Atomwaffenverbot

Atomwaffenverbot

Chance für die nukleare Abrüstung

von Jürgen Scheffran

Am 7. Juli 2017 vereinbarte in New York die Mehrheit aller Staaten einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, mit breiter Unterstüt­zung der Zivilgesellschaft. Nach Jahrzehnten der Aufrüstung und geringer Fortschritte bei der Abrüstung haben große Teile der internationalen Staatengemeinschaft deutlich gemacht, dass sie den Son­derstatus der Atommächte nicht länger hinnehmen wollen. Viele sehen in dem Vertrag einen Durchbruch, da er nach dem Verbot von Bio- und Chemiewaffen mit den Atomwaffen nun auch die letzten Massenvernichtungswaffen verbietet. Allerdings lässt der Vertrag den Abrüstungsprozess in die atomwaffenfreie Welt offen, und die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten sind bislang nicht beteiligt.

Dieses Abkommen ist der Erfolg einer langjährigen Bewegung, die sich seit Ende des Kalten Krieges für die Ächtung und Abschaffung der Atomwaffen eingesetzt hat. Anfang der 1990er Jahre erschienen die politischen Bedingungen für die nukleare Abrüstung günstig. Der Kalte Krieg war zu Ende, die gewaltigen Atomwaffenarsenale schienen obsolet, die Hoffnungen auf eine Rüstungskonversion waren groß. Der Ruf nach einer atomwaffenfreien Welt bestimmte zunehmend die internationalen Debatten.

In dieser Situation fielen Aktionen der Zivilgesellschaft auf fruchtbaren Boden. Zu den frühen Aktivitäten gehörte das World Court Project, die erfolgreiche Kampagne für ein Rechtsgutachten über die Legalität des Einsatzes von oder der Drohung mit Atomwaffen durch den Internationalen Gerichtshof (IGH). Entsprechend erklärte der IGH 1996, die Atomwaffendrohung sei generell mit dem Völkerrecht unvereinbar und nach gültigem Völkerrecht bestehe eine Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung.1

Neben verschiedenen Nichtregierungsorganisationen spielten auch Wissenschaftler*innen eine wichtige Rolle. Zu nennen ist hier besonders Joseph Rotblat, der 1944 aus dem Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe ausgestiegen war, 1955 das Russell-Einstein-Manifest unterschrieben und 1957 die Pugwash-Bewegung mitbegründet hatte. In einem 1993 mitherausgegebenen Buch2 legte er eine wissenschaftliche Grundlage für die atomwaffenfreie Welt und erhielt 1995 zusammen mit Pugwash den Friedensnobelpreis.

Rotblat arbeitete auch mit dem 1993 von der Darmstädter Forschungsgruppe IANUS initiierten International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) zusammen. Im gleichen Jahr wurde von mehreren Nichtregierungsorganisationen die International Coalition for Nuclear Nonproliferation and Disarmament ins Leben gerufen, die in ihrem Gründungsdokument Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen vorschlägt.3 INESAP koordinierte eine Studiengruppe für die nuklearwaffenfreie Welt mit mehr als 50 Wissenschaftler*innen aus 17 Ländern, die eine Nuklearwaffenkonvention (NWK) für das Verbot und die Abschaffung aller Atomwaffen vorschlug.4 Die Ergebnisse wurden im April 1995 während eines Symposiums bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) vorgestellt.5

Hier wurde auch das globale Netzwerk Abolition 2000 gegründet, das Verhandlungen über eine NWK und Schritte in eine atomwaffenfreie Welt fordert. Eine Expertengruppe erarbeitete einen Modellentwurf für eine NWK, der im April 1997 bei der NVV-Konferenz in New York veröffentlicht und im selben Jahr von Costa Rica den Vereinten Nationen vorgelegt wurde. Auch andere Staaten schlossen sich dieser Initiative an. So wurde 1996 eine Resolution in die UN-Generalversammlung eingebracht, die die vom IGH festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung mit der Forderung nach multilateralen Verhandlungen über eine NWK verband.

Weitere Fortschritte wurden blockiert in den schwierigen Zeiten der Bush-Administration in den USA, die geprägt waren durch Aufrüstung auf allen Ebenen, allen voran mit Raketenabwehr und Weltraumwaffen, die sich mit dem Irakkrieg und den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu einer globalen Gewaltspirale verknüpften, während die Abrüstungsbestrebungen einen Tiefpunkt erreichten.

Dennoch gab es auch positive Signale für die nukleare Abrüstung. So blieb die öffentliche Einstellung gegenüber Atomwaffen weltweit negativ, Umfragen ergaben eine große Unterstützung für ein Atomwaffenverbot. In mehreren Ländern unterstützten »elder statesmen« die atomwaffenfreie Welt, was der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama 2009 aufgriff. Es bildeten sich neue Bewegungen, wie die 2007 gegründete International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die mit breitenwirksamen Aktivitäten viele jüngere Menschen mobilisierte.6 In dieser Situation wurde auch der NWK-Modellentwurf überarbeitet und bei der NVV-Konferenz 2007 in Wien veröffentlicht.7

Diese Aktivitäten fanden erneut ihren Niederschlag auf Staatenebene. Auch weiterhin unterstützte eine große Mehrheit UN-Resolutionen für die Aufnahme multilateraler Verhandlungen für den baldigen Abschluss einer NWK. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon stellte im Oktober 2008 einen Fünf-Punkte-Plan für nukleare Abrüstung vor, mit dem Ziel von Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention oder einer Rahmenvereinbarung von separaten, aber miteinander abgestimmten Instrumenten.8

Eine neue Dynamik entstand seit 2010 durch eine engere Zusammenarbeit zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft über die humanitären Dimensionen von Atomwaffen und den Vorschlag, nicht eine umfassende NWK, sondern ein einfacheres Atomwaffenverbot auszuhandeln, zur Not auch gegen die Atomwaffenstaaten. 2012 richtete die UN-Generalversammlung eine offene Arbeitsgruppe für multilaterale nukleare Abrüstungsverhandlungen ein, die 2015 erneuert wurde. Am 23. Dezember 2016 beschloss die UN-Generalversammlung, im Jahr 2017 eine Konferenz abzuhalten mit dem Ziel, einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu verhandeln.

Dann ging alles sehr schnell. Nach der ersten Verhandlungsrunde im März 2017 wurde am 22. Mai ein Vertragsentwurf vorgelegt. In der zweiten Verhandlungsrunde im Juni und Juli 2017 wurde der Vertrag in Rekordzeit fertig gestellt und am 7. Juli 2017 in New York mit großer Mehrheit angenommen.9 122 Staaten stimmten dem Vertrag zu, überwiegend Länder des Globalen Südens, darunter sechs G20-Mitgliedsländer (Argentinien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, Saudi-­Arabien und Südafrika), aber auch die westlich geprägten Staaten Irland, Liechtenstein, Malta, Moldawien, Neuseeland, Österreich, San Marino, die Schweiz und der Vatikan. Die Niederlande stimmten dagegen, Singapur enthielt sich, nicht beteiligt waren alle Atomwaffenstaaten, die NATO-Verbündeten (mit Ausnahme der Niederlande) und Staaten unter dem Schutzschirm der USA (z.B. Japan, Südkorea, Australien). Die hier zum Ausdruck kommende Koalition von Staaten ist bemerkenswert, ebenso die starke Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Worum geht es in dem Abkommen?

Der Verbotsvertrag wurde vielfach als Durchbruch für die Ächtung und Stigmatisierung von Atomwaffen gefeiert. Das Regelwerk sollte einfach und flexibel sein, auf zukünftige Herausforderungen reagieren und den Geltungsbereich schrittweise erweitern. Es soll den Druck auf die Atomwaffenstaaten erhöhen, ihre Abschreckungspolitik aufzugeben und abzurüsten.

Das Abkommen verbietet neben Herstellung, Einsatz, Besitz und Transfer die Einsatzandrohung sowie die Stationierung von Atomwaffen eines anderen Staates im eigenen Hoheitsgebiet. Darüber hinaus werden die Voraussetzungen geschaffen, um künftig auch Atomwaffenstaaten einzubinden, mit Regelungen über deren Beitritt und ihre Abrüstungsverpflichtungen auf Null.

Neben den Verbotsvorschriften werden in dem Abkommen auch die Rahmenbedingungen für ein Kontroll- und Verifikationsregime festgelegt. Diese basieren auf Sicherungsvorkehrungen (Safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) gegen die militärische Nutzung der Kernenergie in Nicht-Atomwaffenstaaten, die auf Atomwaffenstaaten ausgeweitet werden können. Bemerkenswert ist, dass in dem Abkommen auch der bessere Schutz der Opfer von Atomwaffeneinsätzen und -tests angesprochen wird, mit konkreten Auflagen zu Opferhilfen und Umweltrehabilitation. Weitere Bestimmungen betreffen die Präambel, Meldepflichten, Kosten, internationale Konferenzen und mögliche Behörden, Streitschlichtung und Inkrafttreten (siehe die Zusammenstellung auf S. 48).

Die Unterzeichnung des Vertrages ist bei der UN-Vollversammlung ab dem 20. September 2017 vorgesehen. Der Vertrag tritt 90 Tage, nachdem er durch 50 Staaten ratifiziert wurde, in Kraft. Auch wenn nur ein Teil der Staaten dem Vertrag bislang zugestimmt hat, ist er offen für weitere Staaten. Was fehlt sind Einschränkungen der Finanzierung von Atomwaffen und konkrete Abrüstungs- und Verifizierungsmaßnahmen, einschließlich des Schutzes von Whistleblower, die Vertragsverstöße melden.

Nukleares Wettrüsten und multiple Krisen

Wie schon vor zwei Jahrzehnten wird das Atomwaffenverbot auch jetzt durch etwa zwei Drittel aller Staaten unterstützt, allerdings ist keiner der Staaten am Verbotsvertrag beteiligt, die weiter auf nukleare Abschreckung setzen. Es gibt immer noch rund 15.000 Atomwaffen, und es ist möglich, dass auf absehbare Zeit durch das Atomwaffenverbot keine einzige Atomwaffe abgerüstet wird. Im Gegenteil ist nicht auszuschließen, dass sie in Krisen, Kriegen, Terroranschlägen oder aus Versehen zum Einsatz kommen. Auch nachdem der Verbotsvertrag in Kraft tritt, kann die Explosion einer Atomwaffe eine Großstadt auslöschen und hunderttausende Menschen töten, eine Region durch radioaktiven Fallout verseuchen und durch einen elektromagnetischen Puls elektronische Geräte großflächig ausschalten. Wenn nur ein Bruchteil aller Atomwaffen zum Einsatz kommt, könnte ein globaler nuklearer Winter das Klima, die Nahrungsmittelproduktion und die Existenzgrundlage der Menschheit zerstören. Und auch ohne Atomkrieg bestehen große Risiken für Gesundheit und Umwelt durch die Atomwaffenentwicklung, die enge Verflechtung von ziviler und militärischer Atomenergie und die Verbreitung von Uran und Plutonium.10

Dabei waren die fünf etablierten Atomwaffenstaaten auch schon vor dem Verbotsvertrag aufgrund des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und dem IGH-Rechtsgutachten verpflichtet, das nukleare Wettrüsten zu beenden und ihre Atomwaffen abzurüsten. Stattdessen forcieren sie es noch durch eine Aufrüstung ihrer Atomwaffen, verknüpft mit der Rüstungsdynamik zwischen Raketen, Raketenabwehr, Weltraumrüstung, Cyberwar, konventioneller Rüstung und Kleinwaffen. In einer hochexplosiven Weltlage gießen sie Öl ins Feuer und heizen Krisen und Konflikte an, besonders in Nahost, Südasien und Ostasien sowie im neuen Ost-West-Konflikt zwischen Russland und dem Westen.

Eine erhebliche Verantwortung für diese Entwicklung tragen die NATO-Staaten, die sich hinter der hochgerüsteten Nuklearmacht USA versammeln. Die NATO bleibt eine Institution aus der Hochzeit des Kalten Krieges, die maßgeblich zur heutigen vertrackten Weltlage beigetragen und die großen Chancen nach Ende des Kalten Krieges blockiert hat. Während US-Präsident Donald Trump danach strebt, das US-Atomwaffenarsenal zu vergrößern, und Abrüstung in Frage stellt, halten die NATO-Verbündeten an der nuklearen Abschreckung fest und folgen seiner Aufforderung, ihre eigenen Rüstungsprogramme auszubauen.

Auch die deutsche Bundesregierung setzt in enger Bündnistreue weiter auf nukleare Abschreckung und besteht auf der »nuklearen Teilhabe« durch die US-Atombomben auf der Bundeswehr-Basis Büchel in der Eifel. In bestimmten Kreisen wird gar ein eigener nuklearer Zugriff Deutschlands in die Debatte geworfen, was dem deutschen Status als Nicht-Atomwaffenstaat im NVV widerspricht. Dass die Bundesregierung zusammen mit den Atomwaffenstaaten die Verhandlungen über das Atomwaffenverbot boykottierte, ist enttäuschend, auch dass die Massenmedien das Ereignis weitgehend ignorierten. Damit haben die meisten europäischen Regierungen eine Chance verspielt, Europa als Friedensmacht zu profilieren.

So verstärkt die EU noch ihre Abwärtsspirale, zwischen Trump und Putin, zwischen Brexit und Flüchtlingskrise, zwischen Wirtschafts- und Klimakrise. Während die USA als unumschränkte Supermacht, die NATO als dominierendes Militärbündnis und der Westen als wirtschaftliches und politisches Erfolgsmodell unter Druck geraten, demonstriert der lange vernachlässigte Globale Süden mit seinem Aufstand gegen die Atommächte, dass er mitreden will, gerade bei der Atomwaffenfrage. Es zeigt sich, dass die Vereinten Nationen in wichtigen Fragen handlungsfähig sind, Völkerrecht schaffen und neue Koalitionen sich gegen den dominierenden Machtblock durchsetzen können.

Hier deuten sich globale Machtverschiebungen und Lösungen an, die auf die Herausforderungen multipler Krisen durch multilaterale Zusammenarbeit reagieren. Das Pariser Klimaabkommen wie auch das Atomwaffenverbot sind wichtige Bausteine einer Welt ohne Atomwaffen und CO2-Emissionen, die durch Kooperation, Institutionen, die Stärke des Rechts und die Einbindung der Zivilgesellschaft geprägt ist.11

Bezeichnenderweise erfolgten die Verhandlungen über das Atomwaffenverbot unter der Präsidentschaft von Costa Rica, einem Entwicklungsland mit vergleichsweise hohem Wohlstand, sozialpolitischen Maßnahmen und einer stabilen Demokratie, das keine Armee hat, fast seinen gesamten Strombedarf aus erneuerbaren Quellen deckt, den Ökotourismus fördert und rund ein Viertel der Landesfläche unter Naturschutz gestellt hat.12

Nukleare Abrüstung nach dem Verbotsvertrag

Wie weiter nach dem Verbotvertrag? Es ist klar, dass sich die atomwaffenfreie Welt ohne eine Mitwirkung der Nuklearwaffenstaaten nicht erreichen lässt. Der neue Vertrag schafft zwar in den Unterzeichnerländern bindendes Völkerrecht und verknüpft die atomwaffenfreien Zonen der Erde innerhalb eines Abkommens. Dies hat eine wichtige symbolische Bedeutung und gibt der Bewegung gegen Atomwaffen die Chance, bei jeder Gelegenheit auf die umfassende Implementierung zu drängen. Solange die Atomwaffenstaaten dieses Abkommen nicht anerkennen, sind sie daran jedoch nicht gebunden. Eine dominante Rolle spielen hier die USA und Russland, wobei andere Staaten wie Indien oder China sich zwar im Club der Atommächte wohl fühlen, aber Abrüstungsverhandlungen nicht ausschließen, wenn die anderen mitmachen.

Um eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen, könnte das Atomwaffenverbot in weitere Rahmenverhandlungen für nukleare Abrüstung eingebettet werden, in denen das umfassende Ziel einer NWK mit weiteren konkreten Schritten verbunden wird.13 Ein solches Konzept wurde bereits vor 20 Jahren angedacht und könnte nun weiter umgesetzt werden, damit das Verbot von Atomwaffen durch ihre vollständige Beseitigung ergänzt werden kann. Tatsächlich konnte mit der Aushandlung des Atomwaffenverbots ein wesentliches Element einer NWK realisiert werden, und einige Elemente des Verbotsvertrages finden sich bereits in der von Costa Rica unterstützten Modell-NWK von 1997. Diese bietet viele Anregungen für weitere Schritte zur atomwaffenfreien Welt, die in einer umfassenden NWK zusammengeführt werden könnten, unter Mitwirkung der bislang nicht beteiligten Staaten.

Anmerkungen

1) Advisory Opinion of the International Court of Justice, 8 July 1996, General List No. 95: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons.

2) Rotblat, J.; Steinberger, J.; Udgaonkar, B. (eds.) (1993): A Nuclear-weapon-free World – Desirable? Feasible? Boulder/Colorado: Westview Press.

3) Zum Gründungsdokument von IALANA, INES/INESAP, IPB, IPPNW siehe Liebert, W. und Scheffran, J. (eds.) (1995): Against Proliferation – Towards General Disarmament. Münster: agenda, S. 225-231.

4) INESAP (ed.) (1995): Beyond the NPT – A Nuclear-Weapon-Free World. INESAP Study Group Report, New York/Darmstadt: INESAP.

5) Siehe die Übersicht in: Scheffran, J. (2001): Wege zum Ziel – Studien zur nuklearwaffenfreien Welt. In: Bender, W. und Liebert, W. (Hrsg.) (2001): Wege zu einer nuklearwaffenfreien Welt. Münster: agenda, S. 33-56.
Kalinowski, M. (Hrsg.) (2000): Global Elim­ination of Nuclear Weapons. Baden-Baden: Nomos.

6) icanw.org.

7) Die Modell-NWK ist abgedruckt in:
IPPNW, IALANA, INESAP (1999): Security and Survival – The Case for a Nuclear Weapons Convention. Cambridge, Massachussetts: IPPNW.
IPPNW, IALANA, INESAP (2007): Securing Our Survival – The Case for a Nuclear Weapons Convention. Cambridge, Massachussetts: IPPNW.
Auf deutsch (2000): Sicherheit und Überleben. Berlin: IPPNW Deutschland.

8) United Nations Office for Disarmament Affairs [o.J.]: The Secretary-General’s five point proposal on nuclear disarmament – »The United Nations and security in a nuclear-weapon-free world«.

9) Mehr Details siehe United Nations Office for Disarmament Affairs [o.J.]: Treaty adopted on 7 July 2017 – United Nations Conference to Negotiate a Legally Binding Instrument to Prohibit Nuclear Weapons, Leading Towards their Total Elimination.

