Ein amerikanischer »hibakusha«

Ein amerikanischer »hibakusha«

Zu der Debatte um die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

von Thomas Smith

Ich heiße Thomas Smith und bin Überlebender der Atomversuche, also ein amerikanischer hibakusha. Während meiner Dienstzeit bei der amerikanischen Marine wurde ich 17mal Zeuge von Atombombendetonationen im Pazifik. Das war im Jahre 1958. Ich war damals aufder USS-Hooper-Island stationiert, die beim Eniwetok-Atoll, im Archipel der Marshall-Inseln lag.

Als Zeuge habe ich die Sprengungen aus verschiedenen Entfernungen erlebt (…). So nah, daß man die Hitzewelle spüren konnte; so heiß, daß man dachte, die Kleider am Leib könnten in Flammen aufgehen. (…)

Viele Jahre danach habe ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu schaffen gehabt;Beschwerden, die niemand vorher in meiner Familie gehabt hat; Beschwerden, die kein Arzt erklären konnte, und schließlich gesundheitliche Beschwerden, die nun auch meine Kinder hinnehmen müssen. Sowohl meine Tochter als auch mein Sohn zeigen genetische Auffälligkeiten, die durch meine Verstrahlung verursacht wurden. Und jetzt bange ich um die Gesundheit meiner Enkel.

<>Jene Detonationen und damit verbunden die gesundheitlichen Schäden bei meinen Kindern und bei mir selbst gehören zu dem dauernden Vermächtnis der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki; und das National Air & Space Museum hat sich entschlossen, die Spuren dieses Vermächtnisses aus seiner »Enola-Gay«-Ausstellung zu entfernen.

Erst Jahre nach jenen Tests habe ich andere Menschen mit ähnlichen Beschwerden gefunden. Menschen aus allen Teilen der Welt und mit den unterschiedlichsten Lebensläufen– Veteranen, »downwinders«, Menschen, die in Uranbergwerken gearbeitet haben, und natürlich die japanischen hibakusha. Eines hatten wir gemeinsam, wir waren radioaktiven Strahlungen ausgesetzt gewesen, entweder durch Berührung bei der Arbeit oder durch die Strahlung nach der Detonation einer nuklearen Bombe.

Ich habe 25 Operationen über mich ergehen lassen (…). Allein sechs Eingriffe an der Wirbelsäule einschließlich zahlreicher Knochentransplantationen aus dem Beckenbereich habe ich hinnehmen müssen, außerdem Eingriffe zur Wiederherstellung von Gelenken und zur Entfernung von Tumoren. (…) Heute muß ich mit einem geschwächten Immunsystem, Diabetes und chronischer Leberentzündung leben, und trotz-alledem rechne ich mich zu den Glücklichen. Heute bin ich noch am Leben und rede zu Ihnen, viele meiner Gefährten sind es nicht. Sie sind vor ihrer Zeit gestorben.

Die Ausstellung soll die Amerikaner ehren

Zu der Debatte über die »Enola-Gay-Ausstellung« in den USA

Als B 29-Kampfflieger des Zweiten Weltkrieges und Mitglied des Enola Gay-Komitees möchte ich meine Unzufriedenheit über die geplante Ausstellung des B 29-Bombers, der am 6. August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf, durch das Nationale Luft- und Raumfahrt-Museum zum Ausdruck bringen. Trotz der angekündigten Ergänzungen läuft das ganze auf eine »Anti-Bomben«-Ausstellung hinaus.

Die ein Jahr dauernden Verhandlungen mit Martin Harwit, dem Museums-Direktor, haben gezeigt, daß sämtliche Korrekturen rein kosmetischer Natur sind und nichts am Grundkonzept der Ausstellung ändern.

Die Ausstellung sollte eine Feier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes sein. Sie sollte die Amerikaner ehren, die so lange auf so vieles verzichteten, und das sind fast alle amerikanischen Bürger, die zwischen 1941 und 1945 lebten.

Sie sollte unsere Führung für ihre großartige Leistung ehren, den Krieg so schnell zu beenden. Sie sollte die arbeitende Bevölkerung ehren, die oft erhebliche persönliche Opfer brachte, um ihre Arbeitskraft den kriegswichtigen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Und sie sollte die siebeneinhalb Millionen Mitbürger ehren, die in dieser Zeit für ihr Land kämpften.

Für all dies ist die »Enola Gay« ein einzigartiges Symbol. Sie ist der berühmteste von allen B 29-Bombern. Mit dem Luftbombardement Japans konnte zum ersten Mal ein Krieg ohne Invasion beendet werden.

Uns allen sind die schrecklichen Ereignisse von »D-Day« bekannt. Und bei dieser Invasion ging es lediglich um den Transport über den Ärmelkanal. Dagegen hätten die Schrecken einer Invasion auf der Insel Honschu »D-Day« als Kinderspiel erscheinen lassen.

Wenn wir die Schrecken Hiroshimas zeigen, dann müssen wir auch Dresden, Tokio, London und all die anderen Städte zeigen, auf die Bomben fielen.

Wir sollten den Schwerpunkt der Ausstellung völlig verändern. Wir sollten mit dieser Ausstellung das Ende des Zweiten Weltkrieges gebührend feiern. Es leben schließlich noch viele von uns, die an diesem Krieg auf die eine oder andere Weise teilgenommen haben.

Leserzuschrift, New York Times, 10.9.1994. (Übersetzung: Helga Wagner.)

Presseerklärung von Thomas Smith. Veteran von Atomversuchen und Erster Vorsitzender der Vereinigung überlebender Strahlenopfer in Amerika. (Übersetzung Bill Hadfield)

Hiroshima und Nagasaki

Hiroshima und Nagasaki

Die Zerstörung der Städte und die Formen der Erinnerung in Japan

von Wolfgang Schwentker

Am Morgen des 6. August 1945 warf eine B-29 der amerikanischen Luftwaffe die erste Atombombe über Hiroshima ab. In Bruchteilen von Sekunden verwandelten eine gewaltige Explosion etwa 500 Meter über dem Erdboden und die unmittelbar folgenden Hitzewellen die Stadt mit ihren 350.000 Einwohnern in ein Inferno.1

Augenzeugenberichte, die versuchen, das Unvorstellbare in Worte zu fassen, ja selbst später veröffentlichte Photographien geben uns heute ein nur unvollkommenes Bild des Grauens. Die genaue Zahl der Opfer am Tag des Abwurfs ist unbekannt. Bis heute wird darüber viel spekuliert. Sicher wissen wir nur, daß bis Ende 1945 ca. 140.000 Menschen an den Folgen der Atombombenexplosion starben; bis zum Jahre 1950 waren es etwa 200.000 Menschen. Die Stadt selbst wurde nahezu völlig verwüstet; 90<0> <>% aller Gebäude wurden im Umkreis von 13 Quadratkilometern infolge der Explosion zerrissen oder gingen in den folgenden Stunden in Flammen auf. Die Infrastruktur der Stadt war vollkommen zerstört. Wer in dieser atomaren Apokalypse die ersten Stunden überlebt hatte oder gar unverletzt geblieben war, versuchte aus der Stadt zu kommen. Jene, die sich in der Nähe des Epizentrums aufgehalten hatten, blieben zurück, die meisten tot oder schwer verletzt und hilflos, Opfer von Verbrennungen und Verstrahlungen.2

In Tokio machte man sich unterdessen Sorgen um die Stellung des Tenno und das japanische »Nationalwesen« (kokutai) für den Fall, daß Japan vor der Übermacht der alliierten Streitkräfte doch kapitulieren müßte.3 Der amerikanische Präsident Truman hatte es abgelehnt, der japanischen Regierung irgendwelche Garantien für den Fortbestand des Kaiserhauses zu geben, Kern und wichtigstes Symbol der nationalen Identität Japans. So mußten letzten Endes auch die Friedensangebote, die Tôkyo über die sowjetische Regierung lancieren wollte, wegen des Beharrens auf der Unantastbarkeit des Tenno erfolglos bleiben. Die Falken in der japanischen Regierung, allen voran die Spitzen von Flotte und Armee, wollten deshalb alles auf eine Karte setzen und glaubten, das Blatt doch noch wenden zu können.

Als die ersten Nachrichten über die Katastrophe aus Hiroshima eintrafen, wurden sie deshalb zunächst nur zögerlich und ungläubig aufgenommen. Man wußte noch zu wenig über die wirklichen Auswirkungen und einigte sich in der Öffentlichkeit auf die Sprachregelung, daß eine »neuartige Bombe« in Hiroshima beträchtlichen Schaden angerichtet habe. Die politischen Auswirkungen der Atombombe blieben also zunächst begrenzt; die japanische Regierung dachte zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, einzulenken und die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation anzunehmen. Immerhin entsandte man zwei Tage später Beobachter nach Hiroshima, um dem Verdacht nachzugehen, daß es sich bei der Bombe um eine Atombombe handeln könnte. Erst die Kriegserklärung der UdSSR an Japan am 8. August brachte Bewegung in die Verhandlungen, da nun das gefürchtete Schreckensgemälde einer möglichen kommunistischen Revolution und ein Sturz des Kaiserhauses konkretere Formen annahm.

In dieser Situation warf die amerikanische Luftwaffe am folgenden Tag, dem 9. August 1945, eine zweite Atombombe auf Nagasaki ab. Die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner waren ähnlich verheerend.4 Von den etwa 270.000 Einwohnern kamen als Folge der ungeheuren Explosion und der Hitzewellen von mehreren tausend Grad ca. 70.000 Menschen um. In den nächsten fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Opfer infolge der Strahlenerkrankungen. Die Überlebenden, die hibakusha, sollten wie ihre Leidensgenossen in Hiroshima noch auf Jahrzehnte von schweren Erkrankungen, genetischen Fehlentwicklungen bei ihren Nachkommen und seelischen Schmerzen gezeichnet sein. Wenn auch wegen der andersartigen geographischen Lage der Stadt mit ihren Hügelketten die Auswirkungen der Atombombe relativ begrenzter als in Hiroshima waren, so wurde aber auch hier die Infrastruktur der Stadt nahezu vollkommen zerstört. Auf einer Fläche von ca. 7 Quadratkilometern um das Epizentrum der Bombe wurde sämtliches Leben ausgelöscht und alle Gebäude wurden verwüstet.

Die Nachrichten vom Abwurf einer zweiten Atombombe auf Nagasaki haben auf die Beratungen der Regierung in Tokio am 9. August keinen sonderlich großen Einfluß gehabt. Von wesentlich größerer Bedeutung war, wie man dem Kriegseintritt der Sowjetunion begegnen könne und ob man eine Entscheidungsschlacht auf dem japanischen Festland suchen müsse. Nach stundenlangen, aber ergebnislosen Beratungen überließ man schließlich dem Tenno die letzte Entscheidung, wonach sich Japan am 10. August zu einer bedingten Annahme der Potsdamer Deklaration entschloß. Mit einer verklausulierten Garantie für den Fortbestand des japanischen Kaiserhauses kamen die Amerikaner dem Kriegsgegner dabei diplomatisch entgegen. Am 14. August war die Kapitulation beschlossene Sache. Sie war das Ergebnis eines diplomatischen Tauziehens zwischen den USA und Japan und eines „unübersichtlichen Palastspektakels“ (Wagner) in Tokio. Dahinter stand auf allen Seiten das Bemühen, die Sowjetunion aus Japan herauszuhalten. Der Abwurf der beiden Atombomben hat, entgegen den Erwartungen, die die amerikanische Administration mit dem militärischen Einsatz der Atombombe verband, im Entscheidungsprozeß der japanischen Regierung eine nur untergeordnete Rolle gespielt.5

Der Krieg war mit der Kapitulation Japans zu Ende gegangen. Am 15. August richtete sich der Tenno aus diesem Anlaß in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung, in der auch von den schrecklichen Auswirkungen der Atombombe die Rede war.6 Die Bewältigung der ungeheuer schwierigen Probleme, die sich aus der atomaren Zerstörung der Städte vor allem für die unmittelbar Betroffenen ergaben, nahm jetzt erst ihren Anfang. Damit eng verknüpft war die politische Behandlung der Atombombenfrage, im Innern wie nach außen. Sie ist bis heute in Japan höchst aktuell und umstritten. Dies zeigten in jüngster Zeit die scharfen Reaktionen auf die amerikanischen Planungen zur Herausgabe einer Briefmarke, mit der der Abwurf der Atombombe noch einmal gerechtfertigt werden sollte, oder die kühle Resonanz auf die amerikanische Diskussion über das Ausstellungsprojekt der »Smithonian Institution« in Washington. Wie läßt sich heute, 50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben, die sozial-psychologische Verarbeitung der Zerstörungen und Verletzungen nach 1945 beschreiben? Wie ist die Erinnerung an diese bislang einmaligen Vorgänge politisch organisiert, wie ist sie von verschiedenen Interessengruppen in Japan instrumentalisiert worden?7 Es gibt hier angesichts der Komplexität der zu erörternden Probleme keine griffigen Formeln, mit denen sich das Thema bündig ordnen ließe. Doch lassen sich in der Behandlung von Hiroshima und Nagasaki durch die Regierung und in der Öffentlichkeit drei Phasen unterscheiden, deren Zäsuren von äußeren Faktoren, insbesondere dem Verhältnis Japans zu den USA, und dem Wandel in der Bewertung des japanischen Verhaltens im Krieg vom Opfer (higaisha) zum Täter (kagaisha) bestimmt wurden.

Die erste Phase vom Kriegsende bis etwa Mitte der fünfziger Jahre umschließt den Wiederaufbau der zerstörten Städte unter den Bedingungen der amerikanischen Besatzung. Die zweite Periode reicht vom Widerstand der japanischen Friedensbewegung gegen die amerikanischen Atomtests im Pazifik nach 1955 bis in die siebziger Jahre, in denen sich in der Atomfrage Kritiker und politisches Establishment in zwei Lagern gegenüberstehen. In der dritten Phase ab etwa 1980 verschärft sich die Kritik an den damaligen Entscheidungen der USA für den Einsatz der Bombe vor dem Hintergrund eines neuen japanischen Nationalismus. Gleichzeitig kommt es auf Seiten der Linken zu einer stärkeren Thematisierung der Kriegsschuldfrage und angesichts der Würdigung der zahlreichen koreanischen Opfer zu einer Relativierung der These, daß Japan das „einzige und alleinige Opfer der Atombomben“ („Nihon wa yuiitsu no hibaku kuni“) sei.8

Das Schicksal der Überlebenden

Nur wenige Wochen blieben den Japanern Zeit, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß ihr Land bald von fremden Truppen besetzt werden würde. Die japanische Übergangsregierung protestierte zwar noch nach der Kapitulation über diplomatische Kanäle in der Schweiz gegen die Anwendung atomarer Waffen, doch fand ihre Note im Taumel des Zusammenbruchs selbst in Japan keinen Widerhall. Es waren ja nicht nur Hiroshima und Nagasaki im August 1945 vollkommen zerstört, auch andere japanische Großstädte waren seit dem Frühjahr Ziel strategischer Flächenbombardements amerikanischer Flugzeuge gewesen. Am 10. März 1945 hatten Angriffe auf die japanische Hauptstadt mehr als 80.000 Menschenleben gefordert. Anderen Städten mit ihren Bewohnern war es ähnlich ergangen. Die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Strom war deshalb in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen. Jeder kämpfte um das eigene Überleben und versuchte, sich und die eigene Familie in den ersten Monaten nach Kriegsende durchzubringen. An das besondere Schicksal der Atombombenopfer in Hiroshima und Nagasaki dachten in dieser Situation nur wenige. Für die beiden betroffenen Städte kam erschwerend hinzu, daß der »Supreme Commander of the Allied Powers« (SCAP) unmittelbar nach der Besetzung Japans am 10. September 1945 eine Verfügung erließ, die Presse und Radio unter die Zensur der Besatzungsbehörden stellte und ihnen auferlegte, sich jeder Kritik, die die Autorität der Besatzer untergraben könnte, zu enthalten.9 Dies betraf auch alle Berichte und Kommentare über die Folgen der atomaren Bombardierung.

Wie ernst es den Amerikanern mit diesem Erlaß war, bekamen auch westliche Journalisten zu spüren. Der australische Journalist Wilfried Burchett, der für den »London Daily Express« schrieb, hatte sich noch im August auf eigene Faust nach Westjapan durchgeschlagen und im September den ersten Bericht über die Verwüstungen in den Westen telegraphiert, zum Ärger der amerikanischen Behörden, die daraufhin allen westlichen Journalisten fürs erste den Zugang zu Hiroshima und Nagasaki verwehrten. Die Berichte der japanischen Journalisten wurden zensiert oder für mehrere Jahre zurückgehalten. Dies galt insbesondere für Berichte über die unzureichende medizinische und sozialpsychologische Betreuung der Überlebenden. Zwar wurde japanischen Wissenschaftlern gestattet, in beiden Städten Untersuchungen anzustellen. Die Ergebnisse der Kommissionen wurden jedoch konfisziert, ebenso das von den wissenschaftlichen Teams hergestellte Filmmaterial. Es wurde in die USA verbracht und blieb dort über 25 Jahre unter Verschluß.

Auch literarische Zeugnisse, wie der Bericht des Arztes Nagai Takashi aus Nagasaki, fielen unter die Zensur. Sein Buch „Die Glocken von Nagasaki“ konnte 1947 erst erscheinen, nachdem ihm auf Anordnung der Besatzer ein Bericht über japanische Kriegsgreuel auf den Philippinen angehängt wurde, – ein erstes Beispiel für die Verknüpfung von Atombombenproblematik und Kriegsschuldfrage. Es wäre aber wohl verfehlt, diese Beobachtungen zum Anlaß zu nehmen, um von einer totalen Nachrichtensperre zu sprechen und die Verhältnisse unter amerikanischer Besatzung mit der Zeit vor dem Kriege zu vergleichen, wie dies einige japanische Autoren in der Vergangenheit getan haben.10 Immerhin konnte die berühmte Sammlung von Augenzeugenberichten von John Hersey, die die amerikanische Öffentlichkeit aufgewühlt hatte, 1949 in japanischer Übersetzung erscheinen.11

Der mangelhafte Fluß an Nachrichten und Hintergrundinformationen über die Folgewirkungen der atomaren Verwüstung machte es den betroffenen Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki zusätzlich schwer, von seiten der Bevölkerung und der Regierung Unterstützung zu erhalten. Die Überlebenden blieben mit ihren Sorgen und Leiden in den ersten Jahren nach der Katastrophe weitgehend allein. Unrühmlich war vor allem die dilatorische Behandlung der Probleme durch die japanische Regierung und ihre nur schleppend arbeitende Bürokratie. So blieb die Hilfe, als sie am dringendsten benötigt wurde, aus. Das Gesetz zur Linderung der Kriegsopfer von 1942 lief im Oktober 1945 aus und wurde nicht verlängert. Bis 1957 mußten die Überlebenden, die hibakusha, die medizinische und soziale Versorgung aus eigenen Mitteln bestreiten oder waren, wenn sie dazu nicht in der Lage waren, auf die Hilfe ihrer Familien angewiesen. Viele Opfer fühlten sich noch zusätzlich durch die Behandlung der von der amerikanischen Regierung 1947 eingesetzten »Atomic Bomb Casualty Commission« (ABCC) gedemütigt. Sie führte als wissenschaftliche Untersuchungskommission mit den betroffenen Opfern zahlreiche Tests durch, ohne gleichzeitig medizinische Hilfeleistungen anzubieten. Einzig und allein die städtischen Behörden traten für die Versorgung der hibakusha ein; ohne ihr Engagement hätten viele nicht überlebt. Sie organisierten in den ersten Nachkriegsjahren die medizinische Grundversorgung mit eigenen Mitteln und unter äußeren Bedingungen, die keine Beschreibung wirklich erfassen kann. Die dramatische, ja bisweilen aussichtslose Lage der beiden Städte verbesserte sich erst ab Mai 1949, als sich das japanische Parlament nach großem Zögern zu einem Wiederaufbauprogramm für Hiroshima und Nagasaki entschloß. Hiroshima wurde zur »Gedenkstadt für den Frieden« und Nagasaki zur »Internationalen Stadt der Kultur« erkoren. In beiden Städten wurde mit dem Bau von Erinnerungsstätten, Mahnmalen und Museen begonnen. An einem der regelmäßig stattfindenden Gedenktage, am 6. August 1952, wurde der Gedenkstein für die Opfer der ersten Atombombe eingeweiht. Die Inschrift ist absichtlich vage formuliert und unterstreicht die Absicht von Regierung und Stadtverwaltung, Hiroshima zu einem universalen Symbol der Anti-Atom- und Friedensbewegung zu machen: „Laßt die Seelen hier in Frieden ruhen, damit sich das Unheil nie wieder wiederholt.12

Auch in den fünfziger Jahren blieb die Lage der hibakusha unbefriedigend. Der Regierung lag nach 1950 eher an nationaler Friedenssymbolik. Außerdem war sie bestrebt, den wirtschaftlichen Aufbau mit einem Kernenergieprogramm zu betreiben, bei dem eine allzu kritische Haltung der Öffentlichkeit in der Atombombenfrage eher hinderlich gewesen wäre. Staatliche Hilfeleistungen kamen auch wegen der nur schwerfällig arbeitenden Bürokratie kaum voran. So lag die Last für den Wiederaufbau der zerstörten Städte weiterhin bei den lokalen Verwaltungen. Mit der Einrichtung spezieller Krankenhäuser und Rehabilitationszentren für die Atombombenopfer konnten die Leiden der Opfer zumindest gelindert werden. Private Hilfsorganisationen, Bürgergruppen und Ärzte wirkten an der Nachsorge mit. Doch auch sie konnten nicht verhindern, daß viele hibakusha bis weit in die sechziger Jahre in Baracken hausen mußten, in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebten und manche wegen ihres Aussehens in die gesellschaftliche Isolierung getrieben wurden. Für viele Japaner galten sie, wie andere Behinderte auch, nach der shintoistischen Tradition als »unrein«. Man hielt sich lieber von ihnen fern und wirkte stattdessen am wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes mit. Darüber hinaus erinnerten die Atombombenopfer an die demütigende Niederlage von 1945. Dies war seit etwa 1960 dem neuen japanischen Selbstbewußtsein, das sich mit den wirtschaftlichen Erfolgen nach dem Korea-Krieg einstellte, eher abträglich. So gerieten die Opfer der Atombomben bei einem Großteil der Bevölkerung nahezu in Vergessenheit. Der Abschluß des Friedensvertrags von San Francisco, der Japan wieder in die Souveränität entließ – von den Kautelen der militärischen Geheimabmachungen abgesehen –, besiegelte die Hoffnung der hibakusha auf Entschädigungen von amerikanischer Seite. In Art. 19 des Vertrags verzichtete Japan ausdrücklich auf alle dahin gehenden Ansprüche, ohne zu diesem Zeitpunkt für die Betroffenen selbst Kompensationen in Aussicht zu stellen.

Aufarbeitung zwischen 1950 und 1980

Die Jahre 1952/54 bedeuteten bezüglich der Formen der Erinnerung in Japan an die atomare Katastrophe in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt. Mit Inkrafttreten des Friedensvertrags wurden auch die Zensurmaßnahmen hinfällig. Es kam in der Atombombenfrage in der Folge zu einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen wissenschaftlicher und literarischer Art. In der bekannten Kulturzeitschrift »Chûô Kôron« publizierte Ibuse Masuji 1951 die Hiroshima-Erzählung „Kakitsubata“ („Die Schwertlilie“; dt. 1985). Im Jahre 1965 erschien sein bedeutender Roman „Kuroi ame“ („Schwarzer Regen“; dt. 1974). Bekannt wurden auch die Reportagen über die hibakusha aus der Feder des japanischen Nobelpreisträgers Oe Kenzaburô, die seit 1963 in der Zeitschrift »Sekai« erschienen waren und später in Buchform unter dem Titel „Hiroshima nôto“ (Hiroshima-Notizen) berühmt wurden. Das Thema der Atombomben kehrte mit diesen und anderen Publikationen wieder in die öffentlichen Debatten zurück.13

Befördert wurde diese Entwicklung von äußeren Ereignissen. Die atomare Aufrüstung der Großmächte als Folge des sich verschärfenden Kalten Krieges, der Korea-Krieg und der japanisch-amerikanische Sicherheitspakt hielten die Erinnerung an die nukleare Bedrohung wach. Einen Proteststurm entfachten in Japan 1954 die amerikanischen Tests mit Wasserstoffbomben auf dem Bikini-Atoll. Es kam dabei zur radioaktiven Verseuchung der Besatzung eines japanischen Fischkutters. Die Affäre um die »Daigo Fukuryû Maru« weitete sich schnell aus. Wieder waren Japaner Opfer der atomaren Experimente geworden. Dies gab Anlaß für die zahlenmäßige und organisatorische Stärkung der japanischen Anti-Atombewegung. Sie vereinigte binnen weniger Monate mehrere hunderttausend Anhänger in ihren Organisationen. Davon profitierten auch die Vereinigungen und Hilfsorganisationen der hibakusha, die sich 1956 zu einem Dachverband, der »Nihon Gensuibaku Higaisha Dantai Kyôgikai«, zusammenschlossen. In dieser Situation war in den japanischen Medien immer öfter von „Japan als alleinigem und einzigem Atombombenopfer“ die Rede. Die Formel diente den konservativen Kräften schnell dazu, die für die japanische Politik gegenüber den asiatischen Nachbarn unangenehmere Kriegsschuldfrage in den Hintergrund zu drängen.14 Der anti-amerikanische Akzent der japanischen Friedensbewegung, die Hiroshima und Nagasaki in den sechziger Jahren zu einem ihrer wichtigsten Themen machten, verschärfte sich noch im Zuge des amerikanischen Engagements in Vietnam. Der Anti-Amerikanismus führte in Japan die Friedensbewegung und die politische Linke zusammen. Gleichwohl konnte eine parteipolitische Aufspaltung der Anti-Atombewegung, an der sich auch viele hibakusha beteiligten, nicht verhindert werden. Das Thema ließ sich dafür zu leicht politisch für unterschiedliche Zwecke instrumentalisieren. Im Jahre 1966 wurde noch einmal ein Versuch unternommen, mit einem einigenden Appell gegen die atomare Aufrüstung und für eine staatliche Unterstützung der Atombom<>benopfer die verschiedenen Strömungen zusammenzuführen. Doch blieben diese Bemühungen letzten Endes ergebnislos.15

Die japanische Regierung geriet gleichwohl seit den scharfen Auseinandersetzungen um die Verlängerung des Sicherheitsvertrags Anfang der 1960er Jahre auch in der Atombombenfrage unter Druck. Schon im Gefolge der Kritik an den Testversuchen im Bikini-Atoll hatte sich Tôkyô veranlaßt gesehen, im Jahre 1957 ein spezielles Gesetz für die gesundheitliche Betreuung der hibakusha zu verabschieden. Weitere Fonds zur Unterstützung der Atombombenopfer wurden per Gesetz im Jahre 1968 ins Leben gerufen, nachdem der Tôkyôter Gerichtshof einer Klage auf Entschädigung mit dem Argument stattgegeben hatte, daß die japanische Regierung wegen ihrer Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auch für seine Opfer aufkommen müsse.16 Man war um 1970 mit Blick auf die Festigung des transpazifischen Bündnisses mit den USA offiziell bemüht, die anti-amerikanischen Wogen nicht zu hoch schlagen zu lassen. In Meinungsumfragen zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, die 1970 von der japanischen Zeitung »Mainichi Shimbun« durchgeführt wurden, zeigte sich, daß die ablehnende Haltung gegenüber den USA in der Atombombenfrage noch lange nicht abgebaut war. 40<0> <>% aller Befragten machten die amerikanische Regierung für den Abwurf der Bomben verantwortlich (in Hiroshima dagegen nur 21<0> <>%), für 19<0> <>% trug die japanische Militärregierung die Hauptverantwortung dafür, daß es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen konnte.17 Die anti-amerikanischen Ressentiments wurden um 1970 noch zusätzlich dadurch verstärkt, daß bei entsprechenden Vergleichsumfragen in den USA 83<0> <>% der Befragten die Anwendung der Atombomben nicht bedauerten. Besonders scharf war die anti-amerikanische Grundstimmung in der jüngeren, erst nach dem Krieg geborenen Generation ausgeprägt. Mitte der siebziger Jahre hielt die Mehrzahl der japanischen Studenten von der sog. militärischen Rationalisierungsthese der Truman-Administration, wonach die Bomben dazu dienten, den Krieg möglichst schnell zu beenden, ganz wenig. Im Gegenteil, die meisten befragten Studenten erblickten in der Anwendung der Bomben ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Instrument globaler Machtpolitik in der Anfangsphase des Kalten Krieges. Andere Gründe, die besonders von jüngeren Japanern in den Meinungsumfragen angegeben wurden, bezeichneten die Vermeidung von Verlusten auf amerikanischer Seite, die Beendigung des Krieges vor dem Kriegseintritt der UdSSR, die Rechtfertigung der immensen Kosten des Atomprogramms und schließlich die Revanche für den japanischen Überfall auf Pearl Harbor als Gründe für die atomare Bombardierung. Vorrangig wurde aber auch in den kommenden Jahren die »Atomic Diplomacy«-These des amerikanischen Historikers Gar Alperovitz genannt.18

