Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft


Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft

von Jacqueline Cabasso

Joseph Biden hat seine Präsidentschaft mit einem Ehrfurcht einflößenden Berg an Herausforderungen vor sich angetreten. Ersten Anzeichen nach wird Bidens Regierung im Inland eine dramatische Kehrtwende einleiten: zur rücksichtslosen Missachtung der Pandemie unter der Regierung Trumps; zu ihrer fremdenfeindlichen Politik, die auf Immigrant*innen, People of Color, Muslime*a, Jüd*innen, Frauen, nicht binär-identifizierte Menschen und die Armen abzielte; und zu ihrem Angriff auf das Gesundheitssystem, die Umwelt und die Demokratie an sich.

Außenpolitisch hingegen sind die Absichten der neuen Regierung weniger klar ersichtlich. Bidens Ankündigung an seinem ersten Tag im Amt, dem Pariser Klimaabkommen und der WHO wieder beitreten zu wollen, ist ein willkommenes Signal und er wird ernstzunehmende Anstrengungen unternehmen, belastete Beziehungen zu Verbündeten wieder zu verbessern.

Mit Blick auf Bidens Vergangenheit und seine acht Jahre als Vizepräsident unter Präsident Obama können wir allerdings bezüglich der schwierigen Beziehungen zu Russland, China, Nordkorea und dem Iran, sowie des US-Atomwaffenprogramms wahrscheinlich eine Rückkehr zum Status-Quo erwarten, der vor Donald Trump galt.

Joe Biden ist schon seit 1979 in Rüstungskontrollverhandlungen involviert. Bevor er im Januar 2017 aus dem Amt schied, sprach der damalige Vizepräsident über den Wert von Verträgen: „Gerade weil wir unseren Gegner*innen nicht trauen, sind Verträge, die das menschliche Zerstörungspotential begrenzen, so unerlässlich für die Sicherheit der USA. Rüstungskontrolle ist wesentlich für unsere nationale Verteidigung und – wenn es Atomwaffen betrifft – für unsere Selbsterhaltung.“

Das bietet Anlass zu vorsichtigem Optimismus sowohl für eine erfolgreiche Verlängerung des START-Vertrages mit Russland und eine mögliche Rückkehr in den JCPOA [das Iran-Abkommen, die Red.], als auch für zukünftige bi- und multilaterale Rüstungskontrollverhandlungen.

In seiner Rede im Januar 2017 erklärte Biden: „Ich glaube, dass wir weiter nach dem Frieden und der Sicherheit einer atomwaffenfreien Welt streben müssen.“ Aber weiter: „Nukleare Abschreckung ist der Kern unserer nationalen Verteidigung seit dem Zweiten Weltkrieg. Solange andere Staaten Atomwaffen besitzen, die sie gegen uns einsetzen könnten, werden wir ein sicheres, gut geschütztes und effektives Atomwaffenarsenal unterhalten müssen, um Angriffe gegen uns und unsere Verbündeten abzuschrecken. Darum haben wir zu Beginn unserer Amtszeit die Finanzierung zur Aufrechterhaltung unseres Arsenals und zur Modernisierung unserer atomaren Infra­struktur erhöht.

Als Donald Trump sein Amt antrat, hatten die USA geplant, 1,2 Bio. US$ über die folgenden 30 Jahre in Unterhaltung und Modernisierung ihrer Atombomben, Waffenköpfe, Trägersysteme und Infrastruktur zu stecken, um die atomare Unternehmung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Zu Bidens Amtsantritt ist diese enorme Summe schon auf 1,7 Bio. US$ angewachsen.

Biden hat in der Vergangenheit bekanntermaßen unterstützt, die Bedingungen dafür zu schaffen, Atomwaffen nur noch zur Abschreckung eines gegnerischen Angriffs zu besitzen und die strategische Bedeutung von Atomwaffen in der nationalen Sicherheitspolitik zu reduzieren. Noch ist es aber zu früh, um vorhersagen zu könne, ob das zur Absage geplanter neuer Waffensysteme oder der Abschaffung landgestützter Interkontinentalraketen führen wird, wie von manchen angeregt. In seiner Senatsanhörung zur Bestätigung versprach der neue US-Verteidigungsminister zwar eine Prüfung des Atomwaffen-Modernisierungsprogramms, erklärte aber seine „persönliche“ Unterstützung für die strategische Triade.

Obwohl der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist, wird, durch den etablierten militärisch-industriellen Komplex mit Atomwaffen als seinem Kern, durch eine große und reaktionäre republikanische Minderheit im Kongress sowie das Fehlen einer sichtbaren Anti-Atomwaffen-Bewegung in den USA, auf absehbare Zeit keine grundsätzliche Änderung der US-Atomwaffenpolitik zu erwarten sein.

Die Zivilgesellschaft muss sich daher zusammenschließen wie nie zuvor, um dauerhafte, breite, diverse und mehrere Themen umfassende Koalitionen, Netzwerke und Meta-Netzwerke zu schaffen, die auf unserer geteilten Hingabe zu einer universellen, unteilbaren menschlichen Sicherheit beruhen.

Jacqueline Cabasso ist Direktorin der »Western States Legal Foundation« in Kalifornien. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks »Abolition 2000« zur Abschaffung aller Atomwaffen, Beraterin bei »Mayors for Peace« und aktiv im Koordinationskreis von »United for Peace and Justice«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Die Zukunft der nuklearen Teilhabe


Die Zukunft der nuklearen Teilhabe

Wird Europa technisch ausgetrickst?

von Otfried Nassauer

Spätestens seit Frühjahr 2020 ist in der deutschen Politik die Diskussion neu entbrannt, ob die Bundesrepublik sich auch in Zukunft nicht nur aktiv an der Atomwaffenpolitik der NATO beteiligen, sondern weiterhin technisch für einen möglichen Atomwaffeneinsatz rüsten soll. Der Autor beschrieb in W&F 2-2020 (S. 43-46) die Aufnahme eines neuen U-Boot-gestützten Atomwaffentyps in das Arsenal der USA und welche Folgen dies für das System der nuklearen Teilhabe der NATO hat. Im hier vorliegenden Text erkundet er vor diesem Hintergrund, ob bestehende politische Absprachen über bündnisinterne Konsultationen vor einem Einsatz von NATO-Atomwaffen überhaupt noch Gültigkeit und Relevanz besitzen.

Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, warf im Mai dieses Jahres einen Stein ins Wasser. Gemessen an den Wellen, die er auslöste, war es ein ganz schöner Brocken. Mützenich wurde wahlweise vorgeworfen, er kündige die Solidarität in der NATO auf, versuche Deutschland von einem Krieg in Europa abzukoppeln oder gefährde die nukleare Abschreckung der NATO und Mitsprachemöglichkeiten Deutschlands im Bündnis.

Dabei hatte er sich nur dafür ausgesprochen, Deutschland solle aus der »technischen nuklearen Teilhabe« der NATO ausscheiden, also künftig für Atomwaffeneinsätze des Bündnisses keine Flugzeuge mehr bereithalten. Mützenichs intendiertes Signal: Die SPD lehnt es ab, die deutsche Tornadoflotte durch neue nuklearfähige Trägerflugzeuge vom Typ F18 abzulösen und die nukleare Rolle der Luftwaffe auf weitere Jahrzehnte festzuschreiben (siehe Mützenich 2020).

Was ist und worum geht es bei der nuklearen Teilhabe?

Die nukleare Teilhabe der NATO besteht aus zwei Komponenten, einer technischen und einer politischen.

  • Zur technischen Teilhabe gehört als Kern die Bereitstellung europäischer Trägersysteme und ausgebildeter Bedienungsmannschaften für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall sowie von Lagermöglichkeiten für US-Atomwaffen.
  • Zur politischen Teilhabe gehört die Mitarbeit in NATO-Gremien, in denen Informationen über nukleare Angelegenheiten ausgetauscht, nukleare Rüstungsplanung betrieben, Rüstungskontrollinteressen abgeglichen und nukleare Einsatzszenarien diskutiert und beschlossen werden. Das geschieht z.B. in der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), auf derer nachgeordneter Arbeitsebene im NATO-Hauptquartier in Brüssel und in den mit Nuklearwaffen befassten Teilen der militärisch-operativen Stäbe des militärischen Oberkommandos im belgischen Mons.

Die Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe ist keine Voraussetzung dafür, sich an der politischen Komponente beteiligen zu können. Alle NATO-Mitglieder außer Frankreich sind bei der politischen Teilhabe dabei. Darüber hinaus gibt es einen weiteren Aspekt, über den allerdings kaum gesprochen wird: Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die NATO-Länder zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen. Auch das ist unabhängig von ihrer Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe.

Als die NATO in den späten 1960er Jahren den Übergang von der Strategie der »massiven Vergeltung« zur »flexiblen Antwort« vollzog1 und der Atomwaffensperrvertrag zur Unterzeichnung anstand, waren die nichtnuklearen NATO-Mitglieder in Europa bemüht, die technisch-nukleare Teilhabe weiterzuführen und sich im Bündnis verbesserte Informations- bzw. Mitspracherechte in Nuklearfragen zu sichern. Für eine solche Mitwirkung mussten im Bündnis jedoch erst noch Strukturen, wie die NPG, sowie Verfahrens- und Konsultationsmechanismen geschaffen werden. Auch die zum Einstieg in die Debatte über die flexible Antwort im Mai 1962 formulierten, aber nie im Konsens verabschiedeten »Athener Richtlinien« zu Konsultationsmöglichkeiten über die nuklearen Optionen der NATO bei unterschiedlichen Szenarien eines Kriegsausbruchs mussten weiterentwickelt und präzisiert werden.2

Das sollte in der NPG erfolgen, wozu zunächst zwei Dokumente vorgelegt wurden. Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen und verursachte relativ wenig Diskussion. Das andere befasste sich mit der Frage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also das Überschreiten der Schwelle zur nuklearen Kriegführung durch die Allianz. Dieses Papier führte u.a. zu intensiven Diskussionen über das damals vermutlich erste Mittel eines NATO-Atomwaffeneinsatzes: Atomminen, mit deren Einsatz das Militär einen potentiellen Angriff auf NATO-Territorium möglichst grenznah stoppen bzw. Truppenbewegungen kanalisieren wollte. Zunächst kamen nur vorläufige Richtlinien zustande, da grundsätzlichere Fragen sichtbar wurden:

1. Wann, mit welcher Zielsetzung und in welchem Umfang würde ein solcher Einsatz erfolgen?

2. Würde genug Zeit bleiben, um politische Konsultationen in der NATO durchzuführen oder auf die Freigabe durch den US-Präsidenten zu warten? Oder wäre eine Prädelegation, eine vorab erfolgende Delegierung der Freigabe an hohe militärische Befehlshaber in Europa, z.B. den NATO-Oberbefehlshaber, sinnvoll und gewollt?

3. Damit stellte sich auch die Frage des Primats der Politik, der politischen Kontrolle über militärisch-nukleare Planungen für einen solchen Einsatz. Würden Militärs oder Politiker letztlich das Sagen haben?

Zweifellos waren das Fragen, bei denen auch die nichtnuklearen Staaten Europas mitreden oder gar mitentscheiden wollten. Als Lager-, Abschuss- und potentielle Zielorte eines Atomwaffeneinsatzes mussten sie daran ein elementares Interesse haben. Im Bündniskontext gelang es ihnen nicht, ein Vetorecht für sich zu erwirken. Sie erhielten lediglich die Zusage, bei Konsultationen würde der Position besonders betroffener Länder ein spezielles Gewicht beigemessen. Dieses Gewicht wurde u.a. auch dadurch bestimmt, welche Atomwaffentypen in einem Land vorhanden waren und welche Konsultationsmechanismen für diese Waffentypen und ihre möglichen Einsatzszenarien zutrafen.

Parallel bemühte sich die Bundesregierung um eine verbindlichere bilaterale Übereinkunft mit den USA. Eine erste wurde zwischen den Regierungen Kiesinger und Johnson erreicht, erwies sich aber mit Blick auf das Primat der Politik als unzureichend. Später folgte eine zweite, die auf die Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Melvin Laird zurückging und 1974 in einer Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Brandt und US-Präsident Nixon mündete. Vier deutsche »No’s« wurden in Form eines vertraulichen, bilateralen Briefwechsels von den USA anerkannt, in denen unter anderem von einer erforderlichen Zustimmung der Bundesregierung vor einem Nuklearwaffeneinsatz die Rede sein soll, zumindest wenn dieser von deutschem Boden ausgehen sollte oder auf Ziele auf deutschem Boden gerichtet wäre. Der Kern bestand jedoch in einer Festlegung auf das Primat der Politik gegenüber militärischen Planungen.

Im Verlauf der weiteren Arbeit der NPG wurden aufgrund von Veränderungen der NATO-Strategie, des nuklearen Dispositivs der Allianz und des Wandels der Rolle nuklearer Waffen in der NATO-Strategie wiederholt neue Dokumente mit Aussagen zu den Planungs- und Konsultationsprozessen im Bündnis verabschiedet. So wurden z.B. nach dem Abzug der Atomminen aus Europa im Oktober 1986 »General Political Guidelines for the Employment of Nuclear Weapons in the Defense of NATO« angenommen oder nach Verabschiedung der neuen militärischen Strategie der NATO, MC400, Ende 1991 im Folgejahr neue »Political Principles of Nuclear Planning and Consultation«. Letztere gingen erstmals davon aus, dass der NATO aufgrund der [reziproken] »Presidential Nuclear Initiatives« [der Präsidenten Reagan und Gobatschow] vom Herbst 1991 künftig keine taktischen Atomwaffen kurzer Reichweite mehr zur Verfügung stehen würden, sondern nur noch luftgestützte, als substrategische bezeichnete Waffen sowie möglicherweise auch seegestützte Systeme, die aber keinen multinationalen Nuklearwaffeneinsatz erlauben würden.

Zumindest bis zu diesem Dokument war das Primat der Politik explizit und klar verankert. Wie und ob die Allianz im Kontext der wiederholten Modifikation der MC400 in den Folgejahren mit erneuten Revisionen ihrer Dokumente zu nuklearen Konsultationen reagiert hat, ist noch nicht bekannt. Dies gilt auch mit Blick auf die weitere Gültigkeit bilateraler Vereinbarungen zwischen den USA und Deutschland. Solche Vereinbarungen werden normalerweise bei jedem Regierungswechsel in einem der beteiligten Staaten fortgeschrieben. Ob Donald Trump Angela Merkel ähnliche Zusagen gemacht hat wie Nixon 1974 Brandt, ist ungewiss.

Neue gefährliche Entwicklungen

Nach der Verabschiedung einer neuen Militärstrategie der NATO (Comprehensive Defense and Shared Response, MC400/4) im Jahr 2019 gibt es wieder Anlass, über politische Richtlinien für nukleare Planung und Konsultation neu nachzudenken. Denn bei den nuklearen Waffen, die bei einem Konflikt in Europa zum Einsatz kommen könnten, sind substantielle Veränderungen zu verzeichnen. In den letzten Jahren konnte die nukleare Schwelle entweder mit strategischen Atomwaffen der USA oder mit den als substrategisch bezeichneten Atombomben und deren Trägerflugzeugen in Europa überschritten werden. Mit Trumps »Nuclear Posture Review 2018« deuteten sich diesbezüglich jedoch wieder größere Veränderungen an, da in diesem Dokument die Absicht bekundet wurde, zwei weitere Waffensysteme zu stationieren, die für diesen Zweck eingesetzt werden können. Dies sind zum einen strategische Raketen-U-Boote mit Langstreckenraketen, die nur einen Sprengkopf kleiner Sprengkraft tragen, und zum anderen seegestützte atomare Marschflugkörper. Der Einsatz beider Waffen sei unabhängig von einem Mittun der Bündnispartner möglich.

Ende 2019 schickten die USA erstmals ein Raketen-U-Boot auf Patrouille, das eine Rakete an Bord hatte, die nur einen Sprengkopf vom Typ W76-2 mit einer relativ kleinen Sprengkraft (ca. acht Kilotonnen) trug. Der Einsatz dieses Sprengkopfs für einen »initial nuclear use« in Reaktion auf einen angenommenen taktischen Kernwaffeneinsatz Russlands in Europa wurde im Februar 2020 vom Strategischen Kommando (STRATCOM) der USA durchgespielt. Ob Washington die Bündnispartner dabei konsultierte oder im Voraus informierte, ist unbekannt. Das Kriegsspiel wurde als nationale Übung präsentiert. Der NATO-Oberbefehlshaber Todd Wolters bezeichnete sich etwa zeitgleich als „Fan einer flexiblen Ersteinsatzpolitik“, ohne zu erklären, was diese von der traditionellen Ersteinsatzpolitik unterscheide (siehe dazu mehr in Nassauer 2020).

Der Vorgang signalisierte, dass die USA den selektiven Einsatz nuklearer Waffen in Europa ohne europäisches Zutun praktizieren können. Das U-Boot, die Rakete und der Sprengkopf sind im Besitz der USA, unterstehen nicht der NATO und könnten somit außerhalb der heute in der NATO vereinbarten Konsultationsregeln eingesetzt werden. Washington könnte zugleich wählen, ob das Ziel der Waffe auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegen sollte. Die USA besitzen nunmehr eine attraktive nationale Alternative zu den in Europa stationierten nuklear­fähigen Flugzeugen, die zudem den Nachteil haben, erst noch die russische Luftabwehr überwinden zu müssen. Diese Alternative bietet ähnliche Vorteile wie die [in Europa stationierte] Pershing-­II-Rakete [der 1980er Jahre]: kleine Sprengkraft mit geringerem »Kollateralschaden«, kurze Flugzeit, Reichweite bis nach Russland. Die Waffe kann sowohl in Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz genutzt werden als auch für einen eigenen Ersteinsatz. Sie bürdet dem Gegner die schwierige Entscheidung auf, ob er den Konflikt tatsächlich weiter eskalieren soll. Die Russland von den USA oft unterstellte »escalate to de-escalate«-Strategie kann also gespiegelt werden. Der Nachteil bei aller [vermeintlichen] Attraktivität: Eine solche Waffe kann auch ähnlich destabilisierend wirken wie die Pershing-II.

Aufgrund dieser Eigenschaften könnte die mit dem Sprengkopf W76-2 ausgestattete Trident-II-Rakete künftig zur Waffe der Wahl avancieren, wenn es um einen erstmaligen oder Ersteinsatz oder um begrenzte, selektive Nuklearwaffeneinsätze geht. Das wäre von besonderer Bedeutung, da die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO mit ihren freifallenden Atombomben durch bessere Luftverteidigungssysteme verwundbarer und damit unsicher für die Erfüllung ihrer Aufgabe werden. Ihr Einsatz bedarf zudem der Eindringhilfe durch andere Kampfflugzeuge, die sie begleiten. Das reduziert ihre Nützlichkeit für solche Einsätze. Auf Flugzeuge würde man wohl vor allem dann zurückgreifen, wenn man einem Gegner signalisieren will, dass der Nuklearwaffeneinsatz durch viele nichtnukleare Länder politisch mitgetragen und verantwortet wird.

