NATO – Abschreckung ohne Atomwaffen?

NATO – Abschreckung ohne Atomwaffen?

von Wilbert van der Zeijden und Susi Snyder

Bei der Diskussion um das neue Strategische Konzept der NATO waren die weitere Stationierung nicht-strategischer (taktischer) Atomwaffen der USA in Europa und die Zukunft der nuklearen Teilhabe besonders strittig. Besonders Deutschland machte sich für einen Abzug der Waffen stark, während Frankreich vehement auf den status quo pochte. Insider bestätigten, dass bei dem Gipfeltreffen in Lissabon im November 2010 buchstäblich bis zur letzten Minute um einen Wortlaut gerungen wurde, dem alle 28 Mitgliedstaaten der NATO zustimmen konnten. Da inhaltlich kein Konsens möglich war, wurde zu einer Notlösung gegriffen: Die taktischen Atomwaffen sollen bei einer umfassenden Überprüfung des gesamten Verteidigungs- und Abrüstungsdispositivs der NATO mit auf den Tisch. Und das Ergebnis, der »Defense and Deterrence Posture Review«, soll beim nächsten NATO-Gipfel im Mai 2012 in Chicago verabschiedet werden.

Im März 2011 stellte die niederländische Organisation IKV Pax Christi ihren Bericht »Withdrawal Issues«1 vor, der darlegt, dass die Mehrheit der NATO-Mitgliedsländer den Vorschlag unterstützen, die letzten taktischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen. Bei den Recherchen für den Bericht besuchten die AutorInnen vor dem Lissabonner Gipfeltreffen jede einzelne NATO-Botschaft in Brüssel, um folgendes herauszufinden:

Wodurch sehen die Länder in den nächsten Jahren ihre Sicherheit am meisten bedroht?

Was sind die wichtigsten Bedrohungen für das Bündnis insgesamt?

Wie passen die taktischen US-Atomwaffen in das Bild, und denken sie, dass diese Waffen in Europa stationiert bleiben sollten?

Der Bericht »Withdrawal Issues« analysiert die Positionen der einzelnen Länder und räumt dabei mit alten Mythen auf. Die AutorInnen zeigen auf, dass 24 der 28 Mitgliedstaaten einen Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa unterstützen oder zumindest nicht kategorisch ablehnen. Nur drei Länder (Frankreich, Ungarn und Litauen) äußerten die Hoffnung, dass die Atomwaffen in Europa verbleiben. Die überwältigende Unterstützung für eine Zukunft ohne US-Atomwaffen in Europa wird allerdings von den Mitgliedsländern an einige Voraussetzungen geknüpft.

Zum einen sollten geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um negative Auswirkungen des Abzugs auf die Solidarität und den Zusammenhalt im Bündnis zu vermeiden. Es sollten neue Formen gefunden werden, die transatlantische Verbindung zu stärken. Und sollte die alte (nukleare) Lastenteilung beendet werden, so sollten neue Formen der Lastenteilung an ihre Stelle treten. Zum anderen befürworten die meisten Länder den Vorschlag, dass vor einer Entscheidung über den Abzug der US-Atomwaffen Russland zusagen soll, ebenfalls taktische Atomwaffen abzurüsten oder hinter den Ural zu verlegen. Schließlich räumen alle Länder ein, dass die französischen Vorbehalten ernst genommen werden müssen, und sei es nur, weil Frankreich andernfalls einen Konsens blockieren könnte.

Fokussierte Debatte, verhärtete Positionen?

Im Großen und Ganzen wurde »Withdrawal Issues« positiv aufgenommen. Sowohl Diplomaten als auch zivilgesellschaftliche Experten sagten häufig, dass der Bericht dabei hilft, die Debatte auf Schlüsselthemen zu fokussieren: Lastenteilung, Zusammenarbeit mit Russland und der Umgang mit dem französischen Widerstand gegen einen Abzug .

Die auffälligste Stelle im Bericht – eine Karte, aus der die unterschiedlichen Positionen der Länder zu dieser Frage ersichtlich werden2 – wurde besonders kontrovers diskutiert. Es werden nur ganz selten Karten veröffentlicht, die die Haltung einzelner NATO-Länder zu bestimmten Themen grafisch aufbereiten. Und nun gar zu einem so strittigen Thema! NATO-Mitarbeiter und –Diplomaten legen großen Wert darauf, dass Meinungsdifferenzen im Bündnis nicht nach außen dringen. Daher kam es manchen sehr ungelegen, dass die offensichtlichen Spannungen nun visualisiert wurden. Häufiger allerdings hörten wir aus der NATO, dass der Bericht die Debatte im Hauptquartier bzw. in den Hauptstädten der NATO angeregt oder überhaupt erst in Gang gebracht hat. Einige Vertreter nationaler Außenministerien berichteten, dass sie den Bericht und diesbezüglich Fragen von Parlamentariern bekamen. Infolge des Berichts wurde der Ruf nach offenen und transparenten nationalen Debatten und nach einer demokratischen Kontrolle des einst hoch geheimen Arrangements lauter.

Ein Blick nach vorn: Zusammenarbeit mit Russland

Die Schwierigkeiten der NATO, sich im Konsens auf eine Nuklearpolitik und das entsprechende Dispositiv zu einigen, spiegelt sich im »Strategischen Konzept« vom November 2010 wider. Wo es um die taktischen Atomwaffen geht, bleibt der Text vage und lagert das Thema aus: auf den Defense and Deterrence Review, der bis zum NATO-Gipfel 2012 abgeschlossen sein soll.

»Withdrawal Issues« soll die Diskussionen über den Review mit Fakten füllen und beeinflussen. Der Bericht bestätigt, dass in Bezug auf Russland »Gegenseitigkeit« das wichtigste Anliegen ist. Und genau da steckt der Prozess momentan in einer Sackgasse. Die NATO sagt, sie zieht die taktischen Atomwaffen nur dann aus Europa in die USA ab, wenn Russland »auch etwas gibt«. Russland sagt, dass es erst dann über seine eigenen taktischen Atomwaffen reden will, wenn die USA ihre Atomwaffen aus Europa abgezogen haben. Die USA sagen im Wesentlichen, dass sie zu einem Abzug bereit sind, aber nur, wenn es darüber in der NATO einen Konsens gibt. Die größte Herausforderung besteht also in den nächsten Monaten darin, die »Gegenseitigkeitsschleife« Russland-NATO-USA aufzubrechen.

Die USA hatten sich im Vorfeld des Lissabonner Gipfeltreffens bei der Diskussion um die taktischen Atomwaffen zurückgehalten. Jetzt wollen sie aber offensichtlich die Führung wieder selbst übernehmen. Anlässlich der Ratifizierung des neuen START-Vertrags schrieb Präsident Obama dem Senat, dass er „nach Konsultationen mit den NATO-Partnern, aber spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen START-Vertrags“ mit Russland Verhandlungen über taktische Atomwaffen aufnehmen will. Die Fristsetzung ist klar: Die europäischen Bündnispartner haben ein Jahr, um ihre internen Differenzen über taktische Atomwaffen zu lösen.

Im April 2011 legten Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Polen gemeinsam ein so genanntes »Non-paper« vor.3 Dieses inoffizielle und von zehn europäischen NATO-Mitgliedern unterzeichnete Arbeitspapier ist ein erster Versuch der Europäer, sich der Herausforderung zu stellen. Das »Non-paper« befasst sich vor allem mit der Frage, wie die NATO mit Russland in einen kooperativen und wechselseitigen Austausch eintreten kann, von gegenseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zu einem Abkommen über die Verringerung oder den Abzug von taktischen Atomwaffen auf beiden Seiten. Die vorgeschlagenen Schritte sind eher bescheiden oder sogar rein symbolisch. Das besondere daran ist, dass es Deutschland und anderen Befürwortern eines Abzugs zum ersten Mal gelungen ist, sich mit eher ablehnenden Ländern wie Ungarn auf eine gemeinsame Position zu einigen.

Allerdings werden einige der größten Hürden, die Russland angehen, in dem »Non-paper« gar nicht angesprochen. Zum ersten: Warum sollte sich Russland überhaupt darauf einlassen? Russland behauptet, dass es seine taktischen Atomwaffen nicht wegen der taktischen Atomwaffen der NATO vorhält, sondern um der überwältigenden konventionellen Überlegenheit der NATO etwas entgegenzusetzen. Das »Non-paper« gibt keine Antwort auf die längst bekannte Forderung, dass die USA zunächst ihre Atomwaffen aus anderen Ländern abziehen müssen, wie das die Russen bereits in den 1990er Jahren getan haben, und erst dann Verhandlungen über das Thema möglich sind. Es ist kaum anzunehmen, dass die NATO Russland dazu überreden kann, auf diese klare Vorgabe zu verzichten.

Zum zweiten: Was hat die NATO vor, wenn sich die Russen nicht auf Gegenseitigkeit einlassen? Es könnte als Vorwand dienen, die taktischen US-Atomwaffen in Europa zu lassen, das ändert aber nichts daran, dass diese Waffen überflüssig und überaltert sind. Außerdem hat Deutschland entschieden, die Trägerflugzeuge für die US-Atomwaffen auszumustern, so dass die nukleare Teilhabe der NATO unabhängig von einem Konsens der NATO in den nächsten zehn Jahren faktisch zu einem Ende käme, auch ohne Schritte Russlands.

Der Knackpunkt ist klar: Wenn es Sinn der ganzen Übung ist, Russland zur Aufgabe eines Teils oder des kompletten Arsenals an taktischen Atomwaffen zu bewegen, verhindert die NATO mit der Aufrechterhaltung ihres eigenen taktischen Atomwaffenarsenals in Europa just Bewegung von russischer Seite. Stattdessen muss die NATO den Mut aufbringen, auf die Kalte-Krieg-Logik zu verzichten, derzufolge beide Seiten immer symmetrisch abrüsten müssen. Es braucht deutliche Signale an Russland, dass die NATO sich auch ohne taktische Atomwaffen sicher fühlt und Russland einlädt, diesem Beispiel zu folgen.

Anmerkungen

1) Susi Snyder und Wilbert van der Zeijden (2011): Withdrawal Issues. What NATO countries say about the future of tactical nuclear weapons in Europe. IKV Pax Christi; NoNukes.nl. Eine deutsche Kurzfassung des Berichts mit etlichen Grafiken wurde von der Pressehütte Mutlangen erstellt und steht unter pressehuette.de/ImBlick%202_2011.pdf.

2) Aus technischen Gründen konnte die Karte in W&F nicht abgedruckt werden.

3) Non-paper submitted [to NATO Secretary General Rasmussen] by Poland, Norway, Germany and the Netherlands on increasing transparency and confidence with regard to tactical nuclear weapons in Europe, 14. April 2011. Das Papier wurde bei der NATO-Außenministertagung in Berlin vorgelegt.

Wilbert van der Zeijden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Nuclear Disarmament-Programm von IKV Pax Christi (Niederlande). Susi Snyder leitet das Programm. Übersetzt von Regina Hagen.

Der neue START-Vertrag und Abrüstung

Der neue START-Vertrag und Abrüstung

Ein Dilemma, das nach einer Debatte ruft

von Andrew Lichterman

Kurz vor Weinachten 2010 ratifizierte der US-Senat das neue Abrüstungsabkommen mit Russland – und verknüpfte es mit etlichen weitreichenden Bedingungen in Bezug auf die Modernisierung des Atomwaffenkomplexes, Raketenabwehr und den Aufbau konventioneller Langstreckenwaffen. Andrew Lichterman beschreibt, warum die Friedensbewegung in den USA mit der Unterstützung für den Vertrag zu viele Kompromisse eingegangen ist und sich anders und ganz neu aufstellen müsste.

Im vergangenen Jahr konzentrierte sich in den Vereinigten Staaten die öffentliche Debatte über Rüstungskontrolle und Abrüstung vor allem auf den neuen strategischen Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland (Strategic Arms Reduction Treaty = START). Die US-Verfassung schreibt vor, dass der Senat der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags zustimmen muss, und für diejenigen, die eine ungezügelte Militärmacht USA befürworten, bot sich im Vorfeld der Ratifizierung von START daher die perfekte Gelegenheit, von der Regierung Zugeständnisse beim politischen Kurs und Rüstungshaushalt zu erzwingen.

Die gesamte zweite Jahreshälfte 2010 kämpfte die US-Regierung mit ihren Gegnern im Senat. Je näher das Ende der laufenden Legislaturperiode von Senat und Repräsentantenhaus rückte – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich der nächste Kongress noch weniger für Rüstungskontrollmaßnahmen erwärmen würde – desto mehr war Obama bereit, Konzessionen zu machen. Am Ende stimmte der Senat einer Ratifizierung von START zwar zu, rang der Regierung aber Bedingungen und Zusagen ab, die für künftige Abrüstungsschritte nichts Gutes ahnen lassen.

Der neue START-Vertrag enthält kaum Einschränkungen für die Stationierung oder Modernisierung der Atomwaffenarsenale oder für die Entwicklung strategisch wichtiger Waffensysteme wie Raketenabwehr oder »Prompt Global Strike«-Waffen mit globaler Reichweite.1 Und der Vertrag schreibt für die nächsten sieben Jahre lediglich eine geringfügige Verkleinerung des strategischen Atomwaffenarsenals fest. Somit beschränkt sich der vermeintliche Nutzen des neuen Abkommens auf zwei Bereiche: Die Vor-Ort-Verifikation wird wieder aufgenommen, und es wurde ein neues Bezugssystem geschaffen für künftige Abrüstungsvereinbarungen. Die zusätzlichen Gelder, die dem Rüstungsestablishment im Gegenzug zur Ratifizierung zugesagt wurden, werden allerdings dafür sorgen, dass ein Atomwaffenarsenal von zivilisationszerstörendem Ausmaß auf Jahrzehnte hinaus festgeschrieben wird, und sie verankern Interessen, die Abrüstung langfristig strukturell behindern.

Man sollte daher meinen, dass der neue START-Deal, der echte und unumkehrbare Abrüstungsverpflichtung weit in die Zukunft verschiebt, innerhalb der »Rüstungskontroll- und Abrüstungs-Community« der USA heiß diskutiert wird. In der Endphase der Auseinandersetzung um seine Ratifizierung stellten sich aber die meisten US-amerikanischen Rüstungskontroll- und Abrüstungsorganisationen brav hinter die Regierung Obama, plapperten deren Argumente nach und kritisierten die Etaterhöhungen und politischen Zusagen an das Atomwaffen-Establishment nur leise.

Überwiegen also aus der Abrüstungsperspektive die enormen und konkreten Nachteile des START-Deals die nur schwer greifbaren Vorteile? Leider wurde diese Frage kaum diskutiert.

Wie es zum START-Deal kam

Der neue START-Vertrag ist so konzipiert, dass sich am stationierten Atomwaffenarsenal kaum etwas ändert, es ändern sich im Wesentlichen die Zählregeln für strategische Atomwaffen. Die Entwicklung und Stationierung anderer strategisch wichtiger Waffensysteme wird erst recht nicht eingeschränkt.

Hans Kristensen von der Federation of American Scientists weist darauf hin, „dass der Vertrag zwar die juristischen Obergrenzen für die Stationierung strategischer Sprengköpfe absenkt, an der Anzahl von Sprengköpfen aber nicht wirklich etwas ändert. Der Vertrag fordert sogar nicht einmal die Zerstörung eines einzigen Sprengkopfes und erlaubt den USA und Russland die Stationierung von fast genau so viel strategischen Sprengköpfen wie der Moskauer Vertrag von 2002“,2 der von Bush jr. abgeschlossen wurde. Zur Raketenabwehr merkte die Arms Control Association kürzlich in einem Analysepapier an: „New START ist ein Raketenabwehr-freundlicher Vertrag. Er beschränkt die Raketenabwehrpläne der USA in keinster Weise.“ 3 Der START-Vertrag wurde in dem Papier gleichwohl befürwortet. Außerdem sieht der Vertrag ausdrücklich vor, dass „die Modernisierung und der Ersatz von strategischen Angriffswaffen zulässig sind“.4

In ihrem Eifer, etwas zu erreichen, das sie als außenpolitischen »Sieg« darstellen kann, und in ihren Bemühungen, beim Thema Counter-Proliferation und Nichtverbreitung die ideologische »Überlegenheit« wieder zu erlangen, kam die Regierung Obama den unausweichlichen Forderungen der Kriegs- und Waffenpartei (die weit über die Reihen der formell den Republikanern zugerechneten Opposition hinaus reicht) sogar zuvor. Der Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2011, den Obama im Februar 2010 einreichte, sah für die Atomwaffenprogramme des Energieministeriums fast zehn Prozent Steigerung vor, sowie weitere Steigerungen in den nächsten fünf Jahren.5 Im Mai 2010 verpflichtete sich die Regierung dann dazu, in den nächsten zehn Jahren 180 Mrd. US$ zusätzlich für Atomwaffen und Trägersysteme bereitzustellen.6 Die Zuwachsraten sind so groß, dass Linton Brooks, der in der Regierung Bush jr. die für Atomwaffen zuständige National Nuclear Security Administration im Energieministerium leitete, kommentierte: „Für diesen Etat hätte ich sogar jemanden umgebracht.“ 7

Weitreichende Zusagen

Da es doch nicht gelang, die Zustimmung des Senats für die Ratifizierung in der kurzen Zeitspanne zu gewinnen, die zwischen der Vertragsunterzeichnung im April 2010 und den Senatswahlen Anfang November 2010 zur Verfügung stand, konnte die Schlacht um New START erst danach wieder aufgenommen werden. Bei den Wahlen konnten die Republikaner einen erheblichen Stimmenzuwachs verzeichnen. Also bemühte sich die Regierung Obama verzweifelt, die Ratifizierung wenigstens sicherzustellen, bevor Anfang 2011 ein noch feindseligerer Senat seine Arbeit aufnehmen würde. Im November 2010 sagte die Regierung dem Atomwaffenkomplex weitere Milliarden zu und betonte ständig ihre „besondere Verpflichtung, die Modernisierung unserer nuklearen Infrastruktur sicherzustellen“.8 Den Verhandlungsführern im Senat war nur allzu bewusst, dass dem US-Haushalt finstere Zeiten bevorstehen. Folglich machten sie im Interesse des Waffenkomplexes Druck, dass möglichst rasch mehr Geld in Großprojekte fließt, beispielsweise in die Uranium Processing Facility (UPF, Uranverarbeitungsanlage) in Oak Ridge/Tennessee und die Chemistry and Metallurgy Research Replacement Facility (CMRR, Labors für die Wartung und Zertifizierung von Atomwaffen) in Los Alamos/New Mexico.9 10

Und offensichtlich hält die Regierung Obama ihre Zusagen ein. Der Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2012, den Obama im Februar 2011 vorlegte, sieht u.a. Mittel für Trägersysteme wie z.B. einen neuen Langstreckenbomber und ein neues Atom-U-Boot vor, aber auch beträchtliche kurzfristige Ausgabensteigerungen für die UPF und die CMRR.

