige »Fenster der Gelegenheit« für die nukleare Abrüstung genutzt werden kann, hängt sicherlich auch von der weiteren Entwicklung von »Abolition 2000« ab. Eine wichtige Rolle spielte daher in Tahiti auch die weitere organisatorische und strategische Orientierung des Netzwerks, wobei die Fokussierung auf die Südpazifikregion eine verstärkte Ausrichtung auf regionale Aspekte repräsentierte. Die eher globalen Fragen kamen u.a. in den genannten Arbeitsgruppen zur Sprache. In der größten Arbeitsgruppe wurden Fragen zur Nuklearwaffenkonvention, zum NPT und zum Urteil des Weltgerichtshofs im Zusammenhang diskutiert. Im Vordergrund stand hier die Lobbyarbeit im Vorfeld und während der Überprüfungskonferenz zum NPT, die vom 7.-18. April 1997 in New York stattfinden wird. Hier soll ein im Rahmen von »Abolition 2000« erarbeiteter Entwurf einer Nuklearwaffenkonvention der Öffentlichkeit präsentiert werden. Daneben gab es weitere Arbeitsgruppen zu einzelnen Regionen, die z.T. sehr konkrete Aktionsvorschläge ausarbeiteten. Zahlreiche Resolutionen wurden verabschiedet. Eine Demonstration anläßlich des 1. Jahrestages des letzten französischen Atomtests schloß die Tagung ab.

In den Sitzungen der Interim Management Group und im Plenum wurden u.a. Verbesserungen der organisatorischen Struktur sowie zukünftige Schwerpunkte der Zusammenarbeit beraten. Einigkeit herrschte darüber, daß die Medienarbeit verbessert werden müsse und mehr regionale Vertreter in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden müssen, um der Dominanz aus USA und Europa etwas entgegenzusetzen. Die Verbreiterung der Basis und eine stärkere Identifikation mit dem Netzwerk wurde auch als ein Weg aus der permanenten Finanzknappheit gesehen. Die Tagung machte deutlich, wie ungewöhnlich und schwierig der unternommene Versuch ist, ein globales Netzwerk von dieser Größe zusammenzuhalten und politische Wirkung entfalten zu lassen.

Aufregung erzeugte schon im Vorfeld der Tagung die Debatte um den nuklearen Kolonialismus, der durch die Wahl des Tagungsorts vorgegeben war. Während einige befürchteten, das im Gründungsstatement nicht vorgesehene Thema könnte die Unterstützerbasis verkleinern, traten die Veranstalter, allen voran Hiti Tau, vehement für die Behandlung dieser Thematik ein. Eine Tagung etwa in Europa würde notwendig die dort brisanten Themen der NATO-Osterweiterung und der atomwaffenfreien Zone Ost- und Mitteleuropa in den Vordergrund rücken. Eine Ausblendung der durch Atomwaffen verursachten Leiden im Pazifik würde daher den Vorwurf des Eurozentrismus auf sich ziehen. Dementsprechend nahm diese Thematik dann auch breiten Raum auf der Tagung ein, was bei den Teilnehmern letztlich auf breite Zustimmung stieß – auch die Vertreter der nördlichen Hemisphäre konnten um einige Erfahrungen reicher nach Hause fahren.

<>Nuklearer Kolonialismus und Gesundheitsfolgen im Südpazifik<>

Eine solche Konferenz der Mitgliedsorganisationen im Südpazifik durchzuführen, war zugleich Tribut an die Leiden der indigenen Völker in den Atomtestgebieten2, „denn alle Tests wurden auf dem Land von indigenen Völkern durchgeführt“, wie Pauline Tangiore, eine Repräsentantin des Maori-Volkes in Neuseeland, hervorhob. Sie forderte Rechte auf Selbstbestimmung der indigenen Völker. In der Moorea- Deklaration, der Abschlußerklärung der Konferenz, unterstützten die Delegierten Souveränität und Unabhängigkeit der indigenen Völker als wichtiges Element auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen.

Ausnahmslos sind Atomtests der großen Atommächte USA, Großbritannien, UdSSR/Rußland, China und Frankreich in Gebieten mit ethnischen Minderheiten durchgeführt worden. Zur Mißachtung der Menschenrechte dieser Völker gehörte auch, daß die gesundheitlichen Folgen verschleiert wurden. Frankreich beispielsweise beteuert bis zum heutigen Tag die angebliche medizinische Unbedenklichkeit seiner Atomversuche. Wissenschaftlich bewiesen wurde die Behauptung nie. Stattdessen wird die Arbeit unabhängiger Wissenschaftler behindert. So geschehen bei einer Studie, die die holländischen Wissenschaftler Peter de Vries und Han Seur gemeinsam mit Hiti Tau und dem Weltkirchenrat derzeit durchführen. Polizeikräfte drangen in das Büro von Hiti Tau ein und versuchten sich Zugriff auf die Untersuchungsdaten zu verschaffen. Der Abschluß der Untersuchungen an 1.000 ehemaligen polynesischen Arbeitern auf den Testgebieten wird sich daher verzögern. Es sind diese Arbeiter, die radioaktiven Müll gestapelt oder verbrannt haben, die in der Lagune geschwommen oder entgegen den offiziellen Verboten lokalen Fisch gegessen haben, die wichtige Hinweise darüber geben können, was wirklich passiert ist.

Zwischen 8.000 und 12.000 Polynesier arbeiteten nach 1964 auf den Testanlagen von Mururoa und Fangataufa. „Wir mußten uns schriftlich verpflichten, über Gesundheitsfragen Stillschweigen zu bewahren und keine finanziellen Ansprüche geltend zu machen gegenüber der französischen Regierung,“ berichtet Mathieu, ehemaliger Arbeiter auf dem Mururoa-Testgelände. Ähnlich geht es den französischen Soldaten, über deren Gesundheitszustand in der Öffentlichkeit nichts bekannt ist. Das »Centre d`Expérimentations du Pacifique« (CEP), wie der euphemistische Name für die französische Atomtestbehörde im Pazifik heißt, beteuert zwar unentwegt: „alles harmlos und ungefährlich“. Tatsächlich aber wurden – wenn überhaupt – nur schlampig Daten erhoben. Experten befürchten, daß deshalb auch die Veröffentlichung der geheimen Daten kaum Sinn macht. Zwar existiert offiziell seit 1979 ein Krebsregister, doch Insider der Verwaltung räumen ein, daß das Register erst seit 1988 vernünftig geführt wird. Die vorhandenen Ergebnisse weisen auf eine stark erhöhte Krebsrate in Französisch-Polynesien hin. Inwiefern dies wirklich mit den Tests und nicht mit geänderten Lebensgewohnheiten in Verbindung steht, müßten umfangreiche epidemiologische Studien genauer untersuchen.

Anstrengungen der französischen Regierung, die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEO) mit einer Studie zu beauftragen, haben bereits scharfe Kritik auf sich gezogen. Zeitraum der Studie soll 1996 bis 2006 sein, wobei auf eine rückwirkende Betrachtung verzichtet wird. Untersucht wird auch nicht die Bevölkerung, sondern Auswirkungen der Atomtests auf die Umwelt allgemein. Folglich gehört dem Forscher-Gremium kein Mediziner an. Ob Frankreich die Ergebnisse in jedem Fall veröffentlichen oder unter Verschluß halten wird, ist ebenfalls offen. Vielleicht ist letzteres aus der Sicht der Kritiker auch gar nicht nötig, wenn die leitenden Wissenschaftler der Untersuchung so ausgesucht werden, daß ein Freibrief für Frankreich von vornherein feststeht. Besonders an der Person der US-amerikanischen Atomphysikerin Gail de Planque entzündet sich Streit. De Planque hat bereits für das Department of Energy der USA in anderen Testgebieten gearbeitet und gilt als entschiedene Befürworterin der Atomtechnologie.

Die Kontrolle im Gesundheitssystem durch das französische Militär ist bestens organisiert gewesen. Die Gesundheitsbehörde Tahitis unterstand bis 1985 dem Militär, Kranke wurden vorzugsweise nach Frankreich ausgeflogen und dort behandelt. Viele wissenschaftliche Fragen müssen vorerst unbeantwortet bleiben. Eingeräumt wurden von der französischen Regierung während der fast 200 Atomtests lediglich drei Unfälle, bei denen Radioaktivität freigesetzt wurde. Im Jahr 1979 blieb eine Atombombe im Schacht stecken, so daß die 150 Kilotonnenbombe höher als vorgesehen gezündet wurde. Eine Million Kubikmeter Basalt und Korallenboden brachen vom Atoll ab, eine riesige Flutwelle entstand. Schon 1966 hatte ein Taifun 10 bis 20 Kilogramm Plutonium ins Meer gefegt.

Was bleibt sind persönliche Zeugnisse, wie das einer Überlebenden des ersten Atomtests der USA auf dem Bikini-Atoll 1954. Ihre Geschichte von Fehlgeburten, geschädigten Kindern bis hin zu Kindern, „die ich geboren habe und nicht als Menschen erkennen konnte“ hatte eine Kraft, der sich selbst die US-Regierung nicht verschließen konnte. Für diese Bewohner der Marschall-Islands wurden Millionen Dollar an Kompensationen bezahlt. Das hält die US-Regierung allerdings nicht davon ab, weiter gegen Atomwaffen gerichtete Unabhängkeitsbestrebungen zu unterdrücken. Mit allen verfügbaren Mitteln wurde etwa versucht, die anti-nukleare Verfassung von Palau auszuhebeln. Zwei Frauen aus Palau, denen tagelang die Einreise nach Tahiti über die USA verweigert wurde, konnten eindrücklich von den Drangsalierungen berichten. Schlimmer noch: derzeit werden Überlegungen über ein atomares Dauerlager im Pazifik angestellt, u.a. mit der Begründung, daß das Gebiet ohnehin radioaktiv verseucht sei. Russisches Waffenplutonium soll dort gleich mitgelagert werden.3 Jüngst geisterten Überlegungen der Bundesregierung durch die bundesdeutsche Presse, auch deutschen Atommüll im Pazifik zu lagern. Dort ist der Müll zwar auch nicht sicher – aber er wäre dann wenigstens erstmal weit weg.

Katastrophe für den Tourismus?

Die Veranstalter der Tagung sahen es als großen Erfolg an, viele Menschen von innerhalb und außerhalb der Pazifik-Region zum Kongreß auf Moorea zu versammeln und damit das Augenmerk auf Probleme des nuklearen Kolonialismus zu lenken. Manche TeilnehmerInnen nannten die hohe Teilnehmerzahl gar „ein Wunder“ angesichts der hohen Reisekosten, zumal die Flugpreise innerhalb der Pazifikregion die Reisekosten europäischer Teilnehmer sogar noch deutlich überstiegen.

Die Konferenz wurde ausführlich in den Printmedien behandelt, wobei die Rezeption in den pro-französischen Zeitungen auf Tahiti unterschiedlich, zum Teil sogar schroff ablehnend war. Der in Kommunalwahlen gewählte konservative Territorial-Gouverneur Gaston Flosse behauptete öffentlich wider besseres Wissen, er sei nicht eingeladen worden. Als Versicherungsmakler und Hotelbesitzer profitiert der ehemalige Volksschullehrer und Chirac-Freund Flosse (Chirac ist Patenonkel seines Sohnes Jaques) besonders von der französischen Präsenz. Teile der Lokalpresse nahmen seinen Vorwurf der Einseitigkeit und „politischen Maskerade“ des Abolition-2000-Kongresses dankbar auf und berichteten journalistisch inkompetent über den Kongreß. Dies gipfelte in dem Vorwurf des Lokalblatts »La Depeche de Tahiti«, daß der Kongreß eine Katastrophe für den Tourismus auf Tahiti sei, da Berichte über Radioaktivität Touristen abschrecke, so als ob die Menschen weltweit noch nicht erkannt hätten, wer 30 Jahre lang in der Region Atombomben gezündet hat. Daß sie von den Lokalmedien hinters Licht geführt werden, ist auch einigen Tahitianern nicht entgangen. Was wirklich Sache ist, konnten sie einem alternativen Radiosender entnehmen, der die Aufklärung über die Testfolgen zu seiner Sache gemacht hat.