Mehr noch: Jüngst durch die USA vorgenommene technische Änderungen an den Nutzungskontrollsystemen der in Europa gelagerten B61-Bomben machen diese Waffen möglicherweise nicht nur sicherer. Wenn die Änderungen mit der Nebenwirkung verbunden wären, dass diese Bomben ausschließlich gegen im Voraus festgelegte Ziele oder Zielgruppen eingesetzt werden können, wäre die für einen »initial use« erforderliche Flexibilität bei der Zielauswahl und -planung möglicherweise nicht mehr zu gewährleisten. Auch deshalb wäre die Waffe der Wahl für einen ersten Einsatz meist U-Boot-gestützt und trüge nur einen kleinen Sprengkopf.

Diese Änderungen im Nukleardis­positiv der USA finden zu einem für Deutschland heiklen Zeitpunkt statt. Die Bundesregierung will bei der technischen nuklearen Teilhabe weiterhin mitwirken und ihre Mitsprache bei der nuklearen Planung im Bündnis absichern. Das Bundesministerium für Verteidigung plant deshalb, 30 Flugzeuge des Typs F-18F zu beschaffen, um den Tornado abzulösen. Die Hoffnung, über die Beteiligung an der technisch-nuklearen Teilhabe auch künftig Einfluss auf einen erstmaligen oder Ersteinsatz von Atomwaffen in Europa nehmen zu können, könnte aber aufgrund der Modernisierungen im US-Nukleardispositiv weitgehend gegenstandslos werden. Der geplante Kauf neuer Kampfflugzeuge würde dann zu einem milliardenteuren Selbstbetrug. Er könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen. Auch die Entscheidung, ob das Primat der Politik Gültigkeit behält, wäre dann wieder weitgehend eine der USA.

Anmerkungen

1) In den 1950er Jahren wurde von den USA die Strategie der »massiven Vergeltung« (massive retaliation) vorgestellt. Die NATO übernahm die Strategie 1954; diese sah einen raschen Rückgriff auf Atomwaffen bei nahezu jeder militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion vor. 1967 wurde sie ersetzt durch die Strategie der »flexiblen Antwort« (flexible re­sponse), gemäß der ein konventioneller Angriff der Sowjetunion zunächst mit konventionellen Mitteln abgewehrt werden sollte, verbunden mit der Bereitschaft, den Konflikt nuklear zu eskalieren. [die Redakteurin; Quelle: atomwaffena-­z.info]

2) Der Wortlaut der »Athener Richtlinien« wurde lange unter Verschluss gehalten und schließlich etwas versteckt im Kontext von Dokumenten zur NATO-Ratssitzung vom 5. und 6. Mai 1962 in Athen durch das NATO-Archiv zugänglich gemacht. Die Richtlinien wurden 1962 nicht von allen NATO-Mitgliedern im Konsens verabschiedet, aber von denen, die ihnen zustimmten, als offizielle Politik der Allianz betrachtet. In seiner Rede vor dem NATO-Rat erklärte US-Außenminister Dean Rusk für die USA die Akzeptanz der Richtlinien, die NATO-Generalsekretär Stikker in Abschnitt 25 seines Sonderberichts zur Verteidigungspolitik der Allianz vorgelegt hatte. In Punkt 5 dieses Abschnitts finden sich drei exemplarische Fallbeispiele für unterschiedliche potentielle Angriffszenarien auf die NATO und Aussagen zur Wahrscheinlichkeit, dass in der NATO vor dem Rückgriff auf einen Nuklearwaffeneinsatz Konsultationen möglich seien: 1. Wenn unzweifelhaft ein sowjetischer Angriff mit Nuklearwaffen auf das NATO-Gebiet vorliege, auf den die NATO mit einem adäquaten Nuklearwaffeneinsatz antworten müsse, sei die Möglichkeit zu Konsultationen äußerst begrenzt. 2. Im Falle eines großangelegten konventionellen Angriffs […], der auf den Ausbruch genereller Feindseligkeiten hindeute, bei denen die NATO im angemessenem Umfang mit Nuklearwaffen reagieren wolle, gehe man davon aus, dass Konsultationen zeitlich möglich seien. 3. Im Falle eines sowjetischen Angriffs, der die Bedingungen der beiden ersten Fälle nicht erfülle, aber die Integrität des Territoriums und der Streitkräfte der NATO bedrohe und nicht mit den vorhandenen konventionellen Kräften aufgehalten werden könne, werde die Entscheidung zum Einsatz nuklearer Waffen im Voraus im NATO-Rat getroffen. […]

Literatur

Mützenich, R. (2020): Nukleare Teilhabe – überholtes Konzept ohne Funktion. WeltTrends, Nr. 167, September 2020, S. 68-70.

Nassauer, O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Otfried Nassauer war Journalist und Friedensforscher und leitete das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Der Autor verstarb am 1. Oktober 2020 (siehe Nachruf auf S. 58). Einen Tag zuvor hatte er seine Fahrt zu einem Vortrag abgebrochen, weil er sich nicht wohlfühlte. Damit der Vortragsabend nicht ganz platzt, schickte er den Veranstalter*innen ein druckreifes Manuskript zum Vorlesen und Diskutieren. Das Manuskript wurde von W&F behutsam redigiert. Wir wissen nicht, für welche Publikation der Text geschrieben wurde. Der Abdruck in W&F erfolgt in Absprache mit BITS. [die Redakteurin]

Verboten – und nun?

Verboten – und nun?

von Regina Hagen

Honduras wählte ein symbolträchtiges Datum, um seine Ratifizierungsurkunde für den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) in New York zu hinterlegen: Der 24.10. erinnert als »Tag der Vereinten Nationen« an den Tag, an dem die UN-Charta nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft trat und die Weltgemeinschaft auf eine friedlichere Zukunft einschwor.

Mit Honduras haben nun 50 Staaten den TPNW ratifiziert; 90 Tage danach tritt der Vertrag vereinbarungsgemäß in Kraft, das wird am 22.1.21 sein. Der TPNW verpflichtet die Vertragsparteien u.a. dazu, „unter keinen Umständen jemals […] Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern“, diese „anzunehmen […,] einzusetzen oder mit dem Einsatz zu drohen“, jemanden bei solch verbotenen Tätigkeiten „zu unterstützen“ oder
„Kernwaffen […] in seinem Hoheitsgebiet […] zu gestatten“.

Der TPNW schließt eine Lücke im Völkerrecht. Einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1996 zufolge widersprechen zwar der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz – und somit auch die Doktrin der Abschreckung, die auf dieser Drohung beruht – aus humanitären Gründen ohnehin dem Völkerrecht. Atomwaffen sind bislang aber nicht ausdrücklich verboten. Das wird sich ab 22. Januar ändern. Weitere Vertragsbeitritte sind zu erwarten, wenngleich vielleicht nicht alle 122 an den Vertragsverhandlungen beteiligte Staaten diesen Schritt bald wagen werden. Denn der Gegenwind
ist scharf, mutet allerdings auch panisch an.

So schrieben die USA noch wenige Tage vor Honduras‘ Ratifizierung alle bereits beigetretenen Staaten an und legten ihnen nahe, ihre Ratifizierung zu widerrufen, damit der Vertrag nicht in Kraft treten kann – ein beispielloser Vorgang im Völkerrecht. Die USA betonten laut der Nachrichtenagentur AP in dem Brief ausdrücklich, mit ihnen stünden Russland, China, Frankreich und Großbritannien sowie die NATO-Verbündeten „geschlossen in ihrem Widerstand gegen die möglichen Auswirkungen“ des TPNW.

Es ist nicht schwer zu verstehen, was die Atomwaffenstaaten verschreckt: Der Vertrag erlangt zwar nur für seine Mitgliedsstaaten Gültigkeit, markiert aber eine weit über diesen Kreis hinausreichende völkerrechtliche Norm gegen nukleare Rüstung. Einige Beispiele:

  • Die USA selbst wiesen vor etlichen Jahren auf die Konsequenzen für ihre Schiffs- und U-Boot-Flotte hin. Die US-Regierung legt grundsätzlich nicht offen, welche Schiffe und Boote Atomwaffen an Bord haben. TPNW-Mitgliedsstaaten müssten aber die Durchfahrt von Booten mit Atomwaffen durch ihre Hoheitsgewässer untersagen, um jegliche, auch unbeabsichtigte, Beihilfe zu verbotenen Aktivitäten auszuschließen. Für die USA wären diese Gewässer damit indirekt gesperrt.
  • NATO-Verbündete, wie die Nieder­lande, Belgien oder Deutschland, müssten dem TPNW eigentlich beitreten, um ihrem multilateralen Anspruch gerecht zu werden. Nur dann wären sie beteiligt an der Fortentwicklung des Völkerrechts und nur dann könnten sie die praktische Ausgestaltung des Vertrags beeinflussen. Dazu müssten sie allerdings auf jegliche Form der nukleare Teilhabe verzichten und von den USA den Abzug ihrer Atomwaffen verlangen. In ihrem Koalitionsvertrag schrieb die neue belgische Regierung immerhin fest, sie wolle
    „prüfen […,] wie der UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen neue Impulse für multilaterale nukleare Abrüstung geben kann“ – eine deutliche Ablehnung des Vertrags klingt anders.
  • Bereits in den vergangenen Jahren zogen sich aufgrund öffentlichen Drucks etliche Banken und Versicherungen aus der Finanzierung des Nuklearwaffenkomplexes zurück; es wurde schwieriger für Produzenten von Atomwaffen oder Trägersystemen, neue Investitionen oder Kredite zu bekommen. Die völkerrecht­liche Ächtung der Atomwaffen wird diesen Prozess beschleunigen. Ebenso werden sich Firmen künftig genauer überlegen, ob ihre Gewinne aus Atomwaffengeschäften (z.B. Airbus am französischen Nukleararsenal) den Boykott durch Konsument*innen und Finanz­institutionen wirklich aufwiegen.

Es stimmt, der TPNW wird nicht unmittelbar zur Verschrottung von Atomwaffen führen. Er ist aber eine wichtige Ergänzung des Völkerrechts und könnte mittelbar den Weg bahnen für eine umfassendere Nuklearwaffen­konvention unter Einbindung der Atomwaffenstaaten, wie dies bei den Chemie- und Biowaffen der Fall war. Sobald der TPNW in Kraft getreten ist, müssen die Vertragsstaaten und die sie unterstützenden Nichtregierungsorganisationen und Friedensbewegten ohnehin darüber nachdenken, wie sie der in der Präambel des Vertrags konstatierten
„Dringlichkeit der Herbeiführung und Erhaltung einer kernwaffenfreien Welt, die ein globales öffentliches Gut höchsten Ranges ist und nationalen wie kollektiven Sicherheitsinteressen dient,“ zusätzlich Schwung verleihen können. Der Beitritt weiterer Nichtatomwaffenstaaten, darunter Deutschland, ist dafür wichtig. Ohne Mitwirkung der Atomwaffenstaaten sind entsprechenden Bemühungen aber enge Grenzen gesetzt.

Ihre Regina Hagen

Nukleare Teilhabe ist völkerrechtswidrig


Nukleare Teilhabe ist völkerrechtswidrig

Ein Widerspruch zur anderslautenden Behauptung der Bundesregierung

von Bernd Hahnfeld

Die gegenwärtige Debatte über die Neuanschaffung von Trägerflugzeugen für den Einsatz der in Büchel stationierten US-amerikanischen Atomwaffen führt erneut zu der Frage, ob die nukleare Teilhabe überhaupt mit dem Völkerrecht und dem deutschen Recht im Einklang steht. Diese Frage ist zu trennen von dem wiederholt vorgebrachten Argument, dass Völkerrecht nur eine geringe politische Relevanz hat, weil seine Durchsetzung nur erzwungen werden kann, wenn der UN-Sicherheitsrat entsprechende Maßnahmen anordnet. Das geschieht dann nicht, wenn nur einer der Vetostaaten seine Interessen gefährdet sieht. Nach dem Grundgesetz bindet jedoch das Völkerrecht die Bundesregierung und die Bundeswehr und setzt ihrem Handeln deutliche Grenzen, die auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden können.

Das in Büchel stationierte Jagdbombergeschwader 33 der Bundeswehr hat im Rahmen der nuklearen Beihilfe der NATO die Aufgabe, mit den Tornado-Flugzeugen die Beförderung und den Abwurf der dort stationierten Atombomben zu üben und diese im Kriegsfall zu den Zielgebieten zu fliegen und dort abzuwerfen, nachdem der US-Präsident sie freigegeben und das vor Ort anwesende US-Militär sie einsatzbereit geschaltet hat. Damit erlangen die Bundeswehrsoldaten im Kriegsfall unter dem Schutz der NATO die Verfügungsgewalt über Atomwaffen – unabhängig davon, dass seit Herbst 2019 die Freischaltung der Waffen lediglich für den Abwurf an den von den USA vorgesehenen Zielen wirksam ist (vgl. Nassauer 2020, S. 45). Hinweise dafür, dass in Friedenszeiten Atombombenabwürfe nicht nur mit Übungsbomben, sondern mit realen Atombomben stattgefunden haben, gibt es nicht.

Als Vertragspartei des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) ist der Nichtatomwaffenstaat Bundesrepublik Deutschland nach Art. 2 NVV verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Die USA wiederum sind nach Art. 1 NVV verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben“.

Die Bundesregierung behauptet, dass diese Verpflichtungen nicht uneingeschränkt gelten, weil die nukleare Teilhabe bereits bestanden habe, bevor der NVV am 1.7.1968 zur Unterzeichnung ausgelegt wurde.1 Tatsächlich hatte die Bundesrepublik bereits in den 1950er Jahren eigene Trägersysteme für die in Deutschland stationierten Atomwaffen der USA und des Vereinigten Königreichs bereit gehalten. Dabei ist von Bedeutung, dass die nukleare Teilhabe keine völkervertragsrechtliche Basis hat. Im NATO-Vertrag ist die nukleare Teilhabe nicht geregelt. Sie ist lediglich ein Teil der NATO-Strategie. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass für die Abänderung dieser Strategie kein Vertrag erforderlich ist (BVerfG 2001, BVerfGE 104,151-214). Die nukleare Teilhabe könnte durch eine Erklärung der Bundesregierung aufgegeben werden.

Der Wortlaut des NVV ist eindeutig. Eine Ausnahme für die im Rahmen der nuklearen Teilhabe stationierten Atomwaffen ist nicht vorgesehen. Damit stellt sich die Frage, ob die Bundesrepublik bei der Unterzeichnung bzw. bei der Ratifizierung des NVV einen förmlichen Vorbehalt erklärt hat, durch den sie sich im Kriegsfall das Recht auf die Verfügungsgewalt über Atomwaffen vorbehalten hat.

Erklärungen der Bundesregierung 1969 und 1975

Die Bundesregierung erklärte am 28. November 1969 anlässlich der Unterzeichnung des NVV u.a. (Deutscher Bundestag 1973, S. 23):

„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland […]

(4) geht davon aus, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch die NATO gewährleistet bleibt; sie bleibt ihrerseits den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO uneingeschränkt verpflichtet; […]“

Bei derselben Gelegenheit erklärte die Bundesregierung in einer auch den damaligen Vertragspartnern des NVV übermittelten Note u.a.:

„Die Bundesregierung geht davon aus, […]

daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verbündeten weiterhin durch die NATO oder ein entsprechendes Sicherheitssystem gewährleistet bleibt, […]“

In einer Erklärung der Bundesregierung vom 2. Mai 1975 anlässlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum NVV heißt es erneut:

„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland […]

2. geht davon aus, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch die NATO gewährleistet bleibt; die Bundesrepublik Deutschland bleibt ihrerseits den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO verpflichtet.“

All diese Erklärungen bezeichnen die Waffen nicht, mit denen nach den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO der Schutz der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte. Obwohl das besondere Interesse der Bundesrepublik der Fortexistenz der nuklearen Teilhabe und der Sicherung der »Europäischen Option« galt (Küntzel 1992, S. 143), sind Atomwaffen in den Erklärungen nicht ausdrücklich genannt. Nach dem Wortlaut der Erklärungen ist nicht ausgeschlossen, dass die NATO die Bundesrepublik ausschließlich mit konventionellen Waffensystemen verteidigen sollte. Auch ergibt sich aus den Erklärungen nicht, dass die seinerzeit bereits praktizierte nukleare Teilhabe nach dem Inkrafttreten des NVV fortgesetzt werden sollte.

Dennoch behauptet die Bundesregierung, dass der NVV der nuklearen Teilhabe nicht entgegensteht. Sie beruft sich dabei auch auf die bei der Unterzeichnung und der Ratifizierung abgegebenen Erklärungen.

Keine wirksamen Vorbehalte

Ob es sich bei diesen Erklärungen um völkerrechtlich wirksame Vorbehalte handelt, ist im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK – BGBl 1985 II, S. 927) völkerrechtlich verbindlich geregelt. Ergibt die Auslegung, dass mit den Erklärungen der Bundesrepublik der Inhalt des NVV einseitig geändert (z.B. eingeschränkt) werden sollte, liegt nach Art. 2 Absatz 1 lit d WVK ein Vorbehalt vor. Dabei hängt die Feststellung, ob es sich um einen Vorbehalt handelt, nicht von der Bezeichnung der Erklärung ab, sondern ausschließlich von deren Inhalt (Heintschel von Heinegg 2014, §15 RdNr. 2).

Bei der Auslegung ist laut Art. 31 WVK der Wortlaut maßgeblich, entgegen dem, was die Parteien bei Abschluss des Vertrages eventuell subjektiv mit den verwendeten Formulierungen meinten (Graf Vitzthum 2019, 1. Abschnitt RdNr. 123; Heintschel von Heinegg 2014, §12 RdNr. 12). Die auch als Gewohnheitsrecht geltende Schlüsselbestimmung Art. 31 Abs.1 WVK lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“

Zulässig sind nach Art. 19 lit c WVK nur Vorbehalte, die mit Ziel und Zweck des Vertrages nicht unvereinbar sind. Das von der Bundesregierung angesprochene Sicherheitssystem der NATO sieht im Kriegsfall im Rahmen der nuklearen Teilhabe die Übergabe von Atomwaffen an Bundeswehrsoldaten, die deutsche Hoheitsträger sind, vor. Mit der Übergabe der Atomwaffen würde der NVV praktisch ausgehebelt, weil dessen Sinn und Zweck darin besteht, dass Atomwaffenstaaten keine Atomwaffen an Nichtatomwaffenstaaten übergeben und diese keine Verfügungsgewalt über Atomwaffen ausüben dürfen. Weitere Regelungen sind in Art. 1 und 2 NVV nicht enthalten. Die Fortgeltung der nuklearen Teilhabe (d. h. die Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen im Kriegsfall) auch nach Beitritt zum NVV würde den Wortlaut und den Sinn und Zweck des NVV in sein Gegenteil verändern. Sie kann gemäß Art. 19 lit c WVK nicht Inhalt eines völkerrechtlichen Vorbehalts sein und ist als Vorbehalt unwirksam.

