Atomwaffenverbot – bloß nicht !?

Atomwaffenverbot – bloß nicht !?

Realpolitik im Wortlaut der USA

von der Ständigen Vertretung der USA bei der NATO

Im Jahr 2016 traf sich in drei Sitzungsperioden eine von der UN-Generalversammlung beschlossene »Open-ended Working Group« (OEWG), um Vorschläge für multilaterale Verhandlungen über nukleare Abrüstung auszuarbeiten. In ihrem Abschlussbericht empfahl die OEWG, solche Verhandlungen aufzunehmen. Vor einer Zustimmung zu solchen Verhandlungen warnte die Ständige Vertretung der USA bei der NATO die Verbündeten in einem Schreiben mit dem Titel »Auswirkungen eines potentiellen Atomwaffenverbotsvertrags der UN-Generalversammlung auf die Verteidigung«, das W&F hier dokumentiert.1

Sehr geehrte Verbündete,

wir wollten Ihre Aufmerksamkeit auf den Abschlussbericht der OEWG lenken, der sich unserer Ansicht nach als unausgewogen und unrealistisch erweist, insbesondere mit seiner Empfehlung, Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen aufzunehmen. Den Verbündeten, die an der OEWG teilnehmen, empfehlen wir dringend, bei einer Abstimmung im Ersten Komitee der UN[-Generalversammlung] über die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Atomwaffenverbotsvertrag mit »nein« zu stimmen. […]

Mit freundlichen Grüßen
Christina Cheshier,
CP(PM) Representative
U.S. Delegation
17. Oktober 2016

Überblick

1. Auf der Grundlage der Arbeit der kürzlich beendeten Open-ended Work­ing Group (OEWG) der UN-Generalversammlung (UNGA), die durch Resolution 70/33 der UNGA eingesetzt worden war, haben Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika einen Resolutionsentwurf in das Erste Komitee der UNGA eingebracht, der die Aufnahme von Verhandlungen in der UNGA über einen rechtsverbindlichen Atomwaffenverbotsvertrag vorsieht. Befürworter eines Verbots wollen den Fokus verschieben, weg von dem bewährten Schritt-für-Schritt-Ansatz für nukleare Abrüstung gemäß unseren Verpflichtungen aus dem [Nichtverbreitungsvertrag], hin zu einem Ansatz, der primär auf die Stigmatisierung von Atomwaffen und von nuklearer Abrüstung zielt, ohne Rücksicht darauf, ob der Ansatz der Verbotsbefürworter die internationale Sicherheitslage verbessert oder verschlechtert. Wenn die UNGA diesen Herbst [2016] eine solche Resolution annimmt, werden im Jahr 2017 Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag gemäß der UNGA-Geschäftsordnung aufgenommen.2

2. Die Folgen eines Atomwaffenverbotsvertrags könnten weitreichend sein und die dauerhaften Sicherheitsbeziehungen negativ beeinträchtigen. Verbündete und Partner sollten die Bedeutung der potentiellen Auswirkungen auf die Sicherheitsbeziehungen oder ihr Potential, sich im Laufe der Zeit stärker auszuwirken, nicht unterschätzen. Da er das sich entwickelnde Sicherheitsumfeld nicht berücksichtigt und das Konzept der nuklearen Abschreckung, von dem viele US-Verbündete und -Partner abhängen, zu delegitimieren sucht, würde ein solcher Vertrag die langjährige Stabilität unterminieren, die die internationale Sicherheitsstruktur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges untermauert. Strategische Stabilität und eine vertraglich vereinbarte, überprüfbare Verringerung der nuklearen Streitkräfte, die die Vereinigten Staaten unterhalten, sind kompatible Ziele und der einzige Weg zur letztendlichen nuklearen Abrüstung. Die Vereinigten Staaten rufen alle Verbündeten und Partner auf, gegen Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag zu stimmen, sich also nicht nur zu enthalten. Außerdem bitten wir die Verbündeten und Partner, sich nicht an den Verhandlungen zu beteiligen, falls solche aufgenommen werden.3

Militärische Implikationen eines Atomwaffenverbots

3. Der Anhang II des »Synthesis Report«, den die OEWG am 19. August 2016 verabschiedete, listet die vorgeschlagenen »Elemente« eines rechtsverbindlichen Atomwaffenverbots auf. Wir können zwar keine abschließende Interpretation eines hypothetischen Textes vornehmen, mindestens neun der vorgeschlagenen Elemente könnten aber eine direkte Auswirkung auf die Fähigkeit der USA haben, ihre erweiterten Abschreckungsverpflichtungen in der NATO und [dem] Asien-Pazifik[-Raum] zu erfüllen, sowie auf die Fähigkeit unserer Verbündeten und Partner, mit den Vereinigten Staaten und anderen Atomwaffenstaaten gemeinsame Verteidigungsübungen durchzuführen. Es ist zu betonen, dass ein Vertrag, der solche Elemente enthält, sich sowohl auf Nicht-Vertragsparteien als auch auf Vertragsparteien auswirken könnte, und er könnte sogar bereits vor seinem Inkrafttreten Auswirkungen haben, wenn die Unterzeichner Vorkehrungen treffen, ihre Verpflichtung zu erfüllen, Ziel und Zweck des Vertrages nicht zu durchkreuzen. Die Elemente 1, 3, 5-6, 9, 14, 16-17 und 21 würden gemäß dem Wortlaut von Anhang II:

  • 1) „Entwicklung, Testen einschließlich subkritischer Experimente und Supercomputersimulationen, Herstellung, Erwerb, Besitz, Lagerung, Weitergabe, Einsatz und Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen sowie die Produktion waffentauglicher Spaltmaterialien“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an jeglichem Einsatz oder der Drohung mit dem Einsatz [von] Atomwaffen“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an der nuklearen Kriegsplanung“ verbieten;
  • 3) „Beteiligung an der Zielauswahl für Atomwaffen“ verbieten;
  • 3) „Ausbildung von Personal, um die Kontrolle von Atomwaffen eines anderen Staates zu übernehmen oder diese einzusetzen“ verbieten;
  • 5) „Duldung jeglicher Stationierung, Aufstellung oder Bereitstellung von Atomwaffen“ verbieten;
  • 6) „Duldung von Atomwaffen auf nationalem Hoheitsgebiet, einschließlich der Duldung von Schiffen mit Atomwaffen in Häfen und Hoheitsgewässern, Duldung des Eindringens von Flugzeugen mit Atomwaffen in den nationalen Luftraum, Duldung des Transits von Atomwaffen durch nationales Hoheitsgebiet, Duldung der Stationierung oder der Bereitstellung von Atomwaffen auf nationalem Hoheitsgebiet“ verbieten;
  • 9) „mittelbare oder unmittelbare Unterstützung, Ermutigung oder Veranlassung jeglicher Aktivitäten, die gemäß dieses Vertrags verboten sind“ verbieten;
  • 14) „Rechte und Verpflichtungen für Personen, einschließlich nationaler Gesetzgebung, die die Unterstützung von gemäß dieser Konvention verbotenen Aktivitäten kriminalisiert, und Schutzmaßnahmen für Personen, die solche Aktivitäten melden …“;
  • 16) „[Regelungen zur] Beilegung von Streitigkeiten, einschließlich … der Möglichkeit, eine Streitigkeit beim Internationalen Gerichtshof einzureichen und nötigenfalls den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einem Sachverhalt zu befassen“;
  • 17) „Pflicht der Vertragsstaaten, die erforderlichen Gesetzgebungsmaßnahmen zu treffen, um ihre Verpflichtungen aus der Konvention zu erfüllen, und eine nationale Behörde zu schaffen, die für die Durchführung der Konvention zuständig ist“; und
  • 21) Staaten verpflichten, „sich an keinerlei verbotenen Handlung, an keinerlei auf der nuklearen Abschreckung basierenden Doktrinen zu beteiligen, und sicherzustellen, dass die Beteiligung an einem Bündnis mit einem Atomwaffenstaat kompatibel ist mit ihren Verpflichtungen und Politiken gemäß der Instrumente“.

4. Diese Elemente könnten die nukleare Planung oder nukleare Übungen (Element 3) oder nuklearbezogenen Transit durch nationalen Luftraum oder durch Hoheitsgewässer (Element 6) unmöglich machen. Darüber hinaus könnten Elemente 9 und 21 für einen Unterzeichnerstaat eine Vertragsverletzung bedeuten, wenn er überführt würde, die Vereinigten Staaten (oder einen anderen nuklear bewaffneten Verbündeten, wie das Vereinigten Königsreich oder Frankreich) „direkt oder indirekt zu unterstützen, zu ermutigen oder zu veranlassen“ zu sagen, dass sie Atomwaffen einsetzen – geschweige denn, den Einsatz planen oder üben – würden, um den Unterzeichnerstaat zu verteidigen. […] Außerdem könnten, da die Vereinigten Staaten im Einklang mit ihrer Politik das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Atomwaffen auf US-Schiffen weder bestätigen noch dementieren, es die Elemente 5, 6 und 9 für diese Schiffe unmöglich machen, Häfen in Unterzeichnerstaaten anzulaufen. Der vorgeschlagene Verbotsvertrag und seine Bestandselemente würden die Vereinigten Staaten daran hindern, atomwaffenfähige Trägersysteme einzusetzen, um Sicherungsmissionen für US-Verbündete durchzuführen. […]

Implikationen für die NATO

5. Verbündete haben wiederholt bestätigt, dass Atomwaffen eine Kernkomponente des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO sind. […] In Warschau bekräftigten die NATO-Verbündeten [2016], dass eine geeignete Mischung von Fähigkeiten, einschließlich nuklearer, den Zusammenhalt des Bündnisses, einschließlich des transatlantisches Bandes, durch eine ausgeglichene und nachhaltige Verteilung der Rollen, Verantwortlichkeiten und Lasten stärkt. Eine Haltung, die nukleare Abschreckung delegitimiert, wäre mit diesen Kernkonzepten unvereinbar. Jeder unterzeichnende Verbündete könnte glauben, es sei juristisch erforderlich, jegliche nukleare Zusammenarbeit der NATO zu unterbinden, und könnte entsprechende Maßnahmen ergreifen, unabhängig davon, ob der Unterzeichner aktiv an den Vereinbarungen zur nuklearen Lastenteilung der NATO teil hat.

6. Genauer gesagt, könnte das Konzept der nuklearen Lastenteilung – verkörpert durch vorwärtsdislozierte Atomwaffen der USA in Europa und durch sowohl konventionell als auch nuklear einsetzbare Flugzeuge mit der damit einhergehenden Sicherungs- und Sicherheitsverantwortung, mit der gewisse Verbündete betraut sind – gemäß den Elementen 3, 4, 6 und 9 unhaltbar werden. Mit Element 6 könnte der Transit von US-Flugzeugen durch den Luftraum von Verbündeten, um US-Atomwaffen und -komponenten zu transportieren, zu warten und aufzurüsten, eine Vertragsverletzung werden. Die allgemeinen Verbote könnten außerdem Verbündete daran hindern, konventionelle Unterstützung für nukleare Operationen zu leisten. Elemente 1 und 3 könnten Fragen bezüglich der Regelkonformität bei der Besetzung von nuklearbezogenen Stellen in Allied Command Operations, Allied Command Transformation und den NATO-Hauptquartieren, aufwerfen, insbesondere auf Führungsebene. Elemente 14 und 17 könnten individuelle Mitglieder der NATO-Streitkräfte der Gefahr aussetzen, nationales Recht des Gastgeberlandes zu verletzten. Das Konstrukt der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), die 1966 eingerichtet wurde, könnte als dem Vertrag widersprechend angesehen werden, ebenso die Teilnahme an Treffen der NPG, des Militärausschusses (HLG) oder anderer vergleichbarer Beratungsgremien. NATO-Übungen und -Trainings, die der Sicherung und Sicherheit von Atomwaffen sowie der Fähigkeit, diese im Krisen oder Konfliktfall effektiv zum Einsatz zu bringen, dienen, könnten unter die Verbotsbestimmungen des Vertrages fallen. Weitere konkrete Aspekte der militärischen Einsatzbereitschaft, wie Planung und Koordination für einen potentiellen Konflikt, könnten verboten sein. […]

Anmerkungen

1) Der englische Originaltext des Dokuments ANNEX 2, AC/333-N(2016)0029 (INV) ist abrufbar unter icanw.org/wp-content/uploads/2016/10/NATO_OCT2016.pdf. Die Fußnoten wurden von der Übersetzerin einge­fügt.

2) Die UN-Generalversammlung trifft Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip, während die ständige Abrüstungskonferenz in Genf, die eigentlich für (nukleare) Abrüstung zuständig ist, nach dem Konsensprinzip arbeitet und sich seit 20 Jahren nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen konnte.

3) Die deutsche Bundesregierung hat bereits entschieden, nicht an den Verhandlungen teilzunehmen, die von der UN-Generalversammlung inzwischen für März und Juni /Juli 2017 anberaumt wurden.

Nicht autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Regina Hagen

Atomwaffentest in Nordkorea

Atomwaffentest in Nordkorea

Eine Stellungnahme

von Götz Neuneck

Nordkorea führte nun schon den zweiten Nukleartest in diesem Jahr durch. Weitere Tests sind zu erwarten, genauso wie ein verschärftes Wettrüsten in Südostasien.

Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr hat die Demokratische Volksrepublik Korea (DPRK) am 9. September 2016, dem Nationalfeiertag Nordkoreas, einen unterirdischen Kernwaffentest auf ihrem Testgelände in der Provinz Nord-Hamgyong durchgeführt. Die Auswertung der vom nationalen Datenzentrum für die Überwachung des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages (CTBT),1 das von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover betrieben wird, aufgezeichneten seismischen Signale zeigt eine Raumwellenmagnitude zwischen 5,1 und 5,3. Dies entspricht in etwa einer Detonationsstärke von ca. 25 ± 7,5 Kilotonnen TNT-Äquivalenten.2 Sollte sich eine Magnitude von 5,3 bestätigen, so wäre dies der bisher stärkste Nuklearwaffentest Nordkoreas gewesen (siehe Tabelle).

Datum

Magnitude [mb]

Ladungsstärke [kt]

Radionuklidnachweis

09.10.2006

4,1

0,5-1

ja

25.05.2009

4,7

2-4

nein

12.02.2013

5,1

6-9

ja

05.01.2016

5,1

7-9

nein

09.09.2016

5,1/5,3

9-30

ausstehend

Tabelle 1: Kernwaffentests in Nordkorea

In dem von der CTBT-Organisation betriebenen weltweiten International Monitoring System (IMS) konnten in der unmittelbaren Umgebung 25 seismische Stationen Mess-Signale auffassen und mit großer Genauigkeit das Epizentrum lokalisieren.3 Nach Aussagen der CTBTO war die Detonationsstärke etwas größer als bei den Vorgängertests. Allerdings war die Explosionsstärke der letzten drei Tests von ähnlicher Größe, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass ein ähnlicher Sprengkopftyp ein weiteres Mal getestet wurde. Den endgültigen Beweis, ob es sich um einen Kernwaffentest gehandelt hat, wird die internationale Gemeinschaft erst erlangen, wenn es dem IMS gelingt, radioaktive Spuren der Explosion zu messen. Es bleibt dennoch äußerst plausibel, dass es sich hier um eine weitere unterirdische Nuklearexplosion gehandelt hat.

Weltweit wurde der Test verurteilt und auf die nordkoreanische Nichteinhaltung des internationalen Tabus von Nukleartest und Nichtverbreitungsnormen verwiesen. US-Präsident Obama sprach von einer ?schweren Bedrohung der regionalen Sicherheit und des internationalen Friedens und der Stabilität? und kündigte ?ernste Konsequenzen? an.4 Der deutsche Außenminister Steinmeier bestellte ein weiteres Mal den nordkoreanischen Botschafter in Berlin ein. Auch das russische und das chinesische Außenministerium verurteilten den Test und riefen zur Mäßigung und zur Wiederaufnahme der »Sechs-Parteiengespräche« über ein kernwaffenfreies Korea auf. Sowohl der Generalsekretär der Vereinten Nationen als auch der Generalsekretär der Internationalen Atomenergieorganisation sowie der Chef der CTBTO meldeten sich zu Wort und verwiesen auf den Bruch diverser Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durch Nordkorea.5

Schon Tage vor dem Test waren durch Satellitenaufnahmen Aktivitäten an mehreren Tunneleingängen des Testgeländes Punggye-ri beobachtet worden.6 Die nordkoreanische Regierung gab nach dem Test an, dass ein Sprengkopf getestet wurde, der kompakt genug sei, um auf eine ?strategische Rakete? montiert zu werden.7 Die möglicherweise nun erlangte ?Standardisierung? ermögliche Nordkorea die Produktion von ?kleineren, leichteren und verschiedenartigen nuklearen Sprengköpfen?.8 Das »DPRK Nuclear Weapons Institute« hatte erklärt, Nordkorea sei nun in der Lage, transportfähige Sprengköpfe herzustellen.

Wie stets wurde dieser Kernwaffentest zuvor von Raketentests begleitet.9 Seit Februar 2016 feuerte Nordkorea ca. 30 ballistische Raketen mit einer Reichweite von 200 km und mehr ab. In diesem Jahr fanden auch bereits einige Aufsehen erregende Tests von Mittelstreckenraketen statt. So wurde am 24. August 2016 eine U-Boot-gestützte Rakete (KN-11) abgeschossen. Sie legte dabei eine Entfernung von ca. 500 km zurück. Weitere Tests von Mittelstreckenraketen fanden im Mai und Juni (Musudan, 2.500-4.000 km) sowie im Juli, August und September (No-Dong, ca. 1.000 km) statt. Nicht alle Tests waren erfolgreich, und Nordkorea setzt alles daran, seine Fähigkeiten im besten Licht darzustellen. Mit einem Mittelstreckenpotenzial kann Nordkorea im Stationierungsfall mögliche Ziele in Südkorea, Japan und eventuell auch US-Streitkräfte auf Guam bedrohen. Die Entwicklung einer Interkontinentalrakete (ICBM), die die USA erreichen kann, dürfte jedoch noch einige Zeit brauchen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob Nordkorea einsetzbare Nuklearsprengköpfe aus unterschiedlichen waffenfähigen Materialien (Plutonium, hoch angereichertes Uran) herstellen und auf seinen getesteten Mittelstreckenraketen stationieren wird. Bisher wurden die Kernwaffentests von 2006, 2009 und 2013 eher als symbolische Akte interpretiert, u.a. um die USA wieder an den Verhandlungstisch zu bringen und weitere Zugeständnisse zu erhalten. Auch wollte Nordkorea durch die Tests signalisieren, dass es einen Angriff der USA mit seinem (wenn auch nicht näher bekannten) Nuklearpotenzial abschrecken kann. Nun dürfte sich die Situation in Nordostasien zuspitzen, da die meisten Staaten in der Region damit rechnen müssen, dass Nordkorea nuklearwaffenfähige Mittelstreckenraketen stationieren wird. Allerdings hat Nordkorea immer wieder durch bearbeitete Propagandafotos und zweifelhafte Statements, wie z.B. im Januar 2016 die Behauptung, eine Wasserstoffbombe getestet zu haben, die eigenen Fähigkeiten übertrieben dargestellt, um ernst genommen zu werden.