Anmerkungen

1) Das Forum wurde von der »International Coalition for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament« veranstaltet, das einen Ursprung von »Abolition 2000« darstellte und nach der NPT-Konferenz im Netzwerk aufging. Diese Koalition wurde 1993 von den folgenden Organisationen ins Leben gerufen: International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility (INES), INESAP, International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), International Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), International Peace Bureau (IPB). Zur Entwicklung siehe J. Scheffran, »Abolition 2000« and the Anti-Nuclear Chain Reaction, INESAP Information Bulletin, No.11, December 1996, S. 52. Im selben Heft finden sich weitere Beiträge zu »Abolition 2000«. Zurück

2) Zu den Folgen der Atomrüstung im Pazifik siehe etwa: B. Hussein, Mururoa – The untold story, Pacific Islands Monthly, January 1997, S. 14-18; Exodus – An Introduction to Environmental Issues in the Pacific, Greenpeace New Zealand, Pacific Conference of Churches, 1995; E. Weingartner, The Pacific Nuclear Testing and Minorities, London: The Minority Rights Group, 1991; A. Makhijani, A. Robbins, K. Yih, Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde, IPPNW-Wissenschaftliche Reihe Band 2, 1991; A. Behar, Les Essais Nucléaires Français En Polynesie, IPPNW Frankreich, April 1990. Zurück

3) Siehe: Ab auf die Insel, Der Spiegel, 29/1996, S. 86-87 Zurück

Lars Pohlmeier ist Medizinstudent in Hamburg, freier Journalist und Vorstandsmitglied der IPPNW. Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt, Herausgeber des INESAP Information Bulletin und Koordinator der NWK-Arbeitsgruppe in »Abolition 2000«

Westliche Atommächte unter Druck

Westliche Atommächte unter Druck

A-Waffen: Europäisierung oder Abschaffung?

von Oliver Meier

Die nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen ist für Oliver Meier mit einer Vergemeinschafteten europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf Dauer nicht vereinbar. Auch wenn es heute noch nicht aktuell erscheint, steht damit die Frage: Werden die französischen und englischen Atomwaffen abgeschafft oder werden sie europäisiert? Welche Rolle spielen dann die Deutschen und welche Auswirkungen hätte eine solche Europäisierung auf den Nichtverbreitungsvertag?

Durch das Ende der Ost-West-Konfrontation ist das System der nuklearen Abschreckung ins Wanken geraten. Die Atomwaffenstaaten sehen sich einem zunehmenden internationalen Druck ausgesetzt, die nukleare Abrüstung mit dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt voranzutreiben. Im Juli dieses Jahres befand der Internationale Gerichtshof trotz des erbitterten Widerstands der fünf offiziellen Nuklearmächte, daß die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Kernwaffen generell gegen das Völkerrecht verstoßen und im besonderen gegen die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts. Er stellte einstimmig fest, daß es eine völkerrechtliche Verpflichtung gibt, Verhandlungen mit dem Ziel einer totalen atomaren Entwaffnung zu führe.1 Nur einen Monat später kam eine international hochrangig besetzte Expertenkommission, die von der australischen Regierung ins Leben gerufen worden war, zu dem Schluß, daß die vollständige Eliminierung von Nuklearwaffen die internationale Sicherheit erhöhen würde und forderte die Kernwaffenstaaten auf, konkrete Schritte in diese Richtung zu unternehmen.2

Bisher weigern sich alle Kernwaffenstaaten, in Verhandlungen einzutreten, die eine Entnuklearisierung der Welt zum Ziel haben. Die westlichen Nuklearmächte Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten reagieren auf den steigenden internationalen Druck zum einen mit quantitativer Abrüstung. Zum anderen rücken diese drei Staaten enger zusammen und kooperieren untereinander. Die in Europa stationierten Atomwaffenbestände sollen so langfristig gesichert werden. Parallel wird versucht, Atomwaffen in den Kontext einer europäischen Verteidigung zu stellen, um der atomaren Abschreckung eine neue Grundlage zu schaffen. Da dies nicht ohne die Deutschen geht, rückt die Bundesrepublik zunehmend in den Fokus der Atomwaffenpolitiken der NATO-Staaten.

Konsolidierung und Modernisierung: Die A-Waffen der europ. NATO-Staaten

In Westeuropa bleiben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hunderte amerikanischer, französischer und britischer Atomwaffen stationiert. Zwar haben alle drei Staaten ihre nuklearen Arsenale verkleinert, sie konsolidieren und modernisieren aber ihre Bestände auf niedrigerem Niveau. Die USA stationieren zur Zeit mindestens 200 und maximal noch 400 luftgestützte Atombombendes Typs B-61 in Europa.3 Auf See stationierte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk könnten in Krisenzeiten der NATO zusätzlich zugeordnet und in Europa eingesetzt werden. Insgesamt sank die Anzahl amerikanischer taktischer Kernwaffen weltweit seit 1988 um 90%, der NATO-Bestand verringerte sich um 91%.4

Großbritannien hat seine landgestützten Kernwaffen bereits außer Dienst gestellt und will bis 1998 auch seine Atombomben ausmustern. Gleichzeitig wird die atomare U-Boot-Flotte modernisiert. Vier hochmoderne Unterseeboote der Vanguard-Klasse sollen ab dem Jahr 2000 einsatzbereit sein; das erste ist bereits in Dienst gestellt worden. Sie werden mit amerikanischen Trident II-Raketen ausgestattet sein, wahrscheinlich maximal 192 Sprengköpfe tragen und künftig sowohl die strategische Aufgabe der Abschreckung als auch substrategische, taktische Aufgaben erfüllen.5 Damit wird die Sprengkraft des britischen Nukleararsenals insgesamt um 21% reduziert und die Anzahl der Sprengköpfe um 59% geringer sein als in den siebziger Jahren.6

Frankreich hat seine landgestützten Atomwaffen ebenfalls vollständig aufgegeben, modernisiert aber zugleich seine luftgestützten und auf U-Booten stationierten Kernwaffen. Vier neue strategische

U-Boote der Triomphant-Klasse sollen die fünf alten Schiffe der Redoutable-Klasse bis zum Jahr 2005 ersetzen. Diese U-Boote werden mit verbesserten Raketen des Typs M45 ausgerüstet. Pläne zur Entwicklung einer vollständig neuen strategischen Rakete mit der Typenbezeichnung M51 wurden zwar bis zum Jahr 2005 gestreckt, aber nicht aufgegeben. Zudem sollen 80 relativ neue, luftgestützte ASMP-Abstandswaffen modernisiert und mit einer größeren Reichweite ausgestattet werden. Frankreich hat die Anzahl seiner Atomwaffen seit 1991 um 15% verringert und die Ausgaben für Atomwaffen von 1993 bis 1995 um 25% gekürzt.7

Kooperationen der westlichen Atomwaffenstaaten

Während der nuklearen Konfrontation achteten die Atomwaffenstaaten darauf, daß ihre Atomwaffenprogramme so autark wie möglich waren. Die Verfügungsgewalt über diese Waffen war das ultimative Symbol nationalstaatlicher Selbständigkeit. Die Zusammenarbeit zwischen den Nuklearmächten beschränkte sich daher in der Regel auf das absolut notwendige Maß. Am engsten kooperierten die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Die anglo-amerikanische Zusammenarbeit reicht zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. 1962 wurde die Allianz im Abkommen von Nassau formalisiert, indem unter anderem der Ankauf von amerikanischen Polaris-SLBMs festgelegt wurde. Seit damals fanden auch alle britischen Atomwaffentests auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada statt. Hierdurch intensivierte sich die ohnehin enge Zusammenarbeit in der Atomwaffenforschung noch einmal.8

Nach dem Ende der Blockkonfrontation sind die USA und Großbritannien noch enger zusammengerückt. Die einzige im britischen Arsenal verbleibende Atomrakete, Typ Trident, wird in den USA hergestellt. Der Sprengkopf ist eine britische Entwicklung, die wahrscheinlich auf einer Version des amerikanischen W76, der für eine ältere Version der Trident in amerikanischen Labors entwickelt worden war, basiert. Der Zwang zur Kooperation ist für Großbritannien durch die Beendigung des amerikanischen Atomtestprogramms 1992 noch größer geworden. Die britische Regierung sträubte sich zunächst gegen diese amerikanische Entscheidung, mußte sich aber schließlich Washington fügen. Die englischen Atomwaffenforscher sind auf eine Fortsetzung der Atomwaffenforschung unter den Bedingungen eines Teststopp-Abkommens wesentlich schlechter vorbereitet als ihre amerikanischen Kollegen und sind daher darauf angewiesen, Computerdaten und Testergebnisse aus den USA zu übernehmen.

Die französisch-amerikanische Zusammenarbeit hat zwar auch eine lange Vorgeschichte, sie war aber niemals so eng wie die britisch-amerikanische. Die »force de frappe« bildete das nationale Gegenstück zum anglo-amerikanischen Arsenal. Nachdem dieser Gedanke der nationalen Eigenständigkeit in der Verteidigungspolitik zunächst 1966 zum Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO geführt hatte, begannen die USA und Frankreich spätestens Mitte der siebziger Jahre in der Atomwaffenforschung zusammenzuarbeiten. Diese Kontakte blieben lange Zeit geheim, ebenso wie Gespräche der Franzosen mit der NATO über eine Koordinierung der Nuklearwaffendoktrinen.9

Mit der offiziellen Wiederannäherung von Paris an die NATO, Anfang der neunziger Jahre, sind diese Restriktionen entfallen. Am 4. Juni 1996 unterzeichneten französische und amerikanische Regierungsvertreter ein Abkommen über die Zusammenarbeit in der Atomwaffenforschung.10 Auch dieses Dokument sollte zunächst geheimgehalten werden, es wurde jedoch schnell bekannt, daß französische Kernwaffenexperten nun erstmals begrenzten Zugang zu amerikanischen Kernwaffenlaboratorien erhalten sollen. Die beiden Staaten kamen überein „to cooperate to ensure the safety, security and reliability of their nuclear weapon stockpiles“ und außerdem in der Counterproliferation zusammenzuarbeiten.11

In der franko-amerikanischen Kooperation wird ein weiteres Motiv hinter der Zusammenarbeit der Kernwaffenstaaten deutlich. Beiden Regierungen geht es auch darum, Kosten zu reduzieren, indem Redundanzen in der Atomwaffenforschung und -entwicklung abgebaut werden. Frankreich und die USA haben Atomwaffenforschungsprogramme initiiert, die es ihnen ermöglichen sollen, die vorhandenen Waffen einsatzbereit zu halten und neue Modernisierungsprogramme durchzuführen.12 Die hierfür als notwendig erachteten Forschungseinrichtungen kosten mehrere Milliarden Mark, und diese Investitionen sind angesichts stagnierender oder sinkender Verteidigungsausgaben nur schwer innenpolitisch durchzusetzen.13

„The British must understand that unless we cooperate, neither of us will be able to withstand pressures for cuts in our arsenals or afford to maintain a deterrent.“ 14

Eine völlig neue Entwicklung stellt hingegen die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Großbritannien in der Nuklearwaffenpolitik dar. Beide Staaten bildeten während der Ost-West-Konfrontation beständige Gegenpole innerhalb der NATO: London unterhielt eine »special relationship« nach Washington, während Paris der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa mißtraute. 1993 gab der britische Verteidigungsminister Rifkind bekannt, daß Großbritannien seit November 1992 seine Atomwaffenpolitik mit Frankreich in der »Franco-British Joint Commission on Nuclear Policy« abstimmt. Zwischen Frankreich und Großbritannien gebe es keine fundamentalen Unterschiede in der Atomwaffenpolitik, so Rifkind damals. Über den genauen Inhalt dieser Gespräche schweigen die Verantwortlichen, offiziell wird in der jährlich mehrmals tagenden Kommission über Fragen der Abschreckung, der nuklearen Doktrin, Rüstungskontrolle, Nonproliferation und Raketenabwehr gesprochen.15 Daneben reden auch französische und britische Vertreter der nationalen Kernwaffenforschungseinrichtungen seit Anfang der neunziger Jahre miteinander, an diesen Kontakten sollen auch Amerikaner beteiligt sein.16

Und Deutschland?

Mit dem Maastrichter Vertrag über eine Europäische Union haben sich die Mitgliedsstaaten verpflichtet, auch die Grundlagen für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik zu schaffen. Zwangsläufig wird sich in diesem Kontext die Frage nach der künftigen Rolle der französischen und britischen Atomwaffen stellen. Die nationale Verfügungsgewalt über diese Waffen ist mit einer wirklich vergemeinschafteten europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik letztlich nicht vereinbar – entweder werden die Waffen also abgeschafft oder ihre Kontrolle wird »europäisiert«.