10) Scheffran, J.; Burroughs, J.; Leidreiter, A.; vanRiet, R.;Ware, A. (2015): The Climate-Nuclear Nexus. Hamburg: World Future Council..

11) Scheffran, J. (2017) Zwei Welten – G20-Gipfel, Atomwaffenverbot und globale Machtverschiebungen. VDW-Blog »Wissenschaft in der Verantwortung«. 14.7.2017.

12) Siehe dazu den Artikel »Wenn Abrüstung genau das Richtige ist. Die Friedensverfassung von Costa Rica« von L.R.Z. Bolaños auf S. 19 in dieser Ausgabe von W&F.

13) Scheffran J (2010): The Nuclear Weapons Convention as a Process – Umbrella Negotiations as a Framework for a Nuclear-Weapon-Free World. Paper presented at: Middle Powers Initiative, Atlanta, Jan. 20-22, 2010.
Siehe auch: Loretz, J.; Scheffran, J.; Ware, A.; Wright, T. (2010): A Nuclear Weapons Convention – Framework for a Nuclear Weapon Free World. In: Acheson, R. (ed.): Beyond arms control. New York: WILPF, S. 181-187.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er war Mitbegründer von INESAP und Co-Autor der Modell-Nuklearwaffenkonvention.

»Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« vom 7. Juli 2017

Präambel

  • Verantwortung aller Staaten, eine globale humanitäre Katastrophe durch Kernwaffen zu verhindern.
  • Sicherheit, Umweltsanierung, Ernährungssicherheit und Gesundheit für heutige und künftige Generationen.
  • Hilfe für Opfer von Kernwaffen; Auswirkungen auf indigene Völker.
  • Bestehende Abkommen: humanitäres Völkerrecht, Nichtverbreitungsvertrag, Umfassender Teststoppvertrag, kernwaffenfreie Zonen, Verifikation von Nuklearversuchen, Kernenergie für friedliche Zwecke.
  • Zukünftige Perspektiven: allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle; unumkehrbare, verifizierbare und transparente Beseitigung von Kernwaffen; dauerhafter Frieden und nachhaltige Sicherheit; Beteiligung von Frauen und nichtstaatlichen Organisationen; Friedens- und Abrüstungserziehung; Aufklärung über Folgen eines Kernwaffeneinsatzes.

Zentrale Regelungen

  • Umfassendes Verbot, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern, einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen.
  • Verpflichtung, keine Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber weiterzugeben, diese anzunehmen, jemanden dabei zu unterstützen oder ihre Stationierung, Aufstellung oder Dislozierung im eigenen Hoheitsgebiet zu gestatten.
  • Vertragsstaaten im Besitz von Atomwaffen müssen deren Einsatzbereitschaft beenden und sie überprüfbar, zeitlich gebunden, transparent und unumkehrbar vernichten.
  • Keine Unterstützung verbotener Handlungen und keine Beteiligung an Vorbereitungen für Einsatz, Entwicklung oder Herstellung von Atomwaffen.

Implementierung

  • Meldungen über Besitz, Verfügungsgewalt und Kontrolle von Kernwaffen; Beseitigung und Konversion von Kernwaffeneinrichtungen.
  • Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation; umfassendes Sicherungsabkommen.
  • Irreversible Beseitigung und Konversion kernwaffenrelevanter Einrichtungen; Vernichtung von Kernwaffenpotentialen in Vertragsstaaten, mit Zeitplan und Verifizierung.
  • Keine nicht-friedliche Abzweigung gemeldeten Kernmaterials; keine nicht gemeldeten Kernmaterialien oder nuklearen Tätigkeiten.
  • Innerstaatliche Umsetzung, mit Verhängung von Strafen.
  • Recht auf technische, materielle und finanzielle Hilfe anderer Vertragsstaaten.
  • Hilfe für Opfer von Kernwaffeneinsätzen oder -versuchen und Umweltsanierung kontaminierter Gebiete.
  • Kosten für Verifikation, Vernichtung und Umstellung von Kernwaffen-Einrichtungen liegen bei den betreffenden Vertragsstaaten.
  • Änderungen des Vertrags; Beilegung von Streitigkeiten durch Verhandlungen oder andere friedliche Mittel.

Weitere Schritte

  • Der Vertrag wurde mit 122 Ja-Stimmen verabschiedet, liegt ab 20. September 2017 zur Unterzeichnung aus und tritt in Kraft nach Ratifizierung durch fünfzig Staaten.
  • Der Ratifizierungsprozess bietet die Möglichkeit zu Debatten in Parlamenten und die Einbindung in nationale Gesetze mit weiteren Maßnahmen (z.B. Verbot der Finanzierung von Atomwaffen oder Schutz von Whistleblowing).
  • Erstes Treffen der Vertragsstaaten innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages und Folgetreffen alle zwei Jahre.
  • Ermutigung von Nicht-Vertragsstaaten, die Implementierung des Vertrages zu unterstützen und diesem beizutreten.
  • Berichte und Entscheidungen auf Vertragsstaaten- und Überprüfungskonferenzen über Umsetzung und Erweiterung der Verpflichtungen (Zusatzprotokolle).
  • Einrichtung einer internationalen Behörde zur Beseitigung, Konversion und Verifikation von Kernwaffen.

Diese Zusammenstellung basiert auf der deutschen Version des Vertragstextes, siehe un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf. Siehe auch icanw.de/neuigkeiten/faq-zur-­verabschiedung-der-vertrages.

Wissenschaft muss sich öffentlich äußern


Wissenschaft muss sich öffentlich äußern

von Hartmut Graßl

Am 11. April 1957 machten 18 Atomphysiker die »Göttinger Erklärung« öffentlich, und einen Tag später wurde das Memo­ran­dum in den überregionalen Zeitungen »Süddeutsche«, »Frankfurter Allgemeine»« und »Welt« ungekürzt abgedruckt. Die deutsche Bundesregierung zitierte daraufhin Vertreter der »Göttinger 18« nach Bonn und verbat sich die Einmischung der Wissenschaft in die Politik. Anlass für die Erklärung waren extrem verharmlosende Äußerungen des Bundeskanzlers Adenauer zur gewünschten Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, die er als eine „weiterentwickelte Artillerie“ bezeichnet hatte. Da die Erklärung in Akademikerkreisen und in der Öffentlichkeit große und überwiegend positive Resonanz bekam, hatten die »Göttinger 18« wesentlichen Anteil an der Entscheidung der Bundesregierung, auf jegliche Atomwaffen freiwillig zu verzichten. Die Göttinger Erklärung führte im Jahre 1959 auch zur Gründung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Was haben die Wissenschaftler in ihrem Text nach einer Belehrung über die extrem zerstörerische Wirkung von Atomwaffen zentral gefordert? „Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Mit dem letzten Satz verknüpften sie ihre Forderung mit dem eigenen Handeln, und da sie besonders renommierte Atomphysiker waren, wäre die Entwicklung von Atomwaffen in Deutschland nicht nur sehr schwierig, sondern auch nur mit Verzögerung möglich gewesen. Im Rückblick hat es der Bundesrepublik Deutschland seit jetzt 60 Jahren sehr wohl genützt, freiwillig auf die zerstörerischsten aller bisherigen Waffen verzichtet zu haben.

Wie sehr sich die Ansichten auch der Wissenschaftler*innen in den Jahrzehnten seither geändert haben, zeigt der letzte Satz der Göttinger Erklärung: „Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wenn wir Wissenschaftler*innen uns öffentlich äußern, müssen wir also auch immer bedenken, dass sich auf der Basis fortschreitenden Wissens unsere Einschätzungen – vor allem die der Jüngeren – ändern können, so dass jeweils im Dialog mit Öffentlichkeit und Politik frühere Entscheidungen angepasst werden müssen.

Dass eine veränderte Einschätzung oft viel Zeit erfordert, zeigt ein Satz des damaligen Sprechers der »Göttinger 18«, Carl-Friedrich von Weizsäcker, zum Energiebedarf und dessen Gefahren. Zwei Jahrzehnte nach der »Göttinger Erklärung« druckte die »ZEIT« am 8.7.1979 seinen Artikel »Die offene Zukunft der Kernergie«, den er nach einer Expertenanhörung zum Atommülllager Gorleben schrieb. An der Anhörung hatte er als Gesprächsleiter teilgenommen und sich deshalb eigener Meinungsäußerung weitgehend enthalten. Wenn ich mit diesem Aufsatz wieder als Partner in den Dialog eintrete, so versuche ich zur Objektivität dadurch beizutragen, daß ich meine Ansichten als subjektiv, als korrigierbar durch neue Argumente kennzeichne. Der Leser wird wahrnehmen, daß meine heutige Äußerung um eine Nuance distanzierter zur Kernenergie ausfällt als in dem Vortrag vor einem Jahr […].“

Neben dieser selbstkritischen und nachdenklichen Äußerung und diese keineswegs relativierend enthält von Weizsäckers Aufsatz eine weitere bemerkenswerte Aussage: „Aber nach den meines Erachtens besten heutigen geoklimatologischen Schätzungen ist zu vermuten, daß die Kohlendioxyd-Erzeugung in siebzig bis hundert Jahren Klimaänderungen bewirken wird, deren politische Rückwirkungen vielleicht nicht geringer sein werden als diejenigen großer Kriege. Dies ist sehr schwer zu prognostizieren; definitiv wissen wird man es vielleicht erst, wenn es zu spät sein wird. Ich gestehe, daß ich, ohne sichere Grundlage zu diesem Votum, eher zu der Formel neige: ‚Sowenig Kohle und Öl wie möglich, soviel andere Energiequellen wie dann nötig.’“ (Im weiteren Text wies er unter anderem auf das hohe Potential von Energieeinsparung und alternativen Energiequellen hin.) Damit erahnte er aus meiner Sicht früher als die meisten Forscher*innen globale anthropogene Klimaänderungen als eine wesentliche Bedrohung, damals gestützt auf die ersten Klimamodellrechnungen in den USA.

Warum passiert es so selten, dass sich Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit gegen den Missbrauch ihrer Entdeckungen äußern oder vor Fehlentwicklungen warnen und sie auch bereit sind, sich der öffentliche Debatte und der (oft ungerechtfertigten) Kritik der Kolleg*innen auszusetzen? Weil die meisten Wissenschaftler*innen – wie generell die meisten Menschen – nicht anecken wollen, die Einflussmöglichkeiten als zu gering erachten oder Politik als häufig schmutziges Geschäft betrachten.

Ich selbst war lange ein solcher wissenschaftspolitisch und politisch nicht engagierter Wissenschaftler, der im Bereich der Physik der Atmosphäre forschte und sich zwar ab etwa 1978 in der Öffentlichkeit in eingeladenen Vorträgen zu Wort meldete, aber ansonsten darauf verließ, dass seine Forschungsergebnisse schon von den Umweltgruppen in die öffentliche Debatte getragen würden. Wegen meines Spezialwissens im Bereich der Strahlungsübertragung in der Atmosphäre wurde ich dann allerdings durch zwei wissenschaftliche Gesellschaften – also von außen angestoßen – in die öffentliche Arena geworfen. Seit dem von mir wesentlich mitformulierten Memorandum »Warnung vor weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen«, das vor ziemlich genau dreißig Jahren in Berlin bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammen mit der Meteorologischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, vergeht für mich fast keine Woche mehr ohne Öffentlichkeitsarbeit, die ich allerdings fast nie als Last empfand und die – wie mir Ministerialbeamte sagten – bei ihnen früh die großen Energieversorger vorstellig werden ließ, die meine Entfernung aus Beratungsgremien der Bundesregierung anregten. Denn ich war 1988 zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Klimabeirates der Bundesregierung geworden, der auf Anregung durch den Freistaat Bayern im Bundesrat eingerichtet worden war.

Heute werden Atomwaffen und globale anthropogene Klimaänderung oft in einem Atemzug als die beiden größten Herausforderungen für die Menschheit genannt, und in beiden Fällen sind die Bestimmungen in den völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zur Reduzierung der Atomwaffen bzw. zur Begrenzung der globalen Erwärmung noch weit vom Ziel entfernt und werden auch von einigen Ländern missachtet. Als engagierter Wissenschaftler sehe ich allerdings zu beiden Themen in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte: Erstens ist die völkerrechtlich verbindliche Paris-Vereinbarung als Teil der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen gleichbedeutend mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Energieversorgung in den nächsten wenigen Jahrzehnten; und zweitens verhandeln im Rahmen der Vereinten Nationen 130, also die Mehrheit aller etwa 200 Länder, in New York über die Ächtung von Atomwaffen. In beiden Fällen haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse und deren öffentliche Debatte zu politischem Handeln geführt.

Ich möchte diesen beiden großen Herausforderungen für das Wohlergehen der gesamten Menschheit noch eine dritte hinzufügen: den Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. Mit anderen Worten: Eine Revolution in der Landwirtschaft ist notwendig, deren indus­trialisierte Form inzwischen die Hauptbedrohung für Arten und Ökosysteme ist. Denn unsere Ernährung hängt ganz wesentlich von den Leistungen funktionierender Ökosysteme ab, die z.B. Wasser filtern und für Bestäuber sorgen.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Bürger an die Bundesregierung appellieren, doch beide Herausforderungen stärker anzunehmen: Erstens, verhandelt mit bei der Debatte um die Ächtung der Atomwaffen bei den Vereinten Nationen, steht also nicht mehr abseits; und zweitens, zeigt mehr Mut bei den vernachlässigten Teilthemen der Energiewende, nämlich der Wärme- und Mobilitätswende. An die Medien gerichtet: Macht beides zum Wahlkampfthema!

Wir Wissenschaftler*innen sollten uns jedoch nicht nur pauschal zur Abschaffung der Atomwaffen äußern, eine maximal tolerierbare mittlere globale Erwärmung fordern oder den galoppierenden Verlust der biologischen Vielfalt beklagen, sondern wir müssen auch Lösungswege aufzeigen – oft in frustrierend kleinen Schritten. Wissenschaftler*innen haben den Grundstock für ein Leben vieler in Frieden und Wohlstand gelegt. Dass inzwischen von den mehr als 7,5 Milliarden Menschen ein höherer Prozentsatz als jemals zuvor nicht mehr in Armut leben muss und nicht mehr vom Hungertode bedroht ist, sollte trotz aller weiter bestehenden Konflikte als wesentlicher zivilisatorischer Fortschritt anerkannt werden.

Es ist für mich eine Genugtuung, dass zwei internationale Organisationen, nämlich die Pugwash-Bewegung und ihr Gründer Jozef Rotblat sowie der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (IPCC) 1995 bzw. 2007 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, weil sie die Verantwortung der Wissenschaft für zentrale Probleme der Menschheit überzeugend wahrgenommen haben.

Wir sollten uns deshalb heute als Wissenschaftler*innen auf Forschung zum Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen und die weitere Abrüstung und Deligitimierung der Atomwaffen konzentrieren und Wege zur Umsetzung der Paris-Vereinbarung sowie zur Nahrungssicherheit für alle aufzeigen. Die VDW und andere zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen dies weiterhin und brauchen dabei die Unterstützung von mehr engagierten Wissenschaftler*innen.

Hartmut Graßl ist Klimaforscher und war lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Diplomatie muss siegen


Diplomatie muss siegen

von Regina Hagen

Am 26.4.2017 startete die US-Luftwaffe auf ihrem Stützpunkt Vandenberg (­Kalifornien) eine Interkontinentalrakete des Typs Minuteman-3. Die freigesetzte Bombenattrappe landete nach etwa 4.000 Meilen im vorgesehenen Zielgebiet im Meer. „Minutemahn-Starts sind wichtig, um den Status der Atomstreitkraft der USA zu überprüfen und die nuklearen Fähigkeiten der Nation zu demonstrieren“, begründete der Kommandeur des 30. Weltraumgeschwaders den Test. Für den 3. Mai wurde ein weiterer Test angekündigt.

Am 29.4.2017 testete das nordkoreanische Militär eine ballistische Rakete. Diese stieg 71 Kilometer in die Höhe, zerbrach und explodierte noch über dem Territorium der Demokratischen Volksrepublik Korea. Bereits zehn Tage zuvor war eine Rakete nach 60 Kilometern ins Meer gestürzt. Wie immer nach solchen Tests, die Nordkorea durch diverse UN-Resolutionen untersagt sind, befasste sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Thema, konnte sich jedoch nicht auf eine gemeinsam Resolution einigen. Grund für die Uneinigkeit war die Forderung Chinas, die USA sollten sich im Raketen- und Nuklearstreit zu deeskalierenden Schritten bereit erklären.

Beide Seiten, die USA ebenso wie Nordkorea, heiz(t)en die Situation an. Der US-Präsident warnte unverblümt vor einem „großen, großen Konflikts mit Nordkorea“, Nordkorea kündigte seinerseits eine Fortsetzung der Raketentestreihen an und erklärte überdies, auf einen Angriff „werden wir mit einem präemptiven Atomschlag nach unserem Stil und unserer Methode reagieren“. Geheimdienstliche Erkenntnisse deuten auf Vorbereitungen für einen weiteren Atomwaffentest Nordkoreas hin – es wäre der sechste.

Aber wie weit können US-Präsident Trump und der nordkoreanische Staatsführer Kim Jong Un die Eskalation treiben, bevor aus martialischen Worten martialische Taten werden?

Allerdings: Die Krise alleine auf Trump und Kim zurückzuführen, greift natürlich viel zu kurz. Auch haben die Nuklearambitionen Nordkoreas nur indirekt mit der Präsidentschaft von Donald Trump zu tun – mit seinem Politikstil bietet er Nordkorea lediglich eine bessere Projektsfläche als der ehemalige US-Präsident Obama. Einige Fakten scheinen im Kontext des nordkoreanischen Bestrebens, sich ein funktionierendes Raketen- und Atomwaffenarsenal zu verschaffen, aber bedenkenswert:

  • Die Aufteilung der Welt in fünf offiziell akzeptierte (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China), drei tolerierte (Pakistan, Indien und Israel) und einen neuen Atomwaffenstaat (Nordkorea) hier und mehr als 180 Staaten, die keine Atomwaffen haben wollen oder sollen, dort, wird sich auf Dauer nicht aufrecht erhalten lassen.
  • Die Verbreitung von Atomwaffen konnte mit dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 zwar eingedämmt, nicht aber verhindert werden. Als Nordkorea mit Atomwaffentests beginnen wollte, kündigte es seine Mitgliedschaft in dem Vertragssystem einfach auf.
  • Die Geschichte des nordkoreanischen Raketen- und Atomwaffenprogramms ist eine lange Geschichte gebrochener Abkommen und verpasster Chancen (u.a. Erklärung über die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel, »Agreed Framework«, »Six Party Talks«).
  • Nordkorea einfach als weiteren Atomwaffenstaat hinzunehmen, ist keine Lösung. Dies könnte dazu führen, dass sich Südkorea und Japan ebenfalls aus dem NVV verabschieden oder die Stationierung von US-Atomwaffen in ihren Ländern einfordern. Das würde die Erosion des Nichtverbreitungsregimes weiter befördern.
  • Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen rings um Nordkorea mag der Beruhigung Südkoreas und Japans dienen, verschärft aber zugleich die Spannungen mit Russland und China, die diese Systeme als Bedrohung ihrer strategischen Nuklearfähigkeiten einstufen.
  • Ein »präventiver« Schlag gegen Nordkorea würde gegen das Völkerrecht verstoßen –Pyöngyang hat niemals die geringsten Invasions- oder Angriffsambitionen erkennen lassen –, und könnte in einer ohnehin von Spannungen und Territorialstreitigkeiten geprägten Region zu unkontrollierbaren Folgen führen – von den humanitären Konsequenzen jeder Kriegsführung ganz abgesehen.