Mögliche Folgen und Reaktionen

Seit Langem wird versucht, mit diplomatischen Mitteln ein Ende der nuklearen Rüstung einschließlich der Beschränkung von Raketentests zu erreichen und das militärische Nuklearprogramm Nordkoreas zu beenden.10 Die Kombination aus weltweiter Verurteilung, verschärften Sanktionen, Embargos und verstärkter Isolation hat allerdings nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Nach dem letzten Nukleartest im Januar 2016 hatten die USA entschieden, in Südkorea eine Batterie des Raketenabwehrsystems »Terminal High Altitude Area Defense« (THAAD) zum Schutz Südkoreas und der US-Truppen zu stationieren.11 Trotz erheblicher lokaler Proteste hat die südkoreanische Regierung dem inzwischen zugestimmt. Die USA verfügen zur Zeit schon über fünf THAAD-Batterien, von denen eine in Guam stationiert ist.12 Die Stationierung von THAAD provoziert China, da die Volksrepublik fürchtet, diese Raketenabwehrkapazität könnte sein relativ kleines strategisches Nukle­ararsenal unterminieren. Wenn die nordkoreanische Raketenentwicklung schnell voranschreitet, wird eine THAAD-Abwehrbatterie nicht ausreichen, sodass ein weiterer Wettlauf zwischen Offensivraketen und Defensivsystemen vorprogrammiert ist.

Ein weiteres Konfliktfeld ist das ausstehende Inkrafttreten des Umfassenden Kernteststoppabkommens CTBT, dem sich seit 1996 183 Staaten angeschlossen haben. Der Vertrag kann erst in Kraft treten, wenn ihn auch die folgenden acht Staaten ratifiziert haben: Ägypten, China, Indien, Iran, Israel, Nordkorea, Pakistan und USA. Um die internationale Norm eines weltweiten Kernwaffenteststopps zu stärken, sollte der überfällige Ratifikationsprozess so schnell wie möglich aktiver betrieben werden. Zwar wird dies Nordkorea nicht unmittelbar beeindrucken, aber die Festigung einer überprüfbaren Norm wird den Druck auf die Länder, die nicht ratifiziert haben, erhöhen. Am 23. September 2016 wurde im UN-Sicherheitsrat die Resolution 2310 mit 14:0 Stimmen verabschiedet. Diese ruft die ausstehenden Länder auf ?ohne weitere Verzögerung? zu ratifizieren, die CTBTO weiter zu unterstützen und das weltweite Testmoratorium einzuhalten.

Das Dossier Nordkoreas wird nun eine Top-Priorität für die neue US-Regierung bilden. Es ist zu erwarten, dass es eine weitere US-Gesprächsoffensive mit Nordkorea gibt, aber auch verstärkte Rückversicherungsmaßnahmen für Südkorea und Japan durch die Stationierung weiterer THAAD-Batterien.

Anmerkungen

1) CTBT steht für Comprehensive Test Ban Treaty. Die für den CTBT geschaffene Organisation (CTBTO) in Wien arbeitet bis zum Inkrafttreten des 1996 vereinbarten internationalen Vertrags provisorisch, verfügt weltweit aber bereits über 321 seismische, hydroakustische, Infraschall- und Radionuklid-Mess-Stationen und 16 Labors. Bis auf Nordkorea halten sich alle Länder der Welt seit 1998 an den Vertrag bzw. an ein Testmoratorium.

2) Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe: BGR registriert vermutlichen fünften nordkoreanischen Kernwaffentest. keine Datumsangabe; bgr.de.

3) CTBTO: CTBTO Executive Secretary Lassina Zerbo on the unusual seismic event detected in the Democratic People's Republic of Korea. 9.9.2016; ctbto.org.

4) The White House: Statement by the President on North Korea?s Nuclear Test, September 9, 2016.

5) Nach dem Nukleartest vom Januar 2016 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2270, die u.a. Schiffsinspektionen erlaubt und ein Embargo für Flugzeugtreibstoff und seltene Mineralien verhängt. Siehe: United Nations – Meetings Coverage: Security Council Imposes Fresh Sanctions on Democratic People's Re­public of Korea, Unanimously Adopting Resolution 2270 (2016). 2.3.2016.

6) Joseph S. Bermudez and Jack Liu: New Activity Near All Three Portals at the Punggye-ri Nuclear Test Site. US-Korea Institute at SAIS – 38 North, 8. September 2016. Die Website »38 North« (38north.org) bietet Analysen zu Nordkorea.

7) Das Statement des DPRK Nuclear Weapon Institute wird im Eintrag »DPRK Conducts Fifth Nuclear Test« auf nkleadershipwatch.wordpress.com vom 9.9.2016 wiedergegeben.

8) Hierzu heißt es in der Originalerklärung des DPRK Nuclear Weapons Institute (siehe Fußnote 7): ?The standardization of the nuclear warhead will enable the DPRK to produce at will and as many as it wants a variety of smaller, lighter and diversified nuclear warheads of higher strike power with a firm hold on the technology for producing and using various fissile materials.?

9) Eine Zeitleiste der nordkoreanischen Raketentests findet sich unter 38north.org/2016/08/missiletimeline082416/.

10) Eine bis 2014 reichende Chronologie der entsprechenden diplomatischen Bemühungen findet sich auf der Website der Arms Control Association unter legacy.armscontrol.org/­factsheets/dprkchron.

11) Die THAAD Batterie soll 220 km südöstlich von Seoul in Seongju stationiert werden.

12) Eine THAAD Batterie besteht aus einem TPY-2 X-Band-Radar, einem Führungszentrum und einigen Startgeräten, die bis zu acht Abfangraketen aufnehmen können. Die Abfanghöhe liegt zwischen 40 und 200 km.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Physiker und geschäftsführender wissenschaftlicher Ko-Direktor des Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Dieser Text erschien am 14. September 2016 als IFSH-Stellungnahme und wurde für W&F leicht aktualisiert und überarbeitet.

Open-ended Working Group der UNO


Open-ended Working Group der UNO

UN-Arbeitsgruppe zu völkerrechtlichen Maßnahmen für nukleare Abrüstung, Genf, Februar und Mai 2016

von Leo Hoffmann-Axthelm

Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, ist eine als »Open-ended Working Group« (OEWG) bezeichnete Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen dabei, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass schon 2017 Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen starten könnten.

US-Präsident Obama forderte bei seinem historischen Besuch in Hiroshima am 27. Mai 2016 – dem ersten Besuch eines US-Präsidenten in dieser Stadt überhaupt – eine moralische Revolution für nukleare Abrüstung, während er gleichzeitig Initiativen zur Stigmatisierung von Atomwaffen boykottiert und für die nächsten 30 Jahre insgesamt eine Billion (also 1.000 Mrd.) US-Dollar für die Erneuerung der US-Atomwaffen einplant.

Die deutsche Abrüstungspolitik ist ähnlich widersprüchlich: Offiziell fordert die Bundesregierung eine atomwaffenfreie Welt, tatsächlich lehnt sie ein Verbot von Atomwaffen aber bisher ab. Sie sollen zwar eigentlich verschwinden, aber dazu die elementaren rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, dazu ist die Bundesregierung nicht bereit. In Deutschland gibt es zwar einen gesellschaftlichen Konsens gegen diesen letzten noch nicht völkerrechtlich verbotenen Typus von Massenvernichtungswaffen.1 Seit dem Ende des Kalten Krieges wird das Thema hierzulande aber kaum diskutiert, und auch die Bundesregierung geht den Weg des geringsten Widerstandes: Atomwaffen in Frage zu stellen, würde innerhalb der NATO einen diplomatischen Kraftakt voraussetzen.

Kein Wunder also, dass ein großer Teil der Staatengemeinschaft die Geduld verliert. Die 2013 und 2014 in Norwegen, Mexiko und Österreich abgehaltenen Konferenzen über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen2 haben den internationalen Diskurs um Atomwaffen verändert. 127 Staaten schlossen sich der von Österreich lancierten »Humanitären Selbstverpflichtung« (Humanitarian Pledge) an, die völkerrechtliche Lücke in Bezug auf nukleare Abrüstung zu schließen – das heutige Völkerrecht, insbesondere der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), setzt den Fokus auf die Nichtverbreitung.

Nach dem Scheitern der NVV-Überprüfungskonferenz 2015 setzten die Staaten der Humanitären Initiative daher über die UN-Generalversammlung ein temporäres Unterorgan ein, welches im Februar und Mai 2016 insgesamt drei Wochen lang in Genf getagt hat und seine Arbeit Mitte August 2016 in einer weiteren Sitzungswoche abschließen wird: die »ergebnisoffene Arbeitsgruppe« (Open-ended Working Group). Anders als bei der ständigen UN-Abrüstungskonferenz und bei den NVV-Konferenzen gelten hier die Regeln der Generalversammlung, d.h. Mehrheitsabstimmungen statt Konsens. Darüberhinaus wurde die allen Staaten offen stehende OEWG mit einem klaren Mandat ausgestattet: neue Maßnahmen zu diskutieren, die nukleare Abrüstung vorantreiben würden. In der OEWG schälte sich deutlich eine Präferenz für einen völkerrechtlichen Vertrag zum generellen Verbot von Atomwaffen heraus.

Zwar haben die atomar bewaffneten Staaten dieses Forum boykottiert und ihren mangelnden Willen zur nuklearen Abrüstung damit ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Einige von ihnen wurden aber von NATO-Staaten wie Deutschland vertreten, die in der OEWG versuchten, vom Verbotsvertrag abzulenken und die alten, seit Jahrzehnten ein ums andere Mal per Konsens angenommenen, aber nie implementierten Schritte des so genannten »step-by-step process« als einzigen gangbaren Weg darzustellen. Unter einem neuen Titel („progressive approach“) wurde nun versichert, es handle sich bei 20 Jahre alten Ideen (Inkraftsetzen des Umfassenden Teststopp-Vertrags, Vertrag zu spaltbaren Materialien, Appelle für mehr Transparenz und zügigere Reduktionen der Atomwaffenarsenale) um etwas anderes als den Status quo.

Eine deutliche Mehrheit der teilnehmenden Staaten kritisierte dieses Vorgehen der Atomwaffenstaaten und ihrer Alliierten. Ihr Unwille, neue Schritte, wie einen Verbots­vertrag, überhaupt nur in Erwägung zu ziehen, spornt die Mehrheit der Staatengemeinschaft erkennbar an, nun erst recht nicht auf die Einwilligung der nuklear Bewaffneten zu warten, um das Projekt eines internationalen Verbots voranzubringen.

Zehn Staaten, darunter auch größere Länder wie Argentinien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und die Philippinen, schlugen im Arbeitspapier WP.34 einen Verhandlungsbeginn im Jahr 2017 vor. Etliche weitere schlossen sich dieser Forderung mündlich an. Alle Staaten Lateinamerikas sowie die Afrikanische Union forderten explizit eine Ächtung von Atomwaffen. Irland, Österreich, Mexiko und Neuseeland taten sich mit besonders eloquenten Argumenten hervor, ebenso kleinere Staaten, wie Jamaika, Nicaragua und Palau. Insgesamt forderten 127 Regierungen – zwei Drittel der Staatengemeinschaft – im ArbeitspapierWP.36, „dringend“ mit Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot zu beginnen. Die österreichischen Autoren des Papiers wurden noch deutlicher und unterstrichen, dass die Mehrheit ein Verbot „so schnell wie möglich“ anstrebt.

Der Zuspruch für einen Verbotsvertrag war in der OEWG so groß, dass es mittlerweile unwichtig erscheint, was genau im abschließenden Bericht der OEWG stehen wird, der bei dem dritten Treffen Mitte August verabschiedet werden soll. Der Bericht soll der Generalversammlung eine Empfehlung über geeignete Maßnahmen für nukleare Abrüstung geben; die Generalversammlung könnte sodann mittels einer neuen Resolution tatsächlich Verhandlungen über einem Verbotsvertrag mandatieren. Spätestens dann müsste auch die Bundesregierung Farbe bekennen: Votiert sie für den Beginn der Verhandlungen oder wird sie sich enthalten?

Jamaika erklärte unlängst: Die nukleare Abrüstung wird endlich demokratisiert. Die bislang schweigende Mehrheit übernimmt die Initiative und erkennt an: Man darf nicht auf die Raucher warten, wenn man ein Rauchverbot einführen will. Nun werden die nuklear bewaffneten Staaten nicht länger um Erlaubnis gebeten, indem man ihnen ein Veto einräumt bei der Entscheidung über Vertragsverhandlungen. Einige Staaten haben die Bio- und Chemiewaffenkonventionen von 1975 bzw. 1993 bis heute nicht ratifiziert, dennoch konnten sie die Verhandlungen über die Ächtung dieser Waffengattungen nicht aufhalten. Der österreichische Botschafter unterstrich in Genf: Historisch gesehen wurden Waffensysteme stets verboten, bevor die mühsame Arbeit der Reduzierung und Abschaffung begann.

Die überwiegende Mehrheit der Staaten fordert nun, dass ihre Sicherheitsinteressen ebenfalls berücksichtigt werden – und zwar durch eine drastische Reduzierung und mittelfristig die Abschaffung der Atomwaffen. Die Sicherheit aller Menschen, und nicht nur jene einiger privilegierter Staaten, bildet den Kern der Humanitären Initiative und des wieder aufgeflammten Kampfes für unverzügliche Fortschritte bei der Reduzierung der Rolle von Atomwaffen.

Die Argumente gegen ein Verbot sind letztlich deshalb so unhaltbar, weil sie den wahren Grund für die Ablehnung verbergen sollen, kommt dieeser doch einem Bruch der NVV-Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung gleich: Die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten haben schlicht und ergreifend keinerlei Pläne, abzurüsten.

Die OEWG hat ein weiteres Stück Klarheit geschaffen: Welche Staaten sind wirklich für eine atomwaffenfreie Welt und welche behauptet dies nur, während sie ansonsten auf Zeit spielen?

Anmerkungen

1) Forsa-Umfrage vom 17./18. März 2016.

2) Siehe dazu Englert, M.; Kütt, M.; Löpsinger, A.: Oslo, Nayarit und Wien – Humanitäre Aspekte in der nuklearen Abrüstungsdebatte. W&F 2-2015, S. 42-45.

Leo Hoffmann-Axthelm

Oslo, Nayarit und Wien

Oslo, Nayarit und Wien

– Humanitäre Aspekte in der nuklearen Abrüstungsdebatte

von Matthias Englert, Moritz Kütt und Andreas Löpsinger

Im April und Mai 2015 kommt wieder ein Großteil der 190 Staaten in New York zusammen, die Mitglieder des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) sind. Sie sollen die Umsetzung des 1970 in Kraft getretenen Vertrages überprüfen, schließlich haben sich die Länder mit ihrem Beitritt nicht nur zur Nichtverbreitung, sondern auch zu Verhandlungen über die vollständige Abrüstung der vorhandenen Kernwaffenarsenale verpflichtet. Die Vertragskonferenzen sind vom Ablauf wie von den inhaltlichen Stellungnahmen längst zum Ritual erstarrt, auf beiden Seiten: den Regierungen wie den akkreditieren Nichtregierungsorganisationen. Doch seit 2010 ist ein anderer Ton in die Debatte gekommen: Es wird (wieder) über die humanitären Aspekte von Atomwaffen geredet, und als Konsequenz wird auch (wieder) über einen Verbotsvertrag diskutiert. Die Autoren beleuchten, wie es dazu kam, worin die Debatte besteht, und wo die Probleme liegen.

In einer der meist beachteten Reden seiner Amtszeit formulierte US-Präsident Barack Obama im April 2009 in Prag seine Vision einer kernwaffenfreien Welt und nährte damit neue Hoffnungen bei vielen Befürwortern nuklearer Abrüstung. Heute, sechs Jahre nach jener Rede, ist wieder Ernüchterung eingekehrt. Sicher war allen klar, dass die Vision nicht von heute auf morgen Realität werden würde. Doch etwas mehr Tatendrang hatten sich viele gewünscht. So verharrt der Dialog der Kernwaffenstaaten weiter in einem Sicherheitsdiskurs, der eine konsequente Abrüstung verhindert.

Im Gegensatz dazu fand, unterstützt durch zahlreiche Nichtkernwaffenstaaten, im zivilgesellschaftlichen Bereich eine gegenläufige Entwicklung statt: Statt der herkömmlichen sicherheitspolitischen Überlegungen werden die katastrophalen Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes für den Einzelnen und ganze Gesellschaften beschrieben. Die Fokussierung auf die humanitären Folgen stützt sich auf wiederbelebtes, historisches Wissen sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung von Kernwaffen. Entgegen der Stagnation der letzten zwei Jahrzehnte und der Weigerung der Kernwaffenstaaten, die längst vereinbarten konkreten Schritte zur Abrüstung zu realisieren, öffnet die »neue« Abrüstungsdynamik Ansätze, den Prozess hin zu einer kernwaffenfreien Welt voranzubringen.

Die humanitären Folgen eines Kernwaffeneinsatzes

Die Bilder und Überlieferungen der beiden einzigen Kriegseinsätze von Kernwaffen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 sind bis heute präsent. Damals fielen den amerikanischen Bombenabwürfen unmittelbar ca. 110.000 Menschen zum Opfer, fast ebenso viele erlitten zum Teil schlimmste Verletzungen, Tausende starben infolge von Späterkrankungen noch Jahrzehnte später.1 Das Vernichtungspotenzial von Kernwaffen ohne Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen wurde in Japan auf tragische Art und Weise deutlich.

Während des Kalten Krieges blieb der Schrecken eines nuklearen Schlagabtauschs der beiden Supermächte aus Ost und West ständiger Begleiter aller außenpolitischen Manöver. Gemäß der Abschreckungslogik wurde Angst gezielt forciert, um die andere Seite einzuschüchtern. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Studien über einen Nuklearen Winter infolge eines globalen nuklearen Schlagabtauschs und dessen Konsequenzen für das Klima und die Nahrungsmittelproduktion.2

Seit Ende des Kalten Krieges gelten globale Nuklearkriege als eher unwahrscheinlich. Stattdessen hat sich die Gefahr kleinerer, regional begrenzter nuklearer Auseinandersetzungen aufgrund der gestiegenen Zahl von Kernwaffenstaaten vergrößert. Wissenschaftler ermittelten in den vergangenen Jahren die Folgen eines regionalen Nuklearkriegs, etwa zwischen Pakistan und Indien. Ihren Berechnungen zufolge würde ein Einsatz von je 50 Sprengköpfen in der Größenordnung der Hiroshima-Bombe nicht nur mehr als 20 Millionen Todesopfer fordern und große Areale nuklear verseuchen.3 Es würden bei den Explosionen auch ca. fünf Millionen Tonnen Ruß in die obere Atmosphäre freigesetzt, die zu einem weltweiten Temperaturabfall von durchschnittlich 1,25o C führen würden. Ernteeinbußen zwischen 10 und 40 Prozent bei amerikanischem Mais4 und bis zu 20% bei chinesischem Reis5 wären die Folge. Hauptbetroffen wären die rund 800 Millionen Menschen, die schon heute an Unterernährung leiden.

