Zerstörer Trump


Zerstörer Trump

von Jürgen Nieth

Am 22. Oktober 1983 demonstrierte über eine Million Menschen in Bonn, Hamburg und bei der Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in der BRD und die Stationierung sowjetischer SS20 in der DDR. Die Regierung Kohl-Genscher ließ trotzdem stationieren. Mit einem bilateralen Abkommen (dem INF-Vertrag) zwischen den USA und der Sowjetunion – die anderen Atomwaffen besitzenden Staaten waren nicht einbezogen – wurde 1987 vereinbart, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verschrotten und keine neuen zu beschaffen. 1.846 russische und 846 US-amerikanische Trägersysteme wurden zerstört. Das Abkommen galt „als Meilenstein der Rüstungskontrolle im Kalten Krieg“ (Hubert Wetzel, SZ 22.10.18, S. 6).

Fast auf den Tag genau 35 Jahre später, am 20. Oktober 2018, teilte US-Präsident Trump mit, er wolle den INF-Vertrag aufkündigen. Wie bei dem Nuklearabkommen mit dem Iran macht Trump auch hier die Gegenseite verantwortlich.

Schuldzuweisungen

Trump sagt, der russische Präsident Wladimir Putin habe das Abkommen „leider nicht eingehalten. Also werden wir die Vereinbarung beenden und dann werden wir die Waffen entwickeln.“(Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) Es geht um den russischen Marschflugkörper 9M729, NATO-Bezeichnung SS-C-8, der eine Reichweite von 2.600 km haben soll. „Moskau weist diesen Vorwurf zurück mit der Erklärung, dieser Marschflugkörper sei ausschließlich für die Stationierung auf See vorgesehen und falle daher nicht unter das INF-Abkommen. Umgekehrt behauptet Russland die USA würden mit ihren von der Nato unterstützten Raketenabwehrsystem gegen das INF-Abkommen verstoßen – konkret mit der bereits erfolgten Stationierung von Abwehrraketen im rumänischen Deveselu und in Polen.“ (Andreas Zumach, taz 23.10.18, S. 3) Dazu Michael Stabenow und Katharina Wagner in der FAZ (22.10.18, S. 2): „Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik verwenden die Vereinigten Staaten in Rumänien tatsächlich Senkrechtstartanlagen, die geeignet seien, seegestützte Marschflugkörper abzufeuern. Da diese Anlagen sich nun an Land befänden, seien die russischen Anschuldigungen, es handele sich um einen Vertragsbruch seitens Washingtons, ‚aus technischer Sicht schwer zu entkräften‘.“

China im Visier?

Mehrere Kommentator*innen unterstreichen die Rolle von Trumps Sicherheitsberater, John Bolton, bei der geplanten INF-Kündigung. Dazu Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4): „Bolton ist seit jeher ein Gegner dieses und eigentlich aller Abrüstungsabkommen […] [Er] will neue Atomwaffen nicht nur, um Russland abzuschrecken, sondern auch den neuen Rivalen China. Das Land ist kein Partner des INF-Vertrages, und seine Aufrüstung – auch mit Raketen solcher Reichweite – versetzt die USA und Russland gleichermaßen in Sorge.“ Auch für Knut Mellenthin lässt der Kontext der trumpschen „Bemerkungen darauf schließen, dass der US-Präsident zunächst Neuverhandlungen mit Russland erzwingen will, in die auch China hineingezogen werden soll“ (jw 22.10.18, S. 1). Für Hubert Wetzel (SZ 22.10.18, S. 6) ist aber die „Wahrscheinlichkeit, dass auch China dem INF-Vertrag beitritt und das Abkommen so erhalten und erweitert werden könnte, […] gleich null.

Wachsende Kriegsgefahr

In allen hier zitierten Zeitungen wird vor einem Ende des INF-Vertrages gewarnt: „Dieses Abkommen, das auch von Russland schon in Frage gestellt wurde, ist es in jedem Falle wert, verteidigt zu werden. Es bietet einen Rahmen zur gegenseitigen Kontrolle.“ (Reinhard Müller, FAZ 22.10.18, S. 1) Kommt es zur Kündigung des INF-Vertrages „kann es über Nacht um Sein oder Nichtsein gehen. Ballistische Raketen mit Mehrfachsprengköpfen und Cruise Missiles, die dem Gelände folgen, tragen in sich ein Potenzial für Konfrontation, Krieg, Atomkrieg, das man nicht ernst genug nehmen kann.“ (Michael Stürmer, Welt 22.10.18, S. 1) „Großes gerät ins Rutschen. Eine neue Spirale der Aufrüstung mit den verheerendsten jemals entwickelten Waffen droht.“ (Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) „Ein Ende des Vertrages wäre ein Desaster – ganz besonders für die Deutschen.“ (Rainer Pörtner, StZ 23.10.18, S. 1) „Das Thema atomare Abrüstung gehört auf den Verhandlungstisch. Das muss eine der wichtigsten Prioritäten für die Sicherheitspolitik werden. Zu viel steht auf dem Spiel, und zwar nicht nur bei den Mittelstreckenraketen. Auf beiden Seiten laufen längst mit aberwitzigen Kosten Modernisierungsprogramme für die Atomwaffen aller Größen (auch für die 20 Sprengköpfe, die noch in Deutschland stationiert sind), verbunden mit der Entwicklung neuer Trägerwaffen – Raketen, Bomber, U-Boote.“ (Werner Sonne, FR 23.10.18, S. 3) „Mit der Drohung eines Rückzugs aus dem INF-Abkommen zielt Trump auf Russland, meint China – trifft aber vor allem Europa.“ (Marina Kormbaki, FR 23.10.18, S. 11)

Selbständige EU-Außenpolitik

„Trump hat bereits mehrere internationale Abkommen aufgekündigt, ohne etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen […] Die Welt des amerikanischen Präsidenten ist nicht die, die Europa will“, schreibt Rainer Pörtner (StZ 23.10.18, S. 1). Bettina Gaus geht in der taz (23.10.18, S. 1) noch einen Schritt weiter: „Europa kann es sich nicht mehr leisten, alleine auf die USA als Schutzherrin zu vertrauen. Es muss endlich den Weg zu einer eigenen, selbständigen Außenpolitik finden – so verunsichernd das auch sein mag. Wie wäre es mit einem russisch-europäischen Gipfel­treffen?“ Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4) nimmt Bezug auf die Situation der 1980er Jahre: „Heute sollten Politik und Bürger sich einig sein: Neue US-Atomwaffen kommen nicht nach Deutschland.“ Auch Olaf Standke (ND 23.10.18, S. 1) sieht die Bundesregierung gefordert: „So ist der INF-Streit auch eine Aufforderung an die Bundesregierung, sich endlich vom Konzept der nuklearen Teilhabe in der Nato zu verabschieden und auf den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland zu drängen.“

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, ND – Neues Deutschland, StZ – Stuttgarter Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung

Große Zurückhaltung

Große Zurückhaltung

Atomwaffenverbot kaum im Fokus humanitärer Hilfsorganisationen

von Rainer Lucht

Die internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) haben zusammen mit 122 Staaten erreicht, dass das generelle Verbot von Atomwaffen als humanitäres Völkerrecht auf die Tagesordnung kam. Am Beispiel Deutschlands wird untersucht, ob und wie humanitäre Hilfsorganisationen sich für dieses Anliegen engagiert haben bzw. engagieren wollen. Das Ergebnis ist ernüchternd und lässt Schlüsse auf ein Selbstverständnis zu, das bewirkt, dass sich die meisten Hilfsorganisationen bei einem existenziellen humanitären Anliegen wie dem Atomwaffenverbot zurückhalten.

Am 7.7.2017 beschlossen 122 Staaten nach mehrwöchigen Verhandlungen am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York ein Vertragswerk über das generelle Verbot von Atomwaffen.1 Es war eine Reaktion der Nicht-Atomwaffenstaaten, in ihrer übergroßen Mehrheit Staaten aus dem Globalen Süden. Sie hatten die bittere Erfahrung gemacht, dass der nukleare Nichtverbreitungsvertrag weder zur versprochenen Abrüstung durch die etablierten Atomwaffenstaaten geführt noch verhindert hatte, dass andere Staaten sich Zugang zu Atomwaffen verschaffen konnten. Der Verbotsvertrag kam nur gegen heftigen Widerstand der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, darunter auch Deutschland, zustande. Grund: Ein generelles Verbot übt Druck aus, gefährdet ihre atomare Vormacht, delegitimiert ihre Politik der nuklearen Abschreckung und fordert effektive Schritte zur Abschaffung ihrer Atomwaffen.

Der Erfolg der Vertragskonferenz ist u.a. der weltweiten Kampagne von ICAN2 und der langjährigen Lobbyarbeit des IKRK und seines internationalen Verbunds3 zu verdanken. Nun geht es den Unterstützer*innen um die Umsetzung, d.h. möglichst viele Staaten, darunter auch Deutschland, zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Vertrags zu bewegen.4

Die Verbotsinitiative schaffte es unter Verweis auf die katastrophalen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes, die alle Maßstäbe der humanitären Hilfe sprengen würden, eine breite Unterstützung der UN-Mitgliedstaaten zu erreichen. Der Vertrag orientiert sich an den bestehenden internationalen Verboten von chemischen und biologischen Waffen, Anti-Personenminen und Streumunition und ergänzt das humanitäre Völkerrecht zur Ächtung aller Massenvernichtungswaffen.

Da sich zahlreiche humanitäre Hilfsorganisationen in diesen anderen Verbotsinitiativen aktiv engagiert hatten, sollte man annehmen, dass auch das Verbot von Atomwaffen ein wichtiges humanitäres Anliegen für sie ist. Das norwegische Nobelkomitee, das zuvor bereits die Kampagne zum Verbot von Landminen (1997) und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (2013) gewürdigt hatte, zeichnete ICAN im Dezember 2017 „für ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen um ein vertragliches Verbot solcher Waffen“5 mit dem Friedensnobelpreis aus.

Atomwaffenverbot – eine widersprüchliche Wirklichkeit in Deutschland

Nach repräsentativen Umfragen befürwortete 2016 und 2017 eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus einer humanitären Einstellung heraus und über alle Parteiorientierungen hinweg den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland (85 %) und ein völkerrechtliche Verbot von Atomwaffen (93 %)6 sowie die Beteiligung Deutschlands an den Verhandlungen über ein generelles Atomwaffenverbot (75 %).7

Im Gegensatz dazu boykottierte die Bundesregierung – trotz ihres offiziellen Bekenntnisses zu vollständiger atomarer Abrüstung – die Verbotsverhandlungen und schloss sich der Position der Atomwaffenstaaten an, die mit der Notwendigkeit atomarer Abschreckung argumentieren. Erleichtert wurde ihr diese Politik durch die geringe öffentliche Debatte zu dem Thema – auch in den großen deutschen Medien; lediglich im Kontext der Verleihung des Nobelpreises kam es kurz zu einer (vorrangig kritischen) Berichterstattung.8

Dazu trug auch das schwache Engagement der Zivilgesellschaft bei. Bis Juli 2017 hatte ICAN in Deutschland trotz intensiver Werbung neben der Unterstützung der Graswurzel-Kampagne »atomwaffenfrei.jetzt« nur drei deutsche Partnerorganisationen: die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, das Netzwerk Pazifik und das Forum Friedensethik, eine kleine Organisation der Evangelischen Landeskirche in Baden. Mit dem Vertragsabschluss und dem Nobelpreis sind die Unterstützung und der Druck auf die Bundesregierung gewachsen, sich mit dem Verbotsvertrag auseinanderzusetzen.9

Das Engagement der deutschen humanitären Hilfsorganisationen

Im Detail untersuchte der Autor das Engagement bzw. die Haltung der humanitären Hilfsorganisationen, einem wichtigen Teil der Zivilgesellschaft, zu diesem Thema. Dazu wurden von November 2017 bis Januar 2018 die Leitungen von 15 wichtigen deutschen Hilfsorganisationen und von VENRO, dem Verband für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, dem die Mehrheit der angeschriebenen Organisationen angehört, wie folgt befragt:

  • „Hat Ihre Organisation die Debatte um den Vertrag aktiv verfolgt? Wenn ja, hat sie sich in der Debatte öffentlich engagiert und positioniert? In welcher Weise?“
  • „Beabsichtigt Ihre Organisation, nach der Verabschiedung des Vertrags sich für eine aktive Umsetzung und Unterstützung einzusetzen, in der humanitären Community, in der Öffentlichkeit, gegenüber der Bundesregierung? In welcher Weise?“

Die Befragung ergab folgende Ergebnisse, die in Tabelle 1 kurz zusammengefasst sind:

  • 13 Organisationen (inkl. VENRO) engagierten sich weder für das Zustandekommen des Atomwaffenverbots noch haben sie vor, sich für die Umsetzung des Verbots zu engagieren. Hierbei sind diejenigen mitgerechnet, die nicht oder nur unverbindlich antworteten, wenn bei ihnen keine öffentlichen Verlautbarungen zum Thema gefunden wurden.
  • Zwei Organisationen engagierten sich begrenzt und haben dies auch bei der Umsetzung vor, etwa durch Unterstützung einiger öffentlicher und Lobbyaktivitäten von ICAN. Im Unterschied zu ihrem Engagement für das Verbot von Landminen oder die Kontrolle des Kleinwaffenhandels hat das Atomwaffenverbot für sie keine vorrangige Priorität.
  • Eine Organisation hat die Verbotsinitiative des IKRK sowie die Resolutionen und Anstrengungen des IKRK und IFRC unterstützt und will im nicht-öffentlichen Dialog die Bundesregierung dafür gewinnen, dem Verbotsvertrag beizutreten.

Ergänzend wurden im Januar 2018 einige Journalisten, die sich in ihrer Berichterstattung auch mit humanitärer Hilfe und humanitärem Engagement beschäftigen, befragt, um ihre persönliche Sicht zu erfahren. Die Fragestellung lautete: „Sollen sich nach Ihrem Selbstverständnis humanitäre Hilfsorganisationen – ergänzend zu ihren Hilfsaktivitäten – zu solch einem Thema positionieren und engagieren oder Zurückhaltung üben und dieses Feld anderen Akteuren überlassen?“

Ihre Antworten sind eindeutig: Sie befürworten Positionierung und Engagement.

  • Marion Dilg: „Humanitäre Hilfsorganisationen sind in ihrer Ausrichtung vorwärtsgewandt, zukunftsorientiert – die Veränderung gegenwärtiger Bedingungen soll eine bessere Zukunft ermöglichen […] Es bedarf auch mehr denn je nichtstaatlicher Akteure, wie der humanitären Hilfsorganisationen, die Interessen im Sinne der Menschenrechte und des Völkerrechts vertreten, wozu auch die Ächtung von Atomwaffen zählt.“
  • Arnd Henze: „Humanitäre Hilfsorganisationen sollten sich zum Thema Nichtverbreitung und Atomwaffenverbot unbedingt positionieren – und dabei genau mit ihrer humanitären Kernkompetenz argumentieren: Es ist das Wesen von Massenvernichtungswaffen, eine humanitäre Katastrophe zu versuchen, die alle Maßstäbe des humanitären Völkerrechts sprengt und damit auch die humanitäre Hilfe unmöglich macht.“
  • Andreas Zumach: „Ja, sie sollen sich positionieren und engagieren – so wie es das IKRK auch bereits für das Verbot von Streumunition gemacht hat.“

Analyse und
kritische Bewertung

Bezogen auf die Ausgangsthese, dass das Atomwaffenverbot ein wichtiges Anliegen für die humanitären Hilfsorganisationen sein sollte, ist das Ergebnis der Befragung mit wenigen Ausnahmen ernüchternd. Etliches erklärt sich aus den Antworten und ihren Begründungen:

  • In den meisten Rückmeldungen wird das Atomwaffenverbot als wichtiges Anliegen bezeichnet und seine Verabschiedung begrüßt,
  • dennoch habe ihre praktische humanitäre Hilfe in den zunehmenden Krisen und Katastrophen in Umfang wie Qualität erste Priorität und Existenzberechtigung.
  • Sie hätten keine oder nur beschränkte Kapazitäten und Ressourcen für humanitär-politische Anliegen,
  • deshalb würden die Priorität auf solche humanitär-politischen Anliegen gelegt, die direkt mit den Bedrohungen, Problemen und Hilfeleistungen für Menschen in humanitärer Not zusammenhingen und ihre Präsenz, Kompetenz und Profil als Organisation stärkten.