Schon seit Jahren schlagen Abrüstungsexperten aus der Region vor, einen großen Wurf, eine atomwaffenfreie Zone Nordostasien anzustreben. Diese könnte nach dem Vorbild der bereits bestehenden Atomwaffenfreien Zonen gestaltet werden, die sich über fast die ganze südliche Hemisphäre erstrecken. Allerdings wäre die Aufgabe groß, denn außer Nord- und Südkorea und Japan müssten die Atomwaffenstaaten China, Russland und USA gemeinsam am Tisch sitzen und das Vertragspaket müsste »win-win«-Aspekte für alle Seiten vorsehen.

Im August vorigen Jahres meinte der Südkoreaner Chung-in Moon in einem online geführten Roundtable-Gespräch des »Bulletin of the Atomic Scientists«:Die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Nordostasien klingt vielleicht unmäßig idealistisch. Aber inmitten der akuten militärischen Konfrontation auf der Halbinsel und der Gefahr eines katastrophalen Krieges, was ist da so realistisch an endlosen Runden festgefahrener Verhandlungen?“. Ja, was?

Ihre Regina Hagen

Atomwaffenverbot – bloß nicht !?

Atomwaffenverbot – bloß nicht !?

Realpolitik im Wortlaut der USA

von der Ständigen Vertretung der USA bei der NATO

Im Jahr 2016 traf sich in drei Sitzungsperioden eine von der UN-Generalversammlung beschlossene »Open-ended Working Group« (OEWG), um Vorschläge für multilaterale Verhandlungen über nukleare Abrüstung auszuarbeiten. In ihrem Abschlussbericht empfahl die OEWG, solche Verhandlungen aufzunehmen. Vor einer Zustimmung zu solchen Verhandlungen warnte die Ständige Vertretung der USA bei der NATO die Verbündeten in einem Schreiben mit dem Titel »Auswirkungen eines potentiellen Atomwaffenverbotsvertrags der UN-Generalversammlung auf die Verteidigung«, das W&F hier dokumentiert.1

Sehr geehrte Verbündete,

wir wollten Ihre Aufmerksamkeit auf den Abschlussbericht der OEWG lenken, der sich unserer Ansicht nach als unausgewogen und unrealistisch erweist, insbesondere mit seiner Empfehlung, Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen aufzunehmen. Den Verbündeten, die an der OEWG teilnehmen, empfehlen wir dringend, bei einer Abstimmung im Ersten Komitee der UN[-Generalversammlung] über die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Atomwaffenverbotsvertrag mit »nein« zu stimmen. […]

Mit freundlichen Grüßen
Christina Cheshier,
CP(PM) Representative
U.S. Delegation
17. Oktober 2016

Überblick

1. Auf der Grundlage der Arbeit der kürzlich beendeten Open-ended Work­ing Group (OEWG) der UN-Generalversammlung (UNGA), die durch Resolution 70/33 der UNGA eingesetzt worden war, haben Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika einen Resolutionsentwurf in das Erste Komitee der UNGA eingebracht, der die Aufnahme von Verhandlungen in der UNGA über einen rechtsverbindlichen Atomwaffenverbotsvertrag vorsieht. Befürworter eines Verbots wollen den Fokus verschieben, weg von dem bewährten Schritt-für-Schritt-Ansatz für nukleare Abrüstung gemäß unseren Verpflichtungen aus dem [Nichtverbreitungsvertrag], hin zu einem Ansatz, der primär auf die Stigmatisierung von Atomwaffen und von nuklearer Abrüstung zielt, ohne Rücksicht darauf, ob der Ansatz der Verbotsbefürworter die internationale Sicherheitslage verbessert oder verschlechtert. Wenn die UNGA diesen Herbst [2016] eine solche Resolution annimmt, werden im Jahr 2017 Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag gemäß der UNGA-Geschäftsordnung aufgenommen.2

2. Die Folgen eines Atomwaffenverbotsvertrags könnten weitreichend sein und die dauerhaften Sicherheitsbeziehungen negativ beeinträchtigen. Verbündete und Partner sollten die Bedeutung der potentiellen Auswirkungen auf die Sicherheitsbeziehungen oder ihr Potential, sich im Laufe der Zeit stärker auszuwirken, nicht unterschätzen. Da er das sich entwickelnde Sicherheitsumfeld nicht berücksichtigt und das Konzept der nuklearen Abschreckung, von dem viele US-Verbündete und -Partner abhängen, zu delegitimieren sucht, würde ein solcher Vertrag die langjährige Stabilität unterminieren, die die internationale Sicherheitsstruktur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges untermauert. Strategische Stabilität und eine vertraglich vereinbarte, überprüfbare Verringerung der nuklearen Streitkräfte, die die Vereinigten Staaten unterhalten, sind kompatible Ziele und der einzige Weg zur letztendlichen nuklearen Abrüstung. Die Vereinigten Staaten rufen alle Verbündeten und Partner auf, gegen Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag zu stimmen, sich also nicht nur zu enthalten. Außerdem bitten wir die Verbündeten und Partner, sich nicht an den Verhandlungen zu beteiligen, falls solche aufgenommen werden.3

Militärische Implikationen eines Atomwaffenverbots

3. Der Anhang II des »Synthesis Report«, den die OEWG am 19. August 2016 verabschiedete, listet die vorgeschlagenen »Elemente« eines rechtsverbindlichen Atomwaffenverbots auf. Wir können zwar keine abschließende Interpretation eines hypothetischen Textes vornehmen, mindestens neun der vorgeschlagenen Elemente könnten aber eine direkte Auswirkung auf die Fähigkeit der USA haben, ihre erweiterten Abschreckungsverpflichtungen in der NATO und [dem] Asien-Pazifik[-Raum] zu erfüllen, sowie auf die Fähigkeit unserer Verbündeten und Partner, mit den Vereinigten Staaten und anderen Atomwaffenstaaten gemeinsame Verteidigungsübungen durchzuführen. Es ist zu betonen, dass ein Vertrag, der solche Elemente enthält, sich sowohl auf Nicht-Vertragsparteien als auch auf Vertragsparteien auswirken könnte, und er könnte sogar bereits vor seinem Inkrafttreten Auswirkungen haben, wenn die Unterzeichner Vorkehrungen treffen, ihre Verpflichtung zu erfüllen, Ziel und Zweck des Vertrages nicht zu durchkreuzen. Die Elemente 1, 3, 5-6, 9, 14, 16-17 und 21 würden gemäß dem Wortlaut von Anhang II:

  • 1) „Entwicklung, Testen einschließlich subkritischer Experimente und Supercomputersimulationen, Herstellung, Erwerb, Besitz, Lagerung, Weitergabe, Einsatz und Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen sowie die Produktion waffentauglicher Spaltmaterialien“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an jeglichem Einsatz oder der Drohung mit dem Einsatz [von] Atomwaffen“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an der nuklearen Kriegsplanung“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an der Zielauswahl für Atomwaffen“ verbieten;
  • 3) „Ausbildung von Personal, um die Kontrolle von Atomwaffen eines anderen Staates zu übernehmen oder diese einzusetzen“ verbieten;
  • 5) „Duldung jeglicher Stationierung, Aufstellung oder Bereitstellung von Atomwaffen“ verbieten;
  • 6) „Duldung von Atomwaffen auf nationalem Hoheitsgebiet, einschließlich der Duldung von Schiffen mit Atomwaffen in Häfen und Hoheitsgewässern, Duldung des Eindringens von Flugzeugen mit Atomwaffen in den nationalen Luftraum, Duldung des Transits von Atomwaffen durch nationales Hoheitsgebiet, Duldung der Stationierung oder der Bereitstellung von Atomwaffen auf nationalem Hoheitsgebiet“ verbieten;
  • 9) „mittelbare oder unmittelbare Unterstützung, Ermutigung oder Veranlassung jeglicher Aktivitäten, die gemäß dieses Vertrags verboten sind“ verbieten;
  • 14) „Rechte und Verpflichtungen für Personen, einschließlich nationaler Gesetzgebung, die die Unterstützung von gemäß dieser Konvention verbotenen Aktivitäten kriminalisiert, und Schutzmaßnahmen für Personen, die solche Aktivitäten melden …“;
  • 16) „[Regelungen zur] Beilegung von Streitigkeiten, einschließlich … der Möglichkeit, eine Streitigkeit beim Internationalen Gerichtshof einzureichen und nötigenfalls den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einem Sachverhalt zu befassen“;
  • 17) „Pflicht der Vertragsstaaten, die erforderlichen Gesetzgebungsmaßnahmen zu treffen, um ihre Verpflichtungen aus der Konvention zu erfüllen, und eine nationale Behörde zu schaffen, die für die Durchführung der Konvention zuständig ist“; und
  • 21) Staaten verpflichten, „sich an keinerlei verbotenen Handlung, an keinerlei auf der nuklearen Abschreckung basierenden Doktrinen zu beteiligen, und sicherzustellen, dass die Beteiligung an einem Bündnis mit einem Atomwaffenstaat kompatibel ist mit ihren Verpflichtungen und Politiken gemäß der Instrumente“.

4. Diese Elemente könnten die nukleare Planung oder nukleare Übungen (Element 3) oder nuklearbezogenen Transit durch nationalen Luftraum oder durch Hoheitsgewässer (Element 6) unmöglich machen. Darüber hinaus könnten Elemente 9 und 21 für einen Unterzeichnerstaat eine Vertragsverletzung bedeuten, wenn er überführt würde, die Vereinigten Staaten (oder einen anderen nuklear bewaffneten Verbündeten, wie das Vereinigten Königsreich oder Frankreich) „direkt oder indirekt zu unterstützen, zu ermutigen oder zu veranlassen“ zu sagen, dass sie Atomwaffen einsetzen – geschweige denn, den Einsatz planen oder üben – würden, um den Unterzeichnerstaat zu verteidigen. […] Außerdem könnten, da die Vereinigten Staaten im Einklang mit ihrer Politik das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Atomwaffen auf US-Schiffen weder bestätigen noch dementieren, es die Elemente 5, 6 und 9 für diese Schiffe unmöglich machen, Häfen in Unterzeichnerstaaten anzulaufen. Der vorgeschlagene Verbotsvertrag und seine Bestandselemente würden die Vereinigten Staaten daran hindern, atomwaffenfähige Trägersysteme einzusetzen, um Sicherungsmissionen für US-Verbündete durchzuführen. […]

Implikationen für die NATO

5. Verbündete haben wiederholt bestätigt, dass Atomwaffen eine Kernkomponente des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO sind. […] In Warschau bekräftigten die NATO-Verbündeten [2016], dass eine geeignete Mischung von Fähigkeiten, einschließlich nuklearer, den Zusammenhalt des Bündnisses, einschließlich des transatlantisches Bandes, durch eine ausgeglichene und nachhaltige Verteilung der Rollen, Verantwortlichkeiten und Lasten stärkt. Eine Haltung, die nukleare Abschreckung delegitimiert, wäre mit diesen Kernkonzepten unvereinbar. Jeder unterzeichnende Verbündete könnte glauben, es sei juristisch erforderlich, jegliche nukleare Zusammenarbeit der NATO zu unterbinden, und könnte entsprechende Maßnahmen ergreifen, unabhängig davon, ob der Unterzeichner aktiv an den Vereinbarungen zur nuklearen Lastenteilung der NATO teil hat.

6. Genauer gesagt, könnte das Konzept der nuklearen Lastenteilung – verkörpert durch vorwärtsdislozierte Atomwaffen der USA in Europa und durch sowohl konventionell als auch nuklear einsetzbare Flugzeuge mit der damit einhergehenden Sicherungs- und Sicherheitsverantwortung, mit der gewisse Verbündete betraut sind – gemäß den Elementen 3, 4, 6 und 9 unhaltbar werden. Mit Element 6 könnte der Transit von US-Flugzeugen durch den Luftraum von Verbündeten, um US-Atomwaffen und -komponenten zu transportieren, zu warten und aufzurüsten, eine Vertragsverletzung werden. Die allgemeinen Verbote könnten außerdem Verbündete daran hindern, konventionelle Unterstützung für nukleare Operationen zu leisten. Elemente 1 und 3 könnten Fragen bezüglich der Regelkonformität bei der Besetzung von nuklearbezogenen Stellen in Allied Command Operations, Allied Command Transformation und den NATO-Hauptquartieren, aufwerfen, insbesondere auf Führungsebene. Elemente 14 und 17 könnten individuelle Mitglieder der NATO-Streitkräfte der Gefahr aussetzen, nationales Recht des Gastgeberlandes zu verletzten. Das Konstrukt der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), die 1966 eingerichtet wurde, könnte als dem Vertrag widersprechend angesehen werden, ebenso die Teilnahme an Treffen der NPG, des Militärausschusses (HLG) oder anderer vergleichbarer Beratungsgremien. NATO-Übungen und -Trainings, die der Sicherung und Sicherheit von Atomwaffen sowie der Fähigkeit, diese im Krisen oder Konfliktfall effektiv zum Einsatz zu bringen, dienen, könnten unter die Verbotsbestimmungen des Vertrages fallen. Weitere konkrete Aspekte der militärischen Einsatzbereitschaft, wie Planung und Koordination für einen potentiellen Konflikt, könnten verboten sein. […]

Anmerkungen

1) Der englische Originaltext des Dokuments ANNEX 2, AC/333-N(2016)0029 (INV) ist abrufbar unter icanw.org/wp-content/uploads/2016/10/NATO_OCT2016.pdf. Die Fußnoten wurden von der Übersetzerin einge­fügt.

2) Die UN-Generalversammlung trifft Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip, während die ständige Abrüstungskonferenz in Genf, die eigentlich für (nukleare) Abrüstung zuständig ist, nach dem Konsensprinzip arbeitet und sich seit 20 Jahren nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen konnte.

3) Die deutsche Bundesregierung hat bereits entschieden, nicht an den Verhandlungen teilzunehmen, die von der UN-Generalversammlung inzwischen für März und Juni /Juli 2017 anberaumt wurden.

Nicht autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Regina Hagen

Atomwaffentest in Nordkorea

Atomwaffentest in Nordkorea

Eine Stellungnahme

von Götz Neuneck

Nordkorea führte nun schon den zweiten Nukleartest in diesem Jahr durch. Weitere Tests sind zu erwarten, genauso wie ein verschärftes Wettrüsten in Südostasien.

Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr hat die Demokratische Volksrepublik Korea (DPRK) am 9. September 2016, dem Nationalfeiertag Nordkoreas, einen unterirdischen Kernwaffentest auf ihrem Testgelände in der Provinz Nord-Hamgyong durchgeführt. Die Auswertung der vom nationalen Datenzentrum für die Überwachung des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages (CTBT),1 das von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover betrieben wird, aufgezeichneten seismischen Signale zeigt eine Raumwellenmagnitude zwischen 5,1 und 5,3. Dies entspricht in etwa einer Detonationsstärke von ca. 25 ± 7,5 Kilotonnen TNT-Äquivalenten.2 Sollte sich eine Magnitude von 5,3 bestätigen, so wäre dies der bisher stärkste Nuklearwaffentest Nordkoreas gewesen (siehe Tabelle).

Datum

Magnitude [mb]

Ladungsstärke [kt]

Radionuklidnachweis

09.10.2006

4,1

0,5-1

ja

25.05.2009

4,7

2-4

nein

12.02.2013

5,1

6-9

ja

05.01.2016

5,1

7-9

nein

09.09.2016

5,1/5,3

9-30

ausstehend

Tabelle 1: Kernwaffentests in Nordkorea

In dem von der CTBT-Organisation betriebenen weltweiten International Monitoring System (IMS) konnten in der unmittelbaren Umgebung 25 seismische Stationen Mess-Signale auffassen und mit großer Genauigkeit das Epizentrum lokalisieren.3 Nach Aussagen der CTBTO war die Detonationsstärke etwas größer als bei den Vorgängertests. Allerdings war die Explosionsstärke der letzten drei Tests von ähnlicher Größe, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass ein ähnlicher Sprengkopftyp ein weiteres Mal getestet wurde. Den endgültigen Beweis, ob es sich um einen Kernwaffentest gehandelt hat, wird die internationale Gemeinschaft erst erlangen, wenn es dem IMS gelingt, radioaktive Spuren der Explosion zu messen. Es bleibt dennoch äußerst plausibel, dass es sich hier um eine weitere unterirdische Nuklearexplosion gehandelt hat.

Weltweit wurde der Test verurteilt und auf die nordkoreanische Nichteinhaltung des internationalen Tabus von Nukleartest und Nichtverbreitungsnormen verwiesen. US-Präsident Obama sprach von einer ?schweren Bedrohung der regionalen Sicherheit und des internationalen Friedens und der Stabilität? und kündigte ?ernste Konsequenzen? an.4 Der deutsche Außenminister Steinmeier bestellte ein weiteres Mal den nordkoreanischen Botschafter in Berlin ein. Auch das russische und das chinesische Außenministerium verurteilten den Test und riefen zur Mäßigung und zur Wiederaufnahme der »Sechs-Parteiengespräche« über ein kernwaffenfreies Korea auf. Sowohl der Generalsekretär der Vereinten Nationen als auch der Generalsekretär der Internationalen Atomenergieorganisation sowie der Chef der CTBTO meldeten sich zu Wort und verwiesen auf den Bruch diverser Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch Nordkorea.5

Schon Tage vor dem Test waren durch Satellitenaufnahmen Aktivitäten an mehreren Tunneleingängen des Testgeländes Punggye-ri beobachtet worden.6 Die nordkoreanische Regierung gab nach dem Test an, dass ein Sprengkopf getestet wurde, der kompakt genug sei, um auf eine ?strategische Rakete? montiert zu werden.7 Die möglicherweise nun erlangte ?Standardisierung? ermögliche Nordkorea die Produktion von ?kleineren, leichteren und verschiedenartigen nuklearen Sprengköpfen?.8 Das »DPRK Nuclear Weapons Institute« hatte erklärt, Nordkorea sei nun in der Lage, transportfähige Sprengköpfe herzustellen.