Die Erklärungen der Bundesregierung können lediglich als Interpretationserklärungen angesehen werden. Diese unterscheiden sich von einem Vorbehalt dadurch, dass sie nicht den Ausschluss oder die Änderung einer Vertragsbestimmung bezwecken, sondern lediglich eine Klarstellung (Heintschel von Heinegg 2014, §15 RdNr. 4). Mehr noch als ein Vorbehalt darf eine Auslegung nicht dem unmissverständlichen Wortlaut oder dem Ziel und Zweck des gesamten Vertrages widersprechen. Das wäre jedoch bei der Klarstellung der Bundesregierung der Fall, die im Kriegsfall eine Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen bedeutet. Sie ist nach Art. 31 Abs.1 WKV und entsprechend Art. 19 lit c WVK unzulässig und damit ohne Rechtswirkung. Möglicherweise übereinstimmende bilaterale Interpretationen der Bundesregierung und der USA (»Rusk-Brief«),2 die im Kriegsfall die Kernvorschriften des NVV gegenstandslos machen würden, stellen die Wirksamkeit des NVV nicht infrage und berechtigen die beiden Staaten nicht, den Vertrag zu brechen.

Auch das seit Bestehen der nuklearen Teilhabe praktizierte Üben des Abwurfes von Atombomben verlangt keine andere Bewertung. Zwar ist gemäß Art. 31 Abs.3 lit b WVK „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages“ zu berücksichtigen. Die gilt jedoch nur, wenn aus ihr „die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“. Die Proteste zahlreicher Nicht-Atomwaffenstaaten gegen die nukleare Teilhabe sprechen dagegen.

Festzuhalten ist: Einen völkerrechtlich wirksamen Vorbehalt über die Fortgeltung der nuklearen Teilhabe hat die Bundesrepublik weder bei der Unterzeichnung noch bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden erklärt. Auch durch eine Vertragsauslegung lässt sich die nukleare Teilhabe nicht völkerrechtlich rechtfertigen.

Zwar nehmen alle NATO-Staaten nach wie vor den so genannten »Kriegsvorbehalt« in Anspruch. Danach soll der NVV dann nicht mehr gelten, wenn „eine Entscheidung, Krieg zu führen, getroffen wird“ („in welchem Zeitpunkt der Vertrag nicht mehr maßgebend wäre“) (»Rusk-Brief«; vgl. Fußnote 2). Wenn dieser öffentlich verschwiegene Kriegsvorbehalt völkerrechtlich wirksam wäre, würde er den NVV und das in ihm enthaltene Verbot der Weitergabe von Atomwaffen an Nicht-Atomwaffenstaaten im Spannungs- und Kriegsfall praktisch gegenstandslos machen.

Belege für das völkerrechtlich wirksame Zustandekommen eines förmlichen Vorbehalts zu Art. II des NVV sind der Öffentlichkeit bislang nicht vorgelegt worden. Es bestehen gewichtige völkerrechtliche Einwände gegen seine Wirksamkeit, und zwar sowohl hinsichtlich des Verfahrens (fehlende nachgewiesene Kenntnisgabe des »Rusk-Brief« an die NVV-Vertragspartner gem. Art. 23 WVK) als auch in materieller Hinsicht (Vereinbarkeit im Sinne von Art. 19 WVK mit Ziel und Zweck des NVV).

Die Übergabe der entsperrten Atomwaffen im Kriegsfall an Soldaten der Bundeswehr verletzt den NVV. Wenn der Transport und der Abwurf von einsatzbereiten Atomwaffen durch Bundeswehrsoldaten rechtswidrig sind, lässt sich auch das Üben insoweit nicht mit dem Völkerrecht rechtfertigen.

Atomwaffeneinsatz wäre ein Völkerrechtsverbrechen

In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von Bedeutung, dass nach einem verbindlichen Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) jeglicher Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist (IGH 1996). Die Drohung mit dem Einsatz und der Einsatz von Atomwaffen, so der Gerichtshof, verstoßen generell gegen die Regeln des Völkerrechts, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts. Auch Notwehr mit Atomwaffen ist grundsätzlich völkerrechtlich verboten, weil diese nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen unterscheiden, vor allem durch ihre radioaktive Strahlung unnötige Qualen verursachen und neutrale Staaten grenzüberschreitend in Mitleidenschaft ziehen. Der IGH erklärte, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta durch das humanitäre Völkerrecht eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden“ (IGH 1996, Ziff. 40, 41, 42, 78).3 Eine abweichende Regel für extreme Notwehrlagen, in denen das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ist dem Völkerrecht nicht zu entnehmen. Das bedeutet, dass für Staaten Notwehr nur mit Waffen zulässig ist, welche die Bedingungen des humanitären Völkerrechts erfüllen. Diese Bedingungen können die im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Deutschland stationierten Atomwaffen nicht erfüllen. Dementsprechend untersagte das Bundesministerium der Verteidigung in der Ausgabe 2006 der »Taschenkarte« den Soldaten der Bundeswehr ausdrücklich den Einsatz von Atomwaffen (BMVg 2006).

Die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts gehören laut IGH zum internationalen Gewohnheitsrecht (IGH 1996, Ziff. 79). Sie sind nach Art. 38 IGH-Statut geltendes Völkerrecht und in Deutschland als allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG vorrangiger Bestandteil des Bundesrechts. Der NVV selbst gilt in der Bundesrepublik seit der Ratifizierung nach Art. 59 Abs. 2 GG als innerstaatlich anzuwendendes Völkervertragsrecht.

Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die Bundesregierung und alle Soldat*innen der Bundeswehr ausnahmslos an dieses Recht gebunden. Sie könnten ihre Teilnahme an einem Atomwaffeneinsatz nicht rechtfertigen. Alle für den Atomwaffeneinsatz Verantwortlichen wären in diesem Fall wegen Völkerrechtsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Anmerkungen

1) Die Bundesrepublik unterzeichnete den Vertrag am 28. November 1969 und ratifizierte ihn am 2. Mai 1975.

2) Vgl. dazu die dem Deutschen Bundestag von der Bundesregierung für die Beratung des Zustimmungsgesetzes vor der Ratifizierung des NVV vorgelegte »Denkschrift« des Auswärtigen Amtes (in: Deutscher Bundestag 1973). In dieser wird die entsprechende US-amerikanische »Interpretationserklärung« des US-Außenministers Rusk (»Rusk-Brief«) wiedergegeben (S. 17).

3) Ziff. 42 wörtlich: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann allein für sich genommen die Anwendung von Atomwaffen in Notwehr nicht unter allen Umständen ausschließen. Aber gleichzeitig muß eine Gewaltanwendung, die nach dem Notwehrrecht verhältnismäßig ist, um rechtmäßig zu sein auch die Forderungen des für bewaffnete Konflikte verbindlichen Rechts erfüllen, was insbesondere die Grundsätze und Regeln des humanitären Völkerrechts umfaßt.“

4) Dieses Dokument enthält den Gesetzesentwurf der Regierung Brandt, den Text des NVV, die »Denkschrift zum Vertrag«, die »Erklärung der Bundesregierung bei der Unterzeichnung des NV-Vertrages«, die »Note der Bundesregierung zur Unterzeichnung des NV-Vertrages«, eine Erklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vom 28.11.1969 und etliche weitere Dokumente von historischer Relevanz.

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2006): Druckschrift Einsatz Nr. 03 – Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten – Grundsätze. August 2006, Dokument DSK SF009320187.

Bundesverfassungsgericht/BverfG (2001): Zustimmung der Bundesregierung zum neuen strategischen Konzept der NATO – Urteil des Zweiten Senats vom 22. November 2001; BverfGE 104, 151-214.

Deutscher Bundestag (1973): Gesetzesentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Bundestag-Drucksache 7/994 vom 10.9.1973.4

Graf Vitzthum, W. (2007): Die Rechtsquellen des Völkerrechts. In: derselbe: Völkerrecht. Berlin: De Gruyter, 4. Auflage.

Heintschel von Heinegg, W. (2014): Die Rechtswirkungen von Vorbehalten und Widersprüchen. In: Ipsen, K.: Völkerrecht. München: C.H. Beck, 6. Auflage.

Internationaler Gerichtshof/IGH (1996): Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen. Rechtsgutachten vom 8.7.1996, Allgemeine Liste 95. In: IALANA (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT. Deutsche Übersetzung des Rechtsgutachtens durch IALANA.

Küntzel, M. (1992): Bonn und die Bombe – Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt. Frankfurt/M.: Campus.

Nassauer, O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen – NVV. Offizielle deutsche Übersetzung auf auswaertiges-amt.de.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (­IALANA) und war viele Jahre im Vorstand von W&F aktiv.

Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko


Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko

Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen

von Otfried Nassauer

Unter Donald Trump verändert Washington die Konzeption der nuklearen Abschreckung rasch und mit großer Effizienz. Die USA denken erneut über begrenzte atomare Kriege nach und führen dafür geeignete Waffen ein. Nuklearwaffen gewinnen an militärischer und verlieren an politischer Bedeutung. An keiner Waffe wird das so deutlich wie an dem gerade neu eingeführten Sprengkopf W76-2 mit niedriger Sprengkraft für U-Boot-gestützte Langstreckenraketen. Dieser vergrößert die nuklearen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der USA massiv. Er wird auch die NATO zu erneutem Nachdenken über nukleare Eskalation und nukleare Teilhabe zwingen.

Als die USS Tennessee, ein Atom-U-Boot der Ohio-Klasse, Ende 2019 zu einer neuen Patrouillenfahrt aufbrach, markierte dies eine Zäsur für die nukleare Abschreckung der USA. Das U-Boot hatte zum ersten Mal eine oder mehrere Langstreckenraketen vom Typ Trident II D5 an Bord, die einen einzelnen Sprengkopf des neuen Typs W76-2 trugen. Dieser hat eine deutlich kleinere Sprengkraft als die großen Mehrfachsprengköpfe der Typen W76-1 und W88 auf den anderen Trident-Raketen an Bord. Die Sprengkraft beträgt etwa acht Kilotonnen, also etwas mehr als der Hälfte der Bombe, die Hiroshima zerstörte.1 Der Sprengkopf W76-2 soll den USA deutlich flexiblere Optionen für begrenzte Nuklearwaffeneinsätzen (Limited Nuclear Options) auf regionalen Kriegsschauplätzen ermöglichen als die bisherige Standardbewaffnung der strategischen U-Boote. Diese können dann neben ihrer traditionellen strategischen Rolle im Kontext eines globalen nuklearen Schlagabtauschs auch eine Rolle in regional begrenzten Kriegen spielen, ganz gleich, ob als Reaktion auf den Einsatz taktischer Atomwaffen durch einen örtlichen Gegner oder im Rahmen eines atomaren Ersteinsatzes (first use) seitens der USA. Die Möglichkeit, in einem Konflikt als erster zu Nuklearwaffen zu greifen, hält sich Washington bereits seit Jahrzehnten sowohl national als auch in der NATO explizit offen.

Das Ziel, einen solchen Sprengkopf einzuführen, verfolgt die Administration von Donald Trump von Anbeginn an. Im Januar 2018 verabschiedete sie eine »National Defense Strategy«, die die Wiederkehr einer Großmächtekonkurrenz mit Russland und China proklamierte, aber auch versprach, kleinere Konflikte, wie jene mit Nordkorea und dem Iran, nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Prioritätensetzung prägte nur einen Monat später auch Trumps »Nuclear Posture Review« und dessen Konzept einer maßgeschneiderten Abschreckung, jeweils zugeschnitten auf diese potentiellen Gegner. Aus der Addition der dafür für erforderlich gehaltenen nuklearen Fähigkeiten wurde die Notwendigkeit abgeleitet, mehr vorhandene Nuklearwaffen weiter in Dienst zu halten als bisher vorgesehen, die vorhandenen Pläne für eine umfassende Modernisierung der vorhandenen atomaren Trägersysteme und Sprengköpfe und der nuklear-industriellen Infrastruktur weiterzuführen und zu beschleunigen sowie zwei nukleare Fähigkeiten neu einzuführen: einen seegestützten Raketensprengkopf kleiner Sprengkraft und neue nukleare seegestützte Marschflugkörper.2

Zwei Jahre später ist der Sprengkopf kleiner Sprengkraft für U-Boot-Raketen stationiert und einsetzbar. In einem ersten kleinen »Kriegsspiel« des Strategischen Oberkommandos der USA wurde im Februar 2020 erstmals der Einsatz als Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz in Europa simuliert.

Die Gründe dafür, dass die Einführung dieses Sprengkopfs so viel schneller als üblich realisiert werden konnte, sind leicht auszumachen: Die U-Boote der Ohio-Klasse sind schon lange im Dienst. Für die Trägerraketen des Typs Trident II D5 gilt das auch. Nur wenige der vorhandenen, gerade in Modernisierung befindlichen Sprengköpfe vom Typ W76 mussten dafür modifiziert und die Sprengkraft auf etwa acht Kilotonnen reduziert werden. Auch dafür gab es schon ein Vorbild, das unter Mitwirkung der USA vor Jahren entstand: Großbritannien nutzt an Bord seiner von den USA geleasten Trident-Raketen schon lange einen aus dem W76 abgeleiteten nicht-strategischen Atomsprengkopf kleinerer Sprengkraft als Ersatz für seine 1998 aufgegebenen Atombomben vom Typ WE177. Diese Lösung dürfte als Vorbild für den W76-2 genutzt worden sein. Technisch funktioniert das so: Man verzichtet darauf, den für das Erreichen der maximalen Sprengstärke verantwortlichen zweiten nuklearen Sprengsatz des W76, das so genannte Secondary, zur Explosion zu bringen. Nur der kleinere nukleare Zündsprengsatz, das Primary, wird noch gezündet. Dadurch sinkt die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen.

Diese Lösung war offenbar auch günstig: Kostet die Modifikation eines vorhandenen atomaren Sprengkopfs zu einer neuen Version meist etliche Milliarden US$, so wurden für den W76-2 vom Verteidigungs- und vom Energieministerium zusammen Kosten von weniger als 100 Mio. US$ beantragt, verteilt auf die Haushaltsjahre 2019 bis 2023. Vermutlich sollen nur etwa 50 Exemplare der neuen Sprengkopfvariante gebaut und auch nicht alle 14 U-Boote der Ohio-Klasse damit ausgestattet werden. Da der Großteil der Kosten beim Pentagon anfällt, ist davon auszugehen, dass das Energieministerium seinen Kostenanteil aus dem vorhandenen Budget für die Modernisierung von W76-Sprengköpfen zur Version W76-1 begleicht. Schließlich traf das Vorhaben auch im US-Kongress auf vergleichsweise geringen Widerstand: Zum einen waren die Zusatzkosten gering, zum anderen betrug die Sprengkraft mehr als fünf Kilotonnen und rief deshalb keine neue Debatte über Sprengköpfe kleinster Sprengkraft (mini-nukes) hervor.

Mit den Anträgen für das Budgetjahr 2021 macht die Trump-Administration deutlich, dass sie das Konzept kleiner atomarer Sprengköpfe längerfristig mit Verve verfolgen will. Der Budgetvorschlag enthält erstmals Mittel in Höhe von 53 Mio. US$ für Konzeptstudien zu einem künftigen, flexibel abwandelbaren atomaren Sprengkopf vom Typ W93/MK7. Diese Kombination aus einem Sprengkopf neuer Bezeichnung und einem neuen Wiedereintrittsflugkörper soll im nächsten Jahrzehnt ältere Trident-Sprengköpfe ablösen, vorrangig wohl den W76 in seinen verschiedenen Versionen, und zudem – wie schon der W76 – Grundlage für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe werden. Damit erhält das Vorhaben legitimatorisch die höheren Weihen bündnispolitischer Solidarität gegenüber Großbritannien, und die Aussicht auf eine Bewilligung im Kongress steigt. Bis 2025 sollen bereits mehr als 1,8 Mrd. US$ bereitgestellt werden.

Noch sind die technischen Eckwerte für diesen Sprengkopf nicht festgeschrieben. Eine umfassende Studie soll zunächst die technisch möglichen Optionen aufzeigen, so der Auftrag des interministeriellen Nuclear Weapons Council. In diesem Kontext soll auch geprüft werden, ob nukleare Komponenten vorhandener Sprengköpfe erneut genutzt werden können. Die Chefin der für die Entwicklung und Modernisierung nuklearer Sprengköpfe zuständigen National Nuclear Security Agency, Gordon-Hagerty, war bei einer Anhörung vor dem Unterausschuss für Strategische Streitkräfte des Repräsentantenhauses bemüht, intensive Debatten zu meiden. Man plane – abhängig von den Ergebnissen der Studie – keine neuen Atomwaffentests und werde – wenn möglich – auf nukleare Komponenten zurückgreifen, die bereits für eingeführte Sprengköpfe getestet wurden. Auf die Frage, ob es sich um einen „neuen Sprengkopf“ handele, antworteten die Regierungsvertreter*innen ausweichend.

Da der W93/MK7 als Basis für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe dienen soll, ist davon auszugehen, dass britische Anforderungen an dessen Fähigkeiten in das Entwicklungsvorhaben einfließen werden. Dass Großbritannien sich bereits auf eine solche Zusammenarbeit mit den USA festgelegt hatte, erfuhr die überraschte britische Öffentlichkeit von Mitarbeitern der Trump-Administration, nicht von ihrer eigenen Regierung. Dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace blieb keine andere Wahl als verklausuliert zu bestätigen, dass eine Zusammenarbeit mit den USA vereinbart sei. Er teilte mit: „Wir werden weiterhin eng mit den USA zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass unsere Nuklearsprengköpfe mit dem strategischen Waffensystem Trident kompatibel bleiben. Die Beschaffung von »Ersatzsprengköpfen« werden Gegenstand sowohl der Beschaffungsplanung als auch der dafür erforderlichen politischen Zustimmungsprozesse in Großbritannien sein.3

Die Militärdoktrin Russlands – eine fragwürdige Rechtfertigung

Fragt man in den USA, warum die Einführung seegestützter kleiner Atomsprengköpfe so dringlich sei, so erhält man meist ideologisch motivierte, nukleartheologische Antworten. Die konservative US-Debatte über russische Atomwaffen ist von der These geprägt, Russland verfolge eine Strategie der Eskalation, um seine Gegner zur Deeskalation zu zwingen (escalate to de-escalate).4 Will man Genaueres wissen, wird oft folgendes Szenario beschrieben: Russland habe den Ersteinsatz kleiner, taktisch-nuklearer Waffen zum Bestandteil seiner Militärdoktrin gemacht. Geheime Manöverauswertungen hätten gezeigt, dass Moskau plane, im Fall einer militärischen Konfrontation, zum Beispiel im Baltikum, als erste Konfliktpartei kleine Atomwaffen einzusetzen und darauf zu spekulieren, dass Washington keine geeignete nukleare Reaktionsmöglichkeit besitze. Die Atomwaffen der USA seien entweder viel zu groß, um deren Einsatz zu rechtfertigen, oder es gäbe effektive Abwehrmöglichkeiten. Moderne russische Flugabwehrsysteme könnten zum Beispiel die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO abfangen. Washington werde deshalb eher einlenken als eine Eskalation auf die strategisch-nukleare Ebene zu riskieren. Als Strategie des »escalate to de-escalate« lässt sich ein solches Szenario öffentlichkeitswirksam verkaufen.