Was sprach dann überhaupt für den Vertrag? Die Verifikationsregelungen, beispielsweise zu Vor-Ort-Inspektionen, sind ein Punkt. Allerdings sind sie längst nicht mehr so wichtig wie im Kalten Krieg, da heute weder Russland noch die Vereinigten Staaten in größerem Umfang Atomwaffen bauen oder ständig neue Trägersysteme einführen. Mit Satellitenüberwachung und anderen Aufklärungsmaßnahmen gibt es wenig Anlass, an eine Verifikationskrise oder eine „klaffende Lücke bei der Sammlung strategischer Informationen“ 11 zu glauben.

Das stärkste Argument für New START war vielleicht, dass es ein erster Schritt hin zu weiteren bilateralen Abrüstungsschritten der USA und Russlands ist und ein Bezugssystem dafür bietet. Wenn man die Rhetorik der Regierung Obama allerdings nicht für bare Münze nimmt, dann sind die Aussichten auf weitere nennenswerte Abrüstungsschritte äußerst fraglich. Regierungsvertreter reden zwar im Kontext der Rüstungskontrolldebatte immer von »Abschreckung«, in Wirklichkeit verfolgt die US-Regierung aber eine Politik der Eskalationsdominanz auf allen Kriegsführungsebenen: Die mächtigsten konventionellen Streitkräfte der Welt operieren global unter dem »Schirm« eines Atomwaffenarsenals, dessen Größe und Flexibilität ausreicht, um mit der ganzen Bandbreite — vom Einsatz weniger Atomwaffen bis hin zur kompletten Vernichtung der Gesellschaft – zu drohen.12 Bis sich diese Politik ändert, wird die »Abrüstung« des US-Arsenals kaum anders aussehen als im neuen START-Vertrag: weitgehend kosmetisch und ohne am Zivilisation auslöschenden Potential etwas zu ändern. Außerdem werden andere Atomwaffenstaaten, die sich in potentieller Gegnerschaft zu den USA sehen, kaum dazu neigen, ihre Atomwaffenarsenale aufzugeben, solange die USA weiter nach globaler militärischer Dominanz streben.

Kein Ende der Debatte

Für die Befürworter echter Abrüstung darf die Debatte um START jetzt nicht zu Ende sein. Es drängen sich etliche Fragen auf: Wo liegt die Grenze bei den finanziellen und politischen Zusagen an den militärisch-industriellen Komplex, ab der die Abrüstungsexperten aus den Nichtregierungsorganisationen die Kosten für den Vertrag für zu hoch halten? Wenn man glaubt, dass der Vertrag mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt, war es dann die richtige politische Strategie, den Vertrag gut zu heißen, ohne zu thematisieren, dass er in seiner jetzigen Form alles andere als Abrüstung verheißt? Und selbst wenn man glaubte, der neue START-Vertrag sei ein Schritt in die richtige Richtung, rechtfertigt das, dass eine Abrüstungsbewegung, der die soziale Basis weitgehend weg gebrochen ist, so viel Geld und Zeit in das Thema investiert? Sollte sie ihre Zeit nicht besser damit verbringen, in der aktuellen verfahrenen Situation eine überzeugende Vision für die Rolle von Abrüstung auszuarbeiten?

Mit ihrer überwiegend unkritischen Unterstützung der offiziellen Regierungsposition zu New START stellte die Abrüstungsbewegung Abrüstungspolitik auf den Kopf. So kann man bestenfalls bescheidene Fortschritte erringen, riskiert aber gleichzeitig eine doppelt vernichtende Niederlage. So fördert man kaum das Verständnis für die echten Abrüstungshindernisse oder baut eine Bewegung auf, um just die politischen Verhältnisse zu ändern, die Forschritte bei der Abrüstung doch gerade so unwahrscheinlich machen. Und wenn der Senat der Ratifizierung des Vertrags dann trotz der ideologischen und materiellen Zugeständnisse an den militärisch-industriellen Komplex nicht zugestimmt hätte, wäre der Schaden wohl doch schon entstanden. So war es in den späten 1990er Jahren, als die großen Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen einem ganz ähnlichen Paket von »Sicherungsmaßnahmen« für das Atomwaffenarsenal der USA zustimmte, das von der Clinton-Regierung im vergeblichen Versuch aufgesetzt worden war, die Unterstützung des Senats für das Umfassende Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) zu gewinnen. 13 Der Senat verweigert die Zustimmung zur CTBT-Ratifizierung zwar bis heute, mit den damals freigegebenen Milliarden baut der Atomwaffenkomplex aber immer noch neue Forschungslabors.

Dass die weniger militaristisch angehauchten Elemente im US-Kongress und die meisten Abrüstungsgruppen nicht gegen den massiven Mittelzufluss für die Modernisierung des Atomwaffenkomplexes protestieren, macht es schwieriger, »vor Ort« Widerstand gegen das Atomwaffen-Establishment aufzubauen, d.h. dort, wo diese riesigen und politisch einflussreichen Institutionen angesiedelt sind. Lokaler Widerstand konnte in der Vergangenheit neue Atomwaffenfabriken oder die Stationierung von Atomwaffen typischerweise nur dann stoppen, wenn themenübergreifende Koalitionen aufgebaut wurden, die die Unterstützung einzelner Abgeordneter der entsprechenden Wahlkreise gewinnen konnten. Geschichten wie der geplatzte CTBT-Deal oder der neue START-Deal vereinnahmen Abgeordnete zugunsten des Waffenkomplexes, u.a. durch die Finanzierung von Einrichtungen, gegen die vor Ort gekämpft wird.

Überdies bietet sich der Öffentlichkeit ein widersprüchliches Bild, wenn lokale Abrüstungsgruppen den Bau einer neuen oder die Modernisierung einer vorhandenen Waffenfabrik bekämpfen, vertragsbefürwortende Politiker und die Massenmedien gleichzeitig die »Modernisierung« der Atomwaffen als unabdingbare Voraussetzung für die Zustimmung des Senats zur Vertragsratifizierung darstellen und dann auch noch die großen nationalen Abrüstungsorganisationen den lokalen Aktivisten erzählen, dass der Vertrag aber ungeheuer wichtig sei.

Eine echte Bewegung

Wenn wir eine echte Bewegung aufbauen wollen, reicht es nicht, ein paar Nichtregierungsorganisationen, die eigentlich an ganz anderen Themen arbeiten, dazu zu überreden, dass sie ihre Mitglieder und Unterstützer mit E-Mails bombardieren und für die eine oder andere Abrüstungsinitiative werben, die in Washington ausgeheckt wurde. Wir müssen unsere Ressourcen aus den Zentren der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht abziehen und dahin lenken, wo die Mehrheit von uns wohnt. Wir müssen ganz von vorn anfangen und in mühseliger Kleinarbeit solche Bewegungen aufbauen, die uns wirklich Macht und eine Stimme verleihen. Und wir brauchen eine Vision von einer besseren Zukunft, verbunden mit einem Verständnis für das Wechselspiel von Ursache und Wirkung in unserer heutigen Gesellschaft. Wir müssen fähig sein aufzuzeigen, warum die disparaten Probleme und Ungerechtigkeiten, gegen die sich die Menschen vor Ort auflehnen, gemeinsame Ursachen haben.

Ich plädiere nicht dafür, jegliche Aktivitäten einzustellen, bis wir die perfekte Analyse der globalen politischen Ökonomie und des sozialen Wandels haben. Ich plädiere aber dafür, Abrüstungsarbeit wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bei der Entscheidung und Einschätzung von Aktionen dürfen wir nicht nur danach fragen, was kurzfristig in den Regierungsfluren eines korrupten, kriegslüsternen und schwer bewaffneten Staates möglich ist. Wir können natürlich dort hingehen, wenn es nützlich ist, um das einzufordern, was wir wirklich wollen – und aus den Antworten, die sie uns geben, lernen, wer wirklich die Macht hat und was sie mit der Macht anfangen wollen. Wir können die Institutionen des nuklear-militärisch-industriellen Komplexes bei jeder Möglichkeit, die sich bietet mit unserer Position konfrontieren – und dabei mehr über die Wirkung von über einem halben Jahrhunderts konzentrierter Macht über unsere Gemeinschaften und unsere Umwelt lernen, einer Macht, für die die Machthaber nie Rechenschaft ablegen mussten. Wir können dabei lernen, wie effektiv diese Macht auf jeder Ebene der Gesellschaft wirkt.

Diesen Kontext müssen wir im Auge behalten und aus dieser Perspektive müssen wir breitere Strategien entwickeln, wenn wir über bestimmte Rüstungskontrollmaßnahmen debattieren und darüber, ob es sinnvoll ist, sich für so etwas wie New START zu engagieren.

Anmerkungen

1) Das sind konventionell bestückte weitreichende Waffen, die jeden Punkt der Erde innerhalb von 30-60 Minuten nach Befehlsfreigabe angreifen können, z.B. Langstreckenraketen oder Weltraumbomber. [die Übersetzerin]

2) Hans Kristensen: New START Treaty Has New Counting. FAS Strategic Security Blog, 29. März 2010; www.fas.org/blog/ssp/2010/03/newstart.php.

3) Tom Z. Collina und Greg Thielmann: New START Clears the Path for Missile Defense. Arms Control Association Issue Brief, Volume 1, Number 39, 1. Dezember 2010; www.armscontrol.org/issuebriefs/ NewSTARTClearsPathforBMD.

4) Treaty Between The United States of America and The Russian Federation on Measures for the Further Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms. Artikel V, Absatz 1; www.whitehouse.gov/blog/2010/04/08/new-start-treaty-and-protocol.

5) U.S. Department of Energy: FY 2011 Congressional Budget Request. V.I, National Nuclear Security Administration; S.47-48. In den USA fallen die Atomwaffen in den Zuständigkeitsbereich des Energie-, nicht des Verteidigungsministeriums; die Übersetzerin.

6) See U.S. Department of State: Fact Sheet, The New START Treaty – Maintaining a Strong Nuclear Deterrent. 13. Mai 2010; www.whitehouse.gov/sites/default/files/New%20START%20section%201251 %20fact%20sheet.pdf.

7) Arms Control Association und Center for Arms Control and Nonproliferation: Briefing on START and the Nuclear Posture Review. 7. April 2010; Mitschrift unter www.armscontrol.org/events/STARTandNPRBriefing.

8) The White House, Office of the Press Secretary: Fact Sheet: An Enduring Commitment to the U.S. Nuclear Deterrent. 17. November 2010; www.whitehouse.gov/the-press-office/2010/11/17/fact-sheet-enduring-commitment-us-nuclear-deterrent.

9) Siehe www.y12sweis.com/includes/Proposed%20Uranium%20final.pdf zu UPF und www.lanl.gov/orgs/cmrr/ zu CMRR. [die Übersetzerin]

10) Peter Baker: G.O.P. Senators Detail Objections to Arms Treaty. The New York Times, 14. November 24 2010; www.nytimes.com/2010/11/25/world/europe/25start.html. Siehe auch: Memo, Sen. Jon Kyl, Sen. Bob Corker to Republican Members, re: Progress in Defining Nuclear Modernization Requirements. 14. November 2010; zugänglich gemacht von der Arms Control Association; http://www.armscontrol.org/system/files/20101124%20-%20Kyl-Corker%20Memo%20On%20Modernization%20for%20Republican%20Colleagues.pdf.

11) Greg Thielmann: Close the Verification Gap. Ratify New START. Arms Control Association Issue Brief Volume 1, Number 35, 19. November 2010; www.armscontrol.org/node/4559.

12) Siehe: Andrew Lichterman and Jacqueline Cabasso: War is Peace, Arms Racing is Disarmament. The Non-Proliferation Treaty and the U.S. Quest for Global Military Dominance. Western States Legal Foundation Special Report, Mai 2005, S.7-8, sowie dort zitierte Quellen; http://wslfweb.org/docs/warispeace.pdf.

13) Der Autor bezieht sich hier auf das milliardenschwere »Stockpile Stewardship«-Programm der Clinton-Regierung; die Übersetzerin. Zu diesem Punkt siehe: Jacqueline Cabasso: Nuclear Weapons Research and Development. In: Michael Spies and John Burroughs (Hrsg.): Nuclear Disorder or Cooperative Security? U.S. Weapons of Terror, the Global Proliferation Crisis, and Paths to Peace. New York: Lawyers Committee on Nuclear Policy, Western States Legal Foundation, und Reaching Critical Will project of the Womens’ International League for Peace and Freedom, 2007, S.93 ff.

Andrew Lichterman ist Jurist und Friedensaktivist und lebt in Kalifornien in Pleasant Hill. Er ist Vorstandsmitglied der Western States Legal Foundation (Oakland, Kalifornien) und der Los Alamos Study Group (Albuquerque, New Mexico). Dieser Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder. Übersetzt von Regina Hagen

Zero is the only option

Zero is the only option

19. IPPNW-Weltkongress, 27.-29. August 2010, Basel

von Barbara Dietrich

Die IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) wurde im Jahre 1980 gegründet mit dem Ziel, einen Atomwaffenteststopp durchzusetzen, und hat mittlerweile 250.000 Ärzte/innen und Medizinstudenten/innen aus 80 Ländern als Mitglieder. 1984 erhielt die Organisation den UNESCO-Friedenspreis, 1985 den Friedensnobelpreis. Die deutsche Sektion nennt sich Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung und existiert seit 1982; damals verpflichteten sich die Gründungsmitglieder, sich nicht an kriegsmedizinischen Maßnahmen zu beteiligen. Alle zwei Jahre hält die IPPNW einen weltweiten Kongress ab; das Motto des 19. Weltkongresses im August 2010 lautete »nuclear abolition: for a future«.

Ausgehend von der Tatsache, dass weltweit noch immer mehr als 22 000 Atomsprengköpfe vorgehalten werden und sich die Zahl der Atomwaffenmächte seit 1968, dem Jahr der Unterzeichnung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), von fünf auf neun Staaten erhöht hat, war dieser Vertrag mit seiner Geschichte, seinen inhaltlichen Schwächen und seiner Implementierung ein wesentlicher Schwerpunkt des Kongresses. Die im Frühjahr 2010 abgehaltene 8. Überprüfungskonferenz zum NVV wurde von allen Referenten/innen kritisch bewertet, vor allem, weil auch dieses Mal keine Fristen vereinbart wurden, innerhalb derer die Atommächte verpflichtet sind, ihre Atomwaffen zu reduzieren bzw. vollständig abzuschaffen.1 Eindringlich wurde gewarnt vor der „schonungslosen Effizienz der Atombomben“, welche die Forderung nach der Durchsetzung einer so genannten Atomwaffenkonvention unbedingt erforderlich mache. Ein solcher von relevanten Friedensorganisationen (IALANA, INESAP, IPB und IPPNW) konzipierter und vom UN-Generalsekretär mittlerweile in seinen eigenen Forderungskatalog aufgenommener Vertragsentwurf nämlich legt konkrete Schritte zur atomaren Abrüstung innerhalb eines verbindlichen Zeitrahmens fest und bezieht Atomwaffen jeglicher Bauart oder Zerstörungskraft sämtlicher Atomwaffenstaaten ein.

Plenarveranstaltungen zur Geschichte der atomaren Abrüstung, zu den diesbezüglichen Positionen der Nuklearmächte und zu ihrer Verantwortung, zu Wirtschaft und Atomwaffen wie zu Globalisierung, Krieg und atomarer Abrüstung vermittelten einen umfassenden Überblick über das Thema des Kongresses.

Angesichts der kürzlich durchgeführten Castor-Transporte war das Plenum zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Kernkraftwerke von großer Aktualität und Brisanz. Referenten verwiesen auf die im Jahre 2007 publizierte KiKK-Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters,2 in der nachgewiesen wurde, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Krebs bzw. Leukämie desto größer ist, je näher ein Kind an einem AKW wohnt. Forschungen in Russland hatten ergeben, dass eine geringe, aber länger anhaltende Strahlendosis im Hinblick auf das Krebsrisiko für den Menschen ebenso gefährlich ist, wie eine hohe einmalige radioaktive Strahlendosis, wie sie etwa durch die Hiroshima-Bombe ausgelöst worden war.