Wie stets wurde dieser Kernwaffentest zuvor von Raketentests begleitet.9 Seit Februar 2016 feuerte Nordkorea ca. 30 ballistische Raketen mit einer Reichweite von 200 km und mehr ab. In diesem Jahr fanden auch bereits einige Aufsehen erregende Tests von Mittelstreckenraketen statt. So wurde am 24. August 2016 eine U-Boot-gestützte Rakete (KN-11) abgeschossen. Sie legte dabei eine Entfernung von ca. 500 km zurück. Weitere Tests von Mittelstreckenraketen fanden im Mai und Juni (Musudan, 2.500-4.000 km) sowie im Juli, August und September (No-Dong, ca. 1.000 km) statt. Nicht alle Tests waren erfolgreich, und Nordkorea setzt alles daran, seine Fähigkeiten im besten Licht darzustellen. Mit einem Mittelstreckenpotenzial kann Nordkorea im Stationierungsfall mögliche Ziele in Südkorea, Japan und eventuell auch US-Streitkräfte auf Guam bedrohen. Die Entwicklung einer Interkontinentalrakete (ICBM), die die USA erreichen kann, dürfte jedoch noch einige Zeit brauchen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob Nordkorea einsetzbare Nuklearsprengköpfe aus unterschiedlichen waffenfähigen Materialien (Plutonium, hoch angereichertes Uran) herstellen und auf seinen getesteten Mittelstreckenraketen stationieren wird. Bisher wurden die Kernwaffentests von 2006, 2009 und 2013 eher als symbolische Akte interpretiert, u.a. um die USA wieder an den Verhandlungstisch zu bringen und weitere Zugeständnisse zu erhalten. Auch wollte Nordkorea durch die Tests signalisieren, dass es einen Angriff der USA mit seinem (wenn auch nicht näher bekannten) Nuklearpotenzial abschrecken kann. Nun dürfte sich die Situation in Nordostasien zuspitzen, da die meisten Staaten in der Region damit rechnen müssen, dass Nordkorea nuklearwaffenfähige Mittelstreckenraketen stationieren wird. Allerdings hat Nordkorea immer wieder durch bearbeitete Propagandafotos und zweifelhafte Statements, wie z.B. im Januar 2016 die Behauptung, eine Wasserstoffbombe getestet zu haben, die eigenen Fähigkeiten übertrieben dargestellt, um ernst genommen zu werden.

Mögliche Folgen und Reaktionen

Seit Langem wird versucht, mit diplomatischen Mitteln ein Ende der nuklearen Rüstung einschließlich der Beschränkung von Raketentests zu erreichen und das militärische Nuklearprogramm Nordkoreas zu beenden.10 Die Kombination aus weltweiter Verurteilung, verschärften Sanktionen, Embargos und verstärkter Isolation hat allerdings nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Nach dem letzten Nukleartest im Januar 2016 hatten die USA entschieden, in Südkorea eine Batterie des Raketenabwehrsystems »Terminal High Altitude Area Defense« (THAAD) zum Schutz Südkoreas und der US-Truppen zu stationieren.11 Trotz erheblicher lokaler Proteste hat die südkoreanische Regierung dem inzwischen zugestimmt. Die USA verfügen zur Zeit schon über fünf THAAD-Batterien, von denen eine in Guam stationiert ist.12 Die Stationierung von THAAD provoziert China, da die Volksrepublik fürchtet, diese Raketenabwehrkapazität könnte sein relativ kleines strategisches Nukle­ararsenal unterminieren. Wenn die nordkoreanische Raketenentwicklung schnell voranschreitet, wird eine THAAD-Abwehrbatterie nicht ausreichen, sodass ein weiterer Wettlauf zwischen Offensivraketen und Defensivsystemen vorprogrammiert ist.

Ein weiteres Konfliktfeld ist das ausstehende Inkrafttreten des Umfassenden Kernteststoppabkommens CTBT, dem sich seit 1996 183 Staaten angeschlossen haben. Der Vertrag kann erst in Kraft treten, wenn ihn auch die folgenden acht Staaten ratifiziert haben: Ägypten, China, Indien, Iran, Israel, Nordkorea, Pakistan und USA. Um die internationale Norm eines weltweiten Kernwaffenteststopps zu stärken, sollte der überfällige Ratifikationsprozess so schnell wie möglich aktiver betrieben werden. Zwar wird dies Nordkorea nicht unmittelbar beeindrucken, aber die Festigung einer überprüfbaren Norm wird den Druck auf die Länder, die nicht ratifiziert haben, erhöhen. Am 23. September 2016 wurde im UN-Sicherheitsrat die Resolution 2310 mit 14:0 Stimmen verabschiedet. Diese ruft die ausstehenden Länder auf ?ohne weitere Verzögerung? zu ratifizieren, die CTBTO weiter zu unterstützen und das weltweite Testmoratorium einzuhalten.

Das Dossier Nordkoreas wird nun eine Top-Priorität für die neue US-Regierung bilden. Es ist zu erwarten, dass es eine weitere US-Gesprächsoffensive mit Nordkorea gibt, aber auch verstärkte Rückversicherungsmaßnahmen für Südkorea und Japan durch die Stationierung weiterer THAAD-Batterien.

Anmerkungen

1) CTBT steht für Comprehensive Test Ban Treaty. Die für den CTBT geschaffene Organisation (CTBTO) in Wien arbeitet bis zum Inkrafttreten des 1996 vereinbarten internationalen Vertrags provisorisch, verfügt weltweit aber bereits über 321 seismische, hydroakustische, Infraschall- und Radionuklid-Mess-Stationen und 16 Labors. Bis auf Nordkorea halten sich alle Länder der Welt seit 1998 an den Vertrag bzw. an ein Testmoratorium.

2) Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe: BGR registriert vermutlichen fünften nordkoreanischen Kernwaffentest. keine Datumsangabe; bgr.de.

3) CTBTO: CTBTO Executive Secretary Lassina Zerbo on the unusual seismic event detected in the Democratic People's Republic of Korea. 9.9.2016; ctbto.org.

4) The White House: Statement by the President on North Korea?s Nuclear Test, September 9, 2016.

5) Nach dem Nukleartest vom Januar 2016 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2270, die u.a. Schiffsinspektionen erlaubt und ein Embargo für Flugzeugtreibstoff und seltene Mineralien verhängt. Siehe: United Nations – Meetings Coverage: Security Council Imposes Fresh Sanctions on Democratic People's Re­public of Korea, Unanimously Adopting Resolution 2270 (2016). 2.3.2016.

6) Joseph S. Bermudez and Jack Liu: New Activity Near All Three Portals at the Punggye-ri Nuclear Test Site. US-Korea Institute at SAIS – 38 North, 8. September 2016. Die Website »38 North« (38north.org) bietet Analysen zu Nordkorea.

7) Das Statement des DPRK Nuclear Weapon Institute wird im Eintrag »DPRK Conducts Fifth Nuclear Test« auf nkleadershipwatch.wordpress.com vom 9.9.2016 wiedergegeben.

8) Hierzu heißt es in der Originalerklärung des DPRK Nuclear Weapons Institute (siehe Fußnote 7): ?The standardization of the nuclear warhead will enable the DPRK to produce at will and as many as it wants a variety of smaller, lighter and diversified nuclear warheads of higher strike power with a firm hold on the technology for producing and using various fissile materials.?

9) Eine Zeitleiste der nordkoreanischen Raketentests findet sich unter 38north.org/2016/08/missiletimeline082416/.

10) Eine bis 2014 reichende Chronologie der entsprechenden diplomatischen Bemühungen findet sich auf der Website der Arms Control Association unter legacy.armscontrol.org/­factsheets/dprkchron.

11) Die THAAD Batterie soll 220 km südöstlich von Seoul in Seongju stationiert werden.

12) Eine THAAD Batterie besteht aus einem TPY-2 X-Band-Radar, einem Führungszentrum und einigen Startgeräten, die bis zu acht Abfangraketen aufnehmen können. Die Abfanghöhe liegt zwischen 40 und 200 km.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Physiker und geschäftsführender wissenschaftlicher Ko-Direktor des Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Dieser Text erschien am 14. September 2016 als IFSH-Stellungnahme und wurde für W&F leicht aktualisiert und überarbeitet.

Open-ended Working Group der UNO


Open-ended Working Group der UNO

UN-Arbeitsgruppe zu völkerrechtlichen Maßnahmen für nukleare Abrüstung, Genf, Februar und Mai 2016

von Leo Hoffmann-Axthelm

Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, ist eine als »Open-ended Working Group« (OEWG) bezeichnete Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen dabei, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass schon 2017 Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen starten könnten.

US-Präsident Obama forderte bei seinem historischen Besuch in Hiroshima am 27. Mai 2016 – dem ersten Besuch eines US-Präsidenten in dieser Stadt überhaupt – eine moralische Revolution für nukleare Abrüstung, während er gleichzeitig Initiativen zur Stigmatisierung von Atomwaffen boykottiert und für die nächsten 30 Jahre insgesamt eine Billion (also 1.000 Mrd.) US-Dollar für die Erneuerung der US-Atomwaffen einplant.

Die deutsche Abrüstungspolitik ist ähnlich widersprüchlich: Offiziell fordert die Bundesregierung eine atomwaffenfreie Welt, tatsächlich lehnt sie ein Verbot von Atomwaffen aber bisher ab. Sie sollen zwar eigentlich verschwinden, aber dazu die elementaren rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, dazu ist die Bundesregierung nicht bereit. In Deutschland gibt es zwar einen gesellschaftlichen Konsens gegen diesen letzten noch nicht völkerrechtlich verbotenen Typus von Massenvernichtungswaffen.1 Seit dem Ende des Kalten Krieges wird das Thema hierzulande aber kaum diskutiert, und auch die Bundesregierung geht den Weg des geringsten Widerstandes: Atomwaffen in Frage zu stellen, würde innerhalb der NATO einen diplomatischen Kraftakt voraussetzen.

Kein Wunder also, dass ein großer Teil der Staatengemeinschaft die Geduld verliert. Die 2013 und 2014 in Norwegen, Mexiko und Österreich abgehaltenen Konferenzen über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen2 haben den internationalen Diskurs um Atomwaffen verändert. 127 Staaten schlossen sich der von Österreich lancierten »Humanitären Selbstverpflichtung« (Humanitarian Pledge) an, die völkerrechtliche Lücke in Bezug auf nukleare Abrüstung zu schließen – das heutige Völkerrecht, insbesondere der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), setzt den Fokus auf die Nichtverbreitung.

Nach dem Scheitern der NVV-Überprüfungskonferenz 2015 setzten die Staaten der Humanitären Initiative daher über die UN-Generalversammlung ein temporäres Unterorgan ein, welches im Februar und Mai 2016 insgesamt drei Wochen lang in Genf getagt hat und seine Arbeit Mitte August 2016 in einer weiteren Sitzungswoche abschließen wird: die »ergebnisoffene Arbeitsgruppe« (Open-ended Working Group). Anders als bei der ständigen UN-Abrüstungskonferenz und bei den NVV-Konferenzen gelten hier die Regeln der Generalversammlung, d.h. Mehrheitsabstimmungen statt Konsens. Darüberhinaus wurde die allen Staaten offen stehende OEWG mit einem klaren Mandat ausgestattet: neue Maßnahmen zu diskutieren, die nukleare Abrüstung vorantreiben würden. In der OEWG schälte sich deutlich eine Präferenz für einen völkerrechtlichen Vertrag zum generellen Verbot von Atomwaffen heraus.

Zwar haben die atomar bewaffneten Staaten dieses Forum boykottiert und ihren mangelnden Willen zur nuklearen Abrüstung damit ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Einige von ihnen wurden aber von NATO-Staaten wie Deutschland vertreten, die in der OEWG versuchten, vom Verbotsvertrag abzulenken und die alten, seit Jahrzehnten ein ums andere Mal per Konsens angenommenen, aber nie implementierten Schritte des so genannten »step-by-step process« als einzigen gangbaren Weg darzustellen. Unter einem neuen Titel („progressive approach“) wurde nun versichert, es handle sich bei 20 Jahre alten Ideen (Inkraftsetzen des Umfassenden Teststopp-Vertrags, Vertrag zu spaltbaren Materialien, Appelle für mehr Transparenz und zügigere Reduktionen der Atomwaffenarsenale) um etwas anderes als den Status quo.

Eine deutliche Mehrheit der teilnehmenden Staaten kritisierte dieses Vorgehen der Atomwaffenstaaten und ihrer Alliierten. Ihr Unwille, neue Schritte, wie einen Verbots­vertrag, überhaupt nur in Erwägung zu ziehen, spornt die Mehrheit der Staatengemeinschaft erkennbar an, nun erst recht nicht auf die Einwilligung der nuklear Bewaffneten zu warten, um das Projekt eines internationalen Verbots voranzubringen.

Zehn Staaten, darunter auch größere Länder wie Argentinien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und die Philippinen, schlugen im Arbeitspapier WP.34 einen Verhandlungsbeginn im Jahr 2017 vor. Etliche weitere schlossen sich dieser Forderung mündlich an. Alle Staaten Lateinamerikas sowie die Afrikanische Union forderten explizit eine Ächtung von Atomwaffen. Irland, Österreich, Mexiko und Neuseeland taten sich mit besonders eloquenten Argumenten hervor, ebenso kleinere Staaten, wie Jamaika, Nicaragua und Palau. Insgesamt forderten 127 Regierungen – zwei Drittel der Staatengemeinschaft – im ArbeitspapierWP.36, „dringend“ mit Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot zu beginnen. Die österreichischen Autoren des Papiers wurden noch deutlicher und unterstrichen, dass die Mehrheit ein Verbot „so schnell wie möglich“ anstrebt.

Der Zuspruch für einen Verbotsvertrag war in der OEWG so groß, dass es mittlerweile unwichtig erscheint, was genau im abschließenden Bericht der OEWG stehen wird, der bei dem dritten Treffen Mitte August verabschiedet werden soll. Der Bericht soll der Generalversammlung eine Empfehlung über geeignete Maßnahmen für nukleare Abrüstung geben; die Generalversammlung könnte sodann mittels einer neuen Resolution tatsächlich Verhandlungen über einem Verbotsvertrag mandatieren. Spätestens dann müsste auch die Bundesregierung Farbe bekennen: Votiert sie für den Beginn der Verhandlungen oder wird sie sich enthalten?

Jamaika erklärte unlängst: Die nukleare Abrüstung wird endlich demokratisiert. Die bislang schweigende Mehrheit übernimmt die Initiative und erkennt an: Man darf nicht auf die Raucher warten, wenn man ein Rauchverbot einführen will. Nun werden die nuklear bewaffneten Staaten nicht länger um Erlaubnis gebeten, indem man ihnen ein Veto einräumt bei der Entscheidung über Vertragsverhandlungen. Einige Staaten haben die Bio- und Chemiewaffenkonventionen von 1975 bzw. 1993 bis heute nicht ratifiziert, dennoch konnten sie die Verhandlungen über die Ächtung dieser Waffengattungen nicht aufhalten. Der österreichische Botschafter unterstrich in Genf: Historisch gesehen wurden Waffensysteme stets verboten, bevor die mühsame Arbeit der Reduzierung und Abschaffung begann.

Die überwiegende Mehrheit der Staaten fordert nun, dass ihre Sicherheitsinteressen ebenfalls berücksichtigt werden – und zwar durch eine drastische Reduzierung und mittelfristig die Abschaffung der Atomwaffen. Die Sicherheit aller Menschen, und nicht nur jene einiger privilegierter Staaten, bildet den Kern der Humanitären Initiative und des wieder aufgeflammten Kampfes für unverzügliche Fortschritte bei der Reduzierung der Rolle von Atomwaffen.

Die Argumente gegen ein Verbot sind letztlich deshalb so unhaltbar, weil sie den wahren Grund für die Ablehnung verbergen sollen, kommt dieeser doch einem Bruch der NVV-Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung gleich: Die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten haben schlicht und ergreifend keinerlei Pläne, abzurüsten.

Die OEWG hat ein weiteres Stück Klarheit geschaffen: Welche Staaten sind wirklich für eine atomwaffenfreie Welt und welche behauptet dies nur, während sie ansonsten auf Zeit spielen?

Anmerkungen

1) Forsa-Umfrage vom 17./18. März 2016.

2) Siehe dazu Englert, M.; Kütt, M.; Löpsinger, A.: Oslo, Nayarit und Wien – Humanitäre Aspekte in der nuklearen Abrüstungsdebatte. W&F 2-2015, S. 42-45.

Leo Hoffmann-Axthelm

Oslo, Nayarit und Wien

Oslo, Nayarit und Wien

– Humanitäre Aspekte in der nuklearen Abrüstungsdebatte

von Matthias Englert, Moritz Kütt und Andreas Löpsinger

Im April und Mai 2015 kommt wieder ein Großteil der 190 Staaten in New York zusammen, die Mitglieder des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) sind. Sie sollen die Umsetzung des 1970 in Kraft getretenen Vertrages überprüfen, schließlich haben sich die Länder mit ihrem Beitritt nicht nur zur Nichtverbreitung, sondern auch zu Verhandlungen über die vollständige Abrüstung der vorhandenen Kernwaffenarsenale verpflichtet. Die Vertragskonferenzen sind vom Ablauf wie von den inhaltlichen Stellungnahmen längst zum Ritual erstarrt, auf beiden Seiten: den Regierungen wie den akkreditieren Nichtregierungsorganisationen. Doch seit 2010 ist ein anderer Ton in die Debatte gekommen: Es wird (wieder) über die humanitären Aspekte von Atomwaffen geredet, und als Konsequenz wird auch (wieder) über einen Verbotsvertrag diskutiert. Die Autoren beleuchten, wie es dazu kam, worin die Debatte besteht, und wo die Probleme liegen.

In einer der meist beachteten Reden seiner Amtszeit formulierte US-Präsident Barack Obama im April 2009 in Prag seine Vision einer kernwaffenfreien Welt und nährte damit neue Hoffnungen bei vielen Befürwortern nuklearer Abrüstung. Heute, sechs Jahre nach jener Rede, ist wieder Ernüchterung eingekehrt. Sicher war allen klar, dass die Vision nicht von heute auf morgen Realität werden würde. Doch etwas mehr Tatendrang hatten sich viele gewünscht. So verharrt der Dialog der Kernwaffenstaaten weiter in einem Sicherheitsdiskurs, der eine konsequente Abrüstung verhindert.