Doch der Blick in die russische Militärdoktrin lässt nur zwei Fälle erkennen, in denen der Einsatz von russischen Atomwaffen erfolgen könnte: erstens als Antwort auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen gegen Russland oder seine Verbündeten und zweitens als Antwort auf einen konventionellen Angriff, der die staatliche Existenz der Russischen Föderation (nicht aber derer Verbündeter – der Verfasser) gefährdet. In letzterem Fall ist ein Ersteinsatz nicht ausgeschlossen. Da dieser zweite Fall die ernsthafte Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands voraussetzt, sind die Bedingungen für einen Ersteinsatz aber deutlich enger gefasst als bei der NATO oder den USA. Beide Aussagen stehen darüber hinaus in der Tradition des sowjetischen Denkens über die kriegsverhindernde Rolle von Nuklearwaffen.

Der Ursprung der »escalate to de-escalate«-Lesart liegt wohl in der US-Debatte. Dort unterstellen konservative Nukleartheologen ihren russischen Antipoden offenbar ihre eigenen, auf spieltheoretischer Grundlage entwickelten Ansätze und begründen so, dass die von ihnen für notwendig gehaltenen Atomwaffen kleinerer Sprengkraft unbedingt eingeführt werden müssen.

Abschreckung durch Kriegführungsfähigkeit

Fragt man, was die USA tun könnten, um in einem »escalate to de-escalate«-Szenario die nukleare Abschreckung glaubwürdiger zu machen, so lautet die Antwort meist: Die USA brauchen prompt und flexibel über große Entfernungen einsetzbare Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft, mit deren Einsatz sie glaubwürdig drohen können und gegen die es keine wirksame Verteidigung gibt. Unverwundbar auf U-Booten stationierte ballistische Raketen großer Reichweite mit einem kleinen Sprengkopf seien dafür besonders geeignet.

Der kleine Sprengkopf auf strategischen U-Booten erfüllt also jenen Nukleartheoretikern, Militärstrategen, Generalen und Admiralen einen lange gehegten Wunsch, die glauben, dass Abschreckung nur glaubwürdig ist, wenn sie sich auf vorhandene, glaubhaft einsetzbare militärische Fähigkeiten abstützen kann, einen Krieg mit atomaren Waffen auch regional begrenzt führen zu können – also den Verfechtern einer Kriegführungsabschreckung. Anhängern einer Abschreckung, die auf Kriegsverhinderung zielt, für die Nuklearwaffen vor allem eine politische, den Ausbruch von Kriegen verhindernde Rolle haben, treibt ein solcher Sprengkopf dagegen Schweißperlen auf die Stirn.

Das ist aus mehreren Gründen so: Zum einen befürchten sie, dass die Hemmschwelle vor einem Nuklearwaffeneinsatz sinkt, wenn Waffen eine hohe Zielgenauigkeit haben und aufgrund ihrer kleinen Sprengkraft deutlich geringere »Kollateralschäden« versprechen. Für den Besitzer solcher Waffen könnte der Anreiz steigen, diese als erster einzusetzen, um den Gegner durch einen begrenzten Nuklearschlag vor die Wahl zu stellen, entweder keine nukleare Antwort zu geben oder die Auseinandersetzung auf die Ebene eines globalen Atomkriegs zu eskalieren. So könnte man selbst ein »escalate to de-escalate«-Szenario schaffen, das Russland vor diese Alternative stellt. Schließlich könnten solche Waffen auch zu der Hoffnung verleiten, nukleare Konflikte auf Kriegsschauplätze, wie Europa oder die koreanischen Halbinsel, begrenzen und die USA davon abkoppeln zu können.

Dies alles verbindet sich mit der Logik der Kriegführungsabschreckung. Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass das US-Militär seit 15 Jahren erstmals wieder über eine teilstreitkraft-übergreifende Grundlagenvorschrift für »Nuclear Operations« (Dokument JP3-72, 2019) verfügt. Auch sie atmet diesen Geist der Kriegführungsabschreckung.

Folgen für die NATO

Die Veränderungen in der Nuklearpolitik unter Donald Trump werden nicht ohne Auswirkungen auf die NATO und auf deren System der Nuklearen Teilhabe bleiben. Dafür gibt es drei Anzeichen:

Zum einen verabschiedete der Militärausschuss der NATO eine neue NATO-Militärstrategie, über die sich der NATO-Oberbefehlshaber, General Wolters, erfreut zeigte: Sie „sehe sehr ähnlich aus wie die Nationale Verteidigungsstrategie“ der USA.5. Das NATO-Dokument »Comprehensive Defense and Shared Response« (2019) ist als geheim eingestuft.6

Zum Zweiten verbesserten die USA im Herbst 2019 wahrscheinlich die technischen Sicherheitsvorkehrungen an Bord ihrer in Deutschland gelagerten nuklearen Bomben, sowohl im Blick auf die Hardware als auch bezüglich der Software. Dazu wurden die bisher in Deutschland gelagerten Waffen in die USA zurücktransportiert und wohl gegen andere Waffen ausgetauscht. Deren neue »Use Control» -Systeme sollen garantieren, dass die Waffen nur explodieren können, wenn sie bei exakt den Missionen eingesetzt werden, für die sie der US-Präsident freigibt. In allen anderen Fällen sollen sich die Waffen selbst unbrauchbar machen. Für das im Oktober 2019 beginnende US-Haushaltsjahr 2020 war schon vor zehn Jahren ein solches Upgrade vorgesehen. Dies erfordere Änderungen, die nur in den USA vorgenommen werden können.7

Zum Dritten konfrontiert die Stationierung der Trident-Raketen mit W76-2 Sprengköpfen die NATO mit der einer Zäsur, denn die Ausgangslage für europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa verändert sich grundlegend. Während des Kalten Krieges und im Grundsatz bis in das vergangene Jahr ließen sich europäische Mitsprachewünsche im Hinblick auf Atomwaffeneinsätze im Rahmen der nuklearen Teilhabe immer mit mindestens einem der folgenden Argumente begründen:

  • Der Einsatz atomarer Waffen erfolgt vom Territorium europäischer Staaten aus.
  • Die US-Waffen kommen aus Depots in Europa.
  • Viele nuklearfähige Trägersysteme gehören europäischen Staaten und werden von Soldaten dieser Ländern betrieben.
  • Schließlich lagen während des Kalten Krieges auch viele Ziele dieser Waffen auf dem Territorium europäischer Staaten.

Im Kern galt bislang: Sollte der Zusammenhalt in der NATO nicht komplett riskiert werden, so müssten sich die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks ins Benehmen setzen. Der US-Präsident träfe zwar die letzte Entscheidung über die Freigabe jeder substra­tegischen Nuklearwaffe. Ohne Konsultation mit oder gar gegen den erklärten Willen der betroffenen europäischen Staaten könnten diese Waffen aber nur um den Preis eines potentiellen Zerfalls der NATO eingesetzt werden. Dies galt im politischen Sinn, unabhängig davon, ob die europäischen Staaten in der NATO oder in ihrem bilateralen Verhältnis zu den USA je ein Mitsprache- oder Mitentscheidungsrecht im juristischen Sinn hatten. Dies engte zugleich den Spielraum der USA ein, einen atomaren Konflikt auf Europa zu begrenzen.

Künftig könnte das grundlegend anders sein. Obgleich ein potentieller Einsatz des Sprengkopfes W76-2 in den USA bisher meist als Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz beschrieben wird, könnte diese Waffe auch für einen Ersteinsatz durch die USA attraktiv sein. Ähnlich wie die Pershing-II der 1980er Jahre hat eine Trident-II mit dem neuen Sprengkopf mehrere Vorteile: die kleine Sprengkraft, der geringere »Kollateralschaden«, eine kurze Flugzeit, eine Reichweite bis nach Russland und vor allem die Verlagerung der Entscheidung darüber, ob der Krieg tatsächlich weiter eskalieren soll, zum Gegner. Zudem können die USA jetzt aus internationalen Gewässern von einem US-Boot eine US-Rakete mit einem einzigen US-Sprengkopf als bevorzugtes substrategisches Mittel für einen begrenzten ersten atomaren Einsatz nutzen und dabei wählen, ob das Ziel dieses Einsatzes auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt. Da US-U-Boote der NATO auch in Krise und Krieg nicht unterstellt werden, braucht Washington kein europäisches Mittun mehr, wenn es die Schwelle zu einem auf den europäischen Kriegsschauplatz begrenzten Nuklearwaffeneinsatz überschreiten will.

Gerade weil dies den nuklearen Ersteinsatz und damit das Überschreiten der nuklearen Schwelle betrifft, verändert dies aus europäischer Sicht vieles. Schon als die NATO in den späten 1960er Jahren begann, detaillierte Konsultationsmechanismen für den Nuklearwaffeneinsatz einzuführen, war dies der zentrale Streitgegenstand. Es entstanden zwei Dokumente: Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes nuklearer Waffen; das andere befasste sich mit der Einzelfrage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also dem Überschreiten der nuklearen Schwelle. Dieses Papier betraf damit zugleich die Frage nach dem Primat der Politik und nach der politische Kontrolle über die militärische nukleare Planung. Zweifellos war das aus europäischer Sicht die wichtigste Frage, bei der man mitreden oder mitentscheiden wollte: Wann und in welcher Form soll ein erster Einsatz nuklearer Waffen erfolgen? Die NATO hielt sich ja wie die USA die Möglichkeit eines Ersteinsatzes offen.

Deutschland und die Zukunft der Nuklearen Teilhabe

„Deutschland bleibt über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden. So steht es im Weißbuch der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, und so gilt es bis heute. Die Bundesregierung will, dass weiterhin US-Atomwaffen in Deutschland stationiert bleiben, die von deutschen Trägerflugzeugen eingesetzt werden können. Das Verteidigungsministerium drängt zu diesem Zweck auf eine rasche Beschaffung von 30 Flugzeugen des Typs F-18F, die den ­Tornado ablösen sollen. Dieser Flugzeugtyp muss jedoch für den Einsatz als nuklearer Jagdbomber erst noch zertifiziert werden. Unklar ist auch, ob die F-18F, anders als der Tornado, alle zusätzlichen operativen Möglichkeiten der modifizierten Atombombe B61-12 nutzen könnte, so deren deutlich verbesserte Zielgenauigkeit und die Fähigkeit zum Einsatz gegen verbunkerte Ziele. Die Stationierung dieses Bombentyps soll in wenigen Jahren beginnen. Er wird über hochmoderne Use-control-Features verfügen, die möglicherweise die nukleare Rolle von Jagdbombern auf Einsatzformen beschränken, die bei einem Ersteinsatz wenig oder keinen Sinn machen.

Die Hoffnung, man könne mit der nuklearen Teilhabe gegebenenfalls Einfluss auf einen Ersteinsatz von US-Atomwaffen in Europa nehmen, dürfte durch die Modernisierung des Nukleararsenals der USA also wohl hinfällig werden. Der geplante Kauf von nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen würde dann zu einem sehr teuren Selbstbetrug. Er erfüllt seinen vorgeblichen Zweck nicht mehr.

Anmerkungen

1) Für diesen Artikel wurde folgende Beiträge genutzt:
Arkin, W.A.; Kirstensen, H.M. (2020): US Deploys New Low-Yield Nuclear Submarine Warhead. Federation of American Scientists, Strategic Security Blog29.1.2020.
Wolf, A.F. (2020): A Low-Yield, Submarine-­Launched Nuclear Warhead: Overview of the Expert Debate. Washington D.C.: Congression­al Research Service, 10.1.2020.
Aaron Mehta (2020): Inside America’s newly revealed nuclear ballistic missile warhead of the future. Defense News, 24.2.2020.
U.S. House Armed Services Committee (2020): Subcommittee on Strategic Forces Hearing – The Fiscal Year 2021 Budget Request for Nuclear Forces and Atomic Energy Defense Activities. 3.3.2020.

2) Für eine nähere Darstellung siehe Nassauer, O.: »Tailored Deterrence« – Eine Nuklearpolitik für Donald Trump. W&F 1-2018, S. 14-17.

3) UK Ministry of Defense (2020): Defence Secretary announces programme to replace the UK’s nuclear warhead. gov.uk, 25.2.2020.

4) Siehe z.B. Kroenig, M. (2018): Deterring Russian Nuclear De-escalation Strikes. Washington D.C.: Atlantic Council of the United States, April 2018.

5) U.S. Senate, Committee on Armed Services (2020): Hearing to receive testimony on United States European Command and United Stations Transportation Command in review of the Defense Autorization Request for Fiscal Year 2021 and the future years defense program. 25.2.2020, S. 33.

6) Ibid, S. 11 und 33.

7) U.S. Department of Energy, National Nuclear Security Agency (o.J.): FY09 Refurbishment Planning Schedule; online unter fas.org/­programs/ssp/nukes/images/nnsachart.pdf.

Otfried Nassauer ist Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) und arbeitet als freier Journalist.

Atombomber in Zeiten von Corona


Atombomber in Zeiten von Corona

von Regina Hagen

Die deutsche Verteidigungsministerin will 148 Flugzeuge bestellen: 93 Eurofighter für Kampfeinsätze, 15 F-18 »Growler« für die Elektronische Kriegsführung sowie 30 F-18 »Super Hornet«. Die F-18 sollen den Tornado ersetzen und kommen aus den USA; ihren dortigen Kollegen Esper setzte sie von der Kaufabsicht in Kenntnis. Darüber berichtet DER SPIEGEL am 19.4.20.

Barbara Junge (taz, 22.4.20, S. 12) kommentiert: „Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat ein un­trügliches Gespür für die falsche Entscheidung im falschen Moment. Mitten in der globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise muss gewiss nicht entschieden werden, welche Kampfjets künftig für Deutschland US-amerikanische Atombomben zu deren Zielen fliegen sollen. Genau dafür sind die F-18 »Super Hornet« aber vorgesehen. Es gehe, so Werner Sonne (tagesspiegel.de, 21.4.20), „nicht nur um einen Milliardendeal, um die Stützung der deutschen Rüstungsindustrie, und auch nicht nur um ein wichtiges Signal in Richtung Washington. All das gehört dazu. Vor allem aber steht die deutsche Sicherheitsarchitektur ganz grundsätzlich zur Disposition: die nukleare Teilhabe, der deutsche Beitrag zum atomaren Schutzschirm der Nato.

Widerstand aus dem Parlament

In der SPD sind viele verärgert, „denn über ihren Alleingang, in Form einer E-Mail an den Amtskollegen Mark Esper in den USA, informierte die CDU-Politikerin weder den Koalitionspartner SPD noch das Parlament“ (Daniel Lücking, nd, 21.4.20, S. 8). Dem scheint nicht ganz so zu sein. „Aus dem Ministerium heißt es, die SPD sei über die Regierungsmitglieder wie Finanzminister Olaf Scholz eingebunden“ (SZ, 21.4.20, S. 6), auch Außenminister Maaß war offenbar informiert. Es geht jedoch um mehr als verletzte Eitelkeiten: „SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sperrt sich schon seit Monaten gegen den Kauf der US-Flieger, weil diese die Fähigkeit zum Transport von Atomwaffen haben. (Daniela Vates, FR, 21.4.20, S. 9) „Dabei bleiben oder aussteigen aus der nuklearen Teilhabe – darum geht es. Und der Riss […]geht vor allem mitten durch die SPD. Kampf dem Atomtod – das war der Schlachtruf der Sozialdemokraten, als es Ende der fünfziger Jahre um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging. Und das steckt bis heute bei vielen SPD-Linken in ihrer DNA. (Werner Sonne, tagesspiegel.de, 21.4.20)

Aus anderen Parteien gab es ebenfalls Protest, u.a. wegen der Umgehung des Parlaments; hier wiegelt das Verteidigungsministerium indessen ab: Eine Kaufzusage habe sie aber nicht abgegeben, das sei Sache des Parlaments. (nd, 21.4.20, S. 4) Tobias Lindner von den Grünen ist dennoch unzufrieden: „Selbst wenn das Schreiben nur informellen Charakter hat, setzt es die Abgeordneten unter Druck […]. (FR, 21.4.20, S. 9) Der Bundestag allerdings wird erst nach den Verhandlungen mit Boeing über den Kauf entscheiden, also nach der Bundestagswahl.

Praktische und fachliche Bedenken

Zum Kauf der F-18 »Super Hornet« stellen sich auch fachliche Fragen, die nicht einfach wegzuwischen sind. „Unabhängig von der Frage, ob ein Einsatz militärisch sinnvoll oder moralisch vertretbar wäre: Bei Einsatzreichweiten von rund 2000 Kilometern gibt es nicht viele Ziele, die außerhalb von EU-Territorium liegen“, erklärt Moritz Kütt (fr.de, 23.4.20). ­Malte Lehming (tagesspiegel.de, 22.4.20) verweist darauf, „die Vorstellung, dass ein Pilot in Europa in ein Flugzeug steigt und dann seine Bomben abschmeißt,“ sei „veraltet. Künstliche Intelligenz, bewaffnete Drohnen, Cyberwar: Das sind die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.

Dazu kommt ein weiteres Problem: Weil es sich um amerikanische Atomwaffen handelt, müssen die entsprechenden Kampfflugzeuge auch von den USA für nukleartauglich erklärt, also zertifiziert werden (Marcus Pindur, deutschlandfunk, 25.4.20). Werner Sonne (tagesspiegel.de, 21.4.20) hat weitere Bedenken: „Militärtechnisch ist der Kauf des US-Modells F-18 ein Unfug: ein altes Marineflugzeug, das […] in wenigen Jahren bei den US-Streitkräften ausgemustert wird.

Außerdem geht es um viel Geld. „Der Hersteller Boeing verspricht zwar, sich um die Zertifizierung zu bemühen. Im Falle eines Misserfolges hätte Deutschland geschätzt 1,3 bis 1,9 Milliarden Euro für 30 Flugzeuge ohne Verwendungszweck ausgegeben.(Moritz Kütt, fr.de, 23.4.20). Das Gesamtpaket für die Eurofighter und F-18 bewegt sich allerdings in einer anderen Dimension: „Laut ICAN-Berechnungen könnten sich die Gesamtkosten […] über eine veranschlagte 30-jährige Nutzungszeit mit Ausgaben für Wartung, Treibstoff etc auf mehr als 100 Milliarden Euro belaufen“, berichtet Michael Merz (jw, 21.4.20, S. 1).

Der Schutz von Menschenleben

Moritz Kütt (fr.de, 23.4.20) setzt die Diskussion in einen aktuellen Kontext: Jede einzelne F18 kostet etwa so viel wie 2000 bis 3000 intensiv-medizinische Beatmungsgeräte, die weltweit dringend zum Schutz von Leben benötigt werden. Statt deutsche Steuerzahlerinnen und -zahler den potenziellen Einsatz von Massenvernichtungswaffen finanzieren zu lassen, sollten diese Mittel die internationale Gemeinschaft in der Krisenbewältigung unterstützen. Barbara Junge (taz, 23.4.20, S. 12) zieht daraus einen Schluss: „Jetzt wäre der Moment, die Logik des nuklearen Schutzschirms generell in Frage zu stellen. Leider ist die Verteidigungsministerin dazu nicht bereit. Anders formuliert: „Statt jetzt über den Erhalt eines Waffensystems für die nächsten Jahrzehnte zu entscheiden, sollte vielmehr folgende Frage gestellt werden: Sind Kernwaffen nach der Corona-Krise noch systemrelevant?“ (Moritz Kütt, fr.de, 23.4.20)

Bundeskanzlerin Merkel sagte am 18. März 2020 in einer Fernsehansprache: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt. Sie sprach von Corona-Toten. Selbst eine »kleine« Atombombe würde sehr viele Menschen das Leben kosten. Gilt Merkels Plädoyer für sie nicht?