Auch die japanischen Historiker sind dieser These, die vor Alperovitz in Japan schon durch die kritischen Publikationen des britischen Physikers P.M.S. Blackett verbreitet worden waren, weitgehend gefolgt. In einem bekannten Buch zur Geschichte der Shôwa-Zeit haben etwa Tôyama Shigeki und andere die These vertreten, daß der Abwurf der Atombomben nicht der letzte Akt des Zweiten Weltkriegs war, sondern die erste Operation im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion.19 Die Autoren der linksgerichteten »Rekishigaku Kenkyûkai« (Forschungsgesellschaft für Geschichtswissenschaft) gingen noch einen Schritt weiter und vertraten die Auffassung, daß 500.000 Menschen ohne Grund dem politischen Machtkalkül der USA geopfert wurden.20 Neuerdings fallen die Beurteilungen wieder etwas moderater aus, doch auch heute noch wird von führenden japanischen Historikern die These vertreten, daß die Entscheidung für den Abwurf der Atombomben in erster Linie aus den gegen die UdSSR gerichteten Planungen der Truman-Administration herausgewachsen sei.21

Diese Thesen der Fachwelt haben in den vergangenen Jahren über die Medien, die Schulbücher und die sehr einflußreichen Lehrerverbände eine starke Verbreitung erfahren und die japanische Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki wesentlich geprägt. Ein Kommentator der Asahi Shimbun konnte 1975 vermerken, daß nunmehr allseits anerkannt sei, daß der wahre Grund für den Abwurf der Atombomben nicht in einer schnellen Beendigung des Krieges gelegen habe, sondern in der Einschüchterung der Sowjetunion.22 Diese Einschätzung, wenngleich weit verbreitet, ist denn doch wohl zu einseitig. Die Auffassungen zu Hiroshima und Nagasaki hängen heute auch in starkem Maße von der politischen Orientierung des einzelnen ab. So favorisierten 1980 selbst in der Stadt Hiroshima die Anhänger der konservativen Liberal-Demokratischen Partei die sog. militärische Option. Als Grund für den Abwurf der Bomben nannten 48<0> <>% der Befragten die schnelle Kapitulation Japans, 28<0> <>% verwiesen auf die Minimalisierung der Verluste für die amerikanische Seite, und nur 18<0> <>% rekurrierten auf das Weltmachtstreben der USA. Dagegen votierten 30<0> <>% der Anhänger der Kommunistischen Partei Japans und 25<0> <>% der Sozialisten für die geostrategische »Atomic-Diplomacy«-These.23 Signifikant ist für die retrospektive Wahrnehmung der Atombombenproblematik in Japan bei allen politischen Gruppierungen und durch die Generationen hindurch das zählebige, aber historisch falsche Argument, wonach die atomare Bombardierung japanischer Städte auch wegen rassistischer Vorurteile möglich gewesen sei und für die USA die Anwendung atomarer Waffen gegenüber dem Dritten Reich niemals in Frage gekommen wäre.24

Die Rolle des »Opfers« wird durch Rolle des »Täters« ergänzt

Die Beurteilungskriterien in den Diskussionen über den Abwurf der Atombomben haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verschoben und damit die Formen der Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki um neue Facetten bereichert. In den Jahren 1979/80 hatte sich die internationale Lage infolge des russischen Einmarschs in Afghanistan dramatisch zugespitzt. Die Phase relativer Entspannung schien plötzlich abgelaufen zu sein. Nach Auffassung westlicher und japanischer Sicherheitsexperten verschob sich das militärische Schwergewicht eindeutig zugunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Die »Hardliner« in der regierenden konservativen LDP nahmen dies zum Anlaß, neu über eine militärische Aufrüstung der japanischen Streitkräfte nachzudenken. Von manchen Wortführern in der Debatte war dabei vereinzelt auch zu hören, daß dies eine Option auf Nuklearwaffen nicht mehr ausschließen dürfe. Nationalistische und militaristische Töne waren in diesen Diskussionen unüberhörbar. Shimizu Ikutarô, ein bekannter Sozialwissenschaftler und ehemals ein Wortführer der Pazifisten, votierte im Juli 1980 offen für eine »nukleare Option«. Autoren wie Etô Jun forderten eine Revision der japanischen Verfassung, die es Japan nach Art. 9 eigentlich verbat, eine reguläre Armee zu unterhalten und Krieg zu führen. Sie war 1947 das Produkt der Erfahrungen mit Imperialismus und Militarismus und schien nun nicht mehr angemessen für ein Land, daß mittlerweile zu einer wirtschaftlichen Macht erster Ordnung geworden war. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Osteuropa ist es um die wenigen, aber unnachgiebigen Verfechter einer atomaren Aufrüstung Japans wieder stiller geworden. Schon die friedenserhaltenden Missionen des japanischen Militärs in Kambodscha wurden von der Öffentlichkeit angesichts der immer noch starken pazifistischen Grundströmung mit großem Mißtrauen beobachtet. Doch hat die traditionelle »Friedenserziehung« in Medien und schulischem Unterricht nicht mehr die Ausstrahlungskraft, die sie noch in den sechziger Jahren besessen hat. Damals wurden die Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki in den Schulbüchern noch auf mehreren Seiten behandelt. Heute sind davon oft nur noch wenige Zeilen übriggeblieben.

Ein anderer, neuer Trend darf abschließend nicht unerwähnt bleiben. Seit dem Tode Shôwa Tennôs im Januar 1989 wird die Frage nach einer japanischen Kriegsschuld (sensô sekinin) wieder offener und intensiver diskutiert. Offizielle Vertreter der Städte Hiroshima und Nagasaki und Anhänger der Friedensbewegung versäumen in der Regel nicht, in ihren Appellen für den Weltfrieden auch die japanischen Kriegsgreuel einfließen zu lassen. Die Integration dieser Problematik in die kollektive Erinnerung an die atomare Katastrophe bleibt hingegen schwierig und umstritten. Angesichts der Tatsache, daß bei den Bombenangriffen auch mehrere zehntausend Koreaner ums Leben kamen, die während der japanischen Herrschaft in Korea von dort verschleppt wurden, läßt sich das Bild vom »einzigen und alleinigen Opfer Japan« nicht mehr aufrechterhalten. Die Rolle des »Opfers« Japan (higaisha) wird neuerdings auch in der Öffentlichkeit durch das Bild vom »Täter« (kagaisha) ergänzt.25 Die Problematik der Atombomben und die Kriegsschuldfrage sind damit verknüpft worden, wenngleich zurecht davor gewarnt wird, beides gegeneinander aufzurechnen. Dies gefällt nicht allen, wie die zum Teil unwürdigen Debatten zur Erklärung des japanischen Parlaments zum Ende des Krieges vor 50 Jahren erst kürzlich gezeigt haben. Eine systematische und offene Behandlung der Kriegsschuldproblematik steht in Japan immer noch aus. Sie wäre aus außenpolitischen Gründen dringend geboten. Die asiatischen Nachbarn werden sich jedenfalls mit der japanischen »Opferrolle« allein niemals zufriedengeben.

Japan sucht eine Gelegenheit zur Kapitulation

Einschätzungen aus dem Marineministerium im Mai/Juni 1945

Ein Memorandum, das ich am 7. Mai 1945 für
den Marineminister verfaßte, enthält zwar nicht die Auffassungen so hoher Instanzen,
gibt aber Aufschluß über die Meinungen im Marineministerium gegen Kriegsende:

„Lieber Jim!

… Es besteht die Möglichkeit, daß der
Sieg in Japan schneller auf den Sieg in Europa folgt, als es vom Standpunkt der
Kriegsanstrengung her anzunehmen ratsam ist. Ratsam wäre jedoch, sich auf ein recht
frühes Kriegsende einzustellen. Vielleicht wäre es deshalb ganz nützlich, von den
verschiedenen Abteilungen des Ministeriums Berichte darüber anzufordern, was für
Maßnahmen hinsichtlich (a) neu abzuschließender Lieferverträge, (b) laufender Aufträge
und (c) des Personalstandes unter der Voraussetzung zu ergreifen wären, daß der Krieg
mit Japan zum Beispiel am 1. August oder spätestens bis zum 31. Dezember dieses Jahres
beendet ist.“

Von diesen individuellen Beurteilungen der
Lage ganz abgesehen, besaßen die Vereinigten Staaten eine verläßliche
Informationsquelle über Japan in der Möglichkeit, praktisch den gesamten Funkverkehr
zwischen dem japanischen Außenministerium und den Botschaften in Übersee abzufangen und
schnell zu dechiffrieren. Daher wußten wir, daß die Japaner nicht nur von ihrer
Niederlage überzeugt waren, sondern auch so schnell wie möglich den Krieg beenden
wollten.

(…)

Staatssekretär Ralph Bard, der das
Marineministerium im interministeriellen Ausschuß für Atomenergie (dem Vertreter des
Verteidigungs-, Marine- und Außenministeriums angehörten) vertrat, brachte damals seine
Ansichten freimütig zu Papier:

„27. Juni 1945

Memorandum zum Einsatz der S-1-Bombe

Solange ich mich mit diesem Programm befaßt
habe, bin ich der Meinung, daß Japan beim Einsatz der Bombe etwa zwei oder drei Tage vor
ihrem Abwurf auf irgendeine Weise gewarnt werden sollte. Dafür sprechen in erster Linie
die Stellung der Vereinigten Staaten als Vorkämpfer der Humanität und der
Gerechtigkeitssinn unseres Volkes. In den letzten Wochen habe ich auch den sehr bestimmten
Eindruck gehabt, daß die japanische Regierung nach einer Gelegenheit zur Kapitulation
sucht. Nach der Dreimächtekonferenz könnten amerikanische Unterhändler an einem
geeigneten Ort an der chinesischen Küste mit Vertretern Japans zusammentreffen und sie
über die Haltung Rußlands sowie den geplanten Einsatz der Atombombe informieren. Daneben
könnten sie ihnen mitteilen, was der Präsident hinsichtlich des Kaisers von Japan und
der Behandlung des japanischen Volkes nach der bedingungslosen Kapitulation zuzusichern
bereit ist. Es erscheint mir sehr wohl möglich, daß dies die Gelegenheit darstellen
würde, nach der die Japaner suchen.

Ich wüßte nicht, was wir bei einem solchen
Vorgehen zu verlieren hätten. Es steht so ungeheuer viel auf dem Spiel, daß ein Plan
dieser Art meiner Überzeugung nach sehr ernsthaft erwogen werden sollte. Ich glaube
nicht, daß es in den Vereinigten Staaten unter den gegenwärtigen Umständen irgend
jemand gibt, dessen Beurteilung der Erfolgsaussichten eines solchen Vorhabens sehr
verläßlich wäre. Was dabei herauskommt, läßt sich nur durch den Versuch herausfinden.

(gez.) Ralph A. Bard“

Quelle: Lewis L. Strauss, Kette der
Entscheidungen. Amerikas Weg zur Atommacht, Droste Verlag, Düsseldorf 1964, S. 216 und
220.

Anmerkungen

1) Die Folgen der Atombomben sind umfassend dokumentiert in Iijima Sôichi u.a. (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki no genbaku saigai (Die Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki), Tôkyô 1979. Eine gekürzte englischsprachige Fassung erschien zwei Jahre später: The Committee for the Compilation of Materials on Damage Caused by the Atomic Bombs in Hiroshima and Nagasaki (ed.), Hiroshima and Nagasaki. The Physikal, Medical, and Social Effects of the Atomic Bombings, Tôkyô 1981. Für die Vorgeschichte und die unmittelbaren Folgewirkungen der Atombombenabwürfe vgl. neuerdings den konzisen Beitrag von Wieland Wagner, Das nukleare Inferno: Hiroshima und Nagasaki, in: Michael Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, S. 72-94. Bei der Nennung japanischer Eigennamen folge ich der Konvention, wonach der Familienname vorangestellt wird. Zurück

2)) Siehe Elke und Jannes K. Tashiro, Hiroshima. Menschen nach dem Atomkrieg. Zeugnisse, Berichte, Folgerungen, München 1982. Zurück

3)) Vgl. Robert J.C. Butow, Japan's Decision to Surrender, Stanford/Cal. 1954, S. 76ff; Alvin D. Coox, The Pacific War, in: Peter Duus (ed.), The Cambridge History of Japan, Vol. 6, Cambridge 1988, S. 372ff; Hattori Takushirô, Japans Weg aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Andreas Hillgruber (Hrsg.), Probleme des Zweiten Weltkriegs, Köln/Berlin 1967, S. 389-435. Zurück

4)) Akiba Tadatoshi, Atomic Bomb, in: Kodansha Encyclopedia of Japan, Vol 1, Tôkyô 1983, S. 107ff. Zurück

5)) Vgl. Wagner, Inferno, S. 89. Zurück

6)) Vgl. den Abdruck der kaiserlichen Erklärung in Butow, Japan's Decision, S. 248. Zurück

7))Vgl. dazu das wichtige Buch von Ian Buruma, The Wages of Guilt. Memories of War in Germany and Japan, London 1994, S. 92ff (auch in deutscher Übersetzung im Hanser-Verlag erschienen). Zurück

8) Vgl. zur Frage der Atombombenfolgen in der öffentlichen Meinung Japans die Artikelserie Hibaku mondai to hôdô (Die Problematik der Atombombenopfer und die Presseberichterstattung), in: Asahi Shimbun vom 28.3., 29.3. und 30.3.1995. ) Zurück

9)) Vgl. dazu Monica Braw, The Atomic Bomb Suppressed. American Censorship in Occupied Japan, 2. Aufl., New York 1991, S. 89ff. Zurück

10)) Vgl. Etô Jun, Wasureta koto to wasuresaserareta koto (Was wir vergessen haben und was man uns vergessen ließ), Tôkyô 1979. Zurück

11)) Siehe John Hersey, Hiroshima, New York 1946, – ein bewegendes Buch, das die Kritik an den Atombombenabwürfen weltweit befördert hat. Für die amerikanische Resonanz vgl. Michael J. Yavenditti, John Hersey and the American Conscience: the Reaction of »Hiroshima«, in: Pacific Historical Review 43 (1974), S. 24-49. Zurück

12)) Vgl. Hiroshima Peace Culture Foundation (Hrsg.), Hiroshima Peace Reader, 10. Aufl., Hiroshima 1994, S. 49. Zurück

13))Für die literarischen Zeugnisse vgl. Itô Narihiko, Siegfried Schaarschmidt, Wolfgang Schamoni (Hrg.), Seit jenem Tag. Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur, Frankfurt 1984; sowie Jürgen Berndt (Hrg.), An jenem Tag. Literarische Zeugnisse über Hiroshima und Nagasaki, Berlin (DDR), 1985. Zurück

14)) Vgl. Wolfgang Schwentker, Die Last der Geschichte. Die historischen Grenzen einer japanischen Hegemonialpolitik, in: Hartwig Hummel, Reinhard Drifte (Hrsg.), Pax Nipponica? Die Japanisierung der Welt 50 Jahre nach dem Untergang des japanischen Reiches, Bad Boll 1995, S. 29-36. Zurück

15) Siehe dazu Committee (Hrsg.), Hiroshima-Nagasaki, S. 567ff. Zurück

16) Vgl. Akiba, Atomic Bomb, S. 110. Zurück

17) Siehe Asada Sadao, Japanese Perceptions of the A-Bomb-Decision, 1945-1980, in: Joe C. Dixon (Hrsg.), The American Military and the Far East, Washington 1980, S. 204. Zurück

18) Ebd., S. 207. Vgl. auch Gar Alperovitz, Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam. The Use of the Atomic Bomb and The American Confrontation with the Soviet Power, New York 1965. Das Buch erschien im selben Jahr in Auszügen auch auf japanisch in der Zeitschrift »Economisuto«. Zurück

19) Vgl. Tôyama Shigeki u.a., Shôwashi (Geschichte der Shôwa-Zeit), Tôkyô 1959, S. 366. Zurück

20) Rekishigaku Kenkyûkai (Hrsg.), Taiheiyô sensôshi (Geschichte des pazifischen Krieges), Bd. 5, Tôkyô 1973, S. 363 ff. Zurück

21) Vgl. Fujimura Michio, Nihon gendaishi (Neuere japanische Geschichte), Tôkyô 1981, S. 273f. Zurück

22) Vgl. Asada, Japanese Perceptions, S. 207. Zurück

23) Ebd., S. 208. Zurück

24) Ebd., S. 214. Zurück

25) Vgl. Asahi Shimbun vom 30. März 1995. Zurück

Dr. Wolfgang Schwentker ist Historiker und arbeitet am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf. Dieser Aufsatz ist der erweiterte Kurzbeitrag des Autors für die HSFK-Podiumsdiskussion »Die Aufarbeitung der Vergangenheit in Japan und Deutschland«, die am 29.6.1995 in Frankfurt stattfand.

Das Uran-Projekt

Das Uran-Projekt

Handlung, Intention und die deutsche Atombombe

von Mark Walker

Die Geschichte des »Uran-Projektes« ist die ebenso interessante wie frustrierende Geschichte der deutschen Erforschung der wirtschaftlichen und militärischen Ausnutzung der nuklearen Spaltung während des Krieges. Wissenschaftler und Gelehrte sehen es als schwierig – wenn nicht sogar unmöglich – an, sich auf eine Interpretation dieser Forschungsarbeiten zu einigen. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele historische Beweise zutage gefördert wurden oder wie sorgfältig sie untersucht wurden. Dieses Kapitel der Geschichte ist politisiert worden, da es zum einen im Schatten des nationalsozialistischen Regimes stattfand und zum anderen wegen des seit Kriegsende angsteinflößenden Gespenstes des Atomkrieges. Das Problem unseres historischen Verständnisses dieser Forschungsarbeiten jedoch liegt tiefer und ist das Ergebnis unserer kollektiven Unfähigkeit, deutlich und konsequent zwischen Intention und Handlung zu unterscheiden – zwischen dem, was hätte geschehen können, und dem, was geschehen ist. Die vorliegende Abhandlung wird diese Unterscheidung vor allem durch eine Darstellung der Geschehnisse während des Krieges deutlich herausstellen; dabei wird auf Spekulationen hinsichtlich der Motivationen einzelner Akteure entschieden verzichtet. Erst nach dieser Beschreibung wird die Frage der Intention, die Frage, was hätte geschehen können, wenn alles anders abgelaufen wäre, behandelt.

Handlung

Die Entdeckung der nuklearen Spaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann gegen Ende des Jahres 1938 und die darauffolgende theoretische Erläuterung des Phänomens durch ihre frühere Kollegin Lise Meitner und andere überraschte die Wissenschaft. Als dieses Ergebnis veröffentlicht wurde, widmeten sich jedoch sehr viele Wissenschaftler unterschiedlicher Nationalitäten dem Problem mit Enthusiasmus.

Diese übersteigerten Bemühungen, die nukleare Spaltung zu verstehen und zu beherrschen, waren das Ergebnis der üblichen Kräfte, welche Forschung vorantreiben: wissenschaftliche Neugier und beruflicher Ehrgeiz

Das große Interesse an Uran war schwer zu kontrollieren, selbst am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Der Schleier der Geheimhaltung fiel erst auf die Nuklearforschung, als die wichtigsten Ergebnisse bereits veröffentlicht worden waren. Isotopisches 235Uran konnte mit langsamen Neutronen gespalten werden, während isotopisches 238Uran diese gewöhnlich absorbierte. Bei der Spaltung von Urankernen wurden zwei oder mehr Neutronen freigesetzt. Da sich diese Neutronen mit hoher Geschwindigkeit bewegten, war eine energieproduzierende Atomspaltungskettenreaktion möglich. Ein Atomreaktor, bestehend aus Uran und einem Moderator, konnte eine solche Kettenreaktion kontrollieren und so nukleare Energie erzeugen. Bei der Absorption von Neutronen durch 238Uran fand eine schrittweise Umwandlung in transuranische Elemente (Neptunium und Plutonium) statt, die wahrscheinlich ebenso spaltbar waren wie 235Uran.

Schließlich hielten Wissenschaftler aller Staaten eine Veröffentlichung ihrer wichtigsten Ergebnisse zurück. Ihre Forschungsarbeiten wurden jedoch erst durch den Krieg unmöglich gemacht. In der Folge wurde die Arbeit in Frankreich und in der Sowjetunion bis zur deutschen Invasion fortgeführt. Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 wurden die meisten Bereiche der Nuklearforschung in allen Staaten von der jeweiligen Regierung und somit vom Militär kontrolliert. In Deutschland wurden einige Dutzend Wissenschaftler vom Heereswaffenamt verpflichtet, das wirtschaftliche und militärische Potential der Kernspaltung zu untersuchen. Einige dieser Wissenschaftler waren mit der Uranforschung bereits vertraut, andere nicht. Viele der Wissenschaftler wurden zwangsrekrutiert; da das Uran-Projekt jedoch unter der Aufsicht des Heereswaffenamtes stand, waren sie so in der Lage, eine Form des Kriegsdienstes – die Arbeit mit Uran – gegen eine andere einzutauschen. Das Heereswaffenamt übertrug den Wissenschaftlern eine ganz spezielle Aufgabe: Sie sollten ermitteln, ob Atomwaffen – von welcher Seite auch immer – rechtzeitig entwickelt werden könnten, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen. Dieser Auftrag enthielt jedoch ein subjektives Element, da »rechtzeitig« davon abhängig war, wie der Beobachter, und insbesondere das Heereswaffenamt, die Dauer des Konfliktes einschätzte. Während des Blitzkrieges von September 1939 bis zu den letzten Monaten des Jahres 1941 kamen die deutschen Wissenschaftler, die gemeinsam am Uran-Projekt arbeiteten, zu dem Schluß, das nukleare Sprengstoffe in Form von reinem 238Uran und Plutonium durch Isotopentrennung beziehungsweise einen Nuklearreaktor erzeugt werden könnten. Während dieser Phase glaubte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung – und höchstwahrscheinlich auch die Wissenschaftler – jedoch an ein baldiges Ende des Krieges und einen deutschen Sieg.

Sobald die Beteiligten am Uran-Projekt zu wichtigen Ergebnissen gelangt waren, teilten sie diese dem Heereswaffenamt mit und betonten zugleich die Relevanz der Ergebnisse im Hinblick auf die Herstellung atomarer Waffen. Werner Heisenberg hatte z. B. gegen Ende des Jahres 1939 dem Heereswaffenamt mitgeteilt, daß isotopisches 235Uran ein starker atomarer Sprengstoff wäre. Im Sommer 1940 meldete Carl Friedrich von Weizsäcker an die gleiche Stelle, daß ein spaltbares transuranisches Element (welches die Deutschen in der Folge als Plutonium erkannten) in einem Atomreaktor erzeugt werden könne. Zu einem späteren Zeitpunkt des gleichen Jahres bezog Otto Hahn sich auf die militärische Bedeutung der Arbeit von Weizsäckers, als er dem Heer deutlich machte, daß die Erforschung transuranischer Elemente in seinem Institut Unterstützung verdiente.

Die Arbeit des deutschen Uran-Projektes während des Blitzkrieges war dem amerikanischen Atomwaffenprojekt ebenbürtig. Mit einigen Ausnahmen befaßten sich beide Seiten mit den gleichen Problemen, fanden dieselben Lösungen und kamen zu den gleichen Ergebnissen. Somit teilten nicht nur diese Wissenschafter ihre Ergebnisse dem Heereswaffenamt ohne Verzögerung mit; die gleichen Ergebnisse wurden fast zur gleichen Zeit von ihren amerikanischen Kollegen der Regierung der Vereinigten Staaten mitgeteilt. Es existiert kein Beweis dafür, daß ein deutscher Wissenschaftler seine Arbeit falsifiziert, verzögert oder dem Heer des nationalsozialistischen Staates vorenthalten hätte. Ebenso existiert kein Beweis, daß diese Wissenschaftler während des Blitzkrieges ihre Arbeit als relevant für den in Europa wütenden Konflikt ansahen.

Das Ende des Blitzkrieges verwandelte das Uran-Projekt weder in eine mit aller Kraft vorangetragene Bemühung, atomare Waffen zu entwickeln und herzustellen, noch wurde das Projekt auf die sogenannten friedlichen Nutzungen atomarer Energie beschränkt. Im Januar 1942 fragte das Heereswaffenamt die Wissenschaftler des Projektes zum ersten und letzten Mal, ob Atomwaffen realisierbar seien und wann mit ihnen zu rechnen sei. Die Wissenschaftler stimmten zu, daß Atomwaffen erzeugt werden könnten, daß dies aber mindestens einige Jahre in Anspruch nehmen würde.

Der Leiter der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes Erich Schumann kam zu dem berechtigten Schluß, daß die Nuklearforschung für den Krieg, den Deutschland führte, irrelevant war und gab das Uran-Projekt in zivile Hände.

Die Arbeit wurde im Labor von etwa fünfzig vollzeit- oder teilzeitbeschäftigten Forschern fortgeführt; man untersuchte alle Aspekte der angewandten Kernspaltung. Diese Wissenschaftler waren insbesondere bemüht, die beiden starken nuklearen Sprengstoffe 235Uran und Plutonium zu analysieren und zu erzeugen.

Während die Deutschen bis zum Winter 1941/1942 grundsätzlich mit ihren amerikanischen und britischen Kollegen Schritt halten konnten, fielen sie jetzt rapide zurück, da die Nuklearforschung in den Vereinigten Staaten die Laborebene verließ und in die Industrie wanderte.

Obwohl die Deutschen weiterhin sehr hart an Atomreaktoren und der Isotopentrennung arbeiteten, konnten sie erst am Ende des Krieges die Ergebnisse vorweisen, zu denen Amerikaner und Briten bereits im Sommer 1942 gelangt waren. Die deutschen Wissenschaftler betonten gegenüber dem nationalsozialistischen Staat auch weiterhin den militärischen Aspekt ihrer Arbeit.

Paul Harteck versuchte 1942 das Heereswaffenamt zu überzeugen, daß die Erforschung der Isotopentrennung mehr Unterstützung verdiene, da sie die besten Aussichten auf die Erzeugung nuklearer Sprengstoffe böte. Im Februar desselben Jahres hielt Werner Heisenberg einen berühmten Vortrag über »Die theoretische Grundlage für die Energieerzeugung durch Uranspaltung« vor einem Publikum führender Vertreter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der Staatsbürokratie, der Streitkräfte und der deutschen Industrie. Einerseits teilte Heisenberg dem Publikum mit, daß 235Uran und Plutonium nukleare Sprengstoffe mit einer „vollkommen unvorstellbaren Wirkung“ seien, auf der anderen Seite betonte der Physiker jedoch, daß die Gewinnung dieser Sprengstoffe sehr schwierig sei und daß noch viel Arbeit vor ihnen liege.

Die Mitarbeiter des Uran-Projektes ließen die Arbeit an diesen Stoffen nie ruhen. Als sich jedoch mit fortschreitender Zeit die Lage der Deutschen im Krieg verschlechterte, wurde die militärische Nutzung der Kernspaltung nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert.

Bei Kriegsende wurden die meisten dieser Wissenschaftler verhaftet und von der Alsos-Mission verhört, einer wissenschaftlichen Geheimdiensttruppe der amerikanischen Streitkräfte. Ironischerweise glaubten die Deutschen, daß ihre Errungenschaft – die vollständige Trennung kleinster Mengen von 235Uran und ein Atomreaktor bestehend aus natürlichem Uran und schwerem Wasser, welche fast kritisch wurde (d.h. er ermöglichte beinahe eine Atomspaltungskettenreaktion und hielt diese aufrecht) – die Alliierten überflügelt hätte. Die Amerikaner hemmten das deutsche Gefühl der Überlegenheit nicht, aber sie erzeugten es ebensowenig.