Welche tieferen Gründe können sich dahinter verbergen? Drei Motive sind möglich:

  • Ein Grund kann sein, dass die Organisationen so in ihrer Handlungswelt der akuten humanitären Krisen und Katastrophen absorbiert und gefangen sind, dass ihnen die humanitäre Bedrohung durch Atomwaffen fern liegt und nicht als konkrete Gefahr erscheint. Daraus ergibt sich kaum Handlungsdruck, und das Anliegen kann anderen Akteuren überlassen oder in die Zukunft verschoben werden.
  • Ein anderer Grund kann sein, dass Organisationen sich auf ihr »Geschäftsmodell« konzentrieren, möglichst viel öffentliche Finanzierung und private Spenden einzuwerben und effizient für humanitäre Hilfsaktivitäten einzusetzen. Dann erscheint es wenig lohnenswert, Ressourcen und Anstrengungen für andere humanitär-politische Anliegen einzusetzen, oder es wäre gar kontraproduktiv, wenn diese politisch konfliktiv sind und das Verhältnis zu staatlichen Gebern beeinträchtigen könnten.
  • Ein dritter Grund kann sein, dass humanitäre Organisationen sich als eine besondere Welt sehen, die sich mit ihrem humanitären Mandat von Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität von der politischen Interessenwelt abheben will. Das macht potentielle Gemeinsamkeiten und übergreifende Zusammenarbeit mit anderen »politischen Akteuren«, etwa der Friedensbewegung, schwierig und führt zur Selbstbeschränkung, nämlich sich nicht »politisch« zu engagieren.

Zusammen bewirken diese Gründe offenbar, dass sich die meisten humanitären Hilfsorganisationen bei einem politisch-humanitären Anliegen wie dem Atomwaffenverbot, das existenzieller kaum sein könnte, zurückhalten – und das in einer Zeit, in der Großmächte wie die USA und Russland wie in Zeiten des Kalten Krieges massiv atomar aufrüsten und das atomare Kräftespiel zwischen den USA und Nordkorea die realen Gefahren vor Augen führt, und in einer Welt, in der es die atomaren »Habenichtse« des Südens sind, die den Mut aufbringen, gemeinsam dagegen aufzustehen.

1. Keine Antwort

Caritas international, Ärzte der Welt, World Vision Deutschland

2. Engagement für UN-Verbotsvertrag

a) Kein Engagement

Ärzte ohne Grenzen, Care Deutschland-Luxemburg, Deutsche Welthungerhilfe, Diakonie Katastrophenhilfe, HELP, Kindernothilfe, Islamic Relief Deutschland, Johanniter-Auslandshilfe, Malteser International, VENRO

b) Begrenztes Engagement/Unterstützung der ICAN-Kampagne

medico international, Oxfam Deutschland

c) Aktives Mitglied bei ICAN

d) Unterstützung der IKRK-Verbotsinitiative

Deutsches Rotes Kreuz

3. Aktives Engagement für Umsetzung des UN-Verbots

a) Kein Engagement

Ärzte ohne Grenzen, Care Deutschland-Luxemburg, Deutsche Welthungerhilfe, Diakonie Katastrophenhilfe, HELP, Kindernothilfe, Johanniter-Auslandshilfe, Malteser International, VENRO,

b) Unverbindliche Antwort

Islamic Relief Deutschland

c) Begrenztes Engagement/Unterstützung der ICAN-Kampagne zur Umsetzung

medico international, Oxfam Deutschland

d) Aktives Mitglied bei ICAN

e) Unterstützung der IKRK-Anstrengungen zur Umsetzung

Deutsches Rotes Kreuz

Tabelle 1: Positionen der befragten deutschen Hilfsorganisationen zu Aktivitäten für das Verbot von Atomwaffen

Anmerkungen

1) Zum Vertrag und seiner Geschichte siehe folgende W&F-Artikel:
Ständige Vertretung der NATO: Atomwaffenverbot – bloß nicht!? Realpolitik im Wortlaut der NATO (nicht autorisierte Übersetzung). W&F 1-2017, S. 53-54.
Jürgen Scheffran: Atomwaffenverbot – Chance für die nukleare Abrüstung. W&F 3-2017, S. 47-50.
Jürgen Nieth: Nobelpreis gegen Doppelmoral (Presseschau). W&F 4-2018, S. 4.
Sascha Hach: Wohin nach dem Friedensnobelpreis? W&F 4-2018, S. 5.
Bernd Hahnfeld: Völkerrecht versus Atomwaffen. W&F 1-2018, S. 47-49.
Yannick Laßhof: Transit und Verbot – Stärkung der nuklearwaffenfreien Zonen. W&F 2-2018, S. 51.

2) ICAN ist ein internationales Bündnis von über 400 Ärzteorganisationen, säkularen und kirchlichen Friedensorganisationen, Initiativen für Abrüstung und Waffenverbote, Menschrechts- und Umweltorganisationen, die sich für das Atomwaffenverbot einsetzen. Keine namhafte humanitäre Hilfsorganisation ist Partner von ICAN.

3) Das IKRK setzt sich seit etlichen Jahren bei den Vereinten Nationen für ein allgemeines Atomwaffenverbot ein. Es wird dabei von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) und zahlreichen nationalen Gesellschaften unterstützt. Siehe z.B.: Council of Delegates of the International Red Cross and Red Crescent Movement (2017): Working towards the elimination of nuclear weapons – 2018-2021 action plan. Resolution, 11.11.2017.
Die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften der Atomwaffenstaaten haben die entsprechenden Resolutionen und Aktionspläne nicht mitgetragen.

4) Der Vertrag tritt in Kraft, wenn mindestens 50 Staaten ihn unterzeichnet und ratifiziert haben. Bis zum 8.5.2018 haben 58 Staaten den Vertrag unterzeichnet und neun ratifiziert.

5) Presseerklärung des Nobelpreiskomitees vom 6.10.2017, hier in der Übersetzung von ZEIT ONLINE vom selben Tag.

6) Forsa-Umfrage »Meinungen zu Atomwaffen« vom 17. und 18.3.2016; ippnw.de.

7) Umfrage der YouGov Deutschland GmbH vom 29.5. und 31.5.2017. In der Umfrage Deutschland sprachen sich nur 12 % gegen eine Beteiligung an den Verhandlungen aus; icanw.de.

8) Siehe z.B. FAZ-Kommentar »Utopisch« vom 7.10.2017.

9) Siehe z.B. Aufruf in der FAZ vom 5.8.2017 »An die Bundesregierung: Treten Sie dem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen bei!«. In der Sitzung des Bundestags vom 23.2.2017 forderten Die Linke, die Grünen und die AfD die Bundesregierung zur Unterzeichnung des Vertrags auf.

Dr. Rainer Lucht ist seit 2013 freier Berater in Policy- und Grundsatzfragen der humanitären Hilfe. Zuvor war er lange Jahre Referent für Grundsatzfragen bei der Diakonie Katastrophenhilfe und Länderreferent bei Caritas international.

Völkerrecht versus Atomwaffen

Völkerrecht versus Atomwaffen

Der Atomwaffenverbotsvertrag

von Bernd Hahnfeld

Seit dem Bau der ersten Atombombe nehmen deren Besitzer die gesamte Menschheit als Geisel für ihre eigenen politischen Ziele. Sie missachten die allen Staaten durch das humanitäre Völkerrecht gesetzten Grenzen und drohen unverhohlen mit dem Einsatz der Massenvernichtungswaffen. Sie treten ihre Rechtspflicht mit Füßen, ernsthaft Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Atomwaffen zu beginnen und erfolgreich abzuschließen. Stattdessen behaupten sie, zu ihrem Besitz und ihrem Einsatz berechtigt zu sei. Nicht-Atomwaffenstaaten haben jahrzehntelang erfolglos durch zahllose UN-Resolutionen die Ächtung der Atomwaffen verlangt. Jetzt verlieren sie die Geduld und wollen völkerrechtliche Schranken setzen. Das sind positive Schritte, denn die Alternative wäre die Aufkündigung des Nichtverbreitungssystems, das bislang ihre einzige Hoffnung war.

Der am 7. Juli 2017 in New York von 122 Staaten vereinbarte »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (Atomwaffenverbotsvertrag)1 ist ein großer Schritt auf dem Weg zu einer künftigen völkerrechtlichen Nuklearwaffenkonvention, d.h. zu einem verbindlichen Übereinkommens über das Verbot von Entwicklung, Erprobung, Herstellung, Lagerung, Transfer, Einsatz und Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen und über die Abschaffung dieser Waffen unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle.

Der Vertrag tritt 90 Tage nach der Hinterlegung der fünfzigsten Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde in Kraft.2

Was regelt der Atomwaffenverbotsvertrag?

In weiten Teilen der Friedensbewegung wird die irrtümliche Auffassung vertreten, dass der Vertrag mit seinem Inkrafttreten ein allgemeines völkerrechtliches Atomwaffenverbot für alle Staaten schaffe.

Der Atomwaffenverbotsvertrag ächtet zwar die Kernwaffen, indem er die Verpflichtung enthält, unter keinen Umständen Kernwaffen zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern, weiterzugeben, anzunehmen, einzusetzen oder mit dem Einsatz zu drohen, andere bei den verbotenen Tätigkeiten zu unterstützen oder Unterstützung anzunehmen und die Stationierung von Kernwaffen auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu gestatten. Er regelt Meldungen und Sicherheitsmaßnahmen und zeigt den Weg zur vollständigen Beseitigung von Kernwaffen auf. Dieser Vertrag schafft jedoch kein allgemeines, für alle Staaten verbindliches Völkerrecht. Als Völkervertragsrecht bindet der Atomwaffenverbotsvertrag nur die Staaten, die ihn völkerrechtlich wirksam ratifiziert haben.

Ein für alle Staaten, also auch für die Nichtvertragsstaaten, verbindliches Völkerrecht könnte durch den Atomwaffenverbotsvertrag nur entstehen, wenn er völkergewohnheitsrechtliche Geltung gewänne. Das ist jedoch in absehbarer Zeit ausgeschlossen, weil die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten sich strikt weigern, den Vertrag zu unterzeichnen, und sich auch nicht so verhalten, als ob sie ihn unterzeichnet hätten. Ein völkergewohnheitsrechtliches Nuklearwaffenverbot entsprechend dem »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« könnte aber nur entstehen bei einer längere Zeit andauernden einheitlichen Praxis der Staaten und ihrer Überzeugung, zu diesem Verhalten von Völkerrechts wegen verpflichtet zu sein.3

Was ist schon lange verboten?

Unabhängig von dem neuen Atomwaffenverbotsvertrag gilt bereits seit Jahrzehnten und auch künftig das völkergewohnheitsrechtliche Verbot, Atomwaffen einzusetzen oder anderen Staaten mit dem Einsatz zu drohen. Darauf hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) in seinem auf Anforderung der UN-Generalversammlung am 8. Juli 1996 erstellten Rechtsgutachten4 ausdrücklich hingewiesen. In dem für alle Staaten verbindlichen völkerrechtlichen Gutachten hat der IGH festgestellt: „Die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstoßen generell gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“ (Ziff. 105 (2) D) Denn das humanitäre Völkergewohnheitsrecht verbietet zwingend die Verwendung von Waffen, die nicht zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und Zivilbevölkerung unterscheiden, die unnötige Grausamkeiten und Leiden verursachen und die unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Offengelassen hat der IGH lediglich die Völkerrechtswidrigkeit im Falle der Existenzgefährdung eines Staates. Aus dem IGH-Gutachten ergibt sich jedoch eindeutig, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiele steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn dabei die genannten Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts beachten werden könnten. Nur im Hinblick auf die vom IGH seinerzeit technisch nicht auszuschließenden angeblich »sauberen« kleineren taktischen Atomwaffen haben die IGH-Richter dargelegt, „nicht genügend Grundlagen zu haben, die sie in die Lage versetzen, mit Sicherheit zu entscheiden, dass die Anwendung von Atomwaffen unter allen Umständen in Widerspruch steht zu den Prinzipien und Regeln des für den bewaffneten Konflikt verbindlichen Rechts“ (Ziffern 94 und 95). Der IGH hat an keiner Stelle des Gutachtens den Einsatz von Waffen erlaubt, die mit dem humanitären Völkerrecht unvereinbare Schäden anrichten. Vielmehr hat er an mehreren Stellen deutlich gemacht, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta durch die Regeln des humanitären Völkerrechts eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden“ (Ziffern 40, 41, 42, 78).

Diese Argumentation wird untermauert durch die ausdrückliche Feststellung in dem Gutachten des IGH, dass keiner der Staaten, die in dem Verfahren für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffeneinsatzes eingetreten sind, dem Gericht Bedingungen dargelegt hat, unter denen ein Einsatz gerechtfertigt sein könnte. Die zum Zeitpunkt des Gutachtens existierenden Atomwaffen – soweit deren Existenz von den Atomstaaten eingeräumt worden ist – erfüllten die Anforderungen des humanitären Völkerrechts nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. Alle Atomwaffen können bis heute nicht zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und Zivilbevölkerung unterscheiden, nicht unnötige Grausamkeiten und Leiden vermeiden und auch nicht vermeiden, unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft zu ziehen.

Folgerichtig weist die Präambel des Atomwaffenverbotsvertrages darauf hin, dass jeder Kernwaffeneinsatz gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts verstieße. Das humanitäre Völkerrecht aber gehört zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“, die in Deutschland nach Art. 25 GG Verfassungsrang haben und Bestandteil des Bundesrechtes sind.5 Völkergewohnheitsrecht bindet alle Staaten – unabhängig davon, ob sie Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) sind oder ob sie dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten.

Kritiker des Atomwaffenverbotsvertrages behaupten, dass dieser das Nichtverbreitungssystem des NVV beschädige und die atomare Abrüstung erschwere. Zutreffend ist, dass nicht alle denkbaren Konfliktfälle geregelt sind und der Verbotsvertrag kein Verifizierungssystem für die atomare Abrüstung enthält. Ein Verifizierungssystem wäre jedoch Bestandteil einer noch zu vereinbarenden Atomwaffenkonvention, die bei den Vereinten Nationen bereits diskutiert wird. Konflikte sind im Einklang mit der UN-Charta (Art. 18) zu regeln.

Was ändert sich für Deutschland?

Der Atomwaffenverbotsvertrag ändert auch nach seinem künftigen Inkrafttreten die Rechtslage in Deutschland grundsätzlich nicht.

Sollte jedoch die Bundesregierung den in Kraft getretenen Vertrag unterzeichnen und der Gesetzgeber (Bundestag und Bundesrat) dem Beitritt Deutschlands zum Vertrag per Gesetz zustimmen, würde er 90 Tage nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunde für Deutschland in Kraft treten. Er würde die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichten, von der US-Regierung den unwiderruflichen Abzug der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen zu verlangen, alle die Atomwaffen betreffenden Stationierungsabkommen und -vereinbarungen zu kündigen, den Übungsbetrieb der Bundeswehr mit Atomwaffen einzustellen, der US-Regierung den Transport von Atomwaffen in und über Deutschland sowie die Lagerung in Deutschland zu untersagen und die nukleare Teilhabe in der NATO zu beenden. Eine weitere Mitarbeit in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO und anderen mit Atomwaffen befassten militärischen Gremien wäre der Bundesregierung verboten, soweit es dabei um vom Atomwaffenverbotsvertrag erfasste Bereiche geht.

In jedem Fall muss die Bundesregierung zur Kenntnis nehmen, dass bei den internationalen Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag und durch die Zustimmung der Vertreter von 122 Staaten am 7. Juli 2017 die Mehrheit aller Staaten des Erdballes die uneingeschränkte Illegalität von Atomwaffen festgestellt hat. Erneut haben zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und damit die Zivilgesellschaft auf die Schaffung von Völkerrecht Einfluss nehmen können und sich als »globalplayer« positioniert. Die Vereinten Nationen haben den Rahmen für den Atomwaffenverbotsvertrag geboten und sind damit als weltweites Zentrum für nukleare Abrüstung gestärkt aus den Verhandlungen hervorgegangen.

Beschämend ist jedoch, dass (mit Ausnahme der Niederlande) die Regierungen aller NATO-Staaten inkl. der Bundesregierung sich durch die eindringliche Warnung der ständigen Vertretung der USA bei der NATO vom 17.10.20166 einschüchtern ließen. Die US-Regierung hatte von ihnen verlangt, in der UN-Generalversammlung gegen die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Atomwaffenverbotsantrag zu stimmen und nicht an den Verhandlungen selbst teilzunehmen. Der weiteren Forderung der USA, einem etwaigen Verbotsvertrag keinesfalls zuzustimmen, sind alle NATO-Staaten, auch die Niederlande, gefolgt. Die US-Regierung sieht durch den Verbotsvertrag die Nuklearpolitik der USA und damit auch der NATO gefährdet, insbesondere die Stationierung von US-Atomwaffen in fünf europäischen Staaten. Das starre Festhalten der USA und ihrer Gefolgschaft an der auf Abschreckung setzenden Nuklearwaffenstrategie inkl. Ersteinsatz muss jedoch als offene Verletzung jedenfalls des Völkergewohnheitsrechts und ihrer Verpflichtungen aus dem NVV sowie als Missachtung der Vereinten Nationen gewertet werden.