Im Workshop »Positionen der Obama-Administration zur nuklearen Abrüstung« wurde deutlich gemacht, dass der US-Präsident von republikanischer Seite erheblichen Widerstand gegen weitere Abrüstungszugeständnisse zu erwarten habe. Diese Einschätzung erweist sich als zutreffend, wenn man liest, dass die Republikaner nach den Kongresswahlen versicherten, dem neuen START-Vertrag (Abkommen USA-Russland vom 8.4.2010 über die weitere Reduzierung und Begrenzung der strategischen Atomwaffen) nur dann zustimmen zu wollen, wenn die Regierung im Gegenzug mehr Geld für die Modernisierung der amerikanischen Atomwaffenarsenale zur Verfügung stellt und ein Raketenabwehrsystem aufbaut (FAZ 4.11.2010). Linke Demokraten dagegen fordern von Obama, schnellere und weitergehende Abrüstungsschritte zu initiieren. Von dritter Seite wächst ebenfalls Druck in Richtung Abrüstung, wie der Aufruf hochrangiger US-Politiker (G. Shultz, W. Perry, H. Kissinger, S. Nunn) »Für eine Welt ohne Atomwaffen« aus dem Jahre 2007 beweist.

Ein anderer Workshop hatte die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone im Mittleren Osten und Mittelmeerraum zum Inhalt. Diese war von 22 arabischen Staaten – alle Unterzeichner des NVV-Vertrages – im März 2010 anlässlich ihres Treffens in Libyen gefordert worden. Auch in der Abschlusserklärung der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 wird dieses Ziel unterstützt; hier ist sogar von einer von atomaren, biologischen und chemischen Waffen freien Zone die Rede und davon, dass im Jahre 2012 dazu eine Konferenz einberufen werden solle – unter Einbeziehung Irans und Israels.

In diesem Workshop wurde von vielen Seiten – z.B. von Vertretern Italiens, Palästinas, Israels, Pakistans – lebhaft und kontrovers diskutiert. Der Vertreter des Irans, Berater in der Ständigen Vertretung der Islamischen Republik Iran in Genf, gab eine längere Erklärung ab. Atomwaffen, so führte er aus, hätten in der Verteidigungsdoktrin seines Landes und angesichts der Unterzeichnung des NVV-Vertrags durch den Iran keinen Platz. Allerdings beanspruche der Iran das Recht auf die zivile Nutzung der Atomenergie, was aber unstreitig vertragskonform sei. Das Motto der iranischen Atompolitik laute demzufolge: „Atomenergie für alle, Nuklearwaffen für niemanden.“ Bezug nehmend auf Israel wies er darauf hin, dass dort hunderte Atomwaffen stationiert seien und dass Israel darin bedingungslos von den USA und ihren Verbündeten unterstützt werde. Demgegenüber übe die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) gegenüber seinem Land, dem Iran, ein beispiellos strenges Kontrollregime aus, und auch der UN-Sicherheitsrat sei – unnützerweise – zu Lasten des Iran in den Konflikt involviert worden. Das alles zeige, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde. Schließlich sprach sich auch dieser Referent mit Nachdruck für eine atomwaffenfreie Zone im Mittleren Osten aus und dafür, dass Israel als einzige Atommacht in dieser Region dem NVV beitreten und sich der Kontrolle der IAEO unterstellen müsse – dann würde das anvisierte Ziel rasch in greifbare Nähe rücken.

Konsens bestand unter den Teilnehmern/innen dieses Workshops darüber, dass die nuklearwaffenfreie Zone ein erster wichtiger Schritt zu einem umfassenden Frieden im Mittleren Osten sei. Der Vorschlag, in der israelisch-palästinensischen Region eine Konferenz zu diesem Thema einzuberufen, wurde einhellig begrüßt. Angesichts wiederholter Pressemeldungen, dass Israel einen Angriff auf den Iran in Erwägung ziehe, wurde der IPPNW als Teilnehmerin einer solchen Konferenz u.a. die Rolle zugewiesen, aus fachlicher Sicht deutlich zu machen, welch verheerende Folgen ein Krieg gegen den Iran haben würde.

Hervorgehoben sei weiterhin der Vortrag eines indischen Politologen und Nuklearexperten, der sich mit der ökonomischen Krise und der Friedensbewegung befasste. Der Neoliberalismus bringe, so trug er vor, eine globale Marktordnung hervor, die von einer umfassenden Militarisierung über alle nationalen Grenzen hinweg abgesichert werde. Mit dieser Militarisierung werde nicht mehr die Durchsetzung konkret bestimmter, begrenzter Ziele verfolgt, sondern generell die Absicherung der neoliberalen Wirtschaftsordnung ohne Rücksicht auf Grenzen und auf unbestimmte Zeit. Dem müsse sich die Friedensbewegung stellen. Sie könne nicht mehr nur eine Bewegung sein, die auf eine Welt ohne Krieg hinarbeitet, sondern müsse vielmehr mit dem Kampf gegen alle Arten von ökonomischer, sozialer und kultureller Ungerechtigkeit verbunden werden. Das Weltsozialforum z.B. sei eine Bewegung dieser Art. Auch der fortdauernde Kampf für nukleare Abrüstung müsse mit dem weiterreichenden Kampf gegen Militarismus, ungerechte Kriege und Besetzung verbunden werden. Vor allem aber müsse moralische Indifferenz bekämpft und überwunden werden, damit die nukleare Abrüstung Realität werden könne – dies sei die Lehre aus Fortschritten des vergangenen Jahrhunderts: Ende der Apartheid, schnelles und unblutiges Ende der autoritären Sowjetunion, politische Niederlage der USA gegenüber den Vietnamesen etc.

Im abschließenden Plenum kamen – last but not least – die »non-haves« zu Wort: Vertreter/innen von atomwaffenfreien Staaten prangerten Höhe und Zunahme der weltweiten Rüstungsausgaben an (knapp 6% in 2009 gegenüber 2008), die im Jahre 2009 insgesamt 1,53 Billionen US-Dollar betrugen. Auch sie forderten mit großem Nachdruck die Umsetzung des NVV-Vertrages und die Durchsetzung einer Atomwaffenkonvention, setzten dabei allerdings ihre Hoffnung weniger auf die von nationalen Interessen dominierten Regierungen als auf politischen Druck von Seiten der Zivilgesellschaft – wohl wissend, dass hier noch sehr viel motivierende und aktivierende Arbeit zu tun sein wird.

Tagungsort des Kongresses war Basel, Tagungslokalität die alte, im Jahr 1460 gegründete, Universität: ein Ort, adäquat für einen solch kompakten und konzentrierten Kongress, der viele renommierte Wissenschaftler/innen, bekannte Politiker/innen (immerhin ließ der russische Präsident Medwedew eine Grußadresse verlesen) und Studenten/innen aus aller Welt zu Informationsaustausch und -weitergabe, zu Reflexion und Diskussion zusammengeführt und das Netzwerk unter Gleichgesinnten sicherlich enger geknüpft hat.

Anmerkungen

1) Siehe Rebecca Johnson, Die NVV-Konferenz 2010, in W&F 3-2010.

2) Bundesamt für Strahlenschutz: Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie). Salzgitter, 2007; www.bfs.de/de/bfs/druck/Ufoplan/4334_KIKK.html.

Barbara Dietrich

Die Zwei Musketiere der Europäischen Union

Die Zwei Musketiere der Europäischen Union

Das anglo-französische Militärabkommen und die Modernisierung von Atomwaffen

von Ian Davis

Anfang November 2010 unterzeichneten die Regierungschefs von Großbritannien und Frankreich ein bahnbrechendes Abkommen über Kooperation im Verteidigungssektor. Die Zusammenarbeit erstreckt sich auf etliche militärische Schlüsselbereiche. Die beiden Länder sind schon bislang die größten Militärmächte in Europa: Ihr Verteidigungshaushalt beträgt nahezu 50% der gesamten Militärausgaben in der EU, sie stellen die Hälfte aller europäischer Streitkräfte und bestreiten 70% der Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung. Die engere militärische Zusammenarbeit ergibt sich aus einem übergreifenden Vertrag über Kooperation bei der Verteidigung (Defence Co-operation Treaty)1, einem nachrangigen Vertrag über nukleare Zusammenarbeit,2 einer Absichtserklärung der beiden Verteidigungsminister und einem Bündel gemeinsamer Verteidigungsinitiativen. Die Ratifizierung der beiden Verträge durch die jeweiligen Parlamente steht noch aus.

Nach mehrjährigen Vorbereitungen wurde das bilaterale Verteidigungsabkommen zwischen Großbritannien und Frankreich am 2. November 2010 auf einem Gipfeltreffen im noblen Lancaster House in London von Premierminister Cameron und Präsident Sarkozy unterzeichnet.3 Der Pakt soll die operativen Verbindungen zwischen der französischen und der britischen Streitmacht stärken und legt die Grundlage für die gemeinsame Nutzung von Material und Ausrüstung, den Bau gemeinsamer Einrichtungen, wechselseitigen Zugang zur Rüstungsindustrie und intensivere industrielle und technologische Zusammenarbeit. Der britische Verteidigungsminister Liam Fox begründete das Abkommen wie folgt:

„Es gibt viele Gründe, warum diese Zusammenarbeit Sinn macht. Wir sind die einzigen Nuklearwaffenmächte Europas. Wir haben die höchsten Verteidigungsetats und sind die zwei einzigen Länder mit großen und fähigen Eingreiftruppen. Wir sind beide ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und führende Mitglieder der G8 und G20.

Und es gibt keinen besseren Moment, unsere Beziehung mit Frankreich zu vertiefen. Seit Präsident Sarkozys Amtsantritt konnten wir den energischen Versuch beobachten, Europa und Amerika näher zusammenzubringen und Frankreich stärker in die NATO einzubinden.“ 4

Zwar hat sich der Pakt den beiden Ländern nahezu aufgedrängt, da sie beide mit Kürzungen im Verteidigungsetat kämpfen – die britische Koalitionsregierung hatte erst zwei Wochen zuvor nach einer hastigen Überprüfung der strategischen Verteidigungs- und Sicherheitsfähigkeiten (Strategic Defence and Security Review)5 beträchtliche Einschnitte in den Verteidigungshaushalt angekündigt –, aber er unterstreicht auch, dass das Vertrauen zwischen Paris und London gewachsen ist. Ob das Vertrauensverhältnis anhält, muss sich erst noch weisen, davon wird aber wesentlich abhängen, in welchem Umfang und bis zu welcher Tiefe das Abkommen in den nächsten Monaten und Jahren umgesetzt wird. Auch ob die auf beiden Seiten des Ärmelkanals erwartete Verbesserung der militärischen Fähigkeiten bei gleichzeitigen Einsparungen Realität wird, bleibt abzuwarten. Immerhin stößt die geplante Zusammenarbeit bei den Bündnispartnern der NATO auf Zustimmung, zumindest auf dem Papier. In der Abschlusserklärung des Lissabonner Gipfels vom 20. November 2010 heißt es volltönend:

„In diesem Zusammenhang begrüßen wir das Ergebnis des französisch-britischen Gipfeltreffens vom 2. November 2010, das die Zusammenarbeit der beiden Länder im Sicherheits- und Verteidigungsbereich durch die Einführung innovativer Verfahren der Bündelung und gemeinsamen Nutzung verstärken wird. Wir sind der Auffassung, dass eine solche bilaterale Verstärkung der europäischen Fähigkeiten zu den Gesamtfähigkeiten der NATO beitragen wird.“ 6

Das Abkommen baut auf mehreren früheren Vereinbarungen auf. Ungeachtet erheblicher historischer Rivalitäten und trotz beträchtlicher politischer Differenzen (z.B. über die Invasion im Irak 2003) hat sich nämlich in den letzten zwei Jahrzehnten eine stabile anglo-französische Verteidigungskooperation entwickelt. Französische Soldaten befehligten britische Truppen und umgekehrt. Der neue britische Generalstabchef Sir David Richards hatte französische Soldaten unter seinem Kommando, als er die NATO-Mission in Afghanistan leitete. Und bei der Bosnien-Mission der NATO war ein französischer General stellvertretender Kommandeur und befehligte somit britische Soldaten. Das ist allerdings qualitativ und quantitativ nicht zu vergleichen mit dem, was jetzt geplant ist – von der gemeinsamen Nutzung von Flugzeugträgern bis zur gemeinsamen Entwicklung unbemannter Flugkörper und von der Aufstellung gemeinsamer Eingreiftruppen bis zur Forschung für und dem Testen von Nuklearsprengköpfen und -komponenten.

Schon 2011 beginnen die britischen und französischen Streitkräfte mit gemeinsamen Manövern. Diese dienen zur Vorbereitung der Schnellen Eingreifgruppe, die bei Bedarf aus dem Militär beider Länder aufgestellt wird und auf gemeinsamen politischen Beschluss unter einem britischen oder französischen Kommandeur zum Einsatz kommt. Das Abkommen über die gemeinsame Nutzung von Flugzeugträgern – die etwa 30% der Zeit zur Wartung und Nachrüstung im Dock liegen – soll etwa 2020 greifen. Dann wird ein einsatzbereiter französischer Flugzeugträger den britischen Einheiten immer dann für Übungen oder sogar für eine Militäroperation zur Verfügung stehen, wenn der britische Flugzeugträger gerade außer Dienst ist – sofern Frankreich dem zustimmt. Und umgekehrt gilt das gleiche, wenn der französische Flugzeugträger Charles de Gaulle – was nur allzu oft passiert – gerade nicht einsatzbereit ist. Die zwei Länder poolen auch Ressourcen für Ausbildung, Wartung und Logistik des neuen Transportflugzeugs A400M, das beide beschaffen, obgleich Frankreich seine Transportflotte unter dem neuen, im September 2010 aufgestellten Europäischen Lufttransportkommando (European Air Transport Command) auch bereits mit Belgien, Deutschland und den Niederlanden poolt.

Längerfristige Kooperationspläne beziehen sich außerdem auf eine Reihe ganz unterschiedlicher Programme, einschließlich Satellitenkommunikation, Cyber-Sicherheit und der Entwicklung neuer ballistischer Raketen und unbemannter Flugkörper. Allerdings ist Frankreich auch in diesen Bereichen schon eng in etliche multilaterale europäische Projekte eingebunden, bei der Satellitenkommunikation beispielsweise mit Italien und Spanien, und es ist unwahrscheinlich, dass Frankreich diese bestehenden Kooperationsprojekte platzen lässt.

Zusammenarbeit bei Nuklearwaffen: Stärkung des Strategischen Dreiecks in der NATO

Am meisten Aufsehen hat der separate Vertrag über nukleare Kooperation erregt, vor allem, weil Frankreich und Großbritannien bei ihren Nuklearwaffenarsenalen traditionell unterschiedliche Ansätze verfolgen. Großbritannien hängt in allen drei wesentlichen Punkten – Sprengköpfe, Trägersysteme und Plattformen – hochgradig von den Vereinigten Staaten ab, was dem Anspruch Londons auf eine »unabhängige nukleare Abschreckungskapazität« wenig Überzeugungskraft verleiht. Die transatlantische Verbindung in puncto Nuklearwaffen reicht bis mindestens 1958 zurück, als US-Präsident Dwight Eisenhower und der britische Premierminister Harold Macmillan ein Abkommen über die gegenseitige (nukleare) Verteidigung (Mutual Defence Agreement, MDA) unterzeichneten. Unter dem MDA können die USA mit Ausnahme kompletter Nuklearwaffen alles mit London teilen. Das US-britische Abkommen wurde 2004 um zehn Jahre verlängert, und Großbritannien bezieht von den USA weiterhin Nuklearwaffenkomponenten, ballistische Raketen des Typs Trident D5 sowie Designspezifikationen und Reaktortechnologie für seine U-Boot-Flotte. Sogar an der Leitung der britischen Atomwaffenfabrik in Aldermaston (Atomic Weapons Establishment), wo (nach US-Blaupausen) die Nuklearwaffen zusammengebaut und gewartet werden, ist inzwischen das US-Unternehmen Lockheed Martin beteiligt.