Im Gegensatz dazu fand, unterstützt durch zahlreiche Nichtkernwaffenstaaten, im zivilgesellschaftlichen Bereich eine gegenläufige Entwicklung statt: Statt der herkömmlichen sicherheitspolitischen Überlegungen werden die katastrophalen Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes für den Einzelnen und ganze Gesellschaften beschrieben. Die Fokussierung auf die humanitären Folgen stützt sich auf wiederbelebtes, historisches Wissen sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung von Kernwaffen. Entgegen der Stagnation der letzten zwei Jahrzehnte und der Weigerung der Kernwaffenstaaten, die längst vereinbarten konkreten Schritte zur Abrüstung zu realisieren, öffnet die »neue« Abrüstungsdynamik Ansätze, den Prozess hin zu einer kernwaffenfreien Welt voranzubringen.

Die humanitären Folgen eines Kernwaffeneinsatzes

Die Bilder und Überlieferungen der beiden einzigen Kriegseinsätze von Kernwaffen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 sind bis heute präsent. Damals fielen den amerikanischen Bombenabwürfen unmittelbar ca. 110.000 Menschen zum Opfer, fast ebenso viele erlitten zum Teil schlimmste Verletzungen, Tausende starben infolge von Späterkrankungen noch Jahrzehnte später.1 Das Vernichtungspotenzial von Kernwaffen ohne Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen wurde in Japan auf tragische Art und Weise deutlich.

Während des Kalten Krieges blieb der Schrecken eines nuklearen Schlagabtauschs der beiden Supermächte aus Ost und West ständiger Begleiter aller außenpolitischen Manöver. Gemäß der Abschreckungslogik wurde Angst gezielt forciert, um die andere Seite einzuschüchtern. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Studien über einen Nuklearen Winter infolge eines globalen nuklearen Schlagabtauschs und dessen Konsequenzen für das Klima und die Nahrungsmittelproduktion.2

Seit Ende des Kalten Krieges gelten globale Nuklearkriege als eher unwahrscheinlich. Stattdessen hat sich die Gefahr kleinerer, regional begrenzter nuklearer Auseinandersetzungen aufgrund der gestiegenen Zahl von Kernwaffenstaaten vergrößert. Wissenschaftler ermittelten in den vergangenen Jahren die Folgen eines regionalen Nuklearkriegs, etwa zwischen Pakistan und Indien. Ihren Berechnungen zufolge würde ein Einsatz von je 50 Sprengköpfen in der Größenordnung der Hiroshima-Bombe nicht nur mehr als 20 Millionen Todesopfer fordern und große Areale nuklear verseuchen.3 Es würden bei den Explosionen auch ca. fünf Millionen Tonnen Ruß in die obere Atmosphäre freigesetzt, die zu einem weltweiten Temperaturabfall von durchschnittlich 1,25o C führen würden. Ernteeinbußen zwischen 10 und 40 Prozent bei amerikanischem Mais4 und bis zu 20% bei chinesischem Reis5 wären die Folge. Hauptbetroffen wären die rund 800 Millionen Menschen, die schon heute an Unterernährung leiden.

Von einem sehr praxisnahen Standpunkt aus kamen Experten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) bereits 2007 zu dem Ergebnis, dass keine nationale oder internationale Katastrophenschutz- oder Hilfsorganisation in der Lage wäre, die Situation nach einer Kernwaffenexplosion medizinisch und logistisch auch nur annähernd zu bewältigen.6

Die Wiederbelebung der nuklearen Abrüstungsdebatte

Im sicherheitspolitischen Diskurs der letzten zwei Jahrzehnte hatten die katastrophalen Folgen eines Kernwaffeneinsatzes nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Auch das viel beachtete Rechtsgutachten zu einem Kernwaffeneinsatz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag von 1996 hatte kaum einen Wandel im sicherheitspolitischen Diskurs bewirkt.7 Kurz nach der eingangs zitierten Rede Obamas machte jedoch die Schweizer Delegation bei der Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2010 die humanitären Folgen von Kernwaffen erneut zum Thema und forderte unter Hinweis auf die willkürliche Zerstörungskraft dieser Waffengattung und die Verletzung aller fundamentalen Prinzipien des humanitären Völkerrechts klare Schritte hin zu einer völligen nuklearen Abrüstung. Dieser Appell traf einen Nerv. Andere Staaten schlossen sich der Argumentation an, sodass schließlich im Schlussdokument der Konferenz große Besorgnis im Hinblick auf die katastrophalen humanitären Folgen zum Ausdruck gebracht wurde.8 Damit nicht genug, forderte die Schweiz, die Gespräche über die Legitimität von Kernwaffen sollten zukünftig frei von verteidigungspolitischen Überlegungen geführt werden.

Bei der nächsten NVV-Konferenz 2012 – dem ersten Vorbereitungstreffen für die Überprüfungskonferenz 2015 – fand sich eine Gruppe von 16 Staaten, die in einem gemeinsamen Statement die humanitären Konsequenzen einer Kernwaffenexplosion betonten. Seitdem wuchs die Zahl der Unterstützer stetig. Bei der NVV-Konferenz im Mai 2013 fand ein entsprechendes Statement bereits 79 Unterstützerstaaten, bei der Debatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Herbst des gleichen Jahres waren es schon 125.

Unter Verweis auf diese große Zahl an potenziellen Unterstützern lud der damalige norwegische Außenminister Espen Barth Eide im Frühjahr 2013 alle Staaten zu zweitägigen Konsultationen nach Oslo ein, in denen die humanitären Folgen von Kernwaffen und daraus resultierende notwendige Schritte diskutiert werden sollten. 128 Regierungen folgten der Einladung und entsandten Vertreter. Die fünf offiziellen Kernwaffenstaaten gemäß der Definition des NVV – USA, Großbritannien, Russland, China und Frankreich – nahmen nicht teil; anders als die »inoffiziellen« Kernwaffenmächte Indien und Pakistan. Sie begründeten ihr Fernbleiben in einer öffentlichen Verlautbarung mit der Sorge, die Konferenz könne die Abrüstungsdiskussion von konkreten und praktischen Abrüstungsschritten ablenken. Der von ihnen favorisierte „schrittweise Ansatz“ sei die effektivste Möglichkeit, die Zahl der Kernwaffen zu reduzieren.9

Der Erfolg des Treffens in Norwegen führte zu Nachfolgekonferenzen in Mexiko (Nayrit, Februar 2014) und Österreich (Wien, Dezember 2014). Jedem der drei Treffen ging eine durch die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) organisierte zweitägige Veranstaltung ür zivilgesellschaftliche Akteure voraus, die eindringliche Appelle an Staats- und Regierungschefs richteten. Die Konferenzen und das vorgetragene humanitäre Argument sorgten für Aufbruchstimmung unter Abrüstungsbefürwortern. Diese wird noch bestärkt durch den »Austrian Pledge«, ein am Ende der Wiener Konferenz von Österreich gegebenes Versprechen, sich für ein umfassendes Verbot von Kernwaffen einzusetzen, verbunden mit der Aufforderung an andere Staaten, sich ebenfalls auf das Versprechen zu verpflichten (Stand 23. April haben dies 76 Staaten getan) und den »Austrian Pledge« im Mai 2015 in die nächste NVV-Überprüfungskonferenz einfließen zu lassen.10

Ein Verbotsvertrag als Lösung der Abrüstungsproblematik?

Ein Ziel der in Oslo angestoßenen Bewegung ist es, Kernwaffen global zu ächten und dies mit einem internationalen Vertrag zu besiegeln. Die Bemühungen sehen einen Vertrag vor, der sehr einfach gehalten ist und Nuklearwaffen allgemein verbietet. Vorbild ist etwa das Verbot von Antipersonenminen, das 1997 im Ottawa-Abkommen vereinbart wurde. Damals gelang es Verbotsbefürwortern innerhalb kurzer Zeit, so viel moralischen Druck auf die Regierungen aufzubauen, dass die meisten von ihnen die Konvention unterschrieben. Die strukturelle Position, die Kernwaffen im internationalen Sicherheitsgeflecht nach wie vor besetzen, macht eine ähnliche Entwicklung allerdings ungleich schwieriger.

Bisherige Versuche zur rechtlichen Umsetzung multilateraler nuklearer Abrüstung umfassten unter anderem die schon lange Zeit diskutierte Nuklearwaffenkonvention. Sie zielt darauf, gemeinsam mit Kernwaffenstaaten und Nicht-Kernwaffenstaaten einen komplexen Vertrag mit konkreten Abrüstungsschritten und Zeitplänen auszuhandeln, wird jedoch von vielen Staaten derzeit abgelehnt.

Die neue Hoffnung ist nun, dass ein Verbotsvertrag – vorerst auch ohne Mitwirkung der Kernwaffenstaaten – wieder Bewegung in die Abrüstungsdebatte bringt. Bei vielen durch den jahrzehntelangen Stillstand frustrierten zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren weckten die Konferenzen in Oslo, Nayarit und Wien die Hoffnung, das Ziel »global zero« doch noch zu erreichen. Eine globale Norm, die von Staaten getragen wird, könnte Signalwirkung auch für die Kernwaffenstaaten haben. Auf jeden Fall aber würde sie allen Befürwortern einer vollständigen Abrüstung Auftrieb geben. Zudem würde der Glaube an die Logik der Abschreckung hinterfragt und das Mantra der Macht durch den Besitz von Kernwaffen herausgefordert werden.

Reden ja, Handeln nein

Betrachtet man das Verhalten der im NVV offiziell anerkannten Kernwaffenstaaten, so klafft eine große Lücke zwischen propagierten außenpolitischen Zielsetzungen und realem Handeln. Die Forcierung der Nichtverbreitungsdoktrin, die Stagnation im Abrüstungsprozess und das Fehlen einer umfassenden Abrüstungsvision zeugen von Desinteresse. Zwar stimmt es, dass die offiziellen Kernwaffenstaaten ihre nuklearen Waffenbestände nach und nach reduzierten, allerdings können diese Schritte jederzeit wieder rückgängig gemacht werden, da die nukleare Infrastruktur nicht angetastet wird. Außerdem steht dieser quantitativen »Abrüstung« eine Weiterentwicklung der Waffentechnologie entgegen. Somit sind Kernwaffen nach wie vor eine Währung der Macht.11

Auch alte »Haudegen« des Kalten Krieges sprachen sich, in Person von Henry Kissinger, Sam Nunn, George Shultz und William Perry, schon für eine nukleare Abrüstung aus.12 Ihre Äußerungen klangen zunächst vielversprechend, sind jedoch bei genauerem Hinsehen nur eine Wiederholung der geschickten Verbindung von Nichtverbreitung und Abrüstungsversprechungen zum Erhalt der nuklearen machtpolitischen Balance. Die Einsicht zur Abrüstung entstammt dabei nicht unbedingt der Einsicht in den Bedarf einer Welt ohne Kernwaffen, sondern eher der Furcht, dass die Kontrolle des Zugriffs auf nukleare Materialien schwindet. Die »four horsemen« befürchten, weitere Staaten würden versuchen, durch die nukleare Option auf Augenhöhe mit den Kernwaffenstaaten zu kommen; auch territorial relativ ungebunden agierende (Terror-) Gruppen werden als ernstzunehmende Bedrohung angesehen. Gerade sie lassen sich nicht mit der Drohung eines nuklearen Vergeltungsschlags abschrecken und unterminieren das filigrane Geflecht der Abschreckungslogik: Welches Territorium sollte zur Vergeltung in einem »Zweitschlag« bombardiert werden?

Im Falle des Iran wird noch eine weitere Strategie im »Spiel« um die Macht durch Kernwaffen sichtbar. Dem Land wird seit Jahren die Entwicklung einer Kernwaffe unterstellt, und die Welt möchte feststellen, ob diese Unterstellung richtig ist oder nicht. Was aber, wenn der Iran durch das Offenhalten einer latenten nuklearen Option schon längst die politische Dividende eines Kernwaffenbesitzes nutzt? Der Iran betreibt nukleare Sicherheitspolitik allein schon durch den Besitz von spaltbarem Material und dazugehörigen Produktionstechnologien und ist die Blaupause eines „virtuellen Kernwaffenstaates“ 13 – ein Status, den andere Staaten seit Jahrzehnten haben, die allerdings eng in die westliche Sicherheitsarchitektur eingewoben sind (z.B. Japan und Deutschland).

Diese Entwicklungen zeigen, welche Rolle Kernwaffen im politischen Diskurs und in militärischen Doktrinen weiterhin spielen. Gerade die gedankliche Verknüpfung von Kernwaffen und Macht ist ein Motiv für Staaten, sich diese anzueignen und sich damit an Machtdiskursen zu beteiligen, zu denen sie ohne Kernwaffen kaum einen Zugang hätten.14 Die Logik der Abschreckung, einst erfunden, um einen ebenbürtigen Gegner in Schach zu halten, eignet sich kaum dafür, andere Staaten vom Erwerb dieser Waffe abzuhalten – im Gegenteil.

Die Fokussierung auf die Folgen der Anwendung der Waffe öffnet die Debatte wieder für ethische Argumente und trägt zu einer umfassenden moralischen Entwertung von Kernwaffen bei. Eine solche De-Legitimierung würde die bisherigen politischen und militärtaktischen Ansichten über Kernwaffen komplett hinterfragen15 und ihren Nutzen einem »re-framing« (einem Umdeuten)16 unterziehen. Darauf zielt die »neue« Abrüstungsbewegung ab, in der Hoffnung, langfristig ein Verbot zu erreichen und letztlich Kernwaffen als Währung der Macht zu entwerten.

Zu lösende Probleme auf dem Weg zu einem Verbotsvertrag

Den erhofften Positivwirkungen einer möglichen Kernwaffenächtung stehen jedoch auch Befürchtungen gegenüber. Diese müssen im weiteren Dialog der Verbotsbefürworter offen angesprochen werden. Es lassen sich vier wesentliche Probleme identifizieren:

  • Zunächst ist davon auszugehen, dass ein Verbot zwar von vielen Staaten unterstützt würde, die Kernwaffenstaaten einen Verbotsvertrag jedoch kaum unterzeichnen werden. Auch für abrüstungswillige Kernwaffenstaaten braucht es Anreize, sich einem weiteren Regelwerk anzuschließen; es gibt schließlich schon den NVV.
  • Daneben ist es paradox, dass das moralische Argument der Abrüstungsbefürworter (Kernwaffen sind so zerstörerisch, dass sie verboten werden müssen) letztlich genau der Grund ist, warum sich die Kernwaffenstaaten diese zugelegt haben (und sie nicht wieder hergeben wollen). Das Beispiel Nordkorea zeigt, dass der Besitz von Kernwaffen einen hohen Grad an Handlungsautonomie für autoritäre Regime sichert. Solchen Staaten müssten neue Anreize und Sicherheitsgarantien geboten werden.
  • Drittens muss bei der Abrüstung von Kernwaffen mittels Verbotsvertrag ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren vorhanden sein. Anders als bei den Antipersonenminen oder der Clustermunition, bei der jeder einzelne abrüstende Staat einen Fortschritt darstellt, reicht bereits ein nuklearer Abrüstungsverweigerer aus, um alle anderen Staaten zu blockieren.
  • Zuletzt könnte mit der Unterzeichnung einer einfachen Verbotsnorm ohne die Beteiligung der Kernwaffenstaaten die Abrüstungsbewegung erlahmen, da dann alles erreicht ist – der finale Sprung, nach dem nichts mehr kommt. Teilerfolge wie das Aushandeln von Sicherheitsgarantien oder praktische Abrüstungsschritte wären vielleicht nicht mehr erzielbar, falls Kernwaffenstaaten sich dauerhaft dem Beitritt zur Verbotsnorm verweigern.

Aufgrund dieser Probleme muss der weitere Umgang mit den Kernwaffenstaaten im Abrüstungsprozess offen thematisiert werden. Derzeit gelten Nuklearwaffen noch immer für viele als Garanten von Stabilität im Gerüst internationaler Sicherheit. Um auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt voranzukommen, ist es nötig, den Einfluss dieser Abschreckungslogik zu mindern. Trotz der genannten Schwierigkeiten kann die Diskussion humanitärer Konsequenzen hier eine wirksame Strategie sein.

Anmerkungen

1) U.S. Department of Energy: The Manhattan Project – an interactive history; osti.gov/manhattan-project-history.

2) Richard P. Turco et al.: Nuclear Winter: Global Consequences of Multiple Nuclear Explosions. Science, no. 12/1983 (222/4630), S.1283-1292. Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.) (1970): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Carl Hanser.

3) Alan Robock, Luke Oman und Georgiy L. Stenchikov: Nuclear winter revisited with a modern climate model and current nuclear arsenals: Still catastrophic consequences. Journal of Geophysical Research, No. 7/2007.

4) Mutlu Özdoðan, Alan Robock und Christopher J. Kucharik (2013): Impacts of a nuclear war in South Asia on soybean and maize production in the Midwest United States. Climatic Change, Vol. 116, Issue 2, S.373-387.

5) Lili Xia und Alan Robock (2013): Impacts of a nuclear war in South Asia on rice production in Mainland China. Climatic Change, Vol. 116, Issue 2, S.357-372.

6) Dominique Loye und Robin Coupland: Who will assist the victims of use of nuclear, radiological, biological or chemical weapons – and how? International Review of the Red Cross, 6/2007 (89/866), S.343.

7) IALANA (Hrsg.) (1997); Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT Verlag.

8) Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz des NVV von 2010 (Art.VI).

9) Verlautbarung hinsichtlich ihres Fernbleibens; abrufbar unter: www.reachingcriticalwill.org/images/documents/Disarmament-fora/oslo-2013/P5_Oslo.pdf.

10) Der »Austrian Pledge« steht auf der offiziellen Konferenz-Website des österreichischen Außenministeriums online; bmeia.gv.at/index.php?id=55297.

11) Anne Harrington de Santana (2009): Nuclear Weapons as the Currency of Power -: Deconstructing the Fetishism of Force. The Nonproliferation Review 16/3, S.25-45.

12) George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn: A World Free of Nuclear Weapons. Wall Street Journal, 4.1.2007.

13) Anne Harrington und Matthias Englert (2014): How Much Is Enough? The Politics of Technology and Weaponless Nuclear Deterrence. In: Maximilian Mayer, Mariana Carpes und Ruth Knoblich (eds.): The Global Politics of Science and Technology – Vol. 2. Perspectives, Cases and Methods. Global Power Shift. Berlin/Heidelberg: Springer, S.287-302.

14) Paul Quilès (2013): Nuclear Deterrence – Not Suitable for the 21st Century. In: Rob van Riet (ed.): Moving Beyond Nuclear Deterrence to a Nuclear Weapons Free World. London: World Future Council, Nuclear Abolition Forum, Issue 2, S.8f.

15) Nick Ritchie: Waiting for Kant: devaluing and delegitimizing nuclear weapons. International Affairs, 5/2014 (Vol. 90 No. 3), S.622.