Zitierte Quellen: DE – Darmstädter Echo, deutschlandfunk, FR bzw. fr.de – Frank­furter Rundschau, jw – junge welt, nd – neues deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, tagesspiegel.de, taz – tageszeitung

Mythos nukleare Abschreckung


Mythos nukleare Abschreckung

von Ute Finckh-Krämer

Für den Begriff »Abschreckungstheorie« liefert der Duden folgende Definition: „Theorie, nach der ein potenzieller Gegner durch das Bereitstellen militärischer Mittel und die Fähigkeit und Bereitschaft, diese anzuwenden, von einem Angriff abgehalten werden soll.“ Kennzeichen der nuklearen Abschreckung sind die Fähigkeit, einen Gegner mit Atomwaffen im Extremfall vollständig zu vernichten, und im Gegenzug das Risiko, selbst vernichtet zu werden. Ist die Tatsache, dass seit 1945 keine Atomwaffe zum Einsatz kam, der Beweis für das Funktionieren der Abschreckungstheorie? Die Autorin macht auf Risiken, Widersprüche und Chancen aufmerksam.

Die Diskussion über die inneren Widersprüche des nuklearen Abschreckungskonzeptes begann vor über 50 Jahren. Dieter Senghaas wies bereits 1969 nach, dass Abschreckung und Frieden sich gegenseitig ausschließen: „Frieden, der nicht nur organisierte Friedlosigkeit wäre, ist nur möglich und denkbar jenseits von Abschreckung. (Senghaas 1981, S. 286)

Wie wir alle wissen, führte der Kalte Krieg trotz eines massiven Wettrüstens nicht zu einem Dritten Weltkrieg, sondern endete durch gewaltfreie Revolutionen in mehreren Staaten des Warschauer Paktes, darunter der DDR. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer und den ersten halbwegs freien Wahlen in Polen wird jedoch immer noch bzw. wieder argumentiert, die gegenseitige nukleare Abschreckung habe zwischen 1949 (dem Jahr des ersten sowjetischen Atomwaffentests) und 1991 (dem Jahr der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion) einen Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt verhindert. Damit wird massiv dazu beigetragen, den Mythos der nuklearen Abschreckung am Leben zu halten.

Risiken und Widersprüche

Allerdings gab es mehrere Situationen, in denen die Welt nur knapp an einem Atomkrieg zwischen den beiden Machtblöcken des Kalten Kriegs vorbeige­schrammt ist. Dazu gehören die Kubakrise 1962 (Burr 2012), der Fehlalarm des US-Abwehrsystems NORAD am 9. November 1979 (Kimball 2019), der Fehlalarm der sowjetischen Luftabwehrsysteme in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 (Kompa 2009) und das Manöver »Able Archer 83« im November 1983 (Note 2016). In Wirklichkeit gilt also: Nukleare Abschreckung schützt nicht vor gefährlichen Eskalationsspiralen zwischen Nuklearmächten oder vor einem »Atomkrieg aus Versehen« (mehr zu Letzterem bei Bläsius auf S. 9). Im Gegenteil, beides ist überhaupt nur möglich, seit und solange es Atomwaffen gibt.

Nukleare Abschreckung schützt auch nicht vor großen Terroranschlägen (u.a. 11. September 2001, New York und Washington, USA; 26. November 2008, Mumbai, Indien; 13. November 2015, Paris, Frankreich). Sie schützt nicht vor Grenzkriegen mit dem Nachbarland (Indien/Pakistan) oder vor Angriffen auf abgelegene Inseln (Falklandkrieg zwischen Argentien und Großbritannien), von Bürgerkriegen im eigenen Land ganz zu schweigen (Indien, Pakistan, Russland). Sie verhindert gleichfalls nicht, dass ein Land von jenseits der Grenzen mit Raketen beschossen wird (Israel).

Schauen wir umgekehrt nach Lateinamerika und in die Karibik, eine Region, die bis in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts von Krieg und Bürgerkrieg geprägt war (vgl. Gantzel 1997). Die Länder dieser Weltregion haben durch den Vertrag von Tlatelolco, der 1968 in Kraft trat, sukzessive eine umfassende atomwaffenfreie Zone festgeschrieben. Der Vertrag wurde von Argentinien und Brasilien, die zeitweise erwogen hatten, Atomwaffenprogramme aufzulegen, 1994 ratifiziert (OPANAL o.J.). Gleichzeitig ging die Zahl der Kriege und Bürgerkriege in der Region seit Mitte der 1980er Jahre immer weiter zurück. Aktuell gibt es nach Beendigung des langjährigen Bürgerkriegs in Kolumbien dort keinen Krieg oder Bürgerkrieg mehr. Auch wenn ein Teil der lateinamerikanischen Staaten unter einem hohen Gewaltniveau durch Organisierte Kriminalität (insbesondere, aber nicht nur, im Zusammenhang mit Drogenhandel) und staatliche Repression leidet, war es in Lateinamerika und der Karibik offensichtlich möglich, gleichzeitig auf die nukleare Abschreckung zu verzichten und die Gefahr von Krieg und Bürgerkrieg deutlich zu reduzieren.

Der Vertrag von Tlatelolco blieb nicht der einzige Vertrag über atomwaffenfreie Zonen. Die jüngste atomwaffenfreie Zone (Vertrag von Semipalatinsk bzw. Semei) umfasst die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan und trat 2009 in Kraft (Thielicke 2010, S. 175-180). Immer mehr Staaten sind also der Ansicht, dass Nuklearwaffen keinen Beitrag zu ihrer Sicherheit leisten.

Unstrittig ist seit einem entsprechenden Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes aus dem Jahr 1996, dass jeder Einsatz von Atomwaffen, ja selbst die Drohung mit einem solchen Einsatz, völkerrechtswidrig ist (IALANA 1997). Seither muss sich jeder Staat, der in seiner Sicherheitspolitik direkt oder indirekt auf nukleare Abschreckung setzt, fragen (lassen), wie glaubwürdig und angemessen es ist, anderen Staaten mit einem massiven Völkerrechtsbruch zu drohen. Das Argument, dass Atomwaffen durch ihren symbolischen Wert Kriege verhindern und es de facto ein seit dem 10. August 1945 bestehendes Moratorium zu ihrem Einsatz gibt, man also nicht wirklich mit ihrem Einsatz rechnen müsse, ist wenig glaubwürdig. Dies gilt umso mehr, als vor allem die beiden großen Atommächte USA und Russland Tausende von Atomwaffen besitzen und damit drohen, ihre Interkontinentalraketen schon bei einer computerbasierten Angriffswarnung zu starten, was das höchste Risiko für einen »Atomkrieg aus Versehen« darstellt (Rudolf 2018, S. 9).

Qualitative Aufrüstung statt Abrüstung oder Rüstungskontrolle

Eine rein politisch-symbolische Abschreckung, argumentieren manche, könnte mit einigen wenigen Atomwaffen in gut gesicherten Lagern realisiert werden, mit entsprechenden Rüstungskontroll- und Verifikationsabkommen. Darüber wurde aber bisher nie verhandelt. Stattdessen gibt es massive »Modernisierungs«programme, sodass der Rüstungswettlauf in vollem Gange ist, während die bestehenden Rüstungskontroll- oder Abrüstungsverträge im nuklearen Bereich gekündigt wurden (INF-Vertrag) oder auszulaufen drohen (New START-Vertrag).

Insbesondere die NATO beschwört immer wieder die Kopplung von Abschreckung und Abrüstung/Rüstungskontrolle, zuletzt mit der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels am 3./4. Dezember 2019: „Durch eine angemessene Mischung aus nuklearen, konventionellen und Raketenabwehrfähigkeiten sorgen wir für eine weitere Verstärkung unserer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit, die wir weiter anpassen. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben. Wir bekennen uns uneingeschränkt dazu, eine wirksame Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung unter Berücksichtigung des jeweils aktuellen Sicherheitsumfelds aufrechtzuerhalten und zu stärken. Die Verbündeten bekennen sich nachdrücklich zur vollständigen Umsetzung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen in all seinen Aspekten einschließlich der nuklearen Abrüstung, der Nichtverbreitung und der friedlichen Nutzung der Kernenergie. (NATO 2019, Absatz 4). Das Bekenntnis zu Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung war aber mit einer Einschränkung versehen, während nicht nur das »Abschrecken«, sondern auch das »Verteidigen« ohne Einschränkung formuliert ist und sich eindeutig auf die „angemessene Mischung von nuklearen, konventionellen und Raketenabwehrfähigkeiten“ bezieht – ein weiterer Beleg dafür, dass Atomwaffen eben nicht nur als politische Waffen angesehen werden.

Treibende Kraft bei der Entwicklung und Stationierung neuer Atomwaffen waren und sind die USA. In einer umfassenden Studie für die Stiftung Wissenschaft und Politik zeichnete Peter Rudolf 2018 die Entwicklung der US-Nuklearstrategie nach und zeigte die Widersprüche auf. Insbesondere kommt er zu dem Schluss: „Apologeten nuklearer Abschreckung argumentieren widersprüchlich, wenn sie sich auf die ethische Diskussion einlassen. Einerseits bestreiten sie den einzigartigen Charakter atomarer Waffen und behaupten, ihr Einsatz sei moralisch und humanitär-völkerrechtlich legitimierbar. Andererseits postulieren sie die Überlegenheit nuklearer über konventionelle Abschreckung, weil erstere auf dem Risiko unkontrollierbarer Eskalation und der daraus erwachsenden Kosten beruhe. (Rudolf 2018, S. 22)

Angesichts der vielfältigen Widersprüche und Dilemmata der nuklearen Abschreckung ist es nicht verwunderlich, dass der Widerstand gegen Atomwaffen wächst. Die Vertreter*innen einer atomwaffengestützten Sicherheitspolitik müssen in Deutschland schon zu umfragetechnischen Tricks greifen, um den Eindruck zu erwecken, dass die Bevölkerung den »nuklearen Schirm« überwiegend befürwortet. Ein aktuelles Beispiel ist eine außen- und sicherheitspolitische Umfrage der Körber-Stiftung vom November 2019. Hier wurde der Frage nach dem sicherheitspolitischen Sinn von Atomwaffen eine »erklärende« Bemerkung vorangestellt: „Aktuell wird Deutschlands Sicherheit unter anderem durch den sogenannten »nuklearen Schirm« der USA gewährleistet. Sollte Deutschland … Sich auch zukünftig auf den US-Nuklearschirm verlassen/ Sich um nuklearen Schutz durch Großbritannien und Frankreich bemühen/ Eigene Nuklearwaffen entwickeln/ Auf nuklearen Schutz verzichten?“ (Körber-Stiftung 2019, S. 6) Wer sich ein bisschen mit Umfragen auskennt, weiß, dass Vorbemerkungen, die einseitige Tatsachenbehauptungen aufstellen, das Umfrageergebnis massiv beeinflussen. Daher ist es bemerkenswert, dass sich trotzdem 31 % der Befragten für die vierte Antwortmöglichkeit entschieden.

Verbotsvertrag: neue Chance für einen Paradigmenwechsel

Neue Dynamik ist in die Debatte über die Fragwürdigkeit nuklearer Abschreckung durch den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (hier kurz: Verbotsvertrag) gekommen, der am 7. Juli 2017 in New York von 122 Staaten beschlossen (Hahnfeld 2018) und seitdem von 80 Staaten formell unterzeichnet und von 35 Staaten ratifiziert wurde (Stand 20.1.2020, siehe icanw.org). Er tritt in Kraft, wenn er von 50 Staaten ratifiziert worden ist.

Zu den ersten Staaten, die den Verbotsvertrag unterzeichneten und ratifizierten, gehörte der Vatikan. In einer Rede, die Papst Franziskus am 24. November 2019 im Atombombenpark in Nagasaki hielt, rief er zur Unterzeichnung dieses Vertrags auf und formulierte: „In der Überzeugung, dass eine Welt ohne Atomwaffen möglich und vonnöten ist, bitte ich die politischen Verantwortungsträger, nicht zu vergessen, dass Nuklearwaffen uns nicht vor den Bedrohungen für die nationale und internationale Sicherheit in unserer Zeit schützen. Man muss die katastrophalen Auswirkungen ihres Einsatzes unter humanitärem Gesichtspunkt und im Hinblick auf die Umwelt bedenken und davon ablassen, ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Feindseligkeit zu schüren, das von den Nukleardoktrinen befeuert wird. (Der Heilige Stuhl 2019) Und die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland stellte am 13. November 2019 Folgendes fest: „Je länger Atomwaffen produziert, modernisiert, weiterentwickelt und einsatzbereit gehalten werden, desto größer ist die Gefahr, dass es zu einem Einsatz von Atomwaffen oder zu einem katastrophalen Unfall kommt. Es hat sich gezeigt, dass der Atomwaffenbesitz vor Angriffen mit konventionellen Waffen nicht schützt. Dass auch vom deutschen Boden (Büchel) atomare Bedrohung ausgeht, kann uns nicht ruhig lassen. Die Tatsache, dass es noch immer ca. 16.000 [sic!] Atomsprengköpfe auf der Welt gibt und in den vergangenen Jahren keine Abrüstung im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages gelungen ist, zeigt, dass der Atomwaffenverbotsvertrag überfällig ist […]. (EKD 2019, S. 5-6)

Die Debatte um den Verbotsvertrag hat auch das politische Berlin erreicht. Im Bundestag gründete sich im September 2019 ein Parlamentskreis Atomwaffenverbot, dem Abgeordnete von SPD, Grünen, Linke und CDU angehören. Die langjährige SPD-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul rief im August 2019 in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau die Bundesregierung dazu auf, den Verbotsvertrag zu unterzeichnen (Wieczorek-Zeul 2019).

Es ist an der Zeit, den Mythos der nuklearen Abschreckung zu entzaubern. Deutschland sollte durch die Unterstützung des Verbotsvertrags deutlich machen, dass es das nukleare Vabanque-Spiel der Atomwaffenstaaten nicht länger mitträgt.

Literatur

Bach, W. (1985): Von der Nuklearnacht zum Nuklearwinter – Über die klimatischen und ökologischen Auswirkungen eines Atomkriegs. Wissenschaft und Frieden, Nr. 2-1985, S. 11-20.

Burr, W. (ed.) (2012): 50 Years Cuban Missile Crisis. National Security Archive, Electronic Briefing Book No. 397, 16.10.2012; nsarchive2.gwu.edu.

Deiseroth, D. (1996): Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig – Der Internationale Gerichtshof bezieht Position. Wissenschaft und Frieden, Nr. 3-1996, S. 78-81.

Der Heilige Stuhl (2019): Ansprache des Heiligen Vaters über Atomwaffen. Atombombenpark (Nagasaki), 24.11.2019; w2.vatican.va.

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (2019): Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Kundgebung der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung. Dresden, 13.11.2019.

Gantzel, K.J. (1997): Kriege und bewaffnete Konflikte in Lateinamerika seit 1945. Hamburg: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF); www.wiso.uni-hamburg.de.

Vgl. Grüter, Th. (2019): Klimatische Wirkungen regionaler Atomkriege. Blog »Gedankenwerkstatt«, 18.10.2019; scilogs.spektrum.de/­gedankenwerkstatt.

Hahnfeld, B. (2018): Völkerrecht versus Atomwaffen – Der Atomwaffenverbotsvertrag. Wissenschaft und Frieden, Nr. 1-2018, S. 47-49.

International Campaign to Abolish Nuclear ­Weapons (ICAN) (o.J.): The Treaty – Signature and ratification status; icanw.org.

IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation – Analyse – Hintergründe. Münster: LIT. Dt. Wortlaut des IGH-Gutachtens dort S. 29-68.

Kimball, D.G (2019): Nuclear False Warnings and the Risk of Catastrophe. Arms Control Today, Dezember 2019.

Körber-Stiftung (2019): Einmischen oder zurückhalten? Eine repräsentative Studie im Auftrag der Körber-Stiftung zur Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik. Hamburg: Körber-Stiftung, 26.11.2019.

Kompa, M. (2009): Stanislaw Petrow und das Geheimnis des roten Knopfs. Telepolis, 20.6.2009.

Meyers, K. (2017): Some Unintended Fallouts from Defense Policy – Measuring the Effect of Atmospheric Nuclear Testing on American Mortality Patterns. University of Arizona, 17. Juni 2017; keithameyers.com.

NATO (2019): Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO, London, 3.-4. Dezember 2019 – Londoner Erklärung. Deutsche Arbeitsübersetzung; bundesregierung.de.

Note, J. (2016) (ed.): Inside Able Archer 83, the Nuclear War Game that Put U.S.-Soviet Relations on »Hair Trigger«. National Security Archive, Briefing Book #569, 6.12.2016; ­nsarchive.gwu.edu.

OPANAL/Agency for the Prohibition of Nuclear Weapons in Latin America and the Caribbean (o.J.): Status of the Treaty of Tlatelolco; opanal.org.

Robock, A. et al (2019): How an India-Pakistan nuclear war could start – and have global consequences. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 75, Nr. 6, S. 273-279.

Rudolf, P. (2018): Aporien atomarer Abschreckung – Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie, Juli 2018.

Senghaas, D. (1981): Abschreckung und Frieden – Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Überarbeitete und ergänzte Auflage. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Thielicke, H. (2019): Kernwaffenfreie Zonen und die Vereinten Nationen. Vereinte Nationen, Nr. 4/2010.

Wieczorek-Zeul, H. (2019): Deutschland muss mitmachen beim Atomwaffenverbot. FR Online 8.8.2019.

Ute Finckh-Krämer ist langjährige Friedensaktivistin und war von 2013 bis 2017 als SPD-Bundestagsabgeordnete u.a. ­Mitglied des Unterausschusses Abrüstung, Rüstungs­kontrolle und Nichtverbreitung.

Das Ende der »Frist«


Das Ende der »Frist«

Die atomare Abschreckung im Licht der römisch-katholischen Soziallehre

von Heinz-Günther Stobbe

Kaum präsent ist die Ablehnung der Atombewaffnung durch die römisch-katholische Kirche schon seit Ende der 1940er Jahre. Überlagert wurde sie durch die Missinterpretation der so genannten Fristsetzung, also der Zeit, die gegeben wurde, um Atomwaffen vollständig abzurüsten. Diese Zeit ist nun abgelaufen.