Im Gegensatz zur »outgesourcten Abschreckung«7 der Briten bleibt die französische »Force de Frappe« – eine Nuklearstreitkraft, die über see- und luftgestützte ballistische Raketen verfügt – das ultimative Symbol nationaler Souveränität. Trotz der begrenzten technischen Zusammenarbeit zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten bei nuklearer Sicherheit und einer gewissen Koordination der politischen Planung mit London, legte Frankreich immer Wert darauf, alle erforderlichen Komponenten seines Nuklearwaffenarsenals (zu erheblich höheren Kosten) selbst zu bauen und zu unterhalten. Diese Position wurde 2008 im französischen Weißbuch bestätigt, das betonte, dass „sich die Nuklearstreitkräfte aus zwei klar von einander abgegrenzten und komplementären Komponenten zusammensetzen, einschließlich der unterstützenden Infrastruktur, die den unabhängigen und sicheren Betrieb ermöglicht.“ 8

Das anglo-französische Nuklearabkommen begründet ein neues gemeinsames Programm namens »Teutates«, benannt nach dem keltischen Kriegsgott, den im Altertum die Briten wie die Gallier verehrten. Offensichtlich mit dem Segen der Vereinigten Staaten soll »Teutates« in beiden Ländern den gemeinsamen Aufbau spitzentechnologischer Nuklearforschungseinrichtungen ermöglichen, die ab 2015 arbeitsfähig sein sollen. Die britische Forschungseinrichtung in Aldermaston soll ein gemeinsames technologisches Entwicklungszentrum (Technology Development Centre) beherbergen, und in Frankreich soll in Valduc eine neue hydrodynamische Forschungseinrichtung für die Simulation von Nuklearwaffentests entstehen. Liam Fox erläuterte vor dem britischen Parlament am 2. November 2010, dass diese Anlage „das Verhalten von Materialien bei extremen Temperaturen und Drücken mit Hilfe von Röntgentechnik messen“ soll. „Damit können wir die Leistungsfähigkeit und Sicherheit der Nuklearwaffen in unserem Arsenal modellieren, ohne echte Nuklearwaffentests durchzuführen.“ 9

Von höchster Bedeutung ist dabei eine Art Rotationsverfahren im Dienstplan der Anlage, um sicherzustellen, dass jede Seite „sämtliche Versuche, die zur Unterstützung ihres nationalen Programms erforderlich sind, […] ohne neugierige Blicke“10 der Mitarbeiter des jeweils anderen Landes durchführen kann. So ist für die Amerikaner die Vertraulichkeit ihrer Sprengkopfkonstruktion gewährleistet und es wird die Weitergabe von Nuklearwaffentechnologie vermieden, die gemäß Artikel I des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages untersagt ist.

Das Abkommen ist auf einen 50-jährigen Lebenszyklus der Anlagen ausgelegt und deckt damit die Erforschung und Entwicklung von zwei Technologiegenerationen ab, umfasst aber weder die gemeinsame Stationierung von Nuklearwaffen oder gemeinsame U-Boot-Patrouillen noch den Austausch von Nuklearmaterialien. Mit anderen Worten: Die Kooperation soll da aufhören, wo die umfassendere und tiefgreifendere Zusammenarbeit von Großbritannien und den Vereinigten Staaten oder die französische Interpretation von unabhängiger Beschaffung betroffen wären. Wenn die französischen und britischen Wissenschaftler allerdings erst einmal zusammenarbeiten und Forschungsergebnisse miteinander teilen, wird es vielleicht schwerer, die Abschottung nuklearer Daten aufrecht zu erhalten.

Und selbst wenn die gemeinsamen Labors den Zweck haben, die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Sprengkopfkonstruktionen zu erhöhen, so steigt damit doch die Aussicht, auch bei der Entwicklung neuer Sprengköpfe oder bei der Verbesserung der Fähigkeiten existierender Sprengkopftypen zusammenzuarbeiten. Auch die im Vertrag über Verteidigungskooperation getroffene Vereinbarung, im Jahr 2011 eine Studie zur potentiellen Zusammenarbeit bei Atom-U-Boot-Komponenten und -Technologien durchzuführen, eröffnen die Aussicht einer künftigen gemeinsamen Beschaffung eines ganz neuen Atom-U-Boots. Allerdings: Diese beide Optionen mögen zwar angesichts knapper Kassen Hoffnungen auf Kostensenkungen und auf die Aufrechterhaltung der erforderlichen Industriepotentiale wecken; da sich die nuklearen Modernisierungsprogramme der beiden Länder aber erheblich unterscheiden, ist kurz- bis mittelfristig keine der Optionen wahrscheinlich.

So werden die Franzosen 2015 ihre U-Boote mit dem neuen Sprengkopf Tête Nucléaire Océanique (TNO) ausstatten, Großbritannien wird aber frühestens 2019 über einen neuen Sprengkopftypen entscheiden. Ähnlich ist es bei den U-Booten: Großbritannien führt jetzt seine neuen nicht-nuklearen Angriffs-U-Boote der Astute-Klasse ein, Frankreich hingegen steht mit Überlegungen zu seiner Barracuda-Klasse noch ganz am Anfang. Bei den nuklear bewaffneten U-Booten ergibt sich ein ähnliches Bild: Großbritannien will seine Vanguard-Klasse (mit Hilfe der USA) durch eine neue Klasse ersetzen, während Frankreich gerade erst seine Nuklear-U-Boote der Klasse Le Triomphant eingeführt hat, auf der die fortgeschritteneren und weiter reichenden ballistischen Raketen des Typs M51 stationiert werden. Daher ergeben sich nur wenige Ansatzpunkte für die anglo-französische Zusammenarbeit bei U-Booten, Raketen oder Sprengköpfen, umso mehr, als in die neuen U-Boote der USA und Großbritanniens die gleichen Raketenrohre eingebaut werden.

Auf der anderen Seite stärkt das Kooperationsabkommen das strategische nukleare Dreieck USA-Großbritannien-Frankreich innerhalb der NATO, wie Verteidigungsminister Fox vor dem Parlament zugab:

„Es gibt bezüglich der nuklearen Abschreckung seit langem ein bilaterales Verhältnis zwischen Frankreich und den USA sowie ein bilaterales Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA […] es wird seit einiger Zeit diskutiert, ob das Verhältnis angesichts der Kosten der Programme trilateral sein sollte, für den Moment fiel die Entscheidung aber für den doppelten Bilateralismus. Wir stärken jetzt den dritten, den anglo-französischen Teil, weil wir glauben, dass dies aufgrund der Kosteneffektivität und unserer Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag in unserem Interesse ist.“ 11

Es ist allerdings nur schwer auszumachen, inwiefern das Abkommen zur Nichtverbreitung beiträgt. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich haben das Umfassende Teststoppabkommen (Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, CTBT) ratifiziert, das jegliche Nuklearwaffen-Testexplosionen untersagt. Da sich das anglo-französische Abkommen auf Tests von Komponenten, Computersimulationen und Experimente beschränkt, die ohne Nuklearexplosionen auskommen – und damit dem Teststoppabkommen Genüge leisten –, widerspricht die angestrebte Kooperation nicht dem Buchstaben des Vertrags (der zudem noch nicht in Kraft getreten ist). Allerdings steht er im Widerspruch zum Geiste des Vertrags, und das gleiche trifft im Hinblick auf Artikel I des Nichtverbreitungsvertrags auf die beabsichtigte wissenschaftliche Zusammenarbeit zu. Und nicht zuletzt: Dass die beiden Nuklearwaffenstaaten vorhaben, die nächsten 50 Jahre gemeinsam in die Forschung und Entwicklung von Nuklearwaffen zu investieren, untergräbt das angeschlagene Nichtverbreitungssystem zusätzlich.

Fazit: Nukleare Verbündete in knappen Zeiten

Ist dieser neuesten »Entente Frugale« ein besseres Schicksal beschieden als ihren Vorläufern? Zweifellos müssen fundamentale strategische Differenzen erst noch beigelegt werden: Die britische Verteidigungspolitik ist sehr eng auf die der Vereinigten Staaten und der NATO abgestimmt, während Frankreich weiterhin der Verteidigungsintegration innerhalb der EU verpflichtet bleibt. Und während beide Länder eindeutig auf dem Weg zur Modernisierung ihrer Nuklearwaffenarsenale sind – wenn auch in unterschiedlichem Tempo –, steht Großbritannien mit an der Spitze der Staaten, die für die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt eintreten, während Frankreich die Bemühungen um »Global Zero« mit großer Skepsis beobachtet. Letzteres ergibt sich aus den jüngsten Bemühungen, in der NATO die Diskussion um nukleare Abrüstung zu verhindern12 und die (von Wikileaks aufgedeckten) Bedenken in Paris, als (fälschlicherweise) angenommen wurde, dass Großbritannien sein nukleares Trident-System ganz aufgeben könnte.13

Die beabsichtigten gemeinsamen Aktivitäten zum Testen von Sicherheit und Zuverlässigkeit der französischen und britischen Nuklearwaffen ändert an diesem Gesamtbild kaum etwas. Und genau das ist die Krux. Es wurde die Gelegenheit verpasst, der »Global Zero«-Agenda den dringend nötigen Motivationsschub zu verpassen. Das Nuklearabkommen hätte genutzt werden können, um eine breiter angelegte bilaterale, trilaterale (mit den USA) und sogar internationale Zusammenarbeit bei der Verifikation von nuklearer Abrüstung und der vollständigen Abschaffung von Nuklearwaffen ins Leben zu rufen und dabei auf die wissenschaftliche Vorarbeit zu bauen, die in den nationalen Laboratorien wie in mehreren politischen Initiativen bereits geleistet wurde.14 Stattdessen stärkt das Abkommen im strategischen Denken der beiden Länder die nukleare Permanenz.

Gleichermaßen wurde in einer Zeit, in der keines der beiden Länder sich die Rolle, die es in der Welt spielt, noch leisten kann, eine Gelegenheit verpasst, genau diese Rolle und die Fähigkeiten, die für die Sicherheitsherausforderungen im 21. Jahrhundert benötigt werden, zu überdenken. Anstatt in Begriffen wie »menschliche Sicherheit« zu denken, bleibt das Kooperationsabkommen der herkömmlichen Sicherheitslogik verhaftet – der Sicherheit von Grenzen und der Rolle von Flugzeugträgern. Ein Konzept im Sinne der menschlichen Sicherheit hätte dazu geführt, dass Paris und London ihre Kräfte darauf konzentrieren, ihre eigenen Bürger und auch die außerhalb ihrer Landesgrenzen vor bestimmten Risiken zu schützen (darunter Gewalt, Naturkatastrophen, Hunger oder Krankheit), und zwar mit einem Mix aus militärischen und zivilen Kräften mit internationalem Mandat. Der Mangel an strategischem Denken ist das wirkliche Armutszeugnis im Kern dieser Angelegenheit.

Anmerkungen

1) Treaty Between the United Kingdom of Great Britian and Northern Ireland and the French Republic for Defence and Security Cooperation. Presented to Parliament by the Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs. Cm7976, 2 November 2010; www.official-documents.gov.uk/document/cm79/7976/7976.pdf.

2) Treaty Between the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and The French Republic Relating to Joint Radiographic/Hydrodynamics Facilities. Presented to Parliament by the Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs. Cm 7975, 2 November 2010; www.official-documents.gov.uk/document/cm79/7975/7975.pdf.

3) UK-France Summit 2010 Declaration on Defence and Security Co-operation. 2 November 2010, www.number10.gov.uk/news/statements-and-articles/2010/11/uk%E2%80%93france-summit-2010-declaration-on-defence-and-security- co-operation-56519.

4) Liam Fox: A closer alliance with France will be good for Britain. Daily Telegraph, 30 October 2010; www.telegraph.co.uk/news/newstopics/politics/defence/8098950/ A-closer-alliance-with-France-will-be-good-for-Britain.html.

5) A strong Britain in an age of uncertainty. The National Security Strategy. Presented to Parliament by the Prime Minister, Cm7953, October 2010; www.direct.gov.uk.

6) Lisbon Summit Declaration – Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Lisbon. 20 November 2010; www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_68828.htm; deutsche Fassung auf www.nato.diplo.de/contentblob/2970690/Daten/966698/NATO_Gipfel_Erkl_DLD.pdf.

7) Dan Plesch: Trident: we’ve been conned again. New Statesman, 27 March 2006; www.newstatesman.com/200603270008

8) Gemeint sind einerseits die seegestützten Nuklearwaffen (auf U-Booten stationierte ballistische Raketen) und andererseits das luftgestützte Arsenal (Luft-Boden-Raketen, die von Flugzeugen abgeschossen werden). White Paper on Defence and National Security. June 2008; www.ambafrance-uk.org/New-French-White-Paper-on-defence.html.

9) Hansard, Column 780, 2 November 2010.

10) Cm 7975, op.cit.

11) Hansard, Column 785, 2 November 2010.

12) Ian Traynor. Germany and France in nuclear weapons dispute ahead of Nato summit: The Guardian, 18 November; www.guardian.co.uk/world/2010/nov/18/nato-summit-nuclear-weapons-row.

13) US embassy cables: French tell US Britain is ready to abandon Trident: The Guardian, 8 December 2010, Cable sent 06/08/2009 C O N F I D E N T I A L SECTION 01 OF 05 STATE 082013, www.guardian.co.uk/world/us-embassy-cables-documents/219798: US embassy cables: France fears Labour »demagogues« will drop Trident. The Guardian, 8 December 2010, Cable sent 31/07/2009, S E C R E T SECTION 01 OF 04 PARIS 001039; www.guardian.co.uk/world/us-embassy-cables-documents/218931.

14) Großbritannien und Frankreich hielten beispielsweise Treffen zu »vertrauensbildenden Maßnahmen für Abrüstung und Nichtverbreitung« mit hochrangigen Politikern, Militärs und technischen Experten der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Das erste Treffen fand im September 2009 in London statt, das zweite wird Anfang 2011 von Frankreich ausgerichtet.

Dr. Ian Davis ist unabhängiger Berater für Sicherheit und Abrüstung (www.iandavisconsultancy.com) und Gründungsdirektor von NATO Watch (www.natowatch.org). Übersetzt von Regina Hagen

Gute Gründe für Nuklearwaffen?

Gute Gründe für Nuklearwaffen?

Gespräche mit politischen Akteuren und Akteurinnen

von Sarah Maria Koch

Die Frage nach den »guten Gründen« von Nuklearwaffen scheint eine rhetorische zu sein und wird von der Leserschaft vermutlich – wie einst von der Autorin – reflexartig zurückgewiesen: „Es gibt keine guten Gründe für Nuklearwaffen!“ Wie aber kann es dann sein, dass die Anzahl der Nuklearwaffenstaaten seit dem Ende des Kalten Krieges nicht ab-, sondern zugenommen hat, nukleare Abschreckung in den nationalen Sicherheitsstrategien immer noch salonfähig ist und nach wie vor über 23.000 nukleare Sprengköpfe existieren? Im Rahmen ihrer Diplomarbeit suchte die Autorin das Gespräch mit politischen AkteurInnen und RegierungsvertreterInnen und ging der Frage nach, aus welchen Gründen manche von ihnen zögern, sich aktiv für nukleare Abrüstung einzusetzen, oder nukleare Rüstung gar befürworten.

Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) mahnen: „Das nukleare Erbe des Kalten Krieges ist nicht überwunden.“ Sie verweisen auf die Tatsache, dass weltweit noch immer über 23.000 Nuklearwaffen in den Arsenalen lagern.1 20 dieser Waffen sind nach wie vor in Deutschland stationiert.

Nuklearwaffen werden von den Besitzstaaten als (noch) unverzichtbare Garanten für nationale Sicherheit und Frieden bezeichnet. Gleichzeitig steht fest, dass der Einsatz dieser Waffen ein unvorstellbares Maß an Zerstörung, Tod und Leid verursachen würde und im Extremfall das Überleben der gesamten Menschheit gefährden könnte.2 Zwar haben Nuklearwaffen in der öffentlichen Wahrnehmung heute im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges eine relativ geringere Bedeutung, doch in den nationalen Sicherheitsstrategien der Nuklearwaffenstaaten und ihrer Verbündeten spielen sie noch immer eine wesentliche Rolle.

Im Unterschied zu den biologischen und chemischen Waffen gibt es bis heute keinen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der Nuklearwaffen ächtet.3 Der Nichtverbreitungsvertrag4 von 1970, welcher aufgrund seiner strukturellen Schwäche und mangelnden Wirksamkeit in der Kritik steht (vgl. Hall und Steffen, 2010, S.64, sowie Müller, 2009, S.12), gibt den rechtlichen Rahmen für die internationalen Verhandlungen über nukleare Abrüstung vor. Bei der diesjährigen Überprüfungskonferenz des Vertrages in New York waren nach jahrelangem Stillstand zwar hoffnungsvolle Bewegungen zu beobachten, zugleich machte sich in Anbetracht altbekannter Argumente und Konfliktstellungen aber auch Ernüchterung breit: Noch längst wird der nuklearen Abrüstung und dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt nicht die Priorität eingeräumt, die ihnen in Anbetracht des ungeheuerlichen Zerstörungspotentials von Nuklearwaffen zustehen müsste. Woher kommt das? Warum zögern politische AkteurInnen, sich für die Abschaffung von Nuklearwaffen einzusetzen? Mit welcher Begründung können Waffen mit einem unvorstellbaren Zerstörungspotential in der heutigen Sicherheitspolitik eine Option sein? Diesen Fragen wollte ich mich im Rahmen meiner psychologischen Diplomarbeit widmen und nach den »guten Gründen« für Nuklearwaffen suchen.

Ziele und Methoden der Arbeit

Inspiriert wurde ich dabei durch die IPPNW, welche im Rahmen ihres Programms »Dialogue with Decision-makers« regelmäßig mit PolitikerInnen und DiplomatInnen über die medizinischen Folgen eines Atomkrieges und über nukleare Abrüstung diskutieren.5 Die ÄrztInnen beziehen sich dabei auf ihr medizinisches Berufsethos, stellen nukleare Sicherheitsstrategien in Frage und versuchen, bei ihren GesprächspartnerInnen eine Einstellungsänderung zu Nuklearwaffen zu erreichen.6

Ziel der Diplomarbeit war es, Argumente und Assoziationen zu diesem sicherheits- und abrüstungspolitischen Thema zu kategorisieren und ein »System persönlicher Argumentationslinien« zu erstellen, das zur Vorbereitung von friedenspolitischen Dialogen genutzt werden kann. Denn, so die Vermutung, um ein glaubwürdiges und nachhaltiges Lobbying für nukleare Abrüstung zu betreiben, sollten NuklearwaffengegnerInnen die vielfältigen Gründe der EntscheidungsträgerInnen verstehen. Ein weiteres Ziel der Arbeit bestand darin, Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung und Praxis auf die Abrüstungs- und Nichtverbreitungsdebatte zu übertragen.