Was bewirkt der Vertrag politisch?

Politisch ist der Atomwaffenverbotsvertrag von großer Bedeutung. Zwar statuiert der Vertrag kein hinreichendes Verifikationsregime und enthält auch keine Regelung zur Förderung und zum Schutz von Whistleblowern bei Vertragsverletzungen. Jedoch haben die 2013 begonnenen internationalen Konferenzen zu den katastrophalen humanitären Auswirkungen jedes Atomwaffeneinsatzes die Menschen und Staaten sensibilisiert und die Bereitschaft zu Vereinbarungen über ein Atomwaffenverbot und über die vollständige nukleare Abrüstung gefördert. Von erheblicher Bedeutung ist dabei der bereits in den 1990er Jahren von mehreren Nichtregierungsorganisationen, darunter auch der IALANA, ausgearbeitete Entwurf einer Atomwaffenkonvention.7 Diesen brachte Costa Rica erstmals 1997 und in leicht geänderter Fassung gemeinsam mit Malaysia erneut 2007 in die Vereinten Nationen ein. Der UN-Generalsekretär leitete den Entwurf mit einer befürwortenden Stellungnahme als offizielles UN-Dokument A/62/650 an alle UN-Staaten weiter. Es handelt sich um einen detailliert ausformulierten Entwurf eines bindenden völkerrechtlichen Vertrags über das Verbot und die phasenweise Abschaffung aller Atomwaffen, der seither Gegenstand der Abrüstungsbemühungen der UN ist.

Der Atomwaffenverbotsvertrag gibt wichtige Impulse an die Atomwaffenstaaten, ihrer bindenden Verpflichtung nach Art. VI NVV nachzukommen, in redlicher Absicht Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle zu beginnen und diese zum erfolgreichen Abschluss zu bringen.8 Bleiben die Atomwaffenstaaten weiterhin bei ihrer Weigerung, so besteht die Gefahr, dass sich auch die Nicht-Atomwaffenstaaten nicht mehr an ihre Verpflichtung nach Art. II NVV gebunden fühlen, keinerlei Kernwaffen herzustellen, zu erwerben oder sich dabei unterstützen zu lassen.9 Das könnte zum Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes führen, das bisher die befürchtete Ausbreitung von Atomwaffen weitgehend verhindern konnte.

Die von der Zivilgesellschaft initiierten und beförderten Verträge über Antipersonenminen (Ottawa 1997) und über Streumunition (Oslo 2008) sind geglückte Beispiele für Völkerrechtsverträge, die zunächst von vorangehenden Staaten vereinbart und im Laufe der Zeit rechtliche Allgemeinverbindlichkeit bekommen haben. Der Vertrag über das Verbot von Antipersonenminen ist inzwischen von 162 Staaten ratifiziert, der Vertrag über das Verbot von Streumunition von 97 Staaten. Der rasche Erfolg des Ottawa-Prozesses wäre nicht möglich gewesen ohne die engagierte Mitarbeit und die weltweiten Aktionen vieler Nichtregierungsorganisationen – vereint in der International Campaign to Ban Landmines (ICBL). Sie trugen entscheidend dazu bei, die Minenproblematik in das Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit zu rücken.

Zur Koordinierung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für ein Streubomben-Verbot entstand 2003 die Cluster Munition Coalition, ein Bündnis von Menschenrechtsorganisationen sowie anderen Vereinigungen und Initiativen gegen den Einsatz von Clustermunition. Die gemeinsamen Bemühungen von Staaten, verschiedenen UN-Organisationen sowie den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen führten schließlich zu dem Verbotsvertrag von Oslo.

Die von mehreren hundert Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter auch der IALANA, getragene Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) hat einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Atomwaffenverbotsvertrags. Sie ist dafür mit dem Friedensnobelpreis 2017 ausgezeichnet worden.

Anmerkungen

1) Siehe undocs.org/A/CONF.229/2017/8 für den englischen Vertragstext sowie für Hintergrundmaterialien der Vereinten Nationen. Eine Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen steht unter un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf.
Siehe außerdem Scheffran, J. (2017): Atomwaffenverbot – Chance für die nukleare Abrüstung. W&F 3-2017, S. 47-50.

2) Zum Status des Vertrags siehe icanw.org (The Treaty – Status of signature/ratification).

3) Graf Vitzthum, W. (2007) in ders. (Hrsg.): Völkerrecht. Berlin: de Gruyter, 4. Auflage, I, Rn 131.

4) Der Wortlaut in deutscher Übersetzung findet sich in: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT, S. 29-68.

5) Dementsprechend hat das Bundesverteidigungsministerium 2006 in der »Taschenkarte« für die Soldaten »Druckschrift Einsatz Nr. 03 – Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten« die Soldaten ausdrücklich auf das Verbot des Einsatzes atomarer Waffen hingewiesen. Dieses Verbot hat konsequenterweise auch für die Vorbereitung dieses Einsatzes durch die Lagerung der Atomwaffen, die Stationierung und Bereitstellung der Einsatzflugzeuge und Einsatztruppen sowie die Einsatzübungen zu gelten. Denn aus der Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes von Atomwaffen ergibt sich, dass auch die Vorbereitungshandlungen völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen sind.

6) Siehe Übersetzung des Schreibens der Ständigen Vertretung der USA bei der NATO: Atomwaffenverbot – bloß nicht!? Realpolitik im Wortlaut der USA. W&F 1-2017, S. 53-54.

7) Die englische Fassung des Entwurfs steht unter undocs.org/A/62/650. Die Fassung von 1997 ist in deutscher Übersetzung abrufbar unter ialana.de (Arbeitsfelder – Atomwaffen – Abrüstung Atomwaffen – Modell-Nuklearwaffenkonvention, IALANA, INESAP, IPPNW, 2007.

8) Diese inzwischen auch völkergewohnheitsrechtlich für alle Staaten der Welt geltende Verpflichtung aus Art. VI NVV hat der IGH in seinem Gutachten vom 8. Juli 1996 ausdrücklich bekräftigt.

9) Die offizielle deutsche Übersetzung des NVV steht unter www.auswaertiges-amt.de (Themen – Abrüstung und Rüstungskontrolle – Nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung – Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen).

Bernd Hahnfeld , Richter i.R., ist Vorstandsmitglied der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und war viele Jahre im Vorstand von W&F aktiv.

»Tailored Deterrence«


»Tailored Deterrence«

Eine Nuklearpolitik für Donald Trump

von Otfried Nassauer

Jeder US-Präsident, der zum ersten Mal gewählt wird, muss dem Kongress nach einem Amtsjahr eine Blaupause seiner künftigen Nuklearpolitik vorlegen. Donald Trump hat das jetzt getan. »Nuclear Posture Review« (NPR) heißt das Dokument. Anfang Februar 2018 wurde es öffentlich vorgestellt. Es unterscheidet sich nur wenig von einem Entwurf, der bereits im Januar kursierte.

Der »Nuclear Posture Review« soll unter anderem auf folgende Fragen antworten:

  • Wie soll sich das Nuklearwaffenpotential der USA in Zukunft verändern?
  • Welche politische und militärische Rolle sollen die US-Atomwaffen künftig erfüllen?
  • Wird der Bau neuer oder anderer Kernwaffen verfolgt?
  • Wie geht es mit der nuklear-industriellen Infrastruktur, mit der atomaren Rüstungskontrolle und der Nichtverbreitungspolitik weiter?

Trumps NPR entwirft das Konzept einer »maßgeschneiderten Abschreckung«, einer »tailored deterrence«. Über 40 Mal kommt in dem Dokument das Wort »tailored« vor. Mit diesem NPR hat Donald Trump einem Dokument zugestimmt, das vorgeblich Krieg und Atomwaffeneinsätze durch eine flexiblere Abschreckung verhindern will, aber von anderen Staaten als ziemlich konfrontativ und bedrohlich wahrgenommen werden dürfte. Auf jeden Fall verspricht es teuer zu werden.

Maßgeschneiderte Abschreckung – das Konzept

Neu ist diese Idee einer »tailored deterrence« nicht. Sie wurde bereits in der ersten Amtszeit von George W. Bush unter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld entwickelt und Anfang 2004 im Entwurf eines künftigen »Strategic Deterrence Joint Operating Concept« [Teilstreitkräfteübergreifendes Operationskonzept für die strategische Abschreckung] durch das Pentagon vorgestellt. Knapp drei Jahre später, Ende Dezember 2006, wurde daraus eine offizielle, von Rumsfeld unterzeichnete Zukunftskonzeption für die US-Streitkräfte, die den Titel »Deterrence Operations – Joint Operating Concept – Version 2.0« [Abschreckungsoperationen – Teilstreitkräfteübergreifendes Operationskonzept – Version 2.0] trug.

In der verbleibenden Amtszeit Bushs blieb es allerdings eine bloß doktrinäre Konzeption des Militärs, nicht zuletzt, weil Rumsfeld sein Ministeramt aufgab und der Kongress weiterhin den Bau von Atomwaffen mit kleiner und kleinster Sprengkraft nicht unterstützte.

Das blieb auch unter Bushs Nachfolger Barack Obama so, der in seinem »Nuclear Posture Review« 2010 festlegte, er wolle „keine neuen und keine Nuklearwaffen mit neuen Fähigkeiten“ entwickeln lassen.1

Unter Obama griff dessen republikanischer Verteidigungsminister Chuck Hagel die Bezeichnung »tailored deterrence« 2013 auf, um die bilateral mit Südkorea vereinbarte Abschreckungsstrategie gegen Nordkorea zu beschreiben.

Wofür steht der Ansatz tailored deterrence jetzt? Im Kern und verkürzt:

Um potentielle regionale oder strategische Gegner von einem Atomwaffeneinsatz gegen die USA oder deren Verbündete abzuschrecken oder um sie von einer nuklearen Eskalation in einem nichtnuklearen Konflikt abzuhalten, sollen diese potentiellen Gegner jeweils mit einer auf sie maßgeschneiderten Strategie abgeschreckt werden. Dazu gehört unter anderem auch, dass die Meinungsbildung, der politische Wille und das Handeln dieser Gegner gezielt so beeinflusst werden sollen, dass sie von ihnen unterstellten Plänen für potentielle Nuklearwaffeneinsätze ablassen, weil diese ihnen aussichtslos erscheinen.

Gegnerische Akteure sollen aufgrund politischen Drucks, militärischer Drohungen und der Einschätzung der militärischen Fähigkeiten der USA zu dem Schluss kommen, dass es für sie in einer militärischen Auseinandersetzung nichts zu gewinnen gibt, weil im eigenen Land unakzeptable Schäden entstünden, während man selbst den USA und deren Verbündeten höchstens begrenzten Schaden zufügen könnte. Dazu bedarf es aufseiten der USA, folgt man den Autoren des NPR, möglichst flexibel einsetzbarer militärischer Möglichkeiten offensiver und defensiver Art, mit denen man den betreffenden Gegnern drohen kann.

Die atomaren Waffen der USA müssten möglichst glaubwürdig einsetzbar sein. Ihre Sprengkraft und die ungewollten Kollateralschäden, die sie anrichten würden, dürften nicht so groß sein, dass die USA selbst vor ihrem Einsatz zurückschrecken könnten. Zudem müsse es eine flexible, auch auf regionale Bedrohungen ausgerichtete Raketenabwehr geben, die auf die jeweiligen offensiven gegnerischen Fähigkeiten zugeschnitten sei. Sie müsse das Bild einer glaubwürdigen Verteidigungsmöglichkeit gegen einen Angriff auf die USA und deren Verbündete vermitteln. Die Tatsache, dass sich mehr als 30 Staaten weltweit auf den Schutz durch die atomaren Waffen Washingtons, die so genannte erweiterte Abschreckung verließen, mache zudem deutlich, wie wichtig es sei, dass die nukleare Abschreckung der USA auch den Verbündeten in den verschiedenen Weltregionen glaubwürdig erscheine.

Angesichts der sehr unterschiedlichen Fähigkeiten der potentiellen Gegner Washingtons, der ebenfalls jeweils spezifischen Sicherheitssituation in den unterschiedlichen Weltregionen und der verschiedenen Erwartungen der Verbündeten an eine nukleare Rückversicherung müsse für die USA als Maxime gelten: »No size fits it all« – es gibt nicht das eine Nuklearpotential, nicht die eine Strategie, die für alle Abschreckungsszenarien geeignet wären. Der Trump‘sche NPR diskutiert das Konzept einer maßgeschneiderten Nuklearabschreckung mit Blick auf Russland, China, Nordkorea, den Iran und die Rückversicherung regionaler Verbündeter. Er wirbt für dieses Konzept, indem er es als wirksame Form der Kriegsverhinderung darstellt und zudem als Weg, andere Staaten – notfalls mit Druck oder Drohung – zur Einhaltung von Rüstungskontrollverpflichtungen und Nichtverbreitungszielen zu bewegen.

Dass bei der nuklearen Abrüstung seit Längerem keine Fortschritte mehr erzielt werden, liegt aus Sicht der Verfasser des NPR ausschließlich daran, dass andere Staaten, vor allem Russland, dem guten Beispiel oder den gutgemeinten Vorschlägen der USA nicht folgten, sondern – im Gegenteil –nuklear aufrüsteten und höchst gefährliche Veränderungen hinsichtlich der Rolle ihrer Nuklearwaffen vornähmen, die die USA und deren Verbündete immer gefährlicher werdenden Bedrohungen aussetzten.

Betrachtet man das Konzept der »tailored deterrence« von den dafür geforderten militärischen Fähigkeiten her oder durch die Brille potentieller Gegner, dann läuft es allerdings auf den Aufbau eines möglichst kriegführungsfähigen Nuklearpotentials seitens der USA hinaus, das die Schwelle, Atomwaffen einzusetzen, deutlich senkt, weil dafür vor allem zusätzliche zielgenaue Atomwaffen mit kleinster, kleiner oder variabler Sprengkraft benötigt werden und zur Beschaffung vorgesehen sind, bei deren Einsatz die Kollateralschäden relativ klein und kalkulierbar wären. Mit dem Einsatz solcher Waffen kann – dem NPR zufolge – glaubwürdiger gedroht werden.

Ziel und Ergebnis einer »tailored deterrence«

Konkret vorgesehen sind

  • unterschiedliche Trägersysteme für atomare Waffen kleiner und großer Sprengkraft, die diese einerseits so prompt und irreversibel wie eine Langstreckenrakete und andererseits so gut kontrollierbar wie mit einem Flugzeug, also gegebenenfalls auch rückbeorderbar, zum Ziel bringen können;
  • möglichst wirksame strategische und regionale Raketenabwehrsysteme – deren konkrete Darstellung soll in einem separaten »Ballistic Missile Defense Review« [Überprüfung der Raketenabwehr] erfolgen – für den Fall, dass ein Gegner zurückschlägt, sowie
  • verbesserte Fähigkeiten zu regionaler Kriegführung, die zudem bei unbeteiligten atomar bewaffneten Gegnern im Falle des Einsatzes keinen ungewollten Bedrohungsalarm auslösen.

So betrachtet, ist das Ziel und zugleich das Ergebnis einer »tailored deterrence« ein besser einsetzbares nukleares Kriegführungspotential. Die Selbstabschreckung sinkt, ein Nuklearwaffeneinsatz wird leichter vorstellbar, und die Schwelle, auf diese Option zurückzugreifen, wird niedriger. Die technische Entwicklung befördert die Umsetzung einer solchen Strategie, weil moderne und modernisierte Nuklearwaffen deutlich zielgenauer gebaut werden können, sodass sie mit deutlich kleineren Sprengköpfen als bisher und modernsten Zündsystemen auch dann eine ausreichend große Zerstörungswahrscheinlichkeit erreichen, wenn das entsprechende Ziel bislang nur mit einer Waffe deutlich größerer Sprengkraft erfolgversprechend angegriffen werden konnte.2

Dass man ihr Konzept als eines zur Senkung der nuklearen Einsatzschwelle und zur Stärkung der Fähigkeit zu atomarer Kriegsführung interpretieren kann, wussten die Autoren des jetzigen NPR natürlich nur zu gut. Daher ihre prophylaktische Behauptung des Gegenteils:

„Um es klar zu sagen: Dies hat nicht die Intention, zur nuklearen Kriegführung zu befähigen, und es befähigt auch nicht dazu. Es wird auch die Nuklearschwelle nicht absenken. Vielmehr wird die Erweiterung der maßgeschneiderten Reaktionsmöglichkeiten der USA dazu führen, dass die nukleare Schwelle angehoben wird, und dazu beitragen, dass potentielle Gegner keinen möglichen Vorteil in einer begrenzten nuklearen Eskalation sehen werden, wodurch ein Nuklearwaffeneinsatz weniger wahrscheinlich wird.“

Dieser nukleartheologischen Behauptung kann man nur glauben oder nicht. Sie oder das Gegenteil zu beweisen, ist nicht möglich. Bis zu einem Versagen der nuklearen Abschreckung kann die Behauptung aufrechterhalten werden. Danach könnte die ganze Fragestellung irrelevant sein.