Von einem sehr praxisnahen Standpunkt aus kamen Experten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) bereits 2007 zu dem Ergebnis, dass keine nationale oder internationale Katastrophenschutz- oder Hilfsorganisation in der Lage wäre, die Situation nach einer Kernwaffenexplosion medizinisch und logistisch auch nur annähernd zu bewältigen.6

Die Wiederbelebung der nuklearen Abrüstungsdebatte

Im sicherheitspolitischen Diskurs der letzten zwei Jahrzehnte hatten die katastrophalen Folgen eines Kernwaffeneinsatzes nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Auch das viel beachtete Rechtsgutachten zu einem Kernwaffeneinsatz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag von 1996 hatte kaum einen Wandel im sicherheitspolitischen Diskurs bewirkt.7 Kurz nach der eingangs zitierten Rede Obamas machte jedoch die Schweizer Delegation bei der Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2010 die humanitären Folgen von Kernwaffen erneut zum Thema und forderte unter Hinweis auf die willkürliche Zerstörungskraft dieser Waffengattung und die Verletzung aller fundamentalen Prinzipien des humanitären Völkerrechts klare Schritte hin zu einer völligen nuklearen Abrüstung. Dieser Appell traf einen Nerv. Andere Staaten schlossen sich der Argumentation an, sodass schließlich im Schlussdokument der Konferenz große Besorgnis im Hinblick auf die katastrophalen humanitären Folgen zum Ausdruck gebracht wurde.8 Damit nicht genug, forderte die Schweiz, die Gespräche über die Legitimität von Kernwaffen sollten zukünftig frei von verteidigungspolitischen Überlegungen geführt werden.

Bei der nächsten NVV-Konferenz 2012 – dem ersten Vorbereitungstreffen für die Überprüfungskonferenz 2015 – fand sich eine Gruppe von 16 Staaten, die in einem gemeinsamen Statement die humanitären Konsequenzen einer Kernwaffenexplosion betonten. Seitdem wuchs die Zahl der Unterstützer stetig. Bei der NVV-Konferenz im Mai 2013 fand ein entsprechendes Statement bereits 79 Unterstützerstaaten, bei der Debatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Herbst des gleichen Jahres waren es schon 125.

Unter Verweis auf diese große Zahl an potenziellen Unterstützern lud der damalige norwegische Außenminister Espen Barth Eide im Frühjahr 2013 alle Staaten zu zweitägigen Konsultationen nach Oslo ein, in denen die humanitären Folgen von Kernwaffen und daraus resultierende notwendige Schritte diskutiert werden sollten. 128 Regierungen folgten der Einladung und entsandten Vertreter. Die fünf offiziellen Kernwaffenstaaten gemäß der Definition des NVV – USA, Großbritannien, Russland, China und Frankreich – nahmen nicht teil; anders als die »inoffiziellen« Kernwaffenmächte Indien und Pakistan. Sie begründeten ihr Fernbleiben in einer öffentlichen Verlautbarung mit der Sorge, die Konferenz könne die Abrüstungsdiskussion von konkreten und praktischen Abrüstungsschritten ablenken. Der von ihnen favorisierte „schrittweise Ansatz“ sei die effektivste Möglichkeit, die Zahl der Kernwaffen zu reduzieren.9

Der Erfolg des Treffens in Norwegen führte zu Nachfolgekonferenzen in Mexiko (Nayrit, Februar 2014) und Österreich (Wien, Dezember 2014). Jedem der drei Treffen ging eine durch die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) organisierte zweitägige Veranstaltung ür zivilgesellschaftliche Akteure voraus, die eindringliche Appelle an Staats- und Regierungschefs richteten. Die Konferenzen und das vorgetragene humanitäre Argument sorgten für Aufbruchstimmung unter Abrüstungsbefürwortern. Diese wird noch bestärkt durch den »Austrian Pledge«, ein am Ende der Wiener Konferenz von Österreich gegebenes Versprechen, sich für ein umfassendes Verbot von Kernwaffen einzusetzen, verbunden mit der Aufforderung an andere Staaten, sich ebenfalls auf das Versprechen zu verpflichten (Stand 23. April haben dies 76 Staaten getan) und den »Austrian Pledge« im Mai 2015 in die nächste NVV-Überprüfungskonferenz einfließen zu lassen.10

Ein Verbotsvertrag als Lösung der Abrüstungsproblematik?

Ein Ziel der in Oslo angestoßenen Bewegung ist es, Kernwaffen global zu ächten und dies mit einem internationalen Vertrag zu besiegeln. Die Bemühungen sehen einen Vertrag vor, der sehr einfach gehalten ist und Nuklearwaffen allgemein verbietet. Vorbild ist etwa das Verbot von Antipersonenminen, das 1997 im Ottawa-Abkommen vereinbart wurde. Damals gelang es Verbotsbefürwortern innerhalb kurzer Zeit, so viel moralischen Druck auf die Regierungen aufzubauen, dass die meisten von ihnen die Konvention unterschrieben. Die strukturelle Position, die Kernwaffen im internationalen Sicherheitsgeflecht nach wie vor besetzen, macht eine ähnliche Entwicklung allerdings ungleich schwieriger.

Bisherige Versuche zur rechtlichen Umsetzung multilateraler nuklearer Abrüstung umfassten unter anderem die schon lange Zeit diskutierte Nuklearwaffenkonvention. Sie zielt darauf, gemeinsam mit Kernwaffenstaaten und Nicht-Kernwaffenstaaten einen komplexen Vertrag mit konkreten Abrüstungsschritten und Zeitplänen auszuhandeln, wird jedoch von vielen Staaten derzeit abgelehnt.

Die neue Hoffnung ist nun, dass ein Verbotsvertrag – vorerst auch ohne Mitwirkung der Kernwaffenstaaten – wieder Bewegung in die Abrüstungsdebatte bringt. Bei vielen durch den jahrzehntelangen Stillstand frustrierten zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren weckten die Konferenzen in Oslo, Nayarit und Wien die Hoffnung, das Ziel »global zero« doch noch zu erreichen. Eine globale Norm, die von Staaten getragen wird, könnte Signalwirkung auch für die Kernwaffenstaaten haben. Auf jeden Fall aber würde sie allen Befürwortern einer vollständigen Abrüstung Auftrieb geben. Zudem würde der Glaube an die Logik der Abschreckung hinterfragt und das Mantra der Macht durch den Besitz von Kernwaffen herausgefordert werden.

Reden ja, Handeln nein

Betrachtet man das Verhalten der im NVV offiziell anerkannten Kernwaffenstaaten, so klafft eine große Lücke zwischen propagierten außenpolitischen Zielsetzungen und realem Handeln. Die Forcierung der Nichtverbreitungsdoktrin, die Stagnation im Abrüstungsprozess und das Fehlen einer umfassenden Abrüstungsvision zeugen von Desinteresse. Zwar stimmt es, dass die offiziellen Kernwaffenstaaten ihre nuklearen Waffenbestände nach und nach reduzierten, allerdings können diese Schritte jederzeit wieder rückgängig gemacht werden, da die nukleare Infrastruktur nicht angetastet wird. Außerdem steht dieser quantitativen »Abrüstung« eine Weiterentwicklung der Waffentechnologie entgegen. Somit sind Kernwaffen nach wie vor eine Währung der Macht.11

Auch alte »Haudegen« des Kalten Krieges sprachen sich, in Person von Henry Kissinger, Sam Nunn, George Shultz und William Perry, schon für eine nukleare Abrüstung aus.12 Ihre Äußerungen klangen zunächst vielversprechend, sind jedoch bei genauerem Hinsehen nur eine Wiederholung der geschickten Verbindung von Nichtverbreitung und Abrüstungsversprechungen zum Erhalt der nuklearen machtpolitischen Balance. Die Einsicht zur Abrüstung entstammt dabei nicht unbedingt der Einsicht in den Bedarf einer Welt ohne Kernwaffen, sondern eher der Furcht, dass die Kontrolle des Zugriffs auf nukleare Materialien schwindet. Die »four horsemen« befürchten, weitere Staaten würden versuchen, durch die nukleare Option auf Augenhöhe mit den Kernwaffenstaaten zu kommen; auch territorial relativ ungebunden agierende (Terror-) Gruppen werden als ernstzunehmende Bedrohung angesehen. Gerade sie lassen sich nicht mit der Drohung eines nuklearen Vergeltungsschlags abschrecken und unterminieren das filigrane Geflecht der Abschreckungslogik: Welches Territorium sollte zur Vergeltung in einem »Zweitschlag« bombardiert werden?

Im Falle des Iran wird noch eine weitere Strategie im »Spiel« um die Macht durch Kernwaffen sichtbar. Dem Land wird seit Jahren die Entwicklung einer Kernwaffe unterstellt, und die Welt möchte feststellen, ob diese Unterstellung richtig ist oder nicht. Was aber, wenn der Iran durch das Offenhalten einer latenten nuklearen Option schon längst die politische Dividende eines Kernwaffenbesitzes nutzt? Der Iran betreibt nukleare Sicherheitspolitik allein schon durch den Besitz von spaltbarem Material und dazugehörigen Produktionstechnologien und ist die Blaupause eines „virtuellen Kernwaffenstaates“ 13 – ein Status, den andere Staaten seit Jahrzehnten haben, die allerdings eng in die westliche Sicherheitsarchitektur eingewoben sind (z.B. Japan und Deutschland).

Diese Entwicklungen zeigen, welche Rolle Kernwaffen im politischen Diskurs und in militärischen Doktrinen weiterhin spielen. Gerade die gedankliche Verknüpfung von Kernwaffen und Macht ist ein Motiv für Staaten, sich diese anzueignen und sich damit an Machtdiskursen zu beteiligen, zu denen sie ohne Kernwaffen kaum einen Zugang hätten.14 Die Logik der Abschreckung, einst erfunden, um einen ebenbürtigen Gegner in Schach zu halten, eignet sich kaum dafür, andere Staaten vom Erwerb dieser Waffe abzuhalten – im Gegenteil.

Die Fokussierung auf die Folgen der Anwendung der Waffe öffnet die Debatte wieder für ethische Argumente und trägt zu einer umfassenden moralischen Entwertung von Kernwaffen bei. Eine solche De-Legitimierung würde die bisherigen politischen und militärtaktischen Ansichten über Kernwaffen komplett hinterfragen15 und ihren Nutzen einem »re-framing« (einem Umdeuten)16 unterziehen. Darauf zielt die »neue« Abrüstungsbewegung ab, in der Hoffnung, langfristig ein Verbot zu erreichen und letztlich Kernwaffen als Währung der Macht zu entwerten.

Zu lösende Probleme auf dem Weg zu einem Verbotsvertrag

Den erhofften Positivwirkungen einer möglichen Kernwaffenächtung stehen jedoch auch Befürchtungen gegenüber. Diese müssen im weiteren Dialog der Verbotsbefürworter offen angesprochen werden. Es lassen sich vier wesentliche Probleme identifizieren:

  • Zunächst ist davon auszugehen, dass ein Verbot zwar von vielen Staaten unterstützt würde, die Kernwaffenstaaten einen Verbotsvertrag jedoch kaum unterzeichnen werden. Auch für abrüstungswillige Kernwaffenstaaten braucht es Anreize, sich einem weiteren Regelwerk anzuschließen; es gibt schließlich schon den NVV.
  • Daneben ist es paradox, dass das moralische Argument der Abrüstungsbefürworter (Kernwaffen sind so zerstörerisch, dass sie verboten werden müssen) letztlich genau der Grund ist, warum sich die Kernwaffenstaaten diese zugelegt haben (und sie nicht wieder hergeben wollen). Das Beispiel Nordkorea zeigt, dass der Besitz von Kernwaffen einen hohen Grad an Handlungsautonomie für autoritäre Regime sichert. Solchen Staaten müssten neue Anreize und Sicherheitsgarantien geboten werden.
  • Drittens muss bei der Abrüstung von Kernwaffen mittels Verbotsvertrag ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren vorhanden sein. Anders als bei den Antipersonenminen oder der Clustermunition, bei der jeder einzelne abrüstende Staat einen Fortschritt darstellt, reicht bereits ein nuklearer Abrüstungsverweigerer aus, um alle anderen Staaten zu blockieren.
  • Zuletzt könnte mit der Unterzeichnung einer einfachen Verbotsnorm ohne die Beteiligung der Kernwaffenstaaten die Abrüstungsbewegung erlahmen, da dann alles erreicht ist – der finale Sprung, nach dem nichts mehr kommt. Teilerfolge wie das Aushandeln von Sicherheitsgarantien oder praktische Abrüstungsschritte wären vielleicht nicht mehr erzielbar, falls Kernwaffenstaaten sich dauerhaft dem Beitritt zur Verbotsnorm verweigern.

Aufgrund dieser Probleme muss der weitere Umgang mit den Kernwaffenstaaten im Abrüstungsprozess offen thematisiert werden. Derzeit gelten Nuklearwaffen noch immer für viele als Garanten von Stabilität im Gerüst internationaler Sicherheit. Um auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt voranzukommen, ist es nötig, den Einfluss dieser Abschreckungslogik zu mindern. Trotz der genannten Schwierigkeiten kann die Diskussion humanitärer Konsequenzen hier eine wirksame Strategie sein.

Anmerkungen

1) U.S. Department of Energy: The Manhattan Project – an interactive history; osti.gov/manhattan-project-history.

2) Richard P. Turco et al.: Nuclear Winter: Global Consequences of Multiple Nuclear Explosions. Science, no. 12/1983 (222/4630), S.1283-1292. Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.) (1970): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Carl Hanser.

3) Alan Robock, Luke Oman und Georgiy L. Stenchikov: Nuclear winter revisited with a modern climate model and current nuclear arsenals: Still catastrophic consequences. Journal of Geophysical Research, No. 7/2007.

4) Mutlu Özdoðan, Alan Robock und Christopher J. Kucharik (2013): Impacts of a nuclear war in South Asia on soybean and maize production in the Midwest United States. Climatic Change, Vol. 116, Issue 2, S.373-387.

5) Lili Xia und Alan Robock (2013): Impacts of a nuclear war in South Asia on rice production in Mainland China. Climatic Change, Vol. 116, Issue 2, S.357-372.

6) Dominique Loye und Robin Coupland: Who will assist the victims of use of nuclear, radiological, biological or chemical weapons – and how? International Review of the Red Cross, 6/2007 (89/866), S.343.

7) IALANA (Hrsg.) (1997); Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT Verlag.

8) Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz des NVV von 2010 (Art.VI).

9) Verlautbarung hinsichtlich ihres Fernbleibens; abrufbar unter: www.reachingcriticalwill.org/images/documents/Disarmament-fora/oslo-2013/P5_Oslo.pdf.

10) Der »Austrian Pledge« steht auf der offiziellen Konferenz-Website des österreichischen Außenministeriums online; bmeia.gv.at/index.php?id=55297.

11) Anne Harrington de Santana (2009): Nuclear Weapons as the Currency of Power -: Deconstructing the Fetishism of Force. The Nonproliferation Review 16/3, S.25-45.

12) George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn: A World Free of Nuclear Weapons. Wall Street Journal, 4.1.2007.

13) Anne Harrington und Matthias Englert (2014): How Much Is Enough? The Politics of Technology and Weaponless Nuclear Deterrence. In: Maximilian Mayer, Mariana Carpes und Ruth Knoblich (eds.): The Global Politics of Science and Technology – Vol. 2. Perspectives, Cases and Methods. Global Power Shift. Berlin/Heidelberg: Springer, S.287-302.

14) Paul Quilès (2013): Nuclear Deterrence – Not Suitable for the 21st Century. In: Rob van Riet (ed.): Moving Beyond Nuclear Deterrence to a Nuclear Weapons Free World. London: World Future Council, Nuclear Abolition Forum, Issue 2, S.8f.

15) Nick Ritchie: Waiting for Kant: devaluing and delegitimizing nuclear weapons. International Affairs, 5/2014 (Vol. 90 No. 3), S.622.

16) John Borrie: Humanitarian reframing of nuclear weapons and the logic of a ban. International Affairs, 5/2014 (Vol. 90 No. 3), S.625-646.

Matthias Englert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut e.V. und beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren intensiv mit nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie mit nuklearer Nichtweiterverbreitung und der Kontrolle spaltbarer Materialien.
Moritz Kütt ist Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt und promoviert derzeit in Physik zu Verifikationstechnologien in der nuklearen Abrüstung.
Andreas Löpsinger ist Student im Masterstudiengang Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie wissenschaftliche Hilfskraft bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt.

Doch kein Ende in Sicht?

Die Nuklearwaffen der USA in Europa

Doch kein Ende in Sicht?

von Otfried Nassauer

Die NATO kann sich nicht entscheiden und entscheidet sich doch. Soll sie künftig auf die US-Nuklearwaffen in Europa verzichten? Bei den zwei Gipfeltreffen in Lissabon 2010 und Chicago 2012 konnte kein Konsens erzielt werden. Bleibt es dabei, könnte die Allianz bald neue Nuklearwaffen in Europa stationieren, obwohl das viele gar nicht wollen.

Svein Efjestad war Norwegens Vertreter in der High Level Group (HLG) der NATO, als er sich im August 2009 mit dem US-Botschafter bei der NATO, Ivo Daalder, traf. Efjestad erzählte Daalder von einer Beobachtung, die überrascht: „Nach mehr als 15 Jahren, in denen es in der HLG kaum eine Debatte“ über die Nuklearwaffen in Europa gegeben habe, sei es möglicherweise an der Zeit, dass die HLG sich wieder „mit dem Thema befasst“.1 Die HLG ist zusammen mit der Nuklearen Planungsgruppe das wichtigste Gremium der Allianz für die Nuklearpolitik.

Efjestads Beobachtung impliziert, dass die NATO sich zuletzt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ernsthaft mit ihrer Nuklearpolitik befasst hat. Im Herbst 1991, nach dem Ende des Kalten Krieges, einigte sich die Allianz darauf, den größten Teil der von den USA für das Bündnis in Europa stationierten Nuklearwaffen abzuziehen. Wenig später wurden im schottischen Glenneagles neue Richtlinien für Konsultationen im nuklearen Bereich vereinbart. Seither hat die NATO die Zahl der nuklearen Waffen in Europa mehrfach reduziert, jedoch ohne größere Diskussion. Waren zunächst noch rund 1.400 Kernwaffen in Europa verblieben, so ging deren Zahl später auf rund 700 und dann auf etwa 480 Waffen zurück. Nach der jüngsten Reduzierungsrunde Mitte des letzten Jahrzehnts verblieben noch „rund 180 substrategische Nuklearwaffen“ 2 auf dem europäischen Kontinent. Bis zu zwanzig davon befinden sich in Büchel, dem einzigen verbliebenen Nuklearwaffenstandort in Deutschland. Auch der Ausbildungsstand der Piloten und der Bereitschaftsgrad der nuklearwaffenfähigen Einheiten wurde wiederholt abgesenkt, sodass es inzwischen monatelanger Vorbereitungen bedürfte, bevor ein Einsatz der Nuklearwaffen möglich wäre.