16) John Borrie: Humanitarian reframing of nuclear weapons and the logic of a ban. International Affairs, 5/2014 (Vol. 90 No. 3), S.625-646.

Matthias Englert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut e.V. und beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren intensiv mit nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie mit nuklearer Nichtweiterverbreitung und der Kontrolle spaltbarer Materialien.
Moritz Kütt ist Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt und promoviert derzeit in Physik zu Verifikationstechnologien in der nuklearen Abrüstung.
Andreas Löpsinger ist Student im Masterstudiengang Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie wissenschaftliche Hilfskraft bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt.

Doch kein Ende in Sicht?

Die Nuklearwaffen der USA in Europa

Doch kein Ende in Sicht?

von Otfried Nassauer

Die NATO kann sich nicht entscheiden und entscheidet sich doch. Soll sie künftig auf die US-Nuklearwaffen in Europa verzichten? Bei den zwei Gipfeltreffen in Lissabon 2010 und Chicago 2012 konnte kein Konsens erzielt werden. Bleibt es dabei, könnte die Allianz bald neue Nuklearwaffen in Europa stationieren, obwohl das viele gar nicht wollen.

Svein Efjestad war Norwegens Vertreter in der High Level Group (HLG) der NATO, als er sich im August 2009 mit dem US-Botschafter bei der NATO, Ivo Daalder, traf. Efjestad erzählte Daalder von einer Beobachtung, die überrascht: „Nach mehr als 15 Jahren, in denen es in der HLG kaum eine Debatte“ über die Nuklearwaffen in Europa gegeben habe, sei es möglicherweise an der Zeit, dass die HLG sich wieder „mit dem Thema befasst“.1 Die HLG ist zusammen mit der Nuklearen Planungsgruppe das wichtigste Gremium der Allianz für die Nuklearpolitik.

Efjestads Beobachtung impliziert, dass die NATO sich zuletzt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ernsthaft mit ihrer Nuklearpolitik befasst hat. Im Herbst 1991, nach dem Ende des Kalten Krieges, einigte sich die Allianz darauf, den größten Teil der von den USA für das Bündnis in Europa stationierten Nuklearwaffen abzuziehen. Wenig später wurden im schottischen Glenneagles neue Richtlinien für Konsultationen im nuklearen Bereich vereinbart. Seither hat die NATO die Zahl der nuklearen Waffen in Europa mehrfach reduziert, jedoch ohne größere Diskussion. Waren zunächst noch rund 1.400 Kernwaffen in Europa verblieben, so ging deren Zahl später auf rund 700 und dann auf etwa 480 Waffen zurück. Nach der jüngsten Reduzierungsrunde Mitte des letzten Jahrzehnts verblieben noch „rund 180 substrategische Nuklearwaffen“ 2 auf dem europäischen Kontinent. Bis zu zwanzig davon befinden sich in Büchel, dem einzigen verbliebenen Nuklearwaffenstandort in Deutschland. Auch der Ausbildungsstand der Piloten und der Bereitschaftsgrad der nuklearwaffenfähigen Einheiten wurde wiederholt abgesenkt, sodass es inzwischen monatelanger Vorbereitungen bedürfte, bevor ein Einsatz der Nuklearwaffen möglich wäre.

Der militärische Nutzen dieser Waffen ist gering, weil sich in Reichweite ihrer Trägerflugzeuge kaum noch denkbare Ziele befinden. Der politische Symbolwert ist dagegen hoch, signalisieren diese Waffen als konkrete Manifestation der nuklearen Teilhabe doch, dass auch nicht-nukleare NATO-Staaten in einem Krieg zu einem Nuklearwaffeneinsatz befähigt wären.

Allerdings erreichen gegen Ende dieses bzw. im nächsten Jahrzehnt sowohl die nuklearen Waffen als auch deren Trägerflugzeuge und Lagersysteme das Ende ihrer geplanten Lebensdauer. Es stellt sich also in der NATO die Frage »modernisieren oder abziehen«?

Die Abzugsdebatte

Öffentlich aufgeworfen wurde diese Frage im Herbst 2009 durch den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP. Die Koalitionspartner versprachen, sich „im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür ein[zu]setzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“.3 Der Deutsche Bundestag unterstützte diese Position im März 2010 parteiübergreifend mit überwältigender Mehrheit und forderte die Bundesregierung auf, dieses Ziel „mit Nachdruck“ zu vertreten und sich dafür einzusetzen, „die Rolle der Nuklearwaffen in der NATO-Strategie zurückzuführen“.4 Um Kritik anderer NATO-Staaten vorzubeugen, sicherte die Bundesregierung zu, einen Abzug nicht einseitig oder ohne Konsultationen im Bündnis zu erzwingen. Sie bat gemeinsam mit Belgien, Luxemburg, Norwegen und den Niederlanden NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Thema im Kontext der Diskussion über eine neue NATO-Strategie und die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt im April 2010 auf die Tagesordnung des NATO-Außenministertreffens in Tallin zu setzen: „Wir glauben, dass wir auch in der NATO diskutieren sollten, was wir tun können, um uns diesem übergeordneten politischen Ziel anzunähern.“5

Gegenwind entstand rasch: Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentierte in Tallin: „Wir sollten anerkennen, dass die NATO eine nukleare Allianz bleibt, solange Nuklearwaffen existieren.“ Und sie mahnte: „Für ein nukleares Bündnis ist es fundamental, die nuklearen Risiken und Verantwortlichkeiten breit zu teilen.“6 Clintons Vorgängerin, Madeleine Albright, und eine von ihr geleitete Expertengruppe überreichten dem NATO-Generalsekretär im Mai 2010 Vorschläge für das neue »Strategische Konzept« und empfahlen „unter den gegenwärtigen Sicherheitsbedingungen die Beibehaltung von einigen vorne-stationierten US-Systemen auf europäischem Boden“, da diese „das Prinzip der erweiterten Abschreckung und der kollektiven Verteidigung stärken“.7

Das neue »Strategische Konzept« wurde im November 2010 in Lissabon verabschiedet. Es hielt fest: „Die Abschreckung auf der Grundlage einer geeigneten Mischung aus nuklearen und konventionellen Fähigkeiten bleibt ein Kernelement unserer Gesamtstrategie. Umstände, unter denen der Einsatz von Kernwaffen in Betracht gezogen werden müsste, sind höchst unwahrscheinlich. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben.“ Die NATO werde auch künftig eine „möglichst umfassende Beteiligung der Bündnispartner an der kollektiven Verteidigungsplanung mit Bezug auf deren nukleare Anteile, an der Stationierung von nuklearen Kräften in Friedenszeiten und an Führungs-, Kontroll- und Konsultationsverfahren gewährleisten“.8 Das Dokument weist den nicht-strategischen Nuklearwaffen9 der NATO keine spezifische Rolle mehr zu und wiederholt auch nicht die frühere Aussage, dass „die Präsenz der konventionellen und nuklearen Kräfte der USA in Europa für die Sicherheit Europas äußerst wichtig“ sei.10

Hintergrund der Weglassung war der bündnisinterne Disput über die künftige Notwendigkeit einer Stationierung von Nuklearwaffen in Europa. Diese Diskussion sollte bis zum nächsten NATO-Gipfel im Kontext einer »Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs«,11 dem »DDPR« (Defense and Deterrence Posture Review), weitergeführt werden. Wesentliche Fortschritte wurden nicht erzielt.

Zum Chicagoer Gipfeltreffen im Mai 2012 lag der von den NATO-Außen- und Verteidigungsministern zuvor in Brüssel abgesegnete DDPR vor. Er wiederholt die Kernaussagen des »Strategischen Konzeptes«, verzichtet erneut darauf, die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen genauer zu beschreiben, und erwähnt diese vor allem im Kontext der Rüstungskontrolle. Das Bündnis erklärt seine Bereitschaft, „die Bedingungen für eine weitere Reduzierung der der NATO zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen zu schaffen“, und will sicherstellen, dass „alle Elemente der nuklearen Abschreckung solange zuverlässig, sicher und effektiv“ bleiben, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“. Die NATO sei „bereit, eine weitere Reduzierung ihres Bedarfs an dem Bündnis zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen im Zusammenhang mit reziproken Schritten Russlands unter Berücksichtigung der größeren russischen, im euro-atlantischen Raum stationierten nichtstrategischen Kernwaffenbestände in Betracht zu ziehen“ und zu „ergründen, was die NATO hinsichtlich reziproker Maßnahmen Russlands erwartet, um den Weg für eine deutliche Reduzierung der der NATO zugewiesenen, vorwärts stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu ebnen“.12

Diese komplizierten Formulierungen lassen den Schluss zu, dass an der Stationierung nuklearer Waffen in Europa festgehalten werden soll. Ein Verzicht wird im DDPR nicht erwogen. Allenfalls eine Reduzierung des Stationierungsumfangs käme infrage, sofern Russland sich zu Gegenleistungen bereit zeigt. Wer will, kann diese Aussagen sogar als dauerhafte Verpflichtung lesen, an in Europa stationierten Nuklearwaffen festzuhalten: Sie gehören zu den Elementen der Abschreckung, die solange effektiv gehalten werden sollen, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“.

Die deutsche Initiative für den Abzug der NATO-Nuklearwaffen hat sich damit vorläufig tot gelaufen. Im Bündnis konnte darüber kein Konsens erzielt werden. Was aber ist dann der Plan? Gibt es einen Konsens in der Allianz, an den taktischen Nuklearwaffen festzuhalten oder diese gar zu modernisieren? Darüber steht in den Beschlüssen der NATO ebenfalls kein Wort. Trotzdem ist die Frage höchst aktuell.

Die Modernisierungspläne

Kurz vor dem Ministertreffen der NATO in Tallin veröffentlichte die Regierung Barack Obamas im April 2010 ihren »Nuclear Posture Review«, eine strategische Blaupause für die künftige Nuklearpolitik der USA, die sich unter anderem mit den nuklearen Waffen, deren Trägersystemen und der nuklearindustriellen Infrastruktur befasst. Der Review erklärt eine Modernisierung der nuklearen Bomben vom Typ B61 für notwendig und vordringlich. Entsprechend planen die USA, bis 2019 den Prototyp einer neuen Nuklearwaffe zu entwickeln, die ab 2020 auch Nachfolger der heute in Europa gelagerten nuklearen Bomben werden könnte – die Bombe B61-12. Die technische Entwicklung der neuen Waffe soll noch dieses Jahr beginnen. Dafür hat die US-Regierung beim Kongress für 2013 ein Entwicklungsbudget in Höhe von 361 Mio. US$ beantragt. Die Gesamtkosten des Vorhabens werden auf rund sieben Mrd. US$ geschätzt. Parallel dazu wird die Integration des neuen Bombentyps in vorhandene Trägerflugzeuge vorbereitet. Die Entwicklung eines neuen nuklearwaffenfähigen Trägersystems, des Joint Strike Fighter, ist vorgesehen, wegen technischer und finanzieller Schwierigkeiten aber vorerst auf Eis gelegt.

Die B61-12 soll das Nachfolgemodell für vier Versionen der B61werden: die taktischen Versionen B61-3, B61-4 und B61-10 sowie für die strategische Version B61-7. Das hat sowohl rüstungskontrollpolitische als auch militärische Relevanz: Wird die neue Bombe eingeführt, so gibt es keine »taktischen« und »strategischen« Versionen dieser Waffe mehr. Es gibt nur noch eine Version, die sowohl strategische als auch nicht-strategische Funktionen erfüllen kann. Nur über das Trägerflugzeug kann noch unterschieden werden, welchem Zweck die Waffe gerade dient. Die Kategorie der »taktischen« bzw. »nicht-strategischen« Nuklearwaffen verschwindet damit aus dem Arsenal der USA und der NATO. Dies hat komplexe und Komplikationen hervorrufende Folgen, z.B. für die künftigen Abrüstungsverhandlungen mit Russland.13

Militärisch ergibt sich die Relevanz aus anderen Gründen: Die bisherigen, wenig zielgenauen, »dummen« nuklearen Bomben sollen zu Lenkwaffen umgerüstet werden, die eine deutlich höhere Zielgenauigkeit erreichen können.14 Ein neues, elektronisch gesteuertes Heckleitwerk (tailkit) an den Bomben soll das ermöglichen. Die größere Zielgenauigkeit erlaubt den Verzicht auf jene Versionen der B61-Bombe, die eine hohe Sprengkraft haben. Für die B61-12 soll der nukleare Sekundärsprengsatz15 des Modells B61-4 wiederverwendet oder nachgebaut werden. Deshalb wird es auch künftig möglich sein, für einen Einsatz wahlweise die Sprengkraft auf 0,3, 1,5, 10 oder 50 Kilotonnen einzustellen. Dieselbe Bombe kann also entweder als »mini nuke« oder mit der vierfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe zur Explosion gebracht werden. Sie kann militärische Punktziele ebenso zerstören wie große Flächenziele. Der »Kollateralschaden« wird kalkulierbarer und begrenzbarer, die nukleare Waffe somit militärisch besser nutzbar als ihre Vorgängerversionen. Damit vergrößert sich die Gefahr, dass die Hemmschwelle gegen einen Nuklearwaffeneinsatz sinkt. Oder anders gesagt: Die Versuchung, solche Nuklearwaffen tatsächlich einzusetzen, kann steigen. Politische Bemühungen, die militärische Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, können von solchen Waffen ernsthaft behindert werden. Aus gutem Grund verbot ein Gesetz aus dem Jahr 1994, das Spratt-Furse Amendment, in den USA viele Jahre lang, Entwicklungsarbeiten an neuen Nuklearwaffen mit weniger als fünf Kilotonnen Sprengkraft durchzuführen.

Begründet wird die dringende Notwendigkeit einer Modernisierung der B61-Bomben von der US-Regierung damit, dass deren technische Lebensdauer in Kürze abläuft. Zudem könne man die Gelegenheit nutzen, um die Waffen noch sicherer vor einem potentiellen Missbrauch durch Unbefugte oder vor Unfällen zu machen. Beide Argumente haben inzwischen erheblich an Glaubwürdigkeit verloren.

Das Argument der knappen Zeit und hohen Dringlichkeit erwies sich als dehnbar. Zunächst hieß es, die Nuklearwaffen in Europa erreichten ab 2017 das Ende ihrer technischen Lebensdauer und müssten spätestens ab 2018 ersetzt werden, wenn die USA ihre Verpflichtungen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO weiterhin erfüllen wollten. Heute wird argumentiert, es reiche aus, wenn die B61-12 bis 2019 fertig entwickelt sei und ab 2020 stationiert werden könne. Auch das neue Trägerflugzeug muss jetzt nicht mehr 2017 zur Verfügung stehen, sondern erst 2020. Technische Zwischenlösungen, wie eine Nutzungsdauerverlängerung für die bisher eingesetzten Flugzeuge des Typs F-15E, und der Austausch von Komponenten begrenzter Lebensdauer bei den vorhandenen Bomben sollen dies möglich machen.

Die erhöhte Sicherheit der B61-Familie hat anscheinend ebenfalls an Bedeutung verloren. Zunächst gab es dazu kaum konkrete Angaben; inzwischen fällt ins Auge, dass für die nächste Entwicklungsphase ausgerechnet solche Teilvorhaben des Modernisierungsprogramms gestrichen wurden, die der Verbesserung der Sicherheit dienen sollten. Grund: zu große technische und finanzielle Risiken. Zudem gelten die Bomben der Typen B61-3 und B61-4 als ziemlich sichere Waffen. Sie weisen jedoch eine bekannte Schwachstelle auf: Der Pit, das ist die nuklearen Kernkomponente des Primärsprengsatzes, ist nicht feuerresistent. Bei einem Flugzeugunfall mit längerem Treibstoffbrand kann deshalb aus einer beschädigten Waffe unter Umständen Plutonium freigesetzt und über Rauch- und Aerosolwolken weiträumig verteilt werden.16 Das ist ein Gefahrenpotential, insbesondere an den Stationierungsorten, weil startende und landende Flugzeuge einem gewissen Unfallrisiko ausgesetzt sind. Dieses Sicherheitsmanko wird jedoch auch durch die geplante Modernisierung der B61-Bomben nicht abgestellt. Um es zu beseitigen, müsste man die neue Waffe testen, das aber steht aus politischen Gründen nicht zur Diskussion.

Die Debatte in den USA

In den USA stehen drei Aspekte im Vordergrund der Debatte über die Modernisierung der B61:

Geht es um deren Notwendigkeit, so wird argumentiert, Washington dürfe keinen Zweifel an seinem Willen aufkommen lassen, seine nuklearen Bündnisverpflichtungen in der NATO auch künftig zu erfüllen.

Der zweite Aspekt ist eine Zusage von US-Präsident Obama an die Republikaner. Im Kontext der Ratifizierung des neuen START-Vertrages mit Russland versprach Obama ihnen mit dem »Nuclear Posture Review« eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes, um das Nuklearwaffenpotential der USA bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts »modern« zu halten. Das erste Vorhaben war eine gegenüber der ursprünglichen Planung vorgezogene und umfassendere Modernisierung der B61-Bomben und ihrer Trägersysteme.

Die Republikaner nutzen seither die Haushaltsgesetzgebung, um den Präsidenten jedes Jahr an die Einhaltung seiner Zusage zu erinnern. Das Gesetz zum US-Verteidigungshaushalt 2012 schreibt die Beibehaltung der in Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen und der nuklearen Teilhabe vor. Der Entwurf des Verteidigungshaushaltsgesetzes 2013, den das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus im Juni 2012 vorlegte, geht noch weiter: Er will die Möglichkeiten des Präsidenten beschränken, mit Russland eine Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa zu verhandeln oder gar deren Abzug zu erwägen. Der Gesetzesentwurf befürwortet zwar Gespräche mit Moskau, die zu einer Reduzierung der taktischen Nuklearwaffen Russlands führen könnten, da das zahlenmäßig größere Arsenal Russlands bei dieser Waffengattung eine „Bedrohung der USA und ihrer Alliierten“ darstelle. Eine zentrale Einlagerung oder Umstationierung dieser Waffen in das östliche Russland – wie in der NATO überlegt – wird in dem Gesetzesentwurf jedoch explizit nicht als Reduzierung betrachtet, die eigene Abrüstungsschritte rechtfertige. Die in Europa gelagerten US-Nuklearwaffen, so der Gesetzesentwurf weiter, seien nützlich zur „Kontrolle über die Proliferation“ und „im Umgang mit Nachbarstaaten, die der NATO feindlich gegenüberstehen“. 17 Auf eine solche Sichtweise wird sich Russland kaum einlassen.