Szenarien und Definitionen

Schließlich bringt der jetzige NPR auch neue Szenarien für eine Drohung mit einem Nuklearwaffeneinsatz ins Spiel. So heißt es: „Zu diesen extremen Umständen [in denen ein Nuklearwaffeneinsatz in Betracht gezogen werden könnte – O.N.] können signifikante nichtnukleare strategische Angriffe gehören. Zu solchen signifikanten nicht-nuklearen, strategischen Angriffen gehören – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Angriffe auf die zivile Bevölkerung oder die Infrastruktur der USA, der Verbündeten oder Partner sowie Angriffe auf US- oder alliierte Nuklearkräfte, deren Kommando und Kontrollstrukturen, Warnsysteme oder Auswertefähigkeiten für Angriffe.“

Der »Nuclear Posture Review« reklamiert zudem für die USA ausdrücklich das Recht, die Definition eines nicht-nuklearen, strategischen Angriffs jederzeit ändern zu können und lehnt eine Politik des Verzichts auf einen nuklearen Ersteinsatz ab. Kernwaffen wird damit zumindest deklaratorisch eine deutlich größere und flexibler interpretierbare Rolle zugewiesen als unter Barack Obama. Damit vergrößert sich die Zahl jener Situationen erheblich, in denen die US-Regierung einen Nuklearwaffeneinsatz für legitim oder gar legal halten könnte.

Was soll sich ändern?

Der NPR hält im Großen und Ganzen an der umfassenden Modernisierung des gesamten US-Nuklearpotentials fest, die bereits Barak Obamas NPR vorsah. Die nukleare Triade aus luft-, see- und landgestützten Trägersystemen bleibt unangetastet, die konzeptionelle Einbindung der Raketenabwehr in das Abschreckungskonzept und die nukleare Teilhabe innerhalb der NATO samt der damit verbundenen Stationierung nicht-strategischer Nuklearwaffen in Europa ebenfalls.

Alle Trägersysteme, deren künftige atomare Sprengsätze, die technische Führungs- und Kommunikationsstruktur und die industrielle Infrastruktur für den Atomwaffenbau sollen – wie vorgesehen – sukzessive modernisiert oder ersetzt werden. Bestandteil der Planung bleiben neben der modifizierten, zielgenaueren Atombombe B61-12 also zum Beispiel auch die Weiterentwicklung des Sprengkopfes für Marschflugkörper zum Modell W80-4, neue Trägersysteme, wie der künftige Bomber B-21 Raider, die neuen Raketen-U-Boote der Columbus-Klasse, der geplante neue luftgestützte Marschflugkörper LRSO und die Entwicklung einer neuen landgestützten Interkontinentalrakete.

Hinzu kommen einige neue Zusatzvorhaben, die den spezifischen Bedarf einer »tailored deterrence« widerspiegeln. Die wichtigsten sind:

  • Die Entwicklung eines atomaren Sprengkopfs mit kleinerer Sprengkraft für seegestützte Langstreckenraketen (SLBM). Wie »klein« die Sprengkraft dieses Sprengkopfes sein soll, sagt der NPR nicht explizit. Technisch bedeutet dies wahrscheinlich, dass von den beiden explosiven Nuklearkomponenten, die derzeit in einem solchen Gefechtskopf enthalten sind, die größere entfernt oder abgeschaltet wird, während der kleinere atomare Zündsprengsatz aktiv bleibt. Damit könnte die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen beschränkt werden. Robert Soofer, ein hoher Pentagonbeamter, sprach denn auch erläuternd von einer Sprengkraft unterhalb jener der Hiroshima-Bombe, also von weniger als 12,5 Kilotonnen. Mit solchen Sprengköpfen soll eine kleine Zahl seegestützter Langstreckenraketen ausgerüstet werden. Kritiker befürchten, dies werde sich destabilisierend auswirken. Kein Gegner sei in der Lage, eine anfliegende seegestützte Langstreckenrakete vom Typ Trident D5 mit einem oder mehreren solcher kleinen Sprengköpfen rechtzeitig von einer baugleichen Rakete zu unterscheiden, die viele große strategische Sprengköpfe trage.
  • Der von Präsident Obama angeordnete Verzicht der USA auf seegestützte nukleare Marschflugkörper (SLCM) soll überdacht und die erneute Stationierung solche Flugkörper vorbereitet werden. Damit soll einerseits die Fähigkeit der USA zu einer einsetzbaren regionalen Nuklearabschreckung verbessert werden, andererseits aber auch auf die angebliche Verletzung des INF-Vertrages (Mittelstreckenvertrages) durch Russland reagiert werden. Der US-Kongresses hat im aktuellen Verteidigungshaushaltsgesetz (FY2018 NDAA) an das Pentagon überdies die Forderung gerichtet, die Entwicklung eines neuen landgestützten, konventionellen Marschflugkörpers mittlerer Reichweite (GLCM) in die Planung aufzunehmen. Während ein neuer GLCM den INF-Vertrag verletzen würde, wäre dies bei einem SLCM nicht der Fall.
  • Obamas Modernisierungsplan sah vor, mehrere Sprengkopftypen mittel- und längerfristig aus den US-Depots zu verbannen. So sollte die Atombombe B83 mit ihrer gewaltigen Sprengkraft von 1,2 Megatonnen möglichst bald außer Dienst gestellt werden. Langfristig sollten außerdem die vier derzeit vorhandenen Sprengkopftypen für Langstreckenraketen auf nur noch zwei Versionen reduziert werden. Die Trump-Administration plant jetzt, die Bomben vom Typ B83 zumindest solange im Dienst zu halten, bis deren Aufgabe nachweislich von einer anderen Waffe übernommen werden kann. Von einer Reduzierung der Typenvielfalt bei den nuklearen Gefechtsköpfen für strategische Raketen ist jetzt nicht mehr die Rede. Im Gegenteil. Es soll sogar eine zusätzliche Variante geben.
  • Zudem soll die Reduzierung des derzeit nicht auf aktiven Trägersystemen genutzten Reservepotentials an atomaren Sprengköpfen künftig zurückhaltender gehandhabt werden. So soll zum Beispiel dafür gesorgt werden, dass vorrangig jene Sprengköpfe erhalten bleiben, die man zusätzlich auf vorhandenen Trägersystemen stationieren könnte.

Zudem werden einige politisch wichtige Vorgaben für die Nuklearpolitik aus der Zeit Obamas in dem neuen NPR explizit zurückgenommen oder nicht mehr erwähnt:

  • Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen und keine atomaren Waffen mit neuen Fähigkeiten zu entwickeln, wird explizit außer Kraft gesetzt, weil sie die Entwicklung neuer Sprengköpfe für die maßgeschneiderte Abschreckung behindern könnte.
  • Variiert und eingeschränkt wird auch die negative Sicherheitsgarantie, die Obama nicht-nuklearen Staaten gab, die ihren Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag nachkommen. Obama verfügte, ihnen auch dann nicht mit einem Atomwaffeneinsatz zu drohen, wenn sie über chemische oder traditionelle biologische Waffen verfügten oder diese einsetzen sollten. Diese Zusage wird nun auf ihren ersten, nuklearen Teil beschränkt.
  • Obamas Zusage, dass die USA die Rolle ihrer Nuklearwaffen weiter reduzieren werden, wird nicht wiederholt.
  • Der jetzige NPR erwähnt die atomare Abrüstungsverpflichtung der USA aus Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) nicht. Damit signalisiert er eine Geringschätzung der nuklearen Abrüstung, die viele Länder beunruhigen wird und eine schwere Belastung für die nächste Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Jahr 2020 darstellen kann. Atomare Abrüstung war schließlich die zentrale Gegenleistung, die die Nuklearmächte den nichtnuklearen Mitgliedern des NVV dafür versprochen haben, dass diese nicht auch nach Kernwaffen streben.

Um das gesamte Spektrum der in Trumps NPR vorgesehenen Modernisierungsplanungen zu finanzieren, sind spätestens im kommenden Jahrzehnt deutlich mehr Finanzmittel erforderlich als bislang vorgesehen.

Bedrohungswahrnehmungen und Gegenmaßnahmen

Das Konzept einer maßgeschneiderten Abschreckung dürfte aus vielen Gründen verbreitet auf Skepsis und Ablehnung stoßen sowie neue Bedrohungswahrnehmungen und möglicherweise auch Gegenmaßnahmen auslösen.

Die Darstellung der Bedrohung durch Russland, China, den Iran und eingeschränkter Nordkorea, von der die NPR-Autoren ausgehen, ist – vorsichtig formuliert – sehr pessimistisch. Man könnte sie in Teilen auch als bewusstes Zerrbild einer imaginierten Wirklichkeit beschreiben, das nicht auf nachvollziehbaren Beweisen beruht. Die Vorwürfe gegen diese Staaten und die Intentionen, die ihnen im NPR unterstellt werden, werden andere Länder oft nicht teilen. Drei Beispiele:

  • Washington wirft Moskau die Verletzung etlicher Rüstungskontrollabkommen vor, insbesondere des INF-Vertrags. Ob letzterer Vorwurf tatsächlich zutrifft, darüber herrscht selbst in der NATO kein Konsens. Die USA wollten ihn bislang nicht detailliert belegen.
  • Ähnliches gilt für die Interpretation der Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen in der russischen Militärdoktrin: „Moskau droht mit dem und übt den begrenzten Atomwaffeneinsatz und suggeriert damit die falsche Erwartung, dass eine nukleare Erpressungsdrohung oder ein begrenzter Ersteinsatz die USA und die NATO paralysieren könnte, sodass der Krieg zu für Russland günstigen Bedingungen beendet werden kann. Manche in den USA bezeichnen das als Doktrin ‚der Eskalation zwecks Deeskalation‘“, heißt es im NPR. In der russischen Militärdoktrin [vom Dezember 2014] steht dagegen lediglich: „Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, als Antwort auf einen gegen sie und/oder ihre Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen ihrerseits Kernwaffen einzusetzen. Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die Russische Föderation, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät.“
  • Mit Blick auf den Iran hält der NPR fest, dieser erhalte sich im Rahmen des Atomabkommens einen substantiellen Teil der technologischen Fähigkeiten, um sich nach dem Auslaufen der Beschränkungen im Jahr 2031 und einer entsprechenden politischen Entscheidung binnen eines einzigen Jahres eine Atomwaffe zuzulegen. Zumindest an der zeitlichen Einschätzung kann man berechtigt zweifeln. Dass der Iran sich bislang an dieses Abkommen genau hält, ist dem NPR dagegen keine Erwähnung wert.

Als bedrohlich scheint den Autoren des NPR im Übrigen bereits zu gelten, wenn Staaten wie Russland, China, der Iran und andere sich nicht den Vorstellungen und Erwartungen Washingtons beugen. Vor diesem Hintergrund zielen die von den Autoren geschürten Ängste wohl primär darauf, einen Ausbau der nuklearen Möglichkeiten der USA zu legitimieren, und wecken immer wieder den Verdacht, unter dem Vorwand einer wirksameren Abschreckung deren Fähigkeit zur nuklearen Kriegführung verbessern zu wollen – einmal mehr geleitet von dem gefährlichen Irrglauben, dass nukleare Konflikte mit der richtigen Strategie und den richtigen Waffen regional begrenzbar und führbar seien.

Für Rüstungskontrolle bleibt in einem solchen Konzept wenig Raum. Rüstungskontrollvereinbarungen könnten die eigene Freiheit zu einem möglichst flexiblen und effektiven nuklearen Potenzial begrenzen oder behindern – unabhängig davon, ob als Ziel der maßgeschneiderten Abschreckung Kriegsverhinderung oder Kriegführungsfähigkeit angenommen wird. Rüstungskontrolle wird deshalb vorrangig als Nichtweiterverbreitung bei anderen verstanden, die es durchzusetzen gelte. Darüber hinaus kann Rüstungskontrolle die Funktion zukommen, die Konkurrenz zwischen großen Staaten zu managen. Rüstungsbegrenzung und Abrüstung verlieren also unter Donald Trump wohl weiter an Bedeutung. Der «Nuclear Posture Review« erinnert dagegen an Trumps sicherheitspolitisches Credo aus dem Wahlkampf: „Frieden durch Stärke!“

Anmerkungen

1) Was im Übrigen angesichts der fortgesetzten Entwicklung des neuen Atombombentyps B61-12 durchaus partiell infrage zu stellen war. Siehe dazu Schwarz, W. (2018): Kernwaffen, nukleare Abschreckung und die internationale Sicherheit (15 Thesen, kommentiert). Das Blättchen, 21. Jg., Sonderausgabe, 8.1.2018.

2) Amerikanische Experten haben das für den Fall einer Ausschaltung der fünf zentralen Einrichtungen des nordkoreanischen Atomwaffenkomplexes schon mal »durchgespielt«: Während beim Einsatz herkömmlicher strategischer Nukleargefechtsköpfe mit mehreren Millionen Toten, vor allem in Nord- und Südkorea, zu rechnen wäre, wären es mit B61-12 angeblich nur wenige Hundert. Siehe dazu Lieber, K.A.; Press, D.G. (2017): The New Era of Counterforce – Technological Change and the Future of Nuclear Deterrence. International Security, Vol. 41, No. 4 (Spring 2017), S. 9-49.

Otfried Nassauer ist Gründer und Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) und arbeitet als freier Journalist.
Dieser Text erschien bereits in »Das Blättchen – Zweiwochenzeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft«. 21. Jg., Nr. 4, 12.2.2018, dasblaettchen.de, und wurde für W&F minimal bearbeitet. Wir danken für die Nachdruckrechte.

Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte


Es droht eine neue »Nachrüstungs«debatte

30 Jahre nuklearer Mittelstreckenvertrag

von Andreas Zumach

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, Michail Gorbatschow, im Weißen Haus in Washington die so genannte »doppelte Nulllösung« für die »Intermediate-range nuclear forces« (INF, atomare Mittelstreckenwaffen) der beiden Großmächte. Der Vertrag regelte den Abzug und die Verschrottung aller landgestützten atomaren Raketen kürzerer (500-1.500 Kilometer) und mittlerer (1.500-5500 Kilometer) Reichweite sowie ihrer Abschussrampen und sonstigen Infrastruktur nicht nur in Europa, sondern weltweit, innerhalb von drei Jahren. Das INF-Abkommen wird in Kürze 30 und ist bis heute ein Kernelement der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland, gerät aber zunehmend unter Druck.

Mit dem historischen INF-Abkommen wurden erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur numerische Obergrenzen oder andere Einschränkungen für bestimmte Waffensysteme vereinbart, sondern ihre vollständige Abrüstung. Zudem vereinbarten die beiden Großmächte weitreichende gegenseitige Inspektionsmaßnahmen während der Umsetzung des Vertrages sowie das Verbot der Neuentwicklung und Produktion dieser Waffensysteme. Nicht unter das INF-Abkommen fallen atomare Artillerie und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von unter 500 Kilometern.

Am 1. Juni 1988 trat der INF-Vertrag in Kraft. Damit ging eine zehnjährige Eskalationsphase der atomaren Aufrüstung zu Ende, die in der Bundesrepublik Deutschland und anderen NATO-Staaten die größte Friedensbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst hatte. Auch in der DDR und in anderen Mitgliedsländern der Warschauer Vertragsorganisation regte sich erstmals deutlicher Widerspruch gegen die Anhäufung von immer mehr atomaren Massenvernichtungswaffen.

Schmidts »Raketenlücke« und der »Doppelbeschluss«

Am 28. Oktober 1977 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London Sorgen geäußert über eine angebliche »Raketenlücke« auf NATO-Seite. Das westliche Bündnis habe keine ausreichenden Mittel gegen die auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, die die Sowjetunion damals stationierte. US-Präsident Jimmy Carter schlug daraufhin vor, 108 atomare Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) des Typs Tomahawk in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien zu stationieren. Am 12. Dezember 1979 übernahm ein Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs aus den damals 16-NATO-Staaten offiziell den Aufrüstungsvorschlag des US-Präsidenten. Der NATO-Gipfel kleidete seine Entscheidung allerdings in einen »Doppelbeschluss«: Von Moskau forderte die NATO den Abbau der bereits stationierten SS-20-Raketen. Sollte Moskau diese Forderung nicht erfüllen, werde es zur westlichen »Nachrüstung« mit Pershing II und Cruise Missiles kommen.