Der militärische Nutzen dieser Waffen ist gering, weil sich in Reichweite ihrer Trägerflugzeuge kaum noch denkbare Ziele befinden. Der politische Symbolwert ist dagegen hoch, signalisieren diese Waffen als konkrete Manifestation der nuklearen Teilhabe doch, dass auch nicht-nukleare NATO-Staaten in einem Krieg zu einem Nuklearwaffeneinsatz befähigt wären.

Allerdings erreichen gegen Ende dieses bzw. im nächsten Jahrzehnt sowohl die nuklearen Waffen als auch deren Trägerflugzeuge und Lagersysteme das Ende ihrer geplanten Lebensdauer. Es stellt sich also in der NATO die Frage »modernisieren oder abziehen«?

Die Abzugsdebatte

Öffentlich aufgeworfen wurde diese Frage im Herbst 2009 durch den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP. Die Koalitionspartner versprachen, sich „im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür ein[zu]setzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“.3 Der Deutsche Bundestag unterstützte diese Position im März 2010 parteiübergreifend mit überwältigender Mehrheit und forderte die Bundesregierung auf, dieses Ziel „mit Nachdruck“ zu vertreten und sich dafür einzusetzen, „die Rolle der Nuklearwaffen in der NATO-Strategie zurückzuführen“.4 Um Kritik anderer NATO-Staaten vorzubeugen, sicherte die Bundesregierung zu, einen Abzug nicht einseitig oder ohne Konsultationen im Bündnis zu erzwingen. Sie bat gemeinsam mit Belgien, Luxemburg, Norwegen und den Niederlanden NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Thema im Kontext der Diskussion über eine neue NATO-Strategie und die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt im April 2010 auf die Tagesordnung des NATO-Außenministertreffens in Tallin zu setzen: „Wir glauben, dass wir auch in der NATO diskutieren sollten, was wir tun können, um uns diesem übergeordneten politischen Ziel anzunähern.“5

Gegenwind entstand rasch: Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentierte in Tallin: „Wir sollten anerkennen, dass die NATO eine nukleare Allianz bleibt, solange Nuklearwaffen existieren.“ Und sie mahnte: „Für ein nukleares Bündnis ist es fundamental, die nuklearen Risiken und Verantwortlichkeiten breit zu teilen.“6 Clintons Vorgängerin, Madeleine Albright, und eine von ihr geleitete Expertengruppe überreichten dem NATO-Generalsekretär im Mai 2010 Vorschläge für das neue »Strategische Konzept« und empfahlen „unter den gegenwärtigen Sicherheitsbedingungen die Beibehaltung von einigen vorne-stationierten US-Systemen auf europäischem Boden“, da diese „das Prinzip der erweiterten Abschreckung und der kollektiven Verteidigung stärken“.7

Das neue »Strategische Konzept« wurde im November 2010 in Lissabon verabschiedet. Es hielt fest: „Die Abschreckung auf der Grundlage einer geeigneten Mischung aus nuklearen und konventionellen Fähigkeiten bleibt ein Kernelement unserer Gesamtstrategie. Umstände, unter denen der Einsatz von Kernwaffen in Betracht gezogen werden müsste, sind höchst unwahrscheinlich. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben.“ Die NATO werde auch künftig eine „möglichst umfassende Beteiligung der Bündnispartner an der kollektiven Verteidigungsplanung mit Bezug auf deren nukleare Anteile, an der Stationierung von nuklearen Kräften in Friedenszeiten und an Führungs-, Kontroll- und Konsultationsverfahren gewährleisten“.8 Das Dokument weist den nicht-strategischen Nuklearwaffen9 der NATO keine spezifische Rolle mehr zu und wiederholt auch nicht die frühere Aussage, dass „die Präsenz der konventionellen und nuklearen Kräfte der USA in Europa für die Sicherheit Europas äußerst wichtig“ sei.10

Hintergrund der Weglassung war der bündnisinterne Disput über die künftige Notwendigkeit einer Stationierung von Nuklearwaffen in Europa. Diese Diskussion sollte bis zum nächsten NATO-Gipfel im Kontext einer »Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs«,11 dem »DDPR« (Defense and Deterrence Posture Review), weitergeführt werden. Wesentliche Fortschritte wurden nicht erzielt.

Zum Chicagoer Gipfeltreffen im Mai 2012 lag der von den NATO-Außen- und Verteidigungsministern zuvor in Brüssel abgesegnete DDPR vor. Er wiederholt die Kernaussagen des »Strategischen Konzeptes«, verzichtet erneut darauf, die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen genauer zu beschreiben, und erwähnt diese vor allem im Kontext der Rüstungskontrolle. Das Bündnis erklärt seine Bereitschaft, „die Bedingungen für eine weitere Reduzierung der der NATO zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen zu schaffen“, und will sicherstellen, dass „alle Elemente der nuklearen Abschreckung solange zuverlässig, sicher und effektiv“ bleiben, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“. Die NATO sei „bereit, eine weitere Reduzierung ihres Bedarfs an dem Bündnis zugewiesenen nicht-strategischen Kernwaffen im Zusammenhang mit reziproken Schritten Russlands unter Berücksichtigung der größeren russischen, im euro-atlantischen Raum stationierten nichtstrategischen Kernwaffenbestände in Betracht zu ziehen“ und zu „ergründen, was die NATO hinsichtlich reziproker Maßnahmen Russlands erwartet, um den Weg für eine deutliche Reduzierung der der NATO zugewiesenen, vorwärts stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu ebnen“.12

Diese komplizierten Formulierungen lassen den Schluss zu, dass an der Stationierung nuklearer Waffen in Europa festgehalten werden soll. Ein Verzicht wird im DDPR nicht erwogen. Allenfalls eine Reduzierung des Stationierungsumfangs käme infrage, sofern Russland sich zu Gegenleistungen bereit zeigt. Wer will, kann diese Aussagen sogar als dauerhafte Verpflichtung lesen, an in Europa stationierten Nuklearwaffen festzuhalten: Sie gehören zu den Elementen der Abschreckung, die solange effektiv gehalten werden sollen, „wie die NATO ein nukleares Bündnis bleibt“.

Die deutsche Initiative für den Abzug der NATO-Nuklearwaffen hat sich damit vorläufig tot gelaufen. Im Bündnis konnte darüber kein Konsens erzielt werden. Was aber ist dann der Plan? Gibt es einen Konsens in der Allianz, an den taktischen Nuklearwaffen festzuhalten oder diese gar zu modernisieren? Darüber steht in den Beschlüssen der NATO ebenfalls kein Wort. Trotzdem ist die Frage höchst aktuell.

Die Modernisierungspläne

Kurz vor dem Ministertreffen der NATO in Tallin veröffentlichte die Regierung Barack Obamas im April 2010 ihren »Nuclear Posture Review«, eine strategische Blaupause für die künftige Nuklearpolitik der USA, die sich unter anderem mit den nuklearen Waffen, deren Trägersystemen und der nuklearindustriellen Infrastruktur befasst. Der Review erklärt eine Modernisierung der nuklearen Bomben vom Typ B61 für notwendig und vordringlich. Entsprechend planen die USA, bis 2019 den Prototyp einer neuen Nuklearwaffe zu entwickeln, die ab 2020 auch Nachfolger der heute in Europa gelagerten nuklearen Bomben werden könnte – die Bombe B61-12. Die technische Entwicklung der neuen Waffe soll noch dieses Jahr beginnen. Dafür hat die US-Regierung beim Kongress für 2013 ein Entwicklungsbudget in Höhe von 361 Mio. US$ beantragt. Die Gesamtkosten des Vorhabens werden auf rund sieben Mrd. US$ geschätzt. Parallel dazu wird die Integration des neuen Bombentyps in vorhandene Trägerflugzeuge vorbereitet. Die Entwicklung eines neuen nuklearwaffenfähigen Trägersystems, des Joint Strike Fighter, ist vorgesehen, wegen technischer und finanzieller Schwierigkeiten aber vorerst auf Eis gelegt.

Die B61-12 soll das Nachfolgemodell für vier Versionen der B61werden: die taktischen Versionen B61-3, B61-4 und B61-10 sowie für die strategische Version B61-7. Das hat sowohl rüstungskontrollpolitische als auch militärische Relevanz: Wird die neue Bombe eingeführt, so gibt es keine »taktischen« und »strategischen« Versionen dieser Waffe mehr. Es gibt nur noch eine Version, die sowohl strategische als auch nicht-strategische Funktionen erfüllen kann. Nur über das Trägerflugzeug kann noch unterschieden werden, welchem Zweck die Waffe gerade dient. Die Kategorie der »taktischen« bzw. »nicht-strategischen« Nuklearwaffen verschwindet damit aus dem Arsenal der USA und der NATO. Dies hat komplexe und Komplikationen hervorrufende Folgen, z.B. für die künftigen Abrüstungsverhandlungen mit Russland.13

Militärisch ergibt sich die Relevanz aus anderen Gründen: Die bisherigen, wenig zielgenauen, »dummen« nuklearen Bomben sollen zu Lenkwaffen umgerüstet werden, die eine deutlich höhere Zielgenauigkeit erreichen können.14 Ein neues, elektronisch gesteuertes Heckleitwerk (tailkit) an den Bomben soll das ermöglichen. Die größere Zielgenauigkeit erlaubt den Verzicht auf jene Versionen der B61-Bombe, die eine hohe Sprengkraft haben. Für die B61-12 soll der nukleare Sekundärsprengsatz15 des Modells B61-4 wiederverwendet oder nachgebaut werden. Deshalb wird es auch künftig möglich sein, für einen Einsatz wahlweise die Sprengkraft auf 0,3, 1,5, 10 oder 50 Kilotonnen einzustellen. Dieselbe Bombe kann also entweder als »mini nuke« oder mit der vierfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe zur Explosion gebracht werden. Sie kann militärische Punktziele ebenso zerstören wie große Flächenziele. Der »Kollateralschaden« wird kalkulierbarer und begrenzbarer, die nukleare Waffe somit militärisch besser nutzbar als ihre Vorgängerversionen. Damit vergrößert sich die Gefahr, dass die Hemmschwelle gegen einen Nuklearwaffeneinsatz sinkt. Oder anders gesagt: Die Versuchung, solche Nuklearwaffen tatsächlich einzusetzen, kann steigen. Politische Bemühungen, die militärische Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, können von solchen Waffen ernsthaft behindert werden. Aus gutem Grund verbot ein Gesetz aus dem Jahr 1994, das Spratt-Furse Amendment, in den USA viele Jahre lang, Entwicklungsarbeiten an neuen Nuklearwaffen mit weniger als fünf Kilotonnen Sprengkraft durchzuführen.

Begründet wird die dringende Notwendigkeit einer Modernisierung der B61-Bomben von der US-Regierung damit, dass deren technische Lebensdauer in Kürze abläuft. Zudem könne man die Gelegenheit nutzen, um die Waffen noch sicherer vor einem potentiellen Missbrauch durch Unbefugte oder vor Unfällen zu machen. Beide Argumente haben inzwischen erheblich an Glaubwürdigkeit verloren.

Das Argument der knappen Zeit und hohen Dringlichkeit erwies sich als dehnbar. Zunächst hieß es, die Nuklearwaffen in Europa erreichten ab 2017 das Ende ihrer technischen Lebensdauer und müssten spätestens ab 2018 ersetzt werden, wenn die USA ihre Verpflichtungen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO weiterhin erfüllen wollten. Heute wird argumentiert, es reiche aus, wenn die B61-12 bis 2019 fertig entwickelt sei und ab 2020 stationiert werden könne. Auch das neue Trägerflugzeug muss jetzt nicht mehr 2017 zur Verfügung stehen, sondern erst 2020. Technische Zwischenlösungen, wie eine Nutzungsdauerverlängerung für die bisher eingesetzten Flugzeuge des Typs F-15E, und der Austausch von Komponenten begrenzter Lebensdauer bei den vorhandenen Bomben sollen dies möglich machen.

Die erhöhte Sicherheit der B61-Familie hat anscheinend ebenfalls an Bedeutung verloren. Zunächst gab es dazu kaum konkrete Angaben; inzwischen fällt ins Auge, dass für die nächste Entwicklungsphase ausgerechnet solche Teilvorhaben des Modernisierungsprogramms gestrichen wurden, die der Verbesserung der Sicherheit dienen sollten. Grund: zu große technische und finanzielle Risiken. Zudem gelten die Bomben der Typen B61-3 und B61-4 als ziemlich sichere Waffen. Sie weisen jedoch eine bekannte Schwachstelle auf: Der Pit, das ist die nuklearen Kernkomponente des Primärsprengsatzes, ist nicht feuerresistent. Bei einem Flugzeugunfall mit längerem Treibstoffbrand kann deshalb aus einer beschädigten Waffe unter Umständen Plutonium freigesetzt und über Rauch- und Aerosolwolken weiträumig verteilt werden.16 Das ist ein Gefahrenpotential, insbesondere an den Stationierungsorten, weil startende und landende Flugzeuge einem gewissen Unfallrisiko ausgesetzt sind. Dieses Sicherheitsmanko wird jedoch auch durch die geplante Modernisierung der B61-Bomben nicht abgestellt. Um es zu beseitigen, müsste man die neue Waffe testen, das aber steht aus politischen Gründen nicht zur Diskussion.

Die Debatte in den USA

In den USA stehen drei Aspekte im Vordergrund der Debatte über die Modernisierung der B61:

Geht es um deren Notwendigkeit, so wird argumentiert, Washington dürfe keinen Zweifel an seinem Willen aufkommen lassen, seine nuklearen Bündnisverpflichtungen in der NATO auch künftig zu erfüllen.

Der zweite Aspekt ist eine Zusage von US-Präsident Obama an die Republikaner. Im Kontext der Ratifizierung des neuen START-Vertrages mit Russland versprach Obama ihnen mit dem »Nuclear Posture Review« eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes, um das Nuklearwaffenpotential der USA bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts »modern« zu halten. Das erste Vorhaben war eine gegenüber der ursprünglichen Planung vorgezogene und umfassendere Modernisierung der B61-Bomben und ihrer Trägersysteme.

Die Republikaner nutzen seither die Haushaltsgesetzgebung, um den Präsidenten jedes Jahr an die Einhaltung seiner Zusage zu erinnern. Das Gesetz zum US-Verteidigungshaushalt 2012 schreibt die Beibehaltung der in Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen und der nuklearen Teilhabe vor. Der Entwurf des Verteidigungshaushaltsgesetzes 2013, den das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus im Juni 2012 vorlegte, geht noch weiter: Er will die Möglichkeiten des Präsidenten beschränken, mit Russland eine Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa zu verhandeln oder gar deren Abzug zu erwägen. Der Gesetzesentwurf befürwortet zwar Gespräche mit Moskau, die zu einer Reduzierung der taktischen Nuklearwaffen Russlands führen könnten, da das zahlenmäßig größere Arsenal Russlands bei dieser Waffengattung eine „Bedrohung der USA und ihrer Alliierten“ darstelle. Eine zentrale Einlagerung oder Umstationierung dieser Waffen in das östliche Russland – wie in der NATO überlegt – wird in dem Gesetzesentwurf jedoch explizit nicht als Reduzierung betrachtet, die eigene Abrüstungsschritte rechtfertige. Die in Europa gelagerten US-Nuklearwaffen, so der Gesetzesentwurf weiter, seien nützlich zur „Kontrolle über die Proliferation“ und „im Umgang mit Nachbarstaaten, die der NATO feindlich gegenüberstehen“. 17 Auf eine solche Sichtweise wird sich Russland kaum einlassen.

Den dritten Aspekt bringen Kritiker der Modernisierungspläne in die Debatte ein: Sie werfen die Frage auf, ob die Modernisierung der B61-Bomben einer Vorgabe des »Nuclear Posture Review« 2010 widerspricht: „Die USA werden keine neuen Nuklearsprengköpfe entwickeln. Lebensdauerverlängerungsprogramme werden nur nukleare Komponenten verwenden, deren Design bereits zuvor getestet wurde und die weder neue militärische Aufgaben unterstützen noch neue militärische Fähigkeiten bereitstellen werden“.18 Ist es mit dieser Vorgabe vereinbar, wenn eine Nuklearwaffe mit neuen Fähigkeiten entwickelt wird, die „das größte Vorhaben seit mehr als 30 Jahren, wahrscheinlich das größte seit der Entwicklung der B61-3 und –4“ ist, wie der ehemalige Entwicklungsleiter beim Sandia National Laboratory, J.F. Nagel, im letzten Jahr stolz festhielt?19

In der innenpolitischen Debatte der USA wird die Unfähigkeit der NATO, sich derzeit im Konsens auf einen Abzug der in Europa stationierten Nuklearwaffen zu einigen, zu einer Verpflichtung Washingtons umgedeutet, diese weiterhin zu stationieren und folglich zu modernisieren. Daraus entwickelte sich ein wesentliches Argument für ein nationales Modernisierungsprogramm, das unabhängig von der NATO geplant wurde und für die Republikaner eine Herzensangelegenheit darstellt, die sie Präsident Obama abgerungen haben. Die nuklearen Verpflichtungen der USA gegenüber der NATO sind also weniger Ursache der Modernisierungsnotwendigkeit als ein willkommenes innenpolitisches Hilfsargument, um eine umfassende Modernisierung des Nuklearwaffenpotentials durchzusetzen.

Eine Modernisierung, die kaum einer will?

Für viele NATO-Länder mag es 2010 noch eine attraktive Option gewesen sein, russische Gegenleistungen für einen künftigen Verzicht auf die Stationierung der militärisch weitestgehend irrelevant gewordenen Nuklearwaffen in Europa zu fordern. Diese Aussicht hat einen Minimalkonsens gefördert, der vorläufig noch an der Stationierung dieser Waffen festhält. Dieser Ansatz barg jedoch schon immer ein Risiko: Was, wenn Moskau kein Entgegenkommen zeigt oder sich gar an den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss aus dem Jahr 1979 erinnert fühlt und seinerseits ein Modernisierungsprogramm seiner taktischen Nuklearwaffen auflegt? Würde dann die Beibehaltung und Modernisierung der Nuklearwaffen der USA in Europa unausweichlich, obwohl es dafür kaum Befürworter gibt?

Dazu könnte es kommen, denn die innenpolitische Schlüsselrolle der Modernisierung der B61 als Einstiegsprojekt in eine umfassende Modernisierung des gesamten Nuklearwaffenpotentials der USA verstärkt die Tendenz zu diesem Ergebnis. Gelingt es den Republikanern, eine rüstungskontrollpolitische Lösung mit Moskau zu verhindern oder mit dem Argument zu punkten, jede Abkehr von der Modernisierung dieser Bomben sei ein Verrat an der Zusage, das Nuklearwaffenpotential der USA umfassend zu modernisieren, so wird die Modernisierung der Waffen in Europa zu einer Frage des politischen Gesichtsverlustes. Die Chance, die Stationierung nicht-strategischer Nuklearwaffen in Europa als Relikt des Kalten Krieges zu beenden und die völkerrechtlich umstrittene Praxis der nuklearen Teilhabe in der NATO endgültig zu beenden, wäre dann auch verspielt.