Am 10./11. November 2017 organisierte die von Papst Franziskus neu geschaffene Zentralbehörde, das »Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen«, in Rom ein Expertensymposium über »Perspektiven für eine atomwaffenfreie Welt und für eine umfassende Abrüstung«. Während der Konferenz lud der Papst die Teilnehmer*innen zu einer Audienz ein. In seiner dort verlesenen Botschaft begrüßte er, dass „kürzlich der größte Teil der Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft durch eine historische Abstimmung am Sitz der UNO festgelegt“ habe, „Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten“. Dadurch werde „eine wichtige juristische Lücke geschlossen“, noch wichtiger sei aber, so der Papst weiter, „die Tatsache, dass diese Resultate in erster Linie einer »humanitären Initiative« zu verdanken sind, gefördert von einer wertvollen Allianz zwischen Zivilgesellschaft, Staat, internationalen Organisationen, Kirchen, Akademien und Expertengruppen“.

Diese Haltung bekräftigte Franziskus, wie allgemein erwartet, im Zusammenhang mit seinem Japan-Besuch Ende November 2019. Beim Rückflug erklärte er in einer Pressekonferenz: „Hiroshima war ein echter Ethik-Unterricht über die Grausamkeit. Er fügte hinzu, die moralische Verurteilung von Anwendung und Besitz von Atomwaffen muss in den Katechismus der Katholischen Kirche kommen“. Im Ton immer drängender, in der Sache aber ohne weitere Zuspitzung gab der Papst damit zu erkennen, dass er eine stärkere Verbindlichkeit in der ablehnenden Haltung der römisch-katholischen Kirche anstrebt, vergleichbar der Entwicklung in Bezug auf die Todesstrafe. Das hat, wie er in seiner Botschaft vom Friedenspark in Nagasaki ausführte, seinen entscheidenden Grund in der kirchlichen Tradition: „Die katholische Kirche ist unwiderruflich engagiert im Entschluss, den Frieden zwischen den Völkern und Nationen zu fördern; es ist eine Aufgabe, zu der sie sich vor Gott und vor allen Männern und Frauen dieser Erde verpflichtet fühlt. Wir dürfen nie müde werden, unverzüglich dafür zu arbeiten und darauf Nachdruck zu legen, die wichtigsten internationalen Rechtsmittel für die Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, einschließlich des Atomwaffenverbotsvertrags, zu unterstützen.

Zur Vorgeschichte

Für manche*n mag das starke Engagement des Papstes und des Heiligen Stuhls für die Ächtung der Atomwaffen und für Abrüstung überraschend sein. Doch bereits in der ersten päpstlichen Friedensnote des 20. Jahrhunderts vom August 1917, »Dès les débuts«, gerichtet „an die Staatsführungen der kriegführenden Länder“, legte Papst Benedikt XV. eine Reihe von Punkten als „Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden“ vor. Dort heißt es: „Vor allem muss der erste und zentrale Punkt sein, dass an die Stelle der physischen Gewalt die moralische Macht des Rechtes tritt. Es braucht daher eine allgemein akzeptierte Übereinkunft über die gleichzeitige und allseitige Abrüstung, deren Regeln und Garantien festzusetzen sind, unbeschadet der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den einzelnen Staaten notwendigen und ausreichenden Verbände. Dieses Anliegen bildet fortan ein beständiges Leitmotiv der römisch-katholischen Friedenslehre.

Das kirchliche Lehramt begegnet den Rüstungsbemühungen der Staaten durchweg mit unüberhörbarer Skepsis, auch wenn kein allgemein-pazifistischer Anspruch gegenüber den Staaten erhoben wird. Diese Grundhaltung verschärft sich deutlich im Fall der Atomwaffen. Bereits in der wohl ersten Stellungnahme zu dieser neuen Waffengattung betont Papst Pius XII. in dem Lehrschreiben »Fulgens radiatur« vom März 1947 die direkte Verknüpfung zwischen der Existenz von Atomwaffen und der moralischen Verwerflichkeit einer bestimmten Form der Kriegsführung einerseits und dem daraus resultierenden zwingenden Erfordernis, die entstandene Situation durch vertragliche Vereinbarungen zu entschärfen: „Die Atomwaffenfrage stellt noch einen Bestandteil eines viel allgemeineren Problems dar. Die Entwicklung der modernen Angriffsmittel ist ihrerseits durch die Technik bedingt und diese selbst ist wieder vollständig in den Dienst des totalen Krieges gestellt worden. Die dabei maßgebliche verhängnisvolle Auffassung macht keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern und daraus sind die so schmerzlichen Wirkungen des letzten Weltkrieges erwachsen. Ein Ausweg aus der dadurch entstandenen furchtbaren Lage wird nur möglich, wenn die Lenker der Nationen ihre Pflicht erkennen, solche Verträge zustande zu bringen, die der Welt wirklich den Frieden sichern. Es ist, wie der Papst bereits in seiner Weihnachtsansprache ausführt, die Entwicklung der Waffentechnik, die nach einer neuen internationalen Ordnung ruft, in der „kein Platz [ist] für einen totalen Krieg und für eine hemmungslose Aufrüstung. Man darf nicht zulassen, daß das Grauen eines Weltkrieges mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen Verirrungen zum dritten Mal über die Menschheit komme.

Wichtig ist sich zu vergegenwärtigen, dass sich bis heute die ethische Diskussion über Sicherheits- und Rüstungspolitik sowohl auf Ebene des päpstlichen Lehramts als auch in weiten Teilen der katholischen Moraltheologie im Rahmen der überkommenen Lehre vom Gerechten Krieg bewegt. Dementsprechend wird auch die Problematik der nuklearen Abschreckung im Licht der dort entwickelten Kriterien erörtert.

Das Motiv der »Frist«

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) erneuerte das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche und viele ihrer Lehren grundlegend. Doch keine der Neuerungen fiel gleichsam vom Himmel, sie hatten sich in Kirche und Theologie bereits angebahnt. Auch mit Blick auf die Friedenslehre nahm das Konzil die Kernelemente der mit den Weltkriegen verbundenen Einsichten auf, besonders indem es seine Aufmerksamkeit auf die nunmehr verfügbaren Massenvernichtungswaffen richtete: „Die Anwendung solcher Waffen im Krieg vermag ungeheure und unkontrollierbare Zerstörungen auszulösen, die die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschreiten. Dem Konzil zufolge wohnt den Massenvernichtungswaffen eine Tendenz zum totalen Krieg inne, den es wegen seiner verbrecherischen Qualität entschieden als „ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen“ verurteilt (Gaudium et spes Nr. 80). Um dieser Gefahr zu begegnen, sah das Konzil nur einen Weg: „Gewarnt vor Katstrophen, die das Menschengeschlecht heute möglich macht, wollen wir die Frist, die uns noch von oben gewährt wurde, nützen, um mit geschärftem Verantwortungsbewußtsein Methoden zu finden, unsere Meinungsverschiedenheiten auf eine Art und Weise zu lösen, die des Menschen würdig ist. Die göttliche Vorsehung fordert dringend von uns, daß wir uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreien. (Gaudium et spes Nr. 81)

Das Motiv der »Frist«, die es zu nutzen gilt, um politische Alternativen zum Krieg zu schaffen, wird von da an die lehramtliche Beurteilung der nuklearen Abschreckung prägen. So erörterte die Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten in ihrem Hirtenbrief »Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort« von 1983 ihre Problematik so sorgfältig wie keine andere lehramtliche Instanz vorher und nachher. Die Bischöfe gestanden zu, sie diene dazu, einen „gewissen Frieden“ zu gewährleisten, und vermieden deshalb eine grundsätzliche Ablehnung. Ihre klare Absicht aber war, durch moralische Verbote und Vorschriften „die weit verbreitete politische Barriere gegenüber einem Griff zur Atomwaffe zu verstärken“. Und sie drängten „auf Verhandlungen, um die Erprobung, Produktion und Stationierung neuer nuklearer Waffensysteme anzuhalten. Es sollten nicht nur Schritte unternommen werden, um die Entwicklung und Stationierung von Waffen zu beenden, auch die Zahl der vorhandenen Waffen muß auf eine Weise verringert werden, die die Kriegsgefahr vermindert. Gleichfalls im Jahr 1983 zitierte die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« das Konzilswort von der »Frist«, die genutzt werden müsse, um eine nukleare Bewaffnung im Sinne einer „Notstandsethik“ „vorübergehend“ tolerieren zu können.

Die Rede von der Frist sollte offenkundig die Dringlichkeit der politischen Aufgabe unterstreichen. Sie förderte allerdings ein Missverständnis: Die Fristsetzung wurde nicht als eine zeitliche Dimension verstanden, sondern als ethische Zustimmung oder Duldung der nuklearen Abschreckung unter bestimmten Bedingungen. Die Stellungnahmen von Papst Franziskus beruhen nun offenkundig auf seiner Überzeugung, diese Bedingungen seien nicht mehr gegeben und deshalb müsse ihre ethische Akzeptanz aufgekündigt werden.

Das Ende der »Frist«

Die Absage in Bezug auf die ethische Duldung der nuklearen Abschreckung ist als Gedanke schon seit Langem in der päpstlichen Verkündigung präsent und von Anfang an dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt zugeordnet. Bereits 1965 hatte Paul VI. in seiner Botschaft zum 20. Jahrestag des Abwurfs der Hiroshima-Bombe dazu aufgerufen, für die Ächtung der Atomwaffen zu beten. 1978 bekräftigte er in seiner Botschaft an die Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen das Ziel, „ das Arsenal der Atomwaffen völlig zu beseitigen“. Der jetzige Papst setzt diese Linie konsequent fort und konkretisiert sie, indem er die Atomwaffen grundsätzlich verurteilt.

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax als Organ der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sah sich durch ihn veranlasst, mit Blick auf die gegenwärtige Lage der internationalen Politik die Frage zu prüfen, ob sie die Position des Papstes teilen kann. Die Kommission hatte sich schon ein Jahrzehnt zuvor ausführlich mit der Problematik beschäftigt und 2008 in der Studie »Die wachsende Bedeutung nuklearer Rüstung – Herausforderung für Friedensethik und Politik« grundsätzlich festgestellt: „Vor dem Hintergrund, dass das tolerierende »Noch« der 1980er Jahre, das stets mit Abrüstungsappellen an alle Seiten verbunden war, seitens der Politik zu oft entweder überhört oder als friedensethisch gerechtfertigte Akzeptanz umgedeutet und die kirchliche Position dadurch instrumentalisiert wurde, kommt dabei einer Klarstellung der friedensethischen Position der Kirche eine große Bedeutung zu. Die Rede vom »Noch« war und ist nicht als Legitimation zur einfachen Fortschreibung der Abschreckung zu verstehen. Sie soll lediglich den notwendigen politischen Spielraum zur deutlichen Verringerung der Abhängigkeit der Kriegsverhütung von Mitteln nuklearer Abschreckung, zur angestrebten vollständigen Überwindung atomarer Rüstungen und damit auch der mit ihnen verbundenen Einsatzszenarien erhalten. An der konkreten Nutzung dieses Spielraums ist die Politik zu messen. (Nr. 3.1) Schon 2008 wurde der Trend zur Unterhöhlung der Rüstungskontrollverträge gesehen, und die Kommission erklärte: „Blickt man auf die tatsächlich beobachtbaren Trends im Bereich der Nuklearrüstung, so gewinnen die Argumente dafür, dass dieses »Noch« seine Geltung zunehmend einbüßt, immer mehr an Gewicht. (Nr. 3.1)

In ihrer aktuellen Stellungnahme »Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung« von 2019 analysierte die Kommission ein weiteres Mal, ob die Strategie der nuklearen Abschreckung den ethischen und völkerrechtlichen Kriterien genügen kann, die für eine Fortschreibung der »Frist« maßgeblich sind. Ihr Urteil fällt eindeutig aus: Es überwiegen mittlerweile die Gründe dafür, dem »Noch« jede weitere Geltung abzusprechen. Nicht nur erodieren die vertraglichen Pfeiler der Rüstungs- und Kontrollpolitik, auch die Abrüstungserfolge hatten erkennbar ihre Grenze in dem Willen der Nuklearmächte, die Strategie der nuklearen Abschreckung aufrecht zu erhalten. Die mehrfach wiederholte Versicherung der NATO, nukleare Abschreckung bleibe der Grundsatz ihrer Politik, solange es Atomwaffen gebe, bringt deren innere Widersprüchlichkeit auf den Punkt. Eine atomwaffenfreie Welt zu wollen, zugleich aber die Abwesenheit von Atomwaffen zur entscheidenden Bedingung für das Ende der nuklearen Abschreckung zu erklären, ist glaubwürdig nur dann, wenn die Überwindung der Strategie der nuklearen Abschreckung mit der Ächtung der Atomwaffen beginnt. Hatte Justitia et Pax 2008 noch vergleichsweise unbestimmt festgehalten, „Ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen ist ihre internationale Ächtung“ (Nr. 3.2), so legt die Kommission sich jetzt in der Reihenfolge der notwendigen Schritte fest: Die internationale Ächtung der Nuklearwaffen kann nicht am Ende eines Prozesses stehen, der in ihrer faktischen Beseitigung mündet, sondern muss dessen Anfang markieren (vgl. Nr. 6).

Von der Ächtung zur Abschaffung der Atomwaffen

Die Soziallehre der römisch-katholischen Kirche richtet sich keineswegs nur an ihre Mitglieder, sondern – gemäß einer häufig benutzten Formel – „an alle Menschen guten Willens“. Anders ausgedrückt: Ihre Argumente sollen auch für Menschen einsichtig sein, die zwar nicht den Glauben der Kirche teilen, sich aber dem Anspruch der sittlichen Vernunft unterstellen, mit dem sie auf Grund ihres Menschseins konfrontiert sind. Dementsprechend wenden sich die Päpste immer wieder an Politik und Öffentlichkeit, mahnend an die gemeinsame menschliche Verantwortung. Die Tatsache, dass trotz aller Risiken der atomaren Abschreckung kein Atomkrieg stattgefunden hat, mag – wie die Abschreckungsbefürworter geltend machen – ein Stück weit ihrer Abschreckungswirkung zuzuschreiben sein. Aber sie unterschätzen, dass die Menschheit mit den Atomwaffen erstmals die Möglichkeit ihrer Selbstauslöschung geschaffen hat.

Papst Franziskus baut auf das vorbildhafte Engagement all der Menschen, die für die Abschaffung der Atomwaffen eintreten: „Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen überall auf der Erde. Dieses Ideal Wirklichkeit werden zu lassen erfordert die Beteiligung aller: Einzelne, Religionsgemeinschaften, die Zivilgesellschaft, die Staaten im Besitz von Atomwaffen und atomwaffenfreie Staaten, private und militärische Bereiche sowie die internationalen Organisationen. Unsere Antwort auf die Bedrohung durch Nuklearwaffen muss gemeinsam und konzentriert sein und auf dem mühsamen, aber beständigen Aufbau gegenseitigen Vertrauens beruhen, das die Dynamik des gegenwärtig vorherrschenden Misstrauens durchbricht. (Botschaft über die Atomwaffen, Nagasaki, 24.11.2019)

In der römisch-katholischen Kirche hat ein neues Nachdenken über die Strategie der atomaren Abschreckung eingesetzt, und einige Bischofskonferenzen schlossen sich bereits der Position des Papstes an. Als Weltkirche, die alle nationalen Kontexte umfasst und übergreift, könnte sie ein Laboratorium sein, in dem sich modellhaft die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung abspielt, ohne die ein wirkmächtiger weltweiter Konsens und damit ein Erfolg des Kampfes gegen die Atomwaffen nicht erreichbar sind.

Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Stobbe ist Moderator für den Sachbereich Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Leiter der AG Gerechter Friede der Kommission. Er war an verschiedenen Universitäten, vor allem in Münster und Siegen, tätig.

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Eine Abschätzung von Abrüstungsraten

von Moritz Kütt

Der 2017 verhandelte »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« sieht zwei Möglichkeiten vor, wie Staaten, die im Besitz von Kernwaffen sind, Vertragsmitglieder werden können: Entweder rüsten sie zuerst ab und treten dann dem Vertrag bei. Oder sie treten zunächst bei und zerstören anschließend Kernwaffen und ihr Kernwaffenprogramm in einem zeitlich begrenzten Prozess, der mit den anderen Mitgliedsstaaten vereinbart wurde. Die Art und Dauer dieses Prozesses ist im Vertrag noch nicht festgelegt, und bislang wurde diese Frage in der öffentlichen Diskussion nur selten
aufgeworfen.

Dieser Text diskutiert die notwendigen Schritte zur Zerstörung von Kernwaffen und gibt einen Überblick über die mögliche Dauer des Prozesses.1 Dieses Wissen ist relevant für die Vertragsstaaten, da sie innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrags2 ein gemeinsames Treffen abhalten und eine allgemeingültige Frist für die Zerstörung von Kernwaffen festlegen müssen. Dieses Wissen ist aber auch von Bedeutung, wenn sich die Kernwaffenstaaten anderweitig auf die Beseitigung ihrer
Kernwaffen einigen. Unabhängig vom Weg in die kernwaffenfreie Welt wird nach einer politischen Einigung immer die überprüfbare Abrüstung von Kernwaffen und die Zerstörung der verwendeten Komponenten nötig sein. Genaue Kenntnisse des dafür erforderlichen Abrüstungsprozesses und der zeitlichen und räumlichen Limits sind überdies schon während entsprechender Verhandlungen hilfreich.

Jüngste Schätzungen beziffern die Anzahl existierender Kernwaffen auf 13.890 (Kristensen und Korda 2019). Neun Länder besitzen Kernwaffen. Die USA und Russland haben mit ca. 90 % den weitaus größten Anteil an der Gesamtzahl. Neben einsatzbereiten Kernwaffen gibt es in den Arsenalen der beiden Staaten Tausende Waffen, die nicht mehr operativ eingesetzt werden und auf baldige Abrüstung warten. Die anderen Staaten (China, Frankreich, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan und Vereinigtes Königreich) besitzen Arsenale im Umfang von wenigen Dutzend bis hin zu einigen Hundert Kernwaffen. Es wird
angenommen, dass diese Staaten derzeit keine Waffen besitzen, die nicht einsatzbereit bzw. zur Abrüstung vorgesehen sind.

Für eine erste Abschätzung der Dauer von Abrüstung kann folgende Rechnung dienen: Insgesamt 125.000 Kernwaffen wurden zwischen 1945 und 2013 produziert (Kristensen und Norris 2013). Etwa 2.050 Kernwaffen wurden für Kernwaffentests genutzt. Bezogen auf die aktuell knapp 14.000 Kernwaffen wurden in den 75 Jahren seit Bau der ersten Kernwaffen ca. 109.000 Kernwaffen abgerüstet oder vernichtet, im historischen Durchschnitt etwa 1.450 pro Jahr. Mit dieser Geschwindigkeit könnte der heutige Bestand an Kernwaffen in knapp einem Jahrzehnt vollständig abgerüstet werden.

Wie wird eine Kernwaffe abgerüstet?