Nach britischen Presseberichten sollen auch deutsche Beamte an den britisch-französischen Konsultationen teilnehmen.17 Dies wäre insofern eine logische Entwicklung, als die Kooperation der europäischen Atomwaffenstaaten auch die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der EU forcieren soll und dort haben die Deutschen eine Schlüsselposition inne. Die Bundesregierung hat eine Beteiligung an den britisch-französischen Gesprächen strikt verneint.18

Dabei lehnen nicht alle deutschen Regierungsmitglieder eine Mitsprache bei den Nuklearwaffenpolitiken der verbündeten Staaten ab. Dies wurde zuletzt im Herbst 1995 deutlich, als der französische Premierminister Juppé das Angebot Frankreichs, die »force de frappe« in einen europäischen Rahmen zu stellen, erneuerte. „Wir sollten uns alle mit dem Gedanken anfreunden, daß die europäischen Länder ihre Verteidigungspolitik überdenken müssen und daß in diesem Prozeß die Rolle der Atomwaffen, über die zwei europäische Länder verfügen, auch überprüft werden muß.“ Juppé sprach von „konzertierter Abschreckung“, also der Möglichkeit, die französischen Kernwaffen nicht mehr ausschließlich im Kontext der französischen Sicherheitspolitik einzusetzen.19

Die deutschen Reaktionen auf den französischen Vorstoß, insbesondere aus den Reihen des Auswärtigen Amtes und dem frankophonen Flügel der Unionspa8rteien waren nicht nur ablehnend. Karl Lamers brachte die Haltung dieser Gruppe auf den Punkt: „Wir können sagen: Wir wollen das Nukleare nicht. Oder wir sagen: Wir wollen bei der Gestaltung des Nuklearen mitwirken. Das erste (…) hätte mit Sicherheit keine Aussicht auf Erfolg. (…) Wenn es keine Aussicht auf Erfolg hat, (…) dann ist es ganz logisch und zwingend zu sagen: Also müssen wir über die Rolle des Nuklearen miteinander reden.“ Alfred Dregger wünschte sich sogar eine „europäische nukleare Planungsgruppe“ und der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, bezeichnete es als einen „Witz“, wenn die Deutschen das Angebot, mit Frankreich in einen nuklearpolitischen Dialog einzutreten, ablehnen würden.20 Die Bundesregierung hält sich alle Optionen offen: Auf die Frage, ob nach ihrer Auffassung der Nichtverbreitungs-Vertrag (NVV) die Möglichkeit ausschließt, daß die französischen und britischen Atomwaffen in eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik einbezogen werden, antwortete die Regierung, daß „zu gegebener Zeit zu entscheiden sein“ wird, ob und welche Schlußfolgerungen aus den Vertragsbestimmungen zu ziehen sind.21

Europäische Atomwaffen und die Weiterverbreitung

Die Frage einer europäischen Atommacht ist politisch nicht aktuell und sie wird es kaum in den nächsten Jahren werden. Noch sind die politischen und militärischen Probleme zu groß, die mit einer solchen Vergemeinschaftung von Atomwaffen einhergehen, als daß sie schon auf die politische Tagesordnung gesetzt werden könnte. Diese Frage kann allerdings nur verschoben, nicht aber vermieden werden, wenn tatsächlich eine Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist.22

Aber schon die Erwägung einer Vergemeinschaftung kann eine verheerende Wirkung auf die vorhandenen Nichtverbreitungs-Regime haben. Eine Vergemeinschaftung von Atomwaffen würde klar dem Geist, wenn nicht dem Buchstaben des NVV widersprechen, der erst letztes Jahr mit viel Mühe auf unbegrenzte Zeit verlängert worden ist. Viele Nicht-Atomwaffenstaaten könnten sich durch die Diskussion um eine »Europäisierung« von Atomwaffen in ihrer Auffassung bestätigt sehen, daß die Nuklearmächte sich durch den NVV nur ihre nuklearen Privilegien sichern wollen. Eine Ausweitung dieser Privilegien – etwa durch eine nukleare Teilhabe im Rahmen der EU – würde diese Kritik noch verstärken. Vor diesem Hintergrund sind auch die Kooperationen der Atomwaffenstaaten untereinander als Versuch zu sehen, dem internationalen Druck zu widerstehen, endlich mit der nuklearen Abrüstung ernst zu machen.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Dieter Deiseroth: Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig, in: Wissenschaft und Frieden, 3/96, S. 78-81. Zurück

2) Canberra Commission: Report of the Canberra Commission on the Elimination of Nuclear Weapons, August 1996. Zurück

3) Vgl. Hans M. Kristensen: The 520 Forgotten Bombs. The U.S. and British Forward Deployed Nuclear Weapons in Europe, Washington, D.C.: Greenpeace International April 1995. Wahrscheinlich sind noch ungefähr 200 amerikanische Atomwaffen in Europa stationiert. Für diese Annahme spricht unter anderem, daß die USA 208 Atomwaffengrüfte (“nuclear weapons storage vaults“) auf europäischen Luftwaffenstützpunkten bauen oder bereits gebaut haben. United States Air Force (Electronic Systems Center, Office of Public Affairs), News Release: „HANSCOM Office Marks Foreign Sale“, Hanscom, 18 July, 1995. Diese Zahl wurde auch von einem amerikanischen NATO-Vertreter auf einer Konferenz im Januar 1996 in Brüssel bestätigt. Zurück

4) Zahlen nach The Congress of the United States. Senate, SASC, 103-2, Briefing on the Results of the Nuclear Posture Review, September 22, 1994, S. 22. Zurück

5) Andrew J. Goodpaster/ C. Richard Nelson/ Steven Philip Kramer: Nuclear Weapons and Euopean Security, Washington, D.C.: The Atlantic Council of the United States (Policy Paper Series), April 1996, S. 19. Zurück

6) House of Commons: Progress of the Trident Programme, Defence Committee, Eigth Report, Session 1994-95, S. 6. Die britische Regierung macht prinzipiell keine Angaben über die Anzahl oder die Sprengkraft ihrer Atomwaffen. Die Zahl von 192 Trident-Sprengköpfen läßt sich aber aus verschiedenen Angaben, die die britische Regierung gemacht hat, errechnen. Vgl. hierzu: Richard Guthrie/ Stephen Pullinger: Calculations of British Nuclear Warhead Numbers, in: Trust & Verify (VERTIC), No. 56 and No. 57, 1995. Zurück

7) Zahlen nach Bruno Tertais (frz. Verteidigungsministerium) zitiert nach Science Application International Cooperation (SAIC): Final Report: Implications of the Nuclear Policies and Doctrines of France and Great Britain, MacLean, Va.: SAIC Program on Stability and the Offense/ Defense Relationship 27 September 1995, S. 11. Zurück

8) Vgl. z.B. The British American Security Information Council: The U.K. Trident Programme. Secrecy and Dependence in the 1990s, London/ Washington: BASIC Report 93.5, September 1993. Zurück

9) Vgl. Richard H. Ullman: The Covert French Connection, in: Foreign Affairs, Vol. 75, Summer 1989, pp. 3-33. Zurück

10) R. Jeffrey Smith: France, U.K. Secretly Enter Pact to Share Nuclear Weapons Data, Washington Post, June 17, 1996. Zurück

11) Memorandum of Agreement on Cooperation Concerning Nuclear Safety and Security, June 4, 1996. Zurück

12) In den USA ist dies das stockpile stewardship-Programm, in Frankreich läuft es unter dem Titel PALEN (Préparation à la Limitation des Essais Nucléaires). Zurück

13) Vgl. Oliver Meier: Atomwaffenforschung ohne Tests? Die USA lehnen einen vollständigen Teststopp ab, in: Wissenschaft und Frieden, 1/1995, S. 14-18. Zurück

14) Ein französischer Diplomat über die britisch-französischen Atomwaffengespräche, zitiert nach Carey Schofield: „Europe wrestles with concept of a common bomb“, Sunday Telegraph, August 6, 1995. Zurück

15) Malcolm Rifkind: UK Defence Strategy: A Continiung Role for Nuclear Weapons?, Speech delivered at the Centre for Defence Studies, Kings College London, 16 November 1993. Zurück

16) Martin Butcher: Nuclear Weapons in the European Union, Center for European Security and Disarmament: Issues in European Security No. 5, May 1996, p. 13. Zurück

17) Carey Schofield: Europe wrestles with concept of a common bomb, Sunday Telegraph, August 6, 1995. Zurück

18) Bundestagsdrucksache 13/5918. Zurück

19) Rede von Premierminister Alain Juppé am Institut des Hautes Études de Defense Nationale, dokumentiert in: Frankreich-Info, Nr. 27, 11. September 1995, S. 4. Zurück

20) Alle Zitate aus Deutscher Bundestag, 59. Sitzung, 29. September 1995, Plenarprotokoll 13/59, S. 4984, S. 4995, S. 4993. Zurück

21) Antwort des Staatsministers im Auswärtigen Amts, Werner Hoyer, auf entsprechende Frage der Abgeordneten Beer, Bündnis 90/ Grüne vom 6. November 1996. Artikel I und II des NVV verbieten die Weitergabe von Atomwaffen oder von zu deren Herstellung notwendigen Materialien und Kentnissen sowie der Verfügungsgewalt über diese Waffen. Zurück

22) Vgl. Oliver Meier: Kernwaffen in Europa: Auslaufmodell oder Force d'Europe?, in: antimilitarismus information, Heft 10, Oktober 1996, S. 5-10. Zurück

Dipl.-Pol. Oliver Meier hat an der FU Berlin zur amerikanischen Atomwaffenpolitik nach 1989 promoviert und arbeitet zur Zeit am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) im Rahmen des »Projektes zur Europäischen Nuklearen Nichtweiterverbreitung« (PENN), das von der W. Alton Jones Foundation unterstützt wird.

Teststoppvertrag abschließen

Teststoppvertrag abschließen

Verhandlungen zur Abschaffung der Atomwaffen beginnen – Stellungnahme des INESAP Coordinating Committee

von INESAP Coordinating Committee

Mehrere Ereignisse der letzten Monate haben die politische Unterstützung und die Legitimität der Atomwaffen in einem Maße untergraben, das für das Atomzeitalter einmalig ist. Zahlreiche Stellungnahmen, sowohl von Regierungen als auch regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs), haben deutlich gemacht, daß eine Welt ohne Atomwaffen ein weitverbreites Anliegen der Menschheit ist. Das gegenwärtige Fenster der Gelegenheit für die nukleare Abrüstung muß genutzt werden, um substantielle Fortschritte in Richtung auf eine Nuklearwaffenkonvention (NWK) zu erreichen, die in Ergänzung zur Biowaffenkonvention und zur Chemiewaffenkonvention mit den Atomwaffen nun auch die letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen verbietet und beseitigt.

Die folgenden positiven Ereignisse verdienen besonders hervorgehoben zu werden:

  • Alle 170 Staaten bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) haben im Mai 1995 der unbegrenzten Vertragsverlängerung zusammen mit einer Erklärung zugestimmt, in der sich die Staaten verpflichten zu „systematischen und progressiven Anstrengungen zur globalen Reduzierung der Atomwaffen, mit dem letzlichen Ziel diese Waffen abzuschaffen.“ Diese Verpflichtung wurde verstärkt durch eine Mehrheitsresolution in der UNO-Generalversammlung im selben Jahr, in der die Genfer Abrüstungskonferenz aufgefordert wird, „mit hoher Priorität ein Ad-hoc-Komitee einzurichten, um Anfang 1996 Verhandlungen über ein Phasenprogramm zur nuklearen Abrüstung und schließlich zur Eliminierung der Atomwaffen innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens aufzunehmen.
  • Wie eine atomwaffenfreie Welt im Rahmen einer Nuklearwaffenkonvention erreicht werden könnte, haben mehr als 50 Experten aus 20 Ländern in einem Report der INESAP Studiengruppe »Beyond the NPT« dargelegt, der im April 1995 in New York veröffentlicht wurde. Schritte zu diesem Ziel könnten demnach folgende Maßnahmen umfassen: tiefe Einschnitte in die Atomwaffenarsenale, einen umfassenden Teststopp-Vertrag, Abkommen zum Stopp der Produktion und (Wieder-)Verwendung nuklearer Materialien (Cut-Off), Maßnahmen zur Verhinderung der horizontalen und vertikalen Verbreitung von Trägersystemen für Atomwaffen sowie regionale Ansätze zur nuklearen Abrüstung.
  • Mehr als 200 NGOs fordern im April 1995 in einem Aufruf sofortige „Verhandlungen über eine Konvention zur Abschaffung aller Atomwaffen, die die stufenweise Beseitigung aller Atomwaffen innerhalb eines Zeitrahmens erforderlich macht, mit Bestimmungen zur effektiven Verifikation und Durchsetzung“. Diese gemeinsame Stellungnahme war die Grundlage für die Gründung des globalen Netzwerks Abolition 2000 im November 1995, in dem mehrere hundert Organisationen aus allen Teilen der Erde zusammenarbeiten, um sich für ein Abkommen zur Abschaffung der Atomwaffen bis zum Jahr 2000 einzusetzen.
  • Die 50. Jahrestage der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki haben die Welt an die verheerende Wirkung von Atomwaffeneinsätzen erinnert und deren moralische Verurteilung verstärkt.
  • Die Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 an die internationale Pugwash-Konferenz und ihren Präsidenten Joseph Rotblat war zugleich eine Anerkennung für die Wissenschaftler und Ingenieure, die es abgelehnt haben, an Atomwaffen zu arbeiten.
  • Die Fortführung der chinesischen und französischen Atomwaffentests nach der Verlängerung des NVV löste weltweite Proteste gegen die Versuche aus und stärkte die Unterstützung für einen umfassenden Teststopp-Vertrag. Inzwischen wurden alle Atomexplosionen eingestellt.
  • Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Pelindaba im April 1996 haben 43 afrikanische Staaten einen ganzen Kontinent zur atomwaffenfreien Zone erklärt. Südafrika war das erste Land, das seine Atomwaffen vollständig aufgegeben hat. Zusammen mit ähnlichen Verträgen für Südostasien (1995), für den Südpazifik (Rarotonga 1985), der im März 1996 auch von den Atomwaffenstaaten unterzeichnet wurde, für Lateinamerika und die Karibik (Tlatelolco 1967) sowie die Antarktis (1959) ist nunmehr fast die gesamte südliche Hemisphäre frei von Atomwaffen.
  • <>Der Internationale Gerichtshof hat in seinem historischen Urteil im Juli 1996 in Den Haag erklärt, daß „die Drohung und der Einsatz von Atomwaffen generell in Widerspruch steht zu den Regeln des Kriegsvölkerrechts und insbesondere zu den Prinzipien und Regeln der Menschenrechte .“<>
  • Im November 1995 hat die Regierung Australiens die Canberra Kommission zur Abschaffung von Atomwaffen ins Leben gerufen, die am 14. August 1996 ihren Bericht vorgelegt hat. Die Kommission hat eine Reihe von Schritten zur atomwaffenfreien Welt identifiziert. Hierzu gehören weitere amerikanisch-russische Abrüstungsabkommen, ein Teststopp-Vertrag, eine Konvention zum Produktionsstopp für spaltbare Materialien, ein Vertrag zum Nicht-Ersteinsatz von Atomwaffen und weitere atomwaffenfreie Zonen, mit spezifischen Mechanismen zur Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse jeder Region.
  • Die Genfer Abrüstungskonferenz hat einen umfassenden Teststoppvertrag ausgearbeitet, der alle Atomexplosionen wirksam verbietet, wenn auch nicht jede Forschung und Entwicklung an Atomwaffen. Während die anderen Staaten mit der Unterzeichnung des Vertrages begonnen haben, besteht Indien weiter darauf, den Teststopp-Vertrag mit einem Abrüstungsplan zu verbinden.
  • Die große Mehrheit der blockfreien Staaten (Gruppe der 21) in der Abrüstungskonferenz, einschließlich Indien, aber ohne Südafrika und Chile, hat am 8. August 1996 ein Dreiphasen-Aktionsprogramm für die Abschaffung der Atomwaffen vorgeschlagen. Der Teststopp-Vertrag und weitere Schritte zur nuklearen Abrüstung sind Gegenstand der UNO-Generalversammlung im Herbst 1996; in einem Resolutionsentwurf Malaysias werden Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention ab 1997 gefordert.
  • Innerhalb des Netzwerks Abolition 2000 gibt es einen andauernden Prozeß zur Ausarbeitung eines Modellentwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention, mit dem die zukünftige Abrüstungsagenda beeinflußt werden soll. Zugleich wird für die Unterstützung einer Resolution in den Vereinten Nationen geworben, die die Aufnahme von Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention fordert.