Für die Datenerhebung führte ich qualitative Interviews mit 13 Abgeordneten des Deutschen Bundestages (aus den Ausschüssen für Auswärtiges, Verteidigung sowie Abrüstung und Nichtverbreitung) sowie mit zwei RegierungsvertreterInnen.7

Das System persönlicher Argumentationslinien

Auf einer inhaltlich-thematischen Ebene können verschiedene Argumentationslinien für und gegen Nuklearwaffen unterschieden werden. So kann z.B. unter einem kognitiv-funktionalen Gesichtspunkt argumentiert werden, dass Nuklearwaffen in einer multipolaren Welt weder sinnvoll eingesetzt werden können noch wirksam abschrecken. Eine ethisch-moralische Begründung verneint jegliche Legitimität der unterschiedslos tötenden Waffe und verweist auf übergeordnete Werte wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit.8

Die kontextuelle Ebene bezieht sich auf Strukturen und Entscheidungsprozesse des politischen Systems und somit auf Aspekte, die das Thema Nuklearwaffen indirekt betreffen. Hier zeigt sich, dass abhängig von der politischen Agenda das Thema als mehr oder weniger wichtig sowie als unterschiedlich geeignet für die öffentliche Diskussion eingeschätzt wird. Die Zugehörigkeit zur Regierungspartei führt u.U. dazu, dass aufgrund von Koalitionsvereinbarungen Anträge der Oppositionsparteien trotz inhaltlicher Zustimmung abgelehnt werden.9

Auf einer weiteren Ebene werden psychologische Phänomene der sozialen Kognition und der Informationsverarbeitung angesiedelt, so z.B. die Wahrnehmung anderer, die Bereitschaft zur Selbstreflexion und Perspektivenübernahme. Es zeigen sich auch unterschiedliche Strategien im Umgang mit der thematischen Komplexität: Komplexe Vorgänge werden auf lineare Ursache-Wirkung-Zusammenhänge reduziert oder abgesichertes Wissen wird durch Spekulationen ersetzt. Manche GesprächspartnerInnen thematisierten dagegen offen ihr Nicht-Wissen und mahnten zur Demut hinsichtlich der Komplexität des Themas.

Schließlich verdeutlicht eine persönliche Ebene, dass jede/r EntscheidungsträgerIn einen individuellen Bezug zum Thema »Nuklearwaffen« hat, abhängig von biographischen Ereignissen, persönlichen Idealen, politischen Ambitionen oder Befürchtungen und Gefühlen, die mit dem Thema in Verbindung gebracht werden.

Nuklearwaffen – ein „lyrisches Thema“?

In den Gesprächen dominierte oft eine rationale, verhandlungstaktische Denkweise. So wurden Nuklearwaffen z.B. als ein „lyrisches Thema“ beschrieben, taktische Nuklearwaffen werden als „Verhandlungsmasse“ gesehen, oder es wird gegen einen Abzug der Nuklearwaffen aus Deutschland argumentiert, weil dies Vorteile im internationalen Beziehungsgeflecht gefährden könnte. Durch das nüchterne Abwägen von Vor- und Nachteilen geraten im sicherheitspolitischen Diskurs die humanitären Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes in den Hintergrund. Bei der Lobbyarbeit für nukleare Abrüstung erscheint daher eine Rückbesinnung auf das konkret Menschliche und auf übergeordnete Werte wichtig. Es stellt sich allerdings die Frage, unter welchen Umständen diese »Appelle an die Menschlichkeit« von EntscheidungsträgerInnen angenommen und nicht als »zu emotional« verworfen werden.

Ein Fazit der Diplomarbeit ist, dass ein Dialog, der menschliches Leid und ethische Werte in den Vordergrund stellen will, auf einer persönlichen Ebene und in einer vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden sollte. Durch offene Fragen und aufmerksames Zuhören können altbekannte Argumente, diplomatische Floskeln und polarisierende Schuldzuweisungen überwunden werden. Der positive Effekt des empathischen Zuhörens ist aus der psychologischen Beratung und Therapie bekannt (vgl. z.B. Rogers 2006), und er kann auch im Dialog mit EntscheidungsträgerInnen genutzt werden, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen – die im besten Falle auch im Gegenüber den Wunsch nach Verständnis fördert und eine Einstellungsänderung erzeugt. In den Gesprächen mit meinen InterviewpartnerInnen habe ich wiederholt die Erfahrung gemacht, dass sich die Atmosphäre positiv veränderte, wenn ich eine offene und persönliche Frage stellte, z.B. nach biographischen Erinnerungen, persönlichen Idealen oder konkreten Ängsten.

Die perspektivische Attributionstendenz

Ein aus der sozialpsychologischen Forschung bekanntes Phänomen beschreibt die Tendenz, fremdes Verhalten mit Verweis auf Charakter und Persönlichkeit zu verstehen (er ist aggressiv), das eigene Verhalten dagegen vor dem Hintergrund kontextueller Zwänge zu erklären (ich musste mich verteidigen). Im Bereich der internationalen Beziehungen wird dieses Phänomen als »perspektivische Attributionstendenz« bezeichnet (Fiedler 2004, S.108) und verweist auf den Doppelstandard, eigenes und gegnerisches Verhalten unterschiedlich zu interpretieren. Ganz in diesem Sinne erklärte ein Interviewpartner, dass es vernünftig sei, eigene Nuklearwaffen zu besitzen oder durch einen nuklearen Schutzschirm der Verbündeten geschützt zu sein, solange es Nuklearwaffen gäbe – und nannte etwas später die Bestrebungen mancher Nationen nach Nuklearwaffen ein Zeichen von Machtgelüsten und Geltungsdrang.

Direkte vs. strukturelle Gewalt

Einer der Begründer der Friedensforschung, Johan Galtung, unterscheidet »direkte Gewalt« von »struktureller Gewalt« (Fuchs und Sommer 2004, S.8) und beklagt, dass das Konfliktgeschehen (direkt beobachtbare Gewalt, Vertragsverletzungen einzelner) meist mit der Konfliktformation verwechselt wird, die alle Beteiligten umfasst, welche an einer Lösung des Konfliktes interessiert sind (Galtung et al. 2003, S.38). Vergleichbar zeigte sich in den Interviews, dass Fragen nach spontanen Assoziationen zum Thema Nuklearwaffen meist im Hinblick auf ihren Einsatz und ihre Zerstörungskraft beantwortet wurden. Wenn also im Gespräch über Nuklearwaffen und nukleare Abrüstung vor allem die Gefahren und mögliche Vertragsverletzungen im Zentrum stehen (z.B. nuklearer Terrorismus oder Vermutungen über ein iranisches Atomwaffenprogramm), strukturelle Faktoren (z.B. die Tatsache, dass die fünf offiziellen Nuklearwaffenstaaten zugleich die ständigen Mitglieder des UN Sicherheitsrates sind) hingegen vernachlässigt werden, kann dies einem Erfolg von Abrüstungsbemühungen im Wege stehen.

Auch die »positive Sicherheitsgarantie«, die im NATO-Vertrag verankert ist und den Bündnispartnern ohne Nuklearwaffen einen »nuklearen Schutzschirm« verspricht, birgt bei genauem Hinsehen Aspekte struktureller Gewalt. Die Begründung der USA lautet, man dürfe die Bündnispartner nicht im Stich lassen, da sie sonst versucht seinen, selbst Nuklearwaffen zu entwickeln (vgl. Hall und Steffen 2010, S.13). Dies klingt nach einem Schutzversprechen, das weniger auf Kooperation und Vertrauen zwischen den Bündnispartnern, sondern vielmehr auf Angst und Misstrauen gegenüber dem eigenen Schützling beruht.

Die Frage nach dem Warum

Mit Rothman (1997) lässt sich argumentieren, dass die Frage nach dem Warum und nach den »guten Gründen« helfen kann, diese weniger offensichtlichen, strukturellen Aspekte in den Vordergrund zu rücken und somit altbekannte Argumentationsmuster aufzubrechen und Verhandlungen voranzubringen. Rothman betont – wie viele andere Experten der Konfliktforschung – die Wichtigkeit, Motive und Bedürfnisse zu erkennen, welche den kontroversen Positionen zugrunde liegen. Dies gilt besonders, wenn es sich um einen so genannten Identitätskonflikt handelt, der nicht nur Ressourcen und Interessen sondern auch tiefer liegende Aspekte wie Würde, Stolz und Sicherheit betrifft (Rothman 1997, S.10). Die meisten meiner InterviewpartnerInnen verbanden mit dem Thema Nuklearwaffen sowohl Macht- und Statussymbolik wie auch Sicherheits- und Schutzbedürfnisse, und es kann deshalb angenommen werden, dass die Kontroverse um Abrüstung und Nichtverbreitung identitätsrelevante Aspekte beinhaltet. Der iranische Präsident Ahmadinejad verwies in seiner Rede auf der diesjährigen Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages genau auf diese Aspekte: „Das Streben nach nachhaltiger Sicherheit ist ein inhärenter und instinktiver Wesenzug der Menschen und ein historisches Trachten. Kein Land kann es sich leisten, seine Sicherheit zu ignorieren.“ 10

Zur konstruktiven Bearbeitung eines Identitätskonfliktes schlägt Rothman vor, nach einer Phase der Polarisierung und gegenseitigen Beschuldigungen eine Phase der analytischen Empathie und Selbstreflexion einzuleiten. In dieser zweiten Phase wenden sich die Beteiligten den Gründen und Bedürfnissen ihres Gegenübers zu und hinterfragen die eigenen Positionen. Zwei Zitate, wiederum aus Reden der Überprüfungskonferenz 2010, veranschaulichen die polarisierende Haltung: „Diejenigen, die den ersten Atombombeneinsatz verübten, werden zu den am meisten Gehassten in der Geschichte gezählt“, zeigte Ahmadinejad in seiner Rede auf die USA. Sich selbst präsentierte er als Vertreter „einer großartigen, zivilisierten und kulturreichen Nation Iran, welche schon immer der Herold war für die Verehrung Gottes, für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.“ 11 US-Außenministerin Clinton merkte im Gegenzug an, dass sie einen Präsidenten und ein Land repräsentiere, die für die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt stehen, zeigte ihrerseits auf die Außenseiter, die die Regeln des Systems verletzten, und tadelte den Iran als das einzige Land im Konferenzsaal, das sich nicht an die Regeln des Systems halte – und wiederholte: „das einzige!“ 12

Dieser bilderbuchartige Schlagabtausch mag amüsieren, doch er ist auch Grund zur Besorgnis, wenn davon ausgegangen werden kann, dass gegenseitige Schuldzuweisungen nicht den benötigten fruchtbaren Boden bilden, auf dem die vielen konstruktiven Lösungsvorschläge gedeihen könnten, die bereits in die Debatte eingebracht wurden.

Es ist fraglich, ob der Zeitpunkt kommen wird, an dem eine der Konfliktparteien innehält und sagt: „Wir haben Angst vor Euch. Wir fühlen uns in unserer Würde verletzt“ und offen fragt: „Warum verstoßt ihr gegen die Regeln? Was sind Eure Ängste und Wünsche?“ und sich dann die Antwort wirklich anhört.

Der Teufelskreis der Nicht-Abrüstung und Weiterverbreitung

Teufelskreis der Nicht-Abrüstung und Weiterverbreitung

Abb. 1. Der Teufelskreis der Nicht-Abrüstung und Weiterverbreitung stellt in vereinfachter Weise dar,
wie Akteure des Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes sich gegenseitig wahrnehmen und aufeinander
reagieren; nach dem Teufelskreisschema von Schulz von Thun (2001)

Das Teufelskreisschema aus der Kommunikationspsychologie (Schulz von Thun, 2001, S.28), das zur Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungsdynamik dient, könnte helfen, diese Polarisierung und die Suche nach dem Hauptschuldigen zu überwinden (siehe Abb. 1).

In der systemischen Psychotherapie werden Ursachen von Kommunikationsschwierigkeiten oder psychischen Störungen nicht in erster Linie dem Individuum, sondern einem (Fehl-)Funktionieren des ganzen Regelsystems zugeschrieben (z.B. der Familie oder der Firma). In ähnlicher Weise kann ein meta-perspektivischer Blick auf die Kontroverse in der Abrüstungsdebatte helfen, gegenseitige Schuldzuweisungen zu überwinden und die Verantwortung aller beteiligter Parteien für Erfolge in der Abrüstung und Nichtverbreitung herauszustreichen.

Visionäre Abrüster und kontrollierende Realisten

Abb. 2. Visionäre Abrüster und kontrollierende Realisten – wie sie sich selber sehen und was sie ihren Gegnern vorwerfen; nach dem Werte- und Entwicklungsquadrat von Schulz von Thun (2001)

Daran schließt die Frage an, welche Vorgehensweisen und welche konkreten Maßnahmen Erfolg versprechen. In manchen Interviews wurde darauf hingewiesen, dass Abrüstungsziele „realistisch“ formuliert und Vorgehensweisen „rational“ durchdacht sein sollten. Andere Gesprächspartner betonten wiederum die Wichtigkeit von Vertrauen, Mut und Visionen. Das Werte- und Entwicklungsquadrat (Schulz von Thun, 2001, S.42) kann hier zur schematischen Veranschaulichung dienen, wie »Realisten« und »Visionäre« ihre eigenen Werte hochhalten und bejubeln, während sie die Werte und Prioritäten der anderen belächeln oder gar verabscheuen (siehe Abb. 2).

Die Forderung der Visionäre wird von den Rationalisten als unrealistisch oder naiv bezeichnet, umgekehrt prangern die Visionäre die Mutlosigkeit und das imperialistische Gehabe ihrer Kontrahenten an. Keine der Parteien fragt nach, warum die Gegenpartei eine bestimmte Vorgehensweise bevorzugt. Dabei wird übersehen, dass beide Seiten wichtige Aspekte einer konstruktiven Herangehensweise verkörpern, die in ihrer Kombination der Komplexität des Themas gerecht werden könnten: in der Balance zwischen einer wohlüberlegten Einschätzung der existierenden Gefahren und einer mutig-visionären Haltung, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, neue Lösungswege zu finden – hin zu einer Welt ohne Nuklearwaffen.

Literaturverzeichnis

Blum, Inga (2008): Evaluation von Dialogen und Gesprächen über Nuklearwaffen zwischen Hamburger Studierenden, Ärzten der IPPNW, Politikern und Diplomaten. Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg, Occasional Paper No. 6.

Fiedler, Klaus (2004): Soziale Kognition und internationale Beziehungen. In: Sommer, Gert und Fuchs, Albert (Hrsg.), Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.103-115). Weinheim: Beltz.

Fuchs, Albert (1998): Wo bleibt die Moral bei der Geschicht’? Parteizugehörigkeit und politisch-moralische Situationsbeurteilung als Determinanten der Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien. Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Arbeitspapier Nr. 8.

Fuchs, Albert & Sommer, Gert (2004): Ansatz – Ziele und Aufgaben – Kontroversen. In: Sommer, Gert & Fuchs, Albert (Hrsg.), Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.3 – 30). Weinheim: Beltz.

Galtung, Johan, Jacobsen, Carl G. & Brand-Jacobsen, Kai Frithjof (2003): Neue Wege zum Frieden. Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Hall, Xanthe & Steffen, Jens-Peter (2010): Wenn Worten nicht die richtigen Taten folgen. Vorraussetzungen für den Erfolg der Überprüfungskonferenz in New York. In: W&F-Dossier 64, Next Stop New York 2010 – Hintergründe zu den NVV-Verhandlungen, April 2010.

Müller, Harald (2009): Die Zukunft der nuklearen Ordnung. In: Staack, Michael (Hrsg.): Die Zukunft der nuklearen Ordnung. Bremen: Edition Temmen.

Rogers, Carl (2006): Die Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta.

Rothman, Jay (1997): Resolving Identity-Based Conflict in Nations, Organization, and Communities. San Francisco, California: Jossey Bass.

Schulz von Thun, Friedemann (2001): Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Anmerkungen

1) http://www.ippnw.de.

2) Vgl. Pressemittelung der IPPNW vom 9. April 2008; http://www.ippnw.de/atomwaffen/gesundheitliche-folgen.html.

3) Einige Nichtregierungsorganisationen arbeiteten einen Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention aus, Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot von Nuklearwaffen fanden bislang aber nicht statt; siehe http://www.atomwaffena-z.info/fileadmin/user_upload/pdf/nwc.pdf.

4) Der Wortlaut des Vertrags sowie Informationen zu seiner Geschichte und zur Überprüfungskonferenz finden sich in W&F-Dossier 64, Next Stop New York 2010 – Hintergründe zu den NVV-Verhandlungen, April 2010.

5) Blum (2008) evaluierte mehrere dieser IPPNW-Dialoge und zeigte auf, dass eine systematische Vorbereitung und eine klare Zielsetzung Bedingung für einen erfolgreichen Dialog darstellen.