Anmerkungen

1) U.S. Embassy in Norway: USNATO AMBASSADOR DAALDER‘S DISCUSSION WITH NORWEGIAN DEPUTY DEFENSE MINISTER IN OSLO, Cable 09OSLO0526, 25.8.2009.

2) U.S. Mission to NATO: PDUSDP MILLER CONSULTS WITH ALLIES ON NUCLEAR POSTURE REVIEW, Cable 09USNATO0378, Brussels, 4.9.2009.

3) CDU/CSU, FDP: Wachstum, Bildung, Zusammenhalt. Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2009, S.120.

4) Deutscher Bundestag: Drucksache 17/1159, Berlin, 24.3.2010.

5) Brief der Außenminister vom 26.2.2010.

6) Secretary of State Hillary Rodham Clinton Excerpts from Remarks at NATO Working Dinner on Nuclear Issues and Missile Defense, Tallinn, Estonia, April 22, 2010.

7) Group of Experts: NATO 2020: Assured Security, Dynamic Engagement. o.O. (Brussels), 17.5.2010, S.43.

8) NATO: Aktives Engagement, moderne Verteidigung, Lissabon, 19/20.11.2010, Punkte 17 und 19.

9) Die Begriffe taktische, substrategische und nichtstrategische Atomwaffen bezeichnen dieselbe Waffenkategorie, nämlich Atomwaffen mit einer Reichweite, die kleiner als 5.500 Kilometer ist. Die Begriffe haben aber eine unterschiedliche Konnotation: »Taktisch« betont die militärische Rolle einer Waffe im Rahmen der Kriegführung. Deshalb benutzte die NATO diesen Begriff nach dem Ende des Kalten Krieges bald nicht mehr für die eigenen Waffen, sondern nur noch für die Waffen Russlands. Die eigenen Waffen bezeichnete sie als substrategisch, um deren politischen Charakter zu betonen. Nun scheint auch diese Phase vorbei zu sein. Die NATO verwendet zunehmend den bedeutungsneutralen Begriff der nichtstrategischen Atomwaffen für diese Potentiale Russlands und der USA.

10) NATO: The Alliance’s Strategic Concept. Washington DC, 24.4.1999, Punkt 42.

11) Unter Dispositiv wird die Gesamtheit sämtlicher Ressourcen verstanden, die für einen Einsatz vorgehalten werden.

12) NATO: Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs. Chicago, 20./21.5.2012, Punkte 8, 9, 11, 26 und 27.

13) Die START-Verträge befassen sich ausschließlich mit strategischen Waffen. Deren Verfikationsmechanismen betreffen die Trägersysteme. Ein Verifikationsmechanismus für nichtstrategische Nuklearwaffen oder deren Träger müsste neu entwickelt werden. Dies dürfte schwierig werden, wenn sich nur eine Seite den neuen Mechanismen unterwerfen muss, die andere aber nicht.

14) Um die verbesserte Zielgenauigkeit der B61-12 in vollem Umfang nutzen zu können, müssen Bombe und Flugzeug hinreichend digitalisiert sein. Dies wird erst mit neuen Trägerflugzeugen erreichbar sein.

15) Vereinfacht: Die B61-Bomben bestehen aus einem primären Sprengsatz, der nach dem Kernspaltungsprinzip funktioniert und die Energie bereitstellt, die zur Zündung des sekundären Sprengsatz erforderlich ist, der nach dem Kernverschmelzungsprinzip (Kernfusion) funktioniert.

16) Kidder, R.E.: Report to Congress: Assessment of the Safety of U.S. Nuclear Weapons and Related Nuclear Test Requirements. Livermore, CA: Lawrence Livermore National Laboratory, Dokument UCRL-LR-107454 vom 26.7.1991, S.5f.

17) 112th Congress, 2nd Session: H.R. 4310, Washington, 19.6.2012, S.542-547. Im Gegensatz zu weiteren Restriktionen, die sich gegen den neuen START-Prozess richteten, drohte Präsident Obama im Blick auf diese Vorgaben nicht mit einem Veto: Vgl: Executice Office of the President: Statement of Administration Policy H.R. 4310 – National Defense Authorization Act for FY 2013, 15. Mai 2012.

18) Department of Defense: Nuclear Posture Review. Washington DC, April 2010, S. XIV

19) N.N.: Launching the B61 Life Extension Program. Sandia Lab News, 23.3.2011, S.6

Otfried Nassauer ist Gründer und Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), freier Journalist und berät die Kampagne »atomwaffenfrei.jetzt«.

„Some activities may still be ongoing…“

„Some activities may still be ongoing…“

von Jan van Aken

Seit acht Jahren veröffentlicht die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) Berichte über den Stand des iranischen Nuklearprogramms. Selten aber hat ein Bericht solche Wellen geschlagen wie der vom 8. November 2011. Israels Präsident Schimon Peres äußerte angesichts des neuen Reports, dass ein Angriff auf die iranischen Atomanlagen „immer wahrscheinlicher“ werde. In den USA begeisterten sich Politiker wie Newt Gingrich oder Mitt Romney, Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, in der Folge für den »regime change« in Teheran.

Bei harten Worten blieb es nicht. US-Präsident Obama setzte neue Sanktionen in Kraft, die insbesondere auf die iranische Zentralbank und damit auf den iranischen Außenhandel zielen. Die Regierung in Teheran antwortete mit Muskelspielen. In einem groß angelegten Manöver simulierte sie die Sperrung der Straße von Hormus und testete Mittelstreckenraketen. Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm hat seit der Präsidentschaft von George W. Bush eine solche Zuspitzung nicht mehr erlebt.

Was also beinhaltet der Bericht der IAEO genau? Die Wiener Behörde erklärt in ihrer Untersuchung, dass Iran wahrscheinlich bis 2003 ein Programm zum Bau von Atomwaffen betrieben habe. Über die Zeit danach schreibt die Behörde jedoch selbst, dass es nur wenig konkrete Hinweise gäbe, und kommt zu dem vagen Schluss, dass einige Aktivitäten aus dem Programm möglicherweise fortgeführt werden („some activities may still be ongoing“).

Der Bericht der IAEO fordert eine genaue Lektüre. Seitdem die Leitung der Behörde von Mohammed ElBaradei auf den Japaner Yukiya Amano, dem erklärten Favoriten der USA und Frankreichs, übergegangen ist, hat sich die Berichterstattung der IAEO Schritt für Schritt verschärft. Der im November erschienene Bericht stellt nun den vorläufigen Höhepunkt des neuen Tonfalls dar.

Betrachten wir zunächst die Angaben der IAEO für den Zeitraum nach 2003. Dort finden sich genau drei Hinweise auf mögliche waffenrelevante Aktivitäten. Zum ersten eine Veröffentlichung über so genannte »bridge wire detonators« auf einem internationalen Kongress im Jahr 2005. Die internationale Veröffentlichung ist nicht wirklich mit einem streng geheimen Programm vereinbar. Meine Vermutung wäre, dass hier Ergebnisse aus der Zeit vor 2003, aus dem damaligen geheimen Atomprogramm, publiziert wurden – ein Muster, das wir auch aus anderen Waffenprogrammen kennen. So publizierten russische Biologen Mitte der 1990er Jahre Forschungsergebnisse, die ganz offensichtlich aus dem 1992 eingestellten Biowaffenprogramm der Sowjetunion stammten. Insofern ist die Publikation über »bridge wire detonators« 2005 eher ein Hinweis darauf, dass es 2005 eben kein aktives geheimes Programm auf diesem Gebiet mehr gab.

Bleiben im aktuellen IAEA-Bericht also noch zwei weitere Hinweise: Der Iran habe nach 2006 an Neutronenquellen gearbeitet und in den Jahren 2008/2009 Modellstudien an kugelförmigen Urankomponenten durchgeführt. Die Quelle: „Informationen von Mitgliedsstaaten“, im Klartext also nationale Geheimdienste.

Nun wissen wir, dass Hinweise nationaler Geheimdienste mit Vorsicht zu genießen sind. Das Wesen von Geheimdienstinformationen ist, dass sie außerhalb der Dienste meist nicht unabhängig überprüfbar sind. Sie können richtig oder falsch sein, Skepsis ist darum angebracht. Eine UN-Organisation wie die IAEO darf eine Hypothese über mögliche Atomwaffenaktivitäten eines Staates jedenfalls nicht allein auf solche Quellen stützen. Als Sprachrohr von Geheimdiensten diskreditiert sie sich selbst.

Für die Zeit vor 2003 ist die Quellenlage dichter. Sowohl die Angaben im Bericht als auch die Informationen, die ich bei einem Besuch der IAEO im August vergangenen Jahres erhalten habe, legen den Schuss nahe, dass Iran bis 2003 womöglich an der Entwicklung eines atomaren Sprengkopfs gearbeitet hat. Die IAEO ist sich dessen sicher. Ihre Annahme basiert auf einer Reihe von Quellen. Wichtigste hiervon sind die so genannten »alleged studies«, die der Behörde im Jahr 2005 von einem westlichen Geheimdienst zugespielt wurden. Zu den Informationen zählt beispielsweise, dass Iran an einem neuen Sprengkopftyp für die Mittelstreckenrakete Shahab-3 sowie an einem System zur Explosion des Sprengkopfs in der Luft über dem Ziel gearbeitet habe. Neben dieser Quelle hat die Behörde weitere Geheimdiensterkenntnisse ausgewertet, Untersuchungen vor Ort durchgeführt, mutmaßliche Mitarbeiter des Programms interviewt und offene Quellen wie Satellitenbilder herangezogen. Insgesamt scheint sich ein feinmaschiges und recht glaubwürdiges Bild vom iranischen Nuklearprogramm bis 2003 zu ergeben.

Nichtsdestotrotz fehlt es auch nicht an Kritik für die Einschätzung für den Zeitraum vor 2003. So stellt Robert Kelley, selbst ehemaliger Inspekteur der IAEO, die Glaubwürdigkeit der »alleged studies« in Frage. Gegenüber der Zeitschrift »Christian Science Monitor« äußerte Kelley, der die Unterlagen begutachten konnte, dass es sich bei den Dokumenten durchaus um Fälschungen handeln könnte.

Geheimdienstinformationen, scheinbar belastbare Beweise, gedankliche Schnellschüsse und Säbelrasseln: Vieles erinnert an den Vorabend des amerikanischen Einmarschs in Irak. Betrachten wir die aktuelle Diskussion über das iranische Nuklearprogramm, gilt es sich immer an den Auftritt des damaligen US-Außenministers Colin Powells vor dem UN-Sicherheitsrat im Jahr 2003 zu erinnern. Mit einer farbenfrohen Dia-Show suchte er die Existenz eines irakischen Biowaffenprogramms zu beweisen. Auch seine Ausführungen basierten auf »zuverlässigen« Geheimdienstinformationen. Powells Auftritt überzeugte viele, die Zahl der Unterstützer der amerikanischen Aggression wuchs. Nach dem Einmarsch und dem Sturz Husseins blieb von Powells Behauptungen nichts übrig. Weder ließ der irakische Diktator wie behauptet irgendwo zwischen Euphrat und Tigris mobile Waffenlabore rollen, noch arbeitete irgendjemand in Irak an der Herstellung von Pockenviren. Die Geheimdienstinformationen stellten sich allesamt als falsch oder als falsch interpretiert heraus. Aber der Kriegsgrund war in der Welt.

Dies alles heißt nicht, dass das iranische Atomprogramm über allen Zweifel erhaben ist. Als Beispiel mag hierfür die Urananreicherungsanlage in Fordo nahe Qom dienen. In der unterirdischen Anlage finden gerade einmal 3.000 Zentrifugen Platz. Damit lässt sich Uran in der für ein ziviles Atomprogramm benötigten Menge nicht anreichern. Neben der Frage nach dem Zweck schürt auch der Bekanntmachungszeitpunkt des Fordo-Baus Misstrauen. Iran informierte die IAEO über die Anlage erst, als die Veröffentlichung des bis dato geheimen Baus durch westliche Regierungen kurz bevorstand.

Über die Frage, ob Iran juristisch verpflichtet war, der IAEO bereits zu diesem Zeitpunkt über die Errichtung der Anlage Auskunft zu erteilen, streiten die Wiener Behörde und Teheran. Politisch gesehen ist jedoch klar: Iran hätte hier transparenter sein müssen.

Der juristische Disput über den Bekanntmachungszeitpunkt entzündet sich an Abschnitt 3.1. der allgemeinen Bestimmungen in den ergänzenden Abmachungen zum Sicherungsabkommen, (Code 3.1 Subsidiary Arrangements General Part of Iran’s Safeguards Agreement), welches zwischen dem Iran und der IAEO 1974 vereinbart wurde und 1976 in Kraft trat. Code 3.1 sah ursprünglich vor, dass die Wiener Behörde 180 Tage, bevor nukleares Material in eine Atomanlage gebracht wird, vom jeweiligen Staat über die Existenz dieser Anlage zu informieren ist. Vor dem Hintergrund der Aufdeckung des irakischen Atomwaffenprogramms im Jahr 1991 modifizierte die IAEO Code 3.1 dahingehend, dass eine Unterrichtung unmittelbar nach der Entscheidung für die Errichtung einer Atomanlage zu erfolgen hat. Iran hat im Gegensatz zu allen anderen von der Modifizierung betroffenen Staaten diese Änderung nicht ratifiziert.

Ähnlich verhält es sich mit dem Zusatzprotokoll zum Sicherungsabkommen zwischen IAEO und Iran. Auch dieses entstand als Lehre aus dem irakischen Atomwaffenprogramm. Das Protokoll erweitert die Rechte der IAEO bei der Überwachung eines Nuklearprogramms erheblich und erlaubt u.a. unangemeldete Inspektionen. Iran hat das Zusatzprotokoll im Jahr 2003 unterschrieben, allerdings bis heute nicht ratifiziert. Den Inspekteuren der IAEO fehlen daher heute entscheidende Informations- und Inspektionsrechte.

Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm ist also festgefahren. Beide Seiten verfolgen aktuell eine Politik der Stärke. Während der Westen auf eine verschärfte Sanktionspolitik setzt, zeigt Iran militärische Stärke und präsentiert neue atomare Errungenschaften. Bewegung ist bis zum nächsten Jahr unwahrscheinlich. Sowohl in den USA (Ende 2012) als auch in Iran (Mitte 2013) wird ein neuer Präsident gewählt. Konzessionen sind in Wahlkampfzeiten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass die Fronten sich weiter verhärten. In beiden Wahlkämpfen – in stärkeren Maße gilt dies für den iranischen – dürften sich die Kandidaten auf Positionen festlegen, die ihnen später den Raum für Kompromisse nehmen.

Dramatisch ist dabei, dass Zeit in diesem Konflikt mittlerweile ein knappes Gut ist. Die Sanktionsspirale lässt sich nicht unbegrenzt weiterdrehen. Gleichzeitig schreitet die Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms voran. Ob Iran tatsächlich den Bau einer Atombombe anstrebt oder nicht, allein die Fortentwicklung des zivilen Programms bringt Teheran näher an die Schwelle zur Atomwaffenfähigkeit.

Ob sich nach den Präsidentschaftswahlen eine Chance für eine Lösung ergibt oder sich die Lage durch die Personen der Amtsinhaber und die bis dahin vorangeschrittene Entwicklung bis hin zur Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung verschärft: Den Berichten der IAEO wird weiterhin eine bedeutende Rolle zu kommen. Sie haben das Potential, den Konflikt zu versachlichen oder zu verschärfen. Die IAEO ist daher verpflichtet, äußerst kritisch mit den ihr von Geheimdiensten zugespielten Informationen umzugehen, nüchtern zu urteilen und mutwilligen Interpretationen ihrer Befunde entschieden und öffentlich entgegenzutreten. Momentan tut sie dies nicht.

An diesem Gastkommentar hat Alexander Lurz mitgewirkt. Jan van Aken ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Fraktion DIE LINKE.

Neue Impulse für die nukleare Abrüstung

Neue Impulse für die nukleare Abrüstung

Der humanitär-völkerrechtliche Ansatz

von Viktor J. Vavricka

Nuklearwaffen und das humanitäre Völkerrecht sind in realistischen Szenarien nicht miteinander vereinbar. Diese Tatsache sollte bei den Bemühungen im Hinblick auf eine Nuklearwaffen-Verbotskonvention vermehrt ins Zentrum gerückt werden. Die Abrüstungsbefürworter können dabei auf die Unterstützung spezialisierter Nichtregierungsorganisationen zählen und die Erfahrungen aus anderen Verbotskonventionen nutzen.

Die Forderung nach nuklearer Abrüstung und der Abschaffung von Nuklearwaffen genießt in der internationalen Politik verstärkte Aufmerksamkeit, nachdem die Abschaffungsdiskussion nach dem Ende des Kalten Krieges zunächst deutlich abgeflaut war. Neben den langjährigen Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure ist dieses Interesse unter anderem der Positionierung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), der Hüterin des humanitären Völkerrechts, vor und während der Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (NVV)1 vom Mai 2010 zuzuschreiben. IKRK-Präsident Kellenberger betonte im April 2010: „[…] das IKRK kann sich schwer vorstellen, wie der Einsatz von Nuklearwaffen mit den Regeln des Humanitären Völkerrechts in Einklang gebracht werden könnte“.2

Die Schweiz formuliert diese Unvereinbarkeit aufgrund ihrer humanitären Tradition und als Vertragspartei der Genfer Konventionen und deren Zusatzprotokolle deutlicher. Anlässlich der genannten NVV-Überprüfungskonferenz bezeichnete die schweizerische Außenministerin Micheline Calmy-Rey Nuklearwaffen als „unbenutzbar, unmoralisch und illegal“. Unbenutzbar sind die Waffen, weil durch mögliche Zweitschläge auch der Angreifer inakzeptable Zerstörungen erleidet und weil deren Abschreckungswirkung fraglich ist. Unmoralisch sind sie, weil sie Menschen unterschiedslos in Massen töten und die Umwelt auf lange Zeit hinaus schädigen. Illegal sind sie schließlich, weil jeder Einsatz die fundamentalsten Prinzipien des humanitären Völkerrechts verletzen würde. Die Außenministerin bekräftigte die vorbehaltlose Unterstützung der Schweiz für ein völkerrechtliches Verbot von Nuklearwaffen, wie es für chemische und biologische Waffen sowie Antipersonenminen und Streumunition bereits besteht.

Ein Vorstoß der Schweiz, welcher durch andere Staaten unterstützt wurde, führte dazu, dass anlässlich der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 erstmals humanitäre Vorbehalte mit außergewöhnlich klaren Worten in das Abschlussdokument einfließen konnten: „…Die Konferenz drückt ihre tiefe Besorgnis aus über das anhaltende Risiko für die Menschheit, das sich aus der Möglichkeit ergibt, dass diese Waffen eingesetzt werden könnten, und die katastophalen humanitären Folgen, die ein Einsatz von Nuklearwaffen zur Folge hätte.“ 3 In den Empfehlungen drückt die Konferenz noch einmal ihre „tiefe Besorgnis über die katastrophalen humanitären Folgen jeglichen Einsatzes von Nuklearwaffen“ aus und bekräftigt „die Notwendigkeit, dass alle Staaten jederzeit das einschlägige Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, einhalten.“ 4

Die Schweiz hätte eine noch klarere Sprache der Konferenz zur Illegalität von Nuklearwaffen befürwortet. Die Nuklearwaffenstaaten konnten sich freilich nicht dazu durchringen, expliziten Formulierungen zuzustimmen, auch wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen bekannt und nachfolgend kurz in Erinnerung zu rufen sind.