Dieser »Doppelbeschluss« und das darin enthaltene »Verhandlungsangebot« an die Sowjetunion waren vor allem eine Konzession an die zunehmend aufrüstungskritische Stimmung nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Regierungsparteien einiger NATO-Staaten. 1977/78 hatte das Vorhaben der USA, in Europa eine »Neutronenwaffe« zu stationieren, deren »Vorteil« es sei, dass sie nur gegnerische Soldaten töte, aber keine Gebäude zerstöre, vor allem in der BRD für große Unruhe gesorgt. Egon Bahr, der führende Sicherheitspolitiker von Helmut Schmidts Regierungspartei SPD, bezeichnete die Neutronenbombe damals als eine „Perversion des Denkens“. Die Neutronenwaffe wurde nie in Europa stationiert.

Auf dem Berliner Bundesparteitag der SPD eine Woche vor dem Brüsseler NATO-Gipfel vom Dezember 1979 erhielt Kanzler Schmidt bereits nur noch 60 Prozent Zustimmung für den geplanten »Doppelbeschluss«. In einem Zeitunginterview mit dem Autor hatte bereits im März 1979 mit dem damaligen Kommandeur der 12. Panzerdivision, Generalmajor Gert Bastian, erstmals ein Soldat der Bundeswehr öffentlich das Aufrüstungsvorhaben der NATO kritisiert. Das war ein erster Riss in der bis dato völlig geschlossenen Front der Befürworter des Doppelbeschlusses aus Militärs und Sicherheitspolitikern der etablierten Parteien. In der Folge äußerten sich auch aktive wie pensionierte Generäle aus anderen europäischen NATO-Staaten kritisch. Später gründeten Bundeswehrsoldaten, die den Doppelbeschluss ablehnten, die Vereinigung »Darmstädter Signal«, die sich bis heute kritisch mit der Sicherheits-und Militärpolitik Deutschlands und der NATO auseinandersetzt.

Die Sorgen und Bedenken nicht nur in der Friedensbewegung richteten sich vor allem auf eine damals ganz neue US-amerikanische Waffenentwicklung, die Pershing-II-Rakete, von der nach den Plänen der NATO 108 Exemplare ausschließlich in der BRD stationiert werden sollten. Grund der Besorgnis: Mit ihrer Schnelligkeit, Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft machte die Pershing II erstmals seit Beginn der Ost-West-Konfrontation einen atomaren »Enthauptungsschlag« der NATO gegen die Sowjetunion zumindest vorstellbar. Ein »Enthauptungsschlag« hätte der Sowjetunion ihre gesicherte Zweitschlagskapazität genommen und damit die Grundlage des atomaren Abschreck­ungspatts zerstört. Verstärkt wurden diese Sorgen noch, als nach der Wahl Ronald Reagans zum neuen US-Präsidenten im November 1980 im Pentagon tatsächlich Konzeptpapiere verfasst wurden, die die Option eines solchen »Enthauptungsschlages« enthielten sowie das Szenario eines auf Europa begrenzten Atomkrieges mit den beiden deutschen Staaten als Kerngebiet dieses Krieges. Auch Reagans Pläne für ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem (Strategic Defense Initiative, SDI) trugen zu diesen Sorgen bei. Sie herrschten nicht nur in der Friedensbewegung vor, sondern auch in der Bundeswehrführung, wie damals noch aktive Generäle Jahre später, nach ihrer Pensionierung, bestätigten.

Die Lage ähnelte der Situation in den Jahren 1966/67. Damals verordneten die USA innerhalb der NATO den Strategiewechsel von der »massiven Vergeltung« (massiv retaliation) hin zur »abgestuften Antwort« (flexible reponse). Die »massive Vergeltung« sah bei einem konventionellen Angriff des Warschauer Paktes nicht nur den sofortigen Einsatz aller konventionellen Streitkräfte und Waffen der NATO vor, sondern auch der in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffenarsenale der NATO sowie der strategischen Atomstreitkräfte der USA. Die neue Strategie der »abgestuften Antwort« hingegen sah vor, auf einen Angriff der Warschauer Vertragsorganisation zunächst nur mit konventionellen Waffen zu reagieren, dann bei Bedarf taktische Atomwaffen einzusetzen und erst in einer dritten Eskalationsstufe die strategischen Arsenale der USA. Dieser Strategiewechsel der USA führte vor 50 Jahren in der Führung der Bundeswehr und den Streitkräften anderer westeuropäischer NATO-Staaten zu der Sorge, die USA könnten sich aus dem »Risikoverbund« der NATO abkoppeln und eine militärische Auseinandersetzung mit der Warschauer Vertragsorganisation auf Europa begrenzen wollen.

Die Friedensbewegung mobilisiert zum Protest

Am 10. Oktober 1981 demonstrierten in Bonn über 300.000 Menschen friedlich gegen die geplante Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles, aber auch gegen die SS-20 in der Sowjetunion. „Überwindung von Geist, Logik und Politik der Abschreckung“ lautete das zentrale Motto dieser bis dahin größten Demonstration und Friedenskundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Bundeskanzler Schmidt versuchte vergeblich, den Redeauftritt des führenden SPD-Politikers Erhard Eppler zu verhindern und Bundestagsabgeordneten seiner Partei die Teilnahme an der Demonstration zu verbieten. Zwei Wochen vor dem 10. Oktober waren in Amsterdam bereits 450.000 Menschen gegen die atomare Rüstung auf die Straße gegangen. In den folgenden Wochen demonstrierten Hundertausende in den Hauptstädten der anderen drei vorgesehenen Stationierungsländer der atomaren Cruise Missiles, London, Rom und Brüssel, wie auch in den Hauptstädten anderer NATO-Staaten. In der DDR wagten sich unter dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen« kirchliche Friedensgruppen nun stärker in die Öffentlichkeit und forderten den Abzug der in der DDR und anderen Ostblockstaaten stationierten sowjetischen Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21 und SS-23.

In der Regierungspartei SPD setzten sich unter dem Einfluss der Friedensbewegung immer mehr Teilgliederungen, wie die Jungsozialisten, Ortsvereine, Unterbezirke und ganze Landesverbände, von der Linie ihres Kanzlers ab und forderten ein »Nein« der Partei zur Stationierung der neuen Atomraketen. Dieser Prozess verstärkte sich noch, nachdem im Frühjahr 1982 infolge des Seitenwechsels der FDP und dem daraus folgenden Ende der SPD/FDP-Koalition Helmut Kohl (CDU) Kanzler wurde und die SPD in die Opposition ging. Kurz nach Kohls Amtsantritt demonstrierten im Juni 1982 beim NATO-Gipfel in Bonn knapp eine halbe Million Menschen gegen die geplante atomare Aufrüstung. Scheinbar unbeirrt hielt Kohl an den Plänen fest und versicherte, er werde den inzwischen für Ende 1983 vorgesehenen Beginn der Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles in der BRD durchsetzen. Wie groß die Ablehnung in der Bevölkerung war, zeigte im August 1982 eine vom ZDF-Politbarometer in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage: 75 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Stationierung der neuen Atomwaffen aus, mit Mehrheiten unter den Wähler*innen aller Parteien und in allen Altersgruppen. Das Kanzleramt drängte das ZDF, diese Umfrageergebnisse nicht zu veröffentlichen, doch sie wurden dem Autor zugespielt und vom Bonner Koordinationskreis der Friedensbewegung veröffentlicht.

Am 22. Oktober 1983 kam es mit großen Demonstrationen in Bonn, Hamburg und Berlin sowie der 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einem letzten Höhepunkt der Friedensbewegung. Auf der Bonner Kundgebung bekräftigte der SPD-Vorsitzende, Friedensnobelpreisträger und Ex-Bundeskanzler Willy Brandt das »Nein« seiner Partei zur Stationierung, das die SPD inzwischen auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte.

Vier Wochen später stimmte der Bundestag dennoch mit der Mehrheit der CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition für die Stationierung der neuen Atomraketen, die wenig später begann. An den Stationierungsorten Mutlangen, Neu-Ulm, Neckarsulm und Heilbronn demonstrierten in den folgenden Jahren zehntausende Friedensbewegte und blockierten gewaltfrei die Eingänge der US-amerikanischen Militärgelände. Viele Hunderte wurden angeklagt und von den zuständigen Amtsgerichten gemäß § 240 des Strafgesetzbuches wegen Nötigung verurteilt. Jahre später urteilte das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass gewaltfreie Blockaden nicht den Straftatbestand der Nötigung erfüllen.

INF-Verhandlungen in Genf

Die Sowjetunion war anfangs nur nach einer Rücknahme des »Doppelbeschlusses« zu Verhandlungen mit der NATO bereit, ließ sich im Oktober/November 1980 aber doch auf »Vorgespräche« mit den USA in Genf ein. Ab November 1981 verhandelten dann beide Seiten offiziell in Genf. Zunächst unterbreiteten sie nur Vorschläge, die auf eine Reduzierung und zahlenmäßige Obergrenze von Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite in Europa zielten. Einer der Hauptstreitpunkte war Moskaus Forderung, bei einem künftigen Gleichgewicht auf niederem Niveau auch die britischen und französischen Atomwaffen dieser Kategorie mit anzurechnen. Diese Forderung lehnten die USA und die NATO stets kategorisch ab.

Im November 1982 wurden die Genfer Verhandlungen ergebnislos unterbrochen. Und nach Beginn der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles ab Ende 1983 gab es zunächst keine Aussicht auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Doch nach der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU im Frühjahr 1985 kehrte die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zurück und zeigte sich bereit zu einem vollständigen Verbot von atomaren Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite. Eine entsprechende Verständigung wurde zwischen Washington und Moskau nach zwei Gipfeltreffen mit Gorbatschow und Reagan bereits im Frühjahr 1987 erreicht. Doch dann gab es Widerstand aus Deutschland: Die Sowjetunion verlangte, dass auch die bei Einheiten der Bundeswehr stationierten 72 atomaren Pershing-1A-Raketen der USA mit einer Reichweite von gut 700 Kilometer unter die geplante »doppelte Nulllösung« fallen müssten. Doch Teile von CDU/CSU sprachen sich gegen die Einbeziehung dieser Raketen in den Vertrag aus. FDP, Grüne und SPD waren für ihre Abrüstung. Im Sommer 1987 beendete Bundeskanzler Helmut Kohl unter deutlichem Druck aus Washington den Streit und stimmte dem Abzug der Pershing-1A-Raketen zu. Die Zustimmung erfolgte einseitig durch die Bundesrepublik und wurde nicht in den INF-Vertrag aufgenommen. So war der Weg frei für die Vertragsunterzeichnung am 8. Dezember 1987.

Die USA zerstörten vertragsgemäß 846, die Sowjetunion insgesamt 1.846 Raketen. Die letzte Rakete wurde im Mai 1991 demontiert.

Die Inspektionsrechte aus dem INF-Vertrag endeten am 31. Mai 2001. An diesem Datum galt der Vertrag auch als vollständig umgesetzt.

Der Vertrag gilt zwar zeitlich unbegrenzt, allerdings hat jede Vertragspartei das Recht, ihn mit sechs Monate Frist aufzukündigen, wenn „außerordentliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Vertrages ihre übergeordneten Interessen beinträchtigen“.

Eine Kündigung ist bislang zwar nicht erfolgt, doch ist der INF-Vertrag zunehmend gefährdet.

Der INF-Vertrag ist in Gefahr

Bereits im Februar 2007 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, der Vertrag diene angesichts der von den USA beabsichtigten Aufstellung von Komponenten eines bodengestützten Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen den russischen Sicherheitsinteressen nicht mehr. Die amerikanischen Pläne gefährdeten die strategische Stabilität, was, wie der Chef des Generalstabs der russischen Streitkräfte wenige Tage später ausführte, „geeignete Gegenmaßnahmen“ erforderlich mache.

Im Juli 2014 erhob das Außenministerium der USA öffentlich den Vorwurf, Russland habe mehrfach Mittelstreckenraketen getestet und damit gegen den Vertrag verstoßen. Um welchen Typ eines bodengestützten Marschflugkörpers es sich gehandelt habe – nur diese sind unter dem INF-Vertrag verboten –, wurde offiziell nicht bekanntgegeben. Medienberichten zufolge handelt es sich um Iskander-K R500. Dieser Typ wurde erstmals 2007 getestet, seine maximale Reichweite ist nicht bekannt, und in den vergangenen Jahren wurde von den USA auch keine Vertragsverletzung geltend gemacht.

Bei Gesprächen einer US-Delegation in Moskau Anfang September 2014 wies Russland die Vorwürfe Washingtons zurück. Hingegen hätten die USA in drei Punkten gegen den INF-Vertrag verstoßen: Für Raketenabwehrtests würden die USA Raketen benutzen, die Mittelstreckenraketen ähnelten. Auch die Verwendung von Angriffsdrohnen sei ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, weil sie zu 100 Prozent mit bodengestützten Marschflugkörpern“ übereinstimmten. Darüber hinaus ist Moskau beunruhigt über die Entwicklung der landgestützten Variante des US-Raketenabwehrsystems Aegis Ashore mit der Senkrechtstartanlage »MK 41 Vertical Launching System«, die 2015 in Rumänien stationiert wurde und 2018 in Polen eingeführt werden soll. Von diesen Anlagen könnten außer Abwehrraketen auch Cruise Missiles des Typs Tomahawk und damit vom INF-Vertrag verbotene Waffen gestartet werden.

Amerikanische Regierungsvertreter äußerten im Februar 2017 die Überzeugung, Russland habe den Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur testete und produzierte, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffe, von den USA als SSC-8 bezeichnet, soll von Startvorrichtungen auf Lastwagen eingesetzt werden können, die sehr den Fahrzeugen ähneln, die von russischen Truppen für die SS-26-Iskander-Atomrakete benutzt werden. Eine der Einheiten mit dem neuen Raketentyp stehe nach US-Angaben noch beim Raketenerprobungszentrum Kapustin Jar, während die andere bereits abgerückt sei.

In Washington und auch in der NATO wird als Antwort auf die behauptete Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau inzwischen über eine westliche »Nachrüstung« mit dieser verbotenen Waffenkategorie diskutiert. Ob sich die Geschichte des Mittelstrecken-Wettrüstens an dieser Stelle einfach wiederholt?

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen im deutschsprachigem Raum sowie Autor mehrerer Bücher zu den Vereinten Nationen und zu internationalen Konflikten. Er ist Mitglied im Beirat von W&F. Zur Zeit der »Nachrüstung« war er friedenspolitischer Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, in deren Auftrag er die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981 organisierte, und danach bis 1987 einer der Sprecher des in Folge dieser Demonstration gegründeten Bonner Koodinationsausschusses der Friedensbewegung.

Nobelpreis gegen Doppelmoral

Nobelpreis gegen Doppelmoral

von Jürgen Nieth

Friedensnobelpreisträger 2017 ist ICAN, die vor zehn Jahren gegründete Anti-Atomwaffen-Initiative »International Campaign to Abolish Nuclear Weapons«. In ihr arbeiten über 450 Friedensgruppen aus über 100 Ländern zusammen. Im Juli 2017 wurde der von ICAN initiierte Verbotsvertrag, der u.a. Herstellung, Besitz, Einsatz und Lagerung von Atomwaffen verbietet, in New York von 122 Ländern beschlossen. Nicht dabei waren die Atommächte und die NATO-Staaten, unter ihnen auch Deutschland. „Vorbild für Ican waren andere Abrüstungsverträge: Zum Beispiel das internationale Übereinkommen zum Verbot von Landminen oder die Verträge zum Verbot von Streumunition oder chemischen Waffen.“ (Spiegel Online, 6.10.17)

Atomare Gefahr gewachsen

In der Begründung zur Preisvergabe sagte die Komitee-Vorsitzende, Berit Reiss-Abderson, die Organisation werde für „ihre bahnbrechenden Bemühungen“ gewürdigt, ein Verbot nuklearer Waffen zu erreichen. ICAN mache auf die „katastrophalen humanitären Folgen jeden Gebrauchs von Atomwaffen“ aufmerksam, und „Wir leben in einer Welt, in der die Gefahr, dass Nuklearwaffen eingesetzt werden, größer ist, als es lange war.“ (BZ, 7.10.17) Das Nobelpreiskomitee weist weiter darauf hin: „Einige Staaten modernisieren ihre Arsenale, und es besteht die realistische Gefahr, dass weitere Länder auf nukleare Waffen setzen, wie beispielsweise Nordkorea.“ Es fordert die Atommächte auf, „ernsthafte Verhandlungen“ über die Vernichtung von rund 15.000 Atomwaffen in aller Welt zu starten (Handelsblatt online).