Herausforderungen und Hindernisse

Niemals waren die Bedingungen so günstig, einen Prozeß einzuleiten, der zur Abschaffung der Atomwaffen führt. Auf der anderen Seite, dürfen die potentiellen Gefahren für diesen Prozeß nicht übersehen werden.

  • Um den Prozeß in Richtung auf null Atomwaffen einzuleiten, ist von größter Bedeutung die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten, ihre nuklearen Arsenale innerhalb eines absehbaren Zeitrahmens vollständig zu beseitigen. Doch die offiziellen fünf Atomwaffenstaaten zeigen derzeit keine Bereitschaft, ihre Atomwaffen aufzugeben. Stattdessen führen sie die Modernisierung ihrer Arsenale fort, verwenden Computersimulationen und Laborexperimente zur Atomwaffenentwicklung. Während China und Rußland immerhin prinzipiell erklärt haben, daß sie ihre Atomwaffen dann beseitigen werden, wenn alle dies tun, lehnen die westlichen Atomwaffenstaaten es ab, dieses Thema überhaupt zu diskutieren.
  • Die Verbündeten der Atomwaffenstaaten hoffen, von deren »Atomschirmen« profitieren zu können, im Widerspruch zu den Verpflichtungen, die sie mit dem NVV als Nicht-Atomwaffenstaaten unterzeichnet haben und im Gegensatz auch zum Urteil des Internationalen Gerichtshofs. Die NATO-Expansion nach Osteuropa könnte dazu führen, daß Atomwaffen auf dem Territorium weiterer Staaten stationiert werden.
  • <>Solange Atomwaffenstaaten mit der Erhaltung und Modernisierung ihrer Atomwaffen ein negatives Beispiel abgeben, ist die Verbreitung von Atomwaffen und damit verbundener Kapazitäten schwierig zu stoppen. Während nur wenige Staaten die nukleare Schwelle bereits überschritten haben, hat eine Reihe von Ländern die technischen Fähigkeiten, um den Sprung über die Schwelle zu schaffen, falls dies aufgrund des nationalen Interesses für erforderlich gehalten wird. Die Fortexistenz der Atomwaffenarsenale und Produktionsanlagen erleichtert Atomschmuggel und Atomterrorismus.<>
  • Die Wahrnehmung, daß »Verbrecherstaaten« und Terroristen nach Atomwaffen streben, ist ein treibendes Motiv für militärische Counterproliferation und Raketenabwehrprogramme in westlichen Staaten. Solche Entwicklungen können den ABM-Vertrag zur Kontrolle von Raketenabwehrsystemen untergraben, ein Nord-Süd-Wettrüsten anheizen und die politischen Bedingungen für Abrüstung ernsthaft schwächen.
  • Die Furcht vor westlicher Dominanz, verstärkt durch NATO-Expansion und Revision des ABM-Vertrages zur Kontrolle der Raketenabwehr, fördert den Widerstand gegen die Ratifizierung des START-II-Vertrages und der Chemiewaffenkonvention im russischen Parlament.

Eine Agenda für eine atomwaffenfreie Welt

Diese negativen Entwicklungen könnten die genannten positiven Entwicklungen untergraben, wenn nicht bald weitere ernsthafte Abrüstungsschritte von der internationalen Gemeinschaft unternommen werden. Die folgenden Maßnahmen sind besonders dringlich, um den Prozeß in eine atomwaffenfreie Welt einzuleiten:

  • Rasches Inkrafttreten des umfassenden Teststopp-Vertrages.
  • Gemeinsame Erklärung der Atomwaffenstaaten zum Nicht-Ersteinsatz und Garantien zum Nicht-Einsatz von Atomwaffen.
  • Erklärungen der Atomwaffenstaaten zur raschen und vollständigen nuklearen Abrüstung, zum Verzicht auf neue Atomwaffen sowie zur Schließung, zum Abbau und zur Konversion damit verbundener Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen.
  • Bekräftigung der Einhaltung des ABM-Vertrages, Ratifizierung von START-II und Beginn von START-III-Verhandlungen.
  • Sofortige Schritte zur Reduzierung der atomaren Gefahr: Beendigung der Alarmbereitschaft für die Atomstreitkräfte, Trennung der Gefechtsköpfe von den Trägersystemen, Abzug nichtstrategischer Atomwaffen, Flugtestverbot für ballistische Raketen.
  • Beginn der Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz über eine umfassende Cut-off-Konvention für atomwaffenfähige Materialien.
  • Ratifizierung und volle Implementierung der Chemiewaffenkonvention, verbesserte Überprüfung der Biologiewaffenkonvention.
  • Die südliche Hemisphäre sowie weitere Regionen (koreanische Halbinsel, Südasien, Naher Osten, Mittel- und Osteuropa) werden zu atomwaffenfreien Zonen erklärt.
  • Weitere Verhandlungen zwischen allen Atomwaffenmächten über die Abschaffung ihrer Atomwaffen.
  • Verhandlung, Abschluß und Implementierung einer Nuklearwaffenkonvention, die alle nuklearen Rüstungskontroll- Nichtverbreitungs- und Abrüstungsmaßnahmen umfaßt.

Um die verschiedenen Schritte zur atomwaffenfreien Welt zu koordinieren und um Defizite der einzelnen Schritte zu vermeiden, ist es von großer Bedeutung, Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention als Rahmen für die Abschaffung der Atomwaffen so bald wie möglich aufzunehmen.

Daher rufen wir die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Regierungen aller Staaten dazu auf, den umfassenden Teststopp-Vertrag unverzüglich in Kraft treten zu lassen und, in Erfüllung des Urteils des Internationalen Gerichtshofs, so bald wie möglich Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention einzuleiten, die als Rahmen für die atomare Abrüstung in all ihren Aspekten dienen.

Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig

Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig

Der Internationale Gerichtshof bezieht Position

von Dieter Deiseroth

Am 8. Juli 1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH)1 in Den Haag in einem von der UN-Generalversammlung eingeleiteten Gutachten-Verfahren nach Art. 96 Abs. 2 der UN-Charta2 eine Entscheidung3 getroffen, die für die internationalen Beziehungen, insbesondere für die künftige Rolle von Atomwaffen, von großer Bedeutung sein kann. Die deutsche Tages- und Wochenpresse4 und die Fernsehanstalten haben darüber bislang kaum berichtet. Die Kernaussage des Richterspruches (»advisory opinion«) lautet: Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen verstoßen generell gegen das Völkerrecht und im besonderen gegen die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.

Das »World-Court-Project«

Das Verfahren vor dem IGH, das mit dem Richterspruch des IGH vom 8. Juli 1996 endete, ist zu einem wesentlichen Teil Ergebnis eines erfolgreichen Zusammenwirkens von Nichtregierungsorganisationen (NROs) sowie von Diplomaten und Regierungsvertretern aus »atomwaffenkritischen« Staaten, vor allem aus der Bewegung der sog. Blockfreien.5 Ausgangspunkt war eine »Startveranstaltung« (»International Launch«) am 14. und 15. Mai 1992 in Genf. An jenem Wochenende schlossen im Genfer Hauptquartier der Vereinten Nationen drei weltweit tätige NROs, nämlich die Internationale Ärztevereinigung IPPNW (Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 1985), die Juristenorganisation IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms) und das in Genf residierende IPB (International Peace Bureau, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1910) ein Zweckbündnis6. Dieses Zweckbündnis setzte sich unter der Bezeichnung »World Court Project« (Projekt Internationaler Gerichtshof) das konkrete Ziel, über Anträge einer UN-Sonderorganisation und nach Möglichkeit der UN-Generalversammlung ein Gutachten-Verfahren nach Art. 96 der UN-Charta beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einzuleiten, um einen Richterspruch zu der seit Jahrzehnten umstrittenen Frage herbeizuführen, ob ein Einsatz von Atomwaffen und die Androhung eines solchen mit dem geltenden Völkerrecht vereinbar sind.

Nur ein Jahr später konnte die Kampagne einen Zwischenerfolg verbuchen. Die »World Health Assembly«, das Hauptorgan der Weltgesundheitsorganisation (WHO), beschloß – gegen den heftigen Widerstand der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten – am 14. Mai 1993 in Genf mit der Mehrheit von 73 Ja-Stimmen gegen 40 Nein-Stimmen, beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag nach Art. 96 Abs. 2 UN-Charta ein Rechtsgutachten (»advisory opinion«) zu der Frage einzuholen, ob angesichts der Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt die Anwendung von Nuklearwaffen durch einen Staat im Krieg oder in einem anderen bewaffneten Konflikt einen Bruch seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen einschließlich der WHO-Verfassung bedeuten würde (Resolution WHA 46.40). Diesem Votum der »Weltgesundheitsversammlung« war eine intensive Mobilisierungsarbeit der Trägerorganisationen des »World Court Projects« und zahlreicher Regierungsvertreter und Diplomaten insbesondere aus den sogenannten blockfreien Staaten vorausgegangen. Diese wurde dadurch erleichtert, daß in mehreren Delegationen von WHO-Mitgliedsstaaten engagierte Aktivisten der IPPNW vertreten waren, die im Vorfeld und während der Weltgesundheitsversammlung unmittelbar bei den anderen Delegierten für das Projekt werben konnten. Argumentativ unterstützt wurden sie durch völkerrechtliche Studien und Vorlagen, die von Juristen aus dem Bereich der IALANA erstellt worden waren und weltweit der Kampagne zur Verfügung standen.7

Trotz des großen politischen und auch finanziellen Drucks der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten ging die UN-Generalversammlung im Jahre 1994 sogar noch einen Schritt weiter als die WHO, nachdem ein ähnlicher Versuch im Vorjahre »steckengeblieben« war. Mit der Mehrheit von 78 Ja-Stimmen gegen 43 Nein-Stimmen (bei 38 Enthaltungen) verlangte die UN-Generalversammlung am 15. Dezember 1994 in ihrem Antrag vom IGH nicht nur die Prüfung der Völkerrechtsmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen, sondern auch der Androhung eines Nuklearwaffen-Einsatzes (Resolution 49-75 K).