Die Mehrzahl der Waffen in heutigen Arsenalen sind thermonukleare Waffen, d.h. sie sind zweistufig aufgebaut. Die erste Stufe (primary) ist eine Spaltwaffe. Sie besteht aus einem »pit«, einer Hohlkugel aus Spaltmaterial (hochangereichertes Uran/HEU oder Plutonium). Diese ist umhüllt von einem neutronenreflektierenden Dämpfer und konventionellem Sprengstoff, um die Explosion auszulösen und die Hohlkugel zu komprimieren. Daneben enthält die erste Stufe einen Neutronengenerator, der zu Beginn der Explosion die Spaltungskettenreaktion (fission) startet, sowie einen Behälter mit
Deuterium-Tritium-Gas. Dieses wird ins Innere der Hohlkugel geleitet und verstärkt die Sprengkraft der ersten Stufe (boosting). Die zweite Stufe (secondary) besteht aus Lithium-Deuterid als Material für die Kernschmelze (fusion) und zusätzlichem Spaltmaterial. Dieses Spaltmaterial dient als Dämpfer sowie zur Zündung der zweiten Stufe (spark-plug). Ausgelöst wird diese Zündung durch die Energie der ersten Stufe (Feiveson et al. 2014) (siehe Abb. S. 38).

Die nuklearen Komponenten einer Kernwaffe werden oft als »physics package« bezeichnet. Neben den nuklearen Komponenten sind weitere, nicht-nukleare Bauteile in Kernwaffen vorhanden. Der Behälter des Deuterium-Tritium-Gases lässt sich vergleichsweise leicht austauschen. Tritium hat eine Halbwertszeit von 12,3 Jahren und muss daher regelmäßig ersetzt werden. Der Zündungsmechanismus von Kernwaffen (arming, fusing and firing mechanism) stellt die notwendige Technik zur synchronen Zündung des konventionellen Sprengstoffes zur Verfügung; über ihn wird die Komprimierung der ersten Stufe
eingeleitet. Ein weiteres Element ist ein Sicherheitsmechanismus, der die Kernwaffe vor einer Zündung bei unberechtigtem Zugriff schützt. Weitere Bauteile sind von den verwendeten Trägersystemen abhängig: Kernwaffen auf Interkontinentalraketen werden durch ein Hitzeschild vor Schäden beim Wiedereintritt in die Atmosphäre geschützt. Bomben, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, haben teilweise Fallschirme, die den Fall bremsen, sowie Navigationssysteme und steuerbare Finnen, um die Zielgenauigkeit zu verbessern.

Das Office of Technology Assessment der USA beschrieb 1993 in einem öffentlich zugänglichen Bericht zentrale Abrüstungsschritte (OTA 1993): In einem ersten Schritt wird die abzurüstende Kernwaffe mit verschiedenen Verfahren untersucht, um u.a. einen Überblick über eventuelle Veränderungen seit der Produktion zu erhalten. Diese Untersuchungen dienen vor allem der Sicherheit bei der Abrüstung, könnten aber in Zukunft auch als Verifikationsinstrument genutzt werden. Früh im Abrüstungsprozess wird der Zündungsmechanismus deaktiviert bzw. der im vorigen Absatz beschriebene Sicherheitsmechanismus
der Zündung aktiviert. Anschließend werden die einzelnen Komponenten voneinander getrennt. Das »physics package« wird von den nicht-nuklearen Komponenten separiert, danach werden die einzelnen Stufen der Waffe zerlegt. In der ersten Stufe wird die Spaltmaterialhohlkugel vom Sprengstoff getrennt, in der zweiten Stufe das Lithium-Deuterid von den Spaltmaterialien.

Kernwaffenstaaten nutzen für den Abrüstungsprozess spezielle Anlagen. In den meisten Fällen werden die selben Anlagen auch für den Zusammenbau und die Wartung von Kernwaffen genutzt. Kernwaffenstaaten haben nur wenige, oft nur eine einzige solche Anlage. Einzelne Arbeitsschritte werden in speziellen Sicherheitszellen und besonders gebauten Räumen (dismantlement bay) durchgeführt. Die Zahl der Anlagen, Zellen und Spezialräume ist der größte technische Flaschenhals für eine rasche Abrüstung von Kernwaffen. Sofern die Abrüstung mit einem Verzicht auf Modernisierung und Wartung einhergeht,
können die dadurch freiwerdenden Kapazitäten ebenfalls für Abrüstungszwecke genutzt werden.

Wann ist eine Kernwaffe zerstört?

Weder der nukleare Nichtverbreitungsvertrag noch der Kernwaffenverbotsvertrag definieren, was eine Kernwaffe ist. Eine der ältesten Definitionen findet sich im Brüsseler Vertrag (Protokoll I, Anlage II von 1954), der den Bau von Kernwaffen für Deutschland verbot, dann aber 1991 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst wurde. Weitere Definitionen finden sich in den Verträgen zu nuklearwaffenfreien Zonen. All diese Definitionen basieren auf der Funktion als Waffe und der Schadenswirkung durch die Explosion bzw. die Spaltmaterialien. Diese Charakteristika lassen sich allerdings nur schwer
verifizieren, insbesondere, wenn wenig Informationen über einen Waffentyp bereitgestellt werden. Im Falle des Kernwaffenverbotsvertrages besteht die Möglichkeit der Beweisumkehr: Für die Kernwaffenzerstörung könnten einfach alle Objekte als Kernwaffen gelten, die von den besitzenden Staaten als solche definiert werden, da im Verlauf des gesamten Abrüstungsprozesses außer der Zerstörung der Kernwaffen selbst auch die Beendigung des kompletten Kernwaffenprogramms überprüft wird.

Die Definition der Zerstörung von Kernwaffen ist konzeptionell etwas einfacher. Nach einer US-amerikanischen Definition hört eine Kernwaffe auf zu existieren (ceases to exist), sobald die Spaltmaterialhohlkugel vom Rest getrennt ist (DOE 1997). Gleichzeitig bewahren die Vereinigten Staaten jedoch mehrere Millionen nicht-nukleare Komponenten und mehrere Tausend Spaltmaterialhohlkugeln in speziellen Lagern auf. Daher ist diese Definition nicht besonders weitgehend. Ein erneuter Zusammenbau der Komponenten wäre
vergleichsweise einfach und in wenigen Tagen zu bewerkstelligen.

Zusammen mit meinem Kollegen Zia Mian schlug ich kürzlich eine Definition für die Zerstörung von Kernwaffen vor, die darüber hinaus geht (Kütt und Mian 2019):

„Eine Kernwaffe gilt als zerstört, wenn alle der folgenden Schritte durchgeführt wurden: Die nicht-nuklearen Komponenten wurden von den nuklearen Komponenten (physics package) getrennt, der konventionelle Sprengstoff wurde vom Spaltmaterial getrennt, und sämtliche nuklearen und elektronischen Komponenten wurden mechanisch oder chemisch unwiederbringlich so verändert, dass sie nicht ohne erhebliche zusätzlichen Bearbeitungsaufwand für eine Waffe verwendet werden können.

Diese Definition verhindert den schnellen Wiederzusammenbau nach der Abrüstung und führt damit zu einer höheren Irreversibilität der Zerstörung. Die erforderliche Abtrennung der Komponenten wurde oben beschrieben. Eine mechanische oder chemische Veränderung ist in vielen Fällen leicht möglich. Die Spaltmaterialhohlkugel kann relativ einfach verformt oder mit Draht gefüllt werden. Beides ist relativ schnell durchzuführen, aber schwierig rückgängig zu machen. Wird die Hohlkugel verformt, ist die Deformierung nicht rückgängig zu machen, sondern das Spaltmaterial muss neu in Hohlkugelform
gebracht werden.

Anschließend müssen die Spaltmaterialien aus der Hohlkugel sowie aus der zweiten Stufe beseitigt werden. Hochangereichertes Uran kann mit natürlichem Uran gemischt und anschließend in zivilen Kernreaktoren eingesetzt werden. Auch Plutonium kann in Form von Mischoxid-Brennstoffen (MOX) in Reaktoren eingesetzt werden. Alternativ kann es als Zugriffsbarriere mit stark strahlendem Abfall vermischt und endgelagert werden. Bei Plutonium sind die Erfahrungen begrenzt. Weder Russland noch die USA haben, obwohl in den späten 1990er Jahren vereinbart, signifikante Mengen von überschüssigem
Waffenplutonium beseitigt. Daneben gibt es auch große Mengen an separiertem zivilen Plutonium, u.a. in Großbritannien und Japan, für welches bisher ebenso keine Beseitigungslösung existiert.

Tritium aus Kernwaffen kann entweder bis zum Zerfall gelagert oder mit Sauerstoff in Wasser umgewandelt werden. Dieses Wasser ist weiterhin radioaktiv und kann erst nach ausreichender Verdünnung entsorgt werden. Lithium-Deuterid-Komponenten können separiert werden, und sowohl Lithium als auch Deuterium lassen sich zivilen Zwecken zuführen. Der konventionelle Sprengstoff wird in der Regel einfach abgebrannt und damit vernichtet. Früher geschah dies oft unter freiem Himmel; aus Emissionsgründen ist eine geschlossene Verbrennung mit Filteranlage vorzuziehen.

Die weiteren Komponenten können ebenfalls vernichtet werden, insbesondere die Elektronik. Dabei ist zum einen darauf zu achten, dass die Bestandteile durch Zerschneiden oder ähnliche Bearbeitung für die militärische Nutzung unbrauchbar gemacht werden (demilitarizing). Zusätzlich sind die Bestandteile so zu behandeln, dass etwaige sensitive Informationen zum Bau von Kernwaffen nicht mehr erkennbar sind (sanitizing). Anschließend können sie wie andere Abfälle entsorgt oder ggf. auch recycelt werden.

Wie schnell ist Abrüstung möglich?

Der historische Blick auf vergangene Abrüstung ermöglicht für einzelne Staaten eine Abschätzung möglicher Abrüstungsraten. Die Vereinigten Staaten waren hier in der Vergangenheit am transparentesten. Sie machten Abrüstungsraten von 1980 bis 2017 öffentlich, genauso wie die Zahl der in den gleichen Jahren zusammengebauten Kernwaffen. Mit einer Ausnahme wurden dabei jährlich über 500 Kernwaffen zusammengesetzt und/oder zerlegt. In den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, wurden allerdings deutlich höhere Abrüstungsraten erreicht, durchschnittlich 1.500 Waffen pro Jahr. Das in den
USA für Kernwaffen zuständige Energieministerium fasste 1997 in einer Studie auch die benötigten Zeiten für die Abrüstung von unterschiedlichen Kernwaffentypen zusammen. Bei achtstündigen Arbeitsschichten benötigen die USA für ihre existierenden Waffentypen zwischen 1,5 und neun Schichten für die Abrüstung einer Kernwaffe. Parallele Abrüstung ist möglich, sofern die entsprechenden Zellen und Sicherheitsräume verfügbar sind (DOE 1997). Mit neun parallelen Arbeitsschritten und je einer Schicht an fünf Tagen pro Woche könnte das derzeitige US-Arsenal in rund neun Jahren abgerüstet werden. Dabei
ist die spezifische Zusammensetzung des Arsenals bereits berücksichtigt.

Für andere Staaten ist die Einschätzung schwieriger. Es gibt mehrere Quellen, die Russlands Abrüstungskapazitäten in den 1990er Jahren auf 1.000-3.000 Sprengköpfe jährlich schätzten. Neuere Schätzungen gehen von 400-500 Sprengköpfen pro Jahr aus (IPFM 2007). Im Vereingten Königreich wurden zwischen 1954 und 2013 insgesamt 1.250 Kernwaffen produziert (Kristensen und Norris 2013). Heute hat Großbritannien weniger als 250 Waffen, damit also rund 1.000 Waffen in 60 Jahren abgerüstet – eine Rate von mehr als 160 Waffen pro Jahrzehnt. Frankreich baute 1.260 Waffen in dem etwas kürzeren
Zeitraum 1960-2012. Nach Aussagen des ehemaligen Präsidenten Hollande in 2015 hatte Frankreich zu dieser Zeit 300 Kernwaffen. Die französische Regierung teilte in der Vergangenheit außerdem mit, keine nicht-einsatzbereiten Kernwaffen zu besitzen, also keine Bestände noch abzurüstender Kernwaffen zu haben. Daraus lässt sich eine durchschnittliche Abrüstungsrate von rund 200 Sprengköpfen pro Jahrzehnt schließen.

Chinas Bestände an Kernwaffen wachsen derzeit langsam weiter an, eine Schätzung der Abrüstungskapazitäten ist daher schwierig. Es kann aber angenommen werden, dass chinesische Kernwaffen mindestens ähnlich schnell abzurüsten sind wie die zeitaufwändigste Waffe der USA. Nach den Zahlen des US-Energieministeriums sollte die Abrüstung einer B53 (Außerbetriebnahme nach Ende des kalten Krieges) rund neun Arbeitsschichten dauern. Bei gleicher Zeitdauer sollte es möglich sein, alle chinesischen Waffen in rund zehn Jahren abzurüsten.

In den neueren Kernwaffenstaaten ist eine ähnliche Annahme möglich. Bei neun Arbeitstagen pro Waffe sollte es möglich sein, die indischen und pakistanischen Bestände in je fünf Jahren zu beseitigen, die israelischen Bestände in zweieinhalb Jahren und die nordkoreanischen Waffen noch deutlich schneller.

Zusammenfassung

Der Beitrag beschrieb die notwendigen Schritte und Anlagen für die technische Abrüstung von Kernwaffen. Langfristig wichtig ist dabei eine vollständige Zerstörung von Kernwaffenkomponenten, um einen raschen Wiederzusammenbau zu vermeiden. Es zeigt sich, dass eigentlich alle Staaten ihre Arsenale in rund zehn Jahren vollständig abrüsten könnten. Auch eine schnellere Abrüstung kann möglich sein, erfordert aber zusätzliches Engagement der Staaten über den Status quo hinaus, wie z.B. Mehrschichtbetrieb existierender Anlagen oder den Bau neuer Abrüstungsanlagen. Daher kann die technische
Abrüstung nicht der limitierende Faktor auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt sein. Wenn nach einer politischen Einigung die Wartung und Modernisierung von Kernwaffen eingestellt wird, können diese Kapazitäten ebenfalls für Abrüstung genutzt werden. Beim Design von Verifikationsregimen sollte darauf geachtet werden, dass die Zeiträume nicht unnötig lang veranschlagt werden.

Auch wenn bisher noch kein Kernwaffenstaat dem Kernwaffenverbotsvertrag beigetreten ist, könnten sie in Bezug auf vergangene Abrüstungsbemühungen transparenter sein. Diese Informationen könnten als Verhandlungsgrundlage für neue Abkommen dienen. Ein Austausch von Erfahrungen bezüglich sicherer Abrüstung und Zerstörung würde daneben allen beteiligten Staaten sowie ihren Nachbarn helfen, die Abrüstungsprozesse sicherer zu gestalten.

Anmerkung

1) Dieser Text basiert auf einem kürzlich veröffentlichten Artikel von Moritz Kütt und Zia Mian (Kütt und Mian 2019). Der Artikel ist kostenfrei unter https://t1p.de/deadline verfügbar (englische Sprache).

2) Der Vertrag tritt drei Monate nach Hinterlegung der 50. Ratifizierungsurkunde in Kraft.

Literatur

Feiveson, H.A.; Glaser, A.; Mian, Z.; von Hippel, F. (2014): Unmaking the Bomb – A Fissile Material Approach. Cambridge: MIT Press.

International Panel on Fissile Materials (IPFM) (2007): Global Fissile Material Report 2007. Princeton: Princeton University.

Kristensen, H.M.; Korda, M. (2019): Status of World Nuclear Forces. Washington, D.C.: Federation of American Scientists; fas.org.

Kristensen, H.M.; R.S. Norris (2013): Global Nuclear Weapons Inventories, 1945-2013. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 69, Nr. 5, S. 75-81.

Kütt, M.; Mian, Z. (2019): Setting the Deadline for Nuclear Weapon Destruction under the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 2, S. 410-430.

Office of Technology Assessment (OTA) (1993): Dismantling the Bomb and Managing the ­Nuclear Materials. Washington, D.C.: United States Congress.

United States Department of Energy (DOE) (1997): Transparency and Verification Options – An Initial Analysis of Approaches for Monitoring Warhead Dismantlement. United States Department of Energy – Office of Arms Control and Nonproliferation.

Vereinte Nationen – Generalversammlung (2017): Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (vom 7.7.2017). Die Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen steht unter un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf.

Moritz Kütt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich »Rüstungskontrolle und Neue Technologien« des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Kernwaffen in Südasien


Kernwaffen in Südasien

Arsenale, Doktrinen und Rüstungskontrolle

von Jens Heinrich

Indien und Pakistan bewiesen spätestens mit ihren Atomtests von 1998, dass sie in der Lage sind, nukleare Sprengsätze herzustellen. Seitdem haben beide Länder in den Ausbau und die Modernisierung ihrer Kernwaffenarsenale investiert. Ein Ende der Aufrüstungsdynamik der beiden verfeindeten Nuklearmächte ist bisher nicht abzusehen – mit weitreichenden Konsequenzen für Sicherheit und Frieden in der Region.

Nach aktuellen Schätzungen verfügen die zwei Länder über ca. 150-160 (Pakistan) bzw. 130-140 (Indien) Sprengköpfe (SIPRI 2019, S. 11), die von Flugzeugen, ballistischen Raketen und zukünftig auch von Marschflugkörpern getragen werden. Der Schwerpunkt der Modernisierung liegt bisher eindeutig auf landgestützten Raketen (Krepon und Thompson 2013, S. 13).

Indien fokussiert sich auf die Erhöhung der Reichweite der Trägerraketen. Das Arsenal umfasst aktuell nicht nur ältere Systeme, wie Prithvi II (350 km) und Agni I und II (>700 km bzw. >2.000 km), die im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre in Dienst gestellt wurden, sondern auch neuere und noch in der Testphase befindliche Typen, wie Agni IV und Agni V. Besonders mit der Agni V könnte Neu-Delhi in Zukunft über eine Rakete mit (fast) interkontinentaler Reichweite (>5.200 km) verfügen (Kristensen und Korda 2018, S. 364). Der Wunsch nach größeren Reichweiten kommt nicht überraschend, hatte doch schon die Regierung unter Atal Behari Vajpayee die Tests von 1998 mit der Bedrohung durch China legitimiert (Perkovich 1999, S. 417). Dazu kommen weitere Faktoren, wie das Streben nach Status und Prestige und das Interesse der Forschungseinrichtungen am Bau immer weiterreichender Raketen (Narang 2009).

Pakistans sicherheitspolitischer Blick hingegen ist nach wie vor deutlich auf Indien gerichtet (Auswärtiges Amt 2019, S. 123). Die 2015 zum ersten (und letzten) Mal getestete Mittelstreckenrakete Shaheen 3 (2.750 km) soll einen möglichst großen Teil Indiens abdecken. Aus Sicht Pakistans wären Interkontinentalraketen erst dann notwendig, wenn auch Ziele im Indischen Ozean erreicht werden sollen (Kristensen, Norris und Diamond 2018, S. 354). Die Konzentration auf Indien zeigt sich besonders bei der Einführung von Raketen mit einer Reichweite von 50-60 km in Pakistan (National Air and Space Intelligence Center 2017, S. 17). Offizielle pakistanische Stellen rechtfertigten die Entwicklung von Hatf 1 (50 km) und Hatf 9/Nasr (60 km) mit der indischen Militärstrategie, die u.a. begrenzte konventionelle Schläge vorsieht (Kidwai 2015). Die pakistanische Nuklearpolitik ist demgemäß darauf ausgelegt, nicht nur einen indischen Kernwaffeneinsatz, sondern auch einen konventionellen Krieg abzuschrecken, wobei der Hatf 9 eine wichtige Rolle zukommt.