Laut FAZ (7.10.17) „pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass angesichts der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel das Nobelkomitee in diesem Jahr jemanden auszeichnen könnte, der sich für atomare Abrüstung stark macht“. Und die BZ (7.10.17) sieht in der Preisvergabe „eine Ohrfeige für die Waffennarren von Washington bis Pjöngjang“.

Für Spiegel Online ist der Friedensnobelpreis 2017 „vielleicht auch der Versuch, einen Fehler zu korrigieren. Vor acht Jahren hat das Nobelkomitee die Auszeichnung an Barak Obama vergeben – und dies in erster Linie mit dessen Vision einer Welt ohne Atomwaffen begründet. Was der US-Präsident […] anschließend tat, war jedoch deutlich weniger idealistisch als seine berühmte Prager Rede von 2009. Jetzt also hat das Nobelkomitee den Friedenspreis an echte Idealisten verliehen.“

Pro und contra

Als Gegner der Nobelpreisvergabe zeigt sich Josef Joffe in der ZEIT (12.10.17): „»Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter« – diese grausame Wahrheit, die ebenfalls jeder kennt, hat der Welt den längsten Frieden aller Zeiten beschert. Unterstellen wir, die Verschrottung [der Atomwaffen] gelänge. Die Welt würde nicht sicherer werden. Das Tabu wäre weg, das Risiko konventioneller Kriege würde hochschießen.“ Kein Wort dazu , wie oft wir in den Jahren des Kalten Krieges an der Schwelle eines alles vernichtenden Atomkrieges gestanden haben und wie viele verheerende konventionelle Kriege es in den letzten 70 Jahren gab – von Korea über Vietnam, Balkan, Irak, Afghanistan bis Syrien, um nur die größten zu nennen?

Auch für Torsten Kraul (Welt, 7.10.17) gibt es „Für die Atomwaffe […] gute Argumente, Kim Jong-un ist eines davon, und zwar ein sehr wirksames – viel wirksamer als ein Nobelpreis an eine Organisation.“

Und für die NZZ (7.10.17) hat sich in den letzten Jahren offensichtlich nichts verändert: „So schön ein für alle verbindlicher Vertrag wäre – dem beschriebenen Szenario ist die gegenwärtige keineswegs perfekte Weltordnung vorzuziehen. Sie gibt einem atomar bewaffneten Amerika die Möglichkeit, als Garant für Sicherheit und Frieden zu wirken, ob in Ostmitteleuropa gegenüber Russland, in der Golfregion gegenüber Iran oder in Ostasien gegenüber Nordkorea.“ Die »keineswegs perfekte Weltordnung« ist für Spiegel Online immerhin Anlass, von der Gefahr zu sprechen, „dass ein ahnungs- und verantwortungsloser US-Präsident namens Donald Trump die Welt in einen Atomkrieg mit Nordkorea twittert“.

Ähnlich sieht das die SZ (7.10.17): „Die eigentliche Nachricht ist, dass der amerikanische Präsident just im gleichen Augenblick den einzigen Weg zur Eindämmung der nuklearen Gefahr zertrampelt und zerstört. Der Hüter eines der größten Nuklearpotenziale auf der Welt ignoriert in einem gefährlichen Moment der Geschichte alle Lehren aus der Vergangenheit und treibt Schindluder mit seiner Macht. Er zerreißt das Nuklearabkommen mit Iran und sendet die verheerende Botschaft in die Welt: Der Präsident im Weißen Haus selbst ist der irrationale Akteur, er ist der Hasardeur, vor dem es sich zu schützen gilt.“

Spagat der Bundesregierung

„Warum unterschreibt die Bundesregierung nicht das Verbot von Atomwaffen, auf das sich 122 andere Staaten im Sommer geeinigt haben?“, fragt die FAS (8.10.17) und zeigt Verständnis: „Das hat mit Gründen zu tun, die das Friedensnobelpreiskomitee traditionell gering schätzt, ohne die es aber keinen Frieden gäbe: Sicherheit, Verantwortung, Realismus.“ Kein Verständnis zeigt dafür Bernd Pickert. Er schreibt in der taz (7.10.17): „Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hatte Deutschland die Verhandlungen eines internationalen Abrüstungsvertrages boykottiert. Den 1997 verabschiedeten Ottawa-Vertrag zur Ächtung von Landminen – ebenfalls eine aus der globalen Zivilgesellschaft entstandene Initiative und klares Vorbild von Ican – hatte Deutschland noch im selben Jahr unterzeichnet und schnell ratifiziert.“

Auch Damir Fras zieht in der BZ (7.10.17) eine kritische Bilanz: Die Bundesregierung vollführte „einen besonders breiten Spagat […] Sie gratulierte den Preisträgern am Freitag und erklärte, Deutschland unterstütze das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Zugleich aber sagte eine Regierungssprecherin, die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung bestehe fort, solange es Staaten gäbe, die Atomwaffen als militärisches Mittel ansähen. Eine konsequente Haltung zu einer existenziellen Bedrohung der Menschheit sieht anders aus. Der Ausdruck Doppelmoral passt an dieser Stelle ganz gut.“

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt-online, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Welt, Die ZEIT

Wohin, nach dem Friedensnobelpreis ?

Wohin, nach dem Friedensnobelpreis ?

von Sascha Hach

Am 6. Oktober 2017 gab das Nobel-Komitee in Oslo bekannt, dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) verliehen wird. ICAN soll die Auszeichnung erhalten „für die Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen um ein vertragliches Verbot solcher Waffen“.

Doch was genau ist so bahnbrechend am Engagement von ICAN, und in welche Richtung weist uns die Anerkennung durch den Friedensnobelpreis an den vor uns liegenden Weggabelungen, die bekanntlich noch weit von einer atomwaffenfreien Welt entfernt sind?

Es liegt nahe, sich zuerst anzuschauen, auf welchen Wegen der bisher größte Erfolg der Kampagne zustande gekommen ist: Am 7. Juli dieses Jahres wurde von 122 Staaten bei den Vereinten Nationen ein Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beschlossen und in kürzester Zeit bereits von über 50 Staaten unterzeichnet, ein Meilenstein in der Geschichte der nuklearen Abrüstung. Nach den Verboten von Bio- und Chemiewaffen wird durch den Verbotsvertrag eine völkerrechtliche Lücke geschlossen und auch die zerstörerischste Massenvernichtungswaffe geächtet.

Das Besondere an seinem Zustandekommen ist zum einen, dass die Verhandlungen nicht aus nationalstaatlichen Sicherheitsinteressen initiiert, sondern maßgeblich von der Zivilgesellschaft und aus der Sorge über die katastrophalen humanitären Auswirkungen von Atomwaffen angestoßen wurden. Das zivilgesellschaftliche Bündnis zog seine Wirkungskraft aus einem alle Kontinente umspannenden Netzwerk mit besonders heterogener und breit gefächerter Mitgliederstruktur. Die Konzentration auf das Wesentliche und Pragmatismus haben also die Kompassnadel mitbestimmt.

Zum anderen ist der mit dem Atomwaffenverbot eingeleitete Wandel in der globalen Nuklearpolitik nicht auf die Transformationskraft westlicher Demokratien und den gesellschaftlichen Druck auf die dortigen Regierungen zurückzuführen. Vielmehr ist er das Ergebnis einer nie dagewesenen Rebellion der nuklearen Habenichtse gegen die Atommächte, ein Aufbegehren des Globalen Südens gegen den nuklearen Status quo. Die Mehrheit der Staatengemeinschaft hat sich dagegen mit dem stärksten ihnen zur Verfügung stehenden Mittel gewehrt: dem Völkerrecht.

Somit kann der hinter dem Atomwaffenverbot stehende Zusammenschluss auch Ausgangspunkt sein für eine weitergehende Emanzipation von einer Weltordnungspolitik, die in großen Teilen noch immer auf der Drohung mit Atomwaffen basiert. Dass ein Vertrag mit solch weitreichendem geopolitischem Potential trotz massiver Einschüchterungsversuche durch die USA, Russland und wichtige NATO-Mitgliedsstaaten beschlossen wurde, zeugt von der Willenskraft und Courage seiner Unterstützer*innen. Es braucht also Vereinigung, Mut und die Bereitschaft zur Abnabelung auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt.

Werfen wir nun einen Blick auf Deutschland, denn sowohl als Wissenschaftler*innen wie als zivilgesellschaftliche Akteur*innen tragen wir zunächst Verantwortung, uns in die eigenen gesellschaftlichen Diskussionen einzumischen. Die Bundesrepublik hat erstmals in ihrer Geschichte die Teilnahme an multilateralen Abrüstungsverhandlungen verweigert und steht nun in einer zentralen sicherheitspolitischen Frage abseits der Weiterentwicklung des Völkerrechts. Dies stellt eine Abkehr von grundlegenden und historischen Orientierungen der deutschen Außenpolitik dar.

Begründet hat die Bundesregierung diese Entscheidung unter anderem damit, dass die Atommächte nicht an den Verhandlungen teilnähmen und der Verbotsvertrag allein nicht die Abrüstung eines einzelnen Atomsprengkopfes bewirke. Das ist richtig. Der Vertrag wird seine Wirkung mittelbar und langfristig entfalten – vor allem durch einen Paradigmenwechsel in der globalen Sicherheitspolitik. Er verschiebt den Diskurs weg von der abstrakten Logik der gegenseitigen Auslöschung und Abschreckung hin zu einer Auseinandersetzung mit den konkreten Folgen, die diese Doktrin nach sich ziehen kann: die inakzeptablen und katastrophalen Auswirkungen, die Atomwaffen für unseren Planeten und die Menschheit haben.

Deutschland läuft Gefahr, sich auf einen gefährlichen Holzweg zu begeben. Um auf die richtige Spur zu kommen, muss sich die deutsche Atomwaffenpolitik neu ausrichten. Sie sollte sich dabei auf das Wesentliche konzentrieren, die humanitären Auswirkungen, und anschlussfähig für neue Bündnisse sein. Sie braucht vor allem mehr Mut zu Abrüstung und könnte diesen mit der Forderung nach dem Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel beweisen.

Sascha Hach hat Friedensforschung und internationale Politik in Tübingen studiert und ist Mitgründer und Mitglied im geschäftsführenden Vorstand von ICAN in Deutschland.

Atomwaffenverbot

Atomwaffenverbot

Chance für die nukleare Abrüstung

von Jürgen Scheffran

Am 7. Juli 2017 vereinbarte in New York die Mehrheit aller Staaten einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, mit breiter Unterstüt­zung der Zivilgesellschaft. Nach Jahrzehnten der Aufrüstung und geringer Fortschritte bei der Abrüstung haben große Teile der internationalen Staatengemeinschaft deutlich gemacht, dass sie den Son­derstatus der Atommächte nicht länger hinnehmen wollen. Viele sehen in dem Vertrag einen Durchbruch, da er nach dem Verbot von Bio- und Chemiewaffen mit den Atomwaffen nun auch die letzten Massenvernichtungswaffen verbietet. Allerdings lässt der Vertrag den Abrüstungsprozess in die atomwaffenfreie Welt offen, und die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten sind bislang nicht beteiligt.

Dieses Abkommen ist der Erfolg einer langjährigen Bewegung, die sich seit Ende des Kalten Krieges für die Ächtung und Abschaffung der Atomwaffen eingesetzt hat. Anfang der 1990er Jahre erschienen die politischen Bedingungen für die nukleare Abrüstung günstig. Der Kalte Krieg war zu Ende, die gewaltigen Atomwaffenarsenale schienen obsolet, die Hoffnungen auf eine Rüstungskonversion waren groß. Der Ruf nach einer atomwaffenfreien Welt bestimmte zunehmend die internationalen Debatten.

In dieser Situation fielen Aktionen der Zivilgesellschaft auf fruchtbaren Boden. Zu den frühen Aktivitäten gehörte das World Court Project, die erfolgreiche Kampagne für ein Rechtsgutachten über die Legalität des Einsatzes von oder der Drohung mit Atomwaffen durch den Internationalen Gerichtshof (IGH). Entsprechend erklärte der IGH 1996, die Atomwaffendrohung sei generell mit dem Völkerrecht unvereinbar und nach gültigem Völkerrecht bestehe eine Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung.1

Neben verschiedenen Nichtregierungsorganisationen spielten auch Wissenschaftler*innen eine wichtige Rolle. Zu nennen ist hier besonders Joseph Rotblat, der 1944 aus dem Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe ausgestiegen war, 1955 das Russell-Einstein-Manifest unterschrieben und 1957 die Pugwash-Bewegung mitbegründet hatte. In einem 1993 mitherausgegebenen Buch2 legte er eine wissenschaftliche Grundlage für die atomwaffenfreie Welt und erhielt 1995 zusammen mit Pugwash den Friedensnobelpreis.

Rotblat arbeitete auch mit dem 1993 von der Darmstädter Forschungsgruppe IANUS initiierten International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) zusammen. Im gleichen Jahr wurde von mehreren Nichtregierungsorganisationen die International Coalition for Nuclear Nonproliferation and Disarmament ins Leben gerufen, die in ihrem Gründungsdokument Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen vorschlägt.3 INESAP koordinierte eine Studiengruppe für die nuklearwaffenfreie Welt mit mehr als 50 Wissenschaftler*innen aus 17 Ländern, die eine Nuklearwaffenkonvention (NWK) für das Verbot und die Abschaffung aller Atomwaffen vorschlug.4 Die Ergebnisse wurden im April 1995 während eines Symposiums bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) vorgestellt.5

Hier wurde auch das globale Netzwerk Abolition 2000 gegründet, das Verhandlungen über eine NWK und Schritte in eine atomwaffenfreie Welt fordert. Eine Expertengruppe erarbeitete einen Modellentwurf für eine NWK, der im April 1997 bei der NVV-Konferenz in New York veröffentlicht und im selben Jahr von Costa Rica den Vereinten Nationen vorgelegt wurde. Auch andere Staaten schlossen sich dieser Initiative an. So wurde 1996 eine Resolution in die UN-Generalversammlung eingebracht, die die vom IGH festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung mit der Forderung nach multilateralen Verhandlungen über eine NWK verband.

Weitere Fortschritte wurden blockiert in den schwierigen Zeiten der Bush-Administration in den USA, die geprägt waren durch Aufrüstung auf allen Ebenen, allen voran mit Raketenabwehr und Weltraumwaffen, die sich mit dem Irakkrieg und den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu einer globalen Gewaltspirale verknüpften, während die Abrüstungsbestrebungen einen Tiefpunkt erreichten.

Dennoch gab es auch positive Signale für die nukleare Abrüstung. So blieb die öffentliche Einstellung gegenüber Atomwaffen weltweit negativ, Umfragen ergaben eine große Unterstützung für ein Atomwaffenverbot. In mehreren Ländern unterstützten »elder statesmen« die atomwaffenfreie Welt, was der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama 2009 aufgriff. Es bildeten sich neue Bewegungen, wie die 2007 gegründete International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die mit breitenwirksamen Aktivitäten viele jüngere Menschen mobilisierte.6 In dieser Situation wurde auch der NWK-Modellentwurf überarbeitet und bei der NVV-Konferenz 2007 in Wien veröffentlicht.7

Diese Aktivitäten fanden erneut ihren Niederschlag auf Staatenebene. Auch weiterhin unterstützte eine große Mehrheit UN-Resolutionen für die Aufnahme multilateraler Verhandlungen für den baldigen Abschluss einer NWK. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon stellte im Oktober 2008 einen Fünf-Punkte-Plan für nukleare Abrüstung vor, mit dem Ziel von Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention oder einer Rahmenvereinbarung von separaten, aber miteinander abgestimmten Instrumenten.8

Eine neue Dynamik entstand seit 2010 durch eine engere Zusammenarbeit zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft über die humanitären Dimensionen von Atomwaffen und den Vorschlag, nicht eine umfassende NWK, sondern ein einfacheres Atomwaffenverbot auszuhandeln, zur Not auch gegen die Atomwaffenstaaten. 2012 richtete die UN-Generalversammlung eine offene Arbeitsgruppe für multilaterale nukleare Abrüstungsverhandlungen ein, die 2015 erneuert wurde. Am 23. Dezember 2016 beschloss die UN-Generalversammlung, im Jahr 2017 eine Konferenz abzuhalten mit dem Ziel, einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu verhandeln.