In der Zeit vom 30. Oktober bis 15. November 1995 hielt der IGH dann öffentliche Anhörungen ab, um allen Staaten, die zuvor fristgerecht schriftliche Stellungnahmen vorgelegt hatten, Gelegenheit zu geben, diese mündlich zu ergänzen, sowie um Fragen des Gerichts zu beantworten. Insgesamt gaben 22 Staatenvertreter mündliche Statements ab (Australien, Ägypten, Frankreich, Deutschland, Indonesien, Mexiko, Iran, Italien, Japan, Malysia, Neuseeland, Philippinen, Quatar, Rußland, San Marino, Samoa, Marshall Inseln,Solomon Inseln, Costa Rica, Vereinigtes Königreich, USA und Zimbabwe).

Aus dem Bereich des »World Court Projects« waren Entwürfe für Stellungnahmen gefertigt und interessierten Regierungen zur Verfügung gestellt worden.8 Außerdem sammelten die Trägerorganisationen weltweit Unterschriften für eine »Declaration of Conscience to the United Nations« und vor allem in Japan für den »Hiroshima und Nagasaki Appell«. Die »Unterstützerliste« umfaßte Hunderte von Organisationen (u.a. Greenpeace International, das International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility – INES – , eine Vielzahl von Kirchen, Gewerkschaften, und Bürgerrechtsgruppen) sowie zahlreiche prominente Einzelpersönlichkeiten, darunter der frühere Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow, der langjährige Ministerpräsident Neuseelands David Lange, der Dalai Lama, eine Vielzahl von Bischöfen sowie mehrere Nobelpreisträger. Die Repräsentanten des »WC-Projekts« konnten schließlich dem sichtlich beeindruckten Registrar (Kanzler) des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag die Listen mit ca. 145.000 (von insgesamt mehr als 100 Millionen) gesammelten Unterschriften übergeben.9

Der Richterspruch

Während der Gerichtshof10 das Gutachten-Begehren der WHO aus formellen Gründen für unzulässig hielt, bejahte er die Zulässigkeit des Gutachtenantrages der UN-Generalversammlung und faßte seinen Richterspruch in sechs Punkten zusammen (vgl. Kasten).

Die Kernaussage (E.) des Richterspruchs des IGH besteht darin, daß die Androhung und der Gebrauch von Atomwaffen generell (»generally«) gegen die Regeln des für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrechts verstoßen würden, im besonderen gegen die Prinzipien und Regeln des sogenannten humanitären (Kriegs-)Völkerrechts. Denn bei einem Einsatz von Atomwaffen würden die folgenden Regeln des sog. humanitären (Kriegs-)Völkerrechts gelten und zu beachten sein, die aber aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Nuklearwaffen nicht eingehalten werden könnten: 1.) Jeder Einsatz von Waffen muß zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden; 2.) unnötige Grausamkeiten und Leiden müssen vermieden werden; 3.) unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Allerdings sah sich der Gerichtshof nicht in der Lage, positiv oder negativ definitiv festzustellen, ob der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ausnahmsweise in einer für einen Staat existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation rechtmäßig oder rechtswidrig wäre. Einstimmig haben die Richter darüber hinaus festgestellt (F.), daß bereits heute die verbindliche Rechtspflicht insbesondere der Atomwaffenstaaten aus Art. VI des Nichtweiterverbreitungsvertrages (sog. Atomwaffensperrvertrag) besteht, ernsthaft über die Abschaffung der Atomwaffen mit dem Ziel »Null« zu verhandeln und diese Verhandlungen zu einem Abschluß zu bringen.

Das Abstimmungsergebnis hinsichtlich der Kernaussage (E.) von 7 zu 7 Richterstimmen, wobei die Stimme des Präsidenten den Ausschlag gab, war nur scheinbar knapp: Drei weitere Richter (Weeramantry aus Sri Lanka, Shahabuddeen aus Guyana und Koroma aus Sierra Leone) votierten nur deshalb gegen die »Präsidentenmehrheit«, weil es nach ihrer Auffassung nicht nur »generell«, sondern – weitergehend – ausnahmslos keine denkbare Rechtfertigung für einen Atomwaffeneinsatz geben könne; insofern ist die Sachentscheidung in dieser Frage mit einer Mehrheit von 10 zu 4 Richterstimmen ergangen. Die vier überstimmten Richter kommen aus den Atomwaffenstaaten USA, UK, Frankreich sowie aus Japan.11

Konsequenzen des Richterspruchs?

Die vom Internationalen Gerichtshof am 8. Juli d.J. verkündete Entscheidung hat zwar – wie sich aus Art. 96 der UN-Charta ergibt – »nur« die Rechtsqualität eines gerichtlichen Gutachtens, dem grundsätzlich keine unmittelbare Zwangswirkung zukommt. Dennoch haben auch solche Gutachten-Entscheidungen des IGH große Relevanz. Dies ergibt sich bereits aus der Stellung des Gerichtshofes. Im Gutachten-Verfahren wendet der Gerichtshof dieselben Rechtsquellen an wie in einem Klageverfahren; er prüft die ihm vorgelegten Fragen auf der Grundlage des nach Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts anwendbaren Rechts.12 Die Gutachten ergehen in einem mit rechtsstaatlichen Garantien ausgestatteten gerichtlichen Verfahren nach Maßgabe des allseits anerkannten IGH-Statuts. Die UN-Charta geht davon aus, daß der Gerichtshof die geltende Rechtslage sorgfältig ermittelt und daß das von ihm dann erstellte Rechtsgutachten klarstellt, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist. Als Expertisen des »Weltgerichtshofes« interpretieren die IGH-Gutachten das bestehende Völkerrecht und stellen insoweit sowohl für die Staatenpraxis als auch für die Rechtslehre eine bedeutsame »Sach-Autorität« dar, was gerade auch die große Relevanz der bisher vom IGH erstellten Rechtsgutachten belegt.13 Daran können namentlich diejenigen Staaten, die sich als Rechtsstaaten verstehen, nicht vorbeigehen. Dies hat auch innerstaatliche Rechtswirkungen.

In der Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 25 GG die »allgemeinen Regeln des Völkerrechts«, zu denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls das Völkergewohnheitsrecht14 und damit auch die vom IGH in seiner Entscheidung herangezogenen Grundsätze des sog. humanitären Kriegsvölkerrechts gehören, »Bestandteil des Bundesrechtes«, das vom Gesetzgeber, von der Regierung, der Verwaltung und den Gerichten strikt zu beachten ist (Art. 20 Abs. 3 GG); sie „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“.

Für den Bereich der Bundeswehr ist darüberhinaus spezialgesetzlich in § 10 Abs. 4 des deutschen Soldatengesetzes bestimmt, daß Vorgesetzte „Befehle nur … unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen“ dürfen. Mit anderen Worten: In der Bundeswehr dürfen keine Befehle erteilt werden, die gegen geltendes Völkerrecht verstoßen. Von daher läßt sich feststellen: Was der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 8. Juli 1996 als geltendes Völkerrecht festgestellt hat, darf jedenfalls im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland gerade auch von Verfassungs wegen nicht ignoriert werden. Geltendes Völkerrecht bindet nicht nur alle Verfassungsorgane und die Gerichte, sondern auch alle militärischen Vorgesetzten und alle Soldaten.

Daraus ergeben sich wichtige Fragen, die einer baldigen Antwort bedürfen und denen sich insbesondere auch der Deutsche Bundestag stellen muß:

  • Wenn nach dem vom Internationalen Gerichtshof festgestellten geltenden Völkerrecht die Anwendung von Atomwaffen, ja bereits die Androhung eines solchen Einsatzes generell völkerrechtswidrig sind, läßt sich dann die nach wie vor geltende NATO-Nuklearstrategie – jedenfalls aus rechtlichen Gründen – auch nur noch einen Tag länger aufrechterhalten?

Zu dieser Frage besteht Anlaß. Denn die deutsche Bundesregierung hat zur NATO-Nuklearstrategie noch am 21. April 1993 vor dem Deutschen Bundestag erklärt:

Die „eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses, weil konventionelle Streitkräfte allein die Kriegsverhütung nicht gewährleisten können… Deshalb wird die Bundesregierung … nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. … Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen. Die Möglichkeit und Führbarkeit konventioneller Kriege würde zunehmen.“ 15

  • Wie sich aus der vom Bundesverteidigungsminister vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.Juli 199416 ergibt, werden im Rahmen der »Krisenreaktionskräfte« der Bundeswehr u.a. „in der Luftwaffe 6 fliegende Staffeln (mit Tornado-Flugzeugen) für … nukleare Teilhabe“ bereitgehalten. Diese Tornadoflugzeuge sollen im Krisenfalle „als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden. Mit anderen Worten: Die Einsatzplanung sieht vor, daß im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« ggf. deutsche Tornadoflugzeuge mit (amerikanischen, britischen oder französischen) Atomwaffen beladen und von deutschen Piloten und Besatzungen zu Einsatzorten geflogen werden.

Damit stellt sich nicht nur die Frage, wie eine solche Einsatzplanung mit dem völkerrechtlich wirksamen Verzicht Deutschlands17 auf jede unmittelbare oder mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen vereinbar sein kann,18 der sich aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag) und dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag ergibt. Nach der IGH-Entscheidung vom 8. Juli d.J. ist darüber hinaus zu fragen, wie eine solche »nukleare Teilhabe« und darauf gerichtete Planungen und Übungen weiter aufrechterhalten werden können, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen – wie nun festgestellt – generell völkerrechtswidrig ist.

  • Des weiteren stellt sich die Frage, ob die Entscheidung des IGH nicht auch Konsequenzen für die Stationierung und Lagerung von Atomwaffen haben muß. Nach der Greenpeace-Studie »The 520 Forgotten Bombs«19 sind in Europa nach wie vor mehrere Hundert atomare Sprengköpfe gelagert, davon ein Großteil in Deutschland an den Standorten Büchel, Spangdahlem, Ramstein, Memmingen und Brüggen. Wenn nach der IGH-Entscheidung die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell völkerrechtswidrig sind, dürfen dann weiterhin Atomwaffen an den Stationierungsorten für einen Einsatz bereitgehalten werden? Wird dadurch nicht einem Völkerrechtsbruch Vorschub geleistet?
  • Schließlich ist erkennbar, daß die IGH-Entscheidung vom 8. Juli d.J. auch unmittelbare Auswirkungen für die in Genf laufenden Verhandlungen über ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen hat. Der Abschluß dieser Verhandlungen scheiterte bislang daran, daß sich namentlich Indien geweigert hat, einem solchen Abkommen zuzustimmen, solange die Atomwaffenstaaten nicht verbindlich zusagen20, daß sie binnen eines festen Zeitplanes gemäß Art. VI des NN-Vertrages zu Verhandlungen über eine vollständige nukleare Abrüstung (mit dem Ziel »Null«) unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle bereit sind.

Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Richterspruch deutlich gemacht, daß sich eine solche Pflicht der Atomwaffenstaaten bereits aus dem geltenden Völkerrecht ergibt. Mit anderen Worten: Alle Staaten, die – wie Indien – nach der bereits erreichten völkerrechtlichen Ächtung der biologischen21 und chemischen22 Massenvernichtungswaffen – auch ein ausdrückliches vertragliches Verbot aller Nuklearwaffen durch eine »A-Waffen-Konvention«23 verlangen, können sich auf geltendes Völkerrecht berufen.

Völkerrechtlich hat das »nach-nukleare Zeitalter« spätestens am 8. Juli 1996 begonnen.