Nuklearwaffen im humanitären Völkerrecht

Das humanitäre Völkerrecht, dessen schriftlich fixierte Kernbestimmungen in den Genfer Konventionen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977 verankert sind, enthält keine Regeln, welche den Einsatz von Nuklearwaffen ausdrücklich verbieten. Gleichwohl sind die im humanitären Völkerrecht verankerten Prinzipien wie das Unterscheidungsgebot zwischen Zivilisten und Kombattanten, das Verhältnismäßigkeitsgebot sowie das Vorsichtsgebot und die Kontrollierbarkeit anwendbar.

In vertragsrechtlicher Hinsicht ist der NVV als Grundlage zu nennen, dessen Gegenstand das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Nuklearwaffen sowie das Recht auf eine »friedliche Nutzung« (peaceful use) der Nuklearenergie ist. Artikel VI des NVV verpflichtet jede Vertragspartei, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer Kontrolle“. Damit verbietet der NVV den Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausdrücklich, sondern hält lediglich das Ziel der globalen Abschaffung von Nuklearwaffen fest.

Ohne ein ausdrückliches völkerrechtliches Nuklearwaffenverbot stellt sich die Frage, ob der Einsatz von Nuklearwaffen durch Völkergewohnheitsrecht verboten ist. Das viel zitierte Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 8. Juli 1996, »Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«,5 befasst sich eingehend mit dieser Frage, beantwortet sie jedoch nicht abschließend. Es stellt fest, dass die Androhung oder der Einsatz von Nuklearwaffen weder im Völkergewohnheitsrecht noch im Völkervertragsrecht spezifisch erlaubt, jedoch auch nicht in umfassender und universeller Weise verboten sind. Der IGH sah sich ferner nicht in der Lage zu entscheiden, ob ein Nuklearwaffeneinsatz in extremen Umständen der Selbstverteidigung potenziell völkerrechtswidrig wäre. Immerhin wird festgehalten, dass die Bedrohung durch oder die Anwendung von Atomwaffen grundsätzlich („generally“) im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts steht.

Daraus lässt sich schließen, dass ein Nuklearwaffeneinsatz nur dann als völkerrechtskonform zu betrachten wäre, wenn dabei zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden werden könnte, wenn der Einsatz keine unnötigen Leiden oder Umweltschäden verursachte und wenn das Gebiet unbeteiligter und neutraler Staaten nicht in Mitleidenschaft gezogen würde. In einem realistischen Szenario ist eine Beschränkung des Einsatzes von Nuklearwaffen auf militärische Ziele und die Verschonung von Zivilisten und zivilen Einrichtungen jedoch nicht denkbar. Ebenso wenig ist ersichtlich, wie ein gezielter Einsatz von Nuklearwaffen auf hoher See keine übermäßigen Auswirkungen auf Umwelt und Mensch haben könnte.

Aus dem IGH-Gutachten ist ferner zu schließen, dass zumindest eine völkerrechtliche Vermutung der Illegalität der Nuklearwaffe besteht. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Beweislastumkehr bei Vermutungen obliegt die Beweislast für die Legalität der Nuklearwaffe demnach derjenigen Partei, die aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Illegalität eine für sie günstige Tatsache, nämlich den legalen Nuklearwaffeneinsatz, ableitet. Die Beweislast dafür ist unter diesen Umständen von den Nuklearwaffenstaaten zu tragen.

Nuklearwaffenstaaten führen in der Beweisführung betreffend der Legalität von Nuklearwaffen bisweilen die folgenden Argumente ins Feld:

die vermeintliche Kontrollierbarkeit bestimmter Nuklearwaffentechnologien,

die Strahlung sei beim Nuklearwaffeneinsatz inhärent und bezwecke nicht, Leiden zu schaffen,

der Gebrauch von Waffen mit niedriger Sprengkraft in entlegenen Gebieten,

die Notwendigkeit, die Legalität des Einsatzes von Nuklearwaffen von Fall zu Fall zu beurteilen,

die direkte Ableitung aus dem IGH-Gutachten, dass Nuklearwaffen legal seien, oder

das implizite Argument, dass Nuklearwaffen in extremen Situationen zur Selbstverteidigung eingesetzt werden dürfen.

Diese und weitere Argumente werden auf eindrückliche Weise in einer kürzlich erschienenen Studie im »Fordham International Law Journal« widerlegt.6

Erfahrungen aus den Ottawa- und Oslo-Prozessen

Die Erfolge der Ottawa- und Oslo-Prozesse zum Verbot von Antipersonenminen bzw. Streumunition basieren auf dem Paradigma des Schutzes der Zivilbevölkerung. Einer größeren Gruppe von Ländern, darunter auch Nuklearstaaten wie Frankreich und Großbritannien, ist es dabei gelungen, in rechtlich verbindlicher Weise einen ehrgeizigen Standard für den Schutz der Zivilbevölkerung und in der Opferhilfe zu schaffen. Beide Prozesse entwickelten sich außerhalb der Vereinten Nationen, wurden maßgeblich durch die Zivilgesellschaft angestoßen und durch eine breite Öffentlichkeit getragen. Ein Wermutstropfen bleibt jedoch: Die Universalisierung der beiden Konventionen gerät zusehends ins Stocken und die Staaten, welche zu den größten Produzenten und Haltern dieser geächteten Waffen gehören, blieben diesen Prozessen fern. Aufgrund ihrer Signalwirkung zeigen beide Übereinkommen jedoch auch direkte Auswirkungen auf Nicht-Vertragsstaaten, welche sich beim Einsatz dieser Waffen vermehrt einer breiten öffentlichen Kritik ausgesetzt sehen und sich dabei politisch ins Abseits manövrieren. So haben sich etwa Russland und Georgien während des Georgienkrieges vom Sommer 2008 gegenseitig des Einsatzes von Streumunition bezichtigt, dies jedoch beidseitig umgehend dementiert.

Im Gegensatz zu diesen durch weitgehend gleichgesinnte Länder getragenen ambitionierten Prozessen müssen sich die klassischen Abrüstungsprozesse der Vereinten Nationen oft genug mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben, der im Resultat zu oftmals zahnlosen und zum Schutz der betroffenen Gruppen wenig effektiven Instrumenten führt.

Soll der völkerrechtliche Prozess im Hinblick auf ein Verbot der Nuklearwaffen analog den Ottawa- und Oslo-Prozessen gestaltet werden? Es lassen sich viele Lehren aus diesen beiden Prozessen ziehen.7 Gleichwohl sind gewichtige Unterschiede und Herausforderungen auszumachen:

Erstens haben Nuklearwaffen im Gegensatz zu Landminen und Streumunition eine strategische Bedeutung. Und dennoch: Hier gilt es, die vom IGH hervorgehobene »nascent opinio juris« eines völkergewohnheitsrechtlichen Verbots des Nuklearwaffeneinsatzes zu unterstreichen und die fundamentalen Prinzipien des humanitären Völkerrechts in Erinnerung zu rufen. Angesichts der politisch-strategischen Bedeutung der Nuklearwaffen ist einzig das rechtliche Argument geeignet, Abrüstungsfortschritte zu erzielen. „Recht ist die wirkungsvollste Kraft, um Fortschritt zu erzielen“, wird von Experten vielfach eingeräumt.

Zweitens gibt es bereits ein Regelwerk, welches die Abschaffung von Nuklearwaffen fordert: den NVV. In diesem Sinne stellen sich wichtige Fragen nach dem Universalitätspotenzial und dem Verhältnis zwischen dem NVV und den künftigen Nuklearwaffen-Verbotsbestimmungen.

Drittens geht von Nuklearwaffen weit weniger Mobilisierungspotenzial in der breiten Öffentlichkeit aus als von Antipersonenminen und Streumunition. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist der generelle Ruf nach dringlicher nuklearer Abrüstung stark zurückgegangen. Dabei handelt es sich primär um ein Wahrnehmungsproblem in der breiten Öffentlichkeit, weil viele glauben, die von Nuklearwaffen ausgehende Gefahr sei gebannt.

Diesen Herausforderungen ist im Prozess, der zu einer Verbotskonvention führen soll, zu begegnen. Bei Konventionen, die einen humanitären Ansatz verfolgen, geht es in erster Linie darum, die Messlatte hoch zu halten, was den Schutzgehalt angeht, und nicht darum, alle relevanten Akteure von Anfang an an Bord zu haben. Qualität geht bei diesem Vorgehen vor Quantität.

Nuklearwaffenfreie Staaten wie Irland, Österreich, Neuseeland, Norwegen und die Schweiz sowie zivilgesellschaftliche Akteure sind die Träger des neuen Impulses hinter der nuklearen Abrüstungsdebatte. Es gibt eine ganze Reihe von Organisationen, die sich der nuklearen Abrüstung verschrieben haben.8 Die Vielfalt der Akteure ermöglicht es, einen breiten Adressatenkreis zu erreichen. Die Vielfalt führt jedoch auch zu Doppelspurigkeiten und Inkohärenzen. Der Koordinationsbedarf unter den Akteuren sollte verstärkt werden. Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Koordination unter verschiedenen Akteuren bildet die Erklärung von Vancouver vom 11. Februar 2011, der sich bereits zahlreiche Individuen, Organisationen, Akademiker und Diplomaten angeschlossen haben.9

Nächste Etappen

Über die Frage, ob die nukleare Katastrophe von Fukushima die öffentliche Meinung bezüglich Nuklearwaffen zu ändern in der Lage ist, kann nur spekuliert werden. Außer an die Risiken der friedlichen Nutzung von Nuklearenergie dürfte der Vorfall jedoch auch eindrücklich an die kaum akzeptablen humanitären Folgen eines Einsatzes von Nuklearwaffen erinnern.

Mit einer anhaltenden Diskussion über die Delegitimierung der Nuklearwaffen bereiten die Staaten das Terrain für spätere Verhandlungen über völkerrechtliche Bestimmungen über ein Verbot dieser Waffengattung vor. Die Delegitimierung kann mittels Studien, multilateralen und bilateralen Interventionen, Informationsveranstaltungen und Seminaren vorangetrieben werden. Für die gleich gesinnten Regierungen gilt es, die zivilgesellschaftlichen Akteure dahin gehend zu unterstützen, dass diese ihre Mobilisierungs- und Koordinationskapazitäten zu erhöhen in der Lage sind. Gemeinsam durchgeführte Konferenzen, Resolutionen und andere Aktivitäten sind geeignet, die Mobilisierungswirkung zu stärken.

Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung hat die nukleare Abrüstung in ihrer Agenda für den Delegiertenrat vom 26. November 2011 an die erste Stelle gesetzt und mit einem entsprechenden, mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften konsultierten Resolutionsentwurf gut verankert. Dieser unterstreicht die katastrophalen menschlichen Folgen und die Schwierigkeit, den Einsatz von Nuklearwaffen mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen. Die Resolution wird eine wichtige Grundlage bilden für die weiteren Bemühungen im Hinblick auf die laufende Identifikation von gleich gesinnten Partnern innerhalb und außerhalb der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und letztlich im Hinblick auch auf ein umfassendes Nuklearwaffenverbot.

Bei der 31. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz vom 28. November bis zum 1. Dezember 2011 in Genf, welche im Anschluss an den Delegiertenrat alle Mitglieder der Rotkreuzbewegung und damit auch solche aus Nicht-NVV-Staaten zusammenbringt, dürfte hingegen die nukleare Abrüstung gemäß bisherigen Informationen nicht auf der Agenda stehen. Das Thema kann aber durch Erklärungen einzelner Delegationen und des IKRK sowie durch Nebenveranstaltungen in die Konferenz getragen werden. Die Schweiz plant eine Paneldiskussion zu einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie zum Thema »Nuclear Famine«, welche anhand von Klimamodellen die katastrophalen globalen Auswirkungen eines Nuklearwaffeneinsatzes aufzeigt, selbst wenn es sich lediglich um einen regionalen Schlagabtausch handeln sollte.10

Nukleare Abrüstung sollte nicht den Nuklearstaaten überlassen werden, deren politischer Wille und Bereitschaft, Abrüstungsverhandlungen zu führen, volatil ist und von der aktuellen weltpolitischen Situation abhängt. Nichtnuklearstaaten können dazu beitragen, den Abrüstungsprozess zu verstetigen. Sie können die Nuklearmächte regelmäßig an ihre Abrüstungsverpflichtungen erinnern, den Druck zur Abrüstung auf internationalen Konferenzen aufrecht erhalten, Verhandlungs- und Diskussionsvorschläge einbringen und Verhandlungsplattformen anbieten. Vor allem sind sie ganz speziell legitimiert, die nicht akzeptablen Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes an geeigneter Stelle zu thematisieren und als Hohe Vertragsparteien der Genfer Konventionen das humanitäre Völkerrecht heranzuziehen, um den Abrüstungs- und Delegitimierungsprozess voran zu bringen.

Anmerkungen

1) Englisch »Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons«, NPT.

2) Jakob Kellenberger: Bringing the era of nuclear weapons to an end. Statement by the President of the ICRC to the Geneva Diplomatic Corps, Geneva, 20 April 2010.

3) 2010 Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, Final Document, Volume I, Part I, para. 80 [NPT/CONF.2010/50 (Vol.I)], S.12.

4) Ibid., I.A.v., S.19.

5) International Court of Justice: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1996, S.226 ff. Deutsche Übersetzung des Bundespresseamtes in: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT.

6) Charles J. Moxley, Jr., John Burroughs, Jonathan Granoff: Nuclear Weapons and Compliance with International Humanitarian Law and the Nuclear Non-Proliferation Treaty. In: Fordham International Law Journal, Volume 34, Issue 2 (Spring 2011), S.595 ff., 644; gsinstitute.org/gsi/docs/IHL5.pdf.

7) Vgl. im Einzelnen die von der Schweiz finanzierte Studie von Ken Berry et.al.: Delegitimizing Nuclear Weapons. Examining the validity of nuclear deterrence. Monterey Institute of International Studies, Mai 2010.

8) Für eine Zusammenfassung der wichtigsten Akteure vgl. Lawrence S. Wittner: Where is the abolition movement today? In: Disarmament Forum, Civil society and nuclear disarmament, 2010 no. 4.

9) Vancouver Declaration, February 11, 2011: Law’s Imperative for the Urgent Achievement of a Nuclear-Weapon-Free World. Die Erklärung wurde auf der von IALANA und der Simons Foundation organisierten Tagung » Humanitarian Law, Human Security: The Emerging Paradigm for Non-Use and Elimination of Nuclear Weapons« verabschiedet; lcnp.org/wcourt..

10) Das Konzept des »nuclear famine« wird in Fachkreisen seit einiger Zeit wieder diskutiert; siehe z.B. nucleardarkness.org.

Viktor J. Vavricka leitet die Sektion Humanitäres Völkerrecht in der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern. Der Artikel wurde in persönlicher Eigenschaft und nicht für das EDA verfasst.

NATO – Abschreckung ohne Atomwaffen?

NATO – Abschreckung ohne Atomwaffen?

von Wilbert van der Zeijden und Susi Snyder

Bei der Diskussion um das neue Strategische Konzept der NATO waren die weitere Stationierung nicht-strategischer (taktischer) Atomwaffen der USA in Europa und die Zukunft der nuklearen Teilhabe besonders strittig. Besonders Deutschland machte sich für einen Abzug der Waffen stark, während Frankreich vehement auf den status quo pochte. Insider bestätigten, dass bei dem Gipfeltreffen in Lissabon im November 2010 buchstäblich bis zur letzten Minute um einen Wortlaut gerungen wurde, dem alle 28 Mitgliedstaaten der NATO zustimmen konnten. Da inhaltlich kein Konsens möglich war, wurde zu einer Notlösung gegriffen: Die taktischen Atomwaffen sollen bei einer umfassenden Überprüfung des gesamten Verteidigungs- und Abrüstungsdispositivs der NATO mit auf den Tisch. Und das Ergebnis, der »Defense and Deterrence Posture Review«, soll beim nächsten NATO-Gipfel im Mai 2012 in Chicago verabschiedet werden.

Im März 2011 stellte die niederländische Organisation IKV Pax Christi ihren Bericht »Withdrawal Issues«1 vor, der darlegt, dass die Mehrheit der NATO-Mitgliedsländer den Vorschlag unterstützen, die letzten taktischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen. Bei den Recherchen für den Bericht besuchten die AutorInnen vor dem Lissabonner Gipfeltreffen jede einzelne NATO-Botschaft in Brüssel, um folgendes herauszufinden:

Wodurch sehen die Länder in den nächsten Jahren ihre Sicherheit am meisten bedroht?

Was sind die wichtigsten Bedrohungen für das Bündnis insgesamt?

Wie passen die taktischen US-Atomwaffen in das Bild, und denken sie, dass diese Waffen in Europa stationiert bleiben sollten?

Der Bericht »Withdrawal Issues« analysiert die Positionen der einzelnen Länder und räumt dabei mit alten Mythen auf. Die AutorInnen zeigen auf, dass 24 der 28 Mitgliedstaaten einen Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa unterstützen oder zumindest nicht kategorisch ablehnen. Nur drei Länder (Frankreich, Ungarn und Litauen) äußerten die Hoffnung, dass die Atomwaffen in Europa verbleiben. Die überwältigende Unterstützung für eine Zukunft ohne US-Atomwaffen in Europa wird allerdings von den Mitgliedsländern an einige Voraussetzungen geknüpft.

Zum einen sollten geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um negative Auswirkungen des Abzugs auf die Solidarität und den Zusammenhalt im Bündnis zu vermeiden. Es sollten neue Formen gefunden werden, die transatlantische Verbindung zu stärken. Und sollte die alte (nukleare) Lastenteilung beendet werden, so sollten neue Formen der Lastenteilung an ihre Stelle treten. Zum anderen befürworten die meisten Länder den Vorschlag, dass vor einer Entscheidung über den Abzug der US-Atomwaffen Russland zusagen soll, ebenfalls taktische Atomwaffen abzurüsten oder hinter den Ural zu verlegen. Schließlich räumen alle Länder ein, dass die französischen Vorbehalten ernst genommen werden müssen, und sei es nur, weil Frankreich andernfalls einen Konsens blockieren könnte.

Fokussierte Debatte, verhärtete Positionen?

Im Großen und Ganzen wurde »Withdrawal Issues« positiv aufgenommen. Sowohl Diplomaten als auch zivilgesellschaftliche Experten sagten häufig, dass der Bericht dabei hilft, die Debatte auf Schlüsselthemen zu fokussieren: Lastenteilung, Zusammenarbeit mit Russland und der Umgang mit dem französischen Widerstand gegen einen Abzug .