Dann ging alles sehr schnell. Nach der ersten Verhandlungsrunde im März 2017 wurde am 22. Mai ein Vertragsentwurf vorgelegt. In der zweiten Verhandlungsrunde im Juni und Juli 2017 wurde der Vertrag in Rekordzeit fertig gestellt und am 7. Juli 2017 in New York mit großer Mehrheit angenommen.9 122 Staaten stimmten dem Vertrag zu, überwiegend Länder des Globalen Südens, darunter sechs G20-Mitgliedsländer (Argentinien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, Saudi-­Arabien und Südafrika), aber auch die westlich geprägten Staaten Irland, Liechtenstein, Malta, Moldawien, Neuseeland, Österreich, San Marino, die Schweiz und der Vatikan. Die Niederlande stimmten dagegen, Singapur enthielt sich, nicht beteiligt waren alle Atomwaffenstaaten, die NATO-Verbündeten (mit Ausnahme der Niederlande) und Staaten unter dem Schutzschirm der USA (z.B. Japan, Südkorea, Australien). Die hier zum Ausdruck kommende Koalition von Staaten ist bemerkenswert, ebenso die starke Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Worum geht es in dem Abkommen?

Der Verbotsvertrag wurde vielfach als Durchbruch für die Ächtung und Stigmatisierung von Atomwaffen gefeiert. Das Regelwerk sollte einfach und flexibel sein, auf zukünftige Herausforderungen reagieren und den Geltungsbereich schrittweise erweitern. Es soll den Druck auf die Atomwaffenstaaten erhöhen, ihre Abschreckungspolitik aufzugeben und abzurüsten.

Das Abkommen verbietet neben Herstellung, Einsatz, Besitz und Transfer die Einsatzandrohung sowie die Stationierung von Atomwaffen eines anderen Staates im eigenen Hoheitsgebiet. Darüber hinaus werden die Voraussetzungen geschaffen, um künftig auch Atomwaffenstaaten einzubinden, mit Regelungen über deren Beitritt und ihre Abrüstungsverpflichtungen auf Null.

Neben den Verbotsvorschriften werden in dem Abkommen auch die Rahmenbedingungen für ein Kontroll- und Verifikationsregime festgelegt. Diese basieren auf Sicherungsvorkehrungen (Safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) gegen die militärische Nutzung der Kernenergie in Nicht-Atomwaffenstaaten, die auf Atomwaffenstaaten ausgeweitet werden können. Bemerkenswert ist, dass in dem Abkommen auch der bessere Schutz der Opfer von Atomwaffeneinsätzen und -tests angesprochen wird, mit konkreten Auflagen zu Opferhilfen und Umweltrehabilitation. Weitere Bestimmungen betreffen die Präambel, Meldepflichten, Kosten, internationale Konferenzen und mögliche Behörden, Streitschlichtung und Inkrafttreten (siehe die Zusammenstellung auf S. 48).

Die Unterzeichnung des Vertrages ist bei der UN-Vollversammlung ab dem 20. September 2017 vorgesehen. Der Vertrag tritt 90 Tage, nachdem er durch 50 Staaten ratifiziert wurde, in Kraft. Auch wenn nur ein Teil der Staaten dem Vertrag bislang zugestimmt hat, ist er offen für weitere Staaten. Was fehlt sind Einschränkungen der Finanzierung von Atomwaffen und konkrete Abrüstungs- und Verifizierungsmaßnahmen, einschließlich des Schutzes von Whistleblower, die Vertragsverstöße melden.

Nukleares Wettrüsten und multiple Krisen

Wie schon vor zwei Jahrzehnten wird das Atomwaffenverbot auch jetzt durch etwa zwei Drittel aller Staaten unterstützt, allerdings ist keiner der Staaten am Verbotsvertrag beteiligt, die weiter auf nukleare Abschreckung setzen. Es gibt immer noch rund 15.000 Atomwaffen, und es ist möglich, dass auf absehbare Zeit durch das Atomwaffenverbot keine einzige Atomwaffe abgerüstet wird. Im Gegenteil ist nicht auszuschließen, dass sie in Krisen, Kriegen, Terroranschlägen oder aus Versehen zum Einsatz kommen. Auch nachdem der Verbotsvertrag in Kraft tritt, kann die Explosion einer Atomwaffe eine Großstadt auslöschen und hunderttausende Menschen töten, eine Region durch radioaktiven Fallout verseuchen und durch einen elektromagnetischen Puls elektronische Geräte großflächig ausschalten. Wenn nur ein Bruchteil aller Atomwaffen zum Einsatz kommt, könnte ein globaler nuklearer Winter das Klima, die Nahrungsmittelproduktion und die Existenzgrundlage der Menschheit zerstören. Und auch ohne Atomkrieg bestehen große Risiken für Gesundheit und Umwelt durch die Atomwaffenentwicklung, die enge Verflechtung von ziviler und militärischer Atomenergie und die Verbreitung von Uran und Plutonium.10

Dabei waren die fünf etablierten Atomwaffenstaaten auch schon vor dem Verbotsvertrag aufgrund des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und dem IGH-Rechtsgutachten verpflichtet, das nukleare Wettrüsten zu beenden und ihre Atomwaffen abzurüsten. Stattdessen forcieren sie es noch durch eine Aufrüstung ihrer Atomwaffen, verknüpft mit der Rüstungsdynamik zwischen Raketen, Raketenabwehr, Weltraumrüstung, Cyberwar, konventioneller Rüstung und Kleinwaffen. In einer hochexplosiven Weltlage gießen sie Öl ins Feuer und heizen Krisen und Konflikte an, besonders in Nahost, Südasien und Ostasien sowie im neuen Ost-West-Konflikt zwischen Russland und dem Westen.

Eine erhebliche Verantwortung für diese Entwicklung tragen die NATO-Staaten, die sich hinter der hochgerüsteten Nuklearmacht USA versammeln. Die NATO bleibt eine Institution aus der Hochzeit des Kalten Krieges, die maßgeblich zur heutigen vertrackten Weltlage beigetragen und die großen Chancen nach Ende des Kalten Krieges blockiert hat. Während US-Präsident Donald Trump danach strebt, das US-Atomwaffenarsenal zu vergrößern, und Abrüstung in Frage stellt, halten die NATO-Verbündeten an der nuklearen Abschreckung fest und folgen seiner Aufforderung, ihre eigenen Rüstungsprogramme auszubauen.

Auch die deutsche Bundesregierung setzt in enger Bündnistreue weiter auf nukleare Abschreckung und besteht auf der »nuklearen Teilhabe« durch die US-Atombomben auf der Bundeswehr-Basis Büchel in der Eifel. In bestimmten Kreisen wird gar ein eigener nuklearer Zugriff Deutschlands in die Debatte geworfen, was dem deutschen Status als Nicht-Atomwaffenstaat im NVV widerspricht. Dass die Bundesregierung zusammen mit den Atomwaffenstaaten die Verhandlungen über das Atomwaffenverbot boykottierte, ist enttäuschend, auch dass die Massenmedien das Ereignis weitgehend ignorierten. Damit haben die meisten europäischen Regierungen eine Chance verspielt, Europa als Friedensmacht zu profilieren.

So verstärkt die EU noch ihre Abwärtsspirale, zwischen Trump und Putin, zwischen Brexit und Flüchtlingskrise, zwischen Wirtschafts- und Klimakrise. Während die USA als unumschränkte Supermacht, die NATO als dominierendes Militärbündnis und der Westen als wirtschaftliches und politisches Erfolgsmodell unter Druck geraten, demonstriert der lange vernachlässigte Globale Süden mit seinem Aufstand gegen die Atommächte, dass er mitreden will, gerade bei der Atomwaffenfrage. Es zeigt sich, dass die Vereinten Nationen in wichtigen Fragen handlungsfähig sind, Völkerrecht schaffen und neue Koalitionen sich gegen den dominierenden Machtblock durchsetzen können.

Hier deuten sich globale Machtverschiebungen und Lösungen an, die auf die Herausforderungen multipler Krisen durch multilaterale Zusammenarbeit reagieren. Das Pariser Klimaabkommen wie auch das Atomwaffenverbot sind wichtige Bausteine einer Welt ohne Atomwaffen und CO2-Emissionen, die durch Kooperation, Institutionen, die Stärke des Rechts und die Einbindung der Zivilgesellschaft geprägt ist.11

Bezeichnenderweise erfolgten die Verhandlungen über das Atomwaffenverbot unter der Präsidentschaft von Costa Rica, einem Entwicklungsland mit vergleichsweise hohem Wohlstand, sozialpolitischen Maßnahmen und einer stabilen Demokratie, das keine Armee hat, fast seinen gesamten Strombedarf aus erneuerbaren Quellen deckt, den Ökotourismus fördert und rund ein Viertel der Landesfläche unter Naturschutz gestellt hat.12

Nukleare Abrüstung nach dem Verbotsvertrag

Wie weiter nach dem Verbotvertrag? Es ist klar, dass sich die atomwaffenfreie Welt ohne eine Mitwirkung der Nuklearwaffenstaaten nicht erreichen lässt. Der neue Vertrag schafft zwar in den Unterzeichnerländern bindendes Völkerrecht und verknüpft die atomwaffenfreien Zonen der Erde innerhalb eines Abkommens. Dies hat eine wichtige symbolische Bedeutung und gibt der Bewegung gegen Atomwaffen die Chance, bei jeder Gelegenheit auf die umfassende Implementierung zu drängen. Solange die Atomwaffenstaaten dieses Abkommen nicht anerkennen, sind sie daran jedoch nicht gebunden. Eine dominante Rolle spielen hier die USA und Russland, wobei andere Staaten wie Indien oder China sich zwar im Club der Atommächte wohl fühlen, aber Abrüstungsverhandlungen nicht ausschließen, wenn die anderen mitmachen.

Um eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen, könnte das Atomwaffenverbot in weitere Rahmenverhandlungen für nukleare Abrüstung eingebettet werden, in denen das umfassende Ziel einer NWK mit weiteren konkreten Schritten verbunden wird.13 Ein solches Konzept wurde bereits vor 20 Jahren angedacht und könnte nun weiter umgesetzt werden, damit das Verbot von Atomwaffen durch ihre vollständige Beseitigung ergänzt werden kann. Tatsächlich konnte mit der Aushandlung des Atomwaffenverbots ein wesentliches Element einer NWK realisiert werden, und einige Elemente des Verbotsvertrages finden sich bereits in der von Costa Rica unterstützten Modell-NWK von 1997. Diese bietet viele Anregungen für weitere Schritte zur atomwaffenfreien Welt, die in einer umfassenden NWK zusammengeführt werden könnten, unter Mitwirkung der bislang nicht beteiligten Staaten.

Anmerkungen

1) Advisory Opinion of the International Court of Justice, 8 July 1996, General List No. 95: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons.

2) Rotblat, J.; Steinberger, J.; Udgaonkar, B. (eds.) (1993): A Nuclear-weapon-free World – Desirable? Feasible? Boulder/Colorado: Westview Press.

3) Zum Gründungsdokument von IALANA, INES/INESAP, IPB, IPPNW siehe Liebert, W. und Scheffran, J. (eds.) (1995): Against Proliferation – Towards General Disarmament. Münster: agenda, S. 225-231.

4) INESAP (ed.) (1995): Beyond the NPT – A Nuclear-Weapon-Free World. INESAP Study Group Report, New York/Darmstadt: INESAP.

5) Siehe die Übersicht in: Scheffran, J. (2001): Wege zum Ziel – Studien zur nuklearwaffenfreien Welt. In: Bender, W. und Liebert, W. (Hrsg.) (2001): Wege zu einer nuklearwaffenfreien Welt. Münster: agenda, S. 33-56.
Kalinowski, M. (Hrsg.) (2000): Global Elim­ination of Nuclear Weapons. Baden-Baden: Nomos.

6) icanw.org.

7) Die Modell-NWK ist abgedruckt in:
IPPNW, IALANA, INESAP (1999): Security and Survival – The Case for a Nuclear Weapons Convention. Cambridge, Massachussetts: IPPNW.
IPPNW, IALANA, INESAP (2007): Securing Our Survival – The Case for a Nuclear Weapons Convention. Cambridge, Massachussetts: IPPNW.
Auf deutsch (2000): Sicherheit und Überleben. Berlin: IPPNW Deutschland.

8) United Nations Office for Disarmament Affairs [o.J.]: The Secretary-General’s five point proposal on nuclear disarmament – »The United Nations and security in a nuclear-weapon-free world«.

9) Mehr Details siehe United Nations Office for Disarmament Affairs [o.J.]: Treaty adopted on 7 July 2017 – United Nations Conference to Negotiate a Legally Binding Instrument to Prohibit Nuclear Weapons, Leading Towards their Total Elimination.

10) Scheffran, J.; Burroughs, J.; Leidreiter, A.; vanRiet, R.;Ware, A. (2015): The Climate-Nuclear Nexus. Hamburg: World Future Council..

11) Scheffran, J. (2017) Zwei Welten – G20-Gipfel, Atomwaffenverbot und globale Machtverschiebungen. VDW-Blog »Wissenschaft in der Verantwortung«. 14.7.2017.

12) Siehe dazu den Artikel »Wenn Abrüstung genau das Richtige ist. Die Friedensverfassung von Costa Rica« von L.R.Z. Bolaños auf S. 19 in dieser Ausgabe von W&F.

13) Scheffran J (2010): The Nuclear Weapons Convention as a Process – Umbrella Negotiations as a Framework for a Nuclear-Weapon-Free World. Paper presented at: Middle Powers Initiative, Atlanta, Jan. 20-22, 2010.
Siehe auch: Loretz, J.; Scheffran, J.; Ware, A.; Wright, T. (2010): A Nuclear Weapons Convention – Framework for a Nuclear Weapon Free World. In: Acheson, R. (ed.): Beyond arms control. New York: WILPF, S. 181-187.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er war Mitbegründer von INESAP und Co-Autor der Modell-Nuklearwaffenkonvention.

»Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« vom 7. Juli 2017

Präambel

  • Verantwortung aller Staaten, eine globale humanitäre Katastrophe durch Kernwaffen zu verhindern.
  • Sicherheit, Umweltsanierung, Ernährungssicherheit und Gesundheit für heutige und künftige Generationen.
  • Hilfe für Opfer von Kernwaffen; Auswirkungen auf indigene Völker.
  • Bestehende Abkommen: humanitäres Völkerrecht, Nichtverbreitungsvertrag, Umfassender Teststoppvertrag, kernwaffenfreie Zonen, Verifikation von Nuklearversuchen, Kernenergie für friedliche Zwecke.
  • Zukünftige Perspektiven: allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle; unumkehrbare, verifizierbare und transparente Beseitigung von Kernwaffen; dauerhafter Frieden und nachhaltige Sicherheit; Beteiligung von Frauen und nichtstaatlichen Organisationen; Friedens- und Abrüstungserziehung; Aufklärung über Folgen eines Kernwaffeneinsatzes.

Zentrale Regelungen

  • Umfassendes Verbot, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern, einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen.
  • Verpflichtung, keine Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber weiterzugeben, diese anzunehmen, jemanden dabei zu unterstützen oder ihre Stationierung, Aufstellung oder Dislozierung im eigenen Hoheitsgebiet zu gestatten.
  • Vertragsstaaten im Besitz von Atomwaffen müssen deren Einsatzbereitschaft beenden und sie überprüfbar, zeitlich gebunden, transparent und unumkehrbar vernichten.
  • Keine Unterstützung verbotener Handlungen und keine Beteiligung an Vorbereitungen für Einsatz, Entwicklung oder Herstellung von Atomwaffen.

Implementierung

  • Meldungen über Besitz, Verfügungsgewalt und Kontrolle von Kernwaffen; Beseitigung und Konversion von Kernwaffeneinrichtungen.
  • Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation; umfassendes Sicherungsabkommen.
  • Irreversible Beseitigung und Konversion kernwaffenrelevanter Einrichtungen; Vernichtung von Kernwaffenpotentialen in Vertragsstaaten, mit Zeitplan und Verifizierung.
  • Keine nicht-friedliche Abzweigung gemeldeten Kernmaterials; keine nicht gemeldeten Kernmaterialien oder nuklearen Tätigkeiten.
  • Innerstaatliche Umsetzung, mit Verhängung von Strafen.
  • Recht auf technische, materielle und finanzielle Hilfe anderer Vertragsstaaten.
  • Hilfe für Opfer von Kernwaffeneinsätzen oder -versuchen und Umweltsanierung kontaminierter Gebiete.
  • Kosten für Verifikation, Vernichtung und Umstellung von Kernwaffen-Einrichtungen liegen bei den betreffenden Vertragsstaaten.
  • Änderungen des Vertrags; Beilegung von Streitigkeiten durch Verhandlungen oder andere friedliche Mittel.