6) Einen Einblick in das Programm »Dialogues with Decision-makers« der IPPNW sowie eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse meiner Diplomarbeit finden sich in der Publikation »Dialogues on nuclear disarmament with decision-makers«, die anlässlich des IPPNW-Weltkongresses 2010 in Basel veröffentlicht wurde.

7) Die Interviews wurden im Mai und Juni 2009 durchgeführt, während der 16. Legislaturperiode und kurz vor den Neuwahlen des Deutschen Bundestages am 27. September 2009.

8) Die Einstellungsdimensionen »kognitiv-funktional« und »ethisch-moralisch« beziehen sich auf die Militarimus-Pazifismus-Skala von Cohrs, Christopher J. (2004). In: Sommer, Gert und Fuchs, Albert: Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim u.a.: Beltz.

9) So zeigte auch Fuchs (1998, S.1), dass bei der Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr im Ehemaligen Jugoslawien die Regierungsnähe der Parteien „um ein Vielfaches bedeutsamer war für das Entscheidungsverhalten als die moralische Perspektive.“

10) Die Rede des iranischen Präsidenten ist einsehbar unter http://www.reachingcriticalwill.org/legal/npt/revcon2010/statements/3May_Iran.pdf. Das Zitat wurde von der Autorin aus dem Englischen übersetzt und lautet im Originaltext: „The pursuit of sustainable security is an inherent and instinctive part of human being and a historical quest. No country can afford to ignore its security“.

11) Im Original: „Those who committed the first atomic bombardment are considered to be among the most hated in history […] Presenting a great, civilized and rich-in-culture nation of Iran, who has always been the herald of worshiping God, justice and peace in the world […]“.

12) Die Rede von US-Außenministerin Hillary Clinton vor der Überprüfungskonferenz ist einsehbar unter http://www.reachingcriticalwill.org/legal/npt/revcon2010/statements/3May_US.pdf.

Sarah Maria Koch ist diplomierte Gebärdensprachdolmetscherin, studierte in Bern und Hamburg Psychologie und lebt zurzeit in Wien. Ihre Diplomarbeit entstand unter der Betreuung von Prof. Alexander Redlich und Prof. Martin Kalinowski am Psychologischen Institut der Universität Hamburg in Kooperation mit dem Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) und wurde mit dem Gert-Sommer-Preis 2010 des Forums Friedenspsychologie auszeichnet. Die Arbeit ist einsehbar unter http://www.znf.uni-hamburg.de/diplomKoch.pdf. Die Autorin würde sich über Rückmeldungen und fachlichen Austausch sehr freuen: sarah.maria.koch@gmail.com.

Nukleare Teilhabe

Nukleare Teilhabe

Rechtliche und politische Knackpunkte

von Peter Becker

Die Stationierung von US-Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik ist ein Politikum. Zwar hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP angekündigt, über deren Abzug verhandeln zu wollen, aber ein Ergebnis wird von der Entwicklung eines strategischen Konzepts der NATO abhängig gemacht. Dabei verstößt die „nukleare Teilhabe“ eindeutig gegen internationales Recht.

Deutschland propagiert eine nationale »nukleare Teilhabe«, mit der ein Mitentscheidungsrecht über den Einsatz von Atomwaffen reklamiert wird, wenn dies deutsche Interessen gebieten.1 Für einen konkreten Anwendungsfall stehen die am deutschen Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz wohl noch stationierten amerikanischen 20 Atombomben bereit. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP wurde nunmehr vereinbart, Deutschland wolle sich im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.2 Wie ist die Rechtslage, was sind die Konsequenzen?

Worum geht es?

Die Bundesregierung hat mit den »Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.07. 1994 festgelegt, dass die Bundeswehr Flugzeugstaffeln für die »nukleare Teilhabe« vorhält. Diese wurde auch noch im Weißbuch 2006 bekräftigt. Die Bundeswehr nimmt auch an der nuklearen Planungsgruppe der NATO teil. Konkret würde die nukleare Teilhabe ausgeübt werden durch die Piloten des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel, wo Tornado-Kampfjets stationiert sind.

Zwar stand die nukleare Teilhabe von Anfang an und bis heute unter dem Vorbehalt, dass die Codes zum Scharfmachen der Waffen bis zum Einsatz in den Händen der US-Militärs verbleiben, das auch in Büchel präsent ist.3 Aber Beladung der Jets, Transport und Abwurf lägen in deutscher Hand.

In einer Neufassung der »Druckschrift Einsatz Nr. 03 Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten« des Bundesverteidigungsministeriums heißt es nun wie folgt (S.5): „Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen in bewaffneten Konflikten verboten: Antipersonenminen, atomare Waffen, biologische Waffen und chemische Waffen“. Daraus ergibt sich, dass diese Dienstvorschrift, Bestandteil der Zentralen Dienstvorschrift 15/2, die direkte nukleare Teilhabe verbietet. Allerdings spricht die Dienstvorschrift nur vom „Einsatz … in bewaffneten Konflikten“. Was gilt vorher? Der Koalitionsvertrag macht die Geltendmachung der Forderung nach dem Abzug der Atomwaffen in Büchel ferner von der Beschlusslage nach Überarbeitung der NATO-Strategie abhängig. Die Konsequenzen sind also bei weitem nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Ferner: Was ist mit der nuklearen Teilhabe im Übrigen?

Die Rechtslage

a) Grundsätze

Der Einsatz von Atomwaffen fällt zunächst grundsätzlich unter die Bedingungen der UN-Charta für die Ausübung von Gewalt. Maßgeblich ist das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 der Charta, das als »allgemeine Regel des Völkerrechts« nach Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts gilt. Gewalt darf daher nur ausgeübt werden, wenn der Sicherheitsrat zugestimmt hat (Art. 39, 42 der Charta) oder wenn eine Selbstverteidigungslage nach Art. 51 vorliegt. Dort heißt es auch, dass das Selbstverteidigungsrecht nur besteht „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“

Speziell für den Einsatz von Atomwaffen gelten die Grundsätze des IGH-Gutachtens vom 08.07.19964, das festgestellt hat, „dass die Bedrohung durch oder Anwendung durch Atomwaffen grundsätzlich (‚generally') im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts stehen würde.“

Nach den Prinzipien des humanitären Kriegsvölkerrechts wäre der Atomwaffeneinsatz allenfalls völkerrechtsgemäß, wenn er

zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung unterscheiden könnte,

keine unnötigen Leiden verursachte und

das Gebiet unbeteiligter und neutraler Staaten nicht in Mitleidenschaft zöge.

Es ist evident, dass der Einsatz von Atombomben, auch der in Büchel stationierten, diese Prinzipien nicht einhalten kann. Deren Einsatz wäre daher völkerrechtswidrig.

Eine Ausnahme hat der IGH ferner nur für den Fall einer extremen Notwehrsituation gesehen (Leitsatz E5), in dem die Existenz des Staates auf dem Spiel steht. Diesen Fall hat der IGH nicht vertieft, weil er voraussetzen würde, dass „saubere Atomwaffen“ zum Einsatz kommen, die das humanitäre Völkerrecht zu beachten erlauben.6 Zudem müssten sich die Nuklearstrategien von Atomwaffenstaaten und ihren Verbündeten zukünftig allein an einer solchen Selbstverteidigungslage ausrichten7, was nicht erkennbar ist. Vielmehr geht die strategische Beschlusslage der USA und der NATO dahin, dass der Einsatz von Atomwaffen auch außerhalb extremer Notwehrlagen zulässig sein soll, wie zu zeigen sein wird. Er wäre damit völkerrechtswidrig.

b) Die US-Sicherheitsstrategie

Die US-Sicherheitsstrategie umfasst das Recht zum Erstschlag.8 Aber: Das Gewaltverbot der UN-Charta gilt auch für die USA. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates darf militärische Gewalt also nur im Falle eines bewaffneten Angriffs auf die USA ausgeübt werden. Selbstverteidigung ist nach Art. 51 UN-Charta gegen einen bewaffneten Angriff nur erlaubt, solange nicht der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Friedens getroffen hat. Voraussetzung ist eine Selbstverteidigungslage: Es muss ein Angriff seitens eines anderen Staates gegeben sein; gleichzusetzen ist ein Angriff, für den ein anderer Staat völkerrechtlich verantwortlich ist. Dieser Angriff muss im Zeitpunkt der Selbstverteidigung noch andauern.

Die Selbstverteidigung setzt also eine Angriffslage voraus, die evident sein muss. Eine Bedrohungslage reicht nicht aus. Deshalb besteht Einigkeit unter den Völkerrechtlern, dass die präventive Selbstverteidigung auf Fälle offensichtlich unmittelbar bevorstehender und anders nicht abwehrbarer Angriffe begrenzt ist.9

In der nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 (NSS 2002), die der Präsident der USA am 01. Juni 2002 verkündet hat, ist vorgesehen, dass die USA zur antizipatorischen Selbstverteidigung (»Preemptive Action«) ermächtigt sind. Dabei handelt es sich nicht um antizipatorische Selbstverteidigung in der Situation eines unmittelbaren Angriffs. Es reicht vielmehr die Möglichkeit, dass es irgendwann einmal zu einem Angriff kommen könnte, beispielsweise dann, wenn der potentielle Angreifer nach Auffassung der USA ein »Schurkenstaat« ist und den Besitz von Massenvernichtungsmitteln anstrebt.10 In der neueren Nationalen Sicherheitsstrategie vom März 2006 ist dieser Grundsatz nicht aufgegeben; vielmehr wird betont, dass die USA notfalls Präventivkriege führen werden.11 Daraus ergibt sich, dass die USA sich selbst als zum Erstschlag ermächtigt sehen, ohne dass eine Selbstverteidigungslage im Sinne der UN-Charta gegeben ist.

c) US- und NATO-Erstschlagsdoktrin unter Einschluss von Atomwaffen

Die USA haben in der »Nuclear Posture Review« 2001 und 2005 bekräftigt, dass die Erstschlagsdoktrin auch Atomwaffen einschließt. Dieser Grundsatz gilt auch für die NATO: Er wurde festgehalten in ihrem strategischen Konzept von 1999 anlässlich des NATO-Gipfels zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der NATO, durch einen Beschluss der Regierungschefs. Dieser nukleare Erstschlag verstößt aber nicht nur gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, sondern auch gegen die Grundsätze des IGH-Gutachtens. Außerdem ist hinzuweisen auf das Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen vom 22.06.1973, noch geschlossen zwischen der Sowjetunion und den USA. Dort haben die Vertragspartner vereinbart, die Gefahr eines Atomkriegs und der Anwendung von Atomwaffen zu beseitigen und sich insbesondere der Androhung und der Anwendung von Gewalt gegenüber der anderen Vertragspartei, gegenüber deren Verbündeten und gegenüber sonstigen Ländern zu enthalten. Ihre Verhaltenspflichten haben sie auf ihre Beziehungen zu Ländern ausgedehnt, die nicht Vertragsparteien des Abkommens sind, soweit sich daraus das Risiko eines Atomkriegs ergibt. Hier könnte man an den Iran denken. Das Abkommen ist weiter wirksam.

d) Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag

Die USA verstößt durch die Überlassung der Atombomben in Büchel auch gegen Art. I des Nichtverbreitungs-Vertrages, der die Atomwaffenstaaten verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden mittelbar oder unmittelbar weiterzugeben.“ 12

Art. II sieht für Deutschland als Nicht-Kernwaffenstaat die korrespondierende Verpflichtung vor, keine Atomwaffen anzunehmen. Also trifft dieses Verbot des NV-Vertrages auf das Verhältnis der USA und Deutschland zu. Die Atombomben dürfen nicht deutscher Hoheit unterstellt werden.

e) US-Präsident als Ausüber deutscher Hoheitsgewalt

Der US-Präsident hat sich den Einsatz amerikanischer Atomwaffen persönlich vorbehalten. Er nähme damit rechtlich deutsche Hoheitsgewalt wahr, weil die Atomwaffen von deutschem Hoheitsgebiet aus eingesetzt würden. Die Frage ist, ob der US-Präsident nach Art. 24 Abs. 1 GG als »zwischenstaatliche Einrichtung« mit einer solchen Rechtsausübung betraut werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage für das Entscheidungsrecht des US-Präsidenten über den Einsatz der (seinerzeit) auf dem Boden der BRD stationierten Pershing II und Cruise Missiles bejaht.13 Im Fachschrifttum ist diese Entscheidung ganz überwiegend auf Kritik gestoßen14, denn der US-Präsident handelt dabei als Staatsorgan der USA. Die Entscheidung wäre aber, würde der Einsatz von Deutschland aus erfolgen, der NATO zuzurechnen. Ein Entscheidungsrecht des US-Präsidenten wäre nur dann zulässig, wenn der NATO insoweit ein umfassendes Aufsichts- und Kontrollrecht zustände. Daran fehlt es. Also liefert auch die für Deutschland in Anspruch genommene Rechtskonstruktion zum Einsatz der US-Atombomben keine verfassungsmäßige Rechtsgrundlage.

Die Rechtsfolgen für Deutschland, Rechtsschutz

Wenn der Einsatz von Atombomben durch die USA oder die NATO rechtswidrig ist, dann gilt dies auch für Deutschland, weil eine rechtswidrige Kriegsführung von deutschem Boden aus gegen die deutsche Verfassung und gegen den NATO-Vertrag, der in Art. 1 das Gewaltverbot der UN-Charta bekräftigt, gegen den 2+4-Vertrag sowie gegen den NV-Vertrag verstößt. Rechtswidrig ist auch die »nukleare Teilhabe« im Übrigen, also die konzeptionelle und logistische Tätigkeit im Bundesverteidigungsministerium, in der Bundeswehr und innerhalb der nuklearen Planungsgruppe der NATO, soweit es um den Einsatz von Atomwaffen geht.

Da die Bundesrepublik permanent gegen diese rechtlichen Vorgaben verstößt, stellt sich die Frage nach dem Rechtsschutz. Dazu ist aufmerksam zu machen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Erweiterung des Flughafens Leipzig/Halle15 und den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zum Flugplatz Ramstein16. In beiden Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass für die Zulassung von Flugbewegungen ausländischen Militärs von deutschem Boden aus über Art. 25 GG das Gewaltverbot der UN-Charta gilt. Wörtlich heißt es: „Luftfahrzeugen, die an einem gegen das völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot verstoßenden militärischen Einsatz bestimmend mitwirken, darf die Benutzung des deutschen Luftraums nicht gestattet werden.“

Bis vor kurzem waren in Ramstein noch US-Atombomben stationiert. Ob sie tatsächlich abgezogen sind, ist offen. Die Bundeswehr darf jedenfalls die Bücheler Atombomben nicht »einsetzen« und US-Militär die Androhung des Einsatzes und den Einsatz nicht gestatten.

Diese rechtliche Vorgabe gilt nicht nur für den Staat. Vielmehr hat auch der Bürger ein individuelles Klagerecht, um ein entsprechendes Verhalten zu erzwingen. Schon nach dem Wortlaut des Art. 25 GG erzeugen „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts … Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz geschrieben hat, hat das mit den Worten von Carlo Schmid wie folgt klargestellt:

„Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen.“ 17

Daraus ergibt sich ein individuelles Klagerecht, das sowohl auf Basis des Art. 25 als auch des Art. 26 GG gilt, der das Verbot des Angriffskrieges regelt. Der Bürger könnte also einem geplanten Einsatz von Atomwaffen entgegentreten und er kann auch auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe klagen. An einem Verfahren wird gearbeitet.

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch für die deutsche Sicherheitspolitik, S.32.

2) Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, S.112.

3) Diese Konstruktion wirft besondere verfassungsrechtliche Probleme auf; siehe dazu unten »e) US-Präsident als Ausüber deutscher Hoheitsgewalt«.

4) Abgedruckt in: IALANA (Hrsg.), Atomwaffen und Völkerrecht, Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 08.07.1996, 1997, S.29 ff.

5) Ebd., S.66.

6) Bedjaoui, in: Bedjaoui/Bennoune/Deiseroth/Shafer, Völkerrechtliche Pflicht zur nuklearen Abrüstung?, IALANA 2009, 29, 42 ff.

7) Deiseroth, in: Bedjaoui u.a., a.a.O. (Fußn. 60), 13.

8) Murswiek, Dietrich (2003): Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 1014, s. Fußnote 50.

9) Murswiek, ebd., 1017 mit zahlreichen Nachweisen; Kurth, Michael E. (2003): Der 3. Golfkrieg aus völkerrechtlicher Sicht, Zeitschrift für Rechtspolitik 2003, 195 ff.

10) NSS (2002), S.15.

11) NSS (2006), S.18.

12) Dazu Deiseroth, Dieter in: Umbach, Dieter C. & Clemens, Thomas (Hrsg.) (2002): Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Art. 24, Zwischenstaatliche Einrichtungen, Rz 36 m. w. N., insbesondere in Fußnote 91.

13) BVerfGE 68, 1, 89 ff.

14) Deiseroth, a.a.O. (Fußnote 11), Rz 35, insb. Fußnoten 84 f. m. w. N.

15) Urteil vom 24.07.2008, BVerwG 4 A 3001.07.

16) Beschluss vom 20.01.2009, BVerwG 4 B 45/08.