Drei weitere Trends werden die regionale Sicherheitsstruktur zukünftig prägen: erstens die Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen, zweitens die Einführung atombetriebener U-Boote und U-Boot-gestützter Atomwaffen und drittens das indische Bestreben, Raketenabwehr aufzubauen.

Mehrfachsprengköpfe

Die MIRV-Technologie1 ermöglicht es, mit einer Rakete mehrere Sprengköpfe individuell gegen ein oder mehrere Ziele zu richten. Die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien haben MIRV schon lange in ihre Atomarsenale integriert. Auch China hat Teile seines Arsenals mit dieser Technologie ausgestattet (Department of Defense 2019, S. 44). Indische Wissenschaftler, wie der Direktor der Forschungseinrichtung Defence Research and Development Organization (DRDO), kündigten wiederholt an, MIRV solle auch für das indische Arsenal entwickelt werden (Times of India 2015). Wann dies gelingt, ist offen; schon das Streben nach MIRV könnte allerdings negative Folgen für Sicherheit und Frieden in der Region haben. Zum einen könnte Pakistan darin den Versuch Indiens sehen, langfristig eine Erstschlag­option zu entwickeln, um pakistanische Kernwaffen zu zerstören. Während des Kalten Krieges galten MIRV-Sprengköpfe aufgrund ihrer erhöhten Treffwahrscheinlichkeit als potentielles Instrument für solche Optionen (Müller und Schörnig 2006, S. 81). Diese Befürchtungen werden durch die jüngsten Äußerungen indischer Generäle und Politiker bestätigt, der Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (»no first use«) sei abhängig von zukünftigen Umständen. Als Reaktion auf die Entwicklung von MIRV könnte Pakistan die Alarmbereitschaft des eigenen Arsenals erhöhen, was in Krisen- und Spannungssituationen eskalierend wirken könnte. Zum anderen kann MIRV zur Verstärkung der bestehenden Aufrüstungsdynamik führen. Pakistan könnte dazu übergehen, eigene Mehrfachsprengköpfe zu entwickeln oder sein Kernwaffenarsenal weiter auszubauen.

U-Boot-gestützte Kernwaffen

Der zweite Trend ist der Aufbau einer nuklear angetriebenen und nuklear bewaffneten U-Boot-Flotte. Hier ist Indien deutlich weiter als Pakistan, das allerdings ebenfalls Interesse an diesen Systemen bekundete (Kidwai 2015). Das erste von insgesamt vier geplanten atombetriebenen U-Booten, die INS Arihant, absolvierte 2018 eine erste Fahrt, die vom indischen Premierminister Narendra Modi öffentlich als »Abschreckungspatrouille« bezeichnet wurde. Während des Kalten Krieges wurden auf U-Booten stationierte Atomraketen als stabilisierend betrachtet, da sie die nukleare Abschreckung stärken würden. Allerdings besteht bei U-Booten und darauf stationierten Atomraketen ein erhöhtes Risiko für Reaktorunfälle an Bord, für einen Atomwaffeneinsatz »aus Versehen«2 und für gravierende Folgen im Falle von Einsätzen zur U-Boot-Bekämpfung (Mian et al. 2019, S. 194). Ein weiteres Problem liegt darin, die Kommunikation zwischen dem U-Boot und der politischen und militärischen Entscheidungsebene auch in Krisensituationen und Kriegen zu sichern.

Raketenabwehr

Den dritten Trend stellen Pläne Indiens zum Aufbau von Raketenabwehr dar. Die Regierung in Neu-Delhi verfolgt diesbezüglich eine Doppelstrategie. Zum einen wird an eigenen Abwehrsystemen, wie dem Prithvi Air Defense System, gearbeitet. Gleichzeitig sucht die indische Regierung nach internationalen Partnern, vor allem in Israel, den USA und Russland, um die Raketenabwehr voranzubringen (Joshi und O’Donnell 2019, S. 35-37). Die erforderliche Technologie ist noch nicht sehr ausgereift, jedoch ist alleine das Streben nach Raketenabwehr problematisch, da Pakistan so zur Vergrößerung des eigenen Atomwaffenarsenals gereizt werden bzw. die eigene Aufrüstung legitimieren kann. Pakistans UN-Botschafter, Farukh Amil, wies jüngst auf die destabilisierenden Auswirkungen einer Raketenabwehr hin und stellte diese in einen Zusammenhang mit nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung (Amil 2018, S. 3). Zusätzlich könnte Raketenabwehr ein falsches Gefühl von »Unverwundbarkeit« vermitteln, zu riskantem Verhalten in Konfliktsituationen verleiten und eine Eskalation befördern.

Ersteinsatz und massive Vergeltung

Neben Waffensystemen liefert ein Blick in die jeweiligen Nukleardoktrinen Antworten darauf, welchen Stellenwert Kernwaffen für beide Länder haben und unter welchen Bedingungen der Einsatz erwogen würde. Dabei zeigt sich, dass Indien und Pakistan vor Dilemmata und Paradoxien stehen.

Indien veröffentlichte bereits 1999 eine nichtoffizielle Nukleardoktrin. Dabei handelte es sich um einen »Entwurf« des National Security Advisory Board, einem beratenden Gremium.3 Ein wesentliches Element dieser Doktrin war der Verzicht auf den Ersteinsatz, d.h., Kernwaffen würden ausschließlich als Antwort auf einen gegnerischen nuklearen Angriff eingesetzt (Ministry of External Affairs 1999).

Im Januar 2003 veröffentlichte das Büro des indischen Premierministers eine Pressemitteilung, die die zentralen Punkte einer Neufassung der Doktrin auflistete (Prime Minister’s Office 2003). Das Dokument, das vor dem Hintergrund des indisch-pakistanischen Kargil-Krieges (1999) und der so genannten »Doppelkrise« von 2001/2002 zu sehen ist, weist zwei wesentliche Veränderungen im Vergleich zum Entwurf auf.

Erstens wurde die geographische Eingrenzung aufgehoben. Im Entwurf von 1999 wurde eine nukleare Vergeltung als Reaktion auf einen Nuklearwaffeneinsatz gegen Indien und indische Streitkräfte genannt. In der Version von 2003 blieb der Verzicht auf den Ersteinsatz zwar erhalten, gilt seither aber nicht für den Fall, dass indische Streitkräfte mit Kernwaffen angegriffen werden – und zwar „egal wo“ (Prime Minister’s Office 2003), also auch außerhalb des indischen Hoheitsgebiets. Die indische Regierung versuchte so eine Art Schutzschild für die eigene Armee aufzubauen, damit diese in pakistanischem Staatsgebiet aktiv werden kann.

Eine zweite Erweiterung war inhaltlicher Natur. Anders als der Entwurf verweist die Pressemitteilung von 2003 explizit darauf, ein Einsatz biologischer und chemischer Waffen gegen Indien oder indische Truppen könnte eine nukleare Vergeltung auslösen. Da die Staaten, die Neu-Delhi als Hauptbedrohung wahrnimmt (China und Pakistan), vermutlich nicht im Besitz von B- oder C-Waffen sind (Arms Control Association 2018), dürfte sich dieser Punkt auf terroristische Gruppen beziehen. Die indische Regierung könnte somit bei einem von nichtstaatlichen Gruppen verübten Anschlag mit biologischen oder chemischen Waffen auch einen Kernwaffeneinsatz in Pakistan in Betracht ziehen.

Ein weiterer Pfeiler der indischen Doktrin ist die massive Vergeltung als Reaktion auf einen Kernwaffeneinsatz. In dem Entwurf von 1999 war noch von einer „punitive retaliation“, also bestrafender Vergeltung, die Rede (National Security Advisory Board 1999). Seit 2003 gilt offiziell die »massive Vergeltung« – ein Begriff, der an die Debatte in den 1950er Jahren in der NATO erinnert, die allerdings unter anderen Vorzeichen geführt wurde. Massive Vergeltung führt in Verbindung mit den oben erwähnten Doktrinerweiterungen zu einem Glaubwürdigkeitsproblem für die indische Regierung, mit potentiell gravierenden Folgen.

Ein Szenario soll dies kurz illustrieren: In einem Krieg zwischen Indien und Pakistan könnte die pakistanische Seite Atomwaffen einsetzen, um vorrückende indische Streitkräfte zu stoppen. Denkbar wären auch ein »demonstrativer« oder nicht-autorisierter Einsatz durch untere Kommandoebenen. Sollten dadurch indische Streitkräfte auf irgendeine Weise betroffen sein, wäre die indische Seite unter Zugzwang, da ein Nichthandeln der eigenen Doktrin widersprechen und somit die Glaubwürdigkeit schwächen würde. In einem solchen Szenario würden also nicht unbedingt militärische Argumentationen und Rechtfertigungen, sondern vielmehr psychologische Faktoren greifen.

In jüngster Zeit steht zudem der Nicht-Ersteinsatz zur Diskussion. Hohe indische Offizielle, wie z.B. der amtierende Verteidigungsminister Rajnath Singh, haben den Verzicht auf den nukle­aren Ersteinsatz jüngst relativiert und von zukünftigen (und somit vagen und interpretierbaren) Bedingungen abhängig gemacht (The Hindu 2019).

Die Auswirkungen der indischen Doktrin werden erst vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Pakistan deutlich. Islamabad (bzw. Rawalpindi)4 hat bisher keine Nukleardoktrin veröffentlicht, lässt die indische Regierung über einen potentiellen Einsatz von Atomwaffen also im Unklaren. Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte, die helfen, Pakistans Nuklearstrategie zu verstehen. Wesentliches Merkmal ist die Option des Ersteinsatzes von Kernwaffen unter Bedingungen, welche General Khalid Kidwai formulierte. Darunter fallen 1. die Zerstörung großer Teile der pakistanischen Armee, 2. die Besetzung großer Teile pakistanischen Territoriums, 3. eine Wirtschaftsblockade gegen Pakistan durch Indien und 4. die Destabilisierung durch einen externen Akteur, womit Indien gemeint ist (Khan 2012, S. 351). Das Problem dieser roten Linien ist ihre Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit (Joshi und O’Donnell 2019, S. 7), die von pakistanischer Seite durchaus gewollt ist. In einer Krise oder einem Krieg könnte Indien eine oder mehrere dieser Grenzen bewusst oder unbewusst übertreten, sodass eine nukleare Eskalation wahrscheinlicher würde. Auf der anderen Seite erlaubt die Mehrdeutigkeit Freiräume bei der Reaktion, die bei strikteren Bedingungen kaum denkbar wären. Die politischen und militärischen Entscheidungsträger Pakistans wären somit nicht automatisch unter nuklearem Zugzwang.

Der Ersteinsatz von Kernwaffen wurde von der politischen und militärischen Führung Pakistans wiederholt diskutiert. Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche der Regierung, die Atomwaffenpolitik des Landes zu ändern bzw. zu relativieren. Im Jahr 2008 erklärte der damalige pakistanische Präsident Zardari, die Politik des Ersteinsatzes solle aufgehoben werden, was zu einer prompten Reaktion des Armeechefs Asfaq Kayani führte (Sagan 2009, S. 253). Die dominante Rolle der Armee in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigte sich auch, als der jetzige Ministerpräsident Imran Khan nach seinem Amtsantritt 2018 die Politik des Ersteinsatzes öffentlich in Frage stellte. Auch diese Aussage wurde später relativiert (Shahzad 2019).

Rüstungskontrolle in Südasien

Rüstungskontrolle als Strategie zur Kriegsverhinderung und Abrüstung hat in Südasien einen schweren Stand. Zwar gab es in der Vergangenheit Initiativen zur Vertrauensbildung, diese konnten die regionale Rüstungsdynamik jedoch nicht begrenzen. Besonders Verträge und verbindliche Abkommen gelten „eher als Problem […] denn als Lösung“ (Norddeutscher Rundfunk 2012). Konkret wirft Rüstungskontrolle in Südasien die folgenden Herausforderungen auf:

1. Eine regional beschränkte Rüstungskontrolle wird abgelehnt. Vor allem die indische Regierung verdeutlichte immer wieder, Rüstungskontrolle dürfe nicht auf Indien und Pakistan begrenzt sein, sondern müsse China einbeziehen. Da sich Chinas Sicherheitspolitik jedoch stärker an den USA5 (und zum Teil an Russland) orientiert, wird regionale mit globaler Rüstungskontrolle verknüpft und somit verkompliziert und erschwert.

2. Rüstungskontrolle setzt voraus, die Sicherheit der anderen Seite mitzudenken, zu akzeptieren und durch eigenes Handeln zu fördern. Die Realität in Südasien sieht anders aus. Von den politischen, militärischen und nuklear-wissenschaftlichen Eliten beider Länder wird Rüstungskontrolle nicht als Teil der eigenen Sicherheitspolitik, sondern als Gegensatz zu dieser betrachtet. Es geht führenden Politiker*innen und großen Teilen der Armeeführung beider Länder um Sicherheit durch Dominanz, rüstungstechnologische Überlegenheit und Abschreckung auf allen Ebenen. Die der Rüstungskontrolle zugrundeliegende Kooperation kann so kaum greifen.

3. Rüstungskontrollverträge leben von einer gewissen Vergleichbarkeit und Symmetrie. In Südasien spielen aber nicht nur Nuklearraketen eine Rolle, sondern auch die konventionelle Rüstung und »asymmetrische Bedrohungen«, also nichtstaatliche Gewaltgruppen. Für Indien sind terroristische Anschläge die zentrale Herausforderung, für Pakistan hingegen steht trotz Anschlägen im eigenen Land die indische Armee im Zentrum. Dieses Dreieck aus Terrorismus, konventioneller und nuklearer Rüstung lässt sich nur schwer in Verträge und verbindliche Abkommen übertragen.

4. Ein viertes Hindernis für Rüstungskontrolle zwischen beiden Ländern ist das Fehlen einer nennenswerten »community«, die sich mit dem Thema befasst. Die Chancen (und Grenzen) von Rüstungskontrolle hängen nicht nur von sicherheitspolitischen, technologischen und internationalen Faktoren ab, sondern werden auch von innenpolitischen und innergesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. In Indien und Pakistan gelten Verteidigungsfragen als Kernbereich exklusiver politischer und militärischer Kreise. Es gibt kaum intensive parlamentarische Debatten oder breite gesellschaftliche Diskursräume für Kritik und Kontroversen mit Blick auf die Atomwaffenpolitik beider Länder.

Ausblick

Atomwaffen werden in Südasien auch in Zukunft Teil der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein, denn zu stark sind die Beharrungskräfte in beiden Ländern. Ob es sich dabei um einen »Schrecken ohne Ende« handelt oder ob ein Ende abzusehen ist bzw. der Schreck zumindest verkleinert werden kann, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall gibt es Möglichkeiten, die Gefahren zu mindern. Zum einen streben sowohl Indien als auch Pakistan die Mitgliedschaft in internationalen Foren an, insbesondere in der »Nuclear Supplier Group« (Gruppe der Nuklearlieferländer), die den Handel mit Nukleartechnologie koordiniert und kontrolliert. Eine Mitgliedschaft sollte an Bedingungen geknüpft sein. Wichtige Partner beider Länder könnten versuchen, Zugeständnisse in bestimmten Bereichen zu verlangen. Leider blieben solche Versuche in der Vergangenheit ungenutzt. Zum anderen könnte die Unterstützung der rüstungskontroll- und abrüstungsfreundlichen Kräfte in Indien und Pakistan erhöht werden. Auch der Austausch mit Regierungsvertretern könnte darauf ausgerichtet sein, den skeptischen Blick auf Rüstungskontrolle und Abrüstung in beiden Ländern positiv zu verändern und die Vorteile einer solchen Politik für die Sicherheit aller zu verdeutlichen.

Anmerkungen

1) MIRV steht für Multiple Independently Tar­getable Reentry Vehicles.

2) Siehe dazu »Atomkrieg – aus Versehen?« von Karl-Heinz Bläsius auf S. 9 in diesem Heft.

3) Es darf jedoch bezweifelt werden, dass es nicht doch einen starken Einfluss offizieller Regierungsstellen gab. Die Doktrin kann durchaus auch als ein »Testballon« verstanden werden.

4) Die Chiffre »Rawalpindi« dient hier dem Hinweis auf die dominante Rolle des Militärs in sicherheitspolitischen Fragen. In Rawalpindi befindet sich das Hauptquartier der pakistanischen Armee.

5) Siehe dazu »Ein eigener Ansatz – Die Atomwaffendoktrin Chinas« von Gregory Kulacki auf S. 26 in diesem Heft.

Literatur

Amil, F. (2018): Statement delivered by Ambassador Farukh Amil, Permanent Representative of Pakistan to the UN and Other International Organizations in Geneva at the First Committee General Debate. New York: United Nations General Assembly.

Arms Control Association (2018): Chemical and Biological Weapons Status at a Glance. Washing­ton D.C.

Auswärtiges Amt (2019): Jahresabrüstungsbericht 2018. Berlin.

Joshi, Y.; O’Donnell, F. (2019): India and Nuclear Asia – Forces, Doctrine, and Dangers. Washington D. C.: Georgetown University Press.

Khan, F.H. (2012): Eating Grass – The Making of the Pakistani Bomb. Stanford: Stanford University Press.

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Mian, Z.; Ramana, M.V.; Nayyar, A.H. (2019): Nuclear Submarines in South Asia – New Risks and Dangers. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 1, S. 184-202.

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Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle – Eine exemplarische Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

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Narang, V. (2009): Pride and Prejudice and Prithvis – Strategic Weapons Behavior in South Asia. In: Sagan, S.D.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 137-183.

Norddeutscher Rundfunk (2012): Ungebremster Rüstungswettlauf in Asien – China und die USA kämpfen um ihre Vormachtstellung. Interview mit Michael Brzoska.

Perkovich, G. (1999): India’s Nuclear Bomb – The Impact on Global Proliferation. Berkeley: University of California Press.

Prime Ministers’s Office (2003): Cabinet Committee on Security Reviews Progress in Operationalizing India’s Nuclear Doctrine. Neu-Delhi.

Sagan, S.D. (2009): The Evolution of Pakistani and Indian Nuclear Doctrine. In: ders.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 219-263.

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Shahzad, A. (2019): PM Khan – Pakistan would not use nuclear weapons first, amid tensions with India. Reuters.

Stockholm International Peace Research Institute (2019): SIPRI Yearbook – Armaments, Disarmament and International Security. Kurzfassung auf Deutsch. Stockholm: Oxford University Press.

The Hindu (2019): »No First Use« nuclear policy depends on circumstances: Rajnath Singh. Neu-Delhi.

Jens Heinrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit an der Universität Rostock.