Weitere Schritte

  • Der Vertrag wurde mit 122 Ja-Stimmen verabschiedet, liegt ab 20. September 2017 zur Unterzeichnung aus und tritt in Kraft nach Ratifizierung durch fünfzig Staaten.
  • Der Ratifizierungsprozess bietet die Möglichkeit zu Debatten in Parlamenten und die Einbindung in nationale Gesetze mit weiteren Maßnahmen (z.B. Verbot der Finanzierung von Atomwaffen oder Schutz von Whistleblowing).
  • Erstes Treffen der Vertragsstaaten innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages und Folgetreffen alle zwei Jahre.
  • Ermutigung von Nicht-Vertragsstaaten, die Implementierung des Vertrages zu unterstützen und diesem beizutreten.
  • Berichte und Entscheidungen auf Vertragsstaaten- und Überprüfungskonferenzen über Umsetzung und Erweiterung der Verpflichtungen (Zusatzprotokolle).
  • Einrichtung einer internationalen Behörde zur Beseitigung, Konversion und Verifikation von Kernwaffen.

Diese Zusammenstellung basiert auf der deutschen Version des Vertragstextes, siehe un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf. Siehe auch icanw.de/neuigkeiten/faq-zur-­verabschiedung-der-vertrages.

Wissenschaft muss sich öffentlich äußern


Wissenschaft muss sich öffentlich äußern

von Hartmut Graßl

Am 11. April 1957 machten 18 Atomphysiker die »Göttinger Erklärung« öffentlich, und einen Tag später wurde das Memo­ran­dum in den überregionalen Zeitungen »Süddeutsche«, »Frankfurter Allgemeine»« und »Welt« ungekürzt abgedruckt. Die deutsche Bundesregierung zitierte daraufhin Vertreter der »Göttinger 18« nach Bonn und verbat sich die Einmischung der Wissenschaft in die Politik. Anlass für die Erklärung waren extrem verharmlosende Äußerungen des Bundeskanzlers Adenauer zur gewünschten Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, die er als eine „weiterentwickelte Artillerie“ bezeichnet hatte. Da die Erklärung in Akademikerkreisen und in der Öffentlichkeit große und überwiegend positive Resonanz bekam, hatten die »Göttinger 18« wesentlichen Anteil an der Entscheidung der Bundesregierung, auf jegliche Atomwaffen freiwillig zu verzichten. Die Göttinger Erklärung führte im Jahre 1959 auch zur Gründung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Was haben die Wissenschaftler in ihrem Text nach einer Belehrung über die extrem zerstörerische Wirkung von Atomwaffen zentral gefordert? „Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Mit dem letzten Satz verknüpften sie ihre Forderung mit dem eigenen Handeln, und da sie besonders renommierte Atomphysiker waren, wäre die Entwicklung von Atomwaffen in Deutschland nicht nur sehr schwierig, sondern auch nur mit Verzögerung möglich gewesen. Im Rückblick hat es der Bundesrepublik Deutschland seit jetzt 60 Jahren sehr wohl genützt, freiwillig auf die zerstörerischsten aller bisherigen Waffen verzichtet zu haben.

Wie sehr sich die Ansichten auch der Wissenschaftler*innen in den Jahrzehnten seither geändert haben, zeigt der letzte Satz der Göttinger Erklärung: „Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wenn wir Wissenschaftler*innen uns öffentlich äußern, müssen wir also auch immer bedenken, dass sich auf der Basis fortschreitenden Wissens unsere Einschätzungen – vor allem die der Jüngeren – ändern können, so dass jeweils im Dialog mit Öffentlichkeit und Politik frühere Entscheidungen angepasst werden müssen.

Dass eine veränderte Einschätzung oft viel Zeit erfordert, zeigt ein Satz des damaligen Sprechers der »Göttinger 18«, Carl-Friedrich von Weizsäcker, zum Energiebedarf und dessen Gefahren. Zwei Jahrzehnte nach der »Göttinger Erklärung« druckte die »ZEIT« am 8.7.1979 seinen Artikel »Die offene Zukunft der Kernergie«, den er nach einer Expertenanhörung zum Atommülllager Gorleben schrieb. An der Anhörung hatte er als Gesprächsleiter teilgenommen und sich deshalb eigener Meinungsäußerung weitgehend enthalten. Wenn ich mit diesem Aufsatz wieder als Partner in den Dialog eintrete, so versuche ich zur Objektivität dadurch beizutragen, daß ich meine Ansichten als subjektiv, als korrigierbar durch neue Argumente kennzeichne. Der Leser wird wahrnehmen, daß meine heutige Äußerung um eine Nuance distanzierter zur Kernenergie ausfällt als in dem Vortrag vor einem Jahr […].“

Neben dieser selbstkritischen und nachdenklichen Äußerung und diese keineswegs relativierend enthält von Weizsäckers Aufsatz eine weitere bemerkenswerte Aussage: „Aber nach den meines Erachtens besten heutigen geoklimatologischen Schätzungen ist zu vermuten, daß die Kohlendioxyd-Erzeugung in siebzig bis hundert Jahren Klimaänderungen bewirken wird, deren politische Rückwirkungen vielleicht nicht geringer sein werden als diejenigen großer Kriege. Dies ist sehr schwer zu prognostizieren; definitiv wissen wird man es vielleicht erst, wenn es zu spät sein wird. Ich gestehe, daß ich, ohne sichere Grundlage zu diesem Votum, eher zu der Formel neige: ‚Sowenig Kohle und Öl wie möglich, soviel andere Energiequellen wie dann nötig.’“ (Im weiteren Text wies er unter anderem auf das hohe Potential von Energieeinsparung und alternativen Energiequellen hin.) Damit erahnte er aus meiner Sicht früher als die meisten Forscher*innen globale anthropogene Klimaänderungen als eine wesentliche Bedrohung, damals gestützt auf die ersten Klimamodellrechnungen in den USA.

Warum passiert es so selten, dass sich Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit gegen den Missbrauch ihrer Entdeckungen äußern oder vor Fehlentwicklungen warnen und sie auch bereit sind, sich der öffentliche Debatte und der (oft ungerechtfertigten) Kritik der Kolleg*innen auszusetzen? Weil die meisten Wissenschaftler*innen – wie generell die meisten Menschen – nicht anecken wollen, die Einflussmöglichkeiten als zu gering erachten oder Politik als häufig schmutziges Geschäft betrachten.

Ich selbst war lange ein solcher wissenschaftspolitisch und politisch nicht engagierter Wissenschaftler, der im Bereich der Physik der Atmosphäre forschte und sich zwar ab etwa 1978 in der Öffentlichkeit in eingeladenen Vorträgen zu Wort meldete, aber ansonsten darauf verließ, dass seine Forschungsergebnisse schon von den Umweltgruppen in die öffentliche Debatte getragen würden. Wegen meines Spezialwissens im Bereich der Strahlungsübertragung in der Atmosphäre wurde ich dann allerdings durch zwei wissenschaftliche Gesellschaften – also von außen angestoßen – in die öffentliche Arena geworfen. Seit dem von mir wesentlich mitformulierten Memorandum »Warnung vor weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen«, das vor ziemlich genau dreißig Jahren in Berlin bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammen mit der Meteorologischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, vergeht für mich fast keine Woche mehr ohne Öffentlichkeitsarbeit, die ich allerdings fast nie als Last empfand und die – wie mir Ministerialbeamte sagten – bei ihnen früh die großen Energieversorger vorstellig werden ließ, die meine Entfernung aus Beratungsgremien der Bundesregierung anregten. Denn ich war 1988 zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Klimabeirates der Bundesregierung geworden, der auf Anregung durch den Freistaat Bayern im Bundesrat eingerichtet worden war.

Heute werden Atomwaffen und globale anthropogene Klimaänderung oft in einem Atemzug als die beiden größten Herausforderungen für die Menschheit genannt, und in beiden Fällen sind die Bestimmungen in den völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zur Reduzierung der Atomwaffen bzw. zur Begrenzung der globalen Erwärmung noch weit vom Ziel entfernt und werden auch von einigen Ländern missachtet. Als engagierter Wissenschaftler sehe ich allerdings zu beiden Themen in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte: Erstens ist die völkerrechtlich verbindliche Paris-Vereinbarung als Teil der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen gleichbedeutend mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Energieversorgung in den nächsten wenigen Jahrzehnten; und zweitens verhandeln im Rahmen der Vereinten Nationen 130, also die Mehrheit aller etwa 200 Länder, in New York über die Ächtung von Atomwaffen. In beiden Fällen haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse und deren öffentliche Debatte zu politischem Handeln geführt.

Ich möchte diesen beiden großen Herausforderungen für das Wohlergehen der gesamten Menschheit noch eine dritte hinzufügen: den Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. Mit anderen Worten: Eine Revolution in der Landwirtschaft ist notwendig, deren indus­trialisierte Form inzwischen die Hauptbedrohung für Arten und Ökosysteme ist. Denn unsere Ernährung hängt ganz wesentlich von den Leistungen funktionierender Ökosysteme ab, die z.B. Wasser filtern und für Bestäuber sorgen.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Bürger an die Bundesregierung appellieren, doch beide Herausforderungen stärker anzunehmen: Erstens, verhandelt mit bei der Debatte um die Ächtung der Atomwaffen bei den Vereinten Nationen, steht also nicht mehr abseits; und zweitens, zeigt mehr Mut bei den vernachlässigten Teilthemen der Energiewende, nämlich der Wärme- und Mobilitätswende. An die Medien gerichtet: Macht beides zum Wahlkampfthema!

Wir Wissenschaftler*innen sollten uns jedoch nicht nur pauschal zur Abschaffung der Atomwaffen äußern, eine maximal tolerierbare mittlere globale Erwärmung fordern oder den galoppierenden Verlust der biologischen Vielfalt beklagen, sondern wir müssen auch Lösungswege aufzeigen – oft in frustrierend kleinen Schritten. Wissenschaftler*innen haben den Grundstock für ein Leben vieler in Frieden und Wohlstand gelegt. Dass inzwischen von den mehr als 7,5 Milliarden Menschen ein höherer Prozentsatz als jemals zuvor nicht mehr in Armut leben muss und nicht mehr vom Hungertode bedroht ist, sollte trotz aller weiter bestehenden Konflikte als wesentlicher zivilisatorischer Fortschritt anerkannt werden.

Es ist für mich eine Genugtuung, dass zwei internationale Organisationen, nämlich die Pugwash-Bewegung und ihr Gründer Jozef Rotblat sowie der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (IPCC) 1995 bzw. 2007 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, weil sie die Verantwortung der Wissenschaft für zentrale Probleme der Menschheit überzeugend wahrgenommen haben.

Wir sollten uns deshalb heute als Wissenschaftler*innen auf Forschung zum Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen und die weitere Abrüstung und Deligitimierung der Atomwaffen konzentrieren und Wege zur Umsetzung der Paris-Vereinbarung sowie zur Nahrungssicherheit für alle aufzeigen. Die VDW und andere zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen dies weiterhin und brauchen dabei die Unterstützung von mehr engagierten Wissenschaftler*innen.

Hartmut Graßl ist Klimaforscher und war lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Er ist Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.).

Diplomatie muss siegen


Diplomatie muss siegen

von Regina Hagen

Am 26.4.2017 startete die US-Luftwaffe auf ihrem Stützpunkt Vandenberg (­Kalifornien) eine Interkontinentalrakete des Typs Minuteman-3. Die freigesetzte Bombenattrappe landete nach etwa 4.000 Meilen im vorgesehenen Zielgebiet im Meer. „Minutemahn-Starts sind wichtig, um den Status der Atomstreitkraft der USA zu überprüfen und die nuklearen Fähigkeiten der Nation zu demonstrieren“, begründete der Kommandeur des 30. Weltraumgeschwaders den Test. Für den 3. Mai wurde ein weiterer Test angekündigt.

Am 29.4.2017 testete das nordkoreanische Militär eine ballistische Rakete. Diese stieg 71 Kilometer in die Höhe, zerbrach und explodierte noch über dem Territorium der Demokratischen Volksrepublik Korea. Bereits zehn Tage zuvor war eine Rakete nach 60 Kilometern ins Meer gestürzt. Wie immer nach solchen Tests, die Nordkorea durch diverse UN-Resolutionen untersagt sind, befasste sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Thema, konnte sich jedoch nicht auf eine gemeinsam Resolution einigen. Grund für die Uneinigkeit war die Forderung Chinas, die USA sollten sich im Raketen- und Nuklearstreit zu deeskalierenden Schritten bereit erklären.

Beide Seiten, die USA ebenso wie Nordkorea, heiz(t)en die Situation an. Der US-Präsident warnte unverblümt vor einem „großen, großen Konflikts mit Nordkorea“, Nordkorea kündigte seinerseits eine Fortsetzung der Raketentestreihen an und erklärte überdies, auf einen Angriff „werden wir mit einem präemptiven Atomschlag nach unserem Stil und unserer Methode reagieren“. Geheimdienstliche Erkenntnisse deuten auf Vorbereitungen für einen weiteren Atomwaffentest Nordkoreas hin – es wäre der sechste.

Aber wie weit können US-Präsident Trump und der nordkoreanische Staatsführer Kim Jong Un die Eskalation treiben, bevor aus martialischen Worten martialische Taten werden?

Allerdings: Die Krise alleine auf Trump und Kim zurückzuführen, greift natürlich viel zu kurz. Auch haben die Nuklearambitionen Nordkoreas nur indirekt mit der Präsidentschaft von Donald Trump zu tun – mit seinem Politikstil bietet er Nordkorea lediglich eine bessere Projektsfläche als der ehemalige US-Präsident Obama. Einige Fakten scheinen im Kontext des nordkoreanischen Bestrebens, sich ein funktionierendes Raketen- und Atomwaffenarsenal zu verschaffen, aber bedenkenswert:

  • Die Aufteilung der Welt in fünf offiziell akzeptierte (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China), drei tolerierte (Pakistan, Indien und Israel) und einen neuen Atomwaffenstaat (Nordkorea) hier und mehr als 180 Staaten, die keine Atomwaffen haben wollen oder sollen, dort, wird sich auf Dauer nicht aufrecht erhalten lassen.
  • Die Verbreitung von Atomwaffen konnte mit dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 zwar eingedämmt, nicht aber verhindert werden. Als Nordkorea mit Atomwaffentests beginnen wollte, kündigte es seine Mitgliedschaft in dem Vertragssystem einfach auf.
  • Die Geschichte des nordkoreanischen Raketen- und Atomwaffenprogramms ist eine lange Geschichte gebrochener Abkommen und verpasster Chancen (u.a. Erklärung über die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel, »Agreed Framework«, »Six Party Talks«).
  • Nordkorea einfach als weiteren Atomwaffenstaat hinzunehmen, ist keine Lösung. Dies könnte dazu führen, dass sich Südkorea und Japan ebenfalls aus dem NVV verabschieden oder die Stationierung von US-Atomwaffen in ihren Ländern einfordern. Das würde die Erosion des Nichtverbreitungsregimes weiter befördern.
  • Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen rings um Nordkorea mag der Beruhigung Südkoreas und Japans dienen, verschärft aber zugleich die Spannungen mit Russland und China, die diese Systeme als Bedrohung ihrer strategischen Nuklearfähigkeiten einstufen.
  • Ein »präventiver« Schlag gegen Nordkorea würde gegen das Völkerrecht verstoßen –Pyöngyang hat niemals die geringsten Invasions- oder Angriffsambitionen erkennen lassen –, und könnte in einer ohnehin von Spannungen und Territorialstreitigkeiten geprägten Region zu unkontrollierbaren Folgen führen – von den humanitären Konsequenzen jeder Kriegsführung ganz abgesehen.

Schon seit Jahren schlagen Abrüstungsexperten aus der Region vor, einen großen Wurf, eine atomwaffenfreie Zone Nordostasien anzustreben. Diese könnte nach dem Vorbild der bereits bestehenden Atomwaffenfreien Zonen gestaltet werden, die sich über fast die ganze südliche Hemisphäre erstrecken. Allerdings wäre die Aufgabe groß, denn außer Nord- und Südkorea und Japan müssten die Atomwaffenstaaten China, Russland und USA gemeinsam am Tisch sitzen und das Vertragspaket müsste »win-win«-Aspekte für alle Seiten vorsehen.

Im August vorigen Jahres meinte der Südkoreaner Chung-in Moon in einem online geführten Roundtable-Gespräch des »Bulletin of the Atomic Scientists«:Die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Nordostasien klingt vielleicht unmäßig idealistisch. Aber inmitten der akuten militärischen Konfrontation auf der Halbinsel und der Gefahr eines katastrophalen Krieges, was ist da so realistisch an endlosen Runden festgefahrener Verhandlungen?“. Ja, was?

Ihre Regina Hagen