Die auffälligste Stelle im Bericht – eine Karte, aus der die unterschiedlichen Positionen der Länder zu dieser Frage ersichtlich werden2 – wurde besonders kontrovers diskutiert. Es werden nur ganz selten Karten veröffentlicht, die die Haltung einzelner NATO-Länder zu bestimmten Themen grafisch aufbereiten. Und nun gar zu einem so strittigen Thema! NATO-Mitarbeiter und –Diplomaten legen großen Wert darauf, dass Meinungsdifferenzen im Bündnis nicht nach außen dringen. Daher kam es manchen sehr ungelegen, dass die offensichtlichen Spannungen nun visualisiert wurden. Häufiger allerdings hörten wir aus der NATO, dass der Bericht die Debatte im Hauptquartier bzw. in den Hauptstädten der NATO angeregt oder überhaupt erst in Gang gebracht hat. Einige Vertreter nationaler Außenministerien berichteten, dass sie den Bericht und diesbezüglich Fragen von Parlamentariern bekamen. Infolge des Berichts wurde der Ruf nach offenen und transparenten nationalen Debatten und nach einer demokratischen Kontrolle des einst hoch geheimen Arrangements lauter.

Ein Blick nach vorn: Zusammenarbeit mit Russland

Die Schwierigkeiten der NATO, sich im Konsens auf eine Nuklearpolitik und das entsprechende Dispositiv zu einigen, spiegelt sich im »Strategischen Konzept« vom November 2010 wider. Wo es um die taktischen Atomwaffen geht, bleibt der Text vage und lagert das Thema aus: auf den Defense and Deterrence Review, der bis zum NATO-Gipfel 2012 abgeschlossen sein soll.

»Withdrawal Issues« soll die Diskussionen über den Review mit Fakten füllen und beeinflussen. Der Bericht bestätigt, dass in Bezug auf Russland »Gegenseitigkeit« das wichtigste Anliegen ist. Und genau da steckt der Prozess momentan in einer Sackgasse. Die NATO sagt, sie zieht die taktischen Atomwaffen nur dann aus Europa in die USA ab, wenn Russland »auch etwas gibt«. Russland sagt, dass es erst dann über seine eigenen taktischen Atomwaffen reden will, wenn die USA ihre Atomwaffen aus Europa abgezogen haben. Die USA sagen im Wesentlichen, dass sie zu einem Abzug bereit sind, aber nur, wenn es darüber in der NATO einen Konsens gibt. Die größte Herausforderung besteht also in den nächsten Monaten darin, die »Gegenseitigkeitsschleife« Russland-NATO-USA aufzubrechen.

Die USA hatten sich im Vorfeld des Lissabonner Gipfeltreffens bei der Diskussion um die taktischen Atomwaffen zurückgehalten. Jetzt wollen sie aber offensichtlich die Führung wieder selbst übernehmen. Anlässlich der Ratifizierung des neuen START-Vertrags schrieb Präsident Obama dem Senat, dass er „nach Konsultationen mit den NATO-Partnern, aber spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen START-Vertrags“ mit Russland Verhandlungen über taktische Atomwaffen aufnehmen will. Die Fristsetzung ist klar: Die europäischen Bündnispartner haben ein Jahr, um ihre internen Differenzen über taktische Atomwaffen zu lösen.

Im April 2011 legten Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Polen gemeinsam ein so genanntes »Non-paper« vor.3 Dieses inoffizielle und von zehn europäischen NATO-Mitgliedern unterzeichnete Arbeitspapier ist ein erster Versuch der Europäer, sich der Herausforderung zu stellen. Das »Non-paper« befasst sich vor allem mit der Frage, wie die NATO mit Russland in einen kooperativen und wechselseitigen Austausch eintreten kann, von gegenseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zu einem Abkommen über die Verringerung oder den Abzug von taktischen Atomwaffen auf beiden Seiten. Die vorgeschlagenen Schritte sind eher bescheiden oder sogar rein symbolisch. Das besondere daran ist, dass es Deutschland und anderen Befürwortern eines Abzugs zum ersten Mal gelungen ist, sich mit eher ablehnenden Ländern wie Ungarn auf eine gemeinsame Position zu einigen.

Allerdings werden einige der größten Hürden, die Russland angehen, in dem »Non-paper« gar nicht angesprochen. Zum ersten: Warum sollte sich Russland überhaupt darauf einlassen? Russland behauptet, dass es seine taktischen Atomwaffen nicht wegen der taktischen Atomwaffen der NATO vorhält, sondern um der überwältigenden konventionellen Überlegenheit der NATO etwas entgegenzusetzen. Das »Non-paper« gibt keine Antwort auf die längst bekannte Forderung, dass die USA zunächst ihre Atomwaffen aus anderen Ländern abziehen müssen, wie das die Russen bereits in den 1990er Jahren getan haben, und erst dann Verhandlungen über das Thema möglich sind. Es ist kaum anzunehmen, dass die NATO Russland dazu überreden kann, auf diese klare Vorgabe zu verzichten.

Zum zweiten: Was hat die NATO vor, wenn sich die Russen nicht auf Gegenseitigkeit einlassen? Es könnte als Vorwand dienen, die taktischen US-Atomwaffen in Europa zu lassen, das ändert aber nichts daran, dass diese Waffen überflüssig und überaltert sind. Außerdem hat Deutschland entschieden, die Trägerflugzeuge für die US-Atomwaffen auszumustern, so dass die nukleare Teilhabe der NATO unabhängig von einem Konsens der NATO in den nächsten zehn Jahren faktisch zu einem Ende käme, auch ohne Schritte Russlands.

Der Knackpunkt ist klar: Wenn es Sinn der ganzen Übung ist, Russland zur Aufgabe eines Teils oder des kompletten Arsenals an taktischen Atomwaffen zu bewegen, verhindert die NATO mit der Aufrechterhaltung ihres eigenen taktischen Atomwaffenarsenals in Europa just Bewegung von russischer Seite. Stattdessen muss die NATO den Mut aufbringen, auf die Kalte-Krieg-Logik zu verzichten, derzufolge beide Seiten immer symmetrisch abrüsten müssen. Es braucht deutliche Signale an Russland, dass die NATO sich auch ohne taktische Atomwaffen sicher fühlt und Russland einlädt, diesem Beispiel zu folgen.

Anmerkungen

1) Susi Snyder und Wilbert van der Zeijden (2011): Withdrawal Issues. What NATO countries say about the future of tactical nuclear weapons in Europe. IKV Pax Christi; NoNukes.nl. Eine deutsche Kurzfassung des Berichts mit etlichen Grafiken wurde von der Pressehütte Mutlangen erstellt und steht unter pressehuette.de/ImBlick%202_2011.pdf.

2) Aus technischen Gründen konnte die Karte in W&F nicht abgedruckt werden.

3) Non-paper submitted [to NATO Secretary General Rasmussen] by Poland, Norway, Germany and the Netherlands on increasing transparency and confidence with regard to tactical nuclear weapons in Europe, 14. April 2011. Das Papier wurde bei der NATO-Außenministertagung in Berlin vorgelegt.

Wilbert van der Zeijden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Nuclear Disarmament-Programm von IKV Pax Christi (Niederlande). Susi Snyder leitet das Programm. Übersetzt von Regina Hagen.

Der neue START-Vertrag und Abrüstung

Der neue START-Vertrag und Abrüstung

Ein Dilemma, das nach einer Debatte ruft

von Andrew Lichterman

Kurz vor Weinachten 2010 ratifizierte der US-Senat das neue Abrüstungsabkommen mit Russland – und verknüpfte es mit etlichen weitreichenden Bedingungen in Bezug auf die Modernisierung des Atomwaffenkomplexes, Raketenabwehr und den Aufbau konventioneller Langstreckenwaffen. Andrew Lichterman beschreibt, warum die Friedensbewegung in den USA mit der Unterstützung für den Vertrag zu viele Kompromisse eingegangen ist und sich anders und ganz neu aufstellen müsste.

Im vergangenen Jahr konzentrierte sich in den Vereinigten Staaten die öffentliche Debatte über Rüstungskontrolle und Abrüstung vor allem auf den neuen strategischen Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland (Strategic Arms Reduction Treaty = START). Die US-Verfassung schreibt vor, dass der Senat der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags zustimmen muss, und für diejenigen, die eine ungezügelte Militärmacht USA befürworten, bot sich im Vorfeld der Ratifizierung von START daher die perfekte Gelegenheit, von der Regierung Zugeständnisse beim politischen Kurs und Rüstungshaushalt zu erzwingen.

Die gesamte zweite Jahreshälfte 2010 kämpfte die US-Regierung mit ihren Gegnern im Senat. Je näher das Ende der laufenden Legislaturperiode von Senat und Repräsentantenhaus rückte – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich der nächste Kongress noch weniger für Rüstungskontrollmaßnahmen erwärmen würde – desto mehr war Obama bereit, Konzessionen zu machen. Am Ende stimmte der Senat einer Ratifizierung von START zwar zu, rang der Regierung aber Bedingungen und Zusagen ab, die für künftige Abrüstungsschritte nichts Gutes ahnen lassen.

Der neue START-Vertrag enthält kaum Einschränkungen für die Stationierung oder Modernisierung der Atomwaffenarsenale oder für die Entwicklung strategisch wichtiger Waffensysteme wie Raketenabwehr oder »Prompt Global Strike«-Waffen mit globaler Reichweite.1 Und der Vertrag schreibt für die nächsten sieben Jahre lediglich eine geringfügige Verkleinerung des strategischen Atomwaffenarsenals fest. Somit beschränkt sich der vermeintliche Nutzen des neuen Abkommens auf zwei Bereiche: Die Vor-Ort-Verifikation wird wieder aufgenommen, und es wurde ein neues Bezugssystem geschaffen für künftige Abrüstungsvereinbarungen. Die zusätzlichen Gelder, die dem Rüstungsestablishment im Gegenzug zur Ratifizierung zugesagt wurden, werden allerdings dafür sorgen, dass ein Atomwaffenarsenal von zivilisationszerstörendem Ausmaß auf Jahrzehnte hinaus festgeschrieben wird, und sie verankern Interessen, die Abrüstung langfristig strukturell behindern.

Man sollte daher meinen, dass der neue START-Deal, der echte und unumkehrbare Abrüstungsverpflichtung weit in die Zukunft verschiebt, innerhalb der »Rüstungskontroll- und Abrüstungs-Community« der USA heiß diskutiert wird. In der Endphase der Auseinandersetzung um seine Ratifizierung stellten sich aber die meisten US-amerikanischen Rüstungskontroll- und Abrüstungsorganisationen brav hinter die Regierung Obama, plapperten deren Argumente nach und kritisierten die Etaterhöhungen und politischen Zusagen an das Atomwaffen-Establishment nur leise.

Überwiegen also aus der Abrüstungsperspektive die enormen und konkreten Nachteile des START-Deals die nur schwer greifbaren Vorteile? Leider wurde diese Frage kaum diskutiert.

Wie es zum START-Deal kam

Der neue START-Vertrag ist so konzipiert, dass sich am stationierten Atomwaffenarsenal kaum etwas ändert, es ändern sich im Wesentlichen die Zählregeln für strategische Atomwaffen. Die Entwicklung und Stationierung anderer strategisch wichtiger Waffensysteme wird erst recht nicht eingeschränkt.

Hans Kristensen von der Federation of American Scientists weist darauf hin, „dass der Vertrag zwar die juristischen Obergrenzen für die Stationierung strategischer Sprengköpfe absenkt, an der Anzahl von Sprengköpfen aber nicht wirklich etwas ändert. Der Vertrag fordert sogar nicht einmal die Zerstörung eines einzigen Sprengkopfes und erlaubt den USA und Russland die Stationierung von fast genau so viel strategischen Sprengköpfen wie der Moskauer Vertrag von 2002“,2 der von Bush jr. abgeschlossen wurde. Zur Raketenabwehr merkte die Arms Control Association kürzlich in einem Analysepapier an: „New START ist ein Raketenabwehr-freundlicher Vertrag. Er beschränkt die Raketenabwehrpläne der USA in keinster Weise.“ 3 Der START-Vertrag wurde in dem Papier gleichwohl befürwortet. Außerdem sieht der Vertrag ausdrücklich vor, dass „die Modernisierung und der Ersatz von strategischen Angriffswaffen zulässig sind“.4

In ihrem Eifer, etwas zu erreichen, das sie als außenpolitischen »Sieg« darstellen kann, und in ihren Bemühungen, beim Thema Counter-Proliferation und Nichtverbreitung die ideologische »Überlegenheit« wieder zu erlangen, kam die Regierung Obama den unausweichlichen Forderungen der Kriegs- und Waffenpartei (die weit über die Reihen der formell den Republikanern zugerechneten Opposition hinaus reicht) sogar zuvor. Der Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2011, den Obama im Februar 2010 einreichte, sah für die Atomwaffenprogramme des Energieministeriums fast zehn Prozent Steigerung vor, sowie weitere Steigerungen in den nächsten fünf Jahren.5 Im Mai 2010 verpflichtete sich die Regierung dann dazu, in den nächsten zehn Jahren 180 Mrd. US$ zusätzlich für Atomwaffen und Trägersysteme bereitzustellen.6 Die Zuwachsraten sind so groß, dass Linton Brooks, der in der Regierung Bush jr. die für Atomwaffen zuständige National Nuclear Security Administration im Energieministerium leitete, kommentierte: „Für diesen Etat hätte ich sogar jemanden umgebracht.“ 7

Weitreichende Zusagen

Da es doch nicht gelang, die Zustimmung des Senats für die Ratifizierung in der kurzen Zeitspanne zu gewinnen, die zwischen der Vertragsunterzeichnung im April 2010 und den Senatswahlen Anfang November 2010 zur Verfügung stand, konnte die Schlacht um New START erst danach wieder aufgenommen werden. Bei den Wahlen konnten die Republikaner einen erheblichen Stimmenzuwachs verzeichnen. Also bemühte sich die Regierung Obama verzweifelt, die Ratifizierung wenigstens sicherzustellen, bevor Anfang 2011 ein noch feindseligerer Senat seine Arbeit aufnehmen würde. Im November 2010 sagte die Regierung dem Atomwaffenkomplex weitere Milliarden zu und betonte ständig ihre „besondere Verpflichtung, die Modernisierung unserer nuklearen Infrastruktur sicherzustellen“.8 Den Verhandlungsführern im Senat war nur allzu bewusst, dass dem US-Haushalt finstere Zeiten bevorstehen. Folglich machten sie im Interesse des Waffenkomplexes Druck, dass möglichst rasch mehr Geld in Großprojekte fließt, beispielsweise in die Uranium Processing Facility (UPF, Uranverarbeitungsanlage) in Oak Ridge/Tennessee und die Chemistry and Metallurgy Research Replacement Facility (CMRR, Labors für die Wartung und Zertifizierung von Atomwaffen) in Los Alamos/New Mexico.9 10

Und offensichtlich hält die Regierung Obama ihre Zusagen ein. Der Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2012, den Obama im Februar 2011 vorlegte, sieht u.a. Mittel für Trägersysteme wie z.B. einen neuen Langstreckenbomber und ein neues Atom-U-Boot vor, aber auch beträchtliche kurzfristige Ausgabensteigerungen für die UPF und die CMRR.

Was sprach dann überhaupt für den Vertrag? Die Verifikationsregelungen, beispielsweise zu Vor-Ort-Inspektionen, sind ein Punkt. Allerdings sind sie längst nicht mehr so wichtig wie im Kalten Krieg, da heute weder Russland noch die Vereinigten Staaten in größerem Umfang Atomwaffen bauen oder ständig neue Trägersysteme einführen. Mit Satellitenüberwachung und anderen Aufklärungsmaßnahmen gibt es wenig Anlass, an eine Verifikationskrise oder eine „klaffende Lücke bei der Sammlung strategischer Informationen“ 11 zu glauben.

Das stärkste Argument für New START war vielleicht, dass es ein erster Schritt hin zu weiteren bilateralen Abrüstungsschritten der USA und Russlands ist und ein Bezugssystem dafür bietet. Wenn man die Rhetorik der Regierung Obama allerdings nicht für bare Münze nimmt, dann sind die Aussichten auf weitere nennenswerte Abrüstungsschritte äußerst fraglich. Regierungsvertreter reden zwar im Kontext der Rüstungskontrolldebatte immer von »Abschreckung«, in Wirklichkeit verfolgt die US-Regierung aber eine Politik der Eskalationsdominanz auf allen Kriegsführungsebenen: Die mächtigsten konventionellen Streitkräfte der Welt operieren global unter dem »Schirm« eines Atomwaffenarsenals, dessen Größe und Flexibilität ausreicht, um mit der ganzen Bandbreite — vom Einsatz weniger Atomwaffen bis hin zur kompletten Vernichtung der Gesellschaft – zu drohen.12 Bis sich diese Politik ändert, wird die »Abrüstung« des US-Arsenals kaum anders aussehen als im neuen START-Vertrag: weitgehend kosmetisch und ohne am Zivilisation auslöschenden Potential etwas zu ändern. Außerdem werden andere Atomwaffenstaaten, die sich in potentieller Gegnerschaft zu den USA sehen, kaum dazu neigen, ihre Atomwaffenarsenale aufzugeben, solange die USA weiter nach globaler militärischer Dominanz streben.

Kein Ende der Debatte

Für die Befürworter echter Abrüstung darf die Debatte um START jetzt nicht zu Ende sein. Es drängen sich etliche Fragen auf: Wo liegt die Grenze bei den finanziellen und politischen Zusagen an den militärisch-industriellen Komplex, ab der die Abrüstungsexperten aus den Nichtregierungsorganisationen die Kosten für den Vertrag für zu hoch halten? Wenn man glaubt, dass der Vertrag mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt, war es dann die richtige politische Strategie, den Vertrag gut zu heißen, ohne zu thematisieren, dass er in seiner jetzigen Form alles andere als Abrüstung verheißt? Und selbst wenn man glaubte, der neue START-Vertrag sei ein Schritt in die richtige Richtung, rechtfertigt das, dass eine Abrüstungsbewegung, der die soziale Basis weitgehend weg gebrochen ist, so viel Geld und Zeit in das Thema investiert? Sollte sie ihre Zeit nicht besser damit verbringen, in der aktuellen verfahrenen Situation eine überzeugende Vision für die Rolle von Abrüstung auszuarbeiten?

Mit ihrer überwiegend unkritischen Unterstützung der offiziellen Regierungsposition zu New START stellte die Abrüstungsbewegung Abrüstungspolitik auf den Kopf. So kann man bestenfalls bescheidene Fortschritte erringen, riskiert aber gleichzeitig eine doppelt vernichtende Niederlage. So fördert man kaum das Verständnis für die echten Abrüstungshindernisse oder baut eine Bewegung auf, um just die politischen Verhältnisse zu ändern, die Forschritte bei der Abrüstung doch gerade so unwahrscheinlich machen. Und wenn der Senat der Ratifizierung des Vertrags dann trotz der ideologischen und materiellen Zugeständnisse an den militärisch-industriellen Komplex nicht zugestimmt hätte, wäre der Schaden wohl doch schon entstanden. So war es in den späten 1990er Jahren, als die großen Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen einem ganz ähnlichen Paket von »Sicherungsmaßnahmen« für das Atomwaffenarsenal der USA zustimmte, das von der Clinton-Regierung im vergeblichen Versuch aufgesetzt worden war, die Unterstützung des Senats für das Umfassende Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) zu gewinnen. 13 Der Senat verweigert die Zustimmung zur CTBT-Ratifizierung zwar bis heute, mit den damals freigegebenen Milliarden baut der Atomwaffenkomplex aber immer noch neue Forschungslabors.