Der Tenor des Richterspruchs des Internationalen Gerichtshofs (in deutscher Übersetzung):

  • A. Es gibt weder im Völkergewohnheitsrecht noch im
    Völkervertragsrecht eine spezifische Ermächtigung zur Androhung oder zum Einsatz von
    Atomwaffen. (einstimmig)
  • B. Weder im Völkergewohnheitsrecht noch im
    Völkervertragsrecht gibt es eine umfassende und weltweit geltende Rechtsnorm, die
    ausdrücklich die Androhung oder den Einsatz von Atomwaffen als solche verbietet.
    (Abstimmungsergebnis: 11 zu 3 Richterstimmen)
  • C. Ein Androhen oder ein Einsetzen von Atomwaffen, das gegen
    das Gewaltanwendungsverbot des Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta oder gegen die sich aus Art.
    51 der UN-Charta ergebenden Anforderungen verstoßen würde, wäre völkerrechtswidrig.
    (einstimmig)
  • D. Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von
    Atomwaffen müßte mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete
    Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog.
    humanitären (Kriegs-)Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen
    völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell
    Atomwaffen betreffen. (einstimmig)
  • E.(1) Aus den oben (unter A. bis D.) erwähnten Anforderungen
    ergibt sich, daß die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen
    Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten,
    insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts.
  • E.(2) Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der
    gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden
    Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz
    von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines
    Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.
    (Abstimmungsergebnis: 7 zu 7, wobei die Stimme des Präsidenten den Ausschlag gab).
  • F. Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in
    redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluß zu bringen, die zu nuklearer
    Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer
    internationaler Kontrolle führen.(einstimmig)

Anmerkungen

1) Der Internationale Gerichtshof („International Court of Justice“ ist – neben dem UN-Sicherheitsrat, der UN-Generalversammlung und dem UN-Wirtschafts- und Sozialrat – ein Hauptorgan der Vereinten Nationen.Er hat seinen Sitz im sog. Friedenspalast in Den Haag (Niederlande). Ihm gehören 15 Richter an, die in getrennten Wahlgängen vom UN-Sicherheitsrat und der UN-Generalversammlung auf neun Jahre gewählt werden, wobei alle drei Jahre jeweils ein Drittel neu- oder wiedergewählt wird. Vor dem Internationalen Gerichtshof gibt es im wesentlichen zwei Verfahrensarten: das Klageverfahren nach Art. 40 des IGH-Statuts und das Gutachtenverfahren nach Art. 96 UN-Charta. Zurück

2) Art. 96 der UN-Charta lautet: (1) Die Generalversammlung oder der Sicherheitsrat kann über jede Rechtsfrage ein Gutachten des Internationalen Gerichshofs anfordern. (2) Andere Organe der Vereinten Nationen und Sonderorganisationen können mit jeweiliger Ermächtigung durch die Generalversammlung ebenfalls Gutachten des Gerichtshofs über Rechtsfragen anfordern, die sich in ihrem Tätigkeitsbereich stellen. Zurück

3) Aktenzeichen: General List No. 95. Zurück

4) Im wesentlichen (Ausnahme: Kieler Nachrichten vom 9.7.1996) beschränkte sich die Berichterstattung auf „Einspalter“, vgl. u.a. Südd.Zeitung vom 9.7.1996, S. 2; FAZ vom 9.7.1996, S. 1 und 2; FR vom 9.7.1996, S. 1; Die Welt vom 9.7.1996, S. 1; TAZ vom 9.7.1996, S. 2; vgl. demgegenüber die relativ breite Berichterstattung in den britischen Zeitungen, u.a. Financial Times, Daily Telegraph, The Independent, Morning Star, jeweils vom 9.7.1996. Zurück

5) Vgl. dazu u.a. Manfred Mohr, Das „World Court Project“ – vom Erfolg einer NGO-Kampagne, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften (Hrsg. vom Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes, Heft 3/1995, S. 146 ff; Dieter Deiseroth, Chronologie einer erfolgreichen NRO-Aktion, in: Jahrbuch Frieden 1997 (i.E.), Hrsg.von Hanne-Margret Birckenbach/Uli Jäger/Christian Wellmann, München 1996; Vorabdruck in: Frankf.Rundschau vom 16.8.1996. Zurück

6) Vgl. dazu u.a. die Eröffnungsrede des Außenministers von Zimbabwe, Nathan Shamyurira, sowie die Beiträge des ehemaligen Präsidenten des Supreme Court von Indien, P.N. Bhagwati, und der Völkerrechtler Prof. Richard Falk (Princeton University, USA) und Prof. P.J.I.M. de Waart (Freie Universität Amsterdam), in: World Court Project. International Launch. Geneva, 14-15 May 1992. Hrsg. vom International Peace Bureau, Geneva, November 1992. Zurück

7) Vgl. u.a. The World Court Project On Nuclear Weapons And International Law. Legal Memorandum by Nicholas Grief. Northampton 1992 (in dt. Übers. unter dem Titel „Völkerrecht gegen Kernwaffen“, Marburg 1993); William Epstein/Allyn Ware/Peter Weiss, World Court Project – How might the Court rule? What effect will that have? New York 1993. Zurück

8) Michael Bothe, Nuclear Weapons and the International Court of Justice (engl. und dt.), Marburg 1994; Peter Weiss/Burns Weston/Richard Falk/Saul Mendlowitz, in: Transnational Law and Contemporary Problems, 1994, pp. 721 – 823; P. Weiss/M. Duncan, Model Response, Sept. 1995; The Japan Center of World Court Project (Ed.), Non-Gonvernmental Statement To Be Submitted To The International Court of Justice, 2nd Edition, May 1995. Zurück

9) Vgl. dazu u.a. IALANA-Newsletter No. 7, 1994, p. 1; Mohr, aaO, S. 149; vgl. zur neuen Rolle der NROs u.a. UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali, in: Der Spiegel Nr. 31/1996, S. 116 ff, 118: „Ich möchte versuchen, die Unterstützung neuer Mitspieler zu gewinnen, Zustimmung von unten zu bekommen, von den Graswurzelorganisationen, die mit ihrem Einsatz und ihrer Begeisterung die Widerstände der Regierungen überwinden können…“. Zurück

10) In einer Mehrheitsentscheidung von 11 zu 3 Richterstimmen. Zurück

11) Der deutsche Richter Fleischhauer, der russische Richter Vereshchetin und Richter Shi aus China stimmten mit der Präsidentenmehrheit. Zurück

12) Vgl. dazu u.a. Mosler, in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, 1991, Art. 96 Rdnr. 31. Zurück

13) Vgl. u.a. die für die völkerrechtliche Entwicklung bedeutsamen IGH-Gutachten zu den Vorbehalten zu der Konvention über den Völkermord (ICJ Reports 1951, p. 15), zum Ersatz der Kosten von UN-Einsätzen (ICJ Reports 1962, p. 151) und zur Namibia-Frage (ICJ Reports 1971, p. 27). Zurück

14) Vgl. dazu u.a. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. 1994, S. 163; Knut Ipsen/Horst Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 74 Rdnr. 15 m.w.N. Zurück

15) Vgl. Bundestags-Drucksache 12/4766, S. 3. Zurück

16) Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994, S. 7f. Zurück

17) Vgl. dazu u.a. Knut Ipsen, Europaarchiv (EA) 1972, S. 589ff. Deiseroth, Atomwaffenverzicht der Bundesrepublik – Reichweite und Grenzen der Kontrollsysteme, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 1990, S. 113ff. Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, 1992, S. 243ff. Zurück

18) Vgl. dazu u.a. Dieter Mahnke, Nukleare Mitwirkung, 1972, S. 239ff. Deiseroth, Nukleare Teilhabe Deutschlands? auszugsweise in: Frankf. Rundschau vom 29.1.1996, S. 1. Zurück

19) Vgl. Greenpeace, The 520 Forgotten Bombs. 18. April 1995, S. 5. Zurück

20) Vgl. u.a. International Herald Tribune vom 30.Juli 1996, S. 8; FAZ vom 2.8.1996, S. 2. Zurück

21) Vgl. Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über ihre Vernichtung vom 10.4.1972, BGBl. 1983 II S. 132. Zurück

22) Übereinkommen vom 13.1.1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen; wegen Fehlens der erforderlichen Mindestzahl von Ratifikationen bisher noch nicht in Kraft. Zurück

23) Vgl. dazu den Vorschlag des „International Network of Engineers And Scientists Against Proliferation (INESAP), Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon Free World, Darmstadt 1995, (vgl. auch die dt.Übers. „Über den Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen hinaus: Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt“, IALANA-Verlag, Marburg, 1995). Zurück

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter und einer der stellvertr. Vorsitzenden der IALANA

Subkritische unterirdische Tests

Subkritische unterirdische Tests

Eine neue Untergrabung des Umfassenden Teststoppvertrages?

von Martin B. Kalinowski

Das U.S. Department of Energy plant, in den Jahren 1996 und 1997 sechs subkritische Tests durchzuführen. Diese Explosionen werden in zwei Serien mit den Namen »REBOUND« (Rückprall, Rückschlag) und »HOLOG« in dem 300 Meter tief gelegenen Low Yield Nuclear Experiment Research (LYNER) Tunnel auf dem Testgelände in Nevada gezündet, der ursprünglich für hydronukleare Explosionen gebaut wurde. Der erste subkritische Test ist für den 18. Juni 1996 angekündigt, der zweite wird für den 12. September erwartet und weitere vier Tests sollen 1997 folgen. Die Daten können sich noch ändern. Weiterhin gab das U.S. DOE bekannt, daß mit der Firma Bechtel Nevada Corporation ein Vertrag mit fünfjähriger Laufzeit über 1,5 Milliarden US<0> <>$ abgeschlossen worden ist, nach dem diese Firma das Management und den Betrieb des Testgeländes in Nevada übernimmt.

Was sind subkritische Tests?

Trotz einiger Unklarheiten in der Terminologie kann man sagen, daß i.d.R. unter subkritischen Tests keine hydronuklearen Tests zu verstehen sind. Dennoch kann eine fast komplette Kernwaffe oder ähnliche Anordnung als subkritischer Test gezündet werden, indem dafür gesorgt wird, daß keine Kritikalität entsteht, beispielsweise indem das spaltbare Material weitgehend durch abgereichertes oder Natururan ersetzt ist.

Im Fall der geplanten Experimente in den USA werden zwei auf einander gegenüberliegenden Stahlplatten montierte Plutoniumteile mit diesen Platten aufeinandergeschossen. Sie haben keine Ähnlichkeit mit Kernwaffengeometrien. Das Energieministerium hat jedoch deutlich gemacht, daß es sich vorbehält, irgendwann doch Kernwaffenkonfigurationen in subkritischen Experimenten zu testen.

Bei subkritischen Tests wird darauf geachtet, daß das spaltbare Material bei der Kompression durch den chemischen Sprengstoff nicht kritisch wird und keine sich selbst erhaltende Kettenreaktion entsteht. Es kommt aber zu einer erhöhten Neutronenmultiplikation, weil die Spaltungsrate über die Spontanspaltrate ansteigt und damit wird auch eine, wenn auch im Vergleich zum chemischen Sprengstoff nur geringe, nukleare Energie freigesetzt. Das Ziel der Experimente besteht darin, bestimmte physikalische Parameter von gealtertem Plutonium unter Kompression zu studieren. Die so gewonnen Daten werden für eine verbesserte Computersimulation von Kernwaffen benötigt, insbesondere um Alterungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Funktion der Kernwaffen zu studieren. Die Begründung bezieht sich also auf das Stockpile Stewartship and Management Programm der USA und dient nicht der Neuentwicklung von Kernwaffen.

Warum unterirdisch?

Nach meiner Meinung ist das Hauptproblem dieser Tests, daß sie unterirdisch durchgeführt werden und daß sie als Begründung für sowie als Demonstration des Erhalts des Tetsgeländes und der Bereitschaft dienen, das unterirdische Testen mit voller Sprengkraft jederzeit wieder aufzunehmen. Frankreich hingegen hat versprochen, das Testgelände in Polynesien zu schließen.

Durch die fortgesetzte Durchführung subkritischer unterirdischer Tests wird die Verifizierung des Teststoppabkommens und die Transparenz am Testgelände verkompliziert. Der LYNER Tunnel kann von Inspektoren betreten werden. Es ist also denkbar, daß Maßnahmen ergriffen werden können, mit denen transparent gemacht werden kann, was für Experimente durchgeführt werden, ohne geheime Informationen über Kernwaffentechnologie preis zu geben.

Subkritische Tests verbreiten toxische und radioaktive Materialien, inklusive der relativ geringen Mengen an Spaltprodukten, die erzeugt werden. Daher ist es von Vorteil, die Tests unterirdisch bei traditionellen Testgeländen durchzuführen, um die Freisetzungen minimal zu halten. Es gibt allerdings auch eine Alternative. Das Los Alamos National Laboratory hat Stahlcontainer angeschafft, in denen Explosionen von bis zu 10 kg TNT eingeschlossen werden können. Die bei der Explosion gebildeten Gase bleiben im Behälter und werden nach der Analyse über einen Filter abgelassen. Offensichtlich wäre es langwierig und wenig erfolgversprechend, für die Durchführung von subkritischen Tests in einem solchen Container eine Lizenz zu erhalten.

Proliferationsgefahren

Eine gefährliche Tür für Kernwaffenproliferation würde sich öffnen, wenn sich die Amerikaner durchsetzen sollten und subkritische Test nicht durch den Umfassenden Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty – CTBT) ausgeschlossen würden. Dann wären sie nämlich auch für alle anderen Länder legitimiert. Für Nichtkernwaffenstaaten, die den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) unterschrieben haben, sind derartige Experimente nach gängiger Auslegung dieses Vertrages zwar verboten. Aber ein CTBT, der diese Experimente zuließe, könnte die internationale Anerkennung dieser Auslegung schwächen, da sie nicht vertraglich geregelt ist.

Einfluß auf die Teststoppverhandlungen

Nach dem Stand der Verhandlungen bei der Abrüstungskonferenz in Genf sollen ohnehin nur unterirdische Tests durch den Umfassenden Teststoppvertrag verboten werden, allerdings offenbar nicht alle. Zwar ist die Diskussion um eine Schwelle, unterhalb derer das Testen nicht verboten werden soll, vom Tisch, nachdem Frankreich und England der von den USA vorgeschlagenen »zero yield«-Grenze zugestimmt haben. Das war ein entscheidender Durchbruch im vergangenen Herbst.

Allerdings sollen diese subkritischen Tests mit sehr geringer nuklearer Energiefreisetzung nach den Vorstellungen der USA erlaubt bleiben. Das »true zero« ist also ein »fast null«. Die Grenze dessen, was erlaubt bleiben soll, scheint nun unterhalb der Kritikalität zu liegen.