Die deutschen Wissenschaftler änderten abrupt ihre Meinung, als die Nachricht des Angriffs auf Hiroshima enthüllte, daß die Amerikaner Atomwaffen gebaut und eingesetzt hatten. Zehn dieser Wissenschaftler waren in England interniert. Sie wollten die Nachricht zunächst nicht glauben. Sogar nachdem sie überzeugt waren, daß die Amerikaner eine Atombombe gebaut hatten, hielten die Deutschen in Farm Hall untereinander an ihrer Argumentation fest, daß einige Aspekte ihrer Arbeit der Arbeit der Amerikaner überlegen sein könnten.

Nach und nach, als immer mehr Informationen über das amerikanische Projekt zu ihnen durchdrangen, mußten sie zugeben, daß die Amerikaner sie übertroffen hatten.

Intention

Handlungen sind natürlich nicht alles. Intentionen sind ebenfalls von Bedeutung. Wir wollen wissen, warum etwas getan wurde, nicht nur, was geschehen ist. Intentionen sind jedoch viel schwieriger zu bestimmen als Handlungen; und vor allem sind Intentionen nicht immer relevant. So besteht z.B. zwischen den folgenden Fragenpaaren ein großer Unterschied: (1) „Haben sie die Alliierten vor der Gefahr der deutschen Atomwaffen gewarnt?“ und „Würden sie die Alliierten vor der Gefahr der deutschen Atomwaffen gewarnt haben?“; (2) „Haben sie nur an den friedlichen Einsätzen atomarer Energie gearbeitet?“ und „Würden sie nur an den friedlichen Einsätzen atomarer Energie gearbeitet haben?“; (3) „Haben diese Wissenschaftler vor Hitler Atomwaffen verschwiegen?“ und „Würden diese Wissenschafter Atomwaffen vor Hitler verschwiegen haben?“.

Für die ersten Fragen dieser Paare können Handlungen eine Antwort bieten, Intentionen sind irrelevant. Deutsche Wissenschaftler haben die Alliierten niemals vor der Gefahr deutscher Atomwaffen gewarnt, aus dem einfachen Grund, weil sie wußten, daß keine Gefahr bestünde, daß solche Waffen vor Beendigung des Krieges entwickelt und eingesetzt werden könnten. Einige Beteiligte am Uranprojekt haben ihre Forschungen mit ausländischen Kollegen diskutiert und brachten ihre ambivalente Einstellung im Hinblick auf mögliche Konsequenzen für die Zukunft zum Ausdruck. Sie behaupteten jedoch niemals, daß sie oder ihre Kollegen die Nationalsozialisten mit Atomwaffen versorgen würden – weder zu diesem Zeitpunkt noch in naher Zukunft.

Die deutschen Wissenschaftler konnten nicht ausschließlich an den friedlichen Nutzungen nuklearer Energie arbeiten, da wirtschaftliche und militärische Nutzungen miteinander in Verbindung stehen. Wie alle Beteiligten des Uran-Projektes wußten, konnten die Techniken der Isotopentrennung, die sie verbesserten, sowohl Uran für die Nutzung in einem Uran-Leichtwasserreakor anreichern als auch reines 235Uran, einen Atomsprengstoff, erzeugen; die Kernreaktoren, die sie herstellten, würden Plutonium als Nebenprodukt jeder andauernden Kettenreaktion produzieren.

Schließlich verschwiegen diese Wissenschaftler Atomwaffen nicht vor Hitler. Statt dessen führten sie die Forschungen durch, mit denen man sie beauftragt hatte. Sie machten ihre Arbeit gut, vergleichbar mit der Arbeit der Alliierten, und sie teilten ihre Ergebnisse sofort dem Heereswaffenamt mit. Es war dann die nationalsozialistische Regierung, die beschloß, die Uranforschung auf der Laborebene einzufrieren und so sicherzustellen, daß diese Wissenschaftler bis zur Beendigung des Krieges nur bescheidene Ergebnisse erlangen konnten. Die deutschen Uranwissenschaftler gaben Hitler keine Waffen; dies bedeutet jedoch nicht, daß sie die Waffen vor ihm verschwiegen.

Für die zweite Frage der obengenannten Paare können Handlungen keine Antwort bieten, da sie die Frage stellen, was diese Wissenschaftler getan hätten, wenn alles anders verlaufen wäre. Intentionen sind aus demselben Grund irrelevant.

Ob diese Wissenschaftler die Welt zu warnen versucht hätten, wenn die Gefahr deutscher Atomwaffen bestanden hätte, ob sie sich entschlossen hätten, nur auf der friedlichen Seite dieser Forschung zu arbeiten, wenn es möglich gewesen wäre, und ob sie getan hätten, was nötig gewesen wäre, um Atomwaffen vor Hitler zu verschweigen, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, daß er sie hätte bekommen können – diese Fragen liegen außerhalb der Grenzen von Geschichtswissenschaft. Niemand weiß mit Sicherheit, was sie getan hätten; dies bedeutet wiederum, daß niemand leugnen kann, sie hätten das Richtige getan; und niemand kann beweisen, daß sie dies getan hätten. Es ist noch nicht einmal klar, daß man sich darauf geeinigt hätte, was das »Richtige« gewesen wäre.

Es gibt keine Kombinationsmöglichkeit für den Bereich der Handlung und der Intention, die uns helfen könnte, diesen Teil der Geschichte zu verstehen.

Historiker können nach den Motivationen dieser Wissenschafter für ihre Taten fragen, nicht danach, was sie getan hätten, wenn alles anders verlaufen wäre. Selbst in diesem Fall wußte niemand mit Sicherheit, welche Motive sie hatten, aber wir können uns wenigstens der historischen Fakten ihrer Handlungen bedienen, um eine plausible Erklärung ihrer Intention zu konstruieren.

Die Tatsache, daß diese Wissenschaftler ihre Arbeit an der angewandten Kernspaltung ohne Unterbrechung fortsetzten und – in einigen Fällen – ausländische Kollegen über ihre Forschung informierten, läßt darauf schließen, daß wenigstens einige der Wissenschaftler des Uran-Projektes ihrer Arbeit ambivalent gegenüberstanden. Sie sorgten sich nicht genug, um aufzuhören, aber sie waren besorgt. Dies ist in der Tat ein begründeter Schluß – unter der Voraussetzung, daß sie an mächtigen neuen Energiequellen und Sprengstoffen für die nationalsozialistische Regierung während des Zweiten Weltkrieges arbeiteten und daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Wissenschaftlergemeinschaft für den Krieg mobilgemacht worden war. Es wäre überraschender gewesen, wenn sie keine Bedenken dem Uran-Projekt gegenüber gehabt hätten oder wenn sie sich ad hoc geweigert hätten, am Projekt teilzunehmen.

Die Tatsache, daß diese Wissenschaftler in ihren technischen Berichten demonstrierten, daß sie die Dualität von Kernenergie und Atomwaffen erkannten und mit einigen Ausnahmen – wie 1942 Heisenberg – gewöhnlich nur von der friedlichen Nutzung der Kernspaltung sprachen, legt nahe, daß sie dem zerstörerischen Potential ihrer Forschung ambivalent gegenüberstanden.

Diese Aussicht sorgte sie nicht in dem Maße, daß sie ihre Arbeiten beendeten; es erfüllte sie jedoch auch nicht mit Enthusiasmus.

Die letzte Frage ist vielleicht die beunruhigendste, da diese Wissenschaftler ohne Ausnahme das taten, was ihre Regierung ihnen befohlen hatte. Sie taten es nach bestem Wissen und leiteten ihre Informationen sofort an die verantwortlichen militärischen und zivilen Vorgesetzten weiter. Es existiert kein Beweis dafür, daß ein Beteiligter des Uran-Projektes eine gestellte Aufgabe nicht erfüllt hätte, weder wegen der Regierung, der er diente, noch wegen des zerstörerischen Potentials seiner Forschung. Es existiert kein Beweis, daß ein Beteiligter bewußt minderwertige Arbeit geleistet hätte oder sie verlangsamt hätte; und es gibt keinen Beweis, daß ein Beteiligter seine Ergebnisse Vorgesetzten vorenthalten hätte.

Wie andere Fragen gezeigt haben, gibt es keinen Grund zu bezweifeln, daß diese Wissenschaftler ihrer Arbeit ambivalent gegenüberstanden, die Frage nach der Ämbivalenz stellt sich hier jedoch nicht, eher die Frage nach dem Gehorsam: Wenn sie Atomwaffen rechtzeitig hätten herstellen können, so daß die deutschen Streitkräfte sie hätten nutzen können, und wenn sie gefragt worden wären oder man ihnen befohlen hätte, dies zu tun, was hätten sie getan? Niemand kann diese Frage beantworten, nicht einmal die Wissenschaftler selbst.

Anmerkung

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Der Griff nach dem atomaren Feuer. Die Wissenschaft 50 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki“. Herausgegeben von U. Albrecht, U. Beisiegel, R. Braun und W. Buckel, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995. Es wird Ende diesen Jahres im Peter Lang Verlag erscheinen. Wir danken dem Autor, dem Verlag und der Herausgeberschaft für die Abdruckgenehmigung.

Mark Walker studierte Mathematik und Geschichte. Er lehrt am Union College in New York.

Lernen aus Hiroshima und Nagasaki

Lernen aus Hiroshima und Nagasaki

Die Verantwortung der Naturwissenschaftler

von Hans-Peter Dürr

In dieser Vortragsreihe bin ich wohl der einzige, der nicht direkt mit der Vorbereitung und Entwicklung der Atombomben zu tun hatte. Es hat sich jedoch so ergeben, daß ich in Verbindung mit meiner wissenschaftlichen Laufbahn als Kernphysiker und Elementarteilchenphysiker in engen Kontakt mit Wissenschaftlern kam, die während des Krieges direkt oder indirekt mit der Entwicklung der Bombe und dem damit verbundenen Fragenkomplex befaßt waren. Ich war auf diese Weise persönlicher Zeuge einiger ihrer Gedanken, Ängste und Schlußfolgerungen. So habe ich insbesondere 1953 – 1957 an der Universität Kalifornien in Berkeley mit Edward Teller, dem sog. »Vater der Wasserstoffbombe«, wissenschaftlich gearbeitet und bei ihm 1956 promoviert. Anschließend war ich am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und München fast 17 Jahre enger Mitarbeiter von Werner Heisenberg, dem Entdecker der Quantenmechanik und wissenschaftlichen Leiter des deutschen Uranprojekts am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik (dem Vorläufer des MPI für Physik) in Berlin-Dahlem und Hechingen während des Krieges. Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zu meiner persönlichen Entwicklung beginnen, um Ihnen deutlich zu machen, auf welche Weise und in welcher Absicht ich überhaupt in diese Welt geraten bin.

Die schrecklichen Erlebnisse des Krieges, in dem ich am Ende, mit Panzerfaust und Pistole bewaffnet, als 15-jähriger im Volkssturm noch die Heimat verteidigen sollte, und die große Verwirrung der schweren Nachkriegszeit ließen mich ratlos und in einer »ohne-mich«-Stimmung zurück. Mein Vertrauen in die Vernunft der Erwachsenen und ihre Glaubwürdigkeit war tief erschüttert, ohne daß ich ihnen dabei große Schuld zuordnete, weil ich sah, wie sehr sie selbst verunsichert und verloren waren. Diese Umstände verstärkten meinen Wunsch, mich mit Fragen auseinanderzusetzen, die nicht von der Autorität und der Meinung von Menschen abhängen. Insbesondere faszinierten mich die Grundfragen der Naturwissenschaften und hier vor allem die moderne Physik, die Quantenmechanik, die ich 1946 neben der Schule in Abendkursen an der Volkshochschule erstmals kennenlernte. Seit ihrer Rückkehr aus der Internierung in England waren Werner Heisenberg und Max von Laue meine Vorbilder, obwohl ich damals nur ganz wenig von ihnen wußte.

Aber zunächst wollte ich mich einmal selbst in der Welt umsehen. Nach Abschluß meines Physikdiploms mit einer experimentellen Arbeit über die Messung kernmagnetischer Momente 1953 bot mir ein Stipendium der Universität Kalifornien in Berkeley hierzu eine hervorragende Chance. Eine ärgerliche Verschleppung meiner Einreise in die USA um ganze drei Monate – wegen einer damals in der McCarthy-Ära erforderlichen zusätzlichen Überprüfung aller einreisenden »Kernphysiker« durch das State Department – sollte für mich zu einer erfreulichen Weichenstellung führen, da ich kurzerhand die Entscheidung fällte, nach meiner stark geschrumpften Stipendienzeit nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern in Berkeley zu promovieren.

Im Herbst 1953 war damals gerade im Schatten des Oppenheimer-Teller Disputs Edward Teller mit einer großen Schar von Kernphysikern des Manhattan-Projekts von Los Alamos nach Kalifornien übergesiedelt, um in Livermoor ein neues Laboratorium für Wasserstoffbomben aufzubauen. Ich hatte selbstverständlich von diesem Hintergrund keine Ahnung, als ich nach einem geeigneten Doktorvater suchte und ihn in Edward Teller fand, der Anfang der dreißiger Jahre bei Heisenberg promoviert hatte.

So sah ich mich intellektuell auf einmal voll mit der prinzipiellen Ambivalenz der Wissenschaft konfrontiert: Ich war ausgezogen, »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«, und war dabei notwendig bei der aufregend neuen Atomphysik von Heisenberg, die der Physik einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel beschert hatte, gelandet und wurde nun im Kreise meines neuen Lehrers und meiner Kollegen täglich mehr gewahr, zu welch schrecklicher Massenvernichtungswaffe diese tieferen Einsichten geführt hatten. Und es war nicht nur ich, der darüber erschrak und sich ernsthafte Gedanken darüber machte. Die Universität in Berkeley brodelte damals vor Kraft, Intelligenz und Engagement, die sich auf eine Vielzahl von Themen erstreckten.

Es war nicht nur die Zeit, in der man in der Teilchenphysik den ersten Resultaten über Antimaterie am Bevatron auf dem Radiation Hill entgegenfieberte, sondern vor allem auch die Zeit der großen Auseinandersetzungen über die neuen, unheimlichen Kräfte, welche die Physiker entfesselt hatten, und die sie nun wieder geeignet einzufangen versuchten.

Ich habe damals beispielhaft gelernt, was eine lebendige Demokratie zu leisten vermag. Ich erlebte, wie politisches Engagement nicht eine Sache von redegewandten Parteigängern bleiben muß, sondern, gesellschaftspolitisch interpretiert, eine gern wahrgenommene und mit Engagement ausgeführte Pflicht jedes Einzelnen, insbesondere auch der Universitätsprofessoren, sein kann. Die politischen Auseinandersetzungen wurden in aller Schärfe und trotzdem in großer Fairness ausgefochten. Doch gab es in der McCarthy-Ära auch einige schlimme und für die Betroffenen schmerzhafte Entgleisungen »von oben«. So wurden Universitätsbedienstete, Professoren und anderes Personal, die den ihnen vom Staat in der McCarthy-Zeit abverlangten »Loyality Oath« nicht unterschreiben wollten, von der Universität entlassen. In diese Zeit platzten die Teller-Oppenheimer Anhörungen herein, die das Lager der Physiker spalteten und letztlich den Boden bereiteten für die bis heute aktiven verantwortungsorientierten Wissenschaftlerorganisationen wie die Federation of American Scientists, Union of Concerned Scientists, Educational Foundation for Nuclear Science, Pugwash Conferences of Science and World Affairs u.a.

Diese aufregende Zeit in Berkeley riß mich aus meiner »ohne-mich«-Haltung und verwandelte mich in einen passionierten Grenzgänger. Es wurde mir damals klar, daß die Schuld der Verstrickten meist viel kleiner ist, als ihnen von den Nichtbeteiligten zugeschrieben wird, daß sie aber größer ist, als die Verstrickten selbst glauben. Ihre Hauptschuld liegt gewöhnlich darin, nicht frühzeitig und entschieden genug einer verhängnisvollen Entwicklung entgegengetreten zu sein. Es war die Vorstellung eines intensiven gesellschaftspolitischen Engagements, die mich neben meiner beruflichen Karriere 1958 wieder nach Deutschland und dort zu Heisenberg nach Göttingen führte.

Aber dann kam es ganz anders. Die Faszination, mit Werner Heisenberg eine fundamentale einheitliche Quantenfeldtheorie der Materie zu konzipieren, schlug mich in den folgenden Jahren völlig in den Bann, so daß mir kaum mehr Zeit und Phantasie für gesellschaftspolitische Aktivitäten blieben. Ich war damals also ein »typischer« Wissenschaftler. Eigentlich erst in den frühen siebziger Jahren, als ich neben meiner Forschungstätigkeit als Direktor des Max-Planck-Instituts Leitungsaufgaben übernehmen mußte und auf diese Weise vermehrt mit gesellschaftlichen Problemen in Kontakt kam, ließ ich mich wieder auf solche Fragestellungen ein. Auftakt waren damals insbesondere die Fragen im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Hiroshima und Nagasaki

Daß wissenschaftlich-technische Errungenschaften für die Konstruktion von Waffen verwendet werden, war wahrhaftig kein Novum. So wurde der Krieg ja seit jeher geradezu als »Vater aller Dinge« bezeichnet. Trotz der Entsetzlichkeit der Herstellung und des Einsatzes von Giftgas im Ersten Weltkrieg sollte die Entwicklung der Atombomben, der Uranbombe und der Plutoniumbombe, und deren Abwurf im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki nicht einfach als ein weiterer bedauerlicher Ausrutscher betrachtet werden, sondern kennzeichnet eine tiefgreifende irreversible Veränderung, einen »Sündenfall« der Wissenschaft.

Mit der Entfesselung der in den Atomkernen gebundenen Energie wurde den Menschen ein Energiepotential zugänglich, das millionenmal größer als die chemisch aufschließbaren Energien der Atomhülle sind: Ein Kilogramm U-235 ist energetisch äquivalent etwa einer Kilotonne TNT Sprengstoff. Diese millionenfach verstärkte Kraftwirkung versetzt den Menschen in eine total veränderte Lage, die außerhalb seiner bisherigen individuellen und stammesgeschichtlichen Erfahrung liegt.

Menschliche Aktivitäten, wie auch die energetischen Umsätze der Biosphäre, waren bisher im wesentlichen von der täglichen Energieeinstrahlung der Sonne bestimmt. Sie ist auch der Motor der Evolution des Lebens. Dieser Energiedurchfluß führt zu einer teilweisen Umkehr der durch den 2. Hauptsatz der Thermodynamik charakterisierten Prozesse, die durch eine Entropievermehrung, eine unaufhaltsame Zerstörung von Besonderheit und Differenzierung gekennzeichnet ist. Verstärkte Energiedurchflüsse vergrößern im allgemeinen nur diese Zerstörung, diesen Trend zur Unordnung, wenn sie nicht in ein konstruktives Zusammenwirken, ein Plus-Summenspiel eingebunden sind. Abbauprozesse, Zerstörung, Null-Summenspiele können beliebig beschleunigt werden, Aufbauprozesse, Wertschöpfung, Plus-Summenspiele benötigen dagegen immer Zeit.

Waren die Atombomben mit größtem Einsatz an Intelligenz und Material in den USA entwickelt worden, um Hitlerdeutschland dabei zuvorzukommen, so wurden sie, wegen der frühzeitigen Niederwerfung Deutschlands, erstmals in Japan »angewendet«, mit der Begründung, den Krieg dort unter höchstmöglicher Schonung eigener Truppen schnell zu beendigen. An der Vorbereitung dieser ersten Atombombenabwürfe waren noch Wissenschaftler beteiligt, nicht jedoch an der Entscheidung, dies auch wirklich auszuführen.

Hier wurde anschaulich klar, daß mit der Atomenergie der Mensch nicht nur in die Größenordnung natürlicher großräumiger Energieumwandlungen vorgestoßen war, sondern daß die Menschen eine Waffe entwickelt hatten, die letztlich zu ihrer eigenen Zerstörung als Gattung ausreichte. Diese drohende existentielle Gefahr schien jedoch gleichzeitig die Chance zu bieten, den Krieg als »Politik mit anderen Mitteln« endgültig zu verabschieden und ihn durch angemessenere nicht-militärische Konfliktlösungen zu ersetzen.

Die schon der Wissenschaft eingeprägte Ambivalenz, Segen oder Fluch über die Menschen zu bringen, dem Frieden oder dem Krieg zu dienen, wird durch die Verfügung über die Atomenergie millionenfach verstärkt. Durch diese Errungenschaft wurde die Naturwissenschaft völlig aus ihrem philosophischen Elfenbeinturm herausgedrängt. „Wissen ist Macht“ hatte schon im 16. Jahrhundert der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon, Begründer des Empirismus, verkündet. Das ursprünglich vor allem auf Erkenntnis und Wissen gerichtete Interesse der Naturwissenschaft wurde weiter in Richtung auf die praktische Anwendung dieses Wissens gedrängt, dem Know-how, der Manipulation natürlicher Prozesse zur Erreichung bestimmter, gewollter Zwecke.

Dürfen wir alles tun, was wir können? fragen sich heute viele angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung. Dieses Unbehagen spitzt sich bei manchen in der Forderung zu, daß den Forschern künftig ihr Handwerk gelegt werden müsse, um der Menschheit eine Überlebenschance zu geben. Sie sehen den Naturwissenschaftler in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr bändigen kann. Diese Vorstellung hat einen wahren Kern. Sie charakterisiert aber die Lage der Naturwissenschaftler nur ungenügend, da die meisten von ihnen es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, die von ihnen entfesselten Kräfte selbst zu bändigen. Ihre Aufgabe, so meinen sie in ihrer »Bescheidenheit«, war ja nur zu rufen, die Bändigung muß den Menschen in ihrer Gesamtheit gelingen und den von ihnen beauftragten Vertretern, den Politikern, überlassen bleiben.

Edward Teller hat diesen Standpunkt immer stark vertreten und auch die Meinung, daß wir trotz aller Gefahren alles tun müssen, was wir können und dies sogar so schnell wie möglich, um keinen anderen zuvorkommen zu lassen. Hierbei hat er implizit immer angenommen, daß die Schnelleren auch die Besseren und diese selbstverständlich die USA sind. Eine noble Zurückhaltung führt, so meinte er, wegen der immer schwelenden Gefahr des Ausbrechens nur zu Instabilität. Ich bin hier dezidiert anderer Meinung. Seine Vermutung mag ohne zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen richtig sein. Doch warum sollten wir auf solche verzichten? Auch menschliches Zusammenleben ist in hohem Grade ein Plus-Summenspiel und benötigt dieses als notwendige Grundlage. Andererseits ist doch auch offensichtlich, daß dieser von Teller als unvermeidlich angenommene unerbittliche Wettlauf zu einer Eskalation und damit zu einem nicht minder gefährlichen, instabilen »Gleichgewicht des Schreckens« führt.

Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sie betreiben, haben die meisten Wissenschaftler den Elfenbeinturm nicht verlassen und wollen ihn auch gar nicht verlassen. Obgleich sie mit ihrem Tun die Welt täglich verändern, sprechen sie in ihrer Mehrzahl immer noch von Erkenntnissuche, von faustischem Drang und von Befriedigung natürlicher Neugierde, sie bezeichnen ihr Tun als »Wissen«-schaft, was eigentlich schon lange zur »Machen«-schaft geworden ist. Wissen und Machen, Verstehen und Handeln sind für den Menschen selbstverständlich beide wichtig. Hierüber sollte kein Mißverständnis aufkommen. Es geht nicht darum, das eine vor dem anderen auszuzeichnen. Sie ergänzen und bedingen einander. Doch Machen und Handeln erfordern Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt, denn unsere Kräfte sind zu groß geworden, als daß die Natur unsere Stöße und Tritte noch abfedern, als daß sie unsere Mißgriffe und Mißhandlungen uns noch verzeihen kann. Die Frage ist allerdings, ob und wie der Naturwissenschaftler diese Verantwortung wahrnehmen kann.

Verantwortlichkeit kann dabei nicht einfach in die Forderung münden, alles Mögliche weiterhin zu tun, aber dabei nur wesentlich vorsichtiger vorzugehen. Es macht keinen Sinn, eine fehlerfreie Welt anzustreben, denn Kreativität verlangt notwendig Fehlerfreundlichkeit. Diese aber erfordert Moderation und Entschleunigung.

Aber wer soll hierbei die Hauptverantwortung tragen? Kommen hier neue Befugnisse auf den Wissenschaftler zu oder wird diese weiterhin allein in der Kompetenz der die Allgemeinheit vertretenden Politiker liegen? Dies ist eine schwierige Frage. Sowohl das eine wie das andere erscheint höchst unbefriedigend. Flugzeugingenieure würden doch fahrlässig handeln, wenn sie einen voll geladenen Jumbo einem total unerfahrenen »Piloten« überlassen würden, nur weil dieser mit Mehrheit dafür gewählt worden ist.

Die Entwicklung der Atombomben charakterisiert jedoch nicht nur wegen Hiroshima und Nagasaki einen tiefen Einschitt, sondern auch dadurch, daß sie das Ergebnis eines Großforschungsunternehmens waren. Diese Erfahrung hat in der Folge ganz wesentlich die Ausweitung von Großforschung und Großtechnik stimuliert und damit neue Machtinstrumente und neue Abhängigkeiten geschaffen, die aktive Partizipation und kreative Entfaltung des Einzelnen behindern können.

Eine Fixierung auf die Gefahren der Bombe als dem »sogenannten Bösen« birgt außerdem die große Gefahr, ihr friedliches Gegenstück, den Kernenergiereaktor, als das »eigentlich Gute« zu idealisieren und dessen große immanente Gefahren zu übersehen. Ja, es erscheint sogar für die »Bombenbauer« aufgrund ihrer Betroffenheit fast ein zwingendes Bedürfnis zu sein, den Kernenergiereaktor in diesem hellen Lichte erscheinen zu lassen, um der propagierten Wertfreiheit der Wissenschaft, bei der der Unterschied zwischen »Gut« und »Schlecht« nur in der Anwendung liegen soll, wieder zu voller Geltung zu verhelfen.

Voraussetzungen für die Verantwortung des Forschers

Lassen Sie mich angesichts der bedrohlichen Folgen wissenschaftlicher Forschung nun etwas ausführlicher auf die schwierige Frage der Verantwortung des Naturwissenschaftlers zurückkommen.

Wenn davon gesprochen wird, daß Verantwortung übernommen werden soll, müssen wir immer genauer fragen: Wer hat Verantwortung vor wem und für was? Hierbei drückt die Übernahme von Verantwortung eine Bereitschaft aus – gewöhnlich gegenüber den Mitmenschen, manchmal gegenüber der ganzen Menschheit oder sogar der ganzen Schöpfung – für die durch eigenes Handeln verursachten Folgen persönlich einzustehen und auf eine geeignete Weise zu bürgen. Verantwortung bedeutet also: Persönliche Bürgschaft für ursächliches Handeln, wobei gelegentliches Nicht-Handeln als mögliche verantwortliche Haltung selbstverständlich mit inbegriffen ist.

Die Bejahung einer Verantwortung des Forschers für sein Tun scheint also dreierlei zu verlangen:

  1. Es muß allgemein verbindliche Wertmaßstäbe geben, mit Hilfe derer der Forscher seine Handlungen als mehr oder weniger vernünftig oder unvernünftig, nützlich oder schädlich, gut oder böse einstufen kann.
  2. Der Forscher muß wirklich in der Lage sein, die Folgen seines Tuns vorauszusehen. Denn ursächliches Handeln bedeutet doch, daß bestimmte Wirkungen in der Zukunft sich von dem Forscher genau antizipieren lassen, oder umgekehrt, wenn die Wirkungen einmal eingetreten sind, sich diese auf seine vorherigen Handlungen schlüssig zurückführen lassen müssen.
  3. Der Wissenschaftler muß wirklich selbst – und nicht irgendjemand anderer an seiner Stelle – für die negativen Folgen in einer für ihn relevanten Weise zur Rechenschaft gezogen werden können.

Es ist offensichtlich, daß alle diese Voraussetzungen – verbindliche Bewertung, Prognosefähigkeit und Haftungsmöglichkeit – nur in den allerseltensten Fällen ausreichend, wenn überhaupt, erfüllt sein werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß viele – und darunter vor allem die Naturwissenschaftler selbst – kategorisch verneinen, daß es eine besondere Verantwortung des Naturwissenschaftlers gibt, die über das an Verantwortung hinausgeht, was von jedem anderen Menschen auch verlangt werden soll.

Verbindliche Bewertung?

Gewöhnlich wird bestritten, daß es für wissenschaftliche Erfahrung so etwas wie eine in einem vagen Sinne verbindliche Bewertung gibt. Die Wissenschaftler werden nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Wissenschaft letztlich wertfrei sei, und daß ihre Ergebnisse, wie jegliches Wissen, erst durch die praktische Handhabung und die gesellschaftliche Umsetzung eine Bewertung erfahren, denn erst durch diese Umsetzung werde ihr Schaden oder Nutzen für den Menschen evident. Wissenschaft, so wird deshalb gefolgert, müsse ganz allgemein und bedingungslos gefördert werden, denn Mehrwissen bedeutet immer auch mehr Einsicht, mehr Verständnis, bessere Orientierung, höhere Erkenntnis. Eine Wertung erfolgt hierbei nur unter dem Kriterium »richtig oder falsch«, im Sinne einer Stimmigkeit oder Selbstkonsistenz. Und diese Wertung gilt uneingeschränkt, sie ist wesentlicher Bestandteil jeglicher Wissenschaft.

Eine Bewertung in bezug auf die Bedeutung für den Menschen, die menschliche Gesellschaft, die Biosphäre, unsere Mitwelt, die Schöpfung insgesamt, stellt sich also nur, so meinen sie, bei der Anwendung dieses Wissens, das heißt bei der absichtsvollen Auswahl und Präparation spezieller Anfangs- und Randbedingungen, die geeignet sein sollen, die von den Wissenschaftlern aufgedeckte Naturgesetzlichkeit zu ganz bestimmten, von uns angestrebten Folgen zu zwingen. Schaden für die Menschen und Zerstörung können dabei beabsichtigt oder unbeabsichtigt entstehen. Bei den Waffen jedenfalls ist dies das direkt von den Anwendern angestrebte Ziel. Die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und die Bewertung, die sie als gut und vernünftig ausweist, erscheint bei dieser Sichtweise nicht als Aufgabe der wissensvermittelnden und wissenschaftsfördernden Institutionen, wie etwa der Universitäten und Forschungsinstitute, sondern diese Bewertung sollte durch die Betroffenen und Nutznießer, durch die ganze Gesellschaft und ihre Politiker, als die durch sie legitimierten Repräsentanten, erfolgen.

So überzeugend diese Argumentation erscheint, so halte ich sie trotzdem für falsch. Denn es gibt kein faktisches Wissen ohne Wertung. Eine Wertung des faktischen Wissens geschieht auf doppelte Weise, nämlich in einem grundsätzlichen und einem mehr praktischen Sinne.

Lassen Sie mich zunächst etwas zur grundsätzlichen Wertung sagen. Es gibt wohl so etwas, wie eine wertfreie Wissenschaft, aber diese ist ein Begriffsgebäude, das zunächst nichts mit der eigentlichen Wirklichkeit, von der Wissenschaft angeblich handelt, zu tun hat. Jede die eigentliche Wirklichkeit interpretierende Wissenschaft muß letztlich, um relevant zu sein, aus ihrem logisch strukturierten und – bei den Naturwissenschaften – mathematisch präzisierten Begriffsgebäude heraus und die Brücke zur eigentlichen Wirklichkeit, was immer wir auch darunter verstehen wollen, schlagen, und dies kann nicht ohne eine wissenschaftlich nicht mehr beweisbare, da aus dem Gebäude herausführende, Wertung erfolgen.

Wenn wir uns die Frage stellen, ob faktisches Wissen ohne Wertung möglich ist, so denken wir gewöhnlich jedoch nicht an diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Wissen und Wertung, sondern betrachten diese Frage nur im Rahmen einer streng objektivierbaren, also prinzipiell prognostizierbaren Welt. Die Wertung von Wissen stellt sich hier in einem praktischen Sinn. Sie hängt wesentlich davon ab, inwieweit Wissen zum Ausgangspunkt von Handlungen wird, die Wissenschaft sich als `Machen'schaft, als angewandte Wissenschaft, versteht.

Die Unterscheidung zwischen angewandter Wissenschaft und Grundlagen-Wissenschaft hat eine gewisse Berechtigung durch die bei der Erforschung verwendete Methode, aber im Hinblick auf die Bewertungsfragen und der mit diesen zusammenhängenden Fragen nach einer besonderen Verantwortung der Wissenschaftler für ihr Tun, ist diese Unterscheidung zu ungenau. Bei der Wertungsfrage kommt es weniger auf die Methode als auf die Motive an. Wissenschaft hat im wesentlichen zwei unterschiedliche Motive: sie möchte etwas erkennen und wissen – die eigentliche Wissenschaft –, aber sie möchte auch etwas machen, sie möchte manipulieren und verändern – was ich, ohne den umgangsprachlich negativen Unterton, als Machenschaft bezeichnet habe.

Die besondere Hervorhebung der absichtsvoll handelnden Wissenschaft in diesem Zusammenhang soll nicht bedeuten, daß die auf reine Erkenntnis ausgerichtete Wissenschaft auf eine Bewertung verzichten kann. Dies ist nicht der Fall, denn die Grenzen zwischen erkenntnisorientierter und anwendungsorientierter Wissenschaft sind äußerst verschwommen. Die erkenntnisorientierte Wissenschaft ist ja heute kaum mehr eine passiv betrachtende Wissenschaft, sondern eine experimentelle Wissenschaft, die unter höchstem technischem Aufwand der Natur ihre tiefsten Geheimnisse abzupressen versucht. Die anwendungsorientierte Forschung andererseits verlangt in hohem Maße eine gründliche und detaillierte Untersuchung von bestimmten Teilphänomenen, die in der üblichen Betrachtung zur Grundlagenforschung gerechnet wird und als solche sich methodisch kaum von der erkenntnisorientierten Forschung unterscheidet.

Daß zwischen erkenntnisorientierter Wissenschaft und anwendungsorientierter Wissenschaft ein kontinuierlicher Übergang besteht, bedeutet nun andererseits nicht, daß zwischen diesen beiden Motiven kein klarer Unterschied besteht. Auch Tag und Nacht unterscheiden sich prinzipiell, obgleich es auch hier schwierig ist, genau anzugeben, wann der Tag aufhört und die Nacht beginnt. Wir behelfen uns in einem solchen Falle damit, daß wir irgendwann in der Dämmerung eine Grenzlinie ziehen. Die genaue Lage der Grenzlinie ist dabei unwichtig. Auf ähnliche Weise wird es deshalb auch sinnvoll sein, zwischen der erkenntnisorientierten und anwendungsorientierten Wissenschaft eine Unterscheidung zu machen. Die Notwendigkeit einer Wertung von Wissenschaft wird wichtiger, je mehr sie sich vom Wissen zum Machen verlagert.

Lassen Sie mich dies am Beispiel der Atombombe erläutern:

Um so etwas wie eine Atombombe künftig verhindern zu wollen, wäre es nicht nötig, einem Otto Hahn seine erkenntnisorientierte Forschung zu verbieten. Es war ja nicht so, daß ein nach Transuranen suchender Otto Hahn als zufälliges Abfallprodukt seiner Forschung plötzlich eine Atombombe in seinen Händen hielt. Die Atombombe leitet sich in der Tat von der Hahn'schen Entdeckung der Atomkernspaltung ab, aber die Entwicklung der Bombe benötigte eine gigantische Spezialforschung, die genau mit dem Ziel durchgeführt wurde, eben diese Massenvernichtungswaffe herzustellen. Ihr Bau wurde von der menschlichen Gesellschaft, genauer gesagt, einer von ihr, wie sie wenigstens glaubten, dazu legitimierten Gruppe von Politikern beschlossen. Die Entwicklung der Atombombe war dabei grundverschieden z.B. von der Entwicklung eines Atomreaktors.

Im Falle der Atomphysik erscheint also ziemlich klar erkennbar, wo eine Grenzlinie zwischen erkenntnisorientiertem und zweckorientiertem Forschen mit nützlichen oder schädlichen Auswirkungen gezogen werden könnte. An dieser Grenzlinie muß Verantwortung einsetzen. Eine solche klare Abgrenzung ist selbstverständlich nicht in allen Bereichen der Physik möglich. Ich denke hierbei etwa an die Elektronik, wo nützliche und schädliche Anwendungen sehr eng beieinander liegen. Noch fragwürdiger wird diese Unterscheidung, wie mir scheint, auf dem Gebiet der Biologie und insbesondere der Molekularbiologie. Ein einzelner Forscher könnte dort wohl unabsichtlich in seinem Laboratorium ein »Virus« fabrizieren, das wegen seiner prinzipiell angelegten Reproduktionsmechanismen in Analogie zu einer Kettenreaktion verheerende Konsequenzen für die Menschheit haben könnte.

In dem Maße jedenfalls, wie Forschung heute Großforschung, Technik Großtechnik wird, oder Wissenschaft mit den natürlichen Steuerungs- und Verstärkungsmechanismen manipuliert, darf Wissen nicht mehr wahllos angehäuft und hemmungslos umgesetzt, sondern muß nach allgemeinen ethischen Grundsätzen bewertet und behutsam verwendet werden. Wir sollten dabei immer im Auge behalten, daß es hierbei primär um eine Gefährdung des Menschen geht und nicht um die Gefährdung der »Natur« mit ihren vielfältigen Ausdrucksformen. Aufgrund der enormen Verstärkungsfaktoren können wir künftig nicht mehr nach dem alten Muster verfahren, unbedacht in neue Wissensgebiete vorzudringen, ungehemmt die zugehörige Technik zu entwickeln und dann unser Leben recht und schlecht an die durch sie veränderten Gegebenheiten anzupassen. Die Bewertung muß sich dabei an den Regeln eines Plus-Summenspiels orientieren, die dem Einzelnen im Ganzen seinen Sinn gibt.

Prognosefähigkeit

Für verantwortliches Handeln eines Naturwissenschaftlers erscheint die Prognosefähigkeit unabdingbar. Inwieweit ist aber ein Naturwissenschaftler wirklich in der Lage, die zukünftigen Folgen seines Tuns erfolgreich prognostizieren zu können?

Eine Prognose zukünftiger Folgen scheint besonders schwierig in der Grundlagenforschung, bei der Neuland betreten wird. Doch auch für die angewandte Forschung ist eine solche Prognose sehr kompliziert und nur in beschränktem Maße möglich. Jedenfalls wird eine genaue Prognose auch unter günstigsten Umständen – schon wegen der naturgesetzlich bedingten prinzipiellen Grenzen – nie möglich sein. Daraus soll man jedoch nicht ableiten, wie dies oft geschieht, daß der Forscher für sein Tun auch prinzipiell keine Verantwortung übernehmen kann und deshalb auch keine Verantwortung trägt. Denn, um Verantwortung zu übernehmen, ist keine genaue Prognose nötig. Wichtig vor allem ist, daß der Forscher versucht, die »Topologie« seines Forschungsgeländes auszuspähen, bevor er sich auf den Weg begibt. Er muß sich bei seiner Entscheidung dabei an der ungünstigsten Prognose orientieren.

Die Topologie, die Gestalt, eines Gebiets jedoch wahrzunehmen, verlangt, daß man dieses Gebiet nicht nur als kurzsichtiger Spezialist abtastet, sondern es gewissermaßen auch aus der Distanz in seiner Ganzheit betrachtet hat. Diese Voraussetzung ist heute kaum mehr gegeben. Unser Wissen ist heute in viele Einzeldisziplinen zerstückelt, die jeweils nur noch ein Fachmann übersehen und »verstehen« kann, wobei »verstehen« meist nicht sehr viel mehr bedeutet, als daß dieser Fachmann mit seinem Gebiet mehr oder weniger vertraut ist, daß er sich darin, wie etwa in seiner Wohnung, bewegen und zurechtfinden kann.

Das Wissen in seiner Gesamtheit, wie es durch die Wissenschaften vermittelt wird, ist deshalb für den Einzelnen in diesem Sinne nicht mehr erfaßbar und überschaubar. Wir fühlen uns trotz großer Anstrengung von den ständig wachsenden Anforderungen an unsere Auffassungsfähigkeit überfordert. Wir helfen uns in dieser Notlage, daß wir aufgeben, alles geistig durchdringen und verstehen zu wollen und bauen »schwarze Kästen« ein, die wir – ähnlich wie Autos, Fernseher, Waschmaschinen – einfach durch Knopfdruck und Hebel bedienen, ohne ihre Wirkungsweise eigentlich zu verstehen. In dieser uns überfordernden Situation laufen wir Gefahr, daß uns die Wirklichkeit auf die Existenz und Wirkung der vielen Werkzeuge und technischen Hilfsmittel reduziert erscheint, mit denen wir uns so reichlich umgeben haben. Unsere hochdifferenzierte und harmonisch-natürliche Mitwelt erschließt sich für uns nur noch durch die Vermittlung einer von uns selbst geschaffenen, einfältigen, mechanistisch strukturierten und funktionierenden Teilwelt. Diese primitive Teilwelt verstellt uns den Blick auf die weit vielfältigere und differenziertere eigentliche Wirklichkeit und isoliert uns von ihr.

Wie soll es uns heute gelingen, aus der Einzelbetrachtung von vielen verschiedenen Disziplinen wieder zu einer Gesamtbetrachtung zu kommen, welche die Voraussetzung darstellt, Verantwortung überhaupt wahrnehmen und übernehmen zu können?

Verschiedenartiges Wissen in einem einzigen Kopf unterzubringen, ist nicht nur ein Problem der Fülle, sondern vor allem auch der Frage, ob und auf welche Weise es uns gelingt, Andersartiges und Fremdartiges harmonisch miteinander zu verknüpfen und konstruktiv in Beziehung zu setzen. Denn es geht ja nicht darum, verschiedenartige Teile einfach nebeneinander aufzureihen, sondern letztlich diese harmonisch zu einem höher geordneten Ganzen zusammenzuführen.

So erlaubt die Verschiedenartigkeit der Buchstaben uns nicht nur ein Alphabet hinzuschreiben, sondern mit diesen Buchstaben lassen sich Worte bilden, mit denen wir eine Fülle von Gedanken einfangen können, was uns mit Einzelbuchstaben nicht gelingt. Und wir können in diesem Strukturbildungsprozeß weiter fortfahren: Aus Worten können wir Sätze und aus Sätzen lange Abhandlungen und ganze Bücher aufbauen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wie könnte Literatur erzeugt werden, wenn 26 Spezialisten in einen Raum zusammengesperrt werden würden, von denen jeder nur den Gebrauch eines einzigen Buchstaben beherrscht? Und wie erst könnte dies gelingen, wenn wir sogar die A-Spezialisten, B-Spezialisten usw. noch auf 26 verschiedene Räume eines Gebäudes, das wir dann Universität nennen, verteilen und wir sie im wesentlichen nur jeweils mit sich selber reden lassen würden?

Die schwierigen und drängenden Probleme unserer Zeit werden sich nicht lösen lassen, wenn es uns nicht gelingt, unser vielfältiges Spezialwissen geeignet zu einem größeren Ganzen zu vernetzen und zu vereinen. Das Ziel unserer Erziehung muß sein, eine T-Intelligenz heranzubilden, eine Intelligenz, die man durch den Großbuchstaben »T« charakterisieren kann. Der vertikale Balken des »T« soll hierbei Tiefe und Professionlität auf einem bestimmten Fachgebiet symbolisieren. Denn ohne Kenntnis von Details können wir die Komplexität eines Geschehens nicht ausreichend ermessen. Dieses Detailwissen muß jedoch mit einer globalen Betrachtungsweise verbunden, muß in einen größeren Zusammenhang eingebettet sein, wie dies durch den Horizontalbalken des »T« zum Ausdruck kommt. Ganzheitliche Schau und konkretes detailliertes Handeln bezeichnen in gewisser Weise entgegengesetzte Erfahrungshaltungen, die sich wechselseitig ergänzen. Wir müssen lernen, beide in unser Leben einzubinden.

Haftungsmöglichkeit

Bei dem heute üblichen Vergleich von Risiken wird der Aspekt, in welcher speziellen Situation Menschen überhaupt vernünftig Verantwortung übernehmen können, gänzlich außer Acht gelassen. Dies zielt vor allem auf die Frage einer möglichen persönlichen Haftung eines Verantwortlichen.

Das Risiko bei einer technischen Manipulation, z.B. beim Betreiben einer technischen Einrichtung, wird gewöhnlich definiert als das Produkt aus dem maximalen Schadensumfang, der bei einem möglichen Störfall entstehen kann, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieses Störfalls.

Bei sehr hohen Schadenspotentialen, wie sie z.B. Atomkraftwerken innewohnen, liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, daß man die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Störfalls durch geeignete Maßnahmen ganz extrem absenken muß, um – wie man glaubt – für den Menschen akzeptable Risiken zu erreichen. Wie will man aber die Eintrittswahrscheinlichkeit in solch extremen Situationen überhaupt verläßlich abschätzen? Man kann hierzu nicht einfach die praktische Erfahrung heranziehen, wie dies die Versicherungsgesellschaften bei der Berechnung ihrer Prämien für Autounfälle machen. Wir können es uns nicht leisten, die Reaktorsicherheit aus einer statistischen Analyse von Atomreaktorunfällen zu ermitteln, da eigentlich kein einziger solcher Unfall passieren darf. Wir müssen deshalb zu theoretischen Berechnungen greifen. Wir können die Störanfälligkeit von bestimmten Komponenten der Gesamtanlage, für die praktische Erfahrungen vorliegen, in Rechnung stellen und ihre Verkopplung mit anderen Komponenten geeignet berücksichtigen. Diese haben jedoch, wie alle statistischen Feststellungen, keine Aussagekraft für den Einzelfall.

Wir können die Störanfälligkeit des Gesamtsystems herabsetzen, indem wir wichtige Funktionen mehrfach absichern. Je größer und komplexer das Gesamtsystem jedoch wird, umso höher wird andererseits die Gefahr, daß sich durch eine unglückliche Verkettung von Umständen doch ein Störfall ereignet. Jeder macht in seinem Leben die Erfahrung, daß einfache und übersichtliche Systeme oft störungsfreier arbeiten als die hochraffinierten bis zum letzten ausgeklügelten Systeme. Bei hochkomplexen Systemen wird es immer schwieriger, alle prinzipiell möglichen Störfälle im voraus zu bedenken und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit verläßlich abzuschätzen. Der eigentliche Begrenzungsfaktor für eine solche Abschätzung liegt letztlich in unserer eigenen mangelhaften Phantasie, uns nämlich vorstellen zu können, was eigentlich alles passieren könnte. Je phantasieloser wir sind, umso geringer erachten wir das Risiko, umso höher unsere Sicherheit. Da wir nicht alles überblicken, bleibt immer ein Restrisiko.

Dies soll keine Kritik an den Sicherheitsexperten sein. Sie versuchen das Menschenmögliche. Sie haben die feste Absicht, verantwortlich zu handeln. Keiner von uns könnte sie wohl an Sorgfalt übertreffen. Sie und wir alle sind nach jedem Unfall ein Stück schlauer – das gleiche wird uns nicht ein zweites Mal mehr passieren! Trotz aller Sorgfalt kann es nie völlige Sicherheit geben. Insbesondere entzieht sich die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine jeglicher Berechnung.

Gut, wird man sagen, wir müssen eben alle mit einem gewissen Risiko leben. Was ist jedoch zumutbar? Die Frage der Zumutbarkeit läßt sich nicht beantworten, ohne den Kreis der Betroffenen zu betrachten. Besonders fragwürdig ist die Situation, wenn durch unsere Entscheidungen unbeteiligte Personen betroffen werden, ohne daß diese eine Entzugsmöglichkeit besitzen. Der extremste Fall in dieser Richtung sind Entscheidungen, welche die Lebensgrundlage der Menschheit bedrohen oder zerstören würden, was z.B. bei einem globalen Atomkrieg geschehen würde.

Aus ethischen Gründen, aus unserer Achtung vor der Würde des Menschen, aus unserem Demokratieverständnis darf ein verantwortungsbewußter Mensch keine Technik betreiben, die bei Störfällen zu unzumutbaren Schäden führt, auch dann nicht, wenn er glaubt, daß die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Störfall sehr klein ist. Denn wir wissen, daß »sehr klein« nie »ausgeschlossen« bedeutet und wegen unserer Phantasielosigkeit und menschlicher Bösartigkeit oder moralischer Unzulänglichkeit in der praktischen Realität auch gar nicht so klein ausfallen wird. Denn niemand kann Verantwortung für etwas übernehmen, dessen schlimme Folgen nicht er, sondern hauptsächlich andere ertragen müssen.

Zusammenfassung

Der Naturwissenschaftler ist heute nicht nur ein Philosoph, ein Mensch, der mit seinem analytischen, fragmentierenden Denken und der daraus resultierenden wissenschaftlichen Methodik und experimentellen Technik zu erkunden sucht, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, wie diese Welt, das Universum, entstanden ist, wie es zur Vielfalt seiner Struktur kam, zu unserer Erde, dem Lebendigen auf ihr, mit seinen Myriaden von Pflanzen und Tieren und insbesondere uns selbst, uns Menschen, die wir uns als Krönung dieser Schöpfung betrachten, begabt mit der eigenartigen Fähigkeit, durch unser Bewußtsein in gewisser Weise aus der Schöpfung herauszutreten und sie von außen betrachten zu können. Der Naturwissenschaftler ist nicht nur dieser sinnende und erkennende Betrachter, er ist vor allem der schöpferisch Tätige und Handelnde, der aufgrund seines Wissens um die kausalen Verknüpfungen des Naturgeschehens wesentlich in dieses eingreifen kann. Als solcher trägt er Verantwortung, die sich an überkommenen Werten, an traditionellen ethischen und moralischen Normen orientieren muß. Ihrem Wesen nach stehen diese Normen außerhalb einer wissenschaftlichen Diskussion. Sie liegen auf einem fundamentaleren Niveau. Ihre Sinnhaftigkeit haben diese Normen – wenn ich dies vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachte – durch ihre Bewährung in einer jahrmilliarden langen Evolution erhalten, welche die Struktur eines Plus-Summenspiels hat.

Der Naturwissenschaftler kann diese Verantwortung nur auf sich nehmen, wenn er sein spezielles Tun auf dem Hintergrund eines umfassenden Wissens und in enger Beziehung zu diesen bewährten traditionellen Werten vollzieht. Er muß sich bewußt sein, daß trotz der erstaunlichen Einsichten, die uns die Naturwissenschaften über die Welt vermittelt haben und trotz der mächtigen Werkzeuge zur Manipulation dieser Welt, die ihm aus dieser Erkenntnis erwachsen sind, er immer noch unendlich weit davon entfernt ist, die Natur wirklich im Griff zu haben. Schon aufgrund der nicht-deterministischen Naturgesetzlichkeit läßt sich die Natur prinzipiell nie in den Griff bekommen. Vor allem aber die enorme Komplexität und die vielfältige Wirkungsverschränkung der Natur, die eine ständige Entfaltung von Neuartigem begünstigt und die Möglichkeit zu immer höheren Ordnungsstrukturen eröffnet, machen darüber hinaus langfristige Prognosen und damit eine streng kontrollierte Manipulation praktisch unmöglich. Verantwortliches Handeln verlangt deshalb von einem Wissenschaftler, daß er sich über sein Spezialwissen hinaus um die Einbettung seines Fachgebiets in ein umfassenderes Wissen nach besten Kräften bemühen muß, daß er immer wieder versucht, sein spezielles Tun von einer allgemeineren Warte aus zu betrachten und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.

Verantwortliches Handeln bedeutet jedoch auch, daß ein Naturwissenschaftler sich immer bewußt bleiben muß, daß er an einem hochdifferenzierten und hochgeordneten System manipuliert, das sich in dieser Form in Jahrmilliarden entwickelt und bewährt hat und von dem er, als Wissenschaftler, trotz seiner Schlauheit, was die Vielfalt der Wechselbeziehungen und ineinandergreifenden Regelkreise des Systems anbelangt, nur ganz wenig versteht. Es kann also nicht seine Aufgabe sein, die Gesamtsteuerung der Natur bewußt in die Hand zu nehmen und sie mit größter Gewissenhaftigkeit und Umsicht betreiben zu wollen, wie dies heute manchmal von Biologen gefordert wird. Welche Überschätzung menschlicher Fähigkeiten, welche Vermessenheit spricht aus dieser Vorstellung! Sie übersieht die enorme Komplexität, die vielfältige Vernetztheit natürlichen Geschehens, die selbst der besten und wohlüberlegtesten Steuerung unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt und sie daran scheitern lassen würde. Ein solches Vorhaben übersieht, daß die Vorstellung, unsere Welt bestünde aus vielen getrennten Teilen, die dann auch getrennt manipuliert werden könnten, wesentlich mit der analytischen und fragmentierenden Struktur unseres Denkens zusammenhängt.

Verantwortlichkeit bedeutet deshalb vor allem, daß wir uns bemühen müssen, hinter der Mannigfaltigkeit der Geschehnisse wieder den großen »harmonischen« Zusammenhang zu erkennen, und daß wir aufpassen müssen, dieses synergetische Zusammenspiel nicht durch unsere Eingriffe zu zerstören. Konkret erfordert dies von uns, bei allen unseren Handlungen wieder das richtige Maß zu finden. Wenn wir uns selbst zurücknehmen, vermeiden wir das Herauskippen unseres über mehrere Jahrmilliarden gewachsenen Ökosystems aus seinem zwar robusten, aber nicht beliebig unverletzlichen dynamischen Gleichgewicht. Nur bei ausreichender Mäßigung unserer Fähigkeiten bewahren und ermöglichen wir das vielfältige, freie Spiel der Kräfte, das evolutionär zu geeigneten Anpassungen an neue Umstände und zur Bildung neuer Ordnungsstrukturen führt. Unser Handeln muß also auf volle Kooperation mit der Natur und nicht auf ihre Überwindung und Beherrschung ausgerichtet sein. Denn: die Natur kann letztlich ohne den Menschen leben, aber der Mensch nicht ohne die Natur. Wenn wir die Natur mißhandeln, würden wir sie lediglich zwingen, in ihrer Evolution einige Jahrmillionen oder Jahrhundertmillionen zurückzufallen und nochmals mit einem Versuch beginnen zu müssen, ein vielleicht vernünftigeres Geschöpf als den Menschen zu entwickeln, der nicht mehr seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört.

Es ist unmittelbar einsichtig, daß wir für das »richtige Maß« keine strengen Regeln vorgeben können. Das »richtige Maß« ergibt sich letzten Endes nur aus einer umfassenden Einsicht. Wir brauchen dazu nicht nur einfach Wissen, sondern Weisheit, welche dieses Wissen aufgrund althergebrachter gewachsener Wertvorstellungen zu einem Ganzen verwebt. Da ein Naturwissenschaftler nicht nur ein Spezialist ist, der mit klarem Verstand über Zusammenhänge in der Natur nachdenkt, sondern als Teil der Natur unmittelbar, obwohl begrifflich nicht scharf faßbar, aus ihrem Urgrund schöpfen und als Mensch vertrauensvoll auf eine lange ethische und moralische Tradition zurückgreifen kann, wird er im Prinzip auch die Fähigkeit haben, dieses »richtige Maß« zu finden, wenn er sich diese Quellen nicht hoffnungslos verschüttet.

Seine Fähigkeit, das »richtige Maß« zu finden, wird allerdings völlig überfordert, wenn es auf hohe Präzision ankommt. Dies heißt, daß er alles tun muß, um nie in eine Situation zu kommen, wo solch eine Präzision notwendig wird. Bildlich gesprochen darf ein Naturwissenschaftler nicht über ein Drahtseil mit der Menschheit auf dem Buckel balancieren, da eine geringfügige Abweichung vom »richtigen Maß« die absolute Katastrophe für die Menschheit bedeuten würde. Verantwortliches Handeln verlangt hier, eine Aufforderung zu einem solchen Drahtseilakt strikt zu verweigern, oder nach Möglichkeiten zu suchen, die Menschheit nicht mit in dieses Risiko einzubeziehen.

Die Verantwortungsfrage stellt sich für den Naturwissenschaftler heute so dramatisch und erdrückend, weil wir mit unserer Wissenschaft und Technik mit besonderer Vorliebe in Lawinenhängen herumsteigen und über Drahtseile balancieren. Daß wir dies tun, ist kein Zufall: In einer hemmungslosen Wettbewerbswirtschaft kann man seinen Konkurrenten nur abhängen, wenn man versucht, auf irgendeine Weise extreme Situationen anzusteuern. Hiroshima und Nagasaki haben uns ein unübersichtliches Minenfeld eröffnet. Wir sollten alles daran setzen, es radikal zu entschärfen, anstatt einige erlaubte Trampelpfade hindurchzulegen.

Dr. Hans-Peter Dürr

Über Dr. Hans-Peter Dürr
Geb. 1929, promovierte bei Edward Teller, mit dem er trotz aller politischen Kontroversen bis heute freundschaftlich verbunden ist. Von 1957 bis 1976 war Dürr Mitarbeiter von Werner Heisenberg. Im Spektrum bundesdeutscher Physiker ist Prof. Dürr singulär geblieben; er mischt sich politisch ein, und er überschreitet die Grenzen seines Fachs hin zu den Sozialwissenschaften. Mehrere Bücher dokumentieren sein Engagement für gesellschaftspolitische Probleme, sein Grenzgängertum und seine Interdisziplinarität. 1987 wurde ihm der »Alternative Nobelpreis« verliehen (Right Livelihood Award), von 1985 bis 1991 war er Vorstandsmitglied von Greenpeace Deutschland. Hans-Peter Dürr ist gegenwärtig Stellvertretender geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München.

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Ihre Tränen verwandelten sich in Blut

Zur Wirkung radioaktiver niedrigdosierter Strahlung

von Shuntaro Hida

In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 50. Mal. In Europa besteht der Sinn der 50. Wiederkehr dieses Jahrestages wohl darin, daß mit dem Kriegsende die Herrschaft des Nationalsozialismus zerschlagen wurde und Freiheit und Demokratie wiederhergestellt wurden.

In Japan ist die 50. Wiederkehr jenes Jahres das Jahr, in dem auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Atombomben abgeworfen und Menschen Opfer eben dieser Atombomben wurden. Die Bedeutung dieses Jahrestages sehe ich darin, sich der weiteren Verstärkung der Friedens- und Antiatom-Bewegung zur weltweiten Beseitigung der Kernwaffen zu verschreiben und den 50. Jahrestag zum Anlaß für einen erneuten Wiederbeginn dieser Bewegungen zu machen.

Eine einzige Atombombe hat damals eine ganze Stadt mit 300.000 Einwohnern in einem einzigen Augenblick ausgelöscht. Durch die Hitzewelle, die Explosionswucht und die radioaktive Strahlung sind nicht nur innerhalb von vier Monaten etwa 200.000 Menschen umgebracht worden. Bis heute, also 50 Jahre danach, sind 200.000 der damals Überlebenden an den Spätfolgen des Atombombenabwurfes gestorben. Und noch heute sterben Atombombenopfer an solchen Krankheiten wie Karzinomen, chronischen Leberschäden, Knochenmarksentzündungen, Blutkrankheiten. Die Ursachen dieser Krankheiten sind auf radioaktive Strahlungsschäden zurückzuführen.

Aus diesem Grunde betrachten wir Japaner die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nicht etwa als ein einmaliges unglückliches Drama auf japanischem Boden in der Endphase des Krieges vor 50 Jahren. Vielmehr begreifen wir dieses Ereignis als wertvolle Lehre und Warnung, daß die Menschheit von diesen teuflischen Waffen, den Kernwaffen – die die ganze Menschheit zu vernichten vermögen – eher noch heute als morgen für immer die Hände lassen sollte.

Mein Erlebnis in Hiroshima

Vor 50 Jahren war ich ein junger Armeearzt im Offiziersrang und arbeitete im Militärkrankenhaus in Hiroshima. Am Vorabend des 6. August, gegen Mitternacht, kam ein Notruf aus der nahe gelegenen Gemeinde Hesaka, drei Meilen vom Krankenhaus entfernt, da Patienten in diesem Dorf dringend meiner Hilfe bedurften, und ich verließ das Hospital. Ohne diesen Notruf und meine Übernachtung außerhalb Hiroshimas könnte ich heute nicht unter Ihnen sein. Am nächsten Morgen um Viertel nach acht explodierte plötzlich die Bombe. Mit einem Schlag leuchteten millionenfache Blitze auf und blendeten mich. Es folgte eine ungeheure Hitze, die meine unbedeckte Haut verbrannte.

Dann, einige Sekunden später, kam der ungeheure Druck, der einem Orkan gleich den Hügel heraufraste und die Häuser in diesem Dorf erfaßte. Er riß das Dach des Hauses, in dem ich mich befand, ab und schleuderte mich etwa zehn Meter weit. Als ich aus den Trümmern des Hauses hervorkroch, sah ich auf den riesigen Atompilz, der höher und höher wuchs, in fünf verschiedenen Farben leuchtete und sich über ganz Hiroshima ausbreitete.

Da ich mich als Militärarzt zum Helfen verpflichtet fühlte, nahm ich sofort mein Fahrrad und fuhr in Richtung Hiroshima. Als ich etwa die Hälfte des Weges hinter mir hatte, sah ich den ersten Menschen, der aus dem Flammenmeer entflohen war. Und wie er aussah! Er war kein Mensch mehr. Vom Leib, von allen Teilen des Körpers, hingen zerfetzte Lappen herunter. Von den Spitzen der Finger, die er sich vor die Brust hielt, fiehlen schwarze Tropfen herab. Und das Haupt, der ungeheuer große Kopf, an dem kein einziges Haar zu sehen war, geschwollene Augen, die beiden Lippen, die bis zur Hälfte des Gesichtes aufgedunsen waren! Erschrocken trat ich einige Schritte zurück. Die hängenden Lappen waren nichts anderes als abgeschabte Haut des lebenden Menschen. Die schwarzen Tropfen waren sein Blut. Ob Mann, ob Frau? Ob Soldat, ob Zivilist? An nichts konnte man das ablesen. Von seiner Sehkraft war vielleicht noch etwas übrig. Er trottete mit vorgestreckten Händen einige Schritte auf mich zu und fiel auf den Bauch. Ich lief hin und wollte den Puls fühlen. Aber an diesem Fleischklumpen war nirgendwo eine Stelle mit trockener Haut. Bestürzt und hilflos stand ich da und schon überfielen den liegenden Menschen starke Krämpfe, aber bald gingen diese auch vorbei.

Ich eilte weiter zur Stadt, als ich an das Flußufer gelangte, das die Stadt nach Norden hin umgrenzte. Das Flußbett war voll von ausgebrannten Fleischklumpen. Drüben auf dem anderen Ufer loderten die Flammen zum Himmel und, diese umkreisend, stießen Rauchpfeiler wie lebende Wesen hoch. Vom Feuer gejagt, sprangen die Menschen ins Wasser. Im Wasser waren auch viele Kinder. Wie sehr auch meine Gedanken zu meinem Krankenhaus eilten, es war gar nicht möglich, durch die Feuerwand in die Stadt zu kommen. Eine Weile dachte ich hin und her, dann aber entschloß ich mich, zu dem Dorf zurückzukehren, das ich soeben verlassen hatte, um dort eine Nothilfeklinik für die Verwundeten zu errichten.

Eine unerklärliche Krankheit

Es war am vierten und fünften Tag nach dem Atombombenabwurf, als unter den Patienten merkwürdige Krankheiten auftauchten. Bisher war das im Dorf eingerichtete provisorische und immer überfüllte Lazarett meist mit Brandwunden und äußeren Verletzungen konfrontiert gewesen. Nun aber kamen Patienten mit Symptomen wie hohem Fieber, Blutungen der Nasen und Augenschleimhäute, Purpura und Ausfall des Kopfhaars. Sie starben entweder bereits nach einigen Stunden oder spätestens nach einigen Tagen. Im Nachhinein habe ich erfahren, daß es sich um Strahlungsschäden handelte, die man als akute Strahlenkrankheit bezeichnet. Für mich, der damals nichts dergleichen gelehrt bekommen und der keinerlei Erfahrungen damit hatte, war es eine unerklärliche Krankheit.

Ein Beispiel: Viele Tage bevor die Atombombe detonierte, heiratete ein Freund von mir in Hiroshima. Am 6. August wurden beide schwer verbrannt, der eine auf dem Weg zum Hauptquartier der Division und die andere in ihrer Küche. Glücklicherweise überlebten sie und entkamen mit knapper Not nach Hesaka, in mein Dorf. Keiner von beiden wußte vom Schicksal des anderen, obwohl beide auf dem gleichen Boden dieser Grundschule lagen. Die Opfer um sie herum starben, und jene, die zwischen den beiden jungen Menschen gelegen hatten, raffte der Tod hinweg. Schließlich lagen sie nebeneinander, ohne daß sie von einander etwas ahnten. Ihre Gesichter waren allzu verändert, sie waren füchterlich verbrannt. Aber schließlich erkannten sie sich am Klang ihrer Stimme. Was für eine glückliche Fügung!

Diese herzergreifende Episode sprach sich unter den Patienten schnell herum. Es schien den beiden nach und nach besser zu gehen, und nach zwei Wochen sollten sie in ein Krankenhaus in einem anderen Ort verlegt werden. Das glückliche Paar verabschiedete sich von den anderen Patienten und kam auch zu mir, um mir für die Behandlung zu danken. Doch kaum waren die Worte verklungen, da sprudelte plötzlich eine große Menge Blut aus dem Mund des Mannes. Und in beiden Händen, die er schmerzerfüllt an den Kopf legte, hielt er plötzlich ein Büschel von Haaren, als wären sie abrasiert. Er brach zusammen und bekam hohes Fieber. Innerhalb von 24 Stunden war er tot. Seine Frau war außer sich; sie schrie und hielt den Leichnam ihres Mannes. Doch auch ihre Tränen verwandelten sich in Blut, ihr Haar hatte das gleiche Schicksal und wenig später folgte sie ihrem Mann in den Tod.

Weitere schreckliche Ereignisse stellten sich ein. Auch unter den Leuten, die nach dem Bombenabwurf in die Stadt gegangen waren, um dort zu helfen, und unter den Leuten, die aus anderen Orten gekommen waren, um in der Stadt nach Verwandten und Bekannten zu suchen, tauchten Menschen mit merkwürdigen Krankenheitsbildern auf. Viele von ihnen starben.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, daß diese Menschen in der Luft, auf Lebensmitteln und im Wasser befindliche Strahlungspartikel aufgenommen hatten, die wiederum schreckliche Wirkungen zeitigten: Die über längere Zeit wirkende niedrigdosierte radioaktive Strahlung rief plötzlich eine verstärkte Tumorbildung hervor oder die körperlichen Abwehrfunktionen wurden zerstört.

Ein weiteres Beispiel: Ein junger Stadtbeamter war im Keller des Rathauses unweit vom Explosionszentrum. Ihm wurden bei der Detonation die Beine zugeschüttet. Mit Hilfe eines Kollegen konnte er glücklich entkommen. Noch am selben Tag kam er im sechs Kilometer entfernt liegenden Vorort von Hiroshima, wo ich war, an.

Seine Frau, die kurz davor ein Kind gebar, war am 6. August bei ihren Eltern in der etwa 200 km entfernten Stadt Matsue. Sie ging, nachdem Sie das Baby den Eltern anvertraut hatte, in die zerstörte Stadt, um ihren Mann zu suchen. Nachdem sie 8 Tage lang durch die Ruinen gegangen war, konnte sie ihn endlich finden. Obwohl ihm ein Bein gebrochen war, war er noch verglichen mit anderen, die dort im Ort zu Hunderten untergebracht waren und von Minute zu Minute starben, in einem besseren Zustand. Angesichts dieses höllischen Bildes setzte die Frau ihre Kräfte gänzlich dafür ein, die Schwerverwundeten zu betreuen. Einige Tage arbeitete sie ganz selbstlos daran. Und es war entsetzlich für mich mit anzusehen, wie diese Frau nach wenigen Tagen erkrankte. Sie bekam plötzlich hohes Fieber und ihr blutete die Nase, es traten Blutflecken auf der Haut an allen Gliedern auf, und am Ende fiel ihr das ganze Kopfhaar aus. 14 Tage hat sie gelitten und mußte im äußersten Elend sterben. Die Symptome, die bei ihr auftraten, waren dieselben wie bei den Schwerverwundeten.

Das wirkliche Ausmaß der Opfer, der Schäden, des Leidens der vom Atombombenabwurf betroffenen Menschen, insbesondere die von der radioaktiven Strahlung hervorgerufenen Leiden, sind den Menschen in aller Welt bisher nicht korrekt mitgeteilt worden. Zum einen haben die Regierung der USA und die der US-Atompolitik gefolgschaftleistende japanische Regierung das wirkliche Ausmaß des Leidens und die Unmenschlichkeit der Strahlungskrankheit konsequent zu vertuschen und zu verstecken versucht. Zum anderen war die medizinische Forschung über die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus noch nicht ausreichend fortgeschritten.

Schäden durch niedrigdosierte radioaktive Strahlung

Es gab einen Bericht von dem 1977 – also 32 Jahre nach dem Atombombenabwurf – in Japan veranstalteten »Symposium der UN-NGO zu Problemen der Atombombenopfer« von Hiroshima und Nagasaki. Auf diesem Symposium wurden zwar die externen Wirkungen auf den menschlichen Körper nach erfolgter hochdosierter radioaktiver Strahlung deutlich gemacht; die Wirkung niedrigdosierter Strahlung, die von den in den menschlichen Körper gelangten Strahlungspartikel ausgeht, blieb jedoch völlig unerwähnt.

Was den Einfluß von radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Organismus angeht, wurde damals lediglich die Menge der Strahlung problematisiert. Ohne zwischen extern und intern erfolgter Bestrahlung zu unterscheiden, war die Position sogenannter Erfahrungswerte in der Diskussion beherrschend, wonach die Wirkung radioaktiver Strahlung unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes zu vernachlässigen sei.

1972 legte der kanadische Arzt Abram Petkau seine Petkau-Theorie öffentlich vor. Danach „zerstört aus dem menschlichen Organismus heraus langzeitlich erfolgende niedrigdosierte Strahlung Zellen nach einem völlig anderen Wirkungsprinzip, als dies bei der kurzfristigen Schädigung durch extern erfolgte hochdosierte Strahlung der Fall ist. Erfolgt die radioaktive Strahlung im Wasser, wird das unschädliche Sauerstoff-Element in schädlichen Aktiv-Sauerstoff umgewandelt. Diese Reaktion fällt bei niedrigdosierter Strahlung heftiger aus als bei hochdosierter Strahlung“. Im selben Jahr veröffentlichte der Amerikaner Ernest J. Sternglass ein Buch mit dem Titel „Low Level Radiation“ (übrigens veröffentlichte er es in London, da es in den USA nicht möglich war), in dem er die Schäden niedrigdosierter Strahlung epidemiologisch aufzeigte. Dieses Faktum ist übrigens bis heute kaum wahrgenommen worden.

Jedoch machte die Kernreaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 die Gefährlichkeit niedrigdosierter Kernstrahlung durch in den menschlichen Körper aufgenommene radioaktive Partikel mit einem Schlag deutlich. Im Gefolge dieser Katastrophe wurden die bis dato verheimlichte Existenz von zahlreichen Opfern niedrigdosierter Kernstrahlung im Zusammenhang mit den Großkatastrophen beispielsweise im Kernkraftwerk Three-Mile-Island oder der Atombombenfabrik Savannah-River in den USA sowie Schädigungen von mehreren der 250.000 US-Soldaten, die für Kernwaffenexperimente eingesetzt worden waren, bekannt. Ferner wurden u.a. 1992 von Donnell W. Boardman „Radiation Impact“, 1993 von Jay M. Gould et al. „Deadly Deceit“ gehäuft Untersuchungs- und Forschungsberichte über Schädigungen durch niedrigdosierte Kernstrahlung veröffentlicht.

Darüber hinaus berichtete die Untersuchung des Japanischen Verbandes der Atombombenopfer von 1985, daß es „unter den Atombombenopfern, die zum Zeitpunkt des Abwurfes über zwei Kilometer vom Epizentrum entfernt waren oder später in das Stadtgebiet gelangten, Menschen gibt, die Krankheitsbilder aufweisen, deren Ursache auf intern erfolgte niedrigdosierte Strahlung zurückgeführt werden kann“. Im Zusammenhang mit der Anwendung des Gesetzes zur Unterstützung von Atombombenopfern betrachtet die Stadt jedoch die Entfernung von zwei Kilometern ab dem Epizentrum als jene Grenze, von der ab keine Wirkung der Kernstrahlung angenommen wird. Ferner ist festzustellen, daß es auf internationalen Konferenzen zu entsprechenden Berichten von japanischen Wissenschaftlern zu dem Thema »Schäden niedrigdosierter Kernstrahlung« gekommen ist. So beginnt entgegen der bisher vorherrschenden Lehrmeinung der sogenannten Erfahrungswerte, bei deren Unterschreitung keine Schädigungen zu erwarten seien, die Auffassung derzeit zunehmend an Unterstützung zu gewinnen, derzufolge interne Abstrahlung niedrigdosierter Kernstrahlung schwerwiegende Folgen hervorruft.

Die Schäden von Kernwaffen sind nicht zu begrenzen

Die Wahrnehmung der Realität der Strahlenopfer infolge des erstmaligen Einsatzes von Kernwaffen in der Menschheitsgeschichte war wesentlich bestimmt durch das strategische Kräfteverhältnis bei den Kernwaffen. Die Realität selbst ist entsprechend verheimlicht worden. Des weiteren kann die medizinische Wissenschaft die konkrete Lage von Strahlenopfern derzeit nicht detailliert beleuchten und gänzlich deuten. Wäre dies möglich, würde ein allgemeines Bewußtsein darüber entstehen, daß „die eigentliche Bedrohung der Kernwaffen in der radioaktiven Strahlung liegt und bei intern ausgehender Bestrahlung auch bei kleinsten Mengen gefährlich ist“. So ist aber jene Kernwaffenbegrenzungstheorie immer noch weit verbreitet, wonach es keine „Ideallösung“ gibt, und „man zwar gegen den Einsatz von Atomwaffen ist, aber deren Besitz als notwendig für die Verhinderung von Krieg ansehen muß“.

Die Schäden von Kernwaffen sind räumlich und zeitlich nicht zu begrenzen. Werden Kernwaffen eingesetzt, gelangt radioaktive Substanz in die Atmosphäre und fällt über einen langen Zeitraum wieder zurück auf die Erdoberfläche, wo über Jahre hinweg die Menschheit langsam umgebracht wird und noch mehrere Generationen danach Schäden zu beklagen sein werden. Zudem hat der Besitz von Kernwaffen zur Voraussetzung, daß Uran gefördert, für militärische Zwecke aufbereitet wird, Sprengköpfe (Bomben) produziert und gelagert werden und deren Funktionsfähigkeit getestet wird. Auf all diesen Stufen werden unzählige Strahlenopfer zu verzeichnen sein.

Ich denke, daß es die Grundlage für die schnellstmögliche Realisierung der Abschaffung von Kernwaffen ist, die Menschen in aller Welt darüber zu informieren, worin die Besonderheit dieser menschenvernichtenden Waffen im Unterschied zu allen bisher dagewesenen Waffen besteht. Zu diesem Zweck fordern wir in Japan den Abschluß eines internationalen Abkommens zur vollständigen Beseitigung der Atomwaffen und rufen dafür zu einer weltweiten Hiroshima-Nagasaki Unterschriftenkampagne auf. Derzeit können wir bereits auf 40 Millionen Unterschriften in Japan und weltweit auf 100 Millionen verweisen.

Lassen Sie mich meine Rede mit der Bitte beenden, daß Sie als Deutsche in vorderster Position des Verbundes aller europäischen Bürger uns ihre Kraft und ihr Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen zur Verfügung stellen mögen.

Über Shuntaro Hida

Dr. med. Shuntaro Hida, 1917 in Hiroshima geboren, ist in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher »hibakusha«. Er gehört zu den wenigen Ärzten, die den Atombombenabwurf überlebt haben; den Grund hierfür nennt er in seinem Referat. Mit großem Einsatz ist er seit 1945 in (inter)nationalen Gremien für die Belange der »hibakusha« und für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt tätig. Guido Grünewald hat ihn den »Botschafter« der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki genannt. Ferner hat Dr. Hida seine auch auf deutsch erschienenen Memoiren verfaßt (Der Tag, an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, Bremen 1989, Donat Verlag). Es ist bemerkenswert, daß das nukleare Inferno nicht am Anfang seiner Erinnerungen steht, sondern deren Schlußpunkt bildet. Dr. Hida, der heute noch zweimal in der Woche strahlengeschädigte Patienten in Tokio fachlich betreut, gibt in seinem Buch mit der präzisen Sprache des Arztes authentische Einblicke in den japanischen Militarismus und in die damalige expansive Außenpolitik seines Landes.
Dr. Hidas Referat, welches hier abgedruckt wird, bildete den Auftakt seiner neunten Vortragsreise durch Deutschland, diesmal in Begleitung seiner Enkelin Rika Nogutschi. Dr. Guido Grünewald von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsgegnerInnen verdanken wir es, daß Herr Hida sein Referat im Rahmen des Frankfurter Vortragszyklus' halten konnte. Frau Mokoto Uchida, Frankfurt, hat dankenswerterweise sowohl den Vortrag als auch die sich anschließenden Fragen aus dem Publikum und das folgende Interview übersetzt.

(B.W.K.)

Shuntaro Hida

„Ein Japaner fühlt sich nicht als Individuum“

„Ein Japaner fühlt sich nicht als Individuum“

Interview mit Dr. Shuntaro Hida

von Dr. Shuntaro Hida und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Vor uns liegt der Entwurf einer amerikanischen Briefmarke. Dort steht unter einem Atombombenpilz „Atomic bombs hasten war's end, August 1945 – Atombomben beschleunigen das Ende des Krieges, August 1945“. Wenn Sie, Herr Hida, einen solchen Atompilz sehen, mit dem die amerikanische Regierung bzw. das US-Postministerium dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Atombombenabwürfen gedenken wollte, welche Gefühle überkommen Sie da?

Hida: Ja, das könnten Amerikaner tun. Es paßt zu den Amerikanern. Ich war nicht so erschrocken.

Ich kenne diesen Sachverhalt sehr gut. Die amerikanische Regierung und der amerikanische Präsident Clinton haben mehrmals öffentlich geäußert, daß es berechtigt gewesen sei, daß Amerikaner auf Nagasaki und Hiroshima Atombomben abgeworfen haben. Alle Japaner, nicht nur die Atombombenopfer, sondern ganz konservative Menschen, fanden, daß das Vorhaben des Postministeriums sehr unangebracht sei. Deshalb wurden verschiedene Delegationen in die USA und zur UNO gesandt; gegenüber der US-Regierung wurden Proteste erhoben.

Ich sollte eigentlich mit in die USA reisen, und zwar wegen der Kontroversen um die »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum der Smithonian Institution in Washington, D.C., habe meiner Vortragstour durch Deutschland aber den Vorrang eingeräumt.

Kubbig: Dank der äußerst scharfen japanischen Proteste ist es nicht zu dieser Briefmarke gekommen. Die Auseinandersetzungen um die »Enola Gay Exhibition« haben dazu geführt, daß die jetzt geplante Ausstellung rein technischer Art ist und keine Interpretationen mehr enthält. Was erhoffen Sie sich von den Kontroversen?

Hida: Die Amerikaner haben sehr lange über die Frage geschwiegen, ob es Rechtens war, Atombomben abzuwerfen. Aber plötzlich begannen sie, darüber laut zu sprechen. Das war vor dem letzten Golf-Krieg. Wir in Japan dachten, daß die Amerikaner im Irak noch einmal Atombomben abwerfen könnten.

Jetzt reagiert nur ein Teil der amerikanischen Bevölkerung, und nur in einigen Fällen sind aus meiner Sicht die Reaktionen positiv. Die meisten Amerikaner sind gleichgültig. Vielleicht sind die meisten Amerikaner sogar für die Veröffentlichung einer solchen Briefmarke.

Wissen Sie, das größte Problem der USA liegt darin, daß die amerikanische Bevölkerung in Unwissenheit darüber gelassen wurde, daß 1,5 Millionen Amerikaner bei Kernwaffenversuchen Opfer der Asche, der tödlichen Asche, geworden sind. Radioaktiv geschädigte Patienten begannen, per Gerichtsverfahren gegenüber der amerikanischen Regierung Entschädigungen zu erwirken. Diese Menschen kamen zu mir und fragten, ob ihre Krankheit denen der Atombombenopfer ähnlich sei.

Kubbig: Haben Sie diese Menschen untersucht?

Hida: Ich habe sie untersucht und ihre Frage bejahen müssen. Und während der Prozesse haben mich Kläger aus dem Gerichtssaal in Japan angerufen, so daß ich als Zeuge fungieren konnte.

Kubbig: Im Jahr 1995 wird in Deutschland viel von Versöhnung und Aussöhnung gesprochen. Ihr großer Landsmann Kenzaburo Oe, Literatur-Nobelpreisträger von 1994, forderte wiederholt, daß auch Japaner auf die Amerikaner zugehen müßten. Wie soll der Versöhnungsprozeß zwischen der amerikanischen und der japanischen Regierung, zwischen den Völkern Japans und den USA laufen? Was erwarten Sie? Was möchten Sie selbst einbringen?

Hida: Meiner Meinung nach gibt es mindestens auf der Bevölkerungsebene das Bewußtsein, daß man durch den Beginn des Krieges gegenüber den Amerikanern in Pearl Harbor Schlechtes getan hat. Aber bevor man diese Sache angeht, muß man die Invasionen gegenüber den asiatischen Nachbarstaaten bedenken. Hier haben die Japaner noch viel schlimmere Leiden verursacht. Deshalb muß man als Japaner zuerst die asiatischen Länder um Vergebung bitten und sich mit ihnen versöhnen.

Aber um das zu machen, muß man fragen: Wer hat befohlen, diesen Krieg zu beginnen? Offiziell war das der japanische Tenno gewesen. Deshalb muß man sagen: Der japanische Tenno war verantwortlich. Es gibt in Japan einen sehr großen Widerstand, dies zuzugeben. Also, aufgrund der Mentalität kann man nicht allen Völkern in der Nachbarschaft sagen: Ja, bitte entschuldigen Sie, unser Tenno hat das befohlen. Das ist eine unerträgliche Situation, das so zu sagen. Das will man auf alle Fälle vermeiden.

Das ist die Hauptursache, daß die Versöhnung von Japanern mit den anderen Völkern bisher verzögert wurde. Japaner leben nicht als Individuen, wie es in Frankreich oder in Deutschland der Fall ist. Japaner leben in Japan, das ist eine lauwarme Gesellschaft, und man fühlt sich als ein Teil Japans. Also nicht als selbständiger Japaner oder als Individuum. Ein solches individuelles Bewußtsein ist noch sehr schwach ausgeprägt.

Kubbig: Ist es übertrieben, von den Amerikanern eine Entschuldigung für die Atombombenabwürfe zu erwarten?

Hida: Die japanische Bevölkerung sollte von den Amerikanern verlangen, sich für diese Tat zu entschuldigen. Ich habe versucht, ein Wort der Entschuldigung von hohen amerikanischen Stellen zu bekommen. Ich verlange kein Geld, aber ein Wort der Entschuldigung. Und ich verlange, daß Amerikaner nie wieder Atombomben abwerfen.

Diese zwei Antworten wollte ich bisher bekommen. Aber kein höherer Beamter oder Regierungspolitiker wollte das hören. Und kein amerikanischer Präsident wollte mich treffen. In diesem Sinne waren alle bisherigen Versuche vergebens. Deshalb kläre ich überall in der Welt, wenn ich eingeladen bin, darüber auf, welches Grauen die Atombombenabwürfe erzeugt haben. Vielleicht können die Bevölkerungen der ganzen Welt dazu beitragen, daß auch der amerikanische Präsident in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, bei den japanischen Opfern um Entschuldigung zu bitten.

Kubbig: Wäre es nicht auch wichtig, die richtigen Bündnispartner für eine solche Zielsetzung zu gewinnen, und zwar bei Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben, sprich, die »Atomic Veterans«, die atomaren Veteranen in den USA und anderswo?

Hida: Ja, wir haben bisher viele Gelegenheiten gehabt, mit den amerikanischen Atom-Versuchsopfern zu sprechen. Aber es gibt zwei Hindernisse für die weitere Arbeit. Erstens: Die japanischen Atombombenopfer haben zu wenig Kraft, um alles durchzusetzen. Man braucht viel Geld für derartige internationale Aktivitäten. Das zweite Hindernis liegt darin, daß die atomaren Veteranen in den USA eine sehr heterogene Gruppe sind. Die Soldaten sagen beispielsweise: Ja, wir sind auch Opfer geworden, aber uns genügt es, wenn wir Entschädigungsgelder bekommen. Denn wir sind eigentlich für Atomwaffen.

Es gibt weltweit sehr viele Menschen, z.B. in Korea oder in Rußland, die Opfer radioaktiver Strahlung geworden sind. Man sollte sie zusammenführen, um eine gemeinsame Anti-Atombewegung in Gang zu bringen. Aber es ist nicht einfach. Es gibt heute bereits solche Gruppen, die ein oder zweimal im Jahr in Japan oder in den USA gemeinsame Tätigkeiten veranstalten. Aber nur das ist bis jetzt dauerhaft geblieben. Alle anderen Aktivitäten wurden immer wieder unterbrochen, weil wir physisch und finanziell zu schwach sind.

Für mich kann ich sagen, daß ich bis an mein Lebensende alles dafür tun werde, daß die Atomwaffen aus der Welt veschwinden. Zu diesem Zweck bin auch auf meiner Vortragsreise durch Deutschland.

Kubbig: Danke für dieses Gespräch. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Vortragsreise.

Das Interview mit Herrn Dr. Shuntaro Hida führte am 5.5.1995 Dr. Bernd W. Kubbig.

„Hiroshima war ein tiefer Schock“

„Hiroshima war ein tiefer Schock“

Interview mit Dr. Carl Friedrich von Weizsäcker*

von Dr. Carl Friedrich von Weizsäcker und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Kein Physiker hat alle Facetten der Atomproblematik so beständig, umfassend und tief durchdacht wie Sie. Weltweit hat sich kein Physiker professionell der Sache des Friedens, bei der das Element der Rüstungsminderung eine zentrale Rolle spielt, jahrzehntelang so verschrieben wie Sie. Ist Ihr vielfältiges Engagement direkt und indirekt auch auf die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 zurückzuführen?

von Weizsäcker: Mein Engagement ist zurückzuführen auf die Erkenntnis, welche im März 1939 wohl wenigstens 100 Physiker auf der Erde hatten, daß Atombomben als Folge der Kettenreaktion bei der ohne jede technische Absicht von Otto Hahn entdeckten Kernspaltung vermutlich möglich wurden. Hiroshima war nun der Schock, daß das Problem schon definitiv vorliegt.

Kubbig: General Groves, der militärische Leiter des amerikanischen Atomwaffenprogramms, spendet Ihnen in seinen Erinnerungen („Now It Can Be Told“, New York 1962) viel Lob, und zwar in Zusammenhang mit den Gesprächen unter den wichtigsten deutschen Atomwissenschaftlern, die im britischen Farm Hall interniert waren. In den von den Alliierten abgehörten und aufgezeichneten Gesprächen, die inzwischen vollständig auch in einer deutschen Ausgabe erschienen sind, spricht General Groves (S. 336) beispielsweise von Ihren „prophetischen Bemerkungen“ über die internationalen Auswirkungen der Atombombe; und er zitiert dann Ihren Kollegen Bagge, der bemerkte: „I think it is absurd for Weizsäcker to say he did not want the thing (die Bombe, B.W.K.) to succeed. That may be so in his case, but not for all of us.“ Könnten Sie im Anschluß hieran Ihre Position, und vielleicht auch die Ihrer Kollegen, noch einmal kurz darlegen?

von Weizsäcker: Meine Position ergab sich zunächst aus drei Folgerungen, die ich schon im März 1939 gezogen hatte:

A. Wenn Atombomben möglich sind, wird es in der heutigen Menschheit jemanden geben, der sie herstellt.

B. Wenn Atombomben hergestellt sind, wird es jemanden geben, der sie einsetzt.

C. Beides folgt aus der jahrtausendealten politischen Institution des Krieges. Also hat die Menschheit jetzt nur noch die Wahl, entweder die Institution des Krieges zu überwinden oder sich selbst zugrundezurichten.

Kubbig: Sie haben in den letzten Jahren nach Erscheinen des Buches „Die Uranmaschine“ des US-Historikers Mark Walker wiederholt erklärt, daß Sie etwa bis 1940/41 durchaus nicht ausgeschlossen haben, eine deutsche Atombombe könne gebaut werden. Im Juli 1940 haben Sie das Heereswaffenamt in einem Bericht darüber informiert, daß mit Plutonium Atomsprengköpfe hergestellt werden könnten.

Hieran möchte ich zwei Fragen anschließen. Erstens: Wie stellen sich Ihre damaligen Positionen und Aktivitäten für Sie heute dar? Zweitens: Zeigen nicht ihre Farm Hall-Äußerungen, daß sich in Ihnen bereits ein beachtlicher Lernprozess in der Zeit zwischen 1940/41 und 1945 vollzogen hatte?

von Weizsäcker: September 1939, Beginn der Uranarbeiten in Deutschland unter der Organisation des Heereswaffenamtes. Ich fühlte mich verpflichtet gegenüber den Menschheitsproblemen, daran mitzuarbeiten. Warum? Später, ca. 1945, sagte ich mir: Ein solches Risiko darf ich nicht noch einmal in meinem Leben eingehen.

Reaktionen 1939: Ich bewog Heisenberg mitzuwirken. Seine Antwort: „Hitler hat einen Krieg angefangen, den er in einem Jahr verlieren wird. Bis dahin kann keine Atombombe fertig sein. Aber der »kriegswichtige« Auftrag rettet die Mitarbeiter vor dem Militärdienst oder anderen wirklich kriegstechnischen Arbeiten. Wir sollten erkennen, ob und wann die Bombe möglich ist und dann erkennen, wie wir weiter handeln müssen. Und nach dem verlorenen Krieg müssen wir für unsere Mitmenschen in Deutschland dasein.“

Ich bewog Hahn mitzuarbeiten, mit dem einzigen Argument der Rettung seiner Mitarbeiter. Sein Institut würde ohnehin nicht technisch an einer Bombe arbeiten. Aber sehr eilig sagte er: „Ich würde es tun. Aber wenn durch meine Entdeckung Hitler eine Atombombe bekommt, bringe ich mich um.“

Ich selbst empfand: Wenn ich mir die weiße Weste bewahren kann, indem ich nicht an diesem Problem arbeite, tue ich nichts, um zur Überwindung des Krieges beizutragen. Naiv dachte ich: Wenn ich einer bin, der weiß, wie man solche Waffen macht, muß meine Regierung mit mir vertraulich sprechen. Könnte ich nicht Hitler dann zu einer friedfertigeren Politik bewegen? Das war mein ganzer Irrtum. Mein Lernprozeß zwischen 1940 und 1945 war, daß ich etwa 1941/42, zu der Überzeugung kam, daß wir in Deutschland keine reale Bombe machen konnten. Ich glaube auch heute, daß das faktisch richtig war. Dies beruhigte mich, denn das Risiko, das ich soeben als Irrtum charakterisiert habe, erschreckte mich natürlich von Anfang an.

Kubbig: General Groves zitiert Sie in seinen Memoiren (S.334) aus den abgehörten Gesprächen von Farm Hall mit dem Satz :„I think it's dreadful of the Americans to have done it. I think it is madness on their part.“ Hierauf antworteten Ihre Kollegen Heisenberg und Hahn: „One can't say that. One can equally well say 'That's the quickest way of ending the war`.“ (Heisenberg) „That's what consoles me.“ (Hahn)

Drei Fragen habe ich an Sie, Herr von Weizsäcker: Haben Sie Ihre Position bis heute beibehalten? Haben Sie damals zwischen den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki unterschieden? Und: Wie war Ihre unmittelbare Reaktion auf die Atombombenabwürfe?

von Weizsäcker: Hiroshima, als Angriff auf eine bewohnte Stadt, war für mich ein tiefer Schock. Und die Bombe war früher da, als ich inzwischen gehofft hatte. Meine Erwartungen A und B waren erfüllt. Nun ist C die große Aufgabe.

Kubbig: In Ihren „Unabgeschlossenen Aufzeichnungen vom August 1945“, die Sie erstmals in Ihrem Sammelband „Der bedrohte Friede“ (München 1981, S. 17ff.) veröffentlichten, haben Sie geschrieben (S. 17 bzw. S. 20): „Heute tragen wir, und zwar jeder von uns, der geholfen hat, die Kenntnis des Atomkerns zu fördern, mit an der Schuld am Tode von 90.000 Männern, Frauen und Kindern, mit an Verwundung und der Heimatlosigkeit von Hunderttausenden. (…) Die Verantwortung für das, was im August 1945 in Japan geschehen ist, kann von der Gruppe, die die Bombe entwickelt hat, nicht genommen werden.“

Drei Fragen hierzu, Herr von Weizsäcker: 1. Gibt es so etwas wie eine »Kollektivverantwortung« oder gar »Kollektivschuld« aller an den damaligen Atomprogrammen beteiligten Physiker? 2. Sprechen Sie den US-Wissenschaftlern im Hinblick auf Hiroshima und Nagasaki eine besondere Verantwortung zu? 3. Hätte es das US-Atomwaffenprogramm ohne das deutsche Atomwaffenprogramm gegeben – und wenn ja, hätte das aus Ihrer Sicht notwendigerweise nach sich ziehen müssen, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren (wie Sie sicherlich wissen, ist in den USA eine neue Diskussion über die Zielpolitik der US-Regierungen ab 1943 entbrannt: einem gefundenen Dokument zufolge soll Japan – und nicht Deutschland – bereits 1943 als Ziel für amerikanische Bombenabwürfe bestimmt worden sein; das war zu einem Zeitpunkt, als die USA noch nicht sicher sein konnten, daß Deutschland kapituliert – die US-Entscheidungsträger ließen sich dabei von der Überlegung leiten, daß eine über Deutschland abgeworfene Atombombe Ihnen und Ihren Kollegen zuviel atomares Wissen zuspielen würde).

von Weizsäcker: 1.) Es gibt keine legale, keine von außen vorwerfbare Kollektivverantwortung. Aber wer von uns darf damit sein spontanes Mitschuld-Empfinden verdrängen? Dieses Empfinden ist eine Gewissenspflicht.

2.) Natürlich hatten die Physiker, die die Bombe faktisch hergestellt haben, den meisten Anlass zu solchen Gewissensregungen. Und sie wandten sich alsbald der Friedenssicherung als Hauptpflicht zu. Nur das war für sie der Trost, ja die dann mit der Atombombe verbundene Hoffnung.

3.) Das amerikanische Atomwaffenprogramm war eine Folge der Sorge vor einem deutschen Programm. Aber im Grunde wußten wir alle das, was ich gelegentlich so ausgedrückt habe: „Hitler vergeht, aber die Bombe besteht.“ Ich erwartete 1945 einen baldigen Krieg zwischen Amerika und Rußand. Vielleicht ist er wirklich nur durch die Existenz der Bombe einige Jahrzehnte lang vermieden worden. Aber das war niemals die endgültige Lösung. Die politische Moral muß sich so radikal verändern, wie es seit Jahrtausenden nur die Hochreligionen zu denken gewagt haben.

Kubbig: Wie sind Sie nach 1945 auf Ihre japanischen Kollegen und auf Überlebende von Hiroshima und Nagasaki zugegangen und wie jene auf Sie?

von Weizsäcker: Ich hatte leider keinen Kontakt mit Japanern in oder kurz nach dem Krieg.

Über Carl Friedrich von Weizsäcker
Carl Friedrich von Weizsäcker, geb. 1912, war Schüler und Kollege Werner Heisenbergs, bei dem er bereits 1933 promovierte. Neben Heisenberg gehörte von Weizsäcker zu den wichtigsten Physikern des Atomprogramms im Dritten Reich. Nach der Kapitulation internierten ihn die Alliierten mit den anderen führenden Atomwissenschaftlern auf dem britischen Landsitz »Farm Hall«. Dort erfuhr er von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki als Resultat der Forschungen, die er selbst auch betreiben wollte.
Nach dem Krieg wird von Weizsäcker als Physiker, Philosoph und – später – Friedensforscher zu einer der wichtigsten Leitfiguren der Bundesrepublik. 1957 organisiert er mit der „Erklärung der Göttinger Achtzehn“ den Protest führender Physiker – unter ihnen Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg – gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik. Von 1970 bis 1980 leitet er das eigens für ihn in Starnberg geschaffene Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt. Von Weizsäcker hat sich beständig mit der Nuklearfrage auseinandergesetzt, in den letzten Jahren auch selbstkritisch mit seiner eigenen Rolle als Atomphysiker im Dritten Reich.

Dieses schriftliche Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker führte Dr. Bernd W. Kubbig.

Der »Franck Report«

Der »Franck Report«

Ein Bericht an den Kriegsminister, Juni 1945

von J. Franck • E. Rabinowitch • D. Hughes • G. Seaborg • L. Szilard • J.J. Nickson • J. Stearns

Nicht alle Wissenschaftler, die von der Bombe wußten oder daran arbeiteten, befürworteten ihren Einsatz. Eine Gruppe von damals sehr anerkannten Wissenschaftlern an der Universität Chicago unter der Leitung von James Franck und unter Mitarbeit von Leo Szilard, die sich große Sorgen bezüglich eines Atomkrieges machten, verfaßten im Juni 1945 einen Bericht, der an den Kriegsminister der USA gerichtet war. In Ihrem engagierten Bericht fordern Sie ein internationales Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen, welches die internationale Kontrolle der Atomwaffen einschloß, u.a. um ein atomares Wettrüsten, welches Sie bereits damals voraussahen, zu verhindern. Sie rieten von einem Einsatz in Japan ab und schlugen als Alternative als Abschreckungsmaßnahme für alle Völker der Welt eine Demonstration irgendwo über unbewohntem Gebiet vor, dem Vertreter aller Staaten beiwohnen sollten. Der Bericht, der im folgenden abgedruckt wird, blieb wirkungslos.

I. Einleitung

Der einzige Grund, weshalb die Kernenergie anders zu behandeln ist als die übrigen Sachgebiete der Physik, liegt in der Möglichkeit, daß sie im Frieden politischem Druck und im Kriege plötzlicher Zerstörung dienen kann. Alle gegenwärtigen Pläne zur Organisation der Forschung, der wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung und der Publizierung auf dem Gebiet der Kernphysik sind bedingt durch das politische und militärische Klima, in dem diese Pläne verwirklicht werden sollen. Wenn man also Vorschläge für die nach dem Kriege zu schaffende Organisation der Kernphysik macht, so läßt sich eine Diskussion der politischen Probleme nicht vermeiden. Die auf diese Organisation hinarbeitenden Wissenschaftler geben nicht vor, in der nationalen und internationalen Politik sachverständig zu sein. Wir, eine kleine Gruppe von Staatsbürgern, haben jedoch in den letzten fünf Jahren unter dem Zwang der Ereignisse eine ernste Gefahr für die Sicherheit unseres Landes und für die Zukunft aller anderen Nationen erkannt, eine Gefahr, von der die übrige Menschheit noch nichts ahnt. Wir halten es daher für unsere Pflicht, darauf zu drängen, daß die politischen Probleme, die sich aus der Beherrschung der Kernenergie ergeben, in all ihrer Schwere begriffen und daß geeignete Schritte zu ihrer Untersuchung und zur Vorbereitung der nötigen Entschlüsse unternommen werden. Wir hoffen, daß das durch den Kriegsminister gegründete Komitee, welches die verschiedenen, aus der Kernphysik erwachsenden Fragen zu behandeln hat, ein Beweis dafür ist, daß diese einschneidenden Folgen von der Regierung erkannt worden sind. Wir glauben, daß unser Vertrautsein mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen dieser Situation, der stetigen Weiterentwicklung und den daraus entstehenden weltumspannenden politischen Verwicklungen uns die Pflicht auferlegt, diesem Komitee etliche Vorschläge zu einer eventuellen Lösung dieser schwerwiegenden Frage zu unterbreiten.

Wiederholt hat man den Wissenschaftlern den Vorwurf gemacht, die Nationen mit neuen Waffen zu ihrer wechselseitigen Vernichtung versorgt zu haben, anstatt zu ihrem Wohlergehen beizutragen. Es stimmt zweifellos, daß zum Beispiel die Erfindung des Fliegens der Menschheit mehr Unglück als Freude und Gewinn gebracht hat. In der Vergangenheit jedoch konnten die Wissenschaftler jede unmittelbare Verantwortung für den Gebrauch, den die Menschheit von ihren uneigennützigen Entdeckungen machte, ablehnen. Jetzt aber sind wir gezwungen, einen aktiven Standpunkt einzunehmen, weil die Erfolge, die wir auf dem Gebiet der Kernenergie errungen haben, mit unendlich viel größeren Gefahren verbunden sind als bei den Erfindungen der Vergangenheit. Wir alle, die wir den augenblicklichen Stand der Kernphysik kennen, leben ständig mit der Vision einer jähen Zerstörung vor Augen, einer Zerstörung unseres eigenen Landes, einer Pearl-Harbor-Katastrophe, die sich in tausendfacher Vergrößerung in jeder Großstadt unseres Landes wiederholen könnte.

Überdies vermochte die Wissenschaft in der Vergangenheit häufig neue Methoden zum Schutze gegen die neuen Angriffswaffen zu entwickeln – Waffen, deren Vorhandensein sie erst ermöglicht hatte; doch gegen die zerstörende Kraft der Kernenergie kann sie keinen wirksamen Schutz versprechen. Dieser Schutz wird ausschließlich von einer weltumfassenden politischen Organisation geboten werden können. Unter allen Argumenten, die für eine leistungsfähige internationale Friedensorganisation sprechen, ist die Existenz der Kernwaffen die zwingendste. Da es bisher keine internationale Behörde gibt, die bei internationalen Konflikten jede Anwendung von Gewaltmitteln unmöglich zu machen hätte, könnten die Nationen doch noch immer von einem Weg abgebracht werden, der lediglich in die restlose gegenseitige Vernichtung führt – vorausgesetzt, es würde ein besonderes internationales Abkommen getroffen, das ein Kernwaffen-Wettrüsten verhinderte.

II. Aussichten eines Kernwaffenwettrüstens

Man könnte folgenden Vorschlag unterbreiten: Die Gefahr einer Zerstörung durch Kernwaffen – wenigstens soweit sie unser Land betrifft – ließe sich dadurch vermeiden, daß wir entweder unsere Entdeckungen für immer geheimhalten oder unsere Kernwaffen-Aufrüstung so weit vorantreiben, daß keine andere Nation auch nur daran dächte, uns anzugreifen – aus Furcht vor einer katastrophalen Vergeltung.

Die Antwort auf diesen Vorschlag lautet: Wenn wir auch im Augenblick in dieser Beziehung der Welt sicherlich voraus sein dürften, so sind doch die Grundlagen der Kernenergie allgemein bekannt. Die britischen Forscher wissen ebenso viel wie wir über die grundlegenden, im Krieg gemachten Fortschritte in der Kernphysik – womöglich sind sie sogar über bestimmte Ergebnisse unterrichtet, die im Verlauf unserer technischen Fortschritte erzielt wurden; und die Rolle, die französische Kernphysiker während der Vorkriegsentwicklung auf diesem Gebiet gespielt haben – ganz abgesehen von ihrer teilweisen Kenntnis unserer Arbeiten – wird es ihnen erlauben, schnellstens aufzuholen, wenigstens soweit es die grundlegenden wissenschaftlichen Entdeckungen betrifft. Die deutschen Wissenschaftler, auf deren Forschungsergebnisse die ganze Entwicklung der Kernphysik zurückgeht, bauten sie offenbar während des Krieges nicht in demselben Maße aus, wie dies in Amerika der Fall war; aber wir lebten doch bis zum letzten Tage des europäischen Krieges in ständiger Furcht, den Deutschen könnte die Herstellung einer Kernwaffe gelungen sein. Die Gewißheit, daß die deutschen Forscher an dieser Waffe arbeiteten und daß ihre Regierung höchstwahrscheinlich keine Skrupel kennen würde, sie bei Vorhandensein auch anzuwenden, war der vornehmliche Grund zu der von den amerikanischen Wissenschaftlern ergriffenen Initiative, die Kernenergie weiterzuentwickeln und sie zu militärischen Zwecken großen Umfangs für unser Land auszuwerten. Auch in Rußland waren bereits 1940 die grundlegenden Fakten und die Bedeutung der Kernenergie durchaus bekannt, und die Erfahrung der russischen Wissenschaftler in der Kernforschung ist immerhin so groß, daß sie uns in wenigen Jahren einholen könnten, selbst wenn wir alle Anstrengungen machten, unsere Versuche geheimzuhalten. Denn selbst wenn wir die Führung innerhalb der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kernphysik für einige Zeit nicht aus der Hand gäben, indem wir alle erworbenen Erkenntnisse und die damit verbundenen Projekte geheimhielten, wäre es töricht, zu glauben, dadurch für mehr als ein paar Jahre geschützt zu sein.

Es wäre zu überlegen, ob wir nicht die Entwicklung einer in anderen Ländern vom Militär ausgenutzten Kernphysik durch ein Monopol auf den Rohstoff der Kernenergie verhüten könnten. Die Antwort heißt: Obwohl die größten bis jetzt bekannten Uranerzlager von Staaten kontrolliert werden, die zu den Westmächten gehören (Kanada, Belgien und Britisch Indien), liegen doch die alten Lager der Tschechoslowakei außerhalb dieses Einflußbereiches. Es ist bekannt, daß Rußland in seinem eigenen Land Uran schürft; und wenn wir auch nichts von dem Umfang der bis heute in der UdSSR entdeckten Lager wissen, so ist doch die Wahrscheinlichkeit gering, daß in einem Land, welches ein Fünftel der Erde einnimmt (und dessen Einflußsphäre sich auch noch über zusätzliche Gebiete erstreckt), keine großen Uranvorräte gefunden werden sollten; ein Sicherheitsfaktor jedenfalls darf dies nicht sein. So können wir nicht hoffen, ein Kernwaffen-Wettrüsten zu verhindern, indem wir entweder die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Feld der Kernenergie vor den konkurrierenden Nationen geheimhalten oder die für ein derartiges Wettrüsten nötigen Rohstoffe aufkaufen.

Untersuchen wir nun den zweiten Vorschlag, der zu Beginn dieses Absatzes gemacht wurde, und fragen wir uns, ob wir uns bei einem Kernwaffen-Wettrüsten nicht sicher fühlen können, weil wir über ein größeres Industriepotential, einschließlich einer größeren Verbreitung von wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen, über größere Aufgebote an Fachkräften und eine erfahrenere Betriebsführung verfügen – lauter Faktoren also, deren Bedeutung einleuchtend demonstriert wurde, als sich unser Land während des Krieges in ein Arsenal der Alliierten verwandelte. Die Antwort lautet: Alles, was uns diese Vorteile verschaffen können, ist die Ansammlung einer größeren Zahl von gewaltigeren und besseren Atombomben.

Solch ein quantitativer Vorsprung an gestapelten Zerstörungswaffen sichert uns jedoch nicht vor einem plötzlichen Angriff. Gerade weil ein möglicher Feind befürchten könnte, an Zahl und Waffen ausgestochen zu werden, dürfte die Versuchung, einen unerwarteten und keinesfalls herausgeforderten Angriff zu wagen, besonders groß sein – vor allem dann, wenn er uns verdächtigte, aggressive Pläne gegen seine Sicherheit oder seine Einflußsphäre zu hegen. Bei keiner anderen Art der Kriegführung liegt der Vorteil so eindeutig beim Angreifer. Er kann seine »Höllenmaschine« als erster auf alle unsere Großstädte einsetzen und sie gleichzeitig explodieren lassen, womit er die Schwerpunkte unserer Industrie und außerdem einen großen Teil unserer Bevölkerung vernichten würde, die in den dichtbesiedelten Gebieten unserer Städte zusammengedrängt lebt. Unsere Vergeltungsmöglichkeiten – Vergeltung als adäquater Ausgleich für den Verlust von Millionen Menschenleben und für die Zerstörung unserer größten Städte verstanden – wären sehr gering, weil wir vom Lufttransport der Bomben abhängig wären, und weil wir es überdies mit einem Feind zu tun haben könnten, dessen Industrie und Bevölkerung über große Territorien zerstreut sind.

Wenn man das Kernwaffen-Wettrüsten zuläßt, dann gibt es nur einen Weg, unser Land vor der Vernichtung durch einen plötzlichen Angriff zu retten: Wir müssen unsere Kriegsindustrie sowie die Bevölkerung unserer größten Städte über weite Gebiete verteilen. Solange Kernwaffen rar sind (das heißt, solange Uran der einzige Rohstoff zu ihrer Herstellung bleibt), solange wird eine erfolgreiche Zerstreuung unserer Industrie und der Bevölkerung unserer größten Städte die Versuchung, uns mit Kernwaffen anzugreifen, zumindest sehr herabsetzen.

Gegenwärtig kommt die Wirkung einer Atombombe der Detonation von zwanzigtausend Tonnen TNT gleich. Also könnte eine solche Bombe etwa drei Quadratmeilen einer Stadt zerstören. Man darf erwarten, daß bis in etwa zehn Jahren Atombomben zur Verfügung stehen, die eine wesentlich höhere Radioaktivität besitzen und doch immer noch leichter als eine Tonne sein werden und die somit über zehn Quadratmeilen einer Stadt zerstören könnten. Eine Nation also, die es sich leisten kann, zehn Tonnen Atomsprengstoff zu einem heimtückischen Angriff auf unser Land aufzubringen, darf mit der Möglichkeit rechnen, die ganze Industrie und den größten Teil der Bevölkerung in einem Gebiet von fünfhundert Ouadratmeilen und mehr zu vernichten. Wenn nun aber fünfhundert Quadratmeilen amerikanischen Bodens kein rechtes Angriffsziel böten, weil auf dieser Fläche weniger Industrie und nur verhältnismäßig wenig Menschen angesiedelt wären und daher kein vernichtender Schlag gegen das Kriegspotential und die nationale Verteidigungskraft geführt werden könnte, dann würde sich der Angriff kaum lohnen und vielleicht gar nicht unternommen werden. Augenblicklich jedoch könnte man in unserem Land mühelos hundert Gebiete von je fünf Quadratmeilen finden, deren gleichzeitige Vernichtung sich für unsere Nation niederschmetternd auswirken würde. Da aber die Vereinigten Staaten ein Gebiet von drei Millionen Quadratmeilen umfassen, sollte es möglich sein, ihre Industrie und ihre Bevölkerung so zu verteilen, daß keine fünfhundert Quadratmeilen übrigbleiben, die einem Angriff mit Kernwaffen ein lohnendes Ziel bieten könnten.

Wir sind uns durchaus bewußt, daß eine solch radikale soziale und wirtschaftliche Veränderung in der Struktur unserer Nation außerordentliche Schwierigkeiten mit sich brächte. Wir sind jedoch der Ansicht, daß auf dieses Dilemma hingewiesen werden muß, weil nur so klar wird, für welche Art des Selbstschutzes man sich zu entscheiden hat – wiederum vorausgesetzt, daß keine erfolgreiche internationale Verständigung zu erreichen ist. Es muß dabei hervorgehoben werden, daß wir gegenüber den anderen Nationen im Nachteil sind; denn die anderen Länder sind entweder dünner besiedelt und ihre Industrien mehr verstreut, oder ihre Regierungen verfügen über eine uneingeschränkte Macht, wodurch es ihnen möglich ist, die Bevölkerung über das ganze Land zu verteilen und den Aufbau von Industrien zu überwachen.

Sollte kein wirkungsvolles internationales Abkommen erzielt werden, so wird bereits am Morgen nach unserer ersten Demonstration, daß wir Kernwaffen besitzen, das allgemeine Wettrüsten losgehen. Die anderen Nationen werden dann vielleicht drei oder vier Jahre brauchen, um uns einzuholen, und acht oder zehn Jahre, bis sie womöglich mit uns Schritt halten können – selbst wenn wir fortfahren, angestrengt auf diesem Gebiet zu arbeiten. Diese Spanne würde jedoch genügen, unsere Bevölkerung und Industrie zu verlagern. Jedenfalls sollte keine Zeit verloren werden, dieses Problem von Experten prüfen zu lassen.

III. Aussichten einer Verständigung

Die Folgen eines Atomkrieges und die Maßnahmen, die zum Schutze eines Landes vor seiner totalen Zerstörung durch Kernwaffen notwendig sind, dürften wohl auch den anderen Nationen genauso erschreckend erscheinen wie den Vereinigten Staaten. England, Frankreich und die kleineren dichtbesiedelten Staaten Europas mit ihren konzentriert gelagerten Industrien wären angesichts solcher Bedrohung in einer furchtbaren Lage. Rußland und China sind die einzigen großen Nationen, die im Augenblick einen Angriff mit Kernwaffen überstehen würden. Aber wenn auch diese Nationen das Leben eines Menschen nicht so hoch einschätzen mögen wie die Völker Westeuropas und Amerikas und wenn auch Rußland ein riesiger Raum zur Verfügung steht, über den es seine wichtigen Industrien verteilen kann, und außerdem eine Regierung hat, die eine solche Verlagerung an dem Tag zu befehlen vermag, da sie von der Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt ist – so gibt es doch trotz alledem keinen Zweifel, daß auch Rußland vor der Möglichkeit einer plötzlichen Zerstörung Moskaus und Leningrads, die im gegenwärtigen Krieg wunderbarerweise fast erhalten geblieben sind, und seiner neuen Industriestädte im Ural und in Sibirien erschaudert. So kann es also nur der Mangel an gegenseitigem Vertrauensein, nicht aber der mangelnde Wunsch nach Verständigung, der einem wirkungsvollen Abkommen über die Verhütung eines Atomkrieges im Wege steht. Das Zustandekommen eines solchen Abkommens hängt daher im wesentlichen von der Rechtschaffenheit der Absichten und von der Bereitschaft aller Partner ab, ihre Souveränität zu einem gewissen Teil zu opfern.

Eine Möglichkeit, die Welt mit der Kernwaffe bekannt zu machen – einleuchtend vor allem für jene, die Atombomben vorwiegend als eine Geheimwaffe betrachten, die lediglich dazu entwickelt wurde, den gegenwärtigen Krieg zu gewinnen –, besteht darin, sie ohne Ankündigung gegen geeignete Ziele in Japan einzusetzen.

Wenn auch durch den unerwarteten Einsatz von Kernwaffen zweifellos wichtige taktische Ergebnisse errungen werden könnten, so glauben wir dennoch, daß die Anwendung der ersten verfügbaren Atombomben im japanischen Krieg sorgfältig erwogen werden sollte – nicht nur von militärischen Sachverständigen, sondern auch von den höchsten politischen Vertretern unseres Landes.

Rußland, aber auch die zu den Alliierten gehörenden Länder, die unseren Wegen und Plänen weniger mißtrauen, und schließlich die neutralen Länder, sie alle werden von diesem Schritt wahrscheinlich schwer erschüttert sein. Es dürfte sehr schwierig sein, die Welt davon zu überzeugen, daß man einer Nation, die eine neue Waffe insgeheim vorzubereiten und plötzlich anzuwenden in der Lage war – eine Waffe, die so diskriminierend ist wie die Raketenbombe, nur daß ihre vernichtende Wirkung tausendmal größer ist –, in ihrem Wunsch vertrauen soll, derartige Waffen auf Grund eines internationalen Abkommens abzuschaffen. Wir verfügen über große Mengen Giftgas, aber wir wenden es nicht an; vor kurzem erhobene Befragungen haben ergeben, daß die öffentliche Meinung in unserem Land dies mißbilligen würde, selbst wenn damit der siegreiche Ausgang des Krieges im Fernen Osten beschleunigt werden könnte. Es stimmt zwar, daß ein irrationales Element in der Massenpsychologie Gasvergiftungen schrecklicher erscheinen läßt als eine Vernichtung durch Sprengstoff, obwohl ein Gaskrieg in keiner Weise »unmenschlicher« wäre als ein Krieg mit Bomben und Kugeln. Dennoch ist es keinesfalls sicher, ob die amerikanische Öffentlichkeit, würde man ihr die Wirkung von Atombomben erklären, damit einverstanden wäre, daß unser Land als erstes eine solch verwerfliche Methode der restlosen Zerstörung jeglicher Zivilisation einführte.

Vom »optimistischen« Standpunkt aus (das heißt, wenn man dabei an ein internationales Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen denkt) könnten also die militärischen Vorteile und die Ersparnis amerikanischer Menschenleben – Vorteile, die durch eine plötzliche Anwendung von Atombomben im Krieg gegen Japan errungen würden – aufgehoben werden durch den darauffolgenden Vertrauensverlust und eine Welle des Schreckens und Widerwillens, die sich über die übrige Welt ergösse und die vielleicht sogar die öffentliche Meinung in der Heimat spaltete.

Im Hinblick darauf wäre zu empfehlen, die neue Waffe in der Wüste oder auf einer unbewohnten Insel vor den Augen der Abgeordneten aller Vereinten Nationen vorzuführen. Die günstigste Atmosphäre für das Zustandekommen eines internationalen Abkommens ließe sich dadurch schaffen, daß Amerika der Welt erklären könnte: „Ihr seht, was für eine Waffe wir besaßen, aber wir haben sie nicht angewandt. Wir sind bereit, sie auch in Zukunft nicht anzuwenden, wenn sich die anderen Nationen uns darin anschließen und in die Gründung einer wirkungsvollen internationalen Kontrolle einwilligen.“

Nach dieser Vorführung könnte die Waffe eventuell gegen Japan angewandt werden – sofern dies von den Vereinten Nationen (und der öffentlichen Meinung in der Heimat) gebilligt würde; vielleicht erst nach einem Ultimatum an Japan, sich zu ergeben oder, als Alternative zu einer völligen Zerstörung, wenigstens gewisse Gebiete zu räumen. Dies mag phantastisch klingen, aber mit den Kernwaffen haben wir tatsächlich eine ganz neuartige gewaltige Zerstörungskraft gewonnen, und wenn wir ihren Besitz voll einsetzen wollen, dann müssen wir auch neue und neuartige Methoden ersinnen.

Es muß betont werden, daß vom pessimistischen Standpunkt aus und bei nur geringer Möglichkeit, eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die Kernwaffen zu schaffen, der baldige Einsatz von Atombomben gegen Japan bloß noch fragwürdiger wird – ganz abgesehen von irgendwelchen humanen Erwägungen. Wenn nicht gleich nach der ersten Demonstration ein internationales Abkommen zustande kommt, bedeutet dies einen fliegenden Start zu einem hemmungslosen Aufrüstungswettlauf. Wenn aber dieses Rennen nun einmal unvermeidlich ist, dann haben wir allen Grund, seinen Start so lange wie möglich hinauszuschieben, um unsere Vorrangstellung noch weiter voranzutreiben.

Der Vorteil für unsere Nation und die zukünftige Schonung amerikanischer Menschenleben, die wir uns dadurch erringen könnten, daß wir auf eine baldige Anwendung der Atombombe verzichten und die anderen Nationen nur zögernd ins Rennen kommen lassen – allein auf der Basis von Vermutungen und ohne sicheres Wissen, daß »das Ding funktioniert« –, dürfte die Vorteile, die durch eine sofortige Anwendung der ersten und verhältnismäßig schwachen Bomben im Krieg gegen Japan gewonnen würden, bei weitem aufwiegen. Andererseits mag entgegengehalten werden, daß es ohne eine solche baldige Demonstration schwierig sein dürfte, die nötige Unterstützung für die weitere Entwicklung der Kernphysik in unserem Lande zu erhalten; und wiederum könnte dadurch die Zeit bis zu dem verzögerten Start eines allgemeinen Aufrüstungswettlaufs nicht voll genutzt werden. Weiterhin darf man annehmen, daß die anderen Nationen jetzt oder zumindest sehr bald unsere augenblicklichen Errungenschaften nicht ganz übersehen können und daß somit die Verzögerung einer Vorführung nicht gerade nützlich wäre, sofern dabei an einen Aufrüstungswettlauf gedacht wird, ja daß unsere Verzögerungstaktik nur zusätzliches Mißtrauen schüfe und sich somit die Chancen, zu einer schließlichen Übereinstimmung in der internationalen Kontrolle von Kernsprengstoffen zu gelangen, eher verschlechterten.

Wenn man also die Aussichten für ein Abkommen in allernächster Zukunft für gering erachtet, dann müssen Pro und Contra einer baldigen, für die ganze Welt bestimmten Enthüllung unseres Kernwaffenbesitzes – nicht nur durch ihre tatsächliche Anwendung gegen Japan, sondern auch durch eine vorher eingeleitete Demonstration – von den höchsten politischen und militärischen Vertretern des Landes sorgfältig erwogen werden; jedenfalls sollte der Entschluß nicht allein vom taktischen Gesichtspunkt aus gefällt werden.

Man könnte erwidern, daß die Wissenschaftler ja selbst die Entwicklung dieser »Geheimwaffe« angeregt haben und daß es daher merkwürdig erscheint, wenn sie zögern, sie am Feind auszuprobieren, sobald sie zur Verfügung steht. Die Antwort auf diesen Einwand wurde bereits gegeben: Der zwingende Grund, diese Waffe mit solcher Eile zu schaffen, war unsere Furcht, Deutschland könne die nötigen technischen Kenntnisse zur Entwicklung einer solchen Waffe haben und die deutsche Regierung keine moralischen Bedenken hegen, sie einzusetzen.

Ein weiteres Argument, das zugunsten einer Anwendung der Atombombe, sobald sie erst einmal verfügbar ist, sprechen könnte, wäre folgendes: In diese Projekte haben die Steuerzahler so viel Geld hineingesteckt, daß der Kongreß und das amerikanische Volk nun endlich sehen wollen, wo ihr Geld geblieben ist. Die bereits erwähnte Haltung der amerikanischen öffentlichen Meinung hinsichtlich eines Gaskrieges gegen Japan beweist jedoch, daß man von den Amerikanern Verständnis dafür erwarten kann, wie wichtig es manchmal ist, eine Waffe nur für den äußersten Notfall bereitzuhalten; und sobald die Bedeutung der Kernwaffen dem amerikanischen Volk offenbart wird, darf man sicher sein, daß es alle Versuche unterstützt, die Anwendung solcher Waffen unmöglich zu machen.

Wenn dies erst einmal erreicht ist, dann sollen die großen Anlagen und Ansammlungen von Explosivstoffen, die augenblicklich zum eventuellen militärischen Einsatz bereitgehalten werden, ausschließlich für bedeutende Entwicklungen im Frieden zur Verfügung stehen – samt der Energiegewinnung, den großen Maschinenbauten und der Massenproduktion radioaktiven Materials. Auf diese Weise könnte das zu Kriegszwecken für die Entwicklung der Kernphysik ausgegebene Geld eine Spende für die Entwicklung der nationalen Wirtschaft im Frieden sein.

IV. Arbeitsweisen einer internationalen Kontrolle

Betrachten wir nun die Frage, wie eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die Aufrüstung mit Kernwaffen erreicht werden kann. Ein schwieriges Problem, aber wir halten es für lösbar. Es verlangt von den Staatsmännern und internationalen Rechtsgelehrten eine sorgsame Untersuchung, und wir können für diese lediglich einige einleitende Ratschläge bieten.

Vorausgesetzt, daß auf allen Seiten gegenseitiges Vertrauen und guter Wille vorhanden sind, einen gewissen Teil der Souveränität aufzugeben, d. h. eine internationale Kontrolle über bestimmte Zweige der Volkswirtschaft anzuerkennen, könnte die Kontrolle – alternativ oder simultan – auf zwei verschiedenen Ebenen durchgeführt werden.

Der erste und wohl einfachste Weg ist die Rationierung der Rohstoffe – vor allem des Uranerzes. Die Produktion von nuklearem Sprengstoff beginnt mit der Gewinnung großer Uranmengen in gewaltigen Isotopentrennungsgeräten oder riesigen Atommeilern. Die Erzmengen, die an den verschiedenen Orten gewonnen werden, ließen sich leicht von den dort ansässigen Mitgliedern des internationalen Kontrollausschusses überwachen; außerdem dürfte jede Nation nur eine begrenzte Menge erhalten, so daß eine im großen Stil durchgeführte Trennung von spaltbaren Isotopen von vornherein unmöglich wäre.

Solch eine Begrenzung hätte den Nachteil, daß dadurch die Gewinnung von Kernenergie auch für friedliche Zwecke unmöglich gemacht würde. Diese Begrenzung brauchte jedoch eine ausreichende Produktion von radioaktiven Spurenelementen nicht zu verhindern; durch diese Produktion ließen sich Industrie, Wissenschaft und Technik revolutionieren, und somit müßte nicht auf die Hauptvorteile, welche die Kernphysik der Menschheit bringen könnte, verzichtet werden.

Ein Abkommen auf höherer Ebene, das noch größeres gegenseitiges Vertrauen und Verständnis erforderte, würde eine unbeschränkte Produktion erlauben, vorausgesetzt, daß über die Verwendung jedes Pfundes geschürften Urans genau Buch geführt wird. Wenn auf diese Weise auch der Verwandlung von Uran- oder Thorium-Erz in reines radioaktives Material Einhalt geboten ist, so erhebt sich doch die Frage, wie man die Anhäufung von großen Mengen solchen Materials in Händen einer oder mehrerer Nationen verhüten soll. Denn wenn sich eine Nation der internationalen Kontrolle plötzlich entzöge, könnten derartige Anhäufungen sehr schnell zur Herstellung von Atombomben verwendet werden. Es ist vorgeschlagen worden, sich auf eine obligatorische Denaturierung reiner radioaktiver Isotope zu einigen; nach ihrer Gewinnung müßten sie lediglich mit den passenden Isotopen geschwächt und damit für militärische Zwecke wertlos gemacht werden; für den Antrieb von Maschinen dagegen blieben sie nach wie vor verwendbar.

Eines ist klar: Jedes internationale Abkommen zur Verhütung einer Kernwaffenaufrüstung muß durch wirksame und erfolgversprechende Kontrollen unterstützt werden. Ein lediglich auf dem Papier bestehendes Abkommen hat wenig Sinn, denn weder unsere noch eine andere Nation kann ihre Existenz auf dem Vertrauen zur Unterschrift einer anderen Nation aufbauen. Jeder Versuch, die internationalen Kontrollstellen zu behindern, müßte als ein Verrat an diesem Abkommen geahndet werden. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß wir als Wissenschaftler der Meinung sind, jedes ins Auge gefaßte Kontrollsystem zur friedlichen Entwicklung der Kernphysik müßte noch so viel Freiheit lassen, wie mit der Sicherheit der Welt zu vereinbaren ist.

V. Zusammenfassung

Die Entwicklung der Kernenergie bedeutet nicht nur eine Steigerung der technologischen und militärischen Kraft Amerikas, sondern schafft auch ernste politische und wirtschaftliche Probleme für die Zukunft unseres Landes.

Nukleare Bomben können keinesfalls länger als einige Jahre eine »Geheimwaffe« zum ausschließlichen Nutzen unseres Landes bleiben. Die wissenschaftlichen Voraussetzungen, auf denen ihre Konstruktion basiert, sind den Forschern anderer Länder wohlbekannt. Wenn nicht eine wirkungsvolle internationale Kontrolle über die nuklearen Sprengstoffe geschaffen wird, ist es gewiß, daß unmittelbar auf die für die ganze Welt erstmalige Enthüllung unseres Besitzes von Kernwaffen ein allgemeines Aufrüsten einsetzen wird. Bis in zehn Jahren können dann andere Länder ebenfalls Kernwaffen besitzen, von denen jede ein Stadtgebiet von mehr als zehn Quadratmeilen zerstören kann und dabei nicht einmal eine Tonne zu wiegen braucht. In dem Krieg, zu dem solch ein Wettrüsten wohl führen würde, wären die Vereinigten Staaten durch ihre Bevölkerungsansammlungen und Industrieanhäufungen in verhältnismäßig wenig Städten im Nachteil verglichen mit Nationen, deren Bevölkerung und Industrie über große Gebiete verteilt sind.

Wir glauben, daß diese Überlegungen nicht dafür sprechen, nukleare Bomben in einem baldigen, unvorhergesehenen Angriff gegen Japan einzusetzen. Wenn die Vereinigten Staaten das erste Land wären, welches diese neuen Mittel zur rücksichtslosen Zerstörung der Menschheit anwendete, würden sie auf die Unterstützung aller Welt verzichten, den Aufrüstungswettlauf beschleunigen und die Chancen für ein künftiges internationales Abkommen zur Kontrolle derartiger Waffen zunichte machen.

Wenn man jedoch diese Chancen für das Zustandekommen einer wirkungsvollen internationalen Kernwaffenkontrolle gegenwärtig als gering betrachtet, dann dürfte nicht nur die Anwendung solcher Waffen gegen Japan, sondern auch ihre baldige Anwendung den Interessen unseres Landes entgegenstehen. In solch einem Fall hätte eine Verzögerung den Vorteil, daß der Start zu einem Kernwaffen-Wettrüsten so weit wie möglich hinausgeschoben werden kann.

Sollte sich die Regierung zu einer baldigen Vorführung der Kernwaffen entscheiden, hätte sie die Möglichkeit, die öffentliche Meinung unseres Landes und anderer Nationen kennenzulernen und sie in Betracht zu ziehen, bevor sie sich entschlösse, diese Waffen gegen Japan einzusetzen. Auf diese Weise könnten die anderen Nationen einen Teil der Verantwortung für solch einen schicksalhaften Entschluß auf sich nehmen.

Verfaßt und unterschrieben von: J. Franck • E. Rabinowitch • D. Hughes G. Seaborg • L. Szilard • J.J. Nickson • J. Stearns

„Beeilt Euch, Genossen!“

„Beeilt Euch, Genossen!“

Stalins Atombombenprogramm

von Igor N. Golovin

Ende der dreißiger Jahre begann ich die Anwärterschaft der Moskauer Universität und war mit der Theorie der Kernkräfte unter Leitung eines der größten russischen theoretischen Physikers der Zeit, Igor Tamm, beschäftigt. Dann besuchte ich regelmäßig jede Woche das Kernphysikseminar im physikalischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. Das Seminar leiteten Skobelzin und Tamm. Als Mitglieder hatten Frank, Weksler, Cherenkov und andere aktive Experimentatoren und Theoretiker teilgenommen.

Im Januar 1939 veröffentlichte die Zeitschrift „Naturwissenschaften“ die erstaunliche Nachricht über die Entdeckung von Hahn und Straßmann. Unmittelbar danach wurde klar, daß es möglich ist, die Atomenergie für die Menschheit nutzbar zu machen.

Sofort begannen unsere Kernphysiker in Moskau, Leningrad und Charkov, Experimente auf diesem Gebiet durchzuführen. Im Leningrader Physikalisch-Technischen Institut bei Abraham Ioffe war der aktivste Mitarbeiter I.V. Kurchatov, der mich in mehreren Konferenzen und Seminaren bereits beeindruckt hatte und voller Energie und Geist war. Er widmete seine ganze Kraft und die seiner Labormitarbeiter der Lösung der wichtigen Frage, ob die Kettenreaktion möglich sei. In seinem Labor waren schon im Sommer 1939 die wichtigsten Berechnungen durchgeführt und die Zahl der Neutronen, die durch eine Spaltung frei werden, gemessen worden. Ein wenig später haben mit Kurchatovs Hilfe Flerov und Petrshak die spontane Spaltung ohne Neutronenbestrahlung durchgeführt. Bald danach wurde deutlich, wie wichtig diese Erkenntnisse für die Atombombenentwicklung sind.

Im Institut der physikalischen Chemie, das gerade aus dem Institut von A. Ioffe ausgegliedert worden war und unter Semenovs Leitung stand, arbeiteten zwei junge, sehr begabte Theoretiker: Chariton und Zeldovich. Sie besuchten Kurchatovs Seminar und begannen sofort die Theorie der Kettenreaktion bei der Uranspaltung zu entwickeln. Sie wiesen nach, daß die Reaktion entweder ruhig fließend gesteuert sein kann oder zur Explosion führt. Sie hatten ausgerechnet, daß in beiden Fällen eine riesige Menge Energie frei wird.

Sobald aus den Zeitschriften und Kurchatovs Messungen die notwendigen Werte bekannt wurden, rechneten sie die kritische Uranmasse aus, die notwendig wäre, um eine Explosion auszulösen. Im Juli 1939 erzählte Chariton, daß hierzu ca. 10 kg Uran-235 notwendig sind, und erklärte, daß z.B. im Falle einer solchen Explosion über dem Zentrum Moskaus nicht nur die Stadt vollständig bis zur Stadtgrenze zerstört werden würde, sondern auch die ganze Umgebung. N. Semenov schrieb sofort an das zuständige Ministerium. Er bekam leider keine Antwort.

Der Akademiker Chlopin aus dem Radium-Institut in Leningrad hatte unterdessen die Urankernsplitter sorgfältig identifiziert. Doch die Wissenschaftler Ioffe und Chlopin setzten in der Akademie der Wissenschaften durch, daß eine sogenannte Urankommission gebildet wurde, die einen Plan für die Untersuchung der Kettenreaktion entwickelte. Sie gaben dem Geologen A.E. Fersman den Auftrag, Uranerzlager zu finden.

Die Regierung der Sowjetunion reagierte nicht auf diese Schritte. Im Herbst 1939, vom 15.-20. November, fand in Charkov im Ukrainer Physikalisch-Technischen Institut die alljährliche Kernphysik-Konferenz der Akademie der Wissenschaften statt. Dort versammelten sich 120 Physiker aus 16 Städten der Sowjetunion. Von den ca. 40 Vorträgen beschäftigten sich nur vier mit der Uranspaltung. Es fanden wichtige Diskussionen über die Isotopentrennung statt.

Nach einem Jahr sorgfältiger Untersuchungen zur Uranspaltung fand die nächste Konferenz statt. Vom 20.-26. November 1940 versammelten sich 200 Teilnehmer in Moskau. Von den 40 Vorträgen beschäftigten sich wiederum nur vier mit der Uranspaltung. Doch dieses Mal hielt Kurchatov einen Übersichtsvortrag, in dem seine Schlußfolgerung folgendermaßen lautete: Im Prinzip ist die Frage, ob die Kettenreaktion möglich ist, positiv zu beantworten. Leider gäbe es allerdings große technische Schwierigkeiten, um eine effektive Isotopentrennung für Wasserstoff und Uran zu entwickeln.

Solange Kurchatov die Ergebnisse der Experimente analysierte, wuchs die Spannung im Hörsaal, der bis auf den letzten Platz mit Zuhörern besetzt war. Nachdem Kurchatov seinen Vortrag beendet und den Hörsaal verlassen hatte, begann ein aufgeregtes Gemurmel unter den Zuhörern. Wir fühlten, daß wir an einem großartigen Ereignis teilnahmen.

Der Vorsitzende Chlopin verließ den Saal durch dieselbe Tür wie Kurchatov. Einer nach dem anderen folgten ihm – Ioffe, Lejpunkskij, Chariton und andere. 10 Minuten, 20 Minuten gingen vorbei … Ich hielt es nicht mehr aus und ging auch in das Hinterzimmer. Da war ein Kampf ausgebrochen! Endlich, nach einer halben Stunde, kam Chlopin zurück in den Hörsaal und sagte: „Wir haben die Lage besprochen und sind zu folgendem Schluß gekommen: Obwohl die Resultate sehr wichtig sind, ist es zu früh, sich an die Regierung zu wenden, um in großem Ausmaße die Arbeit weiterzuentwickeln und eine entsprechende Finanzierung einzufordern. In Europa ist Krieg. Die Zeit ist unruhig. Das Geld ist notwendig für andere Dinge.“

Ein enttäuschtes Murren ging durch den Hörsaal. Wie konnte so etwas geschehen? Waren wir eingeschläfert durch die Reden, die besagten, daß unsere Grenzen fest versperrt sind und kein Feind sie durchbrechen kann?

Es scheint mir heute, daß unter uns Physikern nur Chariton, der einige Jahre vorher durch Deutschland gereist war und das Verhalten der Hitlerjugend mit eigenen Augen gesehen hatte, die Gefahr richtig einschätzte. Nachdem er nach Hause kam, verließ er die Kernphysik, die er damals als »abstrakt« empfand, und entwickelte die Theorie der chemischen Kettenreaktionen für Sprengstoffe – Explosionen und Detonationen.

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß bereits ein Jahr bevor uns Chlopin sagte, „es sei zu früh“, Präsident Roosevelt den von Szillard geschriebenen und von Einstein unterzeichneten Brief erhielt, in dem sie die Gefahr beschrieben, daß Hitler die Möglichkeit hatte, eine Atombombe zu bauen!

Von ziviler Wissenschaft war keine Rede mehr

Nachdem am 22. Juni 1941 Hitlers Truppen unsere Grenzen überschritten, unsere Städte bombardierten und das Leiden begann, war von »ziviler Wissenschaft« nicht mehr die Rede. „Alles für den Sieg.“ „Der Feind wird vernichtet.“ Das war auf den Plakaten, die an unseren Häusern klebten, zu lesen.

Im ersten Kriegsplan von Ioffe war folgendes enthalten:

  • Kosyrevs Radarentwicklung fortsetzen;
  • Aleksandrovs Schiffsverteidigung gegen die magnetischen Treibminen anwenden;
  • Kurchatovs Uranuntersuchungen beschleunigen.

Die Institute aus Leningrad, Moskau und Charkov wurden in das tiefe Hinterland verlegt. Alle Atomuntersuchungen wurden gestoppt.

Erst viel später, 1990, habe ich erfahren, daß schon im Herbst 1941 Berija, das Oberhaupt des Geheimdienstes, Stalin informiert hatte, daß er durch seine Agenten Nachrichten über intensive Arbeiten in England und in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Uranbombenerzeugung erhalten hatte. Stalins Antwort war: „Das ist alles Desinformation. Sie wollen unseren Druck gegen Hitler schwächen.“

Im Herbst 1942 hatte Berija dann bereits so viele Dokumente über die Arbeit an der Uranbombe durch seine Agenten erhalten, daß Stalin endlich zu dem Ergebnis kam, daß solch eine Waffe noch in diesem Krieg große Bedeutung erlangen werde.

Im Januar 1943 versammelte er bei sich vier Wissenschaftler: Ioffe, Chlopin, Kapiza und Vernadskij und fragte sie, ob es wirklich möglich sei, eine Uranbombe zu bauen. Die Wissenschaftler bestätigten es und Ioffe benannte Kurchatov zum Leiter dieser bevorstehenden Arbeit.

Am 11. Februar 1943 unterzeichnete Stalin die Regierungsverordnung über die Wiederaufnahme des Uranprojektes, Kurchatovs Berufung zum wissenschaftlichen Leiter des Projektes und die Ernennung von V.M. Molotov, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, zum Verantwortlichen der Regierung für dieses Projekt.

Am 12. April 1943 wurden in der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion zwei Dokumente unterschrieben. Zum einen wurde in der Akademie der Wissenschaften der UdSSR das Laboratorium N2 eingerichtet und zum anderen wurde Professor I.V. Kurchatov zum Leiter des Laboratoriums N2 berufen. Genau wie diese beiden Dokumente unterlag die gesamte Arbeit im Laboratorium N2 strengster Geheimhaltung. Kurchatov entwarf sofort zusammen mit Chariton, Zeldowich, Flerov, Kikoin und Alichanov das Arbeitsprogramm für die erste Phase.

Bis heute haben wir keine Zeugnisse darüber gefunden, ob Kurchatov 1943 von Fermis Erfolg, im Uran-Graphit-Brüter in Chicago am 2. Dezember 1942 Kettenreationen auszulösen, gewußt hat. Ohne Verzögerung begann er mit ähnlichen Experimenten. Am Moskauer Elektrodenwerk wurde bald die Produktion des extrareinen Graphits aufgenommen. Dies geschah in solchen Mengen, die Kurchatov für völlig ausreichend hielt. Ende 1944 wurde die erste Uranschmelze in Moskau durchgeführt. Da Kurchatov bereits wußte, daß neben der Isotopentrennung für die Ladung der Atombombe Plutonium notwendig ist, das chemisch separiert werden kann, beeilte er sich, Plutonium – wenn auch in kleinsten Mengen – zu bekommen, um seine chemischen und Kerneigenschaften kennenzulernen. Hierfür begann er 1943 einen Zyklotron zu bauen.

Anfangs wurde angenommen, daß im Laboratorium N2 alle Probleme des Atombombenbaus gelöst werden können. Deshalb begann der junge Ingenieur Merkin unter Charitons Leitung 1943 die »Kanonenvariante« der Bombe zu modellieren. Dazu hatte er mit einer Flinte gegen eine andere geschossen und mit Hilfe der Impulsphotographie den Zusammenstoß der zwei Kugeln studiert.

Kikoin begann seine Arbeit mit Fritz Lange, der schon vor dem Kriege aus Hitler-Deutschland emigrierte, in Charkov forschte und jetzt mit der Zentrifuge arbeiten wollte. Eine Zentrifuge wurde gebaut und in Swerdlowsk geprüft. 1944 brachte dann der russische Aufklärungsdienst eine Nachricht, die besagte, daß die Amerikaner ein großes Diffusionswerk zur Isotopentrennung gebaut hatten. Deshalb arbeitete Kikoin bis 1953 nicht weiter an den Zentrifugen, sondern konzentrierte seine Kräfte und die seiner Mitarbeiter auf die Arbeit an der Diffusionsmethode.

Der Sieg über den deutschen Faschismus

Dann kam der Sieg über die faschistische Diktatur in Deutschland und wir Wissenschaftler dachten schon darüber nach, was wir nun weiter tun würden, denn die Bombe schien uns nicht mehr notwendig.

Aber ehe wir diese Gedanken beenden konnten, kam die Nachricht, daß in der Wüste Alamogordo die Amerikaner einen Atombombenversuch durchgeführt hatten. Das erste Gefühl war Neid; ihnen war es gelungen und uns nicht. Dann schien es uns aber wenig sinnvoll, es bei uns zu wiederholen, und wir dachten über Urankraftwerke nach.

Aber nach den Atombombenabwürfen vom 6. und 9. August auf Hiroshima und Nagasaki endete unsere ruhige Arbeit. Die Regierung und die Generalität waren von Panik ergriffen. Kurchatov, Chariton, Kikoin und andere wurden täglich zu Sitzungen in den Kreml oder vom Geheimdienst in die Lubjanka beordert. Die Besprechungen dauerten stundenlang bis zur völligen Erschöpfung der Teilnehmer. Die Wissenschaftler mußten erklären, was die Bombe eigentlich ist und wie sie gemacht worden sein konnte. In den Zeitungen wurden Massen von Artikeln geschrieben und viele Reden waren im Rundfunk zu hören. Sie hatten immer den Tenor: „Das Vernichten der japanischen Städte ist gegen uns gerichtet.“

Diese Propaganda wirkte auf uns und überzeugte uns davon, daß wir uns beeilen mußten. Ein paar Tage später war die Panik überwunden und Stalin und Berija zeigten ihr organisatorisches Talent. Stalin ließ den Generalstab zu diesem Projekt nicht zu und übergab Berija alle Machtbefugnisse.

Berija wurde zum administrativen Kopf des Atomkomplexes. Seine strenge Führung beschleunigten unzweifelhaft das Projekt.

Zusammen mit Stalin baute Berija arbeitsfähige Entscheidungsstrukturen auf: Dem Ministerrat wurde die erste Hauptabteilung unterstellt und alle Ministerien, die an dem Problem arbeiteten, wurden dieser Abteilung untergeordnet, deren Leiter B.L. Vannikov wurde. Vannikov, der während des Krieges Minister für Munition war, genoß unter den Ministern des Landes unumstrittene Autorität. M.G. Pervuchin, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR und Minister der chemischen Industrie, wurde sein Stellvertreter. Ein weiterer Stellvertreter Vannikovs wurde A.P. Zavenjagin, dessen besondere Fähigkeiten in der Planung großer Fabriken und angeschlossener Städte lag (Magnitogorsk, Norilsk). Kurchatov erhielt das Recht, den Ministerrat der UdSSR und das Staatsoberhaupt direkt und ohne Vermittlung anzusprechen.

Als oberstes staatliches, geheimes Gremium wurde ein Spezialkomitee gebildet. Dieses Komitee bearbeitete die von Kurchatov und Vannikov vorgelegten Regierungserklärungen und legten Stalin den endgültig formulierten Text zur Unterschrift vor. Zu den Mitgliedern dieses Komitees gehörten Pervuchin, Vannikov, Zavenjagin, Vosnesensky, Kurchatov, Kapiza und später Malyshev.

Folgende Struktur der wissenschaftlichen Leiter wurde eingeführt: Chariton war für die Bombenkonstruktion und den Bau zuständig; Kurchatov selbst war außer der allgemeinen Leitung des Projektes für den plutoniumproduzierenden Uran-Graphit-Reaktor zuständig; Kikoin für die Diffusionsisotopentrennung, Bochwar für die Materialien, für die Konstruktionslegierungen der Reaktoren und für die Bombenladungen selbst. Diese Leiter waren verantwortlich für den Erfolg in den jeweiligen Abteilungen gegenüber dem Spezialkomitee, das heißt gegenüber Berija. Für jede Abteilung wurde eine Verwaltung geschaffen. Diese Struktur befreite uns Wissenschaftler – leider nicht Kurchatov und die Abteilungsleiter – von organisatorischen Sorgen, so daß die Arbeit schnell vorankam. Alle unsere finanziellen Forderungen wurden sofort erfüllt.

Die Repräsentanten des militärischen Stabes und Mitglieder des Politbüros, die nicht mit dem Atomproblem befaßt waren, wurden nicht in die Arbeit des Komitees einbezogen. Stalin erklärte diese Aktivitäten für geheim und Militäroffiziere hatten dort keinen Zutritt. Daraus folgte, daß der erste Atombombentest 1949 und der erste Wasserstoffbombentest 1953 für das Militär völlig unerwartet kam. Die »Übergabe« der Atombombe an die Armee, konkret an Marschall Shukov, war eine besondere Aktion Anfang der fünfziger Jahre nach Stalins Tod.

Seit Herbst 1945 wurden die Aktivitäten bezüglich der Atombombe weitreichend und schnell weiterentwickelt. Viele militärische und zivile Einheiten, Spezialisten und Arbeiter waren involviert. »Atomstädte« wurden in Regionen errichtet, in denen Uranvorkommen vermutet wurden. Die Menschen arbeiteten unermüdlich, hungernd und frierend auf dem Konstruktionsgelände, für eine schnelle Entwicklung der Atomindustrie sorgend, ohne Kenntnis darüber, wofür dieses Labor eingerichtet war.

Im Sommer 1945, noch vor den amerikanischen Bombenabwürfen geschahen zwei wichtige Ereignisse: 1. Berijas Agenten brachten eine Blaupause der amerikanischen Plutoniumbombe, die sich in der Vorbereitungsphase zum Test im Juli befand. 2. Ähnlich der amerikanischen Mission »Alsos« schickten auch wir Wissenschaftler nach Deutschland, die Uran, Dokumente und Spezialisten suchen sollten, die für uns nützlich waren, um die Uranproblemlösung zu beschleunigen.

Wir erkannten, daß es den deutschen Physikern eher als uns gelungen war, einen Uranmeiler zu entwickeln. Von der Atombombe war aber keine Spur. Mehrere deutsche Physiker und Ingenieure waren bereit, mit ihren Familien nach Rußland zu kommen, um bei uns zu arbeiten.

Die wichtigsten Ergebnisse erhielten wir in den folgenden Jahren von Nikolaus Riehl und Max Steenbeck. Riehl hat bei uns das erste Uranwerk gegründet und versorgte uns in den vierziger Jahren mit extrareinem Reaktoruran. Der weise Max Steenbeck entwickelte mit uns eine Gaszentrifuge für die Trennung der Uranisotope. Seine Arbeit war sehr wichtig, um den rechten Weg zu finden, was Kikoin mit seinen Kollegen Mitte der fünfziger Jahre gelang.

Wir im Labor N2, das später »Institut für Atomenergie« genannt wurde, hatten die Aufgabe, die Produktion des spaltbaren Materials für Atombomben wissenschaftlich zu begleiten, einschließlich des Projektierens und des Baus der dazugehörigen Werke bis hin zu ihrer Inbetriebnahme. Dazu gehörten die Entwicklung der Uranisotopentrennung und Plutoniumproduktion in den Uran-Graphit-Reaktoren. In unserem Institut wurden die ersten Uran-Graphit-Reaktoren, Diffusionskaskaden und elektromagnetischen Anlagen in Europa entwickelt und gebaut.

Diese Probleme wurden bis Mitte der fünfziger Jahre völlig gelöst. Dabei wurde die Physik der Atomspaltung experimentell und theoretisch breit entwickelt sowie die Neutronenphysik der Reaktoren selbst.

Einigen von uns drohte das Konzentrationslager

Unter Stalin war unser Laborleben vor dem ersten Test am 29. August 1949 nicht immer ungetrübt. Es wurde manches Mal geflüstert, daß, falls unsere Bombe beim Test nicht explodiert, einige von uns – und Kurchatov als erster – ins Gefängnis oder Konzentrationslager kämen. Dabei wurde angedeutet, daß die Ersatzpersonen, die unsere Arbeit dann fortsetzen sollten, bereits bestimmt waren. Der erfolgreiche Test befreite uns von dieser Unruhe.

Kurchatov als Sieger genoß danach unbestreitbare Autorität auf der höchsten Ebene unseres Staates. Bei Chariton in Arsamas-16 war die Arbeit am schwersten. Obwohl unsere erste Atombombe beinahe eine Kopie der amerikanischen war, mußte er nicht nur die ganze Physik der Explosion in Theorie und modellierenden Experimenten realisieren, sondern auch alle Probleme lösen, die aus der amerikanischen Blaupause heraus nicht erklärt werden konnten und insbesondere die Probleme, die die Sicherheit ihrer Wirkung betrafen.

Während dieser Arbeit hatten die Theoretiker unter Zeldovichs Leitung zusammen mit den Experimentatoren und Konstrukteuren bessere Lösungen gefunden. Sie wunderten sich darüber, warum Chariton die Realisierung dieser Lösungen verboten hatte. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, daß Chariton einer amerikanischen Blaupause so genau wie möglich folgte.

Diese eigenen Lösungen wurden erst bei dem Atombombentest 1951 realisiert. Zur gleichen Zeit hatte der junge Sacharov zusammen mit seinem Lehrer, dem berühmten Theoretiker Tamm, selbständige Ideen bezüglich der Wasserstoffbombe entwickelt, für die es in Amerika kein Beispiel gab.

Am 12. August 1953 wurde die weltweit erste Wasserstoffbombe auf dem Versuchsgelände Semipalatinsk getestet. Ihr TNT-Äquivalent war »nur« 400 Tausend Tonnen. Zu der Zeit hatten die Amerikaner zwar Bomben mit stärkerer Sprengkraft, aber eben keine Wasserstoffbomben.

Nikita Chruschtschow, der zu der Zeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei war, forderte: „Um in der Außenpolitik zu gewinnen, muß man das aus einer Position der Stärke tun.“

Einige Monate später, nach höchster Anstrengung von Sacharov und seinen Kollegen, wurde die Lösung für eine Superbombe gefunden. Am 22. November 1955 wurde sie getestet. Dieser Test bestätigte, daß Wasserstoffbomben unbegrenzter Leistung möglich und nicht zu teuer sind.

Nach diesem Test kam Kurchatov völlig niedergeschlagen zurück. Er sagte seinem Freund, dem Wissenschaftler Anatoli Aleksandrov: „Diese Waffe darf nie eingesetzt werden!“ Er wendete sich direkt an Chruschtschow mit der Bitte, ihn von der Leitung der Tests zu entbinden. Seine Bitte wurde erfüllt. Eine Woche danach war er voll von Ideen über die Anwendung der neuen Technik für das Wohl der Menschen und nicht gegen die Menschen!

Ich schließe nicht aus, daß es ihn all die Jahre quälte, mit der Waffe beschäftigt gewesen zu sein. Ich erinnere mich, wie begeistert er war und wie glänzend seine Augen waren, als wir zwei an einem Neujahrsabend in seinem Chefzimmer saßen und Sacharovs Idee über die Möglichkeit der gesteuerten Kernfusion besprachen, um die Menschheit, wie wir dachten, auf ewig von der Sorge um Brennstoffe zu befreien. Er beendete das Gespräch entflammt mit den Worten: „Nun wollen wir das neue Jahr nicht mit den Waffen, sondern mit der Friedensanwendung unserer Kenntnisse beginnen.“ Das war der 31. Dezember 1950.

Nach Stalin folgte der „Kampf gegen die Kapitalisten“

Die letzten vier Jahre seines Lebens (1956-1960) hat Kurchatov sehr viel dazu beigetragen, die Kontakte zwischen russischen und ausländischen Wissenschaftlern, die durch den Krieg und Stalins Isolationspolitik gestört waren, wieder aufzubauen. Er sorgte für den friedlichen Gebrauch der Atomenergie; in erster Linie für den Bau der Kernkraftwerke und für die Anwendung der ionisierenden Strahlungen in Wissenschaft und Medizin. Insbesondere sorgte er für die breite Entwicklung der gesteuerten Kernfusion zusammen mit den Wissenschaftlern aller Länder. Er reiste mit Chruschtschow nach England, hielt zwei Vorlesungen im englischen Kernwaffenzentrum Harwell, wo er zur Zusammenarbeit und zur Aufhebung der Geheimhaltung bezüglich der friedlichen Nutzung der Kernenergie aufrief.

Eineinhalb Jahre nach Kurchatovs Tod im Juli 1961 versammelte Chruschtschow im Kreml die ältesten Wissenschaftler, die die Physik und den Bau der Wasserstoffbombe führend entwickelt haben, und erklärte, daß er einen Vorsprung gegenüber den Amerikanern in bezug auf die Bombenentwicklung wünsche. Die Physiker sagten ihm, daß es realistisch sei, eine Wasserstoffbombe von 100 Megatonnen TNT Äquivalent zu bauen. Das erfreute ihn und er forderte die Realisierung, damit sie, wie er meinte, „wie ein Damoklesschwert über den Kapitalisten hängt“.

So eine Bombe wurde gebaut und am 30. Oktober 1961 zur Explosion gebracht. Sie hatte aber nur – nach einem Beschluß der Physiker – die Hälfte der Ladung, um die Zahl der unschuldigen Opfer auf der Erdkugel herabzusetzen, die von der in der Atmosphäre zerstreuten Radioaktivität an Krebs erkranken würden.

War denn diese Explosion ein Signal der Friedfertigkeit, über das die Parteigenossen und Chruschtschow selbst so viel sprachen und schrieben?

Sacharov wußte, wie die Waffenvorräte in unseren Arsenalen anwuchsen. Die Angst packte ihn, als ihm klar wurde, welche Folgen dieses, von ihm und seinen Kollegen geborene Ungeheuer in den Händen der Politiker haben könnte. Im Februar 1968 war ihm der Wahnsinn des Kalten Krieges klar, und er setzte sich an seinen Schreibtisch in dem geheimen Zentrum Arsamas-16 und schrieb sein berühmtes „Nachdenken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Nach einigen Monaten wurden seine Gedanken in vielen Millionen Exemplaren gedruckt, in viele Sprachen übersetzt – außer ins Russische – und in der ganzen Welt gelesen und besprochen.

Sacharov sagte der Welt ganz offen und deutlich, daß die Menschheit an der Grenze ihrer Geschichte stehe. Die Katastrophe der totalen Vernichtung liege vor uns, ausgelöst entweder durch den Wahnsinn der Politiker oder durch einen fatalen Zufall. Die Atomwaffenvorräte überstiegen bereits zehnfach und mehr die Menge, die ausreicht, um alles Leben auf der Erdkugel zu vernichten. Er machte deutlich, daß die Menschheit größte Probleme zu lösen hätte, wie z.B. die Gefahr des explosionsartigen Bevölkerungszuwachses auf der Erde, aus dem wiederum der allgemeine Hunger resultiere; die Vergiftung unserer Umwelt; das Schwinden der Vorräte fossiler Brennstoffe; die Verbreitung von Dogmen statt wissenschaftlicher Erkenntnis. Er erklärte, daß vor dem Hintergrund dieser gesamtmenschlichen Probleme die Meinungsverschiedenheit in der Partei und die »Klassenwidersprüche« erblaßten. Alle diese Bedrohungen würden durch die Spaltung der Menschheit in zwei feindliche Lager – sozialistische Dikaturen und Kapitalismus – verstärkt. Deshalb, so meinte Sachararov, seien Konvergenz und friedliche Koexistenz notwendig.

Unterdessen ruinierten der Kalte Krieg und das Wirtschaftssystem der Sowjetunion unser Land. Schon zu Beginn der siebziger Jahre sahen die Parteileiter ihre Schwächen in der Staatsverwaltung. An den Toren der Werke erschienen die Aufrufe: „Wollen wir erfüllen … !“ „Wollen wir erreichen … !“ Die Zeitpunkte der Regierungsverordnungen wurden jedoch hintertrieben und in den Berichten über die Erfüllung wurde massiv betrogen. Mit Beginn der achtziger Jahre bekamen wir endlich an den Hochhäusern die Selbstverherrlichungen zu lesen: „Ruhm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion!“ Das war schon die Agonie der Partei.

Existiert eine Schuld der Wissenschaftler?

Danach folgte die Zeit, in der sogar der Generalsekretär der Partei – und nicht nur die vernünftigen Menschen aus allen Schichten des Volkes – verstand, daß das sowjetische Staatsverwaltungssystem und die sowjetische Außenpolitik sich überlebt hatten und das Land in den Abgrund führten. Es war Michail Gorbatschow, und es begann die Perestroika.

So haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki den Fall der bolschewistischen Diktatur beschleunigt, indem die Folgen während des Kalten Krieges die Sowjetwirtschaft überforderten.

Existiert aber nun doch eine Schuld der Wissenschaftler? Eine Schuld, die geerbt sein kann? Ich denke, daß der große Mathematiker unserer Zeit, Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, Recht hat. Er sagte ungefähr folgendes: „Der Wissenschaftler wird immer ein hilfloses Spielzeug in den Händen des gewissenlosen Politikers sein.“

Wenn wir Wissenschaftler für das Geschehene auch nicht schuldig sind, so haben wir doch die Pflicht, das Geschehene zu überdenken und die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.

Euch anwesenden Studenten und aller Jugend, der das ganze Leben und Glück des Schaffens noch bevorsteht, wünsche ich auf alle Fälle zu bedenken, daß die Wahrheit nur im Meinungsstreit gefunden werden kann, im Streiten ohne Zwang und ohne Diktat.

In den Naturwissenschaften ist nur wahr, was in vielen unabhängigen und freien Experimenten bestätigt ist. In der Politik sind die Experimente zu teuer, meist zu blutig, um sie zu wiederholen. Euer Volk hat die zwölfjährige Diktatur Hitlers überlebt, unser Volk die siebzigjährige bolschewistische Diktatur. Beide überlebte Diktaturen und die Atomwaffenrealitäten haben uns gezeigt, daß es nur zwei Wege gibt: entweder die parlamentarische offene Gesellschaft, in der die Wahrung der Menschenrechte gesichert ist, oder das allgemeine Chaos und der Tod.

Und denen unter Euch, die sich entschlossen haben, sich der angewandten Physik zu widmen, kommt die edle Aufgabe zu, die Kenntnisse, die wir durch die Waffenentwicklung erworben haben, für das Wohl der Menschen zu verwenden. In der Gegenwart müssen die Atomkraftwerke vervollkommnet und ihre Sicherheit gesteigert werden. Leider wird ihre Radioaktivität immer beunruhigen.

Doch wunderbar ist die Natur!

Die Fusion der leichten Atomkerne, die uns die ungeheure Wasserstoffbombe geschenkt hat, eröffnet uns gleichzeitig den Weg zu den saubersten Energiequellen. Unsere Pflicht ist es, diesen Weg weiterzugehen, so kompliziert er uns auch erscheint, um wohlbehaltenes Leben auf der Erde zu versorgen und vor Atomkriegen und sozialen Katastrophen zu bewahren.

Wollen wir diesen Weg gehen!

„Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten …. Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage. …“

(J. W. Goethe: Faust)

Dr. Igor N. Golovin

„Es war eine Räubertat der Amerikaner“

„Es war eine Räubertat der Amerikaner“

Interview mit Dr. Igor N. Golovin

von Dr. Igor N. Golovin und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Herr Golovin, wie haben Sie spontan reagiert, als Sie von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki erfuhren?

Golovin: Wissen Sie, den größten Eindruck machte auf mich die Reaktion unserer Regierung, und die reagierte sehr nervös.

Nachrichten über die Zahl der Opfer und darüber, wie zerstört die Städte waren, erreichten uns recht schnell. Nach einigen Wochen wurde uns auf schauerliche Weise gezeigt, was für eine Räubertat es von den Amerikanern war, ungeschützte Städte und Menschen zu vernichten. Unsere Regierung erklärte, daß die Abwürfe eine Agitation der Amerikaner gegen die sowjetische Bevölkerung, gegen uns, seien. Man sagte uns, daß die Amerikaner nach diesen Abwürfen versuchten, diplomatisch starken Druck auf uns auszuüben. Daher müßten wir so schnell wie möglich unsere eigene Bombe haben, um diesem Druck etwas entgegensetzen zu können.

Kubbig: Was waren Ihre Gründe, am sowjetischen Atombombenprojekt mitzumachen? Reizte Sie persönlich die Nuklearphysik, weil sie damals Spitzenphysik war?

Golovin: Die Gründe? Das war eine sehr gute Physik, es war sehr interessant. Ja, das war echte Physik, da hatten wir theoretische Fragen zu lösen!

Wir haben nicht die Bombe direkt konstruiert, das war in Arsamas, wo Chariton, Sacharov und viele andere arbeiteten. Dort herrschte ein sehr hohes intellektuelles Niveau. Aber ich habe nie davon gehört, daß es dort Diskussionen darüber gab, ob es nötig oder richtig sei, die Bombe zu bauen. Diese Frage gab es nicht.

Erst in den sechziger Jahren, als beide Supermächte sehr viele Waffen angehäuft hatten, wurde Sacharov bewußt, wie gefährdet die Menschheit ist. In den fünfziger Jahren dachten wir: „Ja, die Atombombe ist eine Waffe, aber Flinten wurden schon viele erfunden und gebaut, Pfeil und Bogen auch.“ Aber von Jahr zu Jahr wurde das Zerstörungspotential der Bomben größer und erreichte eine neue Qualität.

Kubbig: Haben die Versuche von Niels Bohr und amerikanischen Wissenschaftlern in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, die Bombe durch internationale und US-sowjetische Abmachungen unter Kontrolle zu bringen, Sie damals interessiert?

Golovin: Diese Fragen waren außerhalb unserer Möglichkeiten. Hierfür war die Regierung zuständig, und es war in der Stalin-Zeit und auch in der Chruschtschow-Ära streng verboten, darüber zu sprechen. Die Devise der Politiker war: Eure Sache ist es, die Waffen auszudenken und zu bauen – wir Politiker werden sie anwenden, und Sie müssen sich nicht kümmern, wie wir das tun werden. Das war sehr streng geteilt.

Kubbig: Sie sprechen in Ihrem Vortrag davon, daß das Laborleben nicht ungetrübt gewesen sei. Wie ging es denn in Ihrem Alltag zu angesichts der Tatsache, daß der Leiter des Atomprogramms Geheimdienstchef Berija war? Es muß doch schwierig gewesen sein, bei so viel Geheimnistuerei und politischem Druck zu arbeiten.

Golovin: Von Berija weiß ich nur dies: Als wir an der Isotopentrennung arbeiteten, hatten wir immer Kontakt mit ihm. Berija hatte einen General in unserem Institut, der mit uns allen bekannt war, der unsere Meinung und unsere Resultate kannte. Er informierte Berija immer darüber, wie die Stimmung ist und wie die Arbeit geht. Und außerdem mußten wir Berija alle halbe Jahre Berichte über unsere zukünftigen Vorhaben schicken. Er wollte wissen, welche Resultate wir erwarten, welche Ergebnisse wir in den vorangegangenen sechs Monaten erzielt hatten und wie die Arbeit geht. Nach zwei Wochen kam die Antwort. Berija schrieb mit eigener Hand Fragen zu unseren Papieren auf, und er äußerte seine Meinung. Wir wußten also, daß er unsere Papiere liest und interessiert ist.

Er hatte wohl Leute, die ihm erklären konnten, was er nicht verstand, aber wir bekamen immer mit seiner eigenen Hand geschriebene Papiere in unser Laboratorium zurück. Das war eine echte Leitung. Und nach Berijas Tod verschwand alles. Sowohl die Fragen als auch die Antworten.

Berija war ein sehr starker Mann von großer Geschwindigkeit. Er reagiert sofort.

Kubbig: Haben Sie ihn selbst kennengelernt?

Golovin: Ich saß in einigen Sitzungen im Kreml, in Berijas Arbeitszimmer, sie waren immer sehr straff geleitet. Und immer ergebnisorientiert. Es wurde etwas besprochen, es wurde eine Meinung erarbeitet und dann sagte er: „Na schön, das verstehe ich. Ich habe Eure Papiere gelesen, sie haben die Fragen beantwortet. Also, dann berichte ich Stalin, wir werden Euch unterstützen und die Resultate werden kommen.“ Keine langen Gespräche ohne Resultate. Immer mit Erfolg.

Ich hatte fünf Treffen mit Berija. Er war streng, aber zu gleicher Zeit auch ein guter Leiter, ein guter Organisator. Und während Stalin nur in Moskau und auf seiner Datscha bei Moskau saß, reiste Berija durch das ganze Land, bis zum Ural, wo die Reaktoren gebaut wurden, zu den Anlagen, wo die Isotopen getrennt wurden, zu den anderen Einrichtungen, in denen etwas Wichtiges gemacht wurde. Überall war er, hat es gesehen, hat seine Meinung geäußert und so war alles sehr …

Kubbig: … effizient?

Golovin: Effizient. Ja, ja.

Kubbig: Haben Sie vor und bei einem Treffen mit Berija, der doch sehr gefürchtet war, gezittert?

Golovin: Berija war sehr schnell im Überlegen, ein impulsiver Mensch. Wenn man in sein Arbeitszimmer kam, so reichte er einem die Hand. Ich verstand, daß er ein sehr strenger Mann war.

Ich hatte ein kleines Erlebnis mit Berija in seiner Eigenschaft als Vorsitzender einer Regierungskommission, die zum Ural kam, um einen Plutonium produzierenden Reaktor in Betrieb zu nehmen. Er ging durch alle Räume, in die Halle, in den Kontrollraum und so weiter und Kurchatov erklärte ihm alles, und Berija sagte immer: „Schön, verstanden. Schön, verstanden, verstanden.“ Seiner Stimme merkte ich jedoch an, daß er nichts verstanden hatte. Und in diesem Augenblick treffen sich unsere Augen, meine und seine. Oh, wie ich erschrecke und ich sehe, daß er es verstanden hat, daß ich verstehe, daß er nichts versteht. Ich dachte, oh, ich muß ihm nicht so nahe sein, es wäre besser, auf Distanz zu bleiben, denn sonst, was wird folgen?

Kubbig: Was wäre denn passiert oder was haben Sie denn befürchtet, falls der erste Test 1949 ein Fehlschlag geworden wäre?

Golovin: Befürchtet? Aber ach, ich weiß nicht, was folgen kann. Nichts Konkretes. Aber so was, ein Schauer.

Kubbig: Haben Sie auch mit Sacharov über fachliche und politische Fragen gesprochen?

Golovin: Was physikalische Probleme anbelangt, so war unsere Regel, nichts zu fragen in den Gebieten, in denen ich selbst nicht arbeite. Das wurde sehr streng gehandhabt. Sacharov entwickelt die Wasserstoffbombe, ich entwickle sie nicht. Ich arbeite nicht mit ihm in der theoretischen Gruppe zusammen, die die Bombe entwickelt. Und deshalb hatte ich kein Recht, etwas über die Wasserstoffbombe zu fragen.

Ich habe ihn jedoch gefragt, wie die Erde aussah nach einem Test auf dem Versuchsgelände von Semipalatinsk und wie die Kruste unter den Maschinen brach, wie verbrannt die Flügel der Vögel waren und so weiter. Solche Gespräche gab es. Und politische Fragen haben wir erörtert.

Aber ich war nicht in seiner Gruppe, die aktiv protestierte. Ich blieb doch in der indifferenten Gruppe.

Kubbig: Herzlichen Dank, Herr Golovin, daß Sie uns dieses Interview gewährt haben.

Über Igor N. Golovin
Igor Nikolajewitsch Golovin, 1913 geboren, war seit 1944 als Physiker im sowjetischen Nuklearwaffenprojekt der Stalin-Ära tätig. Von 1950 bis 1958 war er Erster Stellvertreter Kurchatovs im gleichnamigen Institut für Atomenergie in Moskau. Von 1958 bis 1991 leitete er dort die Abteilung für kontrollierte Kernfusion. Gegenwärtig ist er der Direktor eines Labors für Plasmaphysik innerhalb des Kurchatov-Instituts, das jetzt »Russisches Wissenschaftliches Zentrum – Kurchatov Institut« heißt. Golovin ist Autor einer in Englisch und Deutsch erschienenen Biographie über den »sowjetischen Oppenheimer« Igor Kurchatov (I.W. Kurtschatow. Wegbereiter der sowjetischen Atomforschung, Urania-Verlag, 1976).
Daß Golovin Deutsch mit charmantem Grazer Akzent spricht, verdankt er seiner Mutter, die dort Anfang des Jahrhunderts studierte. Wie Edward Teller setzt auch Golovin gläubig auf die Technik, wenn es um die Lösung vitaler Probleme geht – etwa bei der Gewinnung von „reiner Energie“. Die politische Dimension hat er dennoch im Blick. Er verabschiedete sich aus Frankfurt mit dem Wunsch, daß unsere Kinder und Enkel an die Jahrhunderte alte Freundschaft zwischen Rußland und Deutschland auch in Zukunft anknüpfen mögen.
Dieses Interview mit Dr. Igor N. Golovin führte Dr. Bernd W. Kubbig am 1. Juni 1995.