17) Zitat Carlo Schmid, 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 15.10.1948, in: Pikart, Eberhard & Werner, Wolfram (1993): Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 5/I, S.313 ff., 321; vgl. dazu das Gutachten von Andreas Fischer-Lescano (2008): Militärbasen und militärisch genutzte Flughäfen in Deutschland, Rechtsgutachten im Auftrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, S.16 ff.; ders. 2007): Subjektivierung öffentlich-rechtlicher Sekundärregeln, die Individualrechte auf Entschädigung und effektiven Rechtsschutz bei Verletzungen des Völkerrechts, Archiv des Völkerrechts (AöR), Bd. 45 (2007), S.299-381; vgl. schließlich die Veröffentlichung des Verfassers, Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Kriegsführung, vorgesehen für das Buch der IALANA zur IALANA-Konferenz vom 25./26. Juni 2009 in Berlin. Dort wird insbesondere die im verfassungsrechtlichen Schrifttum herrschende Auffassung näher dargestellt, aus der sich ergibt, dass der Bürger aus Art. 25 Satz 2 GG ein individuelles Klagerecht auch bei Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots hat.

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der Deutschen IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms)

Die ersten Atombomben

Die ersten Atombomben

Die Motive der beteiligten Wissenschaftler

von Karl Lanius

Der Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 markiert den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit (Einstein). Um Motive und Reaktionen der Menschen zu verstehen, die an der Entwicklung, der Fertigung und dem Einsatz der Bombe mitwirkten, muss man die Zeit näher betrachten, in der sie entstand. Zweifellos sind der Bau der Bombe und die Machtergreifung Hitlers untrennbar miteinander verknüpft – nicht nur durch den Zweiten Weltkrieg, den die Aggression des Dritten Reiches auslöste, sondern auch durch den Exodus der Wissenschaftler in Folge der Rassenpolitik.

Das erste antijüdische Gesetz des »Dritten Reiches« wurde bereits am 7. April 1933 erlassen, rund zwei Monate nach der »Machtübernahme«. Das Gesetz ordnete an, Beamte nicht-arischer Abstammung in den Ruhestand zu versetzen. Die erste Durchführungsverordnung definierte jeden als nicht arisch, der von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammte. Es genügte, wenn ein Eltern- oder Großelternteil jüdisch war. Universitäten waren Einrichtungen des Staates – Professoren waren Beamte. Universitäten wie Berlin und Frankfurt verloren jeweils ein Drittel des Lehrkörpers. Rund ein Viertel der Physiker Deutschlands verloren ihre Stellung und damit ihren Lebensunterhalt. Um zu überleben, mussten sie emigrieren.

Einstein, der prominenteste Wissenschaftler Deutschlands, ein engagierter Pazifist, verließ Deutschland bereits 1932. Auch einige der dort arbeitenden ungarischen Physiker gingen vor 1933. Sie wussten aus eigenem Erleben in ihrer Heimat, was vom herannahenden Faschismus zu erwarten war. Sie deuteten die Zeichen der Zeit richtig. Wichtigstes Zielland der Emigranten waren die Vereinigten Staaten. Rund hundert der aus Deutschland flüchtenden Physiker fanden hier Arbeitsplätze und eine neue Heimat.

Briefwechsel mit Folgen

Noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wanderten junge Physiker durch Europa, um hervorragende Gelehrte ihres Faches als Lehrer aufzusuchen. Damit knüpften sie an die Tradition von Handwerkern und Scholaren an. So formte sich eine überschaubare internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die – mittels Briefen, wissenschaftlichen und persönlichen Kontakten und Freundschaften gut vernetzt und in ständigem Kontakt – in unbekannte Naturbereiche vordrangen. Basis dafür waren Meinungsfreiheit und völlige Offenheit in der Kommunikation. Revolutionierende Entdeckungen und Ideen verbreiten sich auf diese Art sehr schnell.

Von Berlin, wo Otto Hahn und Fritz Straßmann kurz vor Weihnachten 1937 die Spaltung des Urankerns unter Neutronenbeschuss beobachteten, gelangte die Nachricht über den Nachweis der Kernspaltung über Schweden und Dänemark schließlich in die USA. Ein zentraler Diskussionspunkt unter den Physikern war die Geheimhaltung ihrer Untersuchungen. (Es sei daran erinnert, dass im März 1939 Böhmen und Mähren mit dem »Segen« Frankreichs und Englands zum deutschen Protektorat wurden.)

Die engagierten ungarischen Physiker in den USA, Leó Szilárd, Eugene Wigner und Edward Teller, forderten eine strikte Geheimhaltung. Dagegen stand die Ansicht Niels Bohrs. „Er setzte sich seit Jahrzehnten für den Aufbau einer internationalen Gemeinschaft der Forscher ein, die innerhalb ihrer beschränkten Wirkungssphäre ein Modell für eine zukünftige friedliche, politisch geeinte Welt abgeben könnte. Das oberste, stets gefährdete Verfassungsprinzip dieser Gemeinschaft war Offenheit; Offenheit war eine funktionale conditio sine qua non, genauso wie etwa die Meinungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft. Völlige Offenheit erforderte völlige Aufrichtigkeit: Der Forscher berichtete über alle seine Resultate, die erfreulichen wie die unerfreulichen, und zwar dort, wo alle anderen sie nachlesen könnten; nur so konnte der Prozess der beständigen wechselseitigen Fehlerkorrektur funktionieren.“ 1

Im Sommer 1939 wandten sich die ungarischen Physiker an Einstein. Sie veranlassten ihn zu einem Brief an Franklin D. Roosevelt, in dem er den Präsidenten der Vereinigten Staaten auf die Möglichkeit zur Schaffung einer Atombombe hinwies und vorschlug, das bis dahin sehr bescheidene nukleare Forschungsprogramm der USA auszuweiten. Die Gedanken, die die ungarischen Physiker bewegten, als sie Einstein zu seinem Schreiben veranlassten – und auch die Feder führten -, charakterisierte Wigner nach dem Abwurf der Bomben auf Japan mit den Worten: „Obwohl keiner von uns [in der Anfangsphase] den Behörden gegenüber viel darüber sagte – sie hielten uns auch so schon für Träumer -, hofften wir, die Entwicklung von Atomwaffen könne über die Abwehr einer unmittelbar drohenden Katastrophe hinaus noch eine andere Wirkung zeitigen. Wir erkannten, dass, wenn einmal atomare Waffen entwickelt wären, keine zwei Nationen mehr in Frieden zusammenleben könnten, ohne dass nicht eine gemeinsam bevollmächtigte höhere Instanz die Oberaufsicht über ihre Militärapparate ausüben würde. Wir rechneten damit, dass diese Kontrollinstanzen, wenn sie über genügend Macht verfügten, um Atomkriege zu verhindern, auch in der Lage sein würden, mit allen anderen Kriegen Schluss zu machen. Diese Hoffnung war für unser Vorgehen ein fast ebenso wirksamer Ansporn wie die Angst, wir könnten feindlichen Atombomben zum Opfer fallen.“ 2

Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Erst am 11. Oktober wurde Roosevelt über den Inhalt des Einsteinschen Briefes informiert. Der Präsident veranlasste die Bildung eines beratenden Ausschusses für Uran-Fragen. Der Ausschuss empfahl dem Präsidenten, ausreichende Mittel für eine gründliche Erforschung bereitzustellen. Im Vordergrund der Untersuchungen sollte die Prüfung der Möglichkeit einer kontrollierten Kettenreaktion stehen, z.B. als Energiequelle für Unterseeboote. Der Bau einer Bombe aus Uran schien den meisten Physikern, Politikern und Militärs zu dieser Zeit lediglich eine ferne Utopie zu sein.

Bis zum Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 schleppte sich das amerikanische Programm mühsam dahin, ständig durch Auseinandersetzungen mit bürokratischen Zweiflern behindert. Anfang Oktober 1941 überreichten die Briten der amerikanischen Regierung einen Bericht über ihre Untersuchungen. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass der Bau einer Bombe aus Uran-235 machbar sei.

Atomwaffenprogramm in den USA

Roosevelt veranlasste daraufhin die Bildung einer »Top Policy Group«, zu der neben dem Vizepräsidenten auch der Kriegsminister und der Generalstabschef zählten. Damit wurde den Wissenschaftlern jedes Mitspracherecht über den Einsatz der zu entwickelnden Waffen genommen, deren Bau sie vorgeschlagen hatten. „Ein Wissenschaftler konnte sich nun also entscheiden, ob er mithelfen wollte, Kernwaffen zu bauen, oder nicht. Der Preis, der als Eintrittsgeld für die Aufnahme in den zunehmend separat existierenden und mit dem öffentlichen Staat nur durch die Person und die alleinige Autorität des Präsidenten verbundenen Geheimstaat zu zahlen war, lautete: Aufgabe jedes weiterführenden, außerwissenschaftlichen Autoritätsanspruchs. Bei vielen war die Entscheidung durch Patriotismus motiviert, jedoch lassen die Äußerungen der Physiker dieser Zeit ein anderes Motiv als das wichtigere erscheinen. Dieses Motiv war die Angst: Angst vor einem deutschen Sieg, Angst vor einem durch Atombomben unverwundbar gemachten Tausendjährigen Reich. Und vielleicht noch tiefer als solche Angst war ein gewisser Fatalismus verwurzelt. Die Bombe hockte in ihrem Versteck in der Natur, wie sich in den Zellen des menschlichen Körpers die Chromosomen verstecken. Und wie man sie aus diesem Versteck herausholen konnte, das würde jede Nation irgendwann herausfinden können. Deshalb ging es nicht nur um einen Wettlauf mit dem Deutschen Reich. (…) Noch hatten die Vereinigten Staaten sich nicht entschieden, die Atombombe zu bauen. Jedoch hatte man sich nun unwiderruflich dazu entschlossen, die Möglichkeiten des Baus ausführlich zu erforschen. Diese Entscheidung traf ein Mann – Franklin D. Roosevelt – im Geheimen und ohne den Kongress oder die Gerichte zu befragen. Seiner Ansicht nach handelte es sich um eine militärische Entscheidung, und er führte schließlich den Oberbefehl.“ 3

Am 7. Dezember 1941 erfolgte der japanische Luftangriff auf Pearl Harbor: Die USA befanden sich ab jetzt im Krieg. Die Arbeiten an der Atombombe wurden deutlich forciert. Im September 1942 übertrug der Kriegsminister die Leitung der Arbeiten – das so genannte Manhattan-Projekt – an Brigadegeneral Leslie R. Groves.

Über folgende Etappen führte unter seiner Leitung der Weg nach Hiroshima und Nagasaki:

Inbetriebnahme des ersten Uran-Graphit-Reaktors;

Schaffung eines geheimen, streng bewachten zentralen Laboratoriums in der Wüste Neu Mexikos, dessen Leitung dem theoretischen Physiker Robert Oppenheimer übertragen wurde;

Bau der industriellen Anlage zur Trennung des zum Bombenbau erforderlichen Uran-235 aus natürlichem Uran;

Errichtung von drei Kernreaktoren zur Erzeugung von Plutonium, dem zweiten zum Bombenbau geeigneten Element;

Errichtung von vier riesigen chemischen Trennanlagen zur Separierung des Plutoniums aus den hochradioaktiven Brennstäben der Kernreaktoren.

Die Forschungs-, Entwicklungs- und industriellen Fertigungsanlagen, die rund zwei Milliarden US-Dollar gekostet hatten, mündeten in eine erste Testexplosion am 16. Juli 1945 in der Wüste von Nevada. Auf Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, Nachfolger des wenige Monate zuvor verstorbenen Roosevelt, folgte der Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki im August.

Stolz und moralische Konflikte

Einer der jüngeren Emigranten, der Physiker Victor Weisskopf, der von Beginn an in Los Alamos arbeitete, schreibt in seiner Autobiographie: „Heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob mein Entschluß, mich an diesem ungeheuren – und ungeheuerlichen – Vorhaben zu beteiligen, allein auf der Befürchtung beruhte, die Nazis würden uns zuvorkommen. Es war vielleicht ganz einfach der Drang, an der bedeutsamen Arbeit teilzuhaben, die meine Freunde und Kollegen taten. Sicherlich spielte auch ein Gefühl des Stolzes mit, an einem einzigartigen, sensationellen Unternehmen mitzuwirken. Zudem bot es Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie kraftvoll, einflußreich und pragmatisch die esoterische Wissenschaft der Kernphysik sein konnte.“ 4

Mit dem Abwurf der Atombomben war für Weisskopf das Ziel der Arbeiten erreicht. Neben vielen anderen verließ er Los Alamos, um sich wieder der Grundlagenforschung zuzuwenden: „Wir waren stolz auf unsere Leistung, dennoch belastete uns die Erkenntnis, daß wir die Verantwortung trugen für die Herstellung der vernichtendsten Waffe, die je ersonnen wurde. Wir lebten mit dem Bewußtsein, daß unsere Arbeit den Tod von mehreren hunderttausend Menschen unter grauenhaften Umständen herbeigeführt hatte – in der gewaltigen Hitze verbrannt und durch Radioaktivität getötet oder verstümmelt. Wir hatten den erhofften Frieden errungen. Doch mit dem Sieg der Alliierten und dem Ende des Krieges kam eine Reihe von Widersprüchen und moralischen Konflikten, für deren Überwindung manche von uns viele Jahre brauchten.“ 5

Nur in wenigen Ausnahmefällen beteiligten sich emigrierte Physiker lediglich eingeschränkt am Bau der ersten Atombomben. Der deutsche Physiker Klaus Fuchs floh 1933 nach England, um als Kommunist einer drohenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. 1941 wurde er aufgefordert, sich an den britischen Untersuchungen zum Bau einer Atombombe zu beteiligen. Er zählte zu den britischen Wissenschaftlern, die von 1943 bis 1946 in Los Alamos am Bau der ersten Atombomben teilnahmen. Zeitgleich mit seiner Zustimmung zur Teilnahme entschloss er sich zur Weitergabe von Informationen an die Sowjetunion, da auf ihr die Hauptlast des Überlebenskampfes gegen die mörderische Aggression Deutschlands ruhte.

Der polnische (und jüdische) Physiker Józef Rotblat befand sich vor dem Überfall Deutschlands auf Polen zu Forschungszwecken an der Universität Liverpool, wo er sich mit kernphysikalischen Arbeiten befasste. Sie führten ihn 1943 nach Los Alamos. Im November 1944 erfuhren die Wissenschaftler, die am Manhattan-Projekt arbeiteten, dass Deutschland weit von der Fertigstellung einer Atombombe entfernt war. Er verließ daraufhin als einziger Los Alamos und kehrte nach England zurück. Nach dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde er zu einem der prominentesten Gegner der atomaren Aufrüstung.6

Anmerkungen

1) Rhodes, R. (1990): Die Atombombe. Berlin, S.291.

2) Wigner, E.P. zitiert in: Rhodes, R., a.a.O., S.306.

3) Rhodes, R., a.a.O., S.380f.

4) Weisskopf, R. (1991): Mein Leben. München, S.151.

5) ebenda, S.183.

6) Eine ausführlichere Diskussion von Verantwortung im Kontext der Atombombe und des Klimawandels findet sich in: Karl Lanius, Verantwortung, überarbeitete Fassung vom 20.4.2007; www2.hu-berlin.de/leibniz-sozietaet/debatte/verantwortung3.pdf.

Karl Lanius, emeritierter Professor für Physik, leitete viele Jahre das Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften. 1969 wurde er Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern der Leibniz-Sozietät. Seit 1991 beschäftigt er sich mit nichtlinearen Prozessen in Natur und Gesellschaft.

Weg zur nuklearen Abrüstung

Weg zur nuklearen Abrüstung

Von der Vision zur Realität

von Alyn Ware

Am 5. April 2009 hat US-Präsident Obama eine Vision für eine nuklearwaffenfreie Welt formuliert. Da das Oberhaupt des mächtigsten Landes der Erde eine solche Verpflichtung zugunsten der nuklearen Abrüstung abgab, ließe sich erwarten, dass die Umsetzung dieser Vision nun – zumindest in einem bescheidenen Zeitfenster – erreichbar sein sollte. Doch muss Obama mächtige Hindernisse überwinden, so dass er selbst Zweifel geäußert hat, ob das Ziel noch zu seinen Lebzeiten erreicht werden kann.

Das Ausmaß der Opposition in den USA wird ersichtlich anhand der Positionen von republikanischen Senatoren, von denen einige jedweden Abrüstungsvertrag für nukleare Waffen unterstützen müssten. Der Ausschuss der Republikaner im Senat hat bereits angedeutet, dass diese einem START-Nachfolgeabkommen nur zustimmen werden, wenn der Präsident eine Modernisierung der Atomwaffen unterstützt.

Hindernisse gibt es nicht nur in den USA. Die »International Commission on Nuclear Nonproliferation and Disarmament« hat eine Reihe von Gründen dafür genannt, warum politische Entscheidungsträger an der gegenwärtigen Atompolitik festhalten. Zu den gängigen Glaubensgrundsätzen gehören:

Atomwaffen haben einen Krieg zwischen den Großmächten abgeschreckt und werden das auch weiterhin tun.

Atomwaffen schrecken jeden größeren Angriff mit konventionellen Waffen ab.

Atomwaffen schrecken jeden Angriff mit chemischen und biologischen Waffen ab.

Atomwaffen schrecken terroristische Angriffe ab.

Atomwaffen kosten weniger als konventionelle Streitkräfte.

Eine umfangreiche atomare Abschreckung ist zur Beruhigung der Verbündeten notwendig.

Jeder größere Schritt zur Abrüstung wirkt destabilisierend.