Man fragt sich, ob der Name »REBOUND« darauf hinweisen soll, daß die Waffenlaboratorien durch den Teststoppvertrag einen schweren Rückschlag erleiden, oder ob diese Tests nicht ihrerseits für die Verhandlungen zum Teststoppvertrag einen gravierenden Rückschlag bedeuten. Realistisch muß man wohl zu dem Schluß kommen, daß das Pentagon und die Waffenlaboratorien nicht weiter eingeschränkt werden konnten und die subkritischen Tests das notwendige Opfer sind, das ihnen von Abrüstungswilligen gebracht werden mußte, um zu einem Kompromiß zu gelangen.

Um auch subkritische Tests durch den Teststoppvertrag bannen zu können, schlägt Indien eine Definition vor, wonach jede Explosion mit nuklearer Energiefreisetzung verboten werden soll, bei der spaltbares Material durch chemische Sprengung oder andere Mittel komprimiert wird. Dieses ist allerdings die weitestgehende Forderung, die noch eine – wenn auch nur geringe – Chance hat, eine breite Unterstützung zu finden. Ihr Hauptproblem ist, daß diese Definition eine größere Zahl ziviler Experimente v.a. im Bereich der Trägheitseinschlußfusion einschließen würde, die nicht verboten werden sollen, sofern sie nicht für Kernwaffenforschung verwendet werden.

Die Position von blockfreien Ländern wie Indonesien, die alle Aktivitäten der Kernwaffenforschung sowie Vorbereitungsaktivitäten für unterirdische Tests verbieten wollen, bleibt chancenlos. Letztere wären aber erforderlich, um Vorbereitungen für zugelassene subkritische Tests von solchen für Volltests unterscheiden zu können.

An dieser Frage entzündet sich ein Streit, der den erfolgreichen Abschluß des CTBT in diesem Jahr in Gefahr bringen könnte. Dahinter verbirgt sich aber ein anderes Problem.

Schlußfolgerungen

Das Hauptproblem, das an diesem Beispiel deutlich wird, ist nämlich, daß die Kernwaffenstaaten ihre Kernwaffenforschung fortsetzen wollen. Obwohl sie argumentieren, diese Forschung sei notwendig, um das Vertrauen in ihre alternden Arsenale zu erhalten, ist es offensichtlich, daß die Gesamtheit der neu geplanten Technologien für oberirdische Kernwaffenexperimente und für Computersimulation von nuklearen Explosionen dazu geeignet ist, die Forschung und Entwicklung von neuen Kernwaffen zu ermöglichen.

Mit dem Partial Test Ban Treaty wurden die Tests unter die Erde verbannt. Mit dem CTBT droht nun die Verschiebung der Kernwaffenforschung ins Labor. Sie wird aber nur den technologisch und ökonomisch stärksten Ländern vorbehalten bleiben.

Es ist zu befürchten, daß bei subkritischen Tests, Laborexperimenten und Computersimulationen die fortgesetzte Kernwaffenentwicklung unter der Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung bleibt und nicht zu Protesten ähnlich derer gegen die französische Testserie führen, die sich ja nicht nur gegen die sozialen und ökologischen Folgen sondern auch gegen den Fortbestand der Bedrohung durch Kernwaffen richtete.

Danksagung:

Für Hinweise und oben verwendete Informationen danke ich J. R. Russell, der als Rüstungskontrollexperte für den Nevada Test Site arbeitet, Annette Schaper von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt and Peter Zimmerman von der Arms Control and Disarmament Agency in Washington. Ein paar weitere Information habe ich von Personen erhalten, die nicht namentlich genannt werden wollen, bzw. habe sie einem Artikel von Tom Zamora Collina entnommen, der in der January/February Ausgabe von The Bulletin of The Atomic Scientist erschienen ist.

Literaturhinweise:

Kalinowski, M.: Wie umfassend wird der Umfassende Teststoppvertrag? Wissenschaft und Frieden 13 (1995) Nr. 4, Seite 53.

Kalinowski, M.B.: Bombengeschäft. Atomtests im Rechner: Ausweg oder Gefahr? c't 1996, Heft 2, Seiten 70-73.

Martin B. Kalinowski, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Wissenschaft für eine atomwaffenfreie Welt

Wissenschaft für eine atomwaffenfreie Welt

Friedensnobelpreis für Pugwash und Joseph Rotblat

von Martin Kalinowski, Wolfgang Liebert, Jürgen Scheffran

Nachdem im Jahr 1985 mit dem Friedensnobelpreis an die IPPNW der Einsatz von ÄrztInnen für die Verhütung eines Atomkriegs geehrt wurde, erscheint es passend, daß im Jahr 1995 die internationalen Aktivitäten von WissenschaftlerInnen für die atomare Abrüstung eine entsprechende Anerkennung erfahren. Zu den vielen mit Atomwaffen verbundenen Ereignissen dieses Jahres gehören die Erinnerung an die Entwicklung der ersten Atombombe und die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki vor 50 Jahren ebenso wie die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und der Widerstand gegen die Fortsetzung der nuklearen Testreihen durch Frankreich und China. 1995 wurde auch der 40. Jahrestag des Russell-Einstein-Manifestes gefeiert, das als Gründungsdokument der internationalen Pugwash-Bewegung anzusehen ist. In diesem Zusammenhang hat die Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an die »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« und ihren Präsidenten Joseph Rotblat eine besondere, auch politische Bedeutung.

Die Lebensgeschichte von Joseph Rotblat, mit 87 Jahren heute der letzte noch lebende Unterzeichner des Russell-Einstein-Manifestes, ist untrennbar mit der Geschichte des Nuklearzeitalters verbunden. Am 4. November 1908 in Warschau als Sohn jüdischer Eltern geboren, studierte und promovierte Rotblat dort in Kernphysik. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen im Jahre 1939 nahm er ein Angebot von James Chadwick an, für Forschungen am Zyklotron nach Liverpool zu gehen. Unabhängig von anderen Wissenschaftlern erkannte er, daß unter bestimmten Bedingungen eine Uranbombe mit gewaltiger Sprengkraft gebaut werden könnte. Es stellte sich für ihn nun die Frage, ob es vertretbar sei, derartige Forschungsarbeiten durchzuführen. Er war überzeugt, daß die Wissenschaft nur im Dienste der Menschheit genutzt werden sollte und nicht, um zerstörerische Waffen zu entwickeln.

Als im September 1939 deutsche Truppen sein Heimatland überfielen, überwand er jedoch seine moralischen Bedenken und regte ein Forschungsprojekt an, das klären sollte, ob die Bombe tatsächlich möglich sei. Wäre dies der Fall, so überlegte er sich, würde Hitler sie bauen und auch einsetzen. Er hoffte, die Deutschen vom Einsatz der Bombe abschrecken zu können, wenn die Alliierten sie ebenfalls besitzen würden. Für einige Jahre arbeitete er mit am Atomwaffenprogramm, zunächst in Liverpool, ab 1943 auch in Los Alamos, was für ihn nach eigenen Aussagen ein traumatisches Erlebnis war. In Los Alamos schockte ihn im März 1944 die Aussage des Leiters des Manhattan-Projekts, General Leslie Groves, der wahre Zweck der Bombe sei, die Sowjets in Schach zu halten. Als dann Ende 1944 auch noch durchsickerte, die Deutschen hätten ihr Atombombenprojekt quasi einschlafen lassen, und deutlicher wurde, daß der alliierte Sieg über Nazi-Deutschland vor der Fertigstellung der eigenen Bombe zu erwarten war, entfiel für Rotblat die Rechtfertigung, am Manhattan-Projekt weiterzuarbeiten. Als einziger der daran beteiligten Wissenschaftler beendete er seine Mitarbeit vorzeitig.

Der für ihn persönlich riskante Schritt, das hoch geheime Rüstungsprogramm zu verlassen, veränderte sein Leben ebenso wie der Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, der ihn zutiefst erschütterte. Es war offenbar geworden, welche Gefahren aus dem unverantwortlichen Gebrauch der Forschung entstehen können. Daraus erwuchs für Rotblat die Notwendigkeit, über die Grenzen der eigenen Wissenschaftsdisziplin hinaus zu blicken, um die Folgen für die Gesellschaft zu erkennen und Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen. Er revidierte seine Annahme, durch Abschreckung würde der Einsatz von Kernwaffen verhindert. Ende der vierziger Jahre organisierte er den »Atom Train«, eine Ausstellung, die über friedliche und militärische Anwendungen der Kernenergie informierte und durch Großbritannien, Europa und den Nahen Osten reiste. Rotblats Wunsch, sein Wissen gezielt für die Bedürfnisse der Menschheit einzusetzen, veranlaßte ihn 1950 zu seinem zweiten Ausstieg: er verließ die traditionelle Kernphysik, wurde Professor für Physik an der Londoner Universität und widmete sich am St. Bartholomew`s Hospital Medical College bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1976 biophysikalischen Forschungen und der Strahlenmedizin. Zwölf Jahre ist er Herausgeber von »Physics in Medicine and Biology« gewesen. Zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gehört ebenso eine Fülle von Publikationen zum Themenkreis der Rüstungskontrolle und Verantwortung der Wissenschaft.

Die Pugwash-Bewegung

Sein politisches Hauptbetätigungsfeld fand er in der Pugwash-Bewegung. Die Bedrohung der ganzen Menschheit durch die Nuklearwaffen veranlaßte Bertrand Russell, Albert Einstein und neun andere namhafte Wissenschaftler am 9. Juli 1955 zur Veröffentlichung eines Manifests, in welchem sie eindringlich vor den Gefahren der atomaren Bewaffnung warnten und die Regierungen der Welt drängten, ihre Streitigkeiten mit ausschließlich friedlichen Mittel auszutragen. In dramatischer Weise wird die Frage formuliert: „Sollen wir der menschlichen Rasse ein Ende bereiten oder soll die Menschheit auf Krieg verzichten?“

Die Unterzeichner des Russell-Einstein-Manifestes wollten, daß sich Wissenschaftler zu einer internationalen Konferenz über die Blockgrenzen hinweg zusammenfinden, um die Gefahren der Massenvernichtungswaffen zu diskutieren und dann öffentlich Stellung zu nehmen. Möglich wurde die erste Konferez, als im Jahr 1957 der amerikanische Großindustrielle Cyrus Eaton 22 Wissenschaftler in seine Sommerresidenz im kanadischen Fischerdorf Pugwash einlud. Rotblat nahm an dieser und den folgenden Konferenzen teil und übernahm von 1957 bis 1973 die Aufgabe des Generalsekretärs der Pugwash-Konferenzen. 1988 wurde er im Alter von 80 Jahren ihr Präsident: als Nachfolger der kürzlich verstorbenen Nobelpreisträger Dorothy Hodgkin und Hannes Alfvén.

In den fast vierzig Jahren, seitdem solche Tagungen über Wissenschaft und Weltprobleme abgehalten werden, haben rund 3000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus insgesamt mehr als 75 Ländern zusammen mit einflußreichen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär auf besondere Einladung hin an 45 Konferenzen und knapp 170 weiteren thematischen Workshops teilgenommen. Wer einmal zu einer solchen Tagung eingeladen war, darf sich »Pugwashite« nennen und sich so heute am Nobelpreis miterfreuen.

Seit den fünfziger Jahren gründeten sich vielerorts Vereinigungen von WissenschaftlerInnen, die sich aufgerufen fühlten, die Folgen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit mitzubedenken, um dann auch verantwortlich in die Politik hineinzuwirken. In Deutschland wurde aus dem Engagement der 18 Göttinger Atomwissenschaftler, die sich 1957 mit einer öffentlichen Erklärung gegen die Pläne für eine deutsche Atombewaffnung aussprachen, die noch heute aktive Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) gegründet.1 Die VDW ist so etwas wie die deutsche Sektion von Pugwash, wenn auch Pugwash eigentlich keine solchen eindeutigen Strukturen und Mitgliedschaften kennt. Ein Präsident, ein Generalsekretär, ein international zusammengesetztes 22köpfiges Leitungsgremium, der Council, und zwei Büros, eins in London und eins in Rom (gesponsert vom italienischen Staat) müssen reichen. Seit 1978 haben sich ausgehend von den USA, Kanada und Bulgarien in zahlreichen Ländern Junioren-Pugwash Gruppen gebildet. 1984 wurde der Bundesdeutsche Studierenden Pugwash (BdSP) e.V. ins Leben gerufen.2

Pugwash ist in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt geworden, weil es sich darauf konzentrierte, hinter den Kulissen zu agieren. Dabei stützte sich der Erfolg auf persönliche Kontakte sowie den Einfluß, den Nobelpreisträger und angesehene Persönlichkeiten bei ihren eigenen Regierungen geltend machen können. Dies war besonders wichtig in den eisigsten Zeiten des Kalten Krieges, als häufig nur solche stillen Aktivitäten den Dialog zwischen den verfeindeten Blöcken aufrecht erhalten konnten.