Den dritten Aspekt bringen Kritiker der Modernisierungspläne in die Debatte ein: Sie werfen die Frage auf, ob die Modernisierung der B61-Bomben einer Vorgabe des »Nuclear Posture Review« 2010 widerspricht: „Die USA werden keine neuen Nuklearsprengköpfe entwickeln. Lebensdauerverlängerungsprogramme werden nur nukleare Komponenten verwenden, deren Design bereits zuvor getestet wurde und die weder neue militärische Aufgaben unterstützen noch neue militärische Fähigkeiten bereitstellen werden“.18 Ist es mit dieser Vorgabe vereinbar, wenn eine Nuklearwaffe mit neuen Fähigkeiten entwickelt wird, die „das größte Vorhaben seit mehr als 30 Jahren, wahrscheinlich das größte seit der Entwicklung der B61-3 und –4“ ist, wie der ehemalige Entwicklungsleiter beim Sandia National Laboratory, J.F. Nagel, im letzten Jahr stolz festhielt?19

In der innenpolitischen Debatte der USA wird die Unfähigkeit der NATO, sich derzeit im Konsens auf einen Abzug der in Europa stationierten Nuklearwaffen zu einigen, zu einer Verpflichtung Washingtons umgedeutet, diese weiterhin zu stationieren und folglich zu modernisieren. Daraus entwickelte sich ein wesentliches Argument für ein nationales Modernisierungsprogramm, das unabhängig von der NATO geplant wurde und für die Republikaner eine Herzensangelegenheit darstellt, die sie Präsident Obama abgerungen haben. Die nuklearen Verpflichtungen der USA gegenüber der NATO sind also weniger Ursache der Modernisierungsnotwendigkeit als ein willkommenes innenpolitisches Hilfsargument, um eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenpotentials durchzusetzen.

Eine Modernisierung, die kaum einer will?

Für viele NATO-Länder mag es 2010 noch eine attraktive Option gewesen sein, russische Gegenleistungen für einen künftigen Verzicht auf die Stationierung der militärisch weitestgehend irrelevant gewordenen Nuklearwaffen in Europa zu fordern. Diese Aussicht hat einen Minimalkonsens gefördert, der vorläufig noch an der Stationierung dieser Waffen festhält. Dieser Ansatz barg jedoch schon immer ein Risiko: Was, wenn Moskau kein Entgegenkommen zeigt oder sich gar an den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss aus dem Jahr 1979 erinnert fühlt und seinerseits ein Modernisierungsprogramm seiner taktischen Nuklearwaffen auflegt? Würde dann die Beibehaltung und Modernisierung der Nuklearwaffen der USA in Europa unausweichlich, obwohl es dafür kaum Befürworter gibt?

Dazu könnte es kommen, denn die innenpolitische Schlüsselrolle der Modernisierung der B61 als Einstiegsprojekt in eine umfassende Modernisierung des gesamten Nuklearwaffenpotentials der USA verstärkt die Tendenz zu diesem Ergebnis. Gelingt es den Republikanern, eine rüstungskontrollpolitische Lösung mit Moskau zu verhindern oder mit dem Argument zu punkten, jede Abkehr von der Modernisierung dieser Bomben sei ein Verrat an der Zusage, das Nuklearwaffenpotential der USA umfassend zu modernisieren, so wird die Modernisierung der Waffen in Europa zu einer Frage des politischen Gesichtsverlustes. Die Chance, die Stationierung nicht-strategischer Nuklearwaffen in Europa als Relikt des Kalten Krieges zu beenden und die völkerrechtlich umstrittene Praxis der nuklearen Teilhabe in der NATO endgültig zu beenden, wäre dann auch verspielt.

Anmerkungen

1) U.S. Embassy in Norway: USNATO AMBASSADOR DAALDER‘S DISCUSSION WITH NORWEGIAN DEPUTY DEFENSE MINISTER IN OSLO, Cable 09OSLO0526, 25.8.2009.

2) U.S. Mission to NATO: PDUSDP MILLER CONSULTS WITH ALLIES ON NUCLEAR POSTURE REVIEW, Cable 09USNATO0378, Brussels, 4.9.2009.

3) CDU/CSU, FDP: Wachstum, Bildung, Zusammenhalt. Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2009, S.120.

4) Deutscher Bundestag: Drucksache 17/1159, Berlin, 24.3.2010.

5) Brief der Außenminister vom 26.2.2010.

6) Secretary of State Hillary Rodham Clinton Excerpts from Remarks at NATO Working Dinner on Nuclear Issues and Missile Defense, Tallinn, Estonia, April 22, 2010.

7) Group of Experts: NATO 2020: Assured Security, Dynamic Engagement. o.O. (Brussels), 17.5.2010, S.43.

8) NATO: Aktives Engagement, moderne Verteidigung, Lissabon, 19/20.11.2010, Punkte 17 und 19.

9) Die Begriffe taktische, substrategische und nichtstrategische Atomwaffen bezeichnen dieselbe Waffenkategorie, nämlich Atomwaffen mit einer Reichweite, die kleiner als 5.500 Kilometer ist. Die Begriffe haben aber eine unterschiedliche Konnotation: »Taktisch« betont die militärische Rolle einer Waffe im Rahmen der Kriegführung. Deshalb benutzte die NATO diesen Begriff nach dem Ende des Kalten Krieges bald nicht mehr für die eigenen Waffen, sondern nur noch für die Waffen Russlands. Die eigenen Waffen bezeichnete sie als substrategisch, um deren politischen Charakter zu betonen. Nun scheint auch diese Phase vorbei zu sein. Die NATO verwendet zunehmend den bedeutungsneutralen Begriff der nichtstrategischen Atomwaffen für diese Potentiale Russlands und der USA.

10) NATO: The Alliance’s Strategic Concept. Washington DC, 24.4.1999, Punkt 42.

11) Unter Dispositiv wird die Gesamtheit sämtlicher Ressourcen verstanden, die für einen Einsatz vorgehalten werden.

12) NATO: Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs. Chicago, 20./21.5.2012, Punkte 8, 9, 11, 26 und 27.

13) Die START-Verträge befassen sich ausschließlich mit strategischen Waffen. Deren Verfikationsmechanismen betreffen die Trägersysteme. Ein Verifikationsmechanismus für nichtstrategische Nuklearwaffen oder deren Träger müsste neu entwickelt werden. Dies dürfte schwierig werden, wenn sich nur eine Seite den neuen Mechanismen unterwerfen muss, die andere aber nicht.

14) Um die verbesserte Zielgenauigkeit der B61-12 in vollem Umfang nutzen zu können, müssen Bombe und Flugzeug hinreichend digitalisiert sein. Dies wird erst mit neuen Trägerflugzeugen erreichbar sein.

15) Vereinfacht: Die B61-Bomben bestehen aus einem primären Sprengsatz, der nach dem Kernspaltungsprinzip funktioniert und die Energie bereitstellt, die zur Zündung des sekundären Sprengsatz erforderlich ist, der nach dem Kernverschmelzungsprinzip (Kernfusion) funktioniert.

16) Kidder, R.E.: Report to Congress: Assessment of the Safety of U.S. Nuclear Weapons and Related Nuclear Test Requirements. Livermore, CA: Lawrence Livermore National Laboratory, Dokument UCRL-LR-107454 vom 26.7.1991, S.5f.

17) 112th Congress, 2nd Session: H.R. 4310, Washington, 19.6.2012, S.542-547. Im Gegensatz zu weiteren Restriktionen, die sich gegen den neuen START-Prozess richteten, drohte Präsident Obama im Blick auf diese Vorgaben nicht mit einem Veto: Vgl: Executice Office of the President: Statement of Administration Policy H.R. 4310 – National Defense Authorization Act for FY 2013, 15. Mai 2012.

18) Department of Defense: Nuclear Posture Review. Washington DC, April 2010, S. XIV

19) N.N.: Launching the B61 Life Extension Program. Sandia Lab News, 23.3.2011, S.6

Otfried Nassauer ist Gründer und Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), freier Journalist und berät die Kampagne »atomwaffenfrei.jetzt«.

„Some activities may still be ongoing…“

„Some activities may still be ongoing…“

von Jan van Aken

Seit acht Jahren veröffentlicht die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) Berichte über den Stand des iranischen Nuklearprogramms. Selten aber hat ein Bericht solche Wellen geschlagen wie der vom 8. November 2011. Israels Präsident Schimon Peres äußerte angesichts des neuen Reports, dass ein Angriff auf die iranischen Atomanlagen „immer wahrscheinlicher“ werde. In den USA begeisterten sich Politiker wie Newt Gingrich oder Mitt Romney, Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, in der Folge für den »regime change« in Teheran.

Bei harten Worten blieb es nicht. US-Präsident Obama setzte neue Sanktionen in Kraft, die insbesondere auf die iranische Zentralbank und damit auf den iranischen Außenhandel zielen. Die Regierung in Teheran antwortete mit Muskelspielen. In einem groß angelegten Manöver simulierte sie die Sperrung der Straße von Hormus und testete Mittelstreckenraketen. Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm hat seit der Präsidentschaft von George W. Bush eine solche Zuspitzung nicht mehr erlebt.

Was also beinhaltet der Bericht der IAEO genau? Die Wiener Behörde erklärt in ihrer Untersuchung, dass Iran wahrscheinlich bis 2003 ein Programm zum Bau von Atomwaffen betrieben habe. Über die Zeit danach schreibt die Behörde jedoch selbst, dass es nur wenig konkrete Hinweise gäbe, und kommt zu dem vagen Schluss, dass einige Aktivitäten aus dem Programm möglicherweise fortgeführt werden („some activities may still be ongoing“).

Der Bericht der IAEO fordert eine genaue Lektüre. Seitdem die Leitung der Behörde von Mohammed ElBaradei auf den Japaner Yukiya Amano, dem erklärten Favoriten der USA und Frankreichs, übergegangen ist, hat sich die Berichterstattung der IAEO Schritt für Schritt verschärft. Der im November erschienene Bericht stellt nun den vorläufigen Höhepunkt des neuen Tonfalls dar.

Betrachten wir zunächst die Angaben der IAEO für den Zeitraum nach 2003. Dort finden sich genau drei Hinweise auf mögliche waffenrelevante Aktivitäten. Zum ersten eine Veröffentlichung über so genannte »bridge wire detonators« auf einem internationalen Kongress im Jahr 2005. Die internationale Veröffentlichung ist nicht wirklich mit einem streng geheimen Programm vereinbar. Meine Vermutung wäre, dass hier Ergebnisse aus der Zeit vor 2003, aus dem damaligen geheimen Atomprogramm, publiziert wurden – ein Muster, das wir auch aus anderen Waffenprogrammen kennen. So publizierten russische Biologen Mitte der 1990er Jahre Forschungsergebnisse, die ganz offensichtlich aus dem 1992 eingestellten Biowaffenprogramm der Sowjetunion stammten. Insofern ist die Publikation über »bridge wire detonators« 2005 eher ein Hinweis darauf, dass es 2005 eben kein aktives geheimes Programm auf diesem Gebiet mehr gab.

Bleiben im aktuellen IAEA-Bericht also noch zwei weitere Hinweise: Der Iran habe nach 2006 an Neutronenquellen gearbeitet und in den Jahren 2008/2009 Modellstudien an kugelförmigen Urankomponenten durchgeführt. Die Quelle: „Informationen von Mitgliedsstaaten“, im Klartext also nationale Geheimdienste.

Nun wissen wir, dass Hinweise nationaler Geheimdienste mit Vorsicht zu genießen sind. Das Wesen von Geheimdienstinformationen ist, dass sie außerhalb der Dienste meist nicht unabhängig überprüfbar sind. Sie können richtig oder falsch sein, Skepsis ist darum angebracht. Eine UN-Organisation wie die IAEO darf eine Hypothese über mögliche Atomwaffenaktivitäten eines Staates jedenfalls nicht allein auf solche Quellen stützen. Als Sprachrohr von Geheimdiensten diskreditiert sie sich selbst.

Für die Zeit vor 2003 ist die Quellenlage dichter. Sowohl die Angaben im Bericht als auch die Informationen, die ich bei einem Besuch der IAEO im August vergangenen Jahres erhalten habe, legen den Schuss nahe, dass Iran bis 2003 womöglich an der Entwicklung eines atomaren Sprengkopfs gearbeitet hat. Die IAEO ist sich dessen sicher. Ihre Annahme basiert auf einer Reihe von Quellen. Wichtigste hiervon sind die so genannten »alleged studies«, die der Behörde im Jahr 2005 von einem westlichen Geheimdienst zugespielt wurden. Zu den Informationen zählt beispielsweise, dass Iran an einem neuen Sprengkopftyp für die Mittelstreckenrakete Shahab-3 sowie an einem System zur Explosion des Sprengkopfs in der Luft über dem Ziel gearbeitet habe. Neben dieser Quelle hat die Behörde weitere Geheimdiensterkenntnisse ausgewertet, Untersuchungen vor Ort durchgeführt, mutmaßliche Mitarbeiter des Programms interviewt und offene Quellen wie Satellitenbilder herangezogen. Insgesamt scheint sich ein feinmaschiges und recht glaubwürdiges Bild vom iranischen Nuklearprogramm bis 2003 zu ergeben.

Nichtsdestotrotz fehlt es auch nicht an Kritik für die Einschätzung für den Zeitraum vor 2003. So stellt Robert Kelley, selbst ehemaliger Inspekteur der IAEO, die Glaubwürdigkeit der »alleged studies« in Frage. Gegenüber der Zeitschrift »Christian Science Monitor« äußerte Kelley, der die Unterlagen begutachten konnte, dass es sich bei den Dokumenten durchaus um Fälschungen handeln könnte.

Geheimdienstinformationen, scheinbar belastbare Beweise, gedankliche Schnellschüsse und Säbelrasseln: Vieles erinnert an den Vorabend des amerikanischen Einmarschs in Irak. Betrachten wir die aktuelle Diskussion über das iranische Nuklearprogramm, gilt es sich immer an den Auftritt des damaligen US-Außenministers Colin Powells vor dem UN-Sicherheitsrat im Jahr 2003 zu erinnern. Mit einer farbenfrohen Dia-Show suchte er die Existenz eines irakischen Biowaffenprogramms zu beweisen. Auch seine Ausführungen basierten auf »zuverlässigen« Geheimdienstinformationen. Powells Auftritt überzeugte viele, die Zahl der Unterstützer der amerikanischen Aggression wuchs. Nach dem Einmarsch und dem Sturz Husseins blieb von Powells Behauptungen nichts übrig. Weder ließ der irakische Diktator wie behauptet irgendwo zwischen Euphrat und Tigris mobile Waffenlabore rollen, noch arbeitete irgendjemand in Irak an der Herstellung von Pockenviren. Die Geheimdienstinformationen stellten sich allesamt als falsch oder als falsch interpretiert heraus. Aber der Kriegsgrund war in der Welt.

Dies alles heißt nicht, dass das iranische Atomprogramm über allen Zweifel erhaben ist. Als Beispiel mag hierfür die Urananreicherungsanlage in Fordo nahe Qom dienen. In der unterirdischen Anlage finden gerade einmal 3.000 Zentrifugen Platz. Damit lässt sich Uran in der für ein ziviles Atomprogramm benötigten Menge nicht anreichern. Neben der Frage nach dem Zweck schürt auch der Bekanntmachungszeitpunkt des Fordo-Baus Misstrauen. Iran informierte die IAEO über die Anlage erst, als die Veröffentlichung des bis dato geheimen Baus durch westliche Regierungen kurz bevorstand.

Über die Frage, ob Iran juristisch verpflichtet war, der IAEO bereits zu diesem Zeitpunkt über die Errichtung der Anlage Auskunft zu erteilen, streiten die Wiener Behörde und Teheran. Politisch gesehen ist jedoch klar: Iran hätte hier transparenter sein müssen.

Der juristische Disput über den Bekanntmachungszeitpunkt entzündet sich an Abschnitt 3.1. der allgemeinen Bestimmungen in den ergänzenden Abmachungen zum Sicherungsabkommen, (Code 3.1 Subsidiary Arrangements General Part of Iran’s Safeguards Agreement), welches zwischen dem Iran und der IAEO 1974 vereinbart wurde und 1976 in Kraft trat. Code 3.1 sah ursprünglich vor, dass die Wiener Behörde 180 Tage, bevor nukleares Material in eine Atomanlage gebracht wird, vom jeweiligen Staat über die Existenz dieser Anlage zu informieren ist. Vor dem Hintergrund der Aufdeckung des irakischen Atomwaffenprogramms im Jahr 1991 modifizierte die IAEO Code 3.1 dahingehend, dass eine Unterrichtung unmittelbar nach der Entscheidung für die Errichtung einer Atomanlage zu erfolgen hat. Iran hat im Gegensatz zu allen anderen von der Modifizierung betroffenen Staaten diese Änderung nicht ratifiziert.

Ähnlich verhält es sich mit dem Zusatzprotokoll zum Sicherungsabkommen zwischen IAEO und Iran. Auch dieses entstand als Lehre aus dem irakischen Atomwaffenprogramm. Das Protokoll erweitert die Rechte der IAEO bei der Überwachung eines Nuklearprogramms erheblich und erlaubt u.a. unangemeldete Inspektionen. Iran hat das Zusatzprotokoll im Jahr 2003 unterschrieben, allerdings bis heute nicht ratifiziert. Den Inspekteuren der IAEO fehlen daher heute entscheidende Informations- und Inspektionsrechte.

Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm ist also festgefahren. Beide Seiten verfolgen aktuell eine Politik der Stärke. Während der Westen auf eine verschärfte Sanktionspolitik setzt, zeigt Iran militärische Stärke und präsentiert neue atomare Errungenschaften. Bewegung ist bis zum nächsten Jahr unwahrscheinlich. Sowohl in den USA (Ende 2012) als auch in Iran (Mitte 2013) wird ein neuer Präsident gewählt. Konzessionen sind in Wahlkampfzeiten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass die Fronten sich weiter verhärten. In beiden Wahlkämpfen – in stärkeren Maße gilt dies für den iranischen – dürften sich die Kandidaten auf Positionen festlegen, die ihnen später den Raum für Kompromisse nehmen.

Dramatisch ist dabei, dass Zeit in diesem Konflikt mittlerweile ein knappes Gut ist. Die Sanktionsspirale lässt sich nicht unbegrenzt weiterdrehen. Gleichzeitig schreitet die Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms voran. Ob Iran tatsächlich den Bau einer Atombombe anstrebt oder nicht, allein die Fortentwicklung des zivilen Programms bringt Teheran näher an die Schwelle zur Atomwaffenfähigkeit.

Ob sich nach den Präsidentschaftswahlen eine Chance für eine Lösung ergibt oder sich die Lage durch die Personen der Amtsinhaber und die bis dahin vorangeschrittene Entwicklung bis hin zur Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung verschärft: Den Berichten der IAEO wird weiterhin eine bedeutende Rolle zu kommen. Sie haben das Potential, den Konflikt zu versachlichen oder zu verschärfen. Die IAEO ist daher verpflichtet, äußerst kritisch mit den ihr von Geheimdiensten zugespielten Informationen umzugehen, nüchtern zu urteilen und mutwilligen Interpretationen ihrer Befunde entschieden und öffentlich entgegenzutreten. Momentan tut sie dies nicht.