Die Erfindung von Atomwaffen kann nicht ungeschehen gemacht werden; es gibt keine Möglichkeit, sie aus der Welt zu schaffen.

Die Kommission wies zudem darauf hin, dass die Atomwaffenstaaten ihre Atomwaffenpolitik fortsetzen, während sie anderen Staaten mit Nachdruck den Besitz von Atomwaffen untersagen.

Die aktuelle Dominanz solcher Annahmen verhindere die Abschaffung der Atomwaffen für mindestens zwei Jahrzehnte.

Dies könnte pessimistisch stimmen, wenn man sich nicht früherer bedeutender Änderungen in der Geschichte erinnerte, wie etwa des Falls des Kommunismus, des Endes der Apartheid, der Gewährung des Wahlrechts für Frauen, des Endes der Sklaverei oder des Bannes auf Landminen. Die zentralen Lektionen dieser Ereignisse sind:

Politischer Wandel hängt nicht alleine von denen ab, die über politische Macht verfügen und davon freiwillig etwas abgeben; er ist auch davon beeinflusst, dass diejenigen ohne solche Privilegien neue Formen der Ermächtigung anwenden, um Wandel zu bewirken.

Ist politischer Wandel einmal in Gang gesetzt, so kann er viel schneller als erwartet zu grundsätzlich neuen Situationen führen.

In diesem Sinne sollten wir im Jahr 2010 im Vorfeld der Überprüfungskonferenz für den Nichtverbreitungsvertrag (NPT) unsere Erwartungen höher setzen als das, was die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten zu akzeptieren scheinen.

114 Staaten sind gegenwärtig Teil regionaler nuklearwaffenfreier Zonen, in denen der Besitz, die Stationierung und die Androhung der Anwendung von Atomwaffen verboten sind. Die Einrichtung weiterer solcher Zonen in Nordostasien, der Arktis und in Zentraleuropa sollte genauso ermutigt werden wie Schritte zu einer nuklearwaffenfreie Zone im Mittleren Osten.

Einige Länder sind bereits weiter gegangen und haben Gesetze verabschiedet, mit denen Atomwaffen flächendeckend verboten und kriminalisiert werden. Hier bedarf es weiterer Ermutigung.

Am wichtigsten ist, dass eine Gruppe gleichgesinnter Staaten eine Vorbereitungskonferenz für eine Nuklearwaffenkonvention durchführen sollte. Dabei ginge es um die Erkundung von Mechanismen zur Etablierung einer atomwaffenfreien Welt, den Beginn konkreter Schritte in diese Richtung, die nicht notwendigerweise universelle Unterstützung bedürfen, und um die Zusammenarbeit zur Bildung politischer Initiativen für aktuelle Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention (NKW). Diese Gruppe könnte aus Ländern gebildet werden, die sich bereits um den 5-Punkte-Plan für Abrüstung des UN-Generalsekretärs versammelt haben, der im Fokus auch eine Nuklearwaffenkonvention hat. Auch die Staaten der nuklearwaffenfreien Zonen, die sich im April im Vorfeld der Überprüfungskonferenz für den NPT treffen, kommen in Frage.

Die Ankündigung einer Vorbereitungskonferenz für eine Nuklearwaffenkonvention im Rahmen der NPT-Überprüfungskonferenz würde in der Weltpresse Aufsehen erregen und einen Bezugspunkt bilden, an dem die Zivilgesellschaft alle Regierungen herausfordern könnte, sich dem Prozess anzuschließen und tatsächliche Arbeit zur Beendigung nuklearer Abschreckung, für das Verbot der Atomwaffen und zur Erreichung einer nuklearwaffenfreien Welt einzuleiten.

Alyn Ware ist Träger des Alternativen Nobelpreises 2009

Eine Welt ohne A-Waffen

Eine Welt ohne A-Waffen

von Jürgen Nieth

Als Barack Obama am 5. April 2009 in seiner Prager Rede für eine Welt ohne Atomwaffen plädierte, sprach »Die Zeit« (08.04.09) von „Eine(r) hinreißende(n) Vision“. Die Mehrheit der anderen deutschsprachigen Zeitungen war da skeptischer: „Prager Frühling – Obama will Atomwaffen abschaffen, konkrete Schritte bleiben aus“ (Frankfurter Rundschau/FR, 06.04.09), „Keiner will der erste sein“ (Berliner Zeitung/BZ, 07.04.09), „Die Grenzen der Abrüstung“ (Süddeutsche Zeitung/SZ, 07.04.09), „Obamas Denkfehler“ (Die Tageszeitung/taz, 18.05.09). Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 18.04.09) sah nach dieser Rede „Eine neue Welt mit Atomwaffen“ und schrieb: „Man kann in der Politik vieles wünschen, und manchmal bewegt der Wunsch auch etwas. Ohne Visionen bleibt der Blick an der zähen Gegenwart kleben, ohne Bilder der Phantasie ist man dem Status Quo und den Zeitläufen ausgeliefert… Mit der Bemerkung, er werde die kernwaffenfreie Welt wohl selbst nicht erleben, das Ziel liege weit weg, relativiert er das große Vorhaben wieder.“

Obama vor der UNO

Am 23.09.2009 hat der Sicherheitsrat der UN auf Vorschlag von US-Präsident Obama einstimmig eine Resolution angenommen, in der die Ratsmitglieder sich verpflichten, „eine sichere Welt für alle zu suchen und die Vorbedingungen für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen“. Diesmal reagierte die Presse deutlich positiver: „Absage an alle Atomwaffen – Sicherheitsrat mit »historischer« Resolution“ (FR 25.09.09), „Sicherheitsrat rüstet nuklear ab“ (Financial Times Deutschland/FTD 25.09.09), „UN-Sicherheitsrat für eine Welt ohne Atomwaffen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.09), „UNO-Signal für die Atomabrüstung“ (NZZ, 25.09.09), P. A. Krüger überschrieb seinen Kommentar in der SZ (22.09.09): „Sanfte Appelle und konkrete Schritte.“ Um welche Schritte geht es?

Atomwaffensperrvertrag stärken…

Nimmt man die Kommentare der SZ und der FR, dann geht es bei der Initiative Obamas in erster Linie darum, „eine Eigendynamik in Gang zu setzen, die beitragen soll, den Atomwaffensperrvertrag (NPT) zu stärken. Die USA sehen in ihm das zentrale Instrument, um der weiteren Verbreitung von Atomwaffen Einhalt zu gebieten. Sein Fundament bröselt, nicht nur wegen der Atomtests in Nordkorea und Irans verdächtiger Aktivitäten. Die Überprüfungskonferenz 2005 scheiterte auch daran, dass sich die USA weigerten, auch nur über ihre Pflicht zu reden, atomar abzurüsten.“ (P. A. Krüger, SZ, 22.09.09) „Der Text verlangt von allen Staaten, die dem Atomwaffensperrvertrag von 1970 noch nicht beigetreten sind, diesen Schritt rasch nachzuholen, ‚damit zu einem baldigen Zeitpunkt die Universalität des Abkommens erreicht wird‘. In der Zwischenzeit sollen die drei noch ausstehenden Staaten – Indien, Pakistan und Israel – informell die Vertragsbestimmungen respektieren.“ (P. Simonitsch, FR, 25.09.09)

… und was wird aus dem Teststoppvertrag?

Neben dem NPT ist der Teststoppvertrag (CTBT) der zweite wichtige internationale Vertrag zu den A-Waffen. „Beide waren zuletzt durch das Desinteresse der Nuklearmächte geschwächt worden. … Obama versprach (jetzt) eine Lücke zu schließen und den Teststoppvertrag CTBT, der die Zündung von Kernwaffen verbietet, zu ratifizieren. Neun Nationen verhindern bisher, dass der CTBT in Kraft tritt, China, Indien, Pakistan, Ägypten, Indonesien, Iran, Israel, Nordkorea – und die USA. Die USA haben das Abkommen (…) bis heute nicht zur Ratifikation durch den Senat gebracht.“ (M. Koch, SZ 25.09.09) Auch diesmal ist das nicht sicher, da Obama hier auf Stimmen der Opposition angewiesen ist. J. Borger sieht die Entwicklung im »Freitag« (01.10.09) noch kritischer: „Im Pentagon kursiert der Entwurf zu einer Studie (Draft Nuclear Posture Review), die sich einer Neubewertung der nationalen Atomwaffenpolitik widmet und damit nicht nur hinter Obamas Visionen zurückfällt, sondern sogar eine Art Gegenverkehr in Bewegung setzt.“ Borger verweist weiter darauf, dass Verteidigungsminister Robert Gates der Idee anhänge „eine neue Generation von Sprengköpfen erproben zu lassen, da nur so die Einsatzbereitschaft der US-Atomwaffen garantiert bleibe. Erst wenn man dies getan habe, seien ein Abbau der Arsenale und das dauerhafte Verbot von Atomtests denkbar.“

Nuklearterrorismus verhindern

Die Absicht, bestehende Vertragswerke zu stärken und die Bereitschaft zur Reduzierung der A-Waffenbestände, sollte nach Auffassung mehrerer KommentatorInnen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, einen Nuklearterrorismus zu verhindern. So betonte der abtretende Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur, Baradei, die „drohende Gefahr der nuklearen Aufrüstung von nichtstaatlichen Akteuren und von Terrorgruppen. Über 90 Staaten seien gar nicht oder nur ungenügend den Kontrollinspektionen der Agentur gemäß dem NPT unterworfen“. (NZZ, 25.09.09) In der BZ (25.09.09) schreibt E. Schweitzer: „Es soll die Verbreitung von Nuklearmaterial unterbunden werden, um nuklearen Terrorismus zu verhindern. Vier Jahre setzt das Gremium dafür an, eine Frist für die Verschrottung der Kernwaffen hingegen wird nicht genannt.“ Und S. Muscat hebt in der »Financial Times« (25.09.09) hervor, dass Obama „dazu eine separate nukleare Sicherheitskonferenz angeregt“ hat. Dort sollen „auch Mechanismen für die friedliche Nutzung von Kernenergie entwickelt werden, die ein Anreiz für Staaten wie den Iran sein könnten, ihre eigenen Atomprogramme aufzugeben.“ Andreas Zumach formuliert es direkter: Die Initiative Obamas zielt darauf ab, „den internationalen Druck auf Atomwaffenaspiranten wie Nordkorea oder den Iran zu erhöhen.“ (taz, 25.09.09)

Entspannung mit Fußangeln…

… sieht Karl Grobe (FR 24.09.09): „Mit einer Resolution, einem Bündel von Abkommen… wird die Utopie nicht zur Realität. Das wissen alle Beteiligten. Falls sie noch rechtzeitig den am Jahresende auslaufenden Start-Vertrag verlängern, das Grundsatzabkommen, das jeder Rüstungsbegrenzung zugrunde liegt, ist ein Beispiel gegeben. Abrüstung ist das immer noch nicht. Doch eine Verkleinerung der Atomwaffen-Arsenale ist möglich; im Grundsatz sind ja alle dafür. Die beiden Großen besitzen rund 95 Prozent. Falls sie sich einigen können, jeweils ein Viertel abzubauen ist einiges besser geworden, aber noch nichts richtig gut.“

Warum jetzt?

Warum jetzt?

von Steve Leeper

Fünf Monate nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima lag der Philosophieprofessor Ichiro Moritaki mit seinen Verletzungen im Krankenbett. Er ging in seinen Gedanken der Frage nach, welche Sinn diese neue Waffe hat, die seine Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Er kam zum Schluss, der Sinn der Atombombe liege letztlich darin, dass die Menschheit auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung verzichten müsse.

Moritaki war schon 1945, also noch vor der Wasserstoffbombe, klar, dass die Menschen jetzt lernen müssten, unser Gewaltpotential unter Kontrolle zu halten, oder wir machen unseren Planeten unbewohnbar. Daher erklärte er, die Atombombe markiere das Ende der »Zivilisation von Macht« und den Beginn einer neuen »Zivilisation der Liebe«.

Moritaki stand fast 40 Jahre lang an der Spitze von Hidankyo, dem größten Zusammenschluss von Atombombenopfern. Als er im Alter von 93 Jahren starb, war es vor allem sein Verdienst, dass die Wut von Hiroshima sich zunehmend weg von den USA und auf die Atomwaffen selbst richtete. Er hinterließ der Welt auch das Konzept einer »Friedenskultur«. Die Hiroshima Peace Culture Foundation hat zwei Ziele: das eine ist sicherzustellen, das die Welt nie vergisst, was am 6. August 1945 geschah; das andere ist mitzuhelfen bei der Transformation unserer Gattung von der momentanen Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens.

Der Menschheit fällt es äußerst schwer, sich die Gewalttätigkeit abzugewöhnen. In den nächsten zwei oder drei Jahren werden wir entscheiden, ob Atomwaffen abgeschafft werden oder sich weiter verbreiten. Wenn wir die Weiterverbreitung zulassen, werden sie schließlich auch eingesetzt. Wenn Atomwaffen erneut eingesetzt werden, dann verlieren wir rasch den dünnen Zivilisationsfirnis, der unser zerbrechliches, interdependentes, globales sozio-politisch-ökonomisches System zusammenhält. Dann stürzen wir in einen Strudel der Gewalt, neben dem der Zweite Weltkrieg wie ein Honiglecken wirken wird.

Die Entscheidungen über unseren weiteren Umgang mit Atomwaffen, die bei der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages im Mai 2010 gefällt werden, haben Konsequenzen weit über die Zukunft dieser Waffensysteme hinaus. Wir entscheiden gleichzeitig, ob wir die zahlreichen, unser Leben bedrohenden globalen Probleme durch Dialog, Verhandlungen, Abkommen und Völkerrecht lösen oder durch eine radikale und gewalttätige Reduktion der menschlichen Bevölkerung.

Das US-Imperium bricht momentan zusammen. Historisch wurde der Zusammenbruch eines Imperiums immer von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten lang währender Gewalt begleitet. Die Destabilisierungswirkung der Veränderungen, die wir jetzt erleben, gehen aber weit über den bloßen Zusammenbruch eines Imperiums hinaus. Die Jahrhunderte lange Dominanz der weißen Menschen kommt zum Ende. In den nächsten 20 Jahren werden sich die globalen ökonomischen und kulturellen Machtzentren von den USA und Europa nach China und Asien verschieben. Die Ära des billigen Öls geht zu Ende. Der Konkurrenzkampf um Öl, andere Rohstoffe, Land und sogar Wasser wird sich rasch verschärfen. Unser heutiger Lebensstil hängt, insbesondere in den USA, vollständig von billigem Öl ab. Dieser Zustand ist ganz offensichtlich nicht nachhaltig. Wie gelingt uns der Übergang? Durch friedlichen Dialog und Teilhabe? Oder in einem wahnsinnigen, gewalttätigen Kampf um die Macht?

Wenn wir uns für letzteren entscheiden, machen wir unseren Planeten unbewohnbar. Selbst wenn wir zunächst den Einsatz von Atomwaffen noch vermeiden, verfügen wir doch über chemische und biologische Waffen, Agent Orange, abgereichertes Uran und ein riesiges Arsenal von Waffen mit entsetzlichen und langanhaltenden Folgen. Und wenn Atomwaffen weiterhin einsatzbereit gehalten werden, ist es nicht schwer, sich eine rasante Eskalation vorzustellen, die die Erde zu kalt oder zu radioaktiv macht, um menschliches Leben zu ermöglichen.

Und sogar wenn wir diese tödliche globale Gewalt vermeiden, wird unsere industrialisierte und wachstumsbasierte Zivilisation dafür sorgen, dass unser Planet unbewohnbar wird, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Unsere Meere sterben. Unsere Regenwälder verschwinden in Rekordtempo. Der Sauerstoffgehalt in unserer Atmosphäre sinkt stetig, und die Erderwärmung schreitet fort. Keines dieser Probleme lässt sich durch Kontrolle von oben durch reiche Banker, mächtige Generäle oder sonst jemanden lösen. Das Überleben unserer Gattung erfordert weltweite Kooperation in einem bislang unerreichten Maß.

Deshalb müssen wir die Atomwaffen jetzt abschaffen. Atomwaffen sind das einfachste Problem, vor dem wir stehen, und das Thema ist höchst dringlich. Wenn wir uns nicht einmal auf die Abschaffung dieser überflüssigen, völkerrechtswidrigen und obszönen Bedrohung unserer Existenz einigen können, woher nehmen wir dann die Hoffnung, dass wir Antworten auf die viel subtileren und schwierigeren Probleme finden, vor denen die Besatzung des Raumschiffs Erde steht? Wenn wir uns hingegen auf die Abschaffung der Atomwaffen einigen, dann sagt die Weltgemeinschaft damit: „Lass uns das Gesetz des Dschungels abschaffen und für unser gemeinsames Überleben zusammenarbeiten.“ Damit eröffnen wir den Weg zu anderen Formen der Kooperation, die möglicherweise unseren Kindern und Kindeskindern die Zeit gewährt, die sie brauchen, um unsere Hinterlassenschaften aufzuräumen.

Das ist die Wahl, die wir jetzt treffen müssen. Wählen wir Gewaltlosigkeit oder die Bombe. Alle, die sich mit Abrüstung beschäftigen, müssen im kommenden Jahr ihre Anstrengungen verdoppeln und darauf hin wirken, dass im Mai 2010 die richtige Entscheidung fällt.

Steve Leeper ist Vorsitzender der Hiroshima Peace Culture Foundation.
Übersetzung: Regina Hagen