Pugwash hält sich zugute, einen zwar indirekten, aber doch spürbaren positiven Einfluß auf eine Reihe wesentlicher Abrüstungsvereinbarungen gehabt zu haben. Dazu zählt der 1963 abgeschlossene begrenzte Teststoppvertrag, der 1970 in Kraft getretene nukleare Nichtverbreitungsvertrag, die amerikanisch-sowjetischen Abkommen über die strategische Rüstungskontrolle (SALT, START) inklusive der Begrenzung der antiballistischen Raketen (ABM-Vertrag), die Biologie- und Chemiewaffen-Konvention und einige weitere Vertragswerke.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges stehen bei Pugwash Abrüstung und internationale Sicherheit im Mittelpunkt. Nicht nur die Abrüstung und die Eindämmung der Verbreitung und Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen stehen auf den Tagesordnungen der Treffen, auch die Gefahren der hochtechnisierten konventionellen Bewaffnung, ihres weltweiten Exports sowie Fragen regionaler Sicherheit werden intensiv behandelt. Zunehmend stellt sich Pugwash auch anderen Themenbereichen, in denen sich Gefahren für die Weltsicherheit, das Überleben der Menschheit und einen dauerhaften Frieden ergeben. So befaßt sich Pugwash heute mit der Zerstörung der Umwelt und damit verbundenen Konflikten, der Energie- und Ressourcenproblematik, dem wachsenden ökonomischen und technologischen Gefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, dem Wachstum der Weltbevölkerung, den Risiken von neuen Technologien sowie mit Konzepten von Nachhaltigkeit und globalem Ausgleich.

Nach der Überzeugung der Pugwash-Bewegung müssen zur Lösung der auf vielfältige Weise miteinander verflochtenen globalen Problemkomplexe Grenzen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen ebenso überwunden werden wie Grenzen zwischen den Nationen und Völkern. Die Pugwash-Aktivitäten sind von dem Grundgedanken getragen, daß Wissenschaftler nicht nur Verantwortung für die Exaktheit ihrer Forschungsergebnisse, sondern auch für das Weltganze übernehmen müßten. In den Worten Joseph Rotblats: „Der Elfenbeinturm, in dem Wissenschaftler früher gelebt haben wollen, war schon seit vielen Jahren im Verfall begriffen, und schließlich wurde er durch die Druckwelle der Hiroshimabombe zerstört. In diesem nuklearen Zeitalter (…) können Wissenschaftler sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht mehr entziehen und sich hinter Maximen verstecken wie: ,Wissenschaft sollte um ihrer selbst willen stattfinden`, ,Wissenschaft ist wertfrei`, ,Wissenschaft hat nichts mit Politik zu tun`, ,Die Wissenschaft trägt am Mißbrauch der gewonnenen Erkenntnis keine Schuld` und ,Wissenschaftler sind nur Techniker`. (…) Die Pugwash-Bewegung ist eine deutliche Antwort auf diese Herausforderung.“ 3

Das Ziel einer kernwaffenfreien Welt

Die Bedrohung der Welt durch Atomwaffen in kriegerischen Auseinandersetzungen ist mit Ende des Kalten Krieges keineswegs gebannt. Immer noch sind weltweit mehr als 40.000 intakte Sprengköpfe gelagert, deren Sprengkraft mehr als einer Million Hiroshimabomben entspricht. Das technologische Erbe des Kalten Krieges ist schwerer wieder aus der Welt zu schaffen als die ideologischen Blockaden. Eine Reihe von Staaten arbeitet daran, Kernwaffen zu erwerben bzw. weiterzuentwickeln.

Joseph Rotblat fragt: „Wenn einige Staaten glauben, sie benötigen Atomwaffen zu ihrer Sicherheit – wie können sie die gleiche Sicherheit anderen Staaten verweigern? Auf lange Sicht kann es nur zwei Lösungen geben. Entweder wird der Besitz von Kernwaffen jedem Staat, der danach verlangt, erlaubt, oder das Verbot hat für alle Staaten Gültigkeit.“ Natürlich ist die zweite Lösung vorzuziehen.

Innerhalb und außerhalb von Pugwash hat Rotblat viel getan, um die wissenschaftliche Gemeinschaft davon zu überzeugen, daß eine kernwaffenfreie Welt auf der politischen Agenda stehen sollte. Anfang der neunziger Jahre leitete er eine Studiengruppe bei Pugwash, die sich mit der Frage befaßte, ob die Abschaffung der Kernwaffen wünschenswert und machbar sei. Ein von ihm stark geprägtes und mit herausgegebenes Buch ist eine wichtige Grundlage für weitere Untersuchungen.4 Auf der diesjährigen Konferenz in Hiroshima hat Pugwash als ganzes das Ziel einer kernwaffenfreien Welt endlich explizit übernommen. In der Hiroshima-Erklärung von 23. Juli 1995 heißt es, der mögliche Einsatz von Kernwaffen könne nur verhindert werden, „wenn Kernwaffen – und letztlich Kriege überhaupt – von diesem Planeten verbannt werden.“

In den fast vier Jahrzehnten seit der Gründung von Pugwash hat sich die Welt drastisch geändert, und Pugwash versucht langsam, sich an diese Änderungen anzupassen. Doch immer noch ist Pugwash geprägt von der Erfahrung des Kalten Krieges. Hier entstand die Gewohnheit, wenn eben möglich, nichtöffentlich, hinter verschlossenen Türen zu tagen. Das diplomatische Kalkül und das Agieren hinter den Kulissen hat Vorrang bekommen und prägt den Stil von Stellungnahmen nach außen (was wie im Nahen Osten partiell auch weiterhin sinnvoll sein kann). Es ist nur durch persönliche Einladungen möglich, in dem »exklusiven Kreis« mitzuarbeiten. Pugwash tut sich auch schwer, mit anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu kooperieren, was zur Vervielfachung der Kräfte geboten erschiene. Um breitere Kreise in den Diskurs einzubeziehen, wäre eine weitere Öffnung von Pugwash angebracht. Mit dem Nobelpreis und dem dadurch gewachsenen öffentlichen Ansehen mögen sich einige der Traditionen ändern.

Rotblat hat sich nicht gescheut, über die Grenzen seiner Organisation hinweg mit Personen oder Gruppen zusammenzuarbeiten, die seine Grundüberzeugungen teilen. So hat er in einer Studiengruppe des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) zur nuklearwaffenfreien Welt mitgearbeitet, in der die Gründe für die weltweite Denuklearisierung und konkrete Schritte zur weltweiten Abrüstung von Kernwaffen herausgearbeitet wurden.5 Bei der Präsentation der Studie während der New Yorker Verlängerungskonferenz für den NVV im April 1995 sprach er sich, zusammen mit über hundert NGOs, gegen die unbegrenzte Verlängerung des NVV aus. Die Interimslösung des NVV, der fünf Atommächte privilegiert, sollte durch eine Nuklearwaffenkonvention ersetzt werden, die den Verzicht auf Atomwaffen für alle Staaten gleichermaßen verbindlich festschreiben würde. Daß er in die Ende November 1995 von der australischen Regierung gegründete internationale Kommission für die Abschaffung der Atomwaffen einberufen wurde, zeigt, daß seine Ansichten auch bei Regierungen Anerkennung finden.

Heute verkörpert Rotblat den Übergang zu einer neuen Generation von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen, die sich international vernetzen und aktiv beteiligen an der Diskussion um die Verantwortung für die gesellschaftlichen und ökologischen Folgen der eigenen Forschungserkenntnisse. Auch im hohen Alter demonstriert Rotblat einen bewundernswertes Maß an Aktivität. Sein Beispiel war und ist inspirierend, gerade auch für junge Leute. Auf die Frage, wie er seinen fast jugendlich anmutenden Elan behält, antwortet Joseph Rotblat gern: „Du mußt ein Ziel haben und es beharrlich verfolgen“ und „keep on going“. Das große Ziel, die atomwaffenfreie Welt, haben Rotblat und Pugwash vorgegeben. Den Gedanken, daß nunmehr eine historische Chance besteht, dieses Ziel auch zu erreichen, will das norwegische Nobelkomitee verbreitet wissen: „Es ist die Hoffnung des Komitees, daß der Friedensnobelpreis 1995 an Rotblat und Pugwash die führenden Persönlichkeiten der Welt ermutigt, ihre Anstrengungen zu intensivieren, die Welt von Atomwaffen zu befreien.“ Daß dieses Ziel nicht in ferner Zukunft, sondern schon in zehn Jahren zu erreichen sei, machte Rotblat in seiner Nobelpreisrede vom 10. Dezember 1995 deutlich. Der Nobelpreis für Pugwash ist ein Signal, dem Vorbild des Präsidenten mutig nachzufolgen.

Jürgen Scheffran: Unmenschliche Hitze

Eine Erinnerung an Hiroshima

Hiroshima, 6. August 1995, 8 Uhr morgens.
Zehntausende haben sich im Friedenspark von Hiroshima versammelt, um des Atombombenabwurfs
vor 50 Jahren zu gedenken. Die Stimmung ist bedrückend, fast gespenstisch. Eine schier
unerträgliche Hitze lastet schon am frühen Morgen über der Stadt, sie raubt den Atem,
lähmt den Verstand, verzerrt die Wahrnehmung bis zur Halluzination. Tausende von Fächern
versuchen vergeblich, Kühlung zu verschaffen. Ähnlich heiß soll es auch damals gewesen
sein.

Ähnlich heiß? Mit Mühe versuche ich mir
vorzustellen, was am gleichen Ort 50 Jahre zuvor geschah. Menschen blickten zum Himmel,
als ein einzelnes amerikanisches Flugzeug die Stadt überflog. Niemand fühlte sich
beunruhigt. Während die Menschen sahen, wie das Flugzeug sich wieder entfernte, war die
Bombe schon unterwegs. Der mit großem Aufwand ausgeklügete Automatismus einer
physikalischen Tötungsmaschine hatte das Regiment übernommen. In den 43 Sekunden freien
Falls war die Entscheidung unwiderruflich, die Folgen aber noch nicht sichtbar. 43
Sekunden, in denen allein die Erdanziehung bestimmte, wie lange eine ganze Stadt noch zu
leben hat.

Dann ging alles ganz schnell. In Bruchteilen
einer Sekunde entfaltete der Atomblitz Energien und Temperaturen, wie sie sonst nur in der
Sonne auftreten. Das Aufgehen einer neuen Sonne, tausendmal heller als die alte, war im
Umkreis von Kilometern für jedes Leben zuviel. Zehntausende Lebewesen gingen in Flammen
auf, verdampften zu Schattenbildern auf Wänden. Wer weit genug entfernt war, um nicht
sofort zu sterben, hatte Verbrennungen der schlimmsten Art, war von radioaktiver Strahlung
durchlöchert. Die atomare Sonne war schnell verschwunden, doch die alte Sonne blieb und
brannte erbarmungslos auf die geschundenen Menschen hernieder. Niemand konnte helfen und
den Durst löschen.

Ähnliche Gedanken mögen viele Menschen im
Friedenspark bewegt haben. In der offiziellen Gedenkfeier kamen die Leiden der Opfer
jedoch konkret nicht vor. Einige Überlebende waren als Zuschauer eingeladen und durften
den Reden hochrangiger Politiker lauschen. Darunter auch ein amerikanischer Diplomat, der
in Vertretung des UNO-Generalsekretärs sprach. Worte des Bedauerns kamen ihm nicht über
die Lippen, stattdessen der Satz „Der Schrecken von Hiroshima hat unsere Welt zu
einem sichereren Ort gemacht“
. Nach der Veranstaltung entschwand er in einer
vollklimatisierten Limousine, in der er vor der wachsenden Hitze des Tages sicher war.

Jürgen Scheffran nahm an der
Pugwash-Konferenz 1995 in Hiroshima teil.

Anmerkungen

1) Kontakt: Annegret Falter, Geschäftsführerin VDW, c/o IZT, Lindenallee 16, 14050 Berlin. Zurück

2) Kontakt: Markus Duscha, Finkenweg 14, 69214 Eppelheim, Tel.: 06221-476718 (tagsüber). Zurück

3) J. Rotblat, Das vielschichtige soziale Gewissen der Wissenschaftler, VDW info, Nr. 3, September 1995, S. 1-6 (Abschlußrede auf der 44. Pugwash-Konferenz auf Kreta 1994). Zurück

4) J. Rotblat, J. Steinberger, B. Udgaonkar und F. Blackaby (Hrsg.), A Nuclear-Weapon-Free World – Desirable? Feasible?, Westview Press, 1993. Zurück

5) Siehe: Beyond the NPT – A Nuclear-Weapon-Free World, Preliminary Findings of the INESAP Study Group, New York / Darmstadt, April 1995. Zurück

Martin Kalinowski, Wolfgang Liebert und Jürgen Scheffran sind Wissenschaftliche Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt und aktiv an der Arbeit und Gestaltung von INESAP beteiligt.