An diesem Gastkommentar hat Alexander Lurz mitgewirkt. Jan van Aken ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Fraktion DIE LINKE.

Neue Impulse für die nukleare Abrüstung

Neue Impulse für die nukleare Abrüstung

Der humanitär-völkerrechtliche Ansatz

von Viktor J. Vavricka

Nuklearwaffen und das humanitäre Völkerrecht sind in realistischen Szenarien nicht miteinander vereinbar. Diese Tatsache sollte bei den Bemühungen im Hinblick auf eine Nuklearwaffen-Verbotskonvention vermehrt ins Zentrum gerückt werden. Die Abrüstungsbefürworter können dabei auf die Unterstützung spezialisierter Nichtregierungsorganisationen zählen und die Erfahrungen aus anderen Verbotskonventionen nutzen.

Die Forderung nach nuklearer Abrüstung und der Abschaffung von Nuklearwaffen genießt in der internationalen Politik verstärkte Aufmerksamkeit, nachdem die Abschaffungsdiskussion nach dem Ende des Kalten Krieges zunächst deutlich abgeflaut war. Neben den langjährigen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure ist dieses Interesse unter anderem der Positionierung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), der Hüterin des humanitären Völkerrechts, vor und während der Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (NVV)1 vom Mai 2010 zuzuschreiben. IKRK-Präsident Kellenberger betonte im April 2010: „[…] das IKRK kann sich schwer vorstellen, wie der Einsatz von Nuklearwaffen mit den Regeln des Humanitären Völkerrechts in Einklang gebracht werden könnte“.2

Die Schweiz formuliert diese Unvereinbarkeit aufgrund ihrer humanitären Tradition und als Vertragspartei der Genfer Konventionen und deren Zusatzprotokolle deutlicher. Anlässlich der genannten NVV-Überprüfungskonferenz bezeichnete die schweizerische Außenministerin Micheline Calmy-Rey Nuklearwaffen als „unbenutzbar, unmoralisch und illegal“. Unbenutzbar sind die Waffen, weil durch mögliche Zweitschläge auch der Angreifer inakzeptable Zerstörungen erleidet und weil deren Abschreckungswirkung fraglich ist. Unmoralisch sind sie, weil sie Menschen unterschiedslos in Massen töten und die Umwelt auf lange Zeit hinaus schädigen. Illegal sind sie schließlich, weil jeder Einsatz die fundamentalsten Prinzipien des humanitären Völkerrechts verletzen würde. Die Außenministerin bekräftigte die vorbehaltlose Unterstützung der Schweiz für ein völkerrechtliches Verbot von Nuklearwaffen, wie es für chemische und biologische Waffen sowie Antipersonenminen und Streumunition bereits besteht.

Ein Vorstoß der Schweiz, welcher durch andere Staaten unterstützt wurde, führte dazu, dass anlässlich der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 erstmals humanitäre Vorbehalte mit außergewöhnlich klaren Worten in das Abschlussdokument einfließen konnten: „…Die Konferenz drückt ihre tiefe Besorgnis aus über das anhaltende Risiko für die Menschheit, das sich aus der Möglichkeit ergibt, dass diese Waffen eingesetzt werden könnten, und die katastophalen humanitären Folgen, die ein Einsatz von Nuklearwaffen zur Folge hätte.“ 3 In den Empfehlungen drückt die Konferenz noch einmal ihre „tiefe Besorgnis über die katastrophalen humanitären Folgen jeglichen Einsatzes von Nuklearwaffen“ aus und bekräftigt „die Notwendigkeit, dass alle Staaten jederzeit das einschlägige Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, einhalten.“ 4

Die Schweiz hätte eine noch klarere Sprache der Konferenz zur Illegalität von Nuklearwaffen befürwortet. Die Nuklearwaffenstaaten konnten sich freilich nicht dazu durchringen, expliziten Formulierungen zuzustimmen, auch wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen bekannt und nachfolgend kurz in Erinnerung zu rufen sind.

Nuklearwaffen im humanitären Völkerrecht

Das humanitäre Völkerrecht, dessen schriftlich fixierte Kernbestimmungen in den Genfer Konventionen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977 verankert sind, enthält keine Regeln, welche den Einsatz von Nuklearwaffen ausdrücklich verbieten. Gleichwohl sind die im humanitären Völkerrecht verankerten Prinzipien wie das Unterscheidungsgebot zwischen Zivilisten und Kombattanten, das Verhältnismäßigkeitsgebot sowie das Vorsichtsgebot und die Kontrollierbarkeit anwendbar.

In vertragsrechtlicher Hinsicht ist der NVV als Grundlage zu nennen, dessen Gegenstand das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Nuklearwaffen sowie das Recht auf eine »friedliche Nutzung« (peaceful use) der Nuklearenergie ist. Artikel VI des NVV verpflichtet jede Vertragspartei, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer Kontrolle“. Damit verbietet der NVV den Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausdrücklich, sondern hält lediglich das Ziel der globalen Abschaffung von Nuklearwaffen fest.

Ohne ein ausdrückliches völkerrechtliches Nuklearwaffenverbot stellt sich die Frage, ob der Einsatz von Nuklearwaffen durch Völkergewohnheitsrecht verboten ist. Das viel zitierte Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 8. Juli 1996, »Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«,5 befasst sich eingehend mit dieser Frage, beantwortet sie jedoch nicht abschließend. Es stellt fest, dass die Androhung oder der Einsatz von Nuklearwaffen weder im Völkergewohnheitsrecht noch im Völkervertragsrecht spezifisch erlaubt, jedoch auch nicht in umfassender und universeller Weise verboten sind. Der IGH sah sich ferner nicht in der Lage zu entscheiden, ob ein Nuklearwaffeneinsatz in extremen Umständen der Selbstverteidigung potenziell völkerrechtswidrig wäre. Immerhin wird festgehalten, dass die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen grundsätzlich („generally“) im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts steht.

Daraus lässt sich schließen, dass ein Nuklearwaffeneinsatz nur dann als völkerrechtskonform zu betrachten wäre, wenn dabei zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden werden könnte, wenn der Einsatz keine unnötigen Leiden oder Umweltschäden verursachte und wenn das Gebiet unbeteiligter und neutraler Staaten nicht in Mitleidenschaft gezogen würde. In einem realistischen Szenario ist eine Beschränkung des Einsatzes von Nuklearwaffen auf militärische Ziele und die Verschonung von Zivilisten und zivilen Einrichtungen jedoch nicht denkbar. Ebenso wenig ist ersichtlich, wie ein gezielter Einsatz von Nuklearwaffen auf hoher See keine übermäßigen Auswirkungen auf Umwelt und Mensch haben könnte.

Aus dem IGH-Gutachten ist ferner zu schließen, dass zumindest eine völkerrechtliche Vermutung der Illegalität der Nuklearwaffe besteht. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Beweislastumkehr bei Vermutungen obliegt die Beweislast für die Legalität der Nuklearwaffe demnach derjenigen Partei, die aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Illegalität eine für sie günstige Tatsache, nämlich den legalen Nuklearwaffeneinsatz, ableitet. Die Beweislast dafür ist unter diesen Umständen von den Nuklearwaffenstaaten zu tragen.

Nuklearwaffenstaaten führen in der Beweisführung betreffend der Legalität von Nuklearwaffen bisweilen die folgenden Argumente ins Feld:

die vermeintliche Kontrollierbarkeit bestimmter Nuklearwaffentechnologien,

die Strahlung sei beim Nuklearwaffeneinsatz inhärent und bezwecke nicht, Leiden zu schaffen,

der Gebrauch von Waffen mit niedriger Sprengkraft in entlegenen Gebieten,

die Notwendigkeit, die Legalität des Einsatzes von Nuklearwaffen von Fall zu Fall zu beurteilen,

die direkte Ableitung aus dem IGH-Gutachten, dass Nuklearwaffen legal seien, oder

das implizite Argument, dass Nuklearwaffen in extremen Situationen zur Selbstverteidigung eingesetzt werden dürfen.

Diese und weitere Argumente werden auf eindrückliche Weise in einer kürzlich erschienenen Studie im »Fordham International Law Journal« widerlegt.6

Erfahrungen aus den Ottawa- und Oslo-Prozessen

Die Erfolge der Ottawa- und Oslo-Prozesse zum Verbot von Antipersonenminen bzw. Streumunition basieren auf dem Paradigma des Schutzes der Zivilbevölkerung. Einer größeren Gruppe von Ländern, darunter auch Nuklearstaaten wie Frankreich und Großbritannien, ist es dabei gelungen, in rechtlich verbindlicher Weise einen ehrgeizigen Standard für den Schutz der Zivilbevölkerung und in der Opferhilfe zu schaffen. Beide Prozesse entwickelten sich außerhalb der Vereinten Nationen, wurden maßgeblich durch die Zivilgesellschaft angestoßen und durch eine breite Öffentlichkeit getragen. Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Die Universalisierung der beiden Konventionen gerät zusehends ins Stocken und die Staaten, welche zu den größten Produzenten und Haltern dieser geächteten Waffen gehören, blieben diesen Prozessen fern. Aufgrund ihrer Signalwirkung zeigen beide Übereinkommen jedoch auch direkte Auswirkungen auf Nicht-Vertragsstaaten, welche sich beim Einsatz dieser Waffen vermehrt einer breiten öffentlichen Kritik ausgesetzt sehen und sich dabei politisch ins Abseits manövrieren. So haben sich etwa Russland und Georgien während des Georgienkrieges vom Sommer 2008 gegenseitig des Einsatzes von Streumunition bezichtigt, dies jedoch beidseitig umgehend dementiert.

Im Gegensatz zu diesen durch weitgehend gleichgesinnte Länder getragenen ambitionierten Prozessen müssen sich die klassischen Abrüstungsprozesse der Vereinten Nationen oft genug mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben, der im Resultat zu oftmals zahnlosen und zum Schutz der betroffenen Gruppen wenig effektiven Instrumenten führt.

Soll der völkerrechtliche Prozess im Hinblick auf ein Verbot der Nuklearwaffen analog den Ottawa- und Oslo-Prozessen gestaltet werden? Es lassen sich viele Lehren aus diesen beiden Prozessen ziehen.7 Gleichwohl sind gewichtige Unterschiede und Herausforderungen auszumachen:

Erstens haben Nuklearwaffen im Gegensatz zu Landminen und Streumunition eine strategische Bedeutung. Und dennoch: Hier gilt es, die vom IGH hervorgehobene »nascent opinio juris« eines völkergewohnheitsrechtlichen Verbots des Nuklearwaffeneinsatzes zu unterstreichen und die fundamentalen Prinzipien des humanitären Völkerrechts in Erinnerung zu rufen. Angesichts der politisch-strategischen Bedeutung der Nuklearwaffen ist einzig das rechtliche Argument geeignet, Abrüstungsfortschritte zu erzielen. „Recht ist die wirkungsvollste Kraft, um Fortschritt zu erzielen“, wird von Experten vielfach eingeräumt.

Zweitens gibt es bereits ein Regelwerk, welches die Abschaffung von Nuklearwaffen fordert: den NVV. In diesem Sinne stellen sich wichtige Fragen nach dem Universalitätspotenzial und dem Verhältnis zwischen dem NVV und den künftigen Nuklearwaffen-Verbotsbestimmungen.

Drittens geht von Nuklearwaffen weit weniger Mobilisierungspotenzial in der breiten Öffentlichkeit aus als von Antipersonenminen und Streumunition. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist der generelle Ruf nach dringlicher nuklearer Abrüstung stark zurückgegangen. Dabei handelt es sich primär um ein Wahrnehmungsproblem in der breiten Öffentlichkeit, weil viele glauben, die von Nuklearwaffen ausgehende Gefahr sei gebannt.

Diesen Herausforderungen ist im Prozess, der zu einer Verbotskonvention führen soll, zu begegnen. Bei Konventionen, die einen humanitären Ansatz verfolgen, geht es in erster Linie darum, die Messlatte hoch zu halten, was den Schutzgehalt angeht, und nicht darum, alle relevanten Akteure von Anfang an an Bord zu haben. Qualität geht bei diesem Vorgehen vor Quantität.

Nuklearwaffenfreie Staaten wie Irland, Österreich, Neuseeland, Norwegen und die Schweiz sowie zivilgesellschaftliche Akteure sind die Träger des neuen Impulses hinter der nuklearen Abrüstungsdebatte. Es gibt eine ganze Reihe von Organisationen, die sich der nuklearen Abrüstung verschrieben haben.8 Die Vielfalt der Akteure ermöglicht es, einen breiten Adressatenkreis zu erreichen. Die Vielfalt führt jedoch auch zu Doppelspurigkeiten und Inkohärenzen. Der Koordinationsbedarf unter den Akteuren sollte verstärkt werden. Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Koordination unter verschiedenen Akteuren bildet die Erklärung von Vancouver vom 11. Februar 2011, der sich bereits zahlreiche Individuen, Organisationen, Akademiker und Diplomaten angeschlossen haben.9

Nächste Etappen

Über die Frage, ob die nukleare Katastrophe von Fukushima die öffentliche Meinung bezüglich Nuklearwaffen zu ändern in der Lage ist, kann nur spekuliert werden. Außer an die Risiken der friedlichen Nutzung von Nuklearenergie dürfte der Vorfall jedoch auch eindrücklich an die kaum akzeptablen humanitären Folgen eines Einsatzes von Nuklearwaffen erinnern.

Mit einer anhaltenden Diskussion über die Delegitimierung der Nuklearwaffen bereiten die Staaten das Terrain für spätere Verhandlungen über völkerrechtliche Bestimmungen über ein Verbot dieser Waffengattung vor. Die Delegitimierung kann mittels Studien, multilateralen und bilateralen Interventionen, Informationsveranstaltungen und Seminaren vorangetrieben werden. Für die gleich gesinnten Regierungen gilt es, die zivilgesellschaftlichen Akteure dahin gehend zu unterstützen, dass diese ihre Mobilisierungs- und Koordinationskapazitäten zu erhöhen in der Lage sind. Gemeinsam durchgeführte Konferenzen, Resolutionen und andere Aktivitäten sind geeignet, die Mobilisierungswirkung zu stärken.

Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung hat die nukleare Abrüstung in ihrer Agenda für den Delegiertenrat vom 26. November 2011 an die erste Stelle gesetzt und mit einem entsprechenden, mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften konsultierten Resolutionsentwurf gut verankert. Dieser unterstreicht die katastrophalen menschlichen Folgen und die Schwierigkeit, den Einsatz von Nuklearwaffen mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen. Die Resolution wird eine wichtige Grundlage bilden für die weiteren Bemühungen im Hinblick auf die laufende Identifikation von gleich gesinnten Partnern innerhalb und außerhalb der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und letztlich im Hinblick auch auf ein umfassendes Nuklearwaffenverbot.

Bei der 31. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz vom 28. November bis zum 1. Dezember 2011 in Genf, welche im Anschluss an den Delegiertenrat alle Mitglieder der Rotkreuzbewegung und damit auch solche aus Nicht-NVV-Staaten zusammenbringt, dürfte hingegen die nukleare Abrüstung gemäß bisherigen Informationen nicht auf der Agenda stehen. Das Thema kann aber durch Erklärungen einzelner Delegationen und des IKRK sowie durch Nebenveranstaltungen in die Konferenz getragen werden. Die Schweiz plant eine Paneldiskussion zu einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie zum Thema »Nuclear Famine«, welche anhand von Klimamodellen die katastrophalen globalen Auswirkungen eines Nuklearwaffeneinsatzes aufzeigt, selbst wenn es sich lediglich um einen regionalen Schlagabtausch handeln sollte.10

Nukleare Abrüstung sollte nicht den Nuklearstaaten überlassen werden, deren politischer Wille und Bereitschaft, Abrüstungsverhandlungen zu führen, volatil ist und von der aktuellen weltpolitischen Situation abhängt. Nichtnuklearstaaten können dazu beitragen, den Abrüstungsprozess zu verstetigen. Sie können die Nuklearmächte regelmäßig an ihre Abrüstungsverpflichtungen erinnern, den Druck zur Abrüstung auf internationalen Konferenzen aufrecht erhalten, Verhandlungs- und Diskussionsvorschläge einbringen und Verhandlungsplattformen anbieten. Vor allem sind sie ganz speziell legitimiert, die nicht akzeptablen Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes an geeigneter Stelle zu thematisieren und als Hohe Vertragsparteien der Genfer Konventionen das humanitäre Völkerrecht heranzuziehen, um den Abrüstungs- und Delegitimierungsprozess voran zu bringen.

Anmerkungen

1) Englisch »Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons«, NPT.

2) Jakob Kellenberger: Bringing the era of nuclear weapons to an end. Statement by the President of the ICRC to the Geneva Diplomatic Corps, Geneva, 20 April 2010.

3) 2010 Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, Final Document, Volume I, Part I, para. 80 [NPT/CONF.2010/50 (Vol.I)], S.12.

4) Ibid., I.A.v., S.19.

5) International Court of Justice: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1996, S.226 ff. Deutsche Übersetzung des Bundespresseamtes in: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT.

6) Charles J. Moxley, Jr., John Burroughs, Jonathan Granoff: Nuclear Weapons and Compliance with International Humanitarian Law and the Nuclear Non-Proliferation Treaty. In: Fordham International Law Journal, Volume 34, Issue 2 (Spring 2011), S.595 ff., 644; gsinstitute.org/gsi/docs/IHL5.pdf.

7) Vgl. im Einzelnen die von der Schweiz finanzierte Studie von Ken Berry et.al.: Delegitimizing Nuclear Weapons. Examining the validity of nuclear deterrence. Monterey Institute of International Studies, Mai 2010.

8) Für eine Zusammenfassung der wichtigsten Akteure vgl. Lawrence S. Wittner: Where is the abolition movement today? In: Disarmament Forum, Civil society and nuclear disarmament, 2010 no. 4.

9) Vancouver Declaration, February 11, 2011: Law’s Imperative for the Urgent Achievement of a Nuclear-Weapon-Free World. Die Erklärung wurde auf der von IALANA und der Simons Foundation organisierten Tagung » Humanitarian Law, Human Security: The Emerging Paradigm for Non-Use and Elimination of Nuclear Weapons« verabschiedet; lcnp.org/wcourt..

10) Das Konzept des »nuclear famine« wird in Fachkreisen seit einiger Zeit wieder diskutiert; siehe z.B. nucleardarkness.org.

Viktor J. Vavricka leitet die Sektion Humanitäres Völkerrecht in der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern. Der Artikel wurde in persönlicher Eigenschaft und nicht für das EDA verfasst.