Dass die weniger militaristisch angehauchten Elemente im US-Kongress und die meisten Abrüstungsgruppen nicht gegen den massiven Mittelzufluss für die Modernisierung des Atomwaffenkomplexes protestieren, macht es schwieriger, »vor Ort« Widerstand gegen das Atomwaffen-Establishment aufzubauen, d.h. dort, wo diese riesigen und politisch einflussreichen Institutionen angesiedelt sind. Lokaler Widerstand konnte in der Vergangenheit neue Atomwaffenfabriken oder die Stationierung von Atomwaffen typischerweise nur dann stoppen, wenn themenübergreifende Koalitionen aufgebaut wurden, die die Unterstützung einzelner Abgeordneter der entsprechenden Wahlkreise gewinnen konnten. Geschichten wie der geplatzte CTBT-Deal oder der neue START-Deal vereinnahmen Abgeordnete zugunsten des Waffenkomplexes, u.a. durch die Finanzierung von Einrichtungen, gegen die vor Ort gekämpft wird.

Überdies bietet sich der Öffentlichkeit ein widersprüchliches Bild, wenn lokale Abrüstungsgruppen den Bau einer neuen oder die Modernisierung einer vorhandenen Waffenfabrik bekämpfen, vertragsbefürwortende Politiker und die Massenmedien gleichzeitig die »Modernisierung« der Atomwaffen als unabdingbare Voraussetzung für die Zustimmung des Senats zur Vertragsratifizierung darstellen und dann auch noch die großen nationalen Abrüstungsorganisationen den lokalen Aktivisten erzählen, dass der Vertrag aber ungeheuer wichtig sei.

Eine echte Bewegung

Wenn wir eine echte Bewegung aufbauen wollen, reicht es nicht, ein paar Nichtregierungsorganisationen, die eigentlich an ganz anderen Themen arbeiten, dazu zu überreden, dass sie ihre Mitglieder und Unterstützer mit E-Mails bombardieren und für die eine oder andere Abrüstungsinitiative werben, die in Washington ausgeheckt wurde. Wir müssen unsere Ressourcen aus den Zentren der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht abziehen und dahin lenken, wo die Mehrheit von uns wohnt. Wir müssen ganz von vorn anfangen und in mühseliger Kleinarbeit solche Bewegungen aufbauen, die uns wirklich Macht und eine Stimme verleihen. Und wir brauchen eine Vision von einer besseren Zukunft, verbunden mit einem Verständnis für das Wechselspiel von Ursache und Wirkung in unserer heutigen Gesellschaft. Wir müssen fähig sein aufzuzeigen, warum die disparaten Probleme und Ungerechtigkeiten, gegen die sich die Menschen vor Ort auflehnen, gemeinsame Ursachen haben.

Ich plädiere nicht dafür, jegliche Aktivitäten einzustellen, bis wir die perfekte Analyse der globalen politischen Ökonomie und des sozialen Wandels haben. Ich plädiere aber dafür, Abrüstungsarbeit wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bei der Entscheidung und Einschätzung von Aktionen dürfen wir nicht nur danach fragen, was kurzfristig in den Regierungsfluren eines korrupten, kriegslüsternen und schwer bewaffneten Staates möglich ist. Wir können natürlich dort hingehen, wenn es nützlich ist, um das einzufordern, was wir wirklich wollen – und aus den Antworten, die sie uns geben, lernen, wer wirklich die Macht hat und was sie mit der Macht anfangen wollen. Wir können die Institutionen des nuklear-militärisch-industriellen Komplexes bei jeder Möglichkeit, die sich bietet mit unserer Position konfrontieren – und dabei mehr über die Wirkung von über einem halben Jahrhunderts konzentrierter Macht über unsere Gemeinschaften und unsere Umwelt lernen, einer Macht, für die die Machthaber nie Rechenschaft ablegen mussten. Wir können dabei lernen, wie effektiv diese Macht auf jeder Ebene der Gesellschaft wirkt.

Diesen Kontext müssen wir im Auge behalten und aus dieser Perspektive müssen wir breitere Strategien entwickeln, wenn wir über bestimmte Rüstungskontrollmaßnahmen debattieren und darüber, ob es sinnvoll ist, sich für so etwas wie New START zu engagieren.

Anmerkungen

1) Das sind konventionell bestückte weitreichende Waffen, die jeden Punkt der Erde innerhalb von 30-60 Minuten nach Befehlsfreigabe angreifen können, z.B. Langstreckenraketen oder Weltraumbomber. [die Übersetzerin]

2) Hans Kristensen: New START Treaty Has New Counting. FAS Strategic Security Blog, 29. März 2010; www.fas.org/blog/ssp/2010/03/newstart.php.

3) Tom Z. Collina und Greg Thielmann: New START Clears the Path for Missile Defense. Arms Control Association Issue Brief, Volume 1, Number 39, 1. Dezember 2010; www.armscontrol.org/issuebriefs/ NewSTARTClearsPathforBMD.

4) Treaty Between The United States of America and The Russian Federation on Measures for the Further Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms. Artikel V, Absatz 1; www.whitehouse.gov/blog/2010/04/08/new-start-treaty-and-protocol.

5) U.S. Department of Energy: FY 2011 Congressional Budget Request. V.I, National Nuclear Security Administration; S.47-48. In den USA fallen die Atomwaffen in den Zuständigkeitsbereich des Energie-, nicht des Verteidigungsministeriums; die Übersetzerin.

6) See U.S. Department of State: Fact Sheet, The New START Treaty – Maintaining a Strong Nuclear Deterrent. 13. Mai 2010; www.whitehouse.gov/sites/default/files/New%20START%20section%201251 %20fact%20sheet.pdf.

7) Arms Control Association und Center for Arms Control and Nonproliferation: Briefing on START and the Nuclear Posture Review. 7. April 2010; Mitschrift unter www.armscontrol.org/events/STARTandNPRBriefing.

8) The White House, Office of the Press Secretary: Fact Sheet: An Enduring Commitment to the U.S. Nuclear Deterrent. 17. November 2010; www.whitehouse.gov/the-press-office/2010/11/17/fact-sheet-enduring-commitment-us-nuclear-deterrent.

9) Siehe www.y12sweis.com/includes/Proposed%20Uranium%20final.pdf zu UPF und www.lanl.gov/orgs/cmrr/ zu CMRR. [die Übersetzerin]

10) Peter Baker: G.O.P. Senators Detail Objections to Arms Treaty. The New York Times, 14. November 24 2010; www.nytimes.com/2010/11/25/world/europe/25start.html. Siehe auch: Memo, Sen. Jon Kyl, Sen. Bob Corker to Republican Members, re: Progress in Defining Nuclear Modernization Requirements. 14. November 2010; zugänglich gemacht von der Arms Control Association; http://www.armscontrol.org/system/files/20101124%20-%20Kyl-Corker%20Memo%20On%20Modernization%20for%20Republican%20Colleagues.pdf.

11) Greg Thielmann: Close the Verification Gap. Ratify New START. Arms Control Association Issue Brief Volume 1, Number 35, 19. November 2010; www.armscontrol.org/node/4559.

12) Siehe: Andrew Lichterman and Jacqueline Cabasso: War is Peace, Arms Racing is Disarmament. The Non-Proliferation Treaty and the U.S. Quest for Global Military Dominance. Western States Legal Foundation Special Report, Mai 2005, S.7-8, sowie dort zitierte Quellen; http://wslfweb.org/docs/warispeace.pdf.

13) Der Autor bezieht sich hier auf das milliardenschwere »Stockpile Stewardship«-Programm der Clinton-Regierung; die Übersetzerin. Zu diesem Punkt siehe: Jacqueline Cabasso: Nuclear Weapons Research and Development. In: Michael Spies and John Burroughs (Hrsg.): Nuclear Disorder or Cooperative Security? U.S. Weapons of Terror, the Global Proliferation Crisis, and Paths to Peace. New York: Lawyers Committee on Nuclear Policy, Western States Legal Foundation, und Reaching Critical Will project of the Womens’ International League for Peace and Freedom, 2007, S.93 ff.

Andrew Lichterman ist Jurist und Friedensaktivist und lebt in Kalifornien in Pleasant Hill. Er ist Vorstandsmitglied der Western States Legal Foundation (Oakland, Kalifornien) und der Los Alamos Study Group (Albuquerque, New Mexico). Dieser Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder. Übersetzt von Regina Hagen

Zero is the only option

Zero is the only option

19. IPPNW-Weltkongress, 27.-29. August 2010, Basel

von Barbara Dietrich

Die IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) wurde im Jahre 1980 gegründet mit dem Ziel, einen Atomwaffenteststopp durchzusetzen, und hat mittlerweile 250.000 Ärzte/innen und Medizinstudenten/innen aus 80 Ländern als Mitglieder. 1984 erhielt die Organisation den UNESCO-Friedenspreis, 1985 den Friedensnobelpreis. Die deutsche Sektion nennt sich Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung und existiert seit 1982; damals verpflichteten sich die Gründungsmitglieder, sich nicht an kriegsmedizinischen Maßnahmen zu beteiligen. Alle zwei Jahre hält die IPPNW einen weltweiten Kongress ab; das Motto des 19. Weltkongresses im August 2010 lautete »nuclear abolition: for a future«.

Ausgehend von der Tatsache, dass weltweit noch immer mehr als 22 000 Atomsprengköpfe vorgehalten werden und sich die Zahl der Atomwaffenmächte seit 1968, dem Jahr der Unterzeichnung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), von fünf auf neun Staaten erhöht hat, war dieser Vertrag mit seiner Geschichte, seinen inhaltlichen Schwächen und seiner Implementierung ein wesentlicher Schwerpunkt des Kongresses. Die im Frühjahr 2010 abgehaltene 8. Überprüfungskonferenz zum NVV wurde von allen Referenten/innen kritisch bewertet, vor allem, weil auch dieses Mal keine Fristen vereinbart wurden, innerhalb derer die Atommächte verpflichtet sind, ihre Atomwaffen zu reduzieren bzw. vollständig abzuschaffen.1 Eindringlich wurde gewarnt vor der „schonungslosen Effizienz der Atombomben“, welche die Forderung nach der Durchsetzung einer so genannten Atomwaffenkonvention unbedingt erforderlich mache. Ein solcher von relevanten Friedensorganisationen (IALANA, INESAP, IPB und IPPNW) konzipierter und vom UN-Generalsekretär mittlerweile in seinen eigenen Forderungskatalog aufgenommener Vertragsentwurf nämlich legt konkrete Schritte zur atomaren Abrüstung innerhalb eines verbindlichen Zeitrahmens fest und bezieht Atomwaffen jeglicher Bauart oder Zerstörungskraft sämtlicher Atomwaffenstaaten ein.

Plenarveranstaltungen zur Geschichte der atomaren Abrüstung, zu den diesbezüglichen Positionen der Nuklearmächte und zu ihrer Verantwortung, zu Wirtschaft und Atomwaffen wie zu Globalisierung, Krieg und atomarer Abrüstung vermittelten einen umfassenden Überblick über das Thema des Kongresses.

Angesichts der kürzlich durchgeführten Castor-Transporte war das Plenum zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Kernkraftwerke von großer Aktualität und Brisanz. Referenten verwiesen auf die im Jahre 2007 publizierte KiKK-Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters,2 in der nachgewiesen wurde, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Krebs bzw. Leukämie desto größer ist, je näher ein Kind an einem AKW wohnt. Forschungen in Russland hatten ergeben, dass eine geringe, aber länger anhaltende Strahlendosis im Hinblick auf das Krebsrisiko für den Menschen ebenso gefährlich ist, wie eine hohe einmalige radioaktive Strahlendosis, wie sie etwa durch die Hiroshima-Bombe ausgelöst worden war.

Im Workshop »Positionen der Obama-Administration zur nuklearen Abrüstung« wurde deutlich gemacht, dass der US-Präsident von republikanischer Seite erheblichen Widerstand gegen weitere Abrüstungszugeständnisse zu erwarten habe. Diese Einschätzung erweist sich als zutreffend, wenn man liest, dass die Republikaner nach den Kongresswahlen versicherten, dem neuen START-Vertrag (Abkommen USA-Russland vom 8.4.2010 über die weitere Reduzierung und Begrenzung der strategischen Atomwaffen) nur dann zustimmen zu wollen, wenn die Regierung im Gegenzug mehr Geld für die Modernisierung der amerikanischen Atomwaffenarsenale zur Verfügung stellt und ein Raketenabwehrsystem aufbaut (FAZ 4.11.2010). Linke Demokraten dagegen fordern von Obama, schnellere und weitergehende Abrüstungsschritte zu initiieren. Von dritter Seite wächst ebenfalls Druck in Richtung Abrüstung, wie der Aufruf hochrangiger US-Politiker (G. Shultz, W. Perry, H. Kissinger, S. Nunn) »Für eine Welt ohne Atomwaffen« aus dem Jahre 2007 beweist.

Ein anderer Workshop hatte die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone im Mittleren Osten und Mittelmeerraum zum Inhalt. Diese war von 22 arabischen Staaten – alle Unterzeichner des NVV-Vertrages – im März 2010 anlässlich ihres Treffens in Libyen gefordert worden. Auch in der Abschlusserklärung der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 wird dieses Ziel unterstützt; hier ist sogar von einer von atomaren, biologischen und chemischen Waffen freien Zone die Rede und davon, dass im Jahre 2012 dazu eine Konferenz einberufen werden solle – unter Einbeziehung Irans und Israels.

In diesem Workshop wurde von vielen Seiten – z.B. von Vertretern Italiens, Palästinas, Israels, Pakistans – lebhaft und kontrovers diskutiert. Der Vertreter des Irans, Berater in der Ständigen Vertretung der Islamischen Republik Iran in Genf, gab eine längere Erklärung ab. Atomwaffen, so führte er aus, hätten in der Verteidigungsdoktrin seines Landes und angesichts der Unterzeichnung des NVV-Vertrags durch den Iran keinen Platz. Allerdings beanspruche der Iran das Recht auf die zivile Nutzung der Atomenergie, was aber unstreitig vertragskonform sei. Das Motto der iranischen Atompolitik laute demzufolge: „Atomenergie für alle, Nuklearwaffen für niemanden.“ Bezug nehmend auf Israel wies er darauf hin, dass dort hunderte Atomwaffen stationiert seien und dass Israel darin bedingungslos von den USA und ihren Verbündeten unterstützt werde. Demgegenüber übe die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) gegenüber seinem Land, dem Iran, ein beispiellos strenges Kontrollregime aus, und auch der UN-Sicherheitsrat sei – unnützerweise – zu Lasten des Iran in den Konflikt involviert worden. Das alles zeige, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde. Schließlich sprach sich auch dieser Referent mit Nachdruck für eine atomwaffenfreie Zone im Mittleren Osten aus und dafür, dass Israel als einzige Atommacht in dieser Region dem NVV beitreten und sich der Kontrolle der IAEO unterstellen müsse – dann würde das anvisierte Ziel rasch in greifbare Nähe rücken.

Konsens bestand unter den Teilnehmern/innen dieses Workshops darüber, dass die nuklearwaffenfreie Zone ein erster wichtiger Schritt zu einem umfassenden Frieden im Mittleren Osten sei. Der Vorschlag, in der israelisch-palästinensischen Region eine Konferenz zu diesem Thema einzuberufen, wurde einhellig begrüßt. Angesichts wiederholter Pressemeldungen, dass Israel einen Angriff auf den Iran in Erwägung ziehe, wurde der IPPNW als Teilnehmerin einer solchen Konferenz u.a. die Rolle zugewiesen, aus fachlicher Sicht deutlich zu machen, welch verheerende Folgen ein Krieg gegen den Iran haben würde.

Hervorgehoben sei weiterhin der Vortrag eines indischen Politologen und Nuklearexperten, der sich mit der ökonomischen Krise und der Friedensbewegung befasste. Der Neoliberalismus bringe, so trug er vor, eine globale Marktordnung hervor, die von einer umfassenden Militarisierung über alle nationalen Grenzen hinweg abgesichert werde. Mit dieser Militarisierung werde nicht mehr die Durchsetzung konkret bestimmter, begrenzter Ziele verfolgt, sondern generell die Absicherung der neoliberalen Wirtschaftsordnung ohne Rücksicht auf Grenzen und auf unbestimmte Zeit. Dem müsse sich die Friedensbewegung stellen. Sie könne nicht mehr nur eine Bewegung sein, die auf eine Welt ohne Krieg hinarbeitet, sondern müsse vielmehr mit dem Kampf gegen alle Arten von ökonomischer, sozialer und kultureller Ungerechtigkeit verbunden werden. Das Weltsozialforum z.B. sei eine Bewegung dieser Art. Auch der fortdauernde Kampf für nukleare Abrüstung müsse mit dem weiterreichenden Kampf gegen Militarismus, ungerechte Kriege und Besetzung verbunden werden. Vor allem aber müsse moralische Indifferenz bekämpft und überwunden werden, damit die nukleare Abrüstung Realität werden könne – dies sei die Lehre aus Fortschritten des vergangenen Jahrhunderts: Ende der Apartheid, schnelles und unblutiges Ende der autoritären Sowjetunion, politische Niederlage der USA gegenüber den Vietnamesen etc.

Im abschließenden Plenum kamen – last but not least – die »non-haves« zu Wort: Vertreter/innen von atomwaffenfreien Staaten prangerten Höhe und Zunahme der weltweiten Rüstungsausgaben an (knapp 6% in 2009 gegenüber 2008), die im Jahre 2009 insgesamt 1,53 Billionen US-Dollar betrugen. Auch sie forderten mit großem Nachdruck die Umsetzung des NVV-Vertrages und die Durchsetzung einer Atomwaffenkonvention, setzten dabei allerdings ihre Hoffnung weniger auf die von nationalen Interessen dominierten Regierungen als auf politischen Druck von Seiten der Zivilgesellschaft – wohl wissend, dass hier noch sehr viel motivierende und aktivierende Arbeit zu tun sein wird.

Tagungsort des Kongresses war Basel, Tagungslokalität die alte, im Jahr 1460 gegründete, Universität: ein Ort, adäquat für einen solch kompakten und konzentrierten Kongress, der viele renommierte Wissenschaftler/innen, bekannte Politiker/innen (immerhin ließ der russische Präsident Medwedew eine Grußadresse verlesen) und Studenten/innen aus aller Welt zu Informationsaustausch und -weitergabe, zu Reflexion und Diskussion zusammengeführt und das Netzwerk unter Gleichgesinnten sicherlich enger geknüpft hat.

Anmerkungen

1) Siehe Rebecca Johnson, Die NVV-Konferenz 2010, in W&F 3-2010.

2) Bundesamt für Strahlenschutz: Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie). Salzgitter, 2007; www.bfs.de/de/bfs/druck/Ufoplan/4334_KIKK.html.

Barbara Dietrich