Atomare Frage und Individualisierung

Atomare Frage und Individualisierung

Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung

von Bernhard Nolz

Meine didaktische und methodische Vorbereitung als Friedenspädagoge auf die Vermittlungsarbeit, die die atomare Frage in vorwiegend schulischen Bildungszusammenhängen zum Inhalt hat, gleicht der Beschäftigung mit einem Puzzle: Viele Teile ergeben ein Ganzes – doch bin ich nicht sicher, ob es denn je dazu kommen wird, ein Ganzes zu werden!

Die atomare Frage ist ein wichtiges Bildungsthema. Im Themenkanon der naturwissenschaftlichen und der historisch-politischen Schulfächer hat sie ihren festen Platz. Im Politikunterricht war sie in die Behandlung des Ost-West-Konfliktes eingebettet, mit dem sich atomares Wettrüsten auf finalem Destruktionsniveau politisch legitimieren ließ. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schwand auch bei Friedenspädagogen und -pädagoginnen das Interesse an der Problematik der atomaren Rüstungspotentiale. Wie in anderen Disziplinen wurde in den Friedenswissenschaften die Dominanz der internationalen Perspektive zugunsten subjektbezogener Betrachtungsweisen verdrängt. Auf diese Weise gewinnen innerhalb des atomaren Themenkomplexes die friedenspädagogischen Forschungs- und Vermittlungsarbeiten an Bedeutung, die beispielsweise Opfer- und Minderheitenproblematiken offenlegen oder die Bedingungen untersuchen, unter denen neue Solidaritäten entstehen oder gewaltfreie Handlungsoptionen wahrgenommen werden können. Dafür könnte das Jahr 1995 mit seinen vielen Jahrestagen und wichtigen Daten ausreichenden Anlaß geben: 20 Jahre: Verhinderung des Atomkraftwerkes Wyhl durch Besetzung; 25 Jahre: Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen; 40 Jahre: Todestag von Albert Einstein; 50 Jahre: 1. Zündung einer Atombombe in USA, Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki; unvorstellbare Atomwaffenarsenale und Bedrohungspotentiale bestehen weiter und suchen sich neue Märkte; die »Störfälle« von Atomkraftwerken in aller Welt reißen nicht ab und damit verbundene Gesundheitsrisiken nehmen zu; atomare End- und Zwischenlagerprobleme erscheinen unlösbar …1

Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten können Lehrende und Lernende entwickeln angesichts der an der atomaren Thematik erkennbaren Erscheinungsformen der Gegenmoderne?

„Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, die die Moderne aufwirft, auftischt und auffrischt. (…) Sie erlaubt, sichert, stellt Fraglosigkeit im Horizont der Bewußtheit her.“ 2

Wer sich darauf einläßt, wird kaum noch fähig sein, sich in Friedensutopien verwickeln zu lassen. Friedensfähigkeiten würden in ihrer Weiterentwicklung blokkiert, beispielsweise die Fähigkeit der Empathie, der Aggressionskontrolle, des politischen Engagements oder der Selbstreflexion. Das bestehende Bildungssystem bietet – trotz aller Beteuerungen der Verantwortlichen – wenig Raum für Reflexions- und Selbstfindungsprozesse des einzelnen (und gewinnt immer mehr Züge eines Projektes der Gegenmoderne). Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Atomthematik in der Schule, die eine mögliche Organisationsform für Individualisierungsprozesse erst noch finden muß, könnte ein pädagogischer Weg erkennbar werden, auf dem der Abbau von personaler, struktureller und kultureller Gewalt thematisiert und praktiziert werden kann.

„“Individualisierung« meint vieles nicht (…) beispielsweise nicht: Atomisierung, Vereinzelung, Vereinsamung, das Ende jeder Art von Gesellschaft, Beziehungslosigkeit… »Individualisierung« meint erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern müssen.“ 3

Hitzler/Honer sprechen von einer „Bastelexistenz“ 4, wobei „die alltägliche Lebenswelt des Menschen zersplittert (ist) in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es (nicht trotz, sondern wegen der breiten Angebots-Palette) keine verläßlichen »Rezepte« mehr gibt. Für jeden einzelnen besteht mithin ein Anspruch und ein Zwang zugleich zu einem (mehr oder weniger) »eigenen« Leben.“ 5

Dabei hat der einzelne in der Regel durch die vielfältigen Medieninformationen einen Überblick über die aktuellen Lebenssinn- und Lebensstil-Angebote und kann sich zwischen den vorhandenen Alternativen „(stets: bis auf weiteres) zugunsten einer Sinn-Heimat entscheiden.“ 6 Die Jugendforschung hat ähnliche Individualisierungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen7, verweist aber auch auf die Bedeutung von Orientierungsangeboten für die Jugendlichen.

Die Ausstellung »Bombensicher«

Wie können Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule darauf reagieren? Für die Beschäftigung mit der atomaren Frage ist »Bombensicher« ein interessantes Angebot. »Bombensicher« ist eine Fotoausstellung der Atomic Photographers Guild (AFG), die versucht, das breite Spektrum der atomaren Frage zu zeigen.8 23 Fotografinnen und Fotografen präsentieren eine faszinierende Palette von Darstellungen zur Atomproblematik. Z.B. Robert Del Tredici, der Begründer der AFG, der das Unsichtbare des Atoms endlich einmal sichtbar machen wollte, indem er dort eindringt, wo mit dem Atom gearbeitet wird. Oder Hans Madej, der die Kinder von Tschernobyl portraitiert hat, solange sie noch leben. Carole Gallagher dokumentiert die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomversuche auf die Beschäftigten auf dem Nevada-Testgelände. Barbara Norfleet führte ein Fotoprojekt über eine Atomfabrik und die Leute durch, die ihre Höfe oder ihre Geschäfte – ihre Heimat, wie sie sagen – verloren haben.

23 unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen, 23 unterschiedliche Zugänge zur Thematik werden vorgestellt, die in einer fast gleich großen Anzahl von Schulfächern für eine Auseinandersetzung aufgegriffen werden können. Die Fotografien beinhalten Themenkomplexe wie: Uranbergbau, Bombenproduktion, Bombentest, Der Atomstaat, Beschäftigte, Die Opfer, Widerstand. Das differenzierte oder in immer wieder neuen Kombinationen differenzierbare Bildmaterial ist es, das das Angebot »Bombensicher« spannend macht für Pädagoginnen und Pädagogen, die mit den Schülerinnen und Schülern in unbekannte Wissensräume und mehrdimensionale Gedankengefüge aufbrechen wollen. Ein solches Unternehmen ist für Lehrende und Lernende ungewohnt; dann können gemeinsame Zweifel und die Kommunikation darüber den an einem Partnerschaftsmodell orientierten Lernprozeß fördern.

„Die Hereinnahme der Unsicherheit in unser Denken und Tun kann genau die Verkleinerung der Zwecke, die Langsamkeit, die Revidierbarkeit und Lernfähigkeit, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Toleranz, Ironie erringen helfen, die zum Wechsel in eine andere Moderne notwendig sind.“ 9

In einer Schule dieser anderen Moderne wird nach individuellen Lernentwicklungen gefragt, die in Lerngruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, in unterschiedlichen Kombinationen, Größen und Zeiträumen realisiert werden. Dafür stellt »Bombensicher« ein geeignetes Medium dar, weil es individuelle Zugänge der Fotografinnen und Fotografen zum Thema präsentiert, mit denen sich Besucher/innen individuell auseinandersetzen können. Ein friedenspädagogisches Programm als Schulveranstaltung wird neben der Ermöglichung von Freiräumen für individuelle Lerninteressen und -entwicklungen immer auch Anregungen geben und Voraussetzungen dafür schaffen, daß Kommunikation untereinander stattfinden kann. Auf diese Weise werden soziale Aspekte des Lernens (in der Klasse, in der Gruppe, mit der Partnerin/mit dem Partner) gewährleistet bzw. sind zumindest als Lern- und Erfahrungsangebot gegenwärtig. Allerdings können in einer nach Fächern gegliederten und im 45-Minuten-Takt organisierten Schule fächerübergreifende Aspekte nur in Maßen oder gar nicht zum Tragen kommen. Projektarbeit bzw. projektorientierter Unterricht, in denen noch am ehesten die Komplexität und die Globalität der atomaren Frage- und Problemstellung in Bildung umgesetzt werden könnte, wird nicht oder nur selten realisiert.

In Konzepten zur Friedenserziehung in der Schule werden am konsequentesten Bildungsaspekte der atomaren Frage, ihre Dimension der politischen Bildung und die Notwendigkeit einer interdisziplinären bzw. einer integrativen Herangehensweise entwickelt.10 Ein Beispiel dafür ist die Realisierung der Ausstellung »Bombensicher« als friedenspädagisches Projekt in Schleswig-Holstein. Den Veröffentlichungen dazu können weiterführende Anregungen entnommen werden.11 Die Städte Kiel und Itzehoe, in denen das Projekt durchgeführt wurde, gehören dem internationalen Bündnis »Städtesolidarität Hiroshima/Nagasaki« an. Das Städtebündnis will die Verwirklichung einer friedlichen Ordnung der Welt fördern und verfolgt das Ziel der vollständigen Abschaffung der Atomwaffen. In einer Erklärung der deutschen Solidaritätsstädte aus dem Jahre 1987 heißt es: „Durch eigene Initiativen können die Kommunen im Rahmen ihrer Aufgaben dazu beitragen, das Friedensengagement ihrer Bürger zu wecken und zu unterstützen. Sie können so die Voraussetzungen schaffen helfen, daß die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung in der Welt, eines gewaltfreien Umgangs miteinander, immer mehr Menschen bewußt wird und so die Chance eröffnet wird für eine Welt ohne Waffen.“12

up>Mit der Durchführung des Ausstellungsprojektes »Bombensicher« können vor allem Kommunikationsprozesse angeregt werden. In der Regel wird sich für die Realisierung des Projektes ein breiter Unterstützer/innen-Kreis bilden, in dem die Vertreter/innen von Gruppen, Organisationen und Initiativen aus dem Anti-Atom-, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsspektrum, aus Parteien, Kirchen, Gewerkschaften usw. zusammenkommen. Die Unterstützergruppen ergänzen durch ihre speziellen Informations- und Unterhaltungsangebote während des Ausstellungszeitraumes die Themenpalette, die im Gesamtprojekt zur Geltung kommen kann. Daran kann auch ein Schul- oder Unterrichtsvorhaben beteiligt sein, in dem sich Schüler/innen mit einem ausstellungsrelevanten Aspekt auseinandergesetzt haben. Es entspricht einer optimistischen, aber durchaus realistischen Einschätzung, wenn behauptet wird, daß ein derartiges Ausstellungsprojekt einen Rahmen schaffen kann für die Festigung oder Erweiterung bzw. den Aufbau eines Netzwerkes der kommunalen Friedensarbeit. Friedensarbeit wird von individuellem Engagement einzelner Menschen getragen, läßt sich aber nur in solidarischen Organisationsformen wirkungsvoll gestalten.

Eine wichtige Motivation für die Akteure in sozialen Bewegungen ist die durchaus berechtigte Erwartung, aus einer aktuellen Minderheitensituation – eventuell mit Hilfe verschiedenartigster Zusammenschlüsse – die Machtposition der Mehrheit einnehmen zu können.13 Allerdings ist der Versuch, über den Aufbau eines Netzwerkes der alternativen Bewegungen längerfristig einen entscheidenden Einfluß auf die Politik auszuüben oder gar stabile Mehrheiten mit reformerischem Impetus zu schaffen, in den meisten Kommunen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien stekkengeblieben. Heute kommt es m.E. insbesondere darauf an, Möglichkeiten der Kommunikation zu organisieren und offene Foren einzurichten, wo Ad-hoc-Bündnisse geschlossen sowie neue Formen der Zusammenarbeit konzipiert und erprobt sowie Alternativen entwickelt werden können, denn nur Nein z.B. zur Atomenergie zu sagen, reicht nicht aus.14

Ein Aspekt, der möglicherweise individuelle Zugänge zur Atomthematik ermöglicht, könnte die »Bearbeitung« von Ängsten im atomaren Kontext sein. Natürliche Anknüpfungspunkte bieten die in »Bombensicher« dargestellten Opfer des Atoms, aber auch ihr unermüdlicher Widerstand gegen atomare Einrichtungen bzw. ihr Abwehrkampf gegen die Fortsetzung von Verseuchung, Enteignung und Entmündigung. Pädagoginnen und Pädagogen werden einen ihnen spezifischen Zugang zur atomaren Frage finden, der sich aus ihrer individuellen Lebens- und Arbeitsbiographie oder der ihrer Schüler/innen ergibt. Ich denke z.B. an die vielen Pädagoginnen und Pädagogen, die in der Arbeit der Anti-Atomkraft-Bewegung alt geworden sind. Vor ihren heutigen Schülerinnen und Schülern oder sonstigen »Schutzbefohlenen« zitieren sie nun Ulrich Beck: „Der Hauptgegner der Atomindustrie (…) sind nicht die Demonstranten vor den Bauzäunen, die kritische Öffentlichkeit (…), der überzeugendste und andauerndste Gegner der Atomindustrie ist – die Atomindustrie selbst. (…) Der Protest kann erlahmen, der Skandal der Gefahr bleibt.“ 15

Und es sind die Vorstellungen der Politik und der Atomwirtschaft von einer angebotsdominierten Atomtechnikentwicklung und -umsetzung gewesen, die zu entsprechender staatlicher Finanzierung und öffentlicher Legitimation verholfen haben. Dagegen haben z.B. »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF) Widerstand geleistet. Sie bekennen sich zu einem aktiven Pazifismus und verpflichten sich, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „in ihrer Kritik an jedem militärischen und nationalistischen Denken zu bestärken und ihnen friedliche Alternativen positiv erlebbar zu machen; (…) ihnen auch bei der Entscheidung für einen zivilen Friedensdienst praktische Hilfen zu bieten und sie vor Diskriminierungen zu schützen.“ 16

Deshalb wäre es in ihrem Sinne, daß Deutschland im Lichte des Atomwaffensperrvertrages und des »2+4-Vertrages« als politisches Vorbild dastehen könnte: „Derzeit (hat) kein anderes Land eine vergleichbar starke nichtnukleare Verpflichtung.“ 17 Aber: „In der Bundesrepublik wird die quantitative Abrüstung derzeit von einer materiellen und ideologischen Umrüstung der Bundeswehr und einer Militarisierung von Politik konterkariert.“ 18

Diese widersprüchlichen Aspekte beschreiben die augenblickliche politische Entwicklung und gewinnen Bedeutung für den Bildungsprozeß des einzelnen Menschen, weil er mit ihnen leben muß. Das gilt unabhängig davon, ob die Frage ein öffentliches oder pädagogisches (Mode-) Thema ist oder in den Medien Konjunktur hat. Die Konjunktur eines Themas in den Medien darf auch nicht mit thematischer Orientierungshilfe für die sich informierenden Menschen gleichgesetzt werden, sondern weist eher auf pädagogische Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungsnotwendigkeiten hin. Denn die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes allenthalben – z.T. auch in Teilen der Friedensbewegung – geradezu schlagartig einsetzenden Verharmlosungs- und Verdrängungstendenzen atomarer Bedrohungen – die sich allerdings auch qualitativ, nicht quantitativ! verändert haben – erscheinen angesichts unsicherer Politikentwicklungen nicht angemessen.19 Tatsächlich entlasten diese Verhaltensweisen viele Menschen von Ängsten. Andere aktivieren sich als politisch denkende und handelnde Menschen und kehren auf eine Weise in die Gesellschaft zurück, was „zunächst auf eine Erschwerung, Verhinderung alter Politik hinaus(läuft)“.20 Dabei müssen Handlungsfelder für eine eingreifende Politik von unten nicht erst lange in den unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbereichen der Menschen gesucht werden. Für die schulische Arbeit gilt es, sie wahr- und aufzunehmen. Z.B. durch die Realisierung einer Ausstellung wie »Bombensicher«. Der Vorteil der (Pflicht-)Schule – insbesondere der Gesamtschule – ist es ja gerade, daß in ihr Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zusammenkommen, um an einem Bildungsprozeß teilzunehmen. Hier werden – zumindest ist es intendiert – Chancen für die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Leistungen angeboten. Zukünftig wird es darauf ankommen, den Bildungsprozeß in der Schule bzw. das schulische Bildungsangebot so offenzuhalten und zu differenzieren, daß seine Wahrnehmung den Lernenden nicht nur sinnvoll erscheint, sondern daß es auch individuelle Gestaltungsfreiräume eröffnet und Entscheidungskompetenzen einräumt, die im derzeitigen Schulsystem undenkbar erscheinen. Von der Projektarbeit sind sie aber intendiert, im Projekt »Bombensicher« könnte damit begonnen werden.

Meine Überlegungen zu einer Bildungsarbeit zur atomaren Frage finden ein vorläufiges Ende. Didaktische und methodische Aspekte des Themas aus der Sicht eines Friedenspädagogen konnten nur angedeutet werden. Ihre schriftliche Fixierung ist von einer Unsicherheit geprägt, die Offenheit und Lernbereitschaft signalisieren möchte für das, was dem Frieden dienen könnte.

„Hier wie in anderen Bereichen auch: Mit den Chancen, die die Moderne eröffnet, kommen zugleich neue Fragen, neue Konflikte. Und die Traditionen, aus denen sich Antworten ableiten lassen, sind längst brüchig geworden. So ist das Grundmerkmal der Moderne wohl nicht Autonomie, sondern eher Bastelbiographie, vielleicht auch Bastelmoral.“ 21

Bernhard Nolz ist Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); er ist als Gesamtschullehrer und als Moderator in der Lehrerfortbildung tätig.

Die Ausstellung »Bombensicher« eröffnet die Beschäftigung mit folgenden Aspekten und Themen:

Anmerkungen

1) Zur friedenspädagogischen Bedeutung der atomaren Frage vgl.: Edgar Weiß: Nukleare Bedrohung, ihre Darstellung und deren friedenspädagoische Bedeutung, in: Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991, S. 37 – 58. Zurück

2) Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zur Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M. 1993, S. 102/103. Zurück

3) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 149 f. Zurück

4) Ronald Hitzler/Anne Honer: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung; in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 307 – 315. Zurück

5) Hitzler/Honer, S. 308. Zurück

6) Hitzler/Honer, S. 311. Zurück

7) Vgl.: Peter Büchner/Anna Brake/Burkhard Fuhs: Wie geht es unseren Kindern? Erste Ergebnisse des Marburger Kinder-Surveys. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 4, Marburg 1994; Peter Büchner/Burkhard Fuhs: Kinderkulturelle Praxis: Kindliche Handlungskontexte und Aktivitätsprofile im außerschulischen Lebensallltag. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 5, Marburg 1994; Sigrid Metz-Göckel: Jugend '92. Zur 11. Shell-Jugendstudie. In: Jugendliche und politische Kultur. SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 47 – 63; Jürgen Mansel: Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Risiken. In: SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 31 – 46. Zurück

8) Siehe hierzu das kurze Portrait in dieser Ausgabe. Information und Ausstellungskatalog: kultur publik, Killertalstr. 13, 72379 Hechingen, Tel: 07477/1606; Fax: 07477/8206. Zurück

9) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 260. Zurück

10) Vgl. Jörg Calließ/Reinhold E. Lob (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung, 2 Bde. Düsseldorf 1988; Carsten Budke/Bernd Nolz/Walter Westphal: Grundsätze zur Friedenserziehung in den Schulen. PFK-texte Nr. 2. Kiel 1991. Zurück

11) Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991. Siehe auch: Bernd Nolz: »Bombensicher« – ein Ausstellungsprojekt zur Friedenserziehung, in: Peter Häußler (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung. Kiel 1992; Bernhard Nolz: Projektarbeit in der Friedenserziehung als Beitrag zur Politischen Bildung. Hamburg 1993; Ilse Valentin: Atomare Bedrohung und Friedenspädagogik. Manuskript. Kiel 1994. Zurück

12) Zitiert nach: Günther Gugel/Uli Jäger (Hrsg.): Handbuch Kommunale Friedensarbeit. Tübingen 1988, S. 201. Zurück

13) Vgl.: Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling: Vom Umgang mit Minderheiten – ein soziokulturelles Problem in der politischen Kontroverse; in: dies. (Hrsg.): Minderheiten – Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft? Baden-Baden 1991. Zurück

14) Vgl.: Günter Wippel: Die neue Internationale der Atomopfer; in: Klemens Ludwig/Susanne Voigt (Hrsg.): Phantom Atom. Abgründe der Atomtechnologie und Wege aus der Gefahr. Gießen 1993. Zurück

15) Ulrich Beck: Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M. 1988. S. 153/163. Zurück

16) Aufruf der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF): Gegen den neuen Militarismus – Für einen aktiven Pazifismus! Vgl.: »et cetera ppf« Nr. 3/93, 1/94, 2/94. Zurück

17) Annette Schaper: Die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages: Schlüssel zur nuklearen Rüstungskontrolle; in: Hanne-Margret Birckenbach/Uli Jäger/ Christian Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1995. Konflikte – Abrüstung – Friedensarbeit. München 1994, S. 155. Zurück

18) Martin Grundmann: Die Bundeswehr: Eine Bilanz nach vier Jahren »Abrüstung«; in: Birckenbach/Jäger/Wellmann, S. 144. Zurück

19) Vgl. B. Marquardt/J. Mayer/H. Mikelskis (Hrsg.): Umwelt. Lexikon ökologisches Grundwissen. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 68 ff. Zurück

20) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 170. Zurück

21) Elisabeth Beck-Gernsheim: Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten, S. 332. Zurück

Alternativen, Anti-Atombewegung, Atomforschung, Atomkraftwerke, Störfälle, Krankheitsbilder, Atomstaat, Bastelbiographie, Beschäftigte der Atomindustrie, Biographisches Arbeiten, Bombenproduktion, Bombentests, Deutsche Atompolitik, Erziehung zum Frieden, Fotoanalyse, Friedensfähigkeiten, Friedensutopien, Gefahrenminimierung, Geschichte der Atomtechnologie, Hiroshima/Nagasaki, Individualisierungsprozesse, Kommunale Friedensarbeit, Mediendarstellung, Militarisierung, Moderne – Gegenmoderne, Modethemen, Neue Weltordnung, Opfer, Pazifismus, Politische Bildung, Politische Entscheidungsprozesse, Projektunterricht, Protestbewegung, Risikogesellschaft, Soziales Lernen, Städtesolidarität, Technikentwicklung, Tschernobyl, Uranbergbau, Verantwortung, Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Verweigerung, Widerstand, Wissensvermittlung, Zeitbombe.

Das Tauziehen um den Nichtverbreitungsvertrag

Das Tauziehen um den Nichtverbreitungsvertrag

Festschreibung des Kernwaffenstatus oder Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen?

von Jürgen Scheffran • Martin Kalinowski

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ist seit 1970 in Kraft (siehe Infokasten). Gemäß Artikel X des NVV soll nach einer Laufzeit von 25 Jahren darüber entschieden werden, ob der Vertrag „auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird“. Zu dem Zweck wurde eine Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz (Review and Extension Conference) einberufen, die vom 17. April bis zum 12. Mai 1995 in New York stattfinden wird.

Es gab bereits vier Überprüfungskonferenzen, die alle fünf Jahre stattfanden. Die Aufgabe der Überprüfung bestand darin, die Umsetzung des Vertrages und die Erreichung seiner Ziele zu bewerten. Die Diskussion, ob die Kernwaffenmitgliedsstaaten des NVV ihre Abrüstungsverpflichtungen aus Artikel VI hinreichend erfüllt haben, wurde als Hauptstreitpunkt immer sehr kontrovers geführt. Die prinzipielle Uneinigkeit darüber brachte die Überprüfungskonferenz von 1990 zum Scheitern, auf der u.a. wegen des Widerstands Mexikos keine gemeinsame Abschlußerklärung zustande kam. Angesichts dieser Erfahrung wird es nicht als sicher angesehen, ob bei der dieses Jahr anstehenden NVV-Konferenz eine Einigung erzielt werden kann.

Um die Verlängerung nicht vom erfolgreichen Abschluß der Überprüfung abhängig zu machen, haben einige Staaten auf der dritten Vorbereitungskonferenz im September 1994 vorgeschlagen, die Verlängerungsentscheidung vor der Überprüfung vorzunehmen. Diese Position vermochte sich wegen ihrer fehlenden Logik nicht durchzusetzen. Erst muß die Realisierung des Vertrages überprüft und bewertet werden, bevor sich die Staaten eine Position zur Form der Verlängerung endgültig bilden können.

Bei den Vorbereitungen der NVV-Konferenz ging es nicht um eine Verbesserung des Vertrages, sondern lediglich um die Art der Verlängerung. Es wird keine realistische Chance gesehen, den NVV zu verändern, da dann viele miteinander nicht vereinbare Änderungswünsche vorgebracht würden, die eine Einigung in der vorgegebenen Frist unwahrscheinlich machen. Es genügt nicht nur die einfache Mehrheit der Mitgliedsstaaten, sondern es müssen auch alle Kernwaffenstaaten zustimmen, die Mitglied des NVV sind, d.h. USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und China.

Alle weiteren Schritte, insbesondere verbindliche Abrüstungsmaßnahmen wie ein Kernwaffen-Teststopp oder die Beseitigung von Kernwaffen und deren Nuklearmaterialien, müssen also außerhalb des NVV als zusätzliche Bestandteile des gesamten Nichtverbreitungsregimes vereinbart werden. Einige Staaten schlagen vor, eine engere Verbindung derartiger Zusatzverträge mit dem NVV zu erreichen, indem die Art der Fortführung des Vertrages abhängig gemacht wird von Fortschritten bei der Abrüstung. Doch auch einer solchen bedingten Verlängerung werden wenig Chancen gegeben, weil die Mehrheit aller Vertragsstaaten dem nicht zustimmen würde.

Zur Disposition stehen demnach die in Artikel X festgelegten drei Alternativen:

1. die unbefristete Verlängerung;

2. die auf einen Zeitraum befristete Verlängerung;

3. eine zyklische Verlängerung (rolling extension) mit erneuter Entscheidung über die Fortführung nach jeweils einer bestimmten Periode (die Vorschläge reichen von 5 bis 25 Jahren).1

Während die fünf Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten (darunter alle europäischen Staaten) für die unbefristete Verlängerung sind, treten die meisten der blockfreien Staaten für die dritte Variante ein, der Rest ist noch unentschieden. Das Gesamtmeinungsbild ist noch nicht klar.

Für die Vorbereitung der NVV-Konferenz 1995 in New York waren vier Sitzungen eines Vorbereitungskomitees (Preparatory Committee, PrepCom) angesetzt, dem alle Mitgliedstaaten angehören. Die ersten beiden dieser Treffen fanden in New York statt (Mai 1993, Januar 1994) und befaßten sich nur mit formalen Aspekten. Zur dritten »PrepCom« im September 1994 in Genf durften erstmals auch Nichtregierungsorganisationen (NROs) erscheinen, die u.a. in Form vorbereiteter Statements während einer Anhörung am Rande an der inhaltlichen Diskussion teilnehmen konnten. Die vierte »PrepCom« fand im Januar 1995 wieder in New York statt und ließ einige Fragen offen, die auf einer Sondersitzung kurz vor der Konferenz im April geklärt werden müssen.2

Während an den ersten beiden »PrepComs« 128 bzw. 117 Staaten teilnahmen, verringerte sich bei der dritten Vorbereitungskonfrenz die Zahl auf 89 Staaten, weil in Genf nicht so viele Delegationen eine permanente Mission unterhalten wie in New York. An der vierten und letzten »PrepCom« in New York nahmen 142 Mitgliedsstaaten teil, weitere 7 Staaten als Beobachter sowie 72 NROs. Zum Vergleich: nach den Beitritten Algeriens, Argentiniens, Bosniens, Moldaviens, Turkmenistans und der Ukraine war die Zahl der NPT-Mitgliedsstaaten bis zum Februar 1995 auf 172 angestiegen.

Position der blockfreien Staaten

Im Verlauf dieser Sitzungen setzten sich die blockfreien Länder energisch dafür ein, daß nicht nur über Verfahrensfragen für die NVV-Konferenz verhandelt wird, sondern auch eine inhaltliche Diskussion stattfindet. Sie trugen erneut ihre Forderungen vor, daß die Kernwaffenstaaten wesentliche Abrüstungsschritte gemeinsam einleiten und präsentieren müßten, damit die NVV-Konferenz zum Erfolg führen kann. In einem von Kolumbien, Ägypten, Indonesien, Iran, Mexiko, Myanmar und Nigeria vorgelegten Papier heißt es:

„Der Erfolg der 1995 stattfindenden Konferenz kann nicht an der Frage der automatischen Verlängerung gemessen werden, sondern eher an der Ernsthaftigkeit, mit der die NVV-Mitgliedsstaaten die gegenwärtigen Herausforderungen im Bereich nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung bewerten und lösen.“

Gefordert wurden in diesem Papier fünf Maßnahmen:

  1. ein umfassender Teststopp-Vertrag;
  2. ein Verbot der Produktion spaltbarer Materialien für Kernwaffenzwecke, das die Vorräte und deren Auslaufenlassen beinhaltet;
  3. volle Sicherheitsgarantien für die Nicht-Kernwaffenstaaten;
  4. Sicherstellung des Zugangs zu Nukleartechnologien für friedliche Zwecke für alle Mitgliedsstaaten des NVV;
  5. Sicherstellung der Universalität des NVV.

Vor allem sollten die Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur vollständigen Abschaffung der Kernwaffen erneut bekräftigen, die sie mit der Unterzeichnung des NVV eingegangen sind. Das Problem liegt darin, daß der NVV keinerlei Vorgaben macht, wann dieses Ziel erreicht werden soll und wie die Einhaltung dieser Verpflichtung überprüft werden kann. Viele Staaten sind der Ansicht, daß die Erfüllung dieses Ziels nicht befriedigend gegeben ist und daß nur durch zukünftige Überprüfungskonferenzen und erneute Verlängerungsentscheidungen ein – wenn auch als unzureichend empfundener – Druck auf die Kernwaffenstaaten ausgeübt werden kann.

Unbefristete Verlängerung?

Wie groß die Basis für die Abschaffung der Kernwaffen ist, zeigte sich bei den Abstimmungen über mehrere Resolutionen der UNO-Generalversammlung im November 1994, in denen die westlichen Kernwaffenstaaten weitgehend isoliert waren.3

Obwohl die Zahl und Qualität der Kernwaffen heute höher ist als 1970, verweisen die Kernwaffenstaaten darauf, daß sie zumindest in den letzten Jahren mit START I und II, mit einseitigen Abzügen taktischer Kernwaffen sowie mit den begonnenen Teststoppverhandlungen endlich erste Abrüstungsschritte erreicht haben, und argumentieren, daß dies hinreichend sei. Allerdings räumte der Botschafter der USA, Thomas Graham, ein, daß der NVV nicht den permanenten Besitz von Kernwaffen legitimiert. Viele Nicht-Kernwaffenstaaten und Nicht-Regierungsorganisationen befürchten dennoch, daß mit einer unbefristeten Verlängerung des NVV faktisch die Möglichkeit für den permanenten Erhalt des Kernwaffenstatus für fünf Länder manifestiert wird. Sie treten dafür ein, den NVV nicht unbegrenzt zu verlängern, solange nicht ein Fahrplan für umfassende Abrüstungschritte vereinbart wurde.

Auf der dritten »PrepCom«, die u.a. die Hintergrundpapiere, die Tagesordnung und die Verfahrensregeln für die NVV-Konferenz 1995 verabschieden sollte, prallten die unterschiedlichen Positionen erstmals offen aufeinander. Mithilfe von Entscheidungen über Prozeduren und Ablauf der Konferenz wurde versucht, bestimmte Positionen zu stärken. Konflikte ergaben sich nicht nur in der Frage, ob die Verlängerungsentscheidung vor oder nach der Überprüfung des NVV stattfinden sollte, sondern auch über die Abstimmungsmodalitäten.

Bei den Vereinten Nationen ist es üblich, daß Abstimmungen vermieden werden und ein Konsens gefunden wird. Einige blockfreie Staaten haben betont, daß eine knappe Entscheidung für eine unbegrenzte Verlängerung gegen eine substantielle Minderheit bei vielen Staaten die Motivation, den Vertrag mit allen Kräften zu unterstützen, senken kann.

Westliche Befürworter einer unbegrenzten Verlängerung schoben die Verantwortung an der wenig kooperativen dritten »PrepCom« besonders auf den mexikanischen Botschafter Miguel Marin Bosch, der – von den mangelnden Fortschritten bei den Teststopp-Verhandlungen in Genf enttäuscht – die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtung in Artikel VI einklagte, sowie den iranischen Botschafter M. Sirous Nasseri, der geschickt die Interessen blockfreier Staaten an der zivilen Kernenergienutzung ausnutzte. So forderte der Iran bei der Diskussion eines Hintergrundpapiers der IAEO zur Kernenergie, daß die Implementierung von Artikel IV des NVV (friedliche Nutzung der Kernenergie) separat und nicht nur in Kombination mit anderen Artikeln überprüft wird. Dahinter steht der politische Konflikt, daß sich der Iran von den USA und anderen Ländern mit Exportbeschränkungen bei Nukleartechnologien in der Fortführung seines zivilen Kernenergieprogramms behindert fühlt und diese Exportkontrollpolitik als Verletzung des Artikels IV brandmarken möchte. Es wird vermutet, daß der Iran trotz seiner Mitgliedschaft im NVV ein geheimes militärisches Programm verfolgt.

Nicht geklärt werden konnten auf der dritten »PrepCom« u.a. die Prozedur für die Verlängerungsentscheidung, die Tagesordnung für die NVV-Konferenz, die Vorlage von Hintergrundpapieren sowie der Vorsitz für die NVV-Konferenz und die verschiedenen Komitees.

Im Unterschied zur dritten »PrepCom« wurde die unter Vorsitz des finnischen Botschafters Pasi Patokallio vom 23.-27. Januar 1995 in New York stattfindende vierte »PrepCom« allgemein als kooperativ charakterisiert, obwohl auch hier nicht alle wichtigen Fragen geklärt werden konnten. In einigen bedeutenden Problembereichen konnte eine Einigung erzielt werden, so bei der Festlegung der Vorsitzenden für die Konferenz und die Komitees, der Aufteilung der Kosten sowie über die Tagesordnung für die NVV-Konferenz. Deutlicher noch als in Genf agierten die Delegierten in drei Gruppen. Die Bewegung der Blockfreien Staaten wurde von Indonesien koordiniert, die Westgruppe (NATO, EU, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland) von Großbritannien, die osteuropäische Gruppe von Lettland. Während die beiden ersten Gruppen bemüht waren, ihre Strategie untereinander abzustimmen und koordiniert zu handeln, war die dritte Gruppe relativ schlecht organisiert und folgte weitgehend den Ansichten der Westgruppe.

Eine ambivalente Rolle spielte China, das als Kernwaffenstaat und Führungsmacht der »Dritten Welt« widersprüchliche Interessen vertritt. Zum einen setzt sich China offiziell für eine kernwaffenfreie Welt ein und fordert eine No-First-Use-Erklärung der Kernwaffenstaaten, zum anderen verzögert China rasche Fortschritte bei den Teststopp-Verhandlungen, u.a. mit dem Beharren auf »friedlichen« Kernexplosionen. Die Haltung zur unbegrenzten Verlängerung ist nicht eindeutig. In Erklärungen wird von einer »glatten Verlängerung« (smooth extension) gesprochen.

Streitpunkte der Verlängerungskonferenz

Gemäß der vereinbarten Tagesordnung wird die NVV-Konferenz wie folgt verlaufen. Nachdem in der ersten Woche unter Vorsitz von Botschafter Jayantha Dhanapala aus Sri Lanka hochrangige Regierungsvertreter ihre Stellungsnahmen abgeben werden, wird in den folgenden beiden Wochen der NVV in drei Hauptkomitees überprüft. Dabei handelt es sich um die Komitees für

  • Abrüstung, internationalen Frieden und Sicherheit (Vorsitzender Isaac Ayewah aus Nigeria),
  • Safeguards und kernwaffenfreie Zonen (Andre Erdos aus Ungarn) und
  • friedliche Nutzung der Kernenergie (Jaap Ramaker aus den Niederlanden).

In zwei weiteren Komitees (Drafting Committee unter Tadeusz Strulak aus Polen; Credentials Committee, vermutlich unter Leitung von Julio Londono aus Kolumbien) werden die Verlängerungsentscheidung und das Abschlußdokument vorbereitet. Erst in der letzten Woche soll die Frage der Verlängerung verstärkt diskutiert und dann entschieden werden.

Deutlich sichtbar waren weiterhin die ungelösten Problemfelder, allen voran die schleppenden Fortschritte bei den Verhandlungen der Genfer Abrüstungskonferenz zum Teststopp, zum Produktionsstopp für Spaltstoffe und zur Frage der Sicherheitsgarantien für Nicht-Kernwaffenstaaten. Auch die regionalen Probleme der Kernwaffenproliferation wurden erneut offensichtlich durch die Forderung Ägyptens, den NVV nur zu verlängern, wenn Israel dem Vertrag beitrete. Angesichts dieser und anderer Kritikpunkte war eine Mehrheit für die unbegrenzte Verlängerung des NVV nicht erkennbar. Lediglich 60 bis 70 Staaten unterstützten bislang diese Option. Die dadurch ausgelöste Verunsicherung im westlichen Lager führte zu einer wachsenden Kritik aus Rüstungskontrollkreisen der USA an der ungenügenden Verhandlungsdiplomatie der Clinton-Regierung und zur Forderung nach weiteren Zugeständnissen in der Abrüstung.4 Erstmals zog US-Botschafter Graham eine weitere Option in Erwägung, wonach eine automatische Verlängerung des NVV alle 25 Jahre vorgesehen sei, sofern nicht eine Mehrheit der Staaten dagegen stimme.5 Die Aufgabe der Mehrheitsbeschaffung würde damit umgekehrt. In Abschwächung dieser »Gedankenspielerei« zeigte sich Graham jedoch zuversichtlich, eine knappe Mehrheit für die unbegrenzte Verlängerung erreichen zu können.6 Unklar ist, ob die US-Regierung den dadurch für den NVV möglicherweise entstehenden Schaden riskieren will.

Auch wenn es im Einzelfall schwer nachweisbar sein dürfte, kann davon ausgegangen werden, daß die USA und andere Industriestaaten die Zeit bis zur NVV-Konferenz nutzen, um mit Lock- und Druckmitteln einzelne Staaten von der »erwünschten« Entscheidung zu überzeugen. Umgekehrt mögen manche Staaten die anstehende NVV-Entscheidung als Mittel benutzen, um westliche Unterstützung zu erhalten. In der Presse wurde spekuliert, der Milliardenkredit der USA an Mexiko könne gekoppelt sein an mexikanisches Wohlverhalten bei der NVV-Konferenz. Solche Vermutungen erhielten neue Nahrung durch die Ankündigung, der mexikanische Botschafter Bosch werde sein Amt niederlegen, allerdings erst nach der NVV-Konferenz.

Angesichts der unklaren Situation war das Abstimmungsverfahren der Hauptstreitpunkt bei der vierten »PrepCom«. Keine Einigung konnte erzielt werden bei der Regel 28, in der die Abstimmungsprozedur für die Verlängerungsentscheidung und die Abschlußdokumente festgelegt werden soll. Nach einem von Indonesien eingereichten Vorschlag sollen alle Verlängerungsvorschläge geichzeitig auf einem Wahlzettel zur Abstimmung stehen und der schwächste jeweils ausscheiden, bis bei einer wiederholten Wahlprozedur ein Vorschlag die Mehrheit erhält. Demgegenüber bevorzugt die Westgruppe sukzessive Abstimmungen über jeden einzelnen Vorschlag, in der Hoffnung, die unbegrenzte Verlängerung könne bereits in der ersten Runde die einfache Mehrheit erhalten. Die Entscheidung über das Abstimmungsverfahren nach Regel 28 wurde auf den 14./15. April vertagt.

Ungeklärt ist auch, was geschieht, wenn kein Vorschlag die erforderliche Mehrheit erhält. Da der NVV hier keine eindeutige Antwort gibt, kursieren verschiedene Interpretationsvorschläge. Während einzelne Beobachter hierin das Ende des NVV sehen, ist die gängige Ansicht, daß der NVV in Kraft bleibe, solange keine Entscheidung gefällt wurde. Indonesien schlug vor, daß ohne eine Einigung bis zum 12. Mai die NVV-Konferenz um maximal ein Jahr vertagt werden solle, Ägypten schlug sogar zwei Jahre vor. Dies gäbe zugleich die Gelegenheit, weitere Fortschritte bei den Teststopp-Verhandlungen abzuwarten. Nach einem Gegenvorschlag Rußlands solle die NVV-Konferenz nicht ohne eine Entscheidung beendet werden.

Rolle der Nichtregierungsorganisationen

Eine positive Rolle bei den beiden letzten »PrepComs« spielten die NROs, die in Genf und New York aktiv versuchten, auf den Verhandlungsprozeß Einfluß zu nehmen. Zugleich erwiesen sich die »PrepComs« als ein wichtiges Forum, um NROs aus aller Welt zusammenzubringen und über gemeinsame Strategien beraten zu lassen. Trotz unterschiedlicher Ansichten in der Verlängerungsfrage verständigten sich einige NROs in New York darauf, daß mehr getan werden müsse, damit die Atomwaffenstaaten die Abrüstungsverpflichtung nach Artikel VI erfüllen. Gemeinsam mit den Blockfreien Staaten teilten viele NROs die Sorge, daß der NVV jetzt in Erwartung von weiteren Abrüstungsfortschritten (insbesondere Teststopp) unbegrenzt verlängert werden könne, ohne daß es jedoch eine Garantie für solche Abrüstungsschritte gebe. Die Frage der Verlängerung dürfe daher nicht losgelöst vom Inhalt diskutiert werden. Eine Reihe von NROs setzte sich für die baldige Abschaffung aller Kernwaffen ein. Neben einer Anhörung, bei der fast alle NROs ihre Positionen darlegten,7 gab es weitere Veranstaltungen, die sich auch an die Delegierten richten sollten. So gab es kurz vor der 4. »PrepCom« in New York ein internationales Symposium des Institute for Energy and Environmental Research über die Kontrolle von Kernwaffenmaterialien, auf dem eine Erklärung zum Plutoniumproblem vorgestellt wurde.8 Am 27.1. führten neun Organisationen ein »Briefing« zur Kernwaffenmodernisierung und zu Initiativen für eine kernwaffenfreie Welt durch. Sehr positiv war, daß einige NROs die Gelegenheit nutzten, ihre Abrüstungskampagnen international zu vernetzen und sich auf die NVV-Konferenz zu konzentrieren.

So finden in der ersten Woche der NVV-Konferenz eine Reihe von Veranstaltungen der »International Citizen's Assembly To Stop the Spread of Weapons« statt, in der sich viele US-Friedens-Organisationen zusammengefunden haben. Die »International Coalition for Nuclear Nonproliferation and Disarmament«, die von vier internationalen Organisationen 1993 gegründet wurde (International Lawyers Against Nuclear Arms IALANA, International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility INES, International Physicians for the Prevention of Nuclear War IPPNW, International Peace Bureau IPB), will den NVV-Verhandlungsprozeß und das öffentliche Interesse nutzen, um das Ziel einer kernwaffenfreien Welt voranzubringen. Dazu wird am 25. und 26. April eine zweitägige gemeinsame Veranstaltung in New York durchgeführt. Während am ersten Tag das zu INES gehörige International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) eine Studie »Beyond the NPT – A Nuclear Weapon Free World« vorstellt, die derzeit von einer Gruppe von etwa als 50 Experten aus 17 Ländern erarbeitet wird, werden am zweiten Tag eine Reihe von Organisationen Strategien und Schritte zur Abschaffung von Kernwaffen diskutieren. Unterstützt wird die Veranstaltung von weiteren Organisationen, darunter Nuclear Age Peace Foundation, Peace Action und Fourth Freedom Forum in den USA.

Gemeinsam ist all diesen Aktivitäten die Hoffnung, daß die NVV-Konferenz nicht den bestehenden unbefriedigenden Zustand festschreibt, sondern der Anfang eines Verhandlungsprozesses wird, der in eine kernwaffenfreie Welt einmündet. Das von Befürwortern einer unbegrenzten Verlängerung vorgebrachte Argument, die Kopplung der NVV-Verlängerung an den Abrüstungsprozeß gefährde den Vertrag, wirkt wenig überzeugend angesichts der Tatsache, daß kein Mitgliedsstaat den Vertrag aufgeben möchte. Alle Kritik richtet sich nur darauf, daß der NVV nicht genügend und in allen Teilen eingehalten wird, besonders nicht von den Kernwaffenstaaten. Wenn der NPT gefährdet ist, dann nur durch deren einseitiges Festhalten an ihrem Nuklearstatus, das erst den Nuklearclub erzeugt, in den auch andere Staaten eintreten wollen. Das Beharren auf Kernwaffen als legitimes Element der Sicherheitspolitik verhindert ihre Ächtung und die Abschaffung durch eine Nuklearwaffenkonvention, die langfristig den NVV ersetzen könnte.

Inhalte des Nichtverbreitungsvertrages

1. Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten

  • Keine Weitergabe von Kernwaffen an andere oder Hilfe bei der Beschaffung; Übergabe der
    Verfügungsgewalt ist verboten (Artikel I)<>
  • Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« werden den Vertragsparteien
    zugänglich gemacht (Artikel V).
  • Verhandlungen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung
    sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung (explizit genannt
    werden Kernwaffenteststopp, Einstellungen der Kernwaffenproduktion) sollen geführt werden
    (Artikel VI und Präambel).

2. Verpflichtungen der Nicht-Kernwaffenstaaten

  • Keine Annahme von Kernwaffen oder Verfügungsgewalt darüber; keine Herstellung oder
    Produktion, keine Unterstützung anderer oder Annahme von fremder Unterstützung (Artikel
    II).
  • Annahme von Sicherheitsmaßnahmen (»Safeguards« der Internationalen
    Atomenergieorganisation IAEO), die auf alles Ausgangsmaterial und besondere spaltbare
    Materialien sowie alle Nuklearaktivitäten angewandt werden (Artikel III).

3. Gemeinschaftliche Verpflichtungen

  • Weitergabe von besonderem spaltbarem Material und entsprechenden Ausrüstungen, nur wenn
    sie Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).
  • Erleichterung und Förderung der zivilen

Kernenergienutzung, wissenschaftlich-technologischer Austausch (Artikel IV und
Präambel).

Statement for the International Network of Engineers and Scientists Against
Proliferation (INESAP) at the NGO briefing at the 4th NPT PrepCom, New York, 25 January
1995

The 1995 NPT Review and Extension Conference comes at a crucial juncture in the nuclear
age. On the one hand, there have been recent ominous indications of propensity and
capacity to breach the treaty. On the other, there is a clear end-of-the-Cold-War
opportunity to greatly scale back or even eliminate nuclear arsenals altogether. 50 years
after nuclear proliferation started in the desert of New Mexico and killed hundreds of
thousands in Hiroshima and Nagasaki, it is a critical issue whether the political pressure
is strong enough to transform the traditional non-proliferation regime into a global
nuclear disarmament regime.

Although one surely can appreciate the NPT as the cornerstone of the current
non-proliferation regime, its shortcomings should not be ignored:

1. The NPT is discriminatory in effectively dividing the world into nuclear weapon
»haves« and »have-nots«;

2. it does not define a clear path and provides no procedures for nuclear disarmament;

3. it largely ignores the civil-military ambivalence and dual-use potential of nuclear
research and technology;

4. it permits »peaceful« nuclear explosions;

5. the IAEA, as the main agent of the NPT, has a contradictory double role as promoter
as well as controller of nuclear energy and technology.

To focus only on the length of extension of the NPT, without dealing with its content
and implementation is too narrow and inadequate to the complex problems we are facing
today. In calling for an indefinite, unconditional extension, the NPT nuclear weapon
states divert attention from the NPT's ultimate goal, set out in the preamble „the
elimination from national arsenals of nuclear weapons and the means of their
delivery“
. This goal is obviously contradictory to indefinite extension of the
status of the nuclear weapon powers. A growing number of countries, who now have the power
to vote on the NPT extension, is concerned that after an indefinite extension they might
never be asked to vote again on this issue, as long as no further procedures towards
nuclear disarmament are agreed upon.

It is imperative that the 1995 NPT Conference go on record with a strong endorsement of
the Article VI obligations of the nuclear weapon states to pursue negotiations in good
faith „on effective measures relating to cessation of the nuclear arms race at an
early date and to nuclear disarmament“
. The ultimate aim of these negotiations
should be a Nuclear Weapons Convention (NWC) to prohibit and eliminate nuclear weapons,
which would be an essential step towards „a treaty on general and complete
disarmament under strict and effective international control“
(Article VI).

To work out such a treaty in detail many difficult issues need to be dealt with and
years of negotiation may be required. As the model of experience with the Chemical Weapons
Convention has shown, success depends on political will and mutual confidence. The
negotiation process would offer many opportunities to focus public attention on this
issue. The historic opportunity of 1995 should not be missed.

It is important that we don't block our thinking by what is acceptable for the nuclear
weapon states. Both non-governmental organizations and those governments willing to
actively promote disarmament should develop their own ideas on a Nuclear Weapons
Convention as part of a concerted effort. The International Network of Engineers and
Scientists Against Proliferation (INESAP), in particular, has convened a Study Group of
more than 40 experts from 17 countries to clarify the technical and legal issues, to
specify the ultimate goal of a nuclear weapons free world and a step-by-step transition
towards it, and to help in facilitating negotiations beyond the NPT.

As its first activity the Study Group is preparing a scientific document which will be
presented in April 1995, at the time of the NPT Conference in New York. One part of this
work will be to outline a Draft Nuclear Weapon Convention and to examine strategies to
implement it. An essential part would be steps towards that goal including a Comprehensive
Test Ban Treaty, a comprehensive cutoff in the production of weapons-usable nuclear
materials, further disarmament of nuclear arsenals and related delivery systems. Regional
approaches, modeled after the successful Nuclear Weapon Free Zone negotiations in Latin
America and the South Pacific, would serve as a cornerstone of implementing a NWC.

To have an effect, the activities towards a nuclear weapons free world, to be enshrined
in a Nuclear Weapon Convention, need a concerted effort. Therefore, we invite all who are
willing to contribute to join these efforts.

Jürgen Scheffran and Barry M. Casper

Anmerkungen

1) Venezuela hat vorgeschlagen, den NVV in seiner jetzigen Form zu verlängern, was einen Zeitraum von wieder 25 Jahren impliziert. Zurück

2) Zur dritten und vierten »PrepCom« siehe die ausführlichen ACRONYM-Reports Nr. 3 vom September 1994 und Nr. 4 vom Februar 1995 von Rebecca Johnson. Das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) berichtete täglich über Internet aus Genf. Siehe die Zusammenfassung in: M. Kalinowski, Report from Geneva, INESAP Information Bulletin, Nr.3, Oktober 1994. Zurück

3) Nuclear Powers Suffer Set Back in G.A. Votes, Disarmament Times, 20.12.1994. Zurück

4) Atoms Arms Pact Runs Into a Snag, New York Times, 26.1.1995. Zurück

5) U.S. Weighs Extension on UN Nuclear Treaty, Associated Press in January 25, 1995, Boston Globe. Zurück

6) So bei einer großen internationalen Konferenz der Carnegie Endowment for International Peace unmittelbar nach der 4. »PrepCom« in Washington. Hier gab auch US-Sicherheitsberater Anthony Lake bekannt, daß die US-Regierung von ihrer Bedingung abgerückt sei, von einen Teststopp-Vertrag nach 10 Jahren zurücktreten können. Zurück

7) Zur Stellungnahme von INESAP siehe Kasten. Zurück

8) Siehe Blaue Seiten in w&f 1/95 Zurück

Martin Kalinowski und Jürgen Scheffran arbeiten als Physiker bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TH Darmstadt. Weiterhin sind sie engagiert bei der Arbeit des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

Vom Nichtverbreitungsvertrag zur Nuklearwaffenkonvention

Vom Nichtverbreitungsvertrag zur Nuklearwaffenkonvention

Schritte zur atomwaffenfreien Welt

von Wolfgang Liebert

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) für Kernwaffen steht nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung an. Die Frage muß gestellt werden, ob dieser Vertrag tatsächlich sein Ziel erreicht, zur nuklearen Abrüstung zu führen sowie die Weiterverbreitung der Atomwaffentechnologie wirksam zu verhindern. Weiterhin ist zu fragen, welche Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung bestehen.

Auch wenn seit Aushandlung des NVV in den sechziger Jahren »nur« Israel, Indien, Pakistan und Südafrika neu zu Kernwaffenstaaten wurden, so bleiben doch gewichtige Mängel des Vertrages zu konstatieren, die langfristig kontraproduktiv wirken1.

Der Vertrag ist de-jure und in seiner Praxis de-facto diskriminatorisch. Er schreibt fünf Atommächte auf Dauer fest, läßt eine Fortentwicklung der nuklearen Arsenale in diesen Staaten zu und sieht dort keinerlei Kontrollen vor. Einer zweiten Gruppe von Staaten, zu der im wesentlichen hochentwickelte Industrieländer zählen, ist zwar der Zugriff auf Atomwaffen verwehrt, aber alle sensitiven Nukleartechnologien mit Relevanz für mögliche Kernwaffenprogramme können in diesen Ländern genutzt und innerhalb dieser und der erstgenannten Gruppe exportiert werden. Einer dritten Gruppe von Staaten ist sowohl der Zugriff auf Atomwaffen als auch auf bestimmte sensitive Nukleartechnologie verwehrt, die hier als Ausdruck einer Kernwaffenoption interpretiert wird. Unterstützt durch einseitige Exportkontrolle wichtiger Lieferländer für Nukleartechnologie und -material kann dieses Mehrklassensystem notdürftig aufrechterhalten werden. Einerseits immer in der Gefahr, unzureichend durchgeführt zu werden, steht Exportkontrolle auf der anderen Seite immer in dem Ruch, ein »Technologie-Embargo« des Nordens gegen den Süden darzustellen, was entsprechende vehemente Kritik von Vertretern der sogenannten Dritten Welt heraufbeschwört.

Eine weitere herausragende Schwachstelle des NVV ist, daß er in Artikel VI und in seiner Präambel zwar baldige Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung – und sogar zur vollständigen Abrüstung – fordert, aber keine verbindlichen Wege dorthin festschreibt. Die Nichtbeachtung der zivil-militärischen Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie2 ist ein weiterer zentraler Mangel des NVV. Zivile Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen. Die in der Präambel und im Artikel IV erfolgende Propagierung der weltweiten zivilen Nutzung der Kernenergie und ihre ungebremste Fortentwicklung kann nicht losgelöst betrachtet werden von der damit immer auch erfolgenden Weiterverbreitung, Beibehaltung oder Verbesserung wissenschaftlich-technischer Grundlagen für Kernwaffenoptionen.

Die nukleare Wirklichkeit

Der NVV war eigentlich gedacht als ein erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen, die auf dem besonders dringlichen Feld der nuklearen Abrüstung beginnen und dabei die als sehr bedrohlich empfundene nukleare Weiterverbreitung in den Blick nehmen sollte. Dies belegen zahlreiche Dokumente der Generalversammlung der Vereinten Nationen.3 Die Wirklichkeit der letzen 25 Jahre spricht eine andere Sprache. Der technologisch dominierte Rüstungswettlauf zwischen dem westlichen und östlichen Block, angeführt von den beiden damaligen Supermächten, wurde nach 1970 noch weiter intensiviert. Die vertikale Proliferation, also die Weiterentwicklung und Vergrößerung von Kernwaffenarsenalen, ging verstärkt weiter.

Ende 1994, also fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges waren die strategischen Nuklearpotentiale der USA und der GUS/Sowjetunion mit je 8380 bzw. etwa 9650 Sprengköpfen noch immer deutlich höher als im Jahr des Inkrafttretens des NVV mit geschätzt je 4200-5240 bzw. unter 2000 bis 2210 strategischen Atomwaffen (exakte Zahlen sind nicht bekannt). Mehr als 22.000 Sprengköpfe, deren Sprengkraft mehr als einer halben Million Hiroshimabomben entspricht, waren Ende 1994 in den einsatzfähigen Arsenalen der fünf offiziellen und der zur Zeit sechs De-facto-Atommächte (vergl. Karte S. 25). Noch immer sind 45.000 intakte Atomsprengköpfe in der Welt, denn die Demontage geht in den USA und in Rußland nur langsam vonstatten (nur etwa 1500 bzw. 2500 Sprengköpfe jährlich) und eine in seiner Größenordnung nicht öffentlich bezifferte »nukleare Reserve« soll zusätzlich bestehen bleiben.

Während klar ist, daß die für das Jahr 2003 angekündigten Abrüstungsschritte der beiden alten Supermächte dort offiziell insgesamt etwa 10.000 Sprengköpfe belassen werden und die kleineren Atommächte ihre Arsenale eher modernisieren und erweitern und gar nicht an Abrüstung denken, versuchen die Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten die horizontale Proliferation, also die Weiterverbreitungsgefahr, allein ins Zentrum der Debatte um den NVV zu schieben. Sie fordern gemeinsam mit ihren Verbündeten eine unbegrenzte Verlängerung des Vertrages. Gleichzeitig beharren die etablierten Atommächte auf der Rationalität ihres Kernwaffenbesitzes. In Südostasien vertreten die »Falken« die These, ein System nuklearer Abschreckung könne dort den Frieden sichern.

Tatsächlich sind die Abschreckungsdoktrinen nach Beendigung der Blockkonfrontation nicht beseitigt. Nukleare Abschreckung war ursprünglich gedacht als eine wechselseitige Abschreckung zwischen Atommächten gegen den möglichen Gebrauch durch die jeweils andere Seite. Diese ursprüngliche Konzeption wurde erweitert durch den »Schutz« von Verbündeten gegen mögliche Kernwaffenangriffe und entsprechende »Sicherheitsgarantien«, ausgesprochen gegenüber weiteren Staaten. Der Aufbau »gesicherter Zweitschlagskapazitäten« setzte eine Spirale der nuklearen Aufrüstung in Gang. In einer zweiten Stufe wurden Kernwaffen als letztes Mittel interpretiert (Weapons of Last Resort), die notfalls beispielsweise gegen einen konventionell überlegenen Angreifer eingesetzt werden sollten, ohne daß ein Nuklearangriff der »anderen Seite« vorausgehen müßte. Dies wurde die bis heute gültige NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz lebt.

Eine dritte Stufe der »Abschreckungslogik« wird im alten westlichen Bündnis diskutiert. Hier wird geglaubt, Atomwaffenbesitz und die Drohung mit seinem Einsatz könne (oder solle) vor dem Gebrauch anderer sogenannter Massenvernichtungswaffen abschrecken. Eine vierte und fünfte Stufe »neuer Aufgaben« für Kernwaffen werden in NATO-Kreisen, aber vorrangig in den USA, vorgeschlagen. Die Möglichkeit einer Abschreckung gegen die Entwicklung von Atomwaffen mit der eigenen Einsatzdrohung wird postuliert, sowie eine regionale Einsatzmöglichkeit oder eine begrenzte Verwendung gegen verbunkerte Ziele. Für die letztere neuartige Mission wird die Fortentwicklung von Kernwaffen zu kleineren, einsatzfähigeren Typen diskutiert4.

Gegen alle diese Stufen der Abschreckungslogik lassen sich sehr rationale Gegenargumente vortragen5. Insbesondere die letzten drei erscheinen äußerst fragwürdig; sie würden eher einen weiteren Anreiz für die Beschaffung von entsprechenden Drohpotentialen durch diejenigen bieten, die eigentlich »abgeschreckt« werden sollen. Dies gilt auch für die Ersteinsatzdoktrin. Das erschreckende Argument, man müsse eine letzte vernichtende Waffe in der Hand haben, um für jede Eventualität gerüstet zu sein, sollte nach Ende des Kalten Krieges endgültig obsolet geworden sein. übrig bliebe allenfalls – solange Kernwaffen existieren – der alte Kern der Abschreckung, der durch den eigenen Atomwaffenbesitz den Gebrauch von Atomwaffen durch andere existierende Kernwaffenstaaten verhindern will.

Weiterverbreitung im zivilen Bereich

Die Hoffnung, durch »Überwachungsmaßnahmen« der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die eindeutige Abgrenzung gegen die mögliche militärische Nutzung ziviler Programme sicherzustellen, ist nicht in Erfüllung gegangen. In zunehmendem Maße sind Mitgliedsländer des NVV in Verdacht geraten, geheime Kernwaffenprogramme zu verfolgen, die in Zusammenhang mit angeblich »rein zivilen« Aktivitäten zu bringen sind. Das Konzept und die Praxis der IAEO-Sicherungsmaßnahmen hat einige deutlich aufzeigbare Schwächen6. Bei gutem Willen aller Beteiligten wäre mit entsprechenden Reformen einiges behebbar, aber es bleiben aus technischen Gründen auch prinzipielle Lücken der Überwachung bestehen, die direkt die Nichtentdeckbarkeit einer möglichen Abzweigung waffengrädiger Nuklearmaterialien aus zivilen Programmen betreffen.

Der Zugriff auf waffengrädiges Material, insbesondere Plutonium und hochangereichertes Uran7, ist eines der wichtigsten Indizien für die Atomwaffenfähigkeit eines Landes. Mehr als 20 Länder beherrschen inzwischen entsprechende Produktionstechnologien (Urananreicherung und Wiederaufarbeitung von Reaktorbrennstoffen) oder besitzen Lager waffengrädigen Materials, das direkt eine Bombenproduktion ermöglichen würde. Die Bandbreite des »nuklearen Status« reicht vom gegenwärtigen Atomwaffenbesitz bis zu einer Zugriffsmöglichkeit, die eine über einige Jahre erfolgende geheime Spaltmaterialproduktion erforderlich machen würde. (Vergl. Karte S. 25)

Direkt für den Gebrauch in Atomwaffenprogrammen sind etwa 270 Tonnen Plutonium und über 2.200 Tonnen hochangereichertes Uran (HEU) produziert worden8. Im zivilen Bereich werden jährlich etwa 70 Tonnen Plutonium in den weltweit mehr als 400 Leistungsreaktoren produziert. Mehr als 100 Tonnen sogenannten »Reaktorplutoniums«, das gleichwohl waffentauglich ist9, wird in abgetrennter Form in einer Reihe von Ländern gelagert, ohne daß klar wäre, ob es jemals wieder genutzt wird. Es ist allgemein anerkannt, daß die Verwendung von Plutonium in Mischoxid-Brennelementen (MOX) heute unwirtschaftlich ist. Ähnliches gilt für eine zukünftige Nutzung von Plutonium in Schnellen Brutreaktoren, deren Weiterentwicklung immer unwahrscheinlicher wird. Es wird erwartet, daß die auf Lager befindlichen »zivilen Plutoniummengen« schon zu Beginn des nächsten Jahrhunderts die Mengen im militärischen Bereich übersteigen werden.

Die Nutzung von HEU im zivilen Bereich ist heute beschränkt auf die Verwendung als Brennstoff für Forschungsreaktoren, die Neutronen für die Forschung zur Verfügung stellen. Internationale Umstellungsprogramme bemühen sich seit 1978, den HEU-Reaktorbrennstoff überflüssig zu machen durch Bereitstellung von neuen hochdichten Brennstoffen, die unter Verwendung von nicht waffentauglichem schwach angereichertem Brennstoff ähnliche Neutronenflüsse wie unter HEU-Nutzung ermöglichen. Noch haben 30 von knapp 300 weltweit betriebenen Forschungsreaktoren HEU-Beladungsmengen von mehr als 5 Kilogramm. Dies ist aber im Prinzip unnötig geworden.

Die Weiterentwicklung von ziviler Kerntechnologie unter Nutzung waffengrädiger Stoffe wird durch den Nichtverbreitungsvertrag nicht berührt. Entsprechende Bereiche sollen überwacht, aber mitnichten beschränkt werden. Die prinzipielle Lückenhaftigkeit der Überwachungsmaßnahmen und die quantitative Zunahme der »rein zivilen« Nuklearaktivitäten haben eine wachsende Proliferationsgefahr zur Folge.

Transformation des Nichtweiterverbreitungsregimes

Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) war ein Kind des Kalten Krieges und der Kernenergieeuphorie der sechziger Jahre. Die Welt hat sich seither gewandelt und eine kritische Einschätzung der möglichen Zukunft für die Kernenergie hat Überhand genommen. In der Praxis hat sich lediglich ein unvollständiges und teilweise in sich widersprüchliches Nichtweiterverbreitungsregime für Kernwaffen entwickelt, in dessen Zentrum der NVV steht. Dieser Vertrag wird nicht für veränderbar gehalten. Bereits seine diesbezüglichen Bestimmungen in Artikel VIII sprechen für eine solche Einschätzung. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß der Vertrag und das Non-Proliferation-Regime in seiner bestehenden Form das Problem der Kernwaffenverbreitung nicht löst.

Der Glaube an die Rationalität von Atomwaffen war schon in den Zeiten der Blockkonfrontation mehr als fragwürdig. Solange bei uns angeblich rationale, alte oder neue Nukleardoktrinen Gültigkeit besitzen, solange werden Atomwaffen auch begehrlich bleiben für bestimmte Staatenlenker in anderen Regionen der Welt. Begegnet man der drohenden Weiterverbreitung von Kernwaffen wirklich damit am Besten, daß man die angebliche Sinnhaftigkeit von Sicherheitskonzeptionen auf der Basis von Kernwaffenbesitz fortschreibt oder gar erweitert? Wäre es nicht viel rationaler, eine baldige globale Eliminierung dieser Waffen anzustreben? Die fortgesetzte Drohung mit dem Ersteinsatz ist jedenfalls der größte Widerspruch zu einer offiziell verlautbarten strikten Nichtverbreitungpolitik, die im Deklamatorischen stehen zu bleiben droht.10

Eine Alternative wäre die Transformation des existierenden Regimes zu einem Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen, das diesen Namen auch verdient11. Daher sollte unter Beibehaltung des Nichtverbreitungsvertrages auf Zeit ein neues Regime der atomwaffenfreien Welt angesteuert werden. Dafür können zwei Grundannahmen gemacht werden. Erstens: Die Weiterverbreitung kann auf Dauer nur gestoppt werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Zweitens: Die Vermeidung einer Aufrechterhaltung wissenschaftlich-technologischer Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich ist auf lange Sicht entscheidend.

Im Zentrum dieses für alle Staaten ungeteilt und gleichermaßen verbindlichen Regimes sollte eine Kernwaffenkonvention stehen – nach dem Vorbild der bereits existierenden C- und B-Waffen Konventionen. Wesentlich ist die Organisierung eines schrittweisen Veränderungsprozesses, der die positiven Seiten des existierenden Nichtweiterverbeitungsregimes nicht gefährdet. Solche Transformationsschritte, die die genannten Mängel des NVV ausgleichen müssen, könnten sein:

  • einseitige (völkerrechtlich verbindliche) Erklärungen in Bezug zum NVV und Selbstbeschränkungen, die über Bestimmungen des NVV hinausgehen;
  • multilaterale Vereinbarungen, die den NVV neu einbetten und fortdauernde Gültigkeit für das angestrebte echte Nichtverbreitungsregime haben können;
  • neue global gültige Verträge, die den Übergang in die atomwaffenfreie Welt sichern.

Besondere Verantwortung haben hier die Kernwaffenstaaten – ob offiziell deklariert oder nicht, spielt hier keine Rolle – und die im Prinzip kernwaffenfähigen Staaten, zu denen Deutschland gehört.

Transformationsschritte und die Nuklearwaffenkonvention

Große Bedeutung hat der alsbaldige Abschluß eines seit Jahrzehnten geforderten vollständigen Teststoppabkommens, das jegliche Weiterentwicklung oder Neuentwicklung von Kernwaffen ausschließt.12 Die nukleare Abrüstung muß über das hinausgehen, was die USA und Rußland bislang vereinbart haben; in weitere Abrüstungsschritte sollten dringlich die weiteren Atommächte einbezogen werden, die bislang immer noch die gegensätzliche Strategie der Erweiterung oder Modernisierung ihrer Arsenale verfolgen. Ein »Fahrplan« der nuklearen Abrüstung auf Null in allen Ländern müßte ausgehandelt und dann unter Angabe zeitlicher Vorgaben verbindlich gemacht werden.13

Das Ende jeglicher Produktion waffengrädiger Nuklearmaterialien (hochangereichertes Uran (HEU), Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium) in für Atomwaffen relevanten Mengen sollte in einer »Cutoff Convention«14 geregelt werden. Ergänzend könnte der Verzicht auf die Nutzung und Weiterentwicklung sensitiver Nukleartechnologien, die im Prinzip im NVV erlaubt sind, ausgesprochen werden. Parallel sollten die Überwachungsmaßnahmen in allen Ländern verbessert werden und endlich auch sämtliche Anlagen der etablierten Kernwaffenstaaten einbezogen werden. Die Internationalisierung aller Lager waffengrädiger Spaltstoffe (unter Einschluß von Tritium) wäre eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung der Aufrechterhaltung von möglichen Kernwaffenoptionen. Wirksam wäre ebenfalls die Internationalisierung von Anreicherungsanlagen, die Reaktorbrennstoffe produzieren – aber theroetisch auch waffengrädiges HEU herstellen könnten.

Der multilateral ausgesprochene Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen (No-first-use Treaty) wäre der erste Schritt zur Aufhebung gültiger Nukleardoktrinen. Ein Abzug aller Atomwaffen von fremden Territorien wäre ein weiteres Signal, das die Rolle der Atomwaffen in der internationalen Politik minimiert.

Als Ersatz für das alte »Geschäft« des NVV (zivile Kerntechnik gegen Verzicht auf die militärische Nutzung) sollte ein neues international wirksames Angebot der Industrieländer entwickelt werden, daß die Verbreitung und Weiterentwicklung nicht-nuklearer Energieträger in offener internationaler Kooperation anstrebt.

Die Etablierung einer kernwaffenfreien Welt15 erfordert schließlich einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt, damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Kernwaffenstaat bekommen und unbegrenzt beibehalten.16 Eine solche Nuklearwaffenkonvention (NWK) sollte unendliche Gültigkeit haben können und keine Sonderrechte für einige wenige sichern. Sie sollte den NVV (sowie weitere Verträge) eines Tages ersetzen und dabei seine Schwachstellen ausgleichen. Die Aushandlung einer NWK wird Jahre dauern, die technische und politische Verwirklichung vielleicht sogar Jahrzehnte. Es wäre ein eindeutiges und begrüßenswertes Signal, wenn sich die NVV Konferenz in ihrem Abschlußdokument für ein entsprechendes Verhandlungsmandat der Genfer Abrüstungskonferenz ausspräche.

Deutsche Schritte auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt

Deutschland spielt eine Sonderrolle, was die Atomwaffenfrage angeht. Deutschland hat zwar völkerrechtlich verbindlich auf Atomwaffen verzichtet, aber die deutsche Regierung setzt sich weder für einen baldigen Ausstieg aus den Nuleardoktrinen der Vergangenheit ein, noch erteilt sie einer Erweiterung des Aufgabenkatalogs für Atomwaffen eine Absage, im Gegenteil, sie tut alles, um dies im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« vom deutschen Territorium aus mitvorzubereiten.17 Gleichzeitig hat Deutschland Zugriff auf Technologien, mit denen Bombenstoff hergestellt werden kann; es lagern hier bereits große Mengen waffengrädigen Nuklearmaterials (insbesondere eine öffentlich nicht bekannte Tonnenmenge abgetrennten Plutoniums), das direkt für Atomwaffen verwendbar wäre. Das deutsche technologische Know-how ließe theoretisch eine sehr rasche Herstellung von Atomwaffen zu. Daraus ergibt sich eine besondere deutsche Verantwortung, die Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik, sowie die Forschungs-, Technologie- und Energiepolitik haben sollte.

Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bundesregierung zwar eindeutig für eine Verlängerung des NVV aber genauso eindeutig gegen eine unbegrenzte Verlängerung des NVV ausspräche und auf die Kernwaffenstaaten und weitere Bündnispartner einwirken würde, die weiter oben skizzierten Schritte zu erreichen. Dabei sollten die außerhalb des NVV stehenden De-facto-Kernwaffenstaaten miteinbezogen werden. Auch andere für nicht vertrauenswürdig gehaltene Staaten innerhalb des NVV könnten durch eindeutige Vorbilder bei den hochentwickelten Industriestaaten in Richtung auf einen Verzicht auf Atomwaffenoptionen beeinflußt werden.

Überzeugend würde eine solche deutsche Position allerdings erst, wenn eigene entschiedene Schritte in die anvisierte Richtung ergriffen würden. Wichtig wäre die Erreichung einer maximalen Glaubwürdigkeit durch Übertragbarkeit der Position auf alle Staaten. Hierbei spielt ein eindeutiger Selbstverzicht in Richtung auf maximale Proliferationsresistenz des genutzten Brennstoffkreislaufes eine wesentliche Rolle. Die Wahrnehmung des NVV als diskriminierendes Dokument kann nur aufgehoben werden durch radikale nukleare Abrüstung und konsequente Vermeidung des Erhaltes wissenschaftlich-technologischer Optionen, die für Kernwaffen wesentliche Voraussetzungen sind.

Daraus können eine Reihe von direkten Maßnahmen für die deutsche Exekutive abgeleitet werden. Einige von ihnen hätten deutliche Handlungs-Konsequenzen. Eine völkerrechtlich verbindliche deutsche Erklärung zum NVV könnte abgegeben werden, die ein Desinteresse an der Nutzung ziviler Kernsprengungen dauerhaft festschreibt. Der im NVV ausgedrückten Wertschätzung für »zivile Kernsprengungen«, die weder von militärischen Waffentests zu unterscheiden sind, noch irgendeinen zivilen Sinn machen, zeigt deutlich, daß der NVV als historisches Dokument anzusehen ist, das keine unbefristete Gültigkeit haben sollte. Die Abgabe der Erklärung im direkten Bezug zum NVV hätte keine Handlungskonsequenzen, wäre aber das »Einfallstor« für die Transformationsidee.

Ein klar ausgesprochener Verzicht auf Produktion und Nutzung hochangereicherten Urans (HEU) könnte die weltweiten Bemühungen, diesen Waffenstoff gänzlich aus dem zivilen Bereich zu verbannen, unterstützen. In der Konsequenz müßte auf die gegenwärtige Konzeption des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors (FRM II) verzichtet werden. Ähnliches könnte schrittweise für die Plutoniumproduktion und -nutzung im zivilen Bereich erfolgen. Zunächst könnte der Verzicht auf Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente auf deutschem Boden erklärt werden. Dies hätte nach der Aufgabe der Pläne für Wackersdorf und die Schließung der Karlsruher Versuchsanlage de-facto keine weitere Handlungskonsequenz. Ein genereller Verzicht auf Plutoniumnutzung hätte zur Konsequenz: 1. Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge im Ausland, insbesondere mit der französischen Cogema und der britischen THORP; 2. Ende der Mischoxidnutzung (MOX) in deutschen Reaktoren; 3. Keine Fertigstellung bzw. Inbetriebnahme der im Bau befindlichen neuen Hanauer Brennelementefabrik.

Abschließend wäre eine allgemeine Erklärung der Nicht-Produktion und Nicht-Nutzung waffengrädigen Nuklearmaterials in für Kernwaffen relevanten Mengen wünschenswert. Damit wäre auch die Nichtnutzung von Tritium eingeschlossen. Zuvor könnten nationale Schritte zur Internationalisierung aller Lager waffenfähigen Materials ergriffen werden, beispielsweise durch die Übergabe der deutschen Plutoniumvorräte an eine internationale Behörde.

Der erklärte Verzicht auf Weiterentwicklung neuer proliferationsträchtiger Nukleartechnologie wäre ein weiteres wünschenswertes international wirksames Signal. Stattdessen könnte Deutschland sein wissenschaftliches und technologisches Know-how einsetzen, um Wege zur Zerstörung von Plutonium zu erforschen.

Eine Aufrechterhaltung der strikter gewordenen Exportkontrolle und ihre ungeteilte Anwendung auf alle Länder ist in einer Übergangszeit dringend notwendig, solange bis das Prinzip »exportiert werden kann, was auch im eigenen Land für unverzichtbar gehalten wird« maßgeblicher werden kann. Demnach darf keine Aufweichung der Gesetzgebung im Dual-use-Bereich (die aber leider bereits erfolgt) oder im Rahmen der anstehenden europäischen »Harmonisierung« der Kontrollrichtlinien stattfinden.

Die deutsche Regierung sollte sich für die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Mitteleuropa einsetzen. Damit verbunden wäre die Abzugsforderung für die noch immer auf deutschem Boden stationierten Kernwaffen. Vorausgehen müßte ein Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe, d.h. keine Trägersysteme sollten mehr für Atomwaffen bereitgehalten werden. Innerhalb der NATO müßte Deutschland dringlich seinen Einfluß geltend machen für eine schnelle Abkehr von der Doktrin der Flexible Response, die den Ersteinsatz von Atomwaffen ermöglicht. Ebenso könnte die deutsche Regierung für ein Verhandlungsmandat der Abrüstungskonferenz über eine Nuklearwaffenkonvention werben.

Die massive Entwicklung von Alternativen zur Kernenergienutzung insbesondere in Kooperation mit sich entwickelnden Ländern würde der globalen Sicherheit mehr dienen als das Setzen auf neue nukleare Energieoptionen. Eine Initiative für eine entsprechende internationale Behörde wäre wünschenswert. Dabei könnte auch eine Beschränkung der Rolle einer gründlich reformierten IAEO allein auf den Bereich der Überwachung, Kontrolle und Reaktorsicherheit erfolgen.

Dies alles wären eindeutige, glaubwürdige und unumkehrbare Schritte auf dem Weg in eine nuklearwaffenfreie Welt. Eine Umsetzung im nationalen Rahmen könnte die beste Werbung für den internationalen Erfolg einer solchen Neukonzeption im Bereich der Non-Proliferation und Abrüstung darstellen. Eine aktive Wahrnehmung der deutschen Verantwortung für diesen Übergang in die atomwaffenfreie Welt wäre dringend geboten.

Anmerkungen

1) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtverbreitungsvertrag, Wissenschaft und Frieden, 12. Jg, 1/1994, S.57-64. Zurück

2) W. Liebert, Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck (Hrsg.), Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1991, S.147-168. Zurück

3) Vergl. W. Epstein, The Non-Proliferation Treaty and the Review Conferences – 1965 to the Present, in: R.D. Burns (ed.), Encycolpedia of Arms Control and Disarmament, New York: Charles Scribner's Sons, 1993, p.855-875; W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtbverbreitungsvertrag, op.cit. Zurück

4) W. Arkin, Nuclear Junkies: Those Lovable Little Bombs, The Bulletin of the Atomic Scientists, July/August 1993, 22-27. Zurück

5) Vergl. beispielsweise W. Panofsky, G. Bunn, The Doctrine of the Nuclear-Weapon States and the Future of Non-Proliferation, Arms Control Today, July/August 1984, 3-9; M. MccGwire, Is there a future for nuclear weapons?, International Affaires 70,2 (1994), 211-228; aber teilweise auch A. Dregger, Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik, in: Das Parlament, Beilage, 3.1.1995, S.21-26. Zurück

6) Vergl. beispielsweise W. Liebert, M. Kalinowski, Safeguards und Verifikation der Nichtverbreitung von Kernwaffen, antimilitarismus information (ami), 24.Jg., Dez. 1994, 23-32. Zurück

7) Die Nutzung des schweren Wasserstoffisotops Tritium spielt im zivilen Bereich noch eine untergeordnete Rolle, während er für fortgeschrittene Atomwaffenstaaten große Bedeutung hat: Grammengen von Tritium in bestimmte Konzepte von Spaltwaffen eingesetzt kann die Effektivität des verwendeten Spaltmaterials erheblich erhöhen (»Boosting«). Zurück

8) Als Mindestmengen für einen relativen Neuling im Atomwaffenbau lassen sich grob angeben: etwa 20 bis 25 Kilogramm HEU für eine einfache Atomwaffe (Kanonenrohrprinzip); etwa 10 Kilogramm HEU für eine Uranbombe oder etwa 4 Kilogramm Plutonium für eine Bombe, die durch eine konzentrisch angeordnete Sprengladung gezündet wird (Implosionstyp) und bei dessen Konzipierung einige weitere technische Kniffs (wie beispielsweise Neutronenreflektoren) genutzt werden. Zurück

9) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, Darmstadt, IANUS-Arbeitsbericht 2/1989. Zurück

10) Vergl. beispielsweise K. Kinkel, Deutsche 10-Punkte-Initiative zur Nichtverbreitungspolitik, Auswärtiges Amt, Pressereferat, Bonn, 15.12.1993. Zurück

11) W. Liebert, Improvements around the extension of the nuclear non-proliferation treaty, in: W. Liebert, J. Scheffran (Hrsg.), Against Proliferation – Towards General Disarmament, Münster: agenda Verlag, 1994, S. 112-115. Zurück

12) Verhandlungen für einen Teststopp sind endlich seit gut einem Jahr in Gang, aber ein unterschriftsreifer Vertrag wird erst frühestens für 1996 erwartet. Die »Vollständigkeit« eines Teststopps steht ebenfalls in Frage, da in den Kernwaffenstaaten bereits in Entwicklung und im Aufbau befindliche Ersatztechnologien für unterirdische Tests voraussichtlich erlaubt bleiben werden. Zurück

13) Vergl. W. Epstein, Give more to get more, Bulletin of the Atomic Scientists, Nov./Dez. 1994, S. 15-18. Zurück

14) W. Liebert, M. Kalinowski, Proposal for a Comprehensive Cutoff including civilian weapon-usable material, INESAP Information Bulletin, No.4, Januar 1995, S.11-14. Zurück

15) Vergl. J. Rotblat, J. Steinberger, B. Udgaonkar, A nuclear-weapon-free-world – Desirable? Feasible ?, Oxford: Westview Press, 1993. Zurück

16) Vergl. genauer W. Liebert, Outline substance of a proposal for the Nuclear Weapons Convention to replace the NPT, INESAP Information Bulletin No.4, Jan. 1995, S.5-7. Zurück

17) Vergl. Beitrag von D. Deiseroth in dieser W&F-Ausgabe. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert (Physiker) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Hochschule Darmstadt und Mitglied des Koordinationskomitees des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

Editorial

Editorial

von Caroline Thomas

ab Mitte April verhandeln in New York Vertreterinnen und Vertreter von 172 Staaten über die Zukunft der zivilen und militärischen Nutzung der Atomenergie. Der Nicht-Verbreitungs-Vertrag für Atomwaffen steht zur Debatte.

Während für die alten Griechen das Atom noch unteilbar war, gehört heute »dank« Albert Einstein, Otto Hahn und anderen das Wissen über die Spaltung des Atoms und die Nutzung für zivile und militärische Zwecke schon fast zum naturwissenschaftlichen Allgemeingut.

Das, was in den 30er und 40er Jahren die (militärischen) Machthaber der Welt faszinierte – das, was gefeiert wurde als Lösung wichtiger Menschheitsprobleme –, es sollte tatsächlich die Welt verändern: die Katastrophen von Hiroshima und Tschernobyl waren die Folge. 100.000 Menschen fanden innerhalb weniger Minuten in Hiroshima den Tod. Mehr als 800.000 Kinder leben heute auf sog. »heißem« Boden in der nahen Umgebung von Tschernobyl. Welche Langzeitfolgen dieser Katastrophen uns die nächsten Jahrzehnte noch begleiten werden, läßt sich nur erahnen. Die Entdeckung der Kernspaltung verdeutlicht einmal mehr, daß die Wissenschaft sich ihrer ethischen Verantwortung nicht entziehen darf.

Trotz dieser Katastrophen,

  • will sowohl die NATO als auch Rußland heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, immer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten (geschweige denn auf den Besitz von Atomwaffen);
  • wollen die USA den Abwurf der Atombombe »feiern« und der Öffentlichkeit weismachen, die 300.000 Menschen mußten durch den Abwurf der Atombombe sterben, damit der 2. Weltkrieg frühzeitiger beendet wird;
  • sind Großbritannien und Frankreich nicht bereit, sich an internationalen Abrüstungsverhandlungen bezüglich ihrer Atomwaffen zu beteiligen;
  • gibt es bisher nur zwei kleinere Parteien im Bundestag, die einen umfassenden Atomwaffenverzicht in das Grundgesetz aufnehmen wollen, um ein für allemal eine deutsche (und auch eine deutsch-europäische) Atombombe zu verhindern;
  • sind die fünf offiziellen Atommächte nicht bereit, ihre vertragliche Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung, die sie mit der Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages eingegangen sind, endlich umzusetzen;
  • fördern die Industriestaaten die Nutzung der Atomenergie in den »Dritte-Welt«-Ländern, obwohl die Nutzung der Atomenergie ein immens großes Sicherheitsrisiko beinhaltet, und es sich um massive Ressourcenverschwendung handelt;
  • fördert der Nichtverbreitungsvertrag die zivile Nutzung der Atomenergie, obwohl die Trennung von ziviler und militärischer Nutzung nicht möglich ist, jeder Atomenergiestaat auch ein potentieller Atomwaffenstaat ist.

Die Katastrophen von Hiroshima und Tschernobyl werden nicht die letzten sein, wenn nicht weltweit aus der Atomenergie ausgestiegen wird und die Atomwaffen abgeschafft werden. Ein Nichtverbreitungsvertrag kann ein wichtiger Teil eines Atomwaffenkontrollregimes sein. Eine unbefristete Verlängerung dieses Vertrages in seiner jetzigen Form wäre aber das falsche Signal, würde dies doch auch weiterhin zum massiven Ausbau der Nutzung der Atomenergie und mindestens zur vertikalen, aber wahrscheinlich auch zur horizontalen Verbreitung der Atomwaffen führen. Die Überführung des Nichtverbreitungsvertrages in eine Atomwaffenkonvention ähnlich der Chemiewaffenkonvention, die keine Föderung der Atomenergie mehr zum Ziel hat, eine Sicherheitsgarantie für die Nicht-Atomwaffenstaaten beinhaltet und konkrete, zeitlich festgelegte Abrüstungsschritte vorschreibt, wäre ein erster Schritt, der in der nächsten Zeit verwirklicht werden könnte.

Atomare Salamitaktik

Zeitlich gut abgepaßt – im Vorfeld der NVV-Verhandlungen – klopfte auch die Bundesrepublik einmal mehr am (symbolischen) Machtzentrum der internationalen Politik an. Deutsche Soldaten wieder zum Mittel deutscher Außenpolitik zu machen ist offensichtlich nicht ausreichend, um in den Kreis der Mächtigen aufgenommen zu werden. Die Bundesregierung ist offenbar der Auffassung, daß zu dem zweiten Teil der »Mutprobe«, die sie zu bestehen hat, um endlich »dazuzugehören«, auch die Verfügung über Atomwaffen gehört.

So wird in den »Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom Juli '94 ohne große Umschweife eine „nukleare Teilhabe“ eingefordert. Immer schon gab es einzelne Abgeordnete, wie Karl Lamers (CDU), die dieses mehr oder weniger offen proklamierten. Hellhörig macht aber dieses Papier, weil es ein offiziell von der Bundesregierung verabschiedetes Papier ist und u.U. als »Versuchsballon« gestartet wurde, um die Reaktion der deutschen und internationalen Öffentlichkeit abschätzen zu können.

Soll die Forderung scheibchenweise salonfähig gemacht werden, ähnlich der »Salami«-Taktik, mit der auch die Akzeptanz von weltweiten Einsätzen der Bundeswehr so erfolgreich erschlichen worden ist?

Seit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Sitzblockaden Friedensbewegter, das zur Folge hat, daß Tausende damals Verurteilter wahrscheinlich nun amnestiert werden müssen, wissen wir doch aber jetzt, wie wir unseren Widerstand gegen gefährliche Tendenzen deutscher Außenpolitik, z.B. den Griff nach der Bombe, deutlich machen können.

Ihre Caroline Thomas

Nuklearwaffen ohne Zukunft?

Nuklearwaffen ohne Zukunft?

Zur Rolle der Nuklearwaffen nach dem Ende des Kalten Krieges

von Paul Schäfer

Die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist fast so alt wie die Atombombe. Nach dem Schrecken von Hiroshima und Nagasaki war das Bestreben, das Teufelszeug wieder loszuwerden, weit verbreitet. 1946 rief die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen dazu auf, die Atomwaffen zu beseitigen. Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages (Non-Proliferation Treaty) von 1968 fordert Verhandlungen über die allgemeine und vollständige (nukleare) Abrüstung. Doch die nukleare Waffenwelt wuchs und wuchs.

Die internationale Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre forderte eine radikale Abkehr vom Abschreckungsdenken und die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen. Als der Repräsentant der damaligen Supermacht UdSSR, Michael Gorbatschow, 1986 diese Vision aufgriff, schien die Tür für einen rigorosen Einschnitt in die Nuklearpotentiale geöffnet. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Weg endgültig frei, um schrittweise zu einer Welt ohne Kernwaffen zu gelangen.

Doch schon heute wissen wir, daß dieser Weg noch sehr lang sein wird. Sicher, es gab erste Erfolge. Das zwischen den USA und Rußland am 3.1.1993 vereinbarte Abkommen Start II wird die Nuklearwaffen beider Seiten bis zum Jahre 2003 – möglicherweise etwas früher – auf etwa ein Drittel des heutigen Bestandes reduzieren. Am Ende von Start II sollen beide Seiten nicht mehr als 3.000 bis 3.500 strategische Gefechtsköpfe auf ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM), seegestützten Waffen (SLBM) und schweren Bombern haben. Vor den Vereinbarungen über strategische Abrüstung stand das Abkommen über die Verschrottung der atomaren Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag). Diese Abrüstungsschritte wurden ergänzt durch einseitige, aber auf Gegenseitigkeit beruhende Maßnahmen im Bereich der taktischen Nuklearsprengköpfe. In Europa verbleiben allerdings 480 taktische Atomwaffen an Bord von US-Kampfflugzeugen, dazu kommen die Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs.

Diese Bilanz sagt allerdings wenig über den Abrüstungswillen der Atommächte aus, denn es gibt auch ganz andere Signale. So planen z.B. die USA ab 1996 den Bau einer neuen Tritium-Fabrik, obwohl ihre Vorräte weit ins nächste Jahrtausend hineinreichen. Die Atomwaffenbesitzer sträuben sich weiterhin grundsätzlich gegen die Einsicht, daß die vollständige nukleare Abrüstung das einzige probate Mittel gegen die weitere Verbreitung der Kernwaffen ist. Stattdessen entwickeln sie neue Abschreckungsdoktrinen gegen die »Länder des Südens«.

Die nukleare Welt am Ende des 20. Jahrhunderts

1. Die Atomwaffen-Besitzer halten an den Atomwaffen, dem „exklusivsten aller Machtattribute“ (M. Stürmer), fest. Ihre Kernwaffen-Bestände werden zwar verringert, aber deren Modernisierung geht weiter, d.h. eine qualitative Aufrüstung findet statt. Die Doktrin der Abschreckung wird unter neuen Vorzeichen – gegen Länder der »Dritten Welt« gerichtet – fortgeführt.

US-Präsident Clinton hat im Vorfeld der UN-Generalversammlung letzten Herbst eindeutig klargestellt, daß die USA keine neuen atomaren Abrüstungsinitiativen planen und sich weiteren Verringerungen widersetzen werden.1 Dies wird im übrigen auch durch die U.S. Defense Department Nuclear Posture Review (NPR) belegt, die von Clinton in Auftrag gegeben und am 22.9.1994 von Verteidigungsminister Perry vorgelegt wurde. Darin wird festgeschrieben, daß die U.S. strategic nuclear forces im Jahre 2003 aus 14 Trident-U-Booten, aus 450-500 Minuteman III-Interkontinentalraketen, 66 B-52H-Bombern und 20 B-2 Stealth-Bombern bestehen sollen. Die USA behalten sich eine sogenannte »Rekonstitutionsfähigkeit« vor, mit der die Zahl der Sprengköpfe auf den U-Booten und den Interkontinentalraketen rasch aufgestockt werden kann (uploading).

Für die US-Administration ist der Status der »einzig übriggebliebenen Weltmacht« untrennbar mit der führenden Position im militärischen Bereich – Nuklearwaffen eingeschlossen – verbunden. Daher steht für die Clinton-Regierung seither der Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf der weltpolitischen Agenda obenan.

Auch die Russische Föderation hat unter anderen Auspizien den Ehrgeiz, ihren besonderen Status zu verteidigen. Der ökonomische und politische Niedergang muß kompensiert werden. Hinzu kommen, wie ja auch in den USA, die handfesten Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. In ihrer neuen Militärdoktrin hat die russische Regierung weitgehend die Abschreckungsformeln der NATO übernommen und dabei sogar »fortschrittliche« Deklarationen der früheren Sowjetunion, wie der Erklärung eines Nicht-Ersteinsatzes (no first-use) der Atomwaffen, über Bord geworfen.

Präsident Jelzin hat aber auf der UN-Generalversammlung im Herbst `94 immerhin weitere Reduzierungen vorgeschlagen. Das Kalkül für die weiteren Abrüstungsvorschläge liegt auf der Hand: Die Start-II-Regelung ist für die Russische Föderation zu teuer. Der russischen Seite wird – wenn sie nicht eine deutliche Unterlegenheit in Kauf nehmen will – eine aufwendige Umrüstung abverlangt, wenn sie sich auf diesem, dann immer noch sehr hohen Rüstungsniveau mit den USA messen will. Diese Umrüstung ist nicht so ohne weiteres unter den finanziellen Problemen zu bewerkstelligen (Verlagerung auf seegestützte Trägermittel!). Weitere Abrüstungsmaßnahmen wären billiger.

Großbritannien und Frankreich führen in diesem Jahrzehnt umfangreiche Modernisierungen ihrer Arsenale durch, an denen keine Abstriche gemacht werden. Lediglich deren Umfang wird eher moderat reduziert. Frankreich hat zudem die am meisten umstrittene Kurzstreckenrakete HADES außer Dienst gestellt. Nach der Dislozierung neuer U-Boote verlagert sich die Planung der Franzosen und Briten auf die Modernisierung des taktischen Atomwaffenpotentials. Priorität hat dabei die Entwicklung nuklearer Abstandswaffen für Jagdbomber.

Der Atomwaffenbesitz wirft offenkundig immer noch einen Abglanz früherer Größe auf diese Kolonialmächte, den man nicht missen möchte. Und dann gibt es immer noch die exklusive Rolle im UNO-Sicherheitsrat, die elementar mit dem Status als Atommacht zusammenhängt. Nicht zu unrecht wird darüber hinaus mit großem Argwohn die nicht unbeträchtliche Kräfteverschiebung seit 1989 zugunsten des »wiedervereinigten« Deutschland beobachtet. Die Briten müssen zudem feststellen, daß ihre »special partnership« mit den USA ausgehöhlt und durch die neuen »partners in leadership« Bonn-Washington ersetzt wird.

Briten und Franzosen sehen sich auch mit der neuen Situation konfrontiert, was aus ihren Potentialen im Rahmen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union wird. Um die alleinige Verfügungsgewalt über die nationalen Atomwaffen beibehalten zu können, rücken sie derzeit näher zusammen. Sie haben eine Gemeinsame Kommission gebildet, die sich allen Fragen der Atompolitik und -doktrin widmen soll.2

Für das Militärbündnis NATO schließlich gilt: Die alten Formeln der Abschreckungsdoktrin werden auch nach dem Ende des Kalten Krieges von NATO-Dokument zu NATO-Dokument gebetsmühlenartig wiederholt. So lesen wir: „In diesem Zusammenhang unterstreichen wir den essentiellen Wert des Erhalts breit dislozierter substrategischer nuklearer Kräfte der NATO durch die Vereinigten Staaten und europäische Bündnispartner. Diese Kräfte, die integraler Bestandteil des nuklearen Dispositivs der NATO sind, stellen ein wesentliches Element der transatlantischen Bindung dar.“ 3

China läßt an seinem Nuklearwaffenstatus auch nicht rütteln. Gegenwärtig werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um das bestehende Potential qualitativ zu modernisieren. Die Kernwaffenversuche der letzten Jahre verdeutlichen, daß China heftig an der Modernisierung seiner Atomsprengköpfe arbeitet. Die VR China dürfte dabei vom Zerfall der UdSSR profitieren: Russische bzw. ukrainische Technologie und Experten werden eingekauft. Hinzu kommt, daß dank der mäßigenden Rolle Chinas auf Nordkorea die USA die Exportbeschränkungen im Hochtechnologiebereich jüngst aufgehoben haben. China verfügt bisher mit ca. 250 strategischen Sprengköpfen über ein vergleichsweise bescheidenes Arsenal.

Die chinesische Regierung erklärt, daß sie zu umfassender nuklearer Abrüstung bereit sei. Ihr Außenminister hat vor den Vereinten Nationen im September 1994 eine Reihe von Vorschlägen zur nuklearen Abrüstung gemacht: Dies reicht von einer »no-first-use«-Politik, über die Einstellung der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen bis zu einer Konvention über ein allgemeines Verbot der Atomwaffen. Doch einseitige Schritte werden kategorisch ausgeschlossen – solange die nukleare Vormacht der USA und Rußlands bestehenbleibt. In Zukunft könnte eine negative Entwicklung dadurch eintreten, daß die USA und andere Staaten Raketenabwehrsysteme entwickeln und stationieren. Die VR China würde sich gedrängt fühlen, ihr bestehendes Nuklear-Potential erheblich aufzustocken.

2. Der de-facto-Atomwaffenstaat Israel und die potentiellen Atomwaffenstaaten Pakistan und Indien denken gar nicht daran, von ihren Atomprogrammen abzurücken. Auch ein Beitritt zum NPT wird rigoros ausgeschlossen. Damit bleiben Massenvernichtungswaffen Instrumente im Kampf um regionale Vorherrschaft in Nah- und Fernost.

Zur nationalen Sicherheitsdoktrin Israels gehören nukleare Abschreckungswaffen, da man sich – ja nicht zu Unrecht – als bedrohte Insel in einem Meer von Feinden sieht. Israel kann jährlich 40 Kilogramm Plutonium herstellen (reicht für zehn Atombomben), soll bereits im Besitz von 70 Atombomben sein, verfügt über zwei Raketensysteme (Jericho 1 u. 2) mit Reichweiten zwischen 500 und 1.500 Kilometern und über Weltraumsatelliten.4 Der Angriff der Bomberstaffel auf den irakischen Nuklearreaktor Osirak 1981 hat klargemacht, daß Israel diese Monopolstellung mit Gewalt behaupten will.

Indien mißt sich weltpolitisch an China und strebt einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat an. Der Status eines de-facto-Atomwaffenlandes scheint dabei unverzichtbar. Pakistan fühlt sich traditionell durch Indien bedroht und glaubt, nur Kernwaffen könnten die nötige Sicherheit bieten.

Das indische Atomwaffenprogramm geht auf die 60er Jahre zurück. Es begann unmittelbar, nachdem China seine erste Atombombe gezündet hatte. Indien dürfte nach Expertenschätzungen bis Ende 1995 ungefähr 425 Kilogramm waffengrädiges Plutonium angesammelt haben, wobei unklar ist, ob das aus dem einen der beiden Forschungsreaktoren gewonnene Material tatsächlich waffentauglich ist. Damit stünde eine Menge zur Verfügung, die für 32 bis 70 Bomben reichen dürfte. Mittels einer Gaszentrifugenanlage kann außerdem hoch angereichertes Uran erzeugt werden. Ebenfalls wird angenommen, daß Neu-Delhi inzwischen die benötigten Zündvorrichtungen bauen kann. Mit den MIG 23 und MIG 27 stehen auch Transportkapazitäten zur Verfügung.

Seit den frühen siebziger Jahren arbeitet man auch in Pakistan an Nuklearwaffen und hat mit deutscher, amerikanischer und chinesischer Hilfe inzwischen ein beachtliches Level erreicht. Dies gilt v.a. für die Urananreicherungsanlage in Kahuta, die wahrscheinlich jährlich 45 bis 75 Kilogramm waffenfähiges Uran produziert. Die USA haben mit starkem Druck erreicht, daß die Volksrepublik China ihre Unterstützung weiter drosselt. Immerhin soll Pakistan von China eine »Kopie« eines Atomwaffendesigns erhalten haben und wäre demzufolge auch in der Lage, die Bombe zu bauen. Über Trägertechnologien verfügt das Land ohnehin: Von den USA gelieferte F-16-Bomber könnten dafür umgerüstet werden. 1989 testete Pakistan zwei Kurzstreckenraketen, die offensichtlich mit französischer Hilfe entwickelt worden waren.5

3. Die Herausbildung neuer Kernwaffenstaaten in der »Dritten Welt« ist auf längere Sicht nicht auszuschließen. Damit wäre das Ende eines rüstungskontrollpolitisch wichtigen Abkommens, des Atomwaffensperrvertrages, besiegelt.

Die düsteren Prognosen über Mächte, die sich Massenvernichtungswaffen zulegen könnten, sind skeptisch zu betrachten. Die »verbreitungspolitische« Lage in Lateinamerika, in Afrika und auf der koreanischen Halbinsel hat sich in jüngster Zeit entspannt: Brasilien und Argentinien sind dem NPT beigetreten, ihre hegemonialen Rivalitäten scheinen gezügelt; Südafrika hat sein A-Waffenprogramm beendet; im Rahmenabkommen mit den USA vom vergangenen November hat Nordkorea unterschrieben, auf die Wiederaufarbeitung und andere proliferationsträchtige Technologien verzichten zu wollen. Ob dies das letzte Wort bleibt, sei allerdings dahingestellt.6

Algerien, Libyen und Ägypten verfügen zwar über gewisse technologische Möglichkeiten, aber es erscheint unwahrscheinlich, daß sie in absehbarer Zeit in der Lage sind, Atomwaffen und passende Trägersysteme zu produzieren. Nicht vergessen werden sollte, daß auch Südkorea und Taiwan über erhebliche Kapazitäten und Fertigkeiten auf dem Nuklearsektor verfügen. Es wird von der weiteren politischen Entwicklung in Südostasien abhängen, ob daraus neue Verbreitungsgefahren erwachsen.

Die nuklearen Fähigkeiten des Iran werden als gering, seine Ambitionen allerdings als groß eingeschätzt. Mit US-amerikanischer, deutscher und französischer Hilfe wurde bereits unter dem Schahregime in den 70er Jahren mit dem Bau von Atomreaktoren und Kernforschungsanlagen begonnen. Die Revolution 1979 brachte zunächst einen gravierenden Einschnitt. Das Mullah-Regime geriet in die internationale Isolierung, ein Teil der Wissenschaftler und Techniker verließ das Land. Später wurde ein Großteil der nationalen Ressourcen durch den Krieg mit dem Irak gebunden.

Seit Ende der 80er Jahre hat die Islamische Republik Iran den alten Faden wiederaufgenommen und verfolgt ein ehrgeiziges Atomprogramm.7 Allein 1993 soll Teheran mehr als 15 Mrd. Dollar für seine nuklearen Beschaffungen ausgegeben haben.8 Eine Zusammenarbeit mit China, Pakistan und Indien wurde aufgenommen. Jetzt ist auch Rußland im Geschäft: Moskau hat die Lieferung von Reaktoren im Wert von 800 Mio. Dollar zugesagt, um das unvollendete und im irakisch-iranischen Krieg zwischen 1984 und 1988 zerstörte Kernkraftwerk Buschihr in vier Jahren zu Ende bauen zu können. Hinzu kommt, daß die Kohl-Regierung in Bonn erklärt hat, die Exportgenehmigung für das in Hanau einlagernde Nuklearmaterial für den Iran demnächst erteilen zu wollen.9

Soviel scheint plausibel: Die Bekundungen des Iran, Atomenergie nur zu zivilen Zwecken nutzen zu wollen, sind wenig glaubhaft. Die Energieprobleme des Landes sind angesichts der Erdöl- und v.a. Erdgasvorräte auf lange Sicht lösbar. Warum aber sollte der Iran nach der Atombombe greifen? Der Iran fühlt sich regional bedroht durch Israel und dessen nukleare Kapazitäten, durch den Irak, aber vor allem durch die seit dem letzten Golfkrieg immens verstärkte Präsenz der USA. Die Beispiele Irak, Libyen, Haiti, Nordkorea werden in Teheran so wahrgenommen, daß man dem »Teufel« in Washington nur widerstehen könne, wenn man selber Drohmittel in der Hand hat. „Unter diesen Umständen könnte eine nukleare Fähigkeit als der einzige Garant der hochgeschätzten nationalen Unabhängigkeit, oder zugespitzt, des Überlebens, angesehen werden.“ 10 Das Kalkül wäre recht einfach: Von der Annahme ausgehend, daß Kernwaffen Vorsicht und Zurückhaltung bewirken, weil ein großer militärischer Zusammenprall befürchtet wird, könnten Kernwaffen – allein durch ihre Existenz – von Interventionen, Strafaktionen und Einschüchterungsversuchen der USA abschrecken.11

Die Islamische Republik könnte sich auf verschiedenen Wegen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen. Die Zusammenarbeit mit Nordkorea bei den Trägertechnologien zeigt, wie es gehen könnte. Der Iran finanziert gegenwärtig die Entwicklung der Nodong 2-Rakete, die über eine Reichweite von 1.300 km verfügen soll. 150 Exemplare dieser Rakete will Teheran angeblich bestellen.

Noch aber scheint es so zu sein, daß die Islamische Republik eine endgültige Entscheidung über die Beschaffung von Atomwaffen nicht getroffen hat. Mit dem gegenwärtigen Atomprogramm werden aber die Voraussetzungen für die »nukleare Option« geschaffen.

4. Die Umbrüche seit 1989 haben bei den »latenten Atomwaffen-Staaten« Japan und v.a. der Bundesrepublik Deutschland neue machtpolitische Ambitionen geweckt. Beide wollen Ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates werden. Sie halten sich die nukleare Optionen offen.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr General Klaus Naumann erkärt: Deutschland sei „nicht mehr im Maschinenraum des Dampfers UN, KSZE, NATO, EU usw., sondern auf der Brücke.“ 12 Erstmals seit Richelieus Tagen sei Deutschland wirklich souverän und könne sein Umfeld weit über Europa hinaus mitgestalten.13 Das Schäuble/Lamers-Papier „Überlegungen zur europäischen Politik“ hat verdeutlicht, daß man in Verbindung mit Frankreich in Europa eine dominante Rolle spielen will. Gestützt auf diese Machtposition drängt die Bundesregierung in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, denn „dort spielt die Musik“ (Außenminister Kinkel). Welche Rolle könnte in diesem Kontext der Verfügung über Atomwaffen zukommen? Reicht nicht die ökonomische und politische Macht der Bundesrepublik aus, um das Ziel, im Konzert der Großen gleichberechtigt mitzuspielen, zu erreichen? Oder noch schärfer: Ist die BRD nicht besonders gut damit gefahren, als Nicht-Kernwaffenstaat aufzutreten? Warum sollte sie jetzt diesen Status aufgeben?

Festzuhalten ist:

<>a. Die Bundesrepublik Deutschland <>kann als latente Atommacht bezeichnet werden.14 Allein im sog. »Bundeslager« in Hanau lagern 2 t Plutonium – der Stoff für nukleare Alpträume ist reichlich vorhanden.15 Am technischen Know-how und der industriellen Basis dürfte es auch nicht fehlen. Schließlich hat die Bundeswehr in Gestalt der Tornado-Flugzeuge geeignete Trägermittel. Allzulange würde die Bundesrepublik nicht brauchen, um von einer potentiellen zu einer faktischen Atommacht zu werden.

b. Deutschland hat sich zuletzt in den 2+4-Vereinbarungen völkerrechtlich verpflichtet, Massenvernichtungswaffen nicht zu entwickeln, zu produzieren oder zu erwerben. Es ist Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrages. Es dürfte verdammt schwer sein, sich aus diesen Verpflichtungen herauszuwinden.

Allerdings hat die Bundesregierung den NPT-Vertrag nur mit Vorbehalten unterschrieben. Der gewichtigste: Der Atomwaffenverzicht könnte bei einer Einigung Europas hinfällig werden. Die Bundesregierung hat es im unklaren gelassen, ob dieser Vorbehalt noch gültig ist. Sie hält sich ein Hintertürchen offen.

Damit ist die Richtung angedeutet, in der der einseitige Atomwaffenverzicht »aufgeweicht« werden könnte: durch bi- oder multilaterale Kooperation. „Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen die nuklearen Waffen einbezogen werden, und wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist, dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen, (…).“ 16 Es ist nicht allzuweit hergeholt, wenn man annimmt, daß Teile des herrschenden Blocks jetzt ungeduldig auf den Zugriff auf die Atomwaffen unserer Nachbarn warten (siehe hierzu den Beitrag von D. Deiseroth in dieser Ausgabe).

Erst in jüngerer Zeit hat eine Formulierung in der „Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr“ Aufsehen erregt, in der die Aufgaben der künftigen Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr festgelegt wurden. Für Einsätze der KRK sind dabei u.a. vorgesehen, „in der Luftwaffe sechs fliegende Staffeln für Luftangriff, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe.“ 17 Das Verteidigungsministerium bagatellisierte nach öffentlichen Protesten. Von einer nuklearen Einsatzplanung für diese Luftwaffen-Verbände könne keine Rede sein. Aber die Sache ist damit nicht aus der Welt. Zumindest zeigt sie schlaglichtartig, welche Bedeutung die Bundeswehr der nuklearen Teilhabe zumißt.

Hellhörig muß auch machen, daß sich aus der »Elite« der außenpolitischen Politikberater jüngst Stimmen zu Wort gemeldet haben, die ebenfalls die Frage nuklearer Mitverfügung zum Thema gemacht haben. Sie bleiben gewohnt kryptisch. Uwe Nerlich will im Rahmen der gemeinsamen europäischen Verteidigung neue »Obligationen« für Nuklearwaffenstaaten (NWS) erreichen. Es soll »neuartige Konsultationen« zwischen NWS und NNWS geben.18 Vielleicht ist es erhellend, daß derselbe Autor an anderer Stelle über Konfliktszenarien der Zukunft schreibt, „… daß bei künftigen Bedrohungen mit nuklearen oder anderen MVW (Massenvernichtungswaffen) konventionelle Reaktionen in den meisten Eventualfällen nicht ausreichen, also die Möglichkeit direkter nichtkonventioneller Reaktionen in Aussicht genommen werden muß.“ 19

Auch die Proliferationsexperten Häckel und Kaiser haben von den Briten und Franzosen „die Bereitschaft zur weitgehenden Europäisierung der Funktion ihrer Kernwaffen“ gefordert.20 Sie schlagen eine europäische nukleare Planungsgruppe, die die Einsatzoptionen definiert, und eine Entscheidungsstruktur mit europäischer politischer Spitze, die ein Vetorecht Frankreichs und Großbritanniens erhalten kann, vor.21

Die Frage bleibt, welche Motive die politische Klasse dieses Landes dazu treiben könnten, auf die nukleare Karte zu setzen. Sicher, die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sind heute ausschließlich Nuklearmächte. Aber das kann und soll sich ja ändern. Die Bundesregierung hat einen Preis für den Eintritt in dies erlauchte Gremium bereits entrichtet: Die Erlangung von Kriegführungsfähigkeit. Die ganzen Entwicklungen um die Bundeswehreinsätze »out-of-area« (die in dem BVerfG-Urteil kulminierten) hatten ja auch den offen ausgesprochenen Hintersinn, den Beweis für die »nötige Reife« des geeinten Detuschland zu erbringen. Eine Verfügung über Atomwaffen wäre im Moment allerdings kontraproduktiv. Der besondere Appeal der BRD gegenüber den sog. Dritte-Welt-Staaten ist immer noch ihr Status als Nicht-Kernwaffenstaat (dies gilt gleichermaßen für Japan). Nur so kann sie darauf hoffen, die nötige Unterstützung bei den Ländern der »Dritten Welt« für ihr Ansinnen zu bekommen, in den Sicherheitsrat aufgenommen zu werden.

Mehr spricht für die Annahme, daß das Problem erst richtig anfängt, wenn die Bundesrepublik ihren Sitz im Sicherheitsrat erreicht hat. Wird damit nicht der Hunger nach größerer Macht, nach der Beseitigung jeglicher Statusdifferenzierung, völliger Gleichberechtigung also, geweckt werden?

Oder aber, was ist, wenn sie diesen Sitz dauerhaft verweigert bekommt? Wird die Bundesrepublik nicht dann dem Beispiel Chinas folgen, das 1969 erstmals eine Atombombe testete und 1971 in den Sicherheitsrat aufgenommen wurde?

Die Fragen zeigen nur, daß keinerlei Grund zur Beruhigung besteht. Die Entscheidung über eine deutsche Atomwaffenoption steht heute nicht auf der Tagesordnung. Aber vielleicht morgen.

Kernwaffen und Counter-Proliferation: Militärpolitische Implikationen

Mit dem Ende der vielbeschworenen »Konfrontationsära« schien auch ein tiefgreifender Paradigmenwechsel in der internationalen Politik fällig: Beendigung des Rüstungswettlaufs, Zusammenarbeit Ost und West, Nord und Süd bei der Lösung der globalen Probleme. Doch für maßgebliche Teile der sog. strategic community scheint das Denken in den Konfrontationskategorien des Kalten Krieges zur zweiten Natur geworden zu sein. Die militärnahen Denkfabriken v.a. in den USA, die führenden Militärs und Sicherheitspolitiker haben neue Bedrohungen entdeckt, gegen die sich das westliche Bündnis wappnen müsse. Im Zentrum stehe dabei die drohende Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, der mit einer Strategie der Counter-Proliferation begegnet werden müsse. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme. Sie sollen in regionalen Kriegen (Theater Missile Defense) eingesetzt werden und die eigenen Truppen unangreifbarer machen. Aber es geht auch um neue nukleare Einsatzoptionen.

In den USA wurden die Vorarbeiten dazu zwischen 1991 und 1993 geleistet. Eine deterrence study group unter dem Luftwaffenkommandeur Thomas Reed legte erste Ergebnisse 1992 vor (Reed-Panel 1992) 22, die US-Marine verabschiedete im Dezember 1992 den STRATPLAN 201023; im April 1993 einigten sich die Joint Chiefs of Staff auf eine gemeinsame Nukleardoktrin, die »Doctrine for Joint Nuclear Operations«24. Die erste praktische Konsequenz: 1993 bildeten Navy und Air Force erstmals seit 1947 ein gemeinsames Kommando STRATCOM, das die nukleare Einsatz- und Zielplanung auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen sollte.25 Die Clinton-Regierung bestätigte in einer Bottom-Up Review vom Oktober 1993 diese Neuorientierung und billigte, daß Verteidigungsminister Les Aspin die Defence Counterproliferation Initiative (DCI) einleitete. Les Aspin versuchte auch unverzüglich, diese Initiative den NATO-Partnern schmackhaft zu machen. In einem Report an den Kongreß vom Mai 1994 legte Staatssekretär John Deutch im einzelnen dar, welche Schlußfolgerungen für Forschung & Entwicklung, für künftige Beschaffungen und Militärplanungen zu ziehen seien.26 Deutch forderte die Bereitstellung von zusätzlichen 400 Mio. $ pro Jahr für die DCI.

Die »Doctrine for Joint Nuclear Operations« (JCS-Doktrin) wiederholt weitgehend die eingestanzten Formeln der US-Abschreckungsdoktrin: Zu einer glaubwürdigen und durchsetzungsfähigen atomaren Abschreckung gehörten ein ausgewogenes Mix zwischen hochwirksamen konventionellen und nuklearen Waffen, ein breites Einsatzspektrum auch für die Atomwaffen, mit dem alle Konfliktvarianten abgedeckt werden können. „From a massive exchange of nuclear weapons to limited use on a regional battlefield, US nuclear capabilities must confront an enemy with risks of unacceptable damage and disproportionate loss should the enemy choose to introduce WMD (wepaons of mass destruction) in a conflict.“ 27 Sicherung der sog. Eskalationsdominanz – auf jeder Stufe des »Konflikts« – müssen dem Gegner die Bedingungen diktiert werden können.

Neu an der JCS-Doktrin ist allerdings das Gewicht, das der Nuklearstreitmacht für künftige regionale Konflikte zugemessen wird. Die Kernwaffen sollen den potentiellen Gegner davon abhalten, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Und, falls die Abschreckung versagt, soll eine adäquate Vergeltung gewährleistet sein. Darüber hinaus sollen US-Kernwaffen auch als Abschreckungsmittel gegen konventionelle Bedrohungen eingesetzt werden! Daher der Schluß: „A selective capability of being able to use lower-yield weapons in retaliation, … is a useful alternative for the US National Command Authorities (NCA).“ 28

Die neue Counter-Proliferation-Doktrin verwischt die Trennlinie zwischen strategischen und taktischen Nuklearwaffen weitgehend. Auch der erwähnte Reed-Report schreibt, „daß die Trennung zwischen strategischen und taktischen, nuklearen Gefechtsfeldwaffen zusehends schwächer wird“.29

Die Implikationen dieser neuen Nukleardoktrin sind in doppelter Hinsicht weitreichend:

a. die nuklearen Dispositive und Einsatzpläne der »regionalen Kommandozentralen« der USA – also z.B. des SACEUR in Europa – werden geprüft und verändert. Neue nichtstrategische Atomwaffen für das »Gefechtsfeld« sollen eingesetzt werden.

b. die Entwicklung und Beschaffung neuer Atomsprengköpfe soll auf den Weg gebracht werden. Zwar hat der Kongreß 1993 die F&E-Pläne der Militärs empfindlich eingeengt (man habe genügend moderne Sprengköpfe, wurde gesagt), aber dennoch wurden einige Schlupflöcher gelassen. So sind in den Etats 1994 und 1995 Mittel für die Erforschung eines neuen High Power Radio Frequency (HPRF)-Sprengkopfes eingestellt, mit dem man elektronische Einrichtungen des Gegners zerstören will.30

Die stattfindende Umorientierung hat ihren Preis. Das Pentagon hat in seinem Etat für 1995 ca. 3 Milliarden Dollar für Counter-Proliferation eingestellt.31 Nach wie vor wird – trotz des Rahmenabkommens mit Nordkorea – ein 8 Mrd. teures Raketenabwehrsystem für Japan geplant. Die amerikanisch-europäische Kooperation zur Weiterentwicklung der THAAD-Rakete macht Fortschritte. Die Rüstungsdirektoren aus den USA, Deutschland, Frankreich und Italien haben jetzt vereinbart, gemeinsam ein Raketenabwehrsystem MEADS (Medium Extended Air Defense System) zu entwickeln, das im Jahre 2005 in Dienst gestellt werden soll.32

Militärische Planung und Außenpolitik sind nicht dasselbe. Zwischen State Department und Pentagon besteht nicht unbedingt volle Übereinstimmung, wie die Gefahr der Proliferation einzuschätzen und wie ihr am besten zu begegnen ist. Soll die traditionelle Politik vorbeugender Diplomatie fortgesetzt und nur durch »moderate« Rüstungsmaßnahmen ergänzt oder durch eine harte, militärisch orientierte Abschreckungspolitik verdrängt werden. Auch die außenpolitischen »think tanks« streiten sich noch, ob man die weitere Proliferation noch verhindern kann oder sich – gleichsam fatalistisch – auf eine gefährliche Ausbreitung einstellen muß.33 Es ist bisher nur eine kleine Minderheit, die eine radikale Lösung des Proliferationsproblems in der globalen nuklearen Abrüstung sieht.

Die Waage zwischen den vorherrschenden Lagern, die beide die atomare Abschreckung nicht in Frage stellen, aber neigt sich mehr und mehr zur Seite der »Hardliner«. Der überwältigende Wahlsieg der Republikaner im November 1994 hat diesen Trend verstärkt.

Noch sind die vom State Department gesetzten Akzente prägend: Die komplizierte Nuklearabrüstung in Rußland und der Ukraine wird mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützt. Die Ukraine konnte dadurch dazu gebracht werden, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Auch im Streit mit Nordkorea setzte die Clinton-Regierung auf Diplomatie und wirtschaftliche Hilfe. Verteidigungsminister Perry, der in Südkorea wieder Atomraketen stationieren wollte, wurde zurückgepfiffen. Die Frage ist: Wie lange noch?

Entwertung der Kernwaffen?

Kritische Autoren haben viel darüber geschrieben, daß nach dem Ende der »Konfrontationsära« die Atomwaffen zunehmend entfunktionalisiert und entwertet würden. Die Kernwaffen seien keine Gefechtsfeldwaffen und würden daher in der heutigen Welt bestenfalls zur Minimalabschreckung gebraucht. An den Protagonisten des Nuklearkomplexes ist diese Kritik an der Abschreckungsdoktrin jedoch vorbeigegangen. Die Debatten um die Verwundbarkeit der modernen Zivilisation (nuklearer Winter!) haben nur zu vermehrten Anstrengungen geführt, solche ausgeklügelten Waffen zu entwickeln, mit denen die sog. Kollateralschäden (Umwelt, Zivilbevölkerung, Infrastruktur) minimiert werden können.

Die neue US-amerikanische Eindämmungspolitik glaubt, noch unverdrossener auf Kernwaffen setzen zu können. Zum einen wegen der technischen Entwicklung kleinerer, aber noch wirkungsvollerer Sprengköpfe. Zum anderen wegen der drückenden Überlegenheit, die das Problem der Selbstabschreckung reduziert. Damit scheint ein Problem gelöst, daß die Nuklearstrategen seit Mitte der 50er Jahre beschäftigt hat: Wie können Atomwaffen unter dem Vorzeichen der gegenseitigen Vernichtungsdrohung (mutual assured destruction) noch politisch instrumentiert werden? Wenn die Zerstörungspotentiale die militärischen Handlungsmöglichkeiten der Kontrahenten paralysieren, wie soll militärische Macht noch in politische Macht umgesetzt werden? Die Antwort war seit der Veröffentlichung von Henry Kissingers Klassiker „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ immer diesselbe: Gestützt auf technologische Druchbrüche bei der Waffenentwicklung und kombiniert mit »geschickter« Diplomatie sollten Kernwaffen auch für begrenzte Kriege nutzbar gemacht werden.34 Verteidigungsminister Schlesinger verkündete 1974 eine Doktrin, die »selektive Einsatzoptionen« für Atomwaffen in begrenzten Konflikten vorsah. Die mit Pershing 2 und Marschflugkörpern aufkommenden Phantasien von der möglichen »Enthauptung« des Gegners waren nur die zugespitzteste Form dieser Strategien. Die Studie »Discriminate Deterrence« knüpfte ebenfalls an Überlegungen an, einen militärischen Sieg mit gezieltem Einsatz der Kernwaffen erreichen zu können, ohne zugleich den großen, alles vernichtenden Knall auszulösen.

Zu den Risiken dieser Nuklearstrategie gehörte immer der Aspekt der Selbstabschreckung. Läßt sich tatsächlich eine uferlose Eskalation in einem Konflikt, in dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, vermeiden? Das Kalkül der Militärs: Die erdrückende Übermacht der bestehenden Atommächte über potentielle Gegner in der »Dritten Welt« wird schon ausreichen, um die andere Seite vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abzuhalten. Falls dies nicht gelingt, wird ein »begrenzter nuklearer Gegenschlag« den Gegner rasch zur Kapitulation nötigen.

Aber hat nicht der Golfkrieg gezeigt, daß für die Niederhaltung unbotmäßiger Regime Atomwaffen völlig überflüssig sind? Sollte diese Erkenntnis nicht ausreichen, um alle Seiten davon zu überzeugen, daß die Atombombe heute obsolet ist? Erinnert sei nur an die aufschlußreiche Antwort eines indischen Generals, der auf die Frage nach den Schlüssen, die aus diesem Krieg zu ziehen seien, antwortete: Man dürfe sich nicht mit Amerika anlegen, wenn man nicht Atomwaffen besitze. Gerade die konventionelle Überlegenheit der hochindustrialisierten Länder scheint den underdogs nahezulegen, sich durch den Erwerb von Massenvernichtungswaffen wenigstens ein »bescheidenes« Drohpotential zu verschaffen. So dreht sich die Rüstungsspirale immer weiter und die Atombombe bleibt begehrt.

Die oben aufgeführten Beispiele zeigen auch, daß Massenvernichtungswaffen bei der Konkurrenz um regionale Vormachtstellungen eine erhebliche Rolle spielen. Solche hegemonialen Konflikte werden künftig zunehmen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie aktuell und dringend die Forderung nach einer völligen Ächtung der Massenvernichtungswaffen ist.

Anmerkungen

1) IAP-Dienst Sicherheitspolitik, 21/94, S. 3. Zurück

2) France, Britain Pursue Nuclear Ties, in: Defense News Zurück

3) Kommunique der Ministertagung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe am 14./15.12.1994. Zurück

4) Juliane Just, Atombomben aus Israels Negev-Wüste, in: Neues Deutschland, 20.2.1995, S. 7. Zurück

5) S. dazu: David Albright, India and Pakistan`s Nuclear Arms Race: Out of the Closet, but not in the Street, in: Arms Control Today, June 1993, pp. 12-16. Zurück

6) Vgl. J. Scheffran, M. Kalinowski, P. Schäfer, Nordkoreas Nuklearprogramm und die Strategie der Counterproliferation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/94, S. 834 ff. Zurück

7) S. dazu: Iran`s Nuclear Activities and the Congressional Response, Congressional Research Service, May 20, 1992. Zurück

8) Institut für strategische Analysen, Die nuklearen Beschaffungsmaßnahmen des Iran, Kurzberichte Nr. 7/94. Zurück

9) Winfried Wolf, Wege zu Massenvernichtungswaffen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/95. Zurück

10) Shahram Chubin, Does Iran want Nuclear Weapons? In: Survival, vol. 37, no 1, Spring 1995, p. 90. Zurück

11) a.a.O. p. 97. Zurück

12) Klaus Naumann, Bundeswehr vor neuen Herausforderungen, in: Soldat und Technik 1/1995, S. 9. Zurück

13) Ders., Sicherheit in Europa – Konsequenzen für die Bundeswehr, in: Europäische Sicherheit 1/95, S. 8. Zurück

14) Matthias Küntzel, Die Stellung der BRD im System der nuklearen Nonproliferation: antimilitarismus information, 12/94, S. 59 ff. Zurück

15) Japan ist drauf und dran, hier die Bundesrepublik in den Schatten zu stellen. Nach heutigen Planungen wird Japan im Jahre 2020 einen solchen Vorrat an Plutonium gehortet haben, der die Gesamtmenge des militärischen Plutoniums übertrifft, welches die beiden Supermächte jemals für Waffen produziert haben. Siehe: Die ZEIT, Nr. 19, vom 7.5.1993, S. 26. Zurück

16) Karl Lamers, im Hessischen Rundfunk, 10. März 1991. Zurück

17) BMVg., Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr vom 12. Juli 1994. S. auch den Beitrag von Dieter Deiseroth in diesem Heft. Zurück

18) Uwe Nerlich, Überlegungen zur Neuordnung der euro-amerikanischen Verteidigung im Rahmen der NATO: Einige Voraussetzungen und Optionen. Ebenhausen 1994, S. 47/48. Zurück

19) Ders., Militärisch relevante Gefahren in künftigen Konstellationen, in: W. Heydrich/J. Krause/U. Nerlich/J. Nötzold/R. Rummel (Hrsg.): Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken, Instrumente, Baden-Baden 1992. Man beachte die Spitzenleistung verschleiernder Sprache: Der Atomkrieg heißt jetzt »nichtkonventionelle Reaktionen«. Zurück

20) Erwin Häckel/Karl Kaiser, Kernwaffenbesitz und Kernwaffenabrüstung: Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa? in: Joachim Krause (Hrsg.), Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden-Baden, 1994, S. 260. Zurück

21) An dieser Stelle soll nicht näher auf die Studie »The role and future of nuclear weapons in Europe«, Assembly of Western European Union, Doc. 1420, 19.5.1994, eingegangen werden, die im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung der WEU von Mr. Decker erstellt wurde. Der Report zeigt nur, daß es innerhalb der WEU Überlegungen gibt, die in die gleiche Richtung zielen. Eine koordinierte WEU-Politik wird daraus noch lange nicht. Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, die am 2. März 1994 im WEU-Hauptquartier in Brüssel weilten, wurde mitgeteilt, daß es keinerlei Überlegungen zur Nuklearfrage gäbe. Zurück

22) Thomas C. Reed and Michael O. Wheeler, The Role of Nuclear Weapons in the New World Order, 13. January 1994. Zurück

23) STRATPLAN 2010, Final Report, Office of the Deputy Chief of Naval Operations for Plans, Policy and Operations, June 1992. Zurück

24) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29.4.1993. Zurück

25) Hans Kristensen, Joshua Handler, Changing Targets: Nuclear Doctrine from the Cold War to the Third World, Paper von Greenpeace International, 26.1. 1995. Zurück

26) Pete V. Domenici, Countering Weapons of Mass Destruction, in: The Washington Quarterly, Winter 1995, pp. 145-152. Zurück

27) JCS, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29. April 1993, I-2. Zurück

28) a.a.O., I-3. Zurück

29) Thomas C. Reed and Michael Wheeler, a.a.O., p. 33. Zurück

30) Hans Kristensen and Joshua Handler, a.a.O., p. 13/14; s.o. den Hinweis auf die mini-nukes im Beitrag von Wolfgang Liebert im gleichen Heft. Zurück

31) a.a.O., p. 79. Zurück

32) FAZ vom 22.2.1995. Zurück

33) Leonard S. Spector, Neo-Nonproliferation, in: Survival, vol, no. 1, Spring 1955, pp. 66-85. Zurück

34) Henry Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, München 1959. Zurück

Paul Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz (PDS).

Der deutsche Atomwaffenverzicht

Der deutsche Atomwaffenverzicht

Der Traum einer »nuklearen Teilhabe« wird trotzdem geträumt

von Dieter Deiseroth

Die Bundesrepublik Deutschland hat – wie eine Vielzahl anderer Staaten – auf Atomwaffen verzichtet. Seit ihrem am 2. Mai 1975 wirksam gewordenen Beitritt zum »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen« (im folgenden: NVV) ist sie wie jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet, „Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen“ (Art. II NVV).

Dieser Atomwaffenverzicht geht weiter als die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1954/55 im Rahmen der sog. Pariser Verträge eingegangene völkerrechtliche Verpflichtung, „Atomwaffen, chemische und biologische Waffen im ihrem Gebiet nicht herzustellen“. Im sogenannten 2+4-Vertrag vom 12. September 19901 hat die BRD ihren sich aus dem NVV ergebenden völkerrechtlich wirksamen Verzicht „auf die Herstellung und den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie auf die Verfügungsgewalt über sie“ bekräftigt und erklärt, „daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird“. Daraus wird oft fälschlich geschlossen, die „Atomwaffenfrage“ sei für Deutschland kein Thema mehr.

Die fünf neuen Bundesländer und Berlin sind atomwaffenfrei. Dies ist eines der positiven Ergebnisse des 2+4-Vertrages2 und der staatlichen Vereinigung von BRD und DDR. Diese Atomwaffenfreiheit gilt aber nicht für die alten Bundesländer.

Die atomar bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missiles) sowie die »nuklearen Artilleriegeschosse« und die »Gefechtsköpfe der bodengestützten nuklearen Kurzstreckenraketensysteme« sind zwischenzeitlich aufgrund der zwischen den USA und der früheren Sowjetunion abgeschlossenen Abrüstungsabkommen aus ganz Deutschland und den anderen NATO-Staaten abgezogen worden. Aber auf dem Territorium Deutschlands (und der anderen europäischen Staaten) lagern trotzdem nach wie vor Atomwaffen. Wahrscheinlich handelt es sich um atomar bestückte Kurzstreckenraketen, die aus der Luft von Flugzeugen abgeschossen werden können (sog. nukleare Flugzeugbewaffnung) sowie freifallende Bomben.

An ihren Abbau ist nicht gedacht. Sie sollen nach Auffassung der NATO und der deutschen Bundesregierung auf unabsehbare Zeit weiterhin in Deutschland bleiben. Ihre genaue Zahl und ihre Lagerorte werden von den offiziellen staatlichen Stellen geheimgehalten. Die Bevölkerung soll sie nicht erfahren3. Vielfach wird allerdings in der Öffentlichkeit davon berichtet, heute seien nach wie vor im europäischen NATO-Bereich ca. 700 Atomwaffen stationiert, darunter möglicherweise 500 in Deutschland. Diese Atomwaffen stehen unter der alleinigen Verfügungsgewalt der US-Regierung und der US-Kommandobehörden. Ob auch Großbritannien und Frankreich in Deutschland Atomwaffen gelagert haben, ist nicht bekannt.

Die nukleare Komponente der NATO-Strategie

Obwohl der Kalte Krieg zu Ende ist und erklärtermaßen eine nukleare militärische Bedrohung nicht (mehr) besteht, halten die USA und die anderen Atomwaffenmächte an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen fest. Die NATO und ihre Mitgliedsstaaten, die über Atomwaffen verfügen, treten zwar – wie die aktuellen Konflikte um Irak, Nordkorea und Pakistan zeigen – erfreulicherweise für eine strikte Einhaltung des NVV und die Verlängerung seiner Geltungsdauer über 1995 hinaus ein. Diese Staaten sind jedoch – ebenso wie in der Zeit des Kalten Krieges – nicht bereit, auf die Option des Einsatzes und sogar des Ersteinsatzes von Atomwaffen zu verzichten.

Die Regierung der NATO-Staaten und auch die deutsche Bundesregierung lehnen erklärtermaßen prinzipiell einen Verzicht auf die Möglichkeit des Erst- oder Zweiteinsatzes von Atomwaffen durch einen NATO-Staat ab. Die Bundesregierung hat vor dem Deutschen Bundestag am 21. April 1993 hierzu ausdrücklich erkärt4 : „Diese eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses, weil konventionelle Streitkräfte allein die Kriegsverhütung nicht gewährleisten können (…) Deshalb wird die Bundesregierung nicht für den Abzug dieser Waffen aus Deutschland oder Europa eintreten. Ebenfalls wird die Bundesregierung nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. (…) Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen. Die Möglichkeit und Führbarkeit konventioneller Kriege würde zunehmen.“

Diese Haltung der NATO-Staaten ist mit Art. VI des NVV nicht vereinbar. Denn Art. VI des NVV verlangt mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit von allen Vertragsstaaten, namentlich gerade von den Atomwaffen besitzenden Staaten, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der „nuklearen Abrüstung“ und zur „allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (gerade auch der Atomwaffen) unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu führen. Über die Art und die Dauer dieser Verhandlung können die Vertragsstaaten streiten. Dagegen dürfen sie das in Art. VI normierte Verhandlungsgebot und Verhandlungsziel als solches nicht in Frage stellen und nicht ignorieren. Anderenfalls sind sie vertragsbrüchig. Das grundsätzliche Ablehnen von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen und das grundsätzliche weitere Beharren auf den Besitz und auf der Option des Einsatzes oder gar des Ersteinsatzes dieser Waffen negiert die grundsätzliche völkerrechtliche Verpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages. Dies ist alles andere als eine Bagatelle, über die man zur Tagesordnung übergehen könnte.

Die Ablehnung von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen ist – ebenso wie das prinzipielle Beharren auf den weiteren Besitz sowie auf der prinzipiellen Option eines Einsatzes von Atomwaffen – ein schwerwiegender völkerrechtlicher Vertragsbruch. Dies gilt nicht nur für die NATO-Atomwaffenstaaten USA, Großbritannien und für Frankreich. In gleicher Weise gilt dies selbstverständlich für andere Atomwaffen-Staaten außerhalb der NATO, die – wie z.B. Rußland in der Nach-Gorbatschow-Ära – auf den weiteren Besitz von Atomwaffen prinzipiell beharren, an der Option ihres Einsatzes „im Fall des Falles“ festhalten und sich prinzipiell weigern, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung zu führen. Staaten, die diesen Vertragsbruch billigen und unterstützen, verhalten sich selbst völkerrechtswidrig.

Der fortgesetzte Verstoß gegen Art. VI des NVV gefährdet zugleich den NVV, d.h. die Verlängerung seiner Geltungsdauer über das Jahr 1995 hinaus. Zahlreiche Staaten haben nämlich innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen wiederholt die Nichtbeachtung des Art. VI durch die Nuklearmächte zum Anlaß genommen, ihre Bereitschaft zum weiteren Festhalten am NVV und zu einem fortgesetzten Atomwaffenverzicht für die Zukunft in Frage zu stellen. Niemand bestreitet: Eine Nichtverlängerung des NVV oder seine »Aufweichung« wäre eine äußerst gefährliche Entwicklung für den Weltfrieden. Deshalb gilt: Wer das »Regime« der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation) und damit den NVV als dessen wichtigsten Pfeiler retten will, muß für eine unverzügliche Beendigung des weiteren Verstoßes gegen seinen Art. VI eintreten.

»Nukleare Teilhabe« Deutschlands

Nach der vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) am 12. Juli 1994 vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr«, die zwischenzeitlich auch vom Bundeskabinett gebilligt worden ist, soll die Bundeswehr künftig aus »Hauptverteidigungskräften« und »Krisenreaktionskräften« bestehen.

Die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr sollen nach der Leitlinie eingesetzt werden

  • in der Landesverteidigung,
  • in NATO und WEU zur Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung sowie zur Verteidigung,
  • im Rahmen der Vereinten Nationen und
  • der KSZE (Einsätze „im gesamten Spektrum von humanitären Maßnahmen bis hin zu militärischen Einsätzen der Charta der Vereinten Nationen“).

Zu diesem Zweck müssen, so heißt es in der Leitlinie, „schnell einsetzbare und verlegefähige Kräfte vorgehalten“ werden, u.a. „in der Luftwaffe 6 fliegende Staffeln für Luftangriffe, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe“.5 »Nukleare Teilhabe« bedeutet nach einer von der Wochenzeitung »Die Zeit« zitierten diesbezüglichen Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums eine „breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben“, wobei von Seiten der Bundeswehr u.a. „eine begrenzte Anzahl von Tornado-Flugzeugen als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden6.

Im Klartext heißt dies: Die Bundeswehr wird darauf eingestellt, daß im Rahmen ihrer »Krisenreaktionskräfte« u.a. „schnell einsetzbare und verlegefähige“ fliegende Staffeln der Bundesluftwaffe mit Tornado-Flugzeugen vorgehalten werden, die als Element der »nuklearen Teilhabe« der Bundeswehr als nukleare Trägersysteme Verwendung finden sollen.

Dies wirft mehrere Fragen auf:

1. Wenn die Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr eine Reichweite von 550 bis 1.400 km haben7, ist zu fragen, wo sie als deutsche »Teilhabe« an einem möglichen Nukleareinsatz von NATO-Bündnispartnern (USA, Großbritannien, Frankreich) eingesetzt werden sollen. Die nuklearen Schaltzentralen der Atommächte Rußland und China liegen außerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge. Für welche Einsatzorte und -ziele innerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge werden dann aber Einsatzpläne im Rahmen der »nukleaen Teilhabe« konzipiert?

2. Wie dargelegt, ist nach Art. II des NVV jeder Nichtkernwaffenstaat und damit auch Deutschland „verpflichtet, (…) Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Im 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 hat Deutschland diesen Atomwaffenverzicht „bekräftigt und erklärt …, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtung halten wird“. Wenn nun entsprechend der neuen »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« für einen Nukleareinsatz von NATO-Bündispartnern deutsche Tornado-Flugzeuge mit deutschen Piloten „als nukleare Trägersysteme“ zur Verfügung gestellt werden, stellt sich die zwingende Frage, ob dann nicht deutsche Hoheitsträger zumindest mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen haben (werden), wenn ein deutsches Tornado-Flugzeug für einen Nukleareinsatz mit ihnen beladen und in den Einsatz geschickt wird? Wie soll sich dies und wie sollen sich darauf gerichtete Planungs- und Vorbereitungshandlungen mit dem deutschen Atomwaffenverzicht vertragen?

NATO-Bündispflichten

Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 1. Dezember 1993 einen Gesetzesentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der u.a. vorsieht, in Artikel 26 des Grundgesetzes einen Absatz 4 einzufügen, der fogenden Wortlaut haben soll: „Die Entwicklung, Herstellung, Lagerhaltung, Beförderung, das in Verkehr bringen, die Aufstellung und Anwendung von atomaren, bakteriologischen, chemischen und anderen Massenvernichtungswaffen sowie die Drohung mit ihrer Anwendung sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Bestehende Bündisverpflichtungen bleiben unberührt.“ 8

Die Sätze 1 und 2 des Vorschlages sind sehr zu begrüßen. Was es mit dem dritten Satz auf sich hat, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs: Dies „trägt bestehenden Bindungen der Bundesrepublik Deutschland aus der Bündnis- und Verteidigunskooperation in der NATO und in Europa Rechnung, nach denen auf ihrem Boden auch Atomwaffen gelagert und von dort eingesetzt werden dürfen“.9 Die SPD geht demnach davon aus, daß »im Fall eines Falles« die auf deutschem Boden nach wie vor noch gelagerten Atomwaffen von hier aus eingesetzt werden dürfen. Von deutschem Boden aus bleiben also Atomschläge weiterhin möglich, faktisch und – so die Auffassung der SPD – auch rechtlich?

Atomwaffengefahren

Atomwaffen stellen – objektiv betrachtet – in mehrfacher Hinsicht eine aktuelle Bedrohung für Mensch und Natur dar. Die UN-Generalversammlung hat in zahlreichen Beschlüssen jeweils mit großer Mehrheit zum Ausdruck gebracht, daß „der Einsatz von nuklearen und thermonuklearen Waffen gegen den Geist, den Wortlaut und die Ziele der Vereinten Nationen verstößt und dadurch eine direkte Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“. Ferner hat sie wiederholt festgestellt, „daß die Existenz und der Einsatz von Nuklearwaffen die größte Bedrohung für das überleben der Menschheit“ sind.10

Bereits die Produktion von Atomwaffen tötet; zu denken ist vor allem an die strahlengeschädigten Bergleute, deren Schicksal kaum jemanden interessiert. Die Beschäftigten in den Labors und Nuklearfabriken tragen gesundheitliche Risiken, die bisher niemand genau abschätzen kann. Unzählige Menschen wurden (und werden?) in der früheren Sowjetunion und in den USA, aber auch in anderen Testgebieten sonst als »Versuchskaninchen« mißbraucht.

Zudem sind mit der Lagerung, dem Transport und der Dislozierung von Atomwaffen unleugbare Unfallrisiken verbunden. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen stellt das unveräußerliche Recht der Menschen auf Leben in Frage. Atomwaffen sind stets potentielle Zielobjekte: für terroristische Aktivitäten, aber auch ggf. für präventive oder reaktive militärische Schläge anderer Mächte. Die Gefahr einens Atomkrieges aus Versehen (durch technisches oder menschliches Versagen) kann nicht ausgeschlossen werden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben zu den Auswirkungen und Folgen einer mit Atomwaffen geführten Auseinandersetzung oder eines Krieges mehrere wichtige Studien vorgelegt, die uns wissen lassen: Im Falle ihres Einsatzes können Atomwaffen zu katostrophalen Schäden, ja zu einer völligen Vernichtung des menschlichen Lebens und der Zivilisation auf unserem Planeten führen. Bestritten wird dies von kaum jemandem. Dennoch wird an Atomwaffen festgehalten.

Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig?

Es spricht vieles dafür, daß jedenfalls der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist. Denn nach geltendem (Kriegs-)Völkerrecht ist der Einsatz von Waffen oder Kriegstaktiken verboten,

  • die geeignt sind, überflüssige Verletzungen und unnötige Leiden zu verursachen,11
  • die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, daß sie ausgedehnte langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen,12
  • die unterschiedslos Zivilpersonen und Soldaten, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, treffen,13
  • die das Territorium neutraler Staaten verletzen.14

Außerdem ist die Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnliche Gasen oder entsprechenden Flüssigkeiten, Materialien, Vorrichtungen oder Waffen verboten.15 Schließlich sind Waffeneinsätze umd militärische Maßnahmen verboten, bei denen „damit zu rechnen ist“, daß sie „auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen“ verursachen, die „in keinem Verhältnis zum erwarteten und mittelbaren militärischen Vorteile stehen“.16

Die Mehrzahl der Völkerrechtler teilt – soweit bislang ersichtlich – diese Auffassung. Allerdings halten die Atomwaffenmächte und die meisten ihrer Verbündeten sowie einzelne Völkerrechtler dennoch einen Einsatz von Atomwaffen als Repressalie und auch die Androhung eines solchen Einsatzes (aus Gründen der »Abschreckung«) unter bestimmten Umständen für zulässig. Angesichts dessen kommt einer Klärung dieser hochkontroversen Frage durch den Internationalen Gerichtshof große Bedeutung zu. Die notwendigen Schritte sind bereits eingeleitet.

Antrag an den Internationalen Gerichtshof

Die Weltgsunheitsorganisation (WHO) in Genf hat im Mai 1993 beim Internationalen Gerichtshof (»Weltgerichtshof«) in Den Haag – im folgenden: IHG – nach Art. 96 der UN-Charta ein Rechtsgutachten (»advisory opinion«) zu der Frage angefordert: „Wäre im Hinblick auf die Folgen für Gesundheit und Umwelt der Gebrauch von Atomwaffen im Krieg oder in einem anderen internationalen Konflikt durch einen Staat eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtung einschließlich der WHO-Verfassung?“

Mit anderen Worten: Die Weltgesundheitsorganisation will endlich geklärt sehen, ob ein Einsatz von Atomwaffen in einem Krieg oder in einem anderen Internationalen Konflikt gegen geltendes Völkerrecht verstoßen würde17.

Der Beschluß der Weltgesundheitsorganisation, ein solches Gutachten einzufordern, erfolgte mit großer Mehrheit, allerdings gegen die Stimmen der Atomwaffenmächte und auch der deutschen Delegation. Die deutsche Bundesregierung hat sich im Verein mit ihren Verbündeten intensiv bemüht, die Anforderung eines solchen Rechtsgutachtens zu verhindern. Ungeachtet der großen Pressionen, die die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündetetn ausgeübt haben, haben zahlreiche Staaten zwischenzeitlich bis zu dem vom IGH gesetzten Termin am 10. Juni 1994 positive Stellungnahmen abgegeben, darunter Irland, Weißrußland, Schweden, Kasachstan, Litauen, Mexiko, Moldavien, Neuseeland, Nordkorea, Papua Neuguinea und die Ukraine.

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrer gegenüber dem IHG abgegebenen Stellungnahme ausdrücklich bestritten, daß die Weltgesundheitsorganisation berechtigt ist, ein solches Rechtsgutachten beim Internationalen Gerichtshof anzufordern. Zum zweiten vertritt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme die Auffassung, daß der Einsatz von Atomwaffen wie der Einsatz jeder anderen Waffe völkerrechtlich in Ausübung des naturgegebenen Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff zulässig sei; nur „Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solche“ seien stets verboten.

Trotz heftigen Widerstandes der Atomwaffenmächte und ihrer Verbündeten hat zwischenzeitlich am 16. Dezember 1994 auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen ebenfalls die Einholung eines Rechtsgutachtens nach Art. 96 der UN-Charta beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag beschlossen. Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit den Regierungen Frankreichs, der USA und Großbritanniens u.a. durch einen Geschäftsordnungsantrag bis zuletzt versucht, einen solchen Beschluß der UN-Generalversammlung zu verhindern.

Trotz allem wurde dann dieser Beschluß der Generalversammlung mit 78 Ja-Stimmen gegen 43 Nein-Stimmen (bei 38 Enthaltungen) gefaßt.

Die Fragestellung des eingeforderten Gutachtens der UN-Generalversammlung geht über diejenige der Weltgesundheitsorganisation hinaus. Die UN-Generalversammlung legt dem Internationalen Gerichtshof die Frage vor, ob nicht nur der Einsatz sondern auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen gegen geltendes Völkerrecht verstößt.

Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit sich ähnlich wie die Parlamente anderer Staaten endlich mit diesen beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingeleiteten Verfahren beschäftigen würden. Die in dem Verfahren vom Internationalen Gerichtshof zu treffenden Entscheidungen haben weitreichende Bedeutung gerade auch für die geltende NATO-Strategie, die nach wie vor an der Möglichkeit eines Einsatzes oder gar eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen festhält. Würde der Internationale Gerichtshof den Einsatz von Atomwaffen und/oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen für völkerrechtswidrig erklären, könnte die geltende NATO-Strategie nicht mehr aufrechterhalten werden. Gleiches würde für die Nuklearstrategien der anderen Atomwaffenmächte wie z.B. für Rußland gelten. Schließlich wäre dann auch kein Raum mehr für eine weitere Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden.

Anmerkungen

1) Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1990 II, S. 1318. Zurück

2) Art. 5 Abs. 3 Satz 3. Zurück

3) Vgl. dazu u.a. die Erklärung der Bundesregierung vom 21. April 1993 vor dem Deutschen Bundestag, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 12/4766, S. 2. Zurück

4) Vgl. BT-Drs. 12/4766, S. 3. Zurück

5) Bundesministerium der Verteidigung, Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr, 12. Juli 1994, S. 7. Zurück

6) vgl. Die Zeit vom 12. August 1994, S. 4. Zurück

7) Vgl. dazu Mechtersheimer/Barth, Militarisierungsatlas, 2. Aufl. 1988, S. 376. Zurück

8) Vgl. BT-Drs. 12/6323 S. 24. Zurück

9) Vgl. BT-Drs. 12/6323, S. 24. Zurück

10) Vgl. u.a. die Resolution der UN-Generalversammlung zu Nuklearwaffen von 1961, Res. 1653 (XVI); bekräftigt u.a durch Resolution 45/59 A von 1990. Zurück

11) Vgl. Art. 23e der Haager Landkriegsordnung (HLKO) vom 18. Okt. 1907, abgedr. in Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Band II, 1967, S.1892; vergl. auch Art. 35 Abs. 2 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 (im folgenden: ZP I 1977). Zurück

12) Vgl. Art. 35 Abs.3 ZP I 1977. Zurück

13) Art. 48 ZP I 1977; vgl. auch Ipsen/Fischer, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, S.1034 ff.; Eberhard Menzel, Legalität oder Illegalität der Anwendung von Atomwaffen, 1960, S.53 ff. Zurück

14) Vgl. Art. 1 des Haager Abkommens »betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges«, der normiert: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich“. RGBl 1910, S. 151. Zurück

15) Dies ist ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts. Vgl. dazu u.a. Ipsen/Fischer, in: Ipsen (1990), op.cit., S. 1028 ff.; HLKO Art. 23a; Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln in Kriegen vom 17. Juni 1925, RGBl. 1925 II, S. 173. Zurück

16) Vgl. Art. 51 Abs. 5b ZP I 1977. Zurück

17) Vgl. Document WHA 46.40 – vom 14. Mai 1993. Zurück

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter am Oberverwaltungsgericht Münster und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Sektion der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms).

Atomwaffenforschung ohne Tests?

Atomwaffenforschung ohne Tests?

Die USA lehnen einen vollständigen Teststopp ab

von Oliver Meier

Seit Januar 1994 wird in Genf über ein Abkommen zum Verbot von Atomtests verhandelt. Die Verhandlungen finden im Vorfeld der Verhandlungen über eine Verlängerung des atomaren Nichtverbreitungsvertrages (Non-Proliferation Treaty) statt. Die Unterzeichnung eines Atomteststopp-Abkommens würde die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages wahrscheinlicher machen, da diejenigen Länder, die keine Kernwaffen besitzen, einen vollständigen Verzicht auf Atomversuche von seiten der atomwaffenbesitzenden Staaten als einen wichtigen Schritt in Richtung auf die im Nichtverbreitungsvertrag geforderte atomare Abrüstung interpretieren würden.

Nachdem alle Atomwaffenstaaten mit Ausnahme von China ihre Atomtestprogramme im Laufe der letzten Jahre unverbindlich eingestellt hatten, schien der Abschluß eines solchen »Comprehensive Test Ban Treaty« (CTBT) auf keine größeren Widerstände mehr zu stoßen. Ende August des letzten Jahres rückte die Clinton-Administration jedoch von ihrer bis dahin vorbehaltlosen Befürwortung eines totalen Teststopps ab. Die amerikanische Regierung fordert seitdem, einen CTBT auf vorerst zehn Jahre zu begrenzen. Außerdem sollen Tests mit einer sehr geringen Detonationskraft nach amerikanischen Vorstellungen von einem Abkommen ausgeschlossen bleiben. Die Vereinigten Staaten möchten ferner ihre vorhandenen Testanlagen nicht vollständig abbauen. Die Wiederaufnahme von Atomtests soll somit jederzeit möglich bleiben.1

Sinn dieser Forderungen ist es, die Forschung im Bereich Atomwaffen – wenn auch auf geringerem Niveau und mit modifizierter Zielstellung – weiterzubetreiben. Damit droht ein wesentliches Ziel des CTBT ausgehöhlt zu werden: die Begrenzung oder gar Beendigung von Modernisierungsmaßnahmen im nuklearen Bereich über die Beschränkung von Forschung und Entwicklung zu erreichen. Insbesondere die Nicht-Nuklearwaffenstaaten hatten die Unterzeichnung eines totalen Teststopp-Vertrages immer als einen Schritt in Richtung auf die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen des Nichtverbreitungsvertrages gesehen. Ein Scheitern der Verhandlungen gibt diesen Staaten daher neue Gründe, eine Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages abzulehnen.

Die Clinton-Administration beugt sich mit ihrer Entscheidung, einem vollständigen Teststopp zunächst nicht zuzustimmen, dem Druck einer innenpolitischen Lobby, die sich aus der Atomwaffenforschergemeinde und Teilen des Militärs zusammensetzt. Der Abschluß eines CTBT vor der Verlängerungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im April scheint inzwischen unwahrscheinlich.2

Im folgenden werden die Hintergründe der amerikanischen Entscheidung, einen unbegrenzten, sofortigen und totalen Ausstieg aus dem Atomtestprogramm vorerst nicht zu vollziehen, dargestellt. Zuerst soll die Position der Clinton-Administration zu Beginn ihrer Amtszeit dargestellt werden. Unter dem Oberbegriff »stockpile stewardship« ist in den letzten Jahren ein Programm in den USA entstanden, das eigentlich gewährleisten sollte, daß die vorhandenen Atomwaffen sicher gelagert werden und einsatzbereit sind. Inzwischen mutieren die unter diesem Programm subsumierten Projekte immer mehr zu dem Versuch, Atomwaffenforschung auch ohne herkömmliche Tests weiterzubetreiben. Nachdem die wichtigsten Vorhaben aus dem »stockpile stewardship«-Programm zusammengefaßt wurden, wird schließlich der Frage nachgegangen, warum Atomwaffenforscher immer noch eine Wiederaufnahme der Atomwaffentests fordern, obwohl sie inzwischen in der Lage sind, Forschung und Entwicklung ohne Tests zu betreiben.

Innenpolitische Nachteile für außenpolitische Vorteile

In seinem ersten Amtsjahr unterstützte Präsident Clinton noch eine vollständige, sofortige und unbegrenzte Einstellung aller Atomwaffentests. Er provozierte damit insbesondere den Widerstand der amerikanischen Atomwaffenforscher, für die Atomtests seit jeher einen zentralen Bestandteil ihrer Arbeit bedeuten. Auch Teile des amerikanischen Militärs lehnen eine Einstellung der nuklearen Tests ab, da sie ungetestete Kernwaffen in ihren Arsenalen als Unsicherheitsfaktor betrachten.3 Trotzdem glaubte Clinton, daß eine Fortsetzung des Moratoriums mehr außenpolitische Vorteile als innenpolitische Nachteile bringen würde. In der Begründung seiner Entscheidung vom 3. Juli 1993, die »no-first-test«-Politik bis auf weiteres fortzusetzen, machte Clinton dies deutlich: „After a thorough review, the Administration determined that the nuclear weapons in the United States are safe and reliable. Additional nuclear tests could help us prepare for a CTB and provide some additional improvements in safety and reliability. However, the President determined that these benefits would be outweighed by the price we would pay in conducting those tests now – through undercutting of our nonproliferation goals.“ 4

In dem gleichen Zusammenhang wies der Präsident das für die Atomwaffenforschung und -produktion zuständige Energieminsterium (Department of Energy, DOE) an, Wege zu erkunden, um die „Sicherheit und Zuverlässigkeit und Zuverlässigkeit“ 5 amerikanischer Nuklearwaffen auch während eines totalen Teststopps zu gewährleisten. Hinter dieser so harmlos klingenden Formulierung verbarg sich eine Konzession an die amerikanische Atomwaffenlobby. Diese hat dazu beigetragen, die amerikanische Haltung in Bezug auf eine Einstellung aller Tests zu ändern, und droht, den bestehenden Modernisierungsstopp im Bereich von Atomwaffen auszuhöhlen. Denn welche Maßnahmen nötig sind, um die „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit“ amerikanischer Atomwaffen sicherzustellen, ist höchst umstritten.

»Stockpile stewardship« als neues Zauberwort

In der Diskussion um die Zukunft der amerikanischen Atomwaffenforschung rückt ein Begriff immer mehr in den Mittelpunkt: »stockpile stewardship«.6 Ursprünglich bezeichnete dieses Programm den Versuch, das vorhandene Atomwaffenarsenal sicher zu verwahren. Inzwischen ist es aber mehr als die Beibehaltung vorhandener Fähigkeiten. Forschungsprogramme, die der Beibehaltung vorhandenen Wissens und vorhandener Fähigkeiten dienen sollten, werden dazu benutzt, Atomwaffenforschung auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiterzubetreiben.

Schon im Juli 1993 hatte die Clinton-Administration im Zusammenhang mit der Verlängerung des Test-Moratoriums eine Direktive (Presidential Decision Directive, PDD) erlassen, die die Umrisse des künftigen »stockpile stewardship«-Programmes beinhaltete. Der Inhalt der PDD ist geheim, allerdings wurde im Verteidigungshaushalt 1994 ein »Stockpile Stewardship Program« verabschiedet, dessen Leitlinien für die nächsten Jahre richtungsweisend sein dürften. Dieses Programm soll sicherstellen, daß die „zentralen intellektuellen und technischen Kompetenzen im Bereich Nuklearwaffen, einschließlich des Designs, der Systemintegration, der Herstellung, Sicherheit, Handhabung, Zuverlässigkeit und Zertifikation“ 7 erhalten bleiben. Drei Programmelemente werden in dem Gesetzestext besonders hervorgehoben:

  • die Fähigkeit zur Computersimulation von Atomexplosionen soll verbessert werden;
  • Maßnahmen zur Durchführung von oberirdischen Experimenten wie „Hydrotests, Hochleistungslaser, Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF), Plasmaphysik und Materialwissenschaften“ sollen verstärkt werden;
  • neue Forschungseinrichtungen, die dazu beitragen, Atomwaffenwirkungen zu untersuchen, sollen gefördert werden. Explizit genannt werden eine fortgeschrittene hydrodynamische Testeinrichtung und die »National Ignition Facility« (NIF).8

Hinter diesen Programmen verbergen sich Bemühungen, auch ohne herkömmliche Atomtests Atomwaffenforschung weiter zu betreiben. Allein 1993 haben die drei großen Atomwaffenforschungslabors des amerikanischen Energieministeriums9 153 Millionen US $ ausgegeben, um Alternativen zu nuklearen Tests zu entwickeln.10 Wenn alle diese Maßnahmen umgesetzt werden, könnten die USA möglicherweise neue Atomwaffen entwickeln, ohne daß diese getestet werden müßten.11

Amerikanische Atomwaffenforscher weisen dies zumeist von sich. Sie behaupten, nach wie vor auf »echte« Atomtests angewiesen zu sein, falls sie neue Waffen konzipieren sollen. Diese Behauptung dürfte allerdings hauptsächlich taktisch motiviert sein. Zuerst sollen aber die drei wichtigsten, unter dem Begriff »stockpile stewardship« aufgeführten Vorhaben genauer dargestellt werden.

Computersimulationen

Computer haben schon immer eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Nuklearwaffen gespielt. Bestimmte physikalische Vorgänge, die bei einer Atomexplosion stattfinden, können durch Computerprogramme (sogenannte Codes) simuliert werden. Inwiefern Computermodellationen hingegen Tests künftig ersetzen können, ist umstritten. Vertreter der Kernwaffenlaboratorien vertreten die Position, daß Computercodes lediglich solche Vorgänge abbilden können, die in der Realität (also in Tests) beobachtbar waren. Voraussagen – und damit die Entwicklung von neuen Atomwaffen seien allein auf Grund von Computersimulationen nicht möglich.

Zugleich wird aber offen eingestanden, daß bei der Simulation von Atomexplosionen durch Computermodelle in den letzten Jahren zum Teil erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. Schließlich wollen die Forscher auch weiterhin Gelder für den Ausbau ihrer Computersysteme bekommen. In dem Bemühen, die eigenen Leistungen im Bereich der Computersimulation anzupreisen, schießen Atomwaffenforscher gelegentlich über das Ziel hinaus und gestehen ein, daß Computer inzwischen auch in der Lage sind, physikalische Abläufe vorherzusagen. So heißt es in einem Bericht des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) aus dem Jahr 1992: „Die Ziele [des »Test Ban Readiness«-Programms, d. Verf.] sind, die Vorhersagefähigkeit im Bereich der Leistungsfähigkeit von Nuklearwaffen zu verbessern, neue fortgeschrittenere nichtnukleare Technologien für Tests zu entwickeln und Sprengköpfe zu entwickeln und zu testen, die weniger von [herkömmlichen] Nukleartests abhängig sind. Ähnliche Aktivitäten umfassen unterirdische Experimente, um die Effektivität des vorhandenen Arsenals zu demonstrieren und um die Vorhersagefähigkeit durch Justierungstests (Benchmark-Tests) zu verbessern, die eine elementare Überprüfungsmöglichkeit für unsere Computercodes darstellen. (…) Wir hatten einige bemerkenswerte Erfolge in dem Bemühen, unsere Vorhersagefähigkeit zu verbessern. Während der letzten zehn Jahre hat eine Kombination aus Atomtests und stetig verbesserten Supercomputerkapazitäten zu erheblichen Verbesserungen in unserer Fähigkeit, einige Aspekte von thermonuklearen Explosionen abzubilden, geführt. (…) Trotzdem bleiben Atomtests die beste und letzte Möglichkeit, um das Vertrauen in unser atomares Arsenal zu bewahren.“12

Computermodelle können aber nicht nur anhand von Atomwaffentests überprüft werden. Schon seit längerer Zeit bereitet sich die amerikanische Atomwaffenforschergemeinde im Rahmen des »Test Ban Readiness«-Programms darauf vor, auch ohne Tests Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu betreiben. Zwei Programme sind hierfür besonders wichtig: sogenannte hydrodynamische und hydronukleare Experimente sowie Forschungen im Bereich der Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF).

Hydrodynamische und hydronukleare Experimente

Computermodelle, die die Vorgänge während einer Atomexplosion simulieren, können nicht nur durch herkömmliche Atomtests überprüft werden. Hydrodynamische und hydronukleare Experimente, bei denen es nicht zu einer vollständigen Atomexplosion kommt, können hier eine wichtige Lücke schließen. Bei hydrodynamischen Tests findet keine Kettenreaktion statt: In einer Gefechtsfeldkopfattrappe werden die spaltbaren Materialien durch sogenanntes passives Material (Natururan oder abgereichertes Uran) ersetzt. Auch wenn man durch diese Tests die genaue Sprengkraft eines Atomwaffendesigns nicht prognostizieren kann, so ist durchaus möglich vorherzusagen, ob ein Design überhaupt funktionsfähig ist.13

Bei hydronuklearen Versuchen wird ähnlich verfahren, allerdings findet hier eine Kettenreaktion statt, da ein Teil des spaltbaren Materials in der Testvorrichtung bleibt. Die Kettenreaktion verläuft allerdings wesentlich langsamer als in einem »echten« Test und führt daher nicht zu einer Atomexplosion.14 Solche »unterkritischen Tests« wie auch hydrodynamische Experimente können aber wichtige Aufschlüsse über die Funktionsweise von Atomwaffen liefern.15 So führten die USA schon während des Atomtestmoratoriums von 1958-61 hydronukleare Tests durch, um ihre Atomaffen qualitativ zu »verbessern«.16

Nach Ansicht der betroffenen Atomwaffenforscher können hydrodynamische Tests nur eine komplementäre Funktion zu echten Atomtests haben: „Oberirdische Tests ohne eine nukleare Explosion werden viele der benötigten Justierungsexperimente ersetzen, aber ohne unterirdische Tests die durch Tests von Prototypen erreichten Vorteile für die Gewinnung von Urteilsfähigkeit und technischen Kompetenzen nicht erhalten werden.“ 17 Zugleich wird allerdings die Bedeutung von hydrodynamischen Tests für die Forschung im Bereich Atomwaffen während eines Teststopps betont: „Falls die Tests tatsächlich eingestellt werden, werden die Laboratorien sich auf oberirdische Tests als primäre experimentelle Quelle verlassen, um technische Probleme zu beantworten, Expertise zu erhalten und theoretische Modelle und Kalkulationen zu überprüfen, die benutzt werden, um das Verhalten von Waffen vorherzusagen.“ 18

Hydronukleare Tests sind besonders nützlich bei der Erstentwicklung von Nuklearwaffen. »Einfache« Atomwaffen der ersten Generation19 können durch diese Experimente in zweifacher Hinsicht sicherer gemacht werden: Erstens kann mit ihnen der optimale Zeitpunkt für die Einleitung der Kernreaktion bestimmt und zweitens die Geschwindigkeit der Kernreaktion in dem Stadium direkt nach dem Beginn der Explosion errechnet werden. Demgegenüber sind die Erkenntnisgewinne im Bereich der modernen Wasserstoffbomben relativ gering – und solche Waffen befinden sich überwiegend im Arsenal der USA.20 Trotzdem wollen die Vereinigten Staaten hydronukleare Experimente von einem CTBT ausgeschlossen wissen. Dabei wird argumentiert, daß diese Tests erstens keine Atomtests im herkömmlichen Sinne seien und zweitens ein mögliches Verbot ohnehin nicht überwacht werden könnte. Eine Einbeziehung von hydrodynamischen Tests in den Vertrag erscheint tatsächlich fragwürdig, da eine Überprüfung eines solchen Verbots nur unter erheblichem Aufwand möglich wäre. Die Durchführung von hydronuklearen Experimenten hingegen könnte relativ einfach festgestellt – und damit verboten werden –, da hier nukleare Spaltstoffe freigesetzt werden.21

Die Frage der Schwelle – also ob Tests mit »geringer« Sprengkraft wie hydronukleare Experimente unter einem Teststopp-Abkommen verboten werden sollen – ist zu einem zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen geworden. Noch im März 1994 hatte die Clinton-Administration in ihren Grundsätze für die CTBT-Verhandlungen verkündet: „The CTBT should constitute a comprehensive ban. It should not be a threshold treaty. It should rule out all nuclear explosions anytime, anywhere, (…).22 Am 4. August hatte der Direktor der ACDA, John D. Holum diese Position noch einmal bekräftigt: „The United States seeks a CTBT that will put an end to all nuclear explosions-period. No thresholds. No exceptions.“ 23

Der beschriebene amerikanische Umschwung in dieser Frage dürfte die Verhandlungen weiter komplizieren. Eine Ausnahmeklausel für hydrodynamische und -nukleare Tests dürfte darüber hinaus die Proliferationsgefahr erhöhen, da diese Technologien insbesondere für Staaten mit sehr jungen Atomwaffenprogrammen interessant ist. Demgegenüber geht es bei Forschungen im Bereich der Trägheitseinschlußfusion primär um die Simulation von Kernfusionprozessen, wie sie in modernen und technisch anspruchsvolleren Wasserstoffbomben stattfinden.

ICF: Zivile Energieforschung für militärische Zwecke?

Bei der Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF) werden entweder Laser oder Teilchenstrahler zur Erzeugung eines extrem dichten Plasmas eingesetzt. Mit Hilfe dieser Technik ist es möglich „Kernfusions- und/oder Kernspaltungsreaktionen im Labor stattfinden (zu) lassen. (…) Es ist allerdings unmöglich, fertige neue Kernwaffendesigns zu entwickeln.“ 24 Nichtsdestotrotz füllt die ICF eine wichtige Lücke in den Bemühungen, Atomwaffenforschung auch während eines Teststopps weiterzubetreiben.

Das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL), das schon jetzt einen der größten Laser der Welt beherbergt (NOVA), hat deshalb das Projekt einer nationalen ICF-Forschungsanlage vorgeschlagen. Die »National Ignition Facility« (NIF) soll die mit Abstand größte Anlage zur Fusionsforschung werden. Der Bau soll ca. US-$ 1 Mrd. kosten, die jährlichen Betriebskosten sollen ungefähr US-$ 250 Millionen betragen.25 Drei Gründe werden offiziell zur Begründung des Projektes angeführt:

  • die NIF soll die zivile Fusionsforschung voranbringen, um Kernfusion als künftige Energiequelle nutzbar zu machen;
  • über den Bau der Anlage sollen qualifizierte Wissenschaftler in der Kernforschung gehalten und neue junge Experten für das Gebiet gewonnen werden;
  • die NIF sei wichtig, um Forschung im Bereich der „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft“ von Nuklearwaffen zu betreiben.

Auch wenn es sich bei ICF grundsätzlich um eine Technologie handelt, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar ist, dürfte es mit dem zivilen Nutzen der NIF nicht allzuweit her sein.26 Entgegen der offiziellen Behauptungen dürfte die Forschung in der NIF allerdings nur zu einem sehr geringen Teil zivilen Zwecken dienen. So sollen die Forschungen dort nur zu einem geringen Teil international und offen vonstatten gehen, wie es in zivilen Forschungsprojekten üblich ist. Außerdem ist die Schwerionenfusion für zivile Anwendungen wesentlich erfolgversprechender als das in der NIF verfolgte Ziel der Energiegewinnung über Hochenergielaser.27 Einen Hinweis auf das Verhältnis von zivilem und militärischem Nutzen der Laserforschung in Livermore gab der Direktor der Laserforschungsgruppe im LLNL schon vor drei Jahren im Zusammenhang mit dem geplanten Ausbau des NOVA-Lasers: „Die Finanzierung des Ausbaus – und für die Laserfusion – ist zu 99% verteidigungrelevant.“ Hauptziel sei dabei, die Kenntnisse über die Waffenphysik zu verbessern.28

Von besonderer Bedeutung ist die NIF für das Lawrence Livermore National Laboratory. Das Laboratorium wird von den drei Kernwaffenforschungszentren des Energieministeriums am stärksten durch Budgetkürzungen bedroht. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß im LLNL in den achtziger Jahren viel zum SDI-Projekt geforscht wurde und ein neuer Arbeitsschwerpunkt immer noch fehlt. Durch den Bau der NIF würden circa 1.500 neue Arbeitsplätze entstehen. Diese werden zwar zwischen den drei Laboratorien Sandia, Los Alamos, Livermore sowie der Universität Rochester, aufgeteilt, aber Livermore dürfte trotzdem den größten Teil der Forschung in der Anlage organisieren.29 Der Bau der NIF ist für Livermore inzwischen zu einer Überlebensfrage geworden. Die Lobby für dieses Projekt ist daher sehr stark. Einen ersten Erfolg konnten die Befürworter inzwischen verbuchen: im Oktober 1994 gab die Energieminsterin Hazel O'Leary bekannt, daß sie die NIF in den Antrag des DOE für das Haushaltsjahr 1995 aufnehmen will. Damit tritt das Projekt in die konkrete Planungsphase. Verläuft alles nach Plan, soll 1998 mit dem Bau der NIF begonnen werden, sie wäre dann im Jahr 2002 betriebsbereit.30

Warum Tests, wenn sie eigentlich überflüssig sind?

Ein Kritiker des neuen amerikanischen Atomwaffenforschungsprogramms bemerkte zu den Bemühungen, die Atomwaffenforschung auch während eines Teststopps fortzusetzen: „Einige dieser Vorschläge [im Rahmen eines Stockpile Stewardship-Programmes; d. Verf.] kommen gefährlich nahe an ein bewußt konstruiertes Programm, um den intendierten Effekt eines vollständigen Teststopps – eine Begrenzung der Fähigkeit neue Waffen zu entwickeln und zu zertifizieren – außer Kraft zu setzen und so zu umgehen.“ 31

Amerikanische Atomwaffenforscher weisen immer wieder darauf hin, daß keines der oben beschriebenen Programme »echte« Tests ersetzen könne. Diese Behauptung stimmt sicherlich, wenn jedes Projekt für sich betrachtet wird. Die Bemühungen einen Teststopp zu umgehen, sind aber komplementär: zusammengenommen versetzen sie Forscher durchaus in die Lage, auch ohne Tests neue Designs zu entwickeln.

Dies bestätigte auch der Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Counterproliferation, Ashton B. Carter. Auf die Frage, ob neue Waffendesigns unbedingt getestet werden müßten, antwortete er: „Ich glaube nicht, daß das auf jeden Fall zutrifft. Sicherlich für einige Arten von Atomwaffen, aber nicht für alle.32 Ein Beispiel für die Neuentwicklung von Atomwaffen ohne Atomtests ist das Projekt eines sogenannten »robusten« Atomsprengkopfes. Diese Waffe soll die neuesten Sicherheitsstandards inkorporieren sowie modular auf verschiedenen Trägersystemen einsetzbar sein. Der eigentliche Zweck des Entwicklungsprogramms liegt jedoch darin, die Atomwissenschaftler zu beschäftigen und interessiert zu halten, auch wenn sie ihre Neu- oder Weiterentwicklungen nicht mehr zur Explosion bringen können.33

Bleibt zu fragen, warum die amerikanischen Atomwaffenforscher immer noch behaupten, daß sie auch weiterhin Tests brauchen. Warum insistieren Atomwaffenforscher darauf, Waffen zu testen, selbst wenn dies gar nicht mehr nötig ist? Drei Motive können ausgemacht werden, weshalb Atomwaffenforscher auch weiterhin Atomtests durchführen wollen, obwohl sie die Weiterentwicklung von Atomwaffen auch ohne »echte« Nukleartests betreiben könnten.

Erstens dienten Atomwaffentests in den vergangenen fünfzig Jahren nicht nur der Überprüfung der theoretischen Berechnung von Atomwaffenexplosionen. Der Anthropologe Hugh Gusterson hat beschrieben, daß Atomtests noch eine ganz andere Bedeutung für Nuklearwaffenforscher haben: Atomtests sind ein Ritual, das den Forschern hilft, die eigenen Ängste, die aus der Arbeit an Massenvernichtungswaffen entstehen, zu bändigen. Atomwaffentests sind darüber hinaus ein Initiierungsritual für neue Forscher. Durch die Leitung eines selbst konzipierten Atomtests wird der neue Kollege in die Gemeinde der alten Forscher aufgenommen. In gewisser Weise legt er damit seine Meisterprüfung ab.34

Damit leitet sich der Wert von Atomtests für die Atomwaffenforschergemeinde nicht nur aus ihrem tatsächlichen Nutzen für die Waffenforschung ab. Atomtests sind zentraler Bestandteil des Berufsethos von Atomwaffenforschern.35 Der Test eines neuen Entwurfes bildet den Höhepunkt eines Forschungsvorhabens: theoretische Berechnungen werden nun zum ersten Mal an der Realität überprüft. Da Nuklearwaffen erst zweimal militärisch eingesetzt wurden, sind diese Tests die einzige Möglichkeit, die Ergebnisse der Arbeit der Wissenschaftler zu verifizieren. Siegfried Hecker, der Direktor des Los Alamos National Laboratory sieht daher in Atomtests keinen wesentlichen Unterschied zu Experimenten in zivilen Wissenschaften: „Was in Bezug auf unsere Position in Hinsicht auf den Bedarf nach Tests für Nuklearwaffen mißverstanden wird, ist, daß sie sich nicht von der Position bei anderen Hochtechnologieunternehmungen unterscheidet – das heißt, daß Komponenten- und Produkttests als unersetzlich angesehen werden. In der Autoindustrie werden Karosserien durch Millionen von simulierten Straßentests geschickt, in der Luftfahrtindustrie helfen Windtunnel neue Designs zu formen, in der Raumfahrtindustrie wird jedes Teil gründlich getestet, bevor es für einen Einsatz akzeptiert wird. Die Regierung, die Steuerzahler und die Verbraucher würden es gleichermaßen als verbrecherisch ansehen oder zumindest als eine Verletzung von professionellen Standards, wenn ungetestete Konsumenten- oder Industrieprodukte auf dem Markt angeboten werden. Und obwohl Nuklearwaffen sich in wichtigen Punkten von anderen komplexen technischen Systemen unterscheiden, ist der Bedarf nach Tests grundsätzlich der gleiche und ein Fehler hätte größere Auswirkungen.“ 36

Zweitens können durch die Betonung der Wichtigkeit von »echten« Atomtests mehr Gelder für Ersatzprogramme akquiriert werden. Eigentlich seien Waffentests unersetzlich, so die Argumentation. Wenn daher erwartet wird, daß die Atomwaffenforscher auch in Zukunft die „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Einsatzfähigkeit“ von Kernwaffen garantieren, dann bedarf dies außergewöhnlicher Anstrengungen – und natürlich erheblicher Investitionen. Zugleich kann so die Beibehaltung der bestehenden Testanlagen gerechtfertigt werden. Sollte sich die internationale Lage verschlechtern (etwa durch einen autoritären Umschwung in Rußland), dann wären die USA in der Lage, Produktion und Modernisierung von Atomwaffen schnell wieder hochzufahren. Dies – unter dem Slogan »hedging against an uncertain future« – bekanntgewordene Konzept bildet inzwischen einen zentralen Bestandteil der amerikanischen Atomwaffenpolitik.37

Drittens weigert sich das amerikanische Militär, Atomwaffen in das Arsenal aufzunehmen, die nicht getestet sind. Die Militärs wollen keine Waffen unter ihrem Befehl haben, deren Einsatzfähigkeit sie nicht garantieren können. Selbst wenn es also gelingen sollte, neue Kernwaffen nur auf der Grundlage von Computermodellen und konventionellen Experimenten zu entwickeln, so wären diese militärisch bislang nicht nutzbar. Dies wurde unter anderem im Zusammenhang mit den Plänen für einen »robusten« Sprengkopf deutlich. Vier hochrangige Militärs beschwerten sich direkt beim stellvertretenden Verteidigungsminister und Vorsitzenden des Nuclear Weapons Council, John Deutch, über dieses Vorhaben: „Insbesondere unterstützen wir keinen Plan, einen neuen Sprengkopf zu entwickeln und zu produzieren, ohne daß dieser getestet wird.38 Welche Auswirkungen die oben geschilderten Programme auf die Bemühungen haben werden, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, ist unklar.39 Die USA sind nicht der einzige Staat der einen totalen Teststopp ablehnt. Auch Frankreich versucht gegenwärtig, ein Programm zu entwickeln, um während eines Teststopps die Modernisierung von Atomwaffen voranzutreiben. Großbritannien hat seine Nuklearwaffen bisher auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada getestet und ist damit von der amerikanischen Politik abhängig. Rußland hat bisher einen totalen Teststopp befürwortet, allerdings dürfte sich diese Position durch den amerikanischen Umschwung ebenfalls ändern.40

Die Nichtkernwaffenstaaten haben die Unterzeichnung eines totalen Teststopp-Vertrages bislang als einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Erfüllung des Abrüstungsgebotes im Nichtverbreitungs-Vertrag gesehen. Die Abkehr der USA von ihrer Befürwortung eines CTBT dürfte sie in ihrer Skepsis gegenüber der Politik der Atommächte bestärken. Innenpolitische Zugeständnisse eines in sicherheitspolitischen Fragen schwachen Präsidenten könnten somit zur Gefahr für einen der wichtigsten Verträge in der internationalen Politik werden.

Anmerkungen

1) Vgl. Andreas Zumach: Ausstieg aus dem Ausstieg, taz, 1.9.1994. Zurück

2) Vgl. Andreas Zumach: Atomwaffensperrvertrag in Nöten, taz, 28.1.1995. Zurück

3) In der Vergangenheit wurden nicht nur neuentwickelte Atomwaffen getestet. Aus dem Bestand bereits stationierter Nuklearwaffen wurden nach dem Zufallsprinzip einzelne Sprengköpfe getestet, um zu überprüfen, ob sie erwartungsgemäß funktionieren. Mit einer Einstellung dieser »Überprüfungstests« haben sich die amerikanischen Militärs inzwischen abgefunden, sie weigern sich allerdings, Neuentwicklungen unter ihren Befehl zu nehmen, deren Funktionieren bisher nicht demonstriert werden konnte. Zurück

4) The White House, Fact Sheet. July 3, 1993: Background Information: U.S. Policy on Nuclear Testing and a Comprehensive Test Ban. (Alle Übersetzungen aus dem Englischen durch den Verfasser). Zurück

5) Ebd. Zurück

6) Vgl. hierzu insbesondere Jonathan E. Medalia: Nuclear Weapons Stockpile Stewardship: The Role of Livermore and Los Alamos, CRS Report for Congress, 94-418 F, Washington, D.C., May 12, 1994. Zurück

7) FY 1994 Defense Authorization Act (Sec. 3138), hier zitiert nach Christopher E. Paine: CTB Negotiation Issues with Implications for Nuclear Nonproliferation, Paper prepared for the Panel on the Comprehensive Test Ban Treaty Negotiations, NGO Committee on Disarmament Conference »Assuring the Success of the Non-Proliferation Treaty Extension Conference«, New York, April 20-21, 1994, pp. 13-14. Zurück

8) Ebd. Zurück

9) Dies sind das Livermore National Laboratory in Californien sowie Los Alamos und Sandia National Laboratories in New Mexico. Zurück

10) Genauere Angaben, wieviel Gelder für diesen Bereich ausgegeben werden, sind schwierig, da viele Programme mehrere Funktionen erfüllen dürften. Vgl. Christopher Anderson: Weapons Labs in a New World, in: Science, Vol. 262, 8 October 1993, pp. 168-171, p. 169. Zurück

11) Vgl. auch Matthias Dembinski/ Alexander Kelle/ Harald Müller/ Annette Schaper: Gläserne Labors? Möglichkeiten der Rüstungskontrolle in Forschung und Entwicklung, HSFK-Report 1/1995. Frankfurt: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Januar 1995. Zurück

12) Future Directions for the Nuclear Weapons Program at LLNL, in: Energy & Technology Review, January/ February 1992, pp. 13-21, p. 16. (Hervorhebungen und Übersetzung d. Verf.) Zurück

13) Vgl. Annette Schaper: The problem of defintion: Just what is a nuclear weapons test?, in: Eric Arnett (Hg.), Implementing the Comprehensive Test Ban – New Aspects of Definition, Organization, and Verification, SIPRI Research Report, No. 8, Oxford 1994, pp. 30-31. Zurück

14) Annette Schaper, The Problem …, 1994, a.a.O. Zurück

15) Vgl. Matthias Dembinski, et al., a.a.O., S. 11f. Zurück

16) Zur Kompatibilität von hydronuklearen Test mit dem Nichtverbreitungsvertrag und einem möglichen CTBT vergleiche George Bunn/Roland Timerbaev: Avoiding the 'Definition' Pitfall To a Comprehensive Test Ban, in: Arms Control Today, May 1993, pp. 15-18. Zurück

17) John D. Immele/Philip D. Goldstone: Redefining the U.S. Nuclear Weapons Program and the DOE Nuclear Weapons Complex, in: Los Alamos Science, Number 21, 1993, p. 43- 49, p. 46. Zurück

18) Ebd., p. 47. (Hervorhebungen d. Verf.) Zurück

19) Zur Funktionsweise von Atomwaffen der ersten und zweiten Generation vgl. Annette Schaper: Kernwaffen der ersten und zweiten Generation: Forschung und Entwicklung, in: Erwin Müller/ Götz Neuneck (Hrsg.): Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle: Neue Technologien, Rüstungsdynamik und Stabilität. Baden-Baden: Nomos 1991/92, S. 71-90. Zurück

20) Christopher E. Paine: CTB Negotiation Issues with Implications for Nuclear Nonproliferation, Paper prepared for the Panel on the Comprehensive Test Ban Treaty Negotiations, NGO Committee on Disarmament Conference Assuring the Success of the Non-Proliferation Treaty Extension Conference, New York, April 20-21, 1994, p. 7. Zurück

21) Vgl. Annette Schaper: The problem of defintion: Just what is a nuclear weapons test?, in: Eric Arnett (Hg.), Implementing the Comprehensive Test Ban – New Aspects of Definition, Organization, and Verification, SIPRI Research Report, No. 8, Oxford 1994, pp. 30-36. Zurück

22) U.S. Arms Control and Disarmament Agency, Office of Public Information: Issues Brief: Comprehensive Test Ban Treaty, Washington, D.C., March 15, 1994, p. 3. Zurück

23) Zitiert nach ACRONYM: A Comprehensive Test Ban: Disappointing Progress, ACRONYM Booklet No. 3, Genf, September 1994, p. 13. Zurück

24) Matthias Dembinski et al., a.a.O.. Zurück

25) William J. Broad: Vast Laser Would Advance Fusion and Retain Bomb Experts, NYT, 12. June 1994. Zurück

26) Vgl. Annette Schaper: Arms Control at the Stage of Research and Development? – The Case of Inertial Confinement Fusion, in: Science & Global Security, Vol. 2, 1991, pp. 279-299. Zurück

27) Vgl. Wolfgang Liebert et al.: Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: Ulrike Kronfeld, Wolfgang Baus, Björn Ebbesen, Markus Jathe (Hrsg.): Naturwisssenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen. Münster/Hamburg: Lit-Verlag 1993, S. 120-174, S. 146ff. Zurück

28) William B. Scott: Livermore Laser Advances Draw New Funding for Continued Research, Aviation Week & Space Technology, February 17, 1992, p. 42. (Übersetzung d. Verf.) Zurück

29) William J. Broad: U.S. Will Build Laser to Create Nuclear Fusion, NYT, 21. October 1994. Zurück

30) DOE: The National Ignition Facility, Fact Sheet, no place, 3. September 1994. Zurück

31) Christopher E. Paine, a.a.O., p. 16. Zurück

32) Office of the Assistant Secretary of Defense (Public Affairs): News Briefing, October 29, 1993, p. 8. Zurück

33) Vgl. Eric Rosenberg: A Debate Brews Over Whether To Build A New Warhead, Defense Week, August 15, 1994. Zurück

34) Hugh Gusterson: Coming of Age in a Weapons Lab: Culture, Tradition and Change in the House of the Bomb, in: The Sciences, Vol. 32, No. 3, May/June 1992, pp. 16-22, insbesondere pp. 21-22. Zurück

35) Zum Selbstverständnis von Wissenschaftlern in der Atomwaffenforschung siehe insbesondere auch: Debra Rosenthal: At the Heart of the Bomb: The Dangerous Allure of Weapons Work Reading, MA, etc.: Addison-Wesley Publishing 1990. Zurück

36) The Laboratory View (Interview with Siegfried Hecker), in: Los Alamos Science, No. 17, 1989: The Future of Nuclear Weapons: The Next Three Decades, pp. 28-35, p. 30. Zurück

37) Vgl. hierzu William M. Arkin: Agnosticism When Real Values Are Needed: Nuclear Policy in the Clinton Administration, in: F.A.S. Public Interest Report, Vol. 47, No. 5, September/ October 1994, pp. 3-10. Zurück

38) Der Brief war unterschrieben von Air Force Maj. Gen. William Jones, Army Brig. Gen. Dale Nelson, Navy Rear Adm. Philip Dur und Air Force Brig. Gen. Anthony Tolin (Mitglied des Generalstabs). Zitiert nach Eric Rosenberg: A Debate Brews Over Whether To Build A New Warhead, Defense Week, August 15, 1994. Zurück

39) Zur Zukunft des Nichtverbreitungsvertrages vgl. antimilitarismus information, Themenheft: Non-Proliferation, 12/1994. Zurück

40) Zur Position der verschiedenen Atomwaffenstaaten zum NPT und CTBT vgl. Friedensforum 1/95 (Schwerpunkt: Atomwaffen abschaffen!). Zurück

Dipl.-Pol. Oliver Meier promoviert an der Arbeitsstelle für Transatlantische Außen- und Sicherheitspolitik, FU Berlin zur amerikanischen Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ist Redaktionsmitglied der antimilitarismus information.

Kernwaffen in Südasien

Kernwaffen in Südasien

Die Proliferation muß gestoppt werden

von Otfried Ischebeck

Die Unabhängigkeit des südasiatischen Subkontinents vom britischen Kolonialregime wurde von einer Massenbewegung durch gewaltfreien Widerstand erreicht. Die Trennung des Kolonialreiches in einen moslemischen Teil, West- und Ostpakistan, und in die Indische Föderation im Jahr 1947 führte jedoch zu einem sehr gewalttätigen Bürgerkrieg und zu einem Massenexodus mehrerer Millionen Moslems aus Indien nach Pakistan und von Hindus aus Pakistan nach Indien. Ca. 1 Million Menschen wurden umgebracht.

Pakistan und Indien führten erneut gegeneinander Kriege in den Jahren 1965 und 1971. Der letzte Krieg führte zur Aufspaltung Pakistans in das heutige Pakistan und Bangladesch. Die Gefahr erneuter Kriege entstand einerseits aus dem Bürgerkrieg in Kaschmir, sowie durch die Entwicklung von Kernwaffen und Raketen in beiden Ländern. Im Laufe einer Krise um Kaschmir sollen im Jahr 1990 bereits Atomwaffen an die pakistanische Luftwaffe ausgeliefert worden sein. Erst durch eilige Vermittlung des CIA-Direktors Gates sei die Krise beigelegt worden1.

In Deutschland hört man hin und wieder, Inder und Pakistaner würden im Falle eines Krieges den Einsatz einiger Kernwaffen auf Bevölkerungszentren hinnehmen. Das heißt, Kernwaffen würden in einem Krieg nicht nur in taktischer Mission, sondern als Terrorwaffen eingesetzt. Doch sind solche »wilden« Argumentationen eher Ausnahmen unter militärischen und politischen Fachleuten in Südasien. Sowohl in Indien wie auch in Pakistan gibt es intensive Bemühungen, die regionalen Sicherheitsfragen einschließlich der Einsatzdoktrin und der Kontrolle von Massenvernichtungssystemen in regierungsabhängigen Instituten (z.B. dem Indian Institute for Defence Studies and Analyses in New Delhi und dem Institute for Strategic Studies in Islamabad) sowie an Universitäten und regierungsunabhängigen Instituten zu durchleuchten und Meinungen zu publizieren.

Viele Wissenschaftler dieser Institute und der mit Sicherheitsfragen befaßten Regierungsbeamten haben an amerikanischen oder britischen Universitäten studiert oder ausländische Militärakademien absolviert. An den nationalen Universitäten werden Vorlesungen und wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte und zu aktuellen Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle durchgeführt. Ein Europäer hat leichten Zugang zur fachlichen Debatte mit Wissenschaftlern und Politikern über Sicherheitsfragen in Indien wie in Pakistan.

Die Arbeiten dieser Institute konnten bisher jedoch kein umfassendes Sicherheitskonzept für Südasien entwickeln und in die Politik überleiten. Ausgangspunkte dafür könnten zum einen das Abkommen von Simla aus dem Jahr 1972 bilden, in dem Indien und Pakistan versichern, ihre Konflikte friedlich zu regeln, sowie die Erfahrung einer nun über zwanzig Jahre währenden Zeit ohne großen Regionalkrieg. Die Probleme liegen in der Komplexität der sicherheitspolitischen Lage im südlichen Asien:

1. Die strategischen und sicherheitspolitischen Interessen der Länder Südasiens, insbesondere Indiens und Pakistans sind nicht bipolar reziprok, wie dies im Ost-West-Konflikt der Fall war.

2. Ein umfassendes Sicherheitskonzept muß vier Ebenen ansprechen:

  • lokalisierte Konflikte,
  • konventionelle Streitkräfte,
  • Raketen und Kernwaffen,
  • die Einbindung Südasiens in umfassende Sicherheitsstrukturen.

Jede Ebene erfordert eigene Konzepte zur Rüstungsbeschränkung, Vertrauensbildung und Krisenstabilität, welche aus den speziellen Bedingungen der Region zu entwickeln sind. Alle vier Ebenen sind verknüpft. Insbesondere können Vorschläge zur Kontrolle von Kernwaffen und Raketen nicht ohne Fortschritte auf den anderen drei Ebenen erfolgreich sein.

3. Die vier Ebenen der Sicherheitspolitik in Südasien sind mit komplexen und emotionsgeladenen Konflikten der Innenpolitik verflochten, die häufig zu Gewaltausbrüchen führen. Die Verbindung von religiösen mit sozialen Bewegungen führt zu politischen Koalitionen und zu Konflikten, in welche Europäer nur wenig Einblick haben. Die Agitationen und Konflikte um den Abriß der Babry-Moschee in Ayodhya und die Bombenattentate in Bombay im Jahr 1993 sind dafür ein Beispiel. In Pakistan führt die politische und gesellschaftliche Rolle des Militärs die Politiker des Landes immer wieder zu Winkelzügen, welche von außen gesehen bizarr erscheinen.

Trotz der Unwägbarkeiten der Innenpolitik, der Spannungen und Agitationen um Kaschmir sowie um Raketen und Kernwaffen, wird gegenwärtig eine akute Gefahr eines vierten indisch-pakistanischen Krieges weder in Pakistan noch in Indien gesehen. Jedoch können die Unruhen in der pakistanischen Südprovinz Sind und insbesondere der Aufstand in Kaschmir erneut eine internationale Krise entstehen lassen. Die Regierungen Südasiens, insbesondere von Indien und Pakistan, sollten also, solange sie politisch einigermaßen handlungsfähig sind, die Zeit für Fortschritte bei der Friedenssicherung nutzen.

Machtinteressen und Machtkonstellationen

Für die Formulierung und Bewertung von Vorschlägen zur Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Südasien muß man Machtinteressen und Machtkonstellationen auf dem Subkontinent genau kennen. Eine Übertragung von im Ost-West-Konflikt erfolgreichen Ansätzen ist wenig erfolgversprechend.

Bisher wurden die militärisch orientierten Kernenergieprogramme in Indien wie in Pakistan begründet mit Erfordernissen nationaler Unabhängigkeit, mit dem gleichen Recht aller Länder, Kernreaktoren und Kernwaffen zu bauen, und – so das Argument von Zulfiqar Bhutto – der Notwendigkeit einer Fähigkeit der islamischen Länder zur Herstellung von Kernwaffen. Hinter diesen allgemeinen Begründungen standen drängendere Ängste: Indien wurde 1964, zwei Jahre nach dem für Indien sehr demütigend verlaufenen Grenzkrieg mit China im Himalaya, von der chinesischen Kernwaffenexplosion im Jahre 1964 aufgeschreckt. Als Indien im Jahr 1974 eine unterirdische Kernexplosion der Stärke der Hiroshimabombe ausgeführt hatte, drei Jahre nach dem letzten indisch-pakistanischen Krieg, breitete sich in Pakistan die Sorge vor der Erpressbarkeit durch Indien aus. Bereits in den 70er Jahren bildete sich also ein nukleares Dreieck aus China, Indien und Pakistan heraus.

Das indisch-pakistanische Problem steht im Zentrum der Sicherheitsfragen. Pakistan sucht eine Machtbalance zum Schutz vor einem möglichen indischen Angriff, wobei eingeräumt wird, daß die indischen Streitkräfte einen größeren Umfang haben können. Man spricht von einer »balanced imbalance«. In Indien sind allerdings die Begründungen für die Entwicklung von Raketen und die militärischen Nuklearprogramme nicht so sehr auf das Nachbarland Pakistan fixiert, wie es dort in umgekehrter Richtung der Fall ist. Der Konflikt mit Pakistan wird von Indien nicht als bipolar angesehen. Vielmehr sucht Indien seinen Platz in der Welt im Vergleich mit China: bei der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, im Handel, bei ausländischen Investitionen, und in der globalen politischen Rolle. Bei allen Indikatoren wird Indien hinter China eingestuft. In dieser Hinsicht werden auch die Programme zur Entwicklung von Kernwaffen und Raketen im Spiegel chinesischer Potentiale aufgefaßt, nicht hingegen als Antwort auf eine Bedrohung aus China. Durch neuerliche Verabredungen zur Truppenreduzierung und Vertrauensbildung zwischen der indischen und der chinesischen Regierung haben sich die militärischen Spannungen an der Himalayagrenze deutlich reduziert.

Indiens Orientierung an China impliziert, daß die Entwicklung und Einführung von Kernwaffen und Raketen noch vorsichtiger gehandhabt wird als in Pakistan, andererseits jedoch mit noch größerem Nachdruck. Das indische Maßnehmen an China führt zu vielen Spannungen mit den Nachbarländern Südasiens, denn Indien ist aufgrund dieser Konkurrenz nicht nur geographisch, demographisch und wirtschaftlich dominant in der Region, sondern auch militärisch.

Das sicherheitspolitische Spannungsfeld Südasiens erstreckt sich also über den südasiatischen Subkontinent hinaus. Neben der »chinesischen Herausforderung« verweisen einige Stimmen auf die amerikanische militärische Präsenz im Indischen Ozean (Militärbasis auf Diego Garcia). Vorrang in den indischen militärisch-strategischen Überlegungen hat heute nicht die Grenze am Himalaya oder die Grenze zu Pakistan, sondern die maritime Aufrüstung zur Machtprojektion über den Indischen Ozean (Entwicklung eines Atom-U-Boots samt Raketen, Bau eines Flugzeugträgers sowie eines Flugzeugs für diesen Träger). Die Gegend um Lahore ist das traditionelle Einfallstor für Invasionen des indischen Subkontinents (Tschingis Chan, Timur Leng, die Mogulkaiser, …). Trotz akuter militärischer Konflikte im Grenzgebiet zu Pakistan geben diese historischen Erfahrungen derzeit nicht Anlaß, von einer prinzipiellen Bedrohung Indiens durch Pakistan zu sprechen.

Indien hat im Oktober 1994 offiziell seine Anwartschaft auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angemeldet2. Indien würde dadurch Mitglied im Club der für den Frieden in der Welt besonders verantwortlichen Mächte. Mehr noch würde es aber im Rahmen der Vereinten Nationen als Sprecher in Sicherheitsfragen der südasiatischen Länder anerkannt. Dies wird nur gelingen, wenn Indien auf dem Verhandlungswege die aktuellen Konflikte mit Pakistan beilegen kann. Lokale Konflikte im indisch-pakistanischen Grenzbereich verbinden sich so mit der Konzeption einer Neugestaltung der weltweiten sicherheitspolitischen Ordnung.

Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung

Provinz Sind: Zeitungsmeldungen berichten fast täglich von Toten bei Schußwechseln in der pakistanischen Südprovinz Sind zwischen Sunniten und Schiiten und zwischen Eingesessenen und Zuwanderern aus Indien. Armee und Polizei versuchen unter Einsatz von Gewalt, in der Provinz die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach pakistanischen Berichten erhalten die Rebellen ihre Waffen aus Indien, welches die Unruhen im Sind als Revanche für den pakistanischen Einfluß in Kaschmir ausnutzen wolle.

Siachen Gletscher: Im östlichen Karakorum Gebirge, nicht weit vom Baltorogletscher, wo Expeditionen und Trekker aus aller Welt Achttausender besteigen und die Gipfel bewundern, liefern sich pakistanische und indische Soldaten seit 1984 einen Stellungskrieg, der bis in 7000 m Höhe hinaufgezogen wird. Ungefähr 2000 Soldaten besetzen auf jeder Seite 200 bis 300 Höhenstellungen, ca. 4000 Pakistanische und eine noch größere Zahl indischer Soldaten leisten Unterstützungsarbeit. Der Höhenkrieg kostete bisher ungefähr 1000 Menschen das Leben. Die Mehrzahl der Todesfälle sind Folge der Höhe, der Witterungsbedingungen und der Gefahren der Berge. Von beiden Seiten wird eingeräumt, daß dieser Stellungskrieg absurd ist. Ein Zurückweichen am Siachen Gletscher wird aber von jeder Seite als ein Zurückweichen im Kaschmirkonflikt angesehen und somit bleibt der Stellungskrieg bis heute bestehen. Kaschmir: Kaschmir ist seit der Unabhängigkeit Indiens ein Unruheherd und die Zugehörigkeit Kaschmir zu Indien blieb stets umstritten. Man kann nach der Religionszugehörigkeit den indisch kontrollierten Teil von Kaschmir in drei Teile zerlegen:

  • die Provinz Jammu: ca. 50<0> <>% Moslems, 50<0> <>% Hindus,
  • das Kashmir Valley, ca. 100 km lang: fast ausschließlich von Moslems bewohnt,
  • Ladakh, flächenmäßig der größte Teil des indisch kontrollierten Kaschmirs; die Bevölkerung ist überwiegend buddhistisch (Moslems: 11-12<0> <>%) und gehört ethnisch und kulturell zu Tibet.

Seit 1990 hat sich der Krieg in Kaschmir intensiviert, Indien hat zur Zeit in Kaschmir ca. 300 000 Soldaten stationiert, das ist ein Drittel der gesamten Armee. Die Intensivierung ist nicht zuletzt ein Resultat der Beendigung des Krieges in Afghanistan, welcher unter tatkräfter Hilfe des amerikanischen CIA von Pakistan aus moslemische »internationale Brigaden« geschaffen hatte, von denen danach Teile mit pakistanischer Unterstützung in Kaschmir aktiv wurden.4 Der Krieg forderte in den vergangenen Jahren 16 000 Todesopfer5.

In Pakistan wird das Kaschmirproblem als das wesentliche Hindernis für jegliche Vereinbarungen mit Indien über Sicherheit und Vertrauensbildung in Südasien angesehen. Die politische Unterstützung des Aufstandes in Kaschmir ist zu einem wichtigen Faktor der pakistanischen Innenpolitik geworden.

Beide Seiten haben in diesem Krieg viel zu verlieren. Die pakistanische Regierung und Armee riskieren einen Ansehensverlust beim eigenen Volk, wenn der Aufstand trotz pakistanischer politischer, logistischer und vielleicht sogar militärischer Hilfe niedergeschlagen werden sollte. Die indische Regierung riskiert eine Verschärfung der Autonomie- oder Unabhängigkeitsbewegungen in anderen Landesteilen und anti-indischer Strömungen in anderen Staaten Südasiens, sowie eine Vertrauenskrise in der Armee. Bei einer Abtretung des indisch kontrollierten Kaschmir an Pakistan käme Ladakh über kurz oder lang unter chinesischen Einfluß, da sich Pakistan als moslemischer Staat definiert und Ladakh weder religiös noch ethnisch mit dem übrigen Pakistan zusammenhängt.

Auf Grund des hohen Einsatzes für beide Regierungen ist zu erwarten, daß die Krise um Kaschmir noch mehrere Jahre anhalten wird. Die indische Regierung setzt auf Zeitgewinn und beharrt darauf, daß der Aufstand in Kaschmir eine innenpolitische Angelegenheit Indiens sei. Die pakistanische Regierung versucht hingegen, den Krieg zum Gegenstand internationaler Politik zu machen. Indisch-pakistanische Verhandlungen auf dem Niveau von Außenministertreffen führten zu keiner Verständigung. Die pakistanische Regierung versuchte in den vergangenen Jahren, die Menschenrechtskommission der UNO einzuschalten, fand aber bislang dabei wenig internationale Unterstützung. Moslemische Untergrundkämpfer versuchen, durch Bombenattentate in Delhi die Krise auszudehnen, vergleichbar mit der Ausweitung des Nordirland-Konflikts nach England. Langfristig können Entwicklungen aus dem Kaschmirkrieg wieder zu einer Kriegsgefahr zwischen Indien und Pakistan führen, insbesondere durch die Verfolgung von Aufständischen über die Kontrollinie hinweg.

Bereits heute wird von einigen pakistanischen Politikern versucht, den Besitz von Kernwaffen und den Aufstand in Kaschmir miteinander zu verknüpfen. Die Existenz einer nuklearen Abschreckung auf niedrigem Niveau, so wird argumentiert, habe verhindert, daß in den Jahren nach Ende des Krieges in Afghanistan ein erneuter indisch-pakistanischer Krieg ausgebrochen sei.

In den vergangenen Jahren haben sich mehrere Initiativen aus westlichen Ländern um eine Vermittlung im Kaschmir-Konflikt bemüht, jedoch ohne nennenswerten Erfolg, da beide Kontrahenten auf ihren Positionen beharrten. Nicht-regierungsgebundene internationale Gremien könnten in einem zeitlich nicht begrenzten langwierigen Diskussionsprozeß in der Kaschmirfrage u.U. vermitteln. Solche Gremien, z.B. die Pugwashbewegung, haben auch bei der Auflösung des Ost-West-Konfliktes eine wichtige Vermittlerrolle gespielt.

Konventionelle Streitkräfte

Die Rüstungsausgaben stellen in Pakistan offiziell 27<0> <>%, in Wirklichkeit aber über 40<0> <>% des Staatshaushaltes dar. Der Staat gibt doppelt soviel für Militär aus wie für Erziehung und Gesundheit. In Indien halten sich Militärausgaben und Ausgaben für Erziehung und Gesundheit ungefähr die Waage. Beide Länder haben ambitionierte Modernisierungsprogramme aller Streitkräfte: neue Panzer, Panzerhaubitzen, modernste Kampfflugzeuge, U-Boote, Fregatten, Flugzeugträger.

Vertrauensbildende Maßnahmen und Impulse zur Dämpfung der konventionellen Rüstung können den Weg zur regionalen nuklearen Rüstungskontrolle öffnen. In den vergangenen Jahren ist in dieser Hinsicht vieles erreicht worden. Im Jahr 1987 wurden die Generalstäbe mit einem roten Telefon verbunden, nachdem es durch grenznahe Manöver beinahe zu einem indisch-pakistanischen Krieg gekommen wäre.6

Kleine Schritte beim Ausbau der vertrauensbildenden Maßnahmen können wichtige Impulse geben, z.B. die Erweiterung des roten Telefons von einem Instrument zur Steuerung von Krisen zu einem regelmäßigen Informationskanal zwischen den Führungsstäben der Armeen. Als weiterer Schritt könnten feste Relationen einzelner Streitkräfte zwischen der pakistanischen und der indischen Armee nach dem Prinzip der »Balanced Imbalance«7 vereinbart werden.

Die Armeestäbe beider Seiten sind Anhänger der klassischen Panzerschule. Nun erwies sich in der europäischen Strategiediskussion der 50er Jahre die Massierung des Angriffs beim klassischen Panzerkonzept als Nährboden für die Bereitstellung taktischer Kernwaffen. Eine konventionelle Defensivorientierung der Armee könnte den Drang nach taktischen Kernwaffen dämpfen.

Kernwaffen

Im Zuge der Diskussion um eine neue Verteilung der Weltmacht stehen internationale Verhandlungen über die politische Rolle und die Kontrolle der Kernwaffen auf der Tagesordnung. Da weder Pakistan noch Indien bereit zu sein scheinen, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten, muß geklärt werden, wie eventuell auszuhandelnde regionale Abkommen mit dem Kernwaffensperrvertrag in Beziehung gesetzt werden können.

Pakistan und Indien haben in langjähriger Anstrengung die Fähigkeit zur Herstellung von Kernwaffen erworben.8 Nun wird jetzt in beiden Ländern versucht, den Kernwaffen und Trägersystemen eine sicherheitspolitische Begründung zu geben, welche über die bisherigen Begründungen hinausgeht. In Pakistan ist dies die Erfordernis einer »low-level deterrence«, die, bei Fortbestehen politischer und auch militärischer Spannungen, einen großen Krieg mit Indien verhindert. Vielfach wird argumentiert, daß in den Jahren 1989 bis 1992 (Ende des Krieges in Afghanistan, Intensivierung des Aufstandes in Kaschmir, Rückgang des amerikanischen strategischen Interesses in der Region) ein Krieg mit Indien sehr wahrscheinlich gewesen wäre, wenn nicht diese »low-level deterrence« bestanden hätte.

Lange Zeit blieb die Begründung der indischen Ablehnung eines Beitritts zum Nichtverbreitungsvertrag dieselbe: Der Vertrag errichte unter den Staaten eine Zweiklassengesellschaft9. Die Bedrohung durch China ist aber heute das entscheidende Argument, für die Ablehnung eines Beitritts. Darin liegt auch der Grund, daß die indische Regierung den pakistanischen Vorschlag einer nuklearfreien Zone in Südasien ablehnt. Diese nuklearfreie Zone soll, so die pakistanische Vorstellung, von einer Konferenz garantiert werden, an der neben Indien und Pakistan die fünf anerkannten Kernwaffenstaaten sowie Japan und Deutschland teilnehmen sollen. Im Gegenzug hat die pakistanische Regierung vor kurzem den indischen Vorschlag abgelehnt, ein Abkommen zu treffen, nach dem Bevölkerungszentren von einer nuklearen Bedrohung ausgeschlossen blieben10. Die pakistanische Regierung sieht in dieser Möglichkeit ein Druckmittel einer kleinen Atommacht gegen eine große Atommacht.

Nachdem um das Jahr 1987 die indische Regierung einen erneuten Krieg gegen Pakistan erwogen hat, um den Status von Pakistan als Kernwaffenmacht zu verhindern, schlossen Benazir Bhutto und Rajiv Gandhi im Dezember 1989 ein Abkommen, in dem sie sich gegenseitig verpflichten, auf Angriffe auf Atomanlagen zu verzichten11. Das Abkommen wurde im Jahr 1992 ratifiziert. Es kommt einer gegenseitigen Anerkennung als Kernwaffenmächte nahe.

Die amerikanische Regierung machte im Frühjahr 1994 einen Anlauf, um den Kernwaffenstatus von Indien und Pakistan international zu sanktionieren, indem sie vorschlug, beide Länder sollten ihre Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial einstellen und die Produktionsanlagen internationaler Kontrolle zugänglich machen. Im Gegenzug sollten die bisher akkumulierten Bestände stillschweigend hingenommen werden. Der Sonderbeauftragte von Präsident Clinton, Strobe Talbott, unterbreitete diesen als »capping« bezeichneten Vorschlag im April 1994 den Regierungen in Islamabad und New Delhi12.

Auf der pakistanischen Seite wurde darauf hingewiesen, daß die Produktion von waffenfähigem Material bereits auf eigene Veranlassung eingestellt worden sei13. Indische Gesprächspartner weisen zum Teil barsch darauf hin, daß sich kein Land so um Zurückhaltung bei der Herstellung von Kernwaffen bemüht habe wie Indien. Die westlichen Regierungen, vorab die der USA, sollten sich daran ein Beispiel nehmen und sich aus indischen Belangen heraushalten. Welches Schicksal dem amerikanischen Vorschlag beschieden sein wird, und wie er von den Regierungen Indiens und Pakistans jenseits aller öffentlichen Rhetorik diskutiert wird, ist noch nicht abzusehen.

Zumindest die pakistanische Bevölkerung scheint von der Vorstellung eines Einfrierens der Produktion von Kernwaffenmaterial auf amerikanischen Druck hin nicht angetan. In einer Umfrage vom April 1994 sprachen sich 73<0> <>% für einen pakistanischen Kernwaffenbesitz aus. 93<0> <>% sprachen sich gegen ein Einfrieren des Programms aus, selbst wenn die amerikanische Regierung daraufhin die bestellten F-16 Kampfflugzeuge freigeben würde. 95<0> <>% sprachen der amerikanischen Regierung die moralische Autorität ab, Pakistans und Indiens Kernwaffenprogramme in Frage zu stellen. 67<0> <>% sprachen sich hingegen für ein indisch-pakistanisches Abkommen zur Eliminierung der Kernwaffen aus. Ein mit Kernwaffen geführter indisch-pakistanischer Krieg wurde von 34<0> <>% der Befragten für möglich gehalten14.

In der öffentlichen Rhetorik üben sich beide Regierungen im andeutungsreichen Versteckspiel. Politisch wird dies als Erfolg gewertet, gelang es doch, die Kernwaffenprogramme bis an die Schwelle der internationalen Sanktionierung heranzuführen. Doch sowohl der pakistanischen, wie auch der indischen Regierung sollte klar sein, daß das bisher allseitig geübte Versteckspiel um »nuclear capabilities« ins Auge gehen kann. Argumente wie: „Wir unterschreiben den Kernwaffensperrvertrag, wenn die andere Seite unterschreibt“, oder die Ablehnung aller Vorschläge der Gegenseite mit dem Argument: „Die andere Seite lehnt alle unsere Vorschläge ab“, beschwören die Gefahr herauf, daß nach Hiroshima und Nagasaki erneut Kernwaffen in Asien eingesetzt werden.15

Raketen

Die Entwicklung von Raketen in Südasien geschieht offener als die Entwicklung von Kernwaffen. Dies mag daran liegen, daß eine Rakete aus mehreren 10 000 Teilen besteht, und deshalb vor ihrer militärischen Verwendung sorgfältig und über mehrere Jahre getestet werden muß, da eine nicht getestete Rakete militärisch wertlos ist. Die Tabelle faßt die laufenden Entwicklungsprogramme zusammen. Indien entwickelt zudem die Panzerabwehrrakete Nag und die Boden-Luft-Raketen Trishul und Akash. Die SLBM Sagarika soll eine Modifikation der Prithvi sein16.

Im Frühjahr 1994 waren Fragen des militärischen Raketenprogramms ein wichtiges Thema der indischen Innenpolitik. Wohl im Hinblick auf den bevorstehenden Besuch von Ministerpräsident Rao in Washington wurde der elfte Test der Prithvi-Rakete, der erste unter militärischer Regie, ausgesetzt und die Agni-Rakete wurde nach ihrem erfolgreichem dritten Test als »technology demonstrator« zurückgestuft17. Es sollen keine weiteren Tests stattfinden. Zuvor galt die Agni als »missile« und der dritte Test der Rakete im Mai 1994 erprobte gerade den Wiedereintrittskörper und die Zielgenauigkeit, d.h. Subsysteme von besonderer militärischer Relevanz.

Die parlamentarische Opposition witterte in den beiden Schritten ein Zurückweichen der Regierung in Fragen der Landesverteidigung vor amerikanischen Forderungen und verlangte von der Regierung Klarstellung. Die Absichten der indischen Regierung bleiben allerdings unklar. Mögliche Absichten sind:

  • Das militärische Raketenprogramm soll aus dem diplomatischen Schußfeld genommen werden.
  • Die Raketen können ein Bargaining Chip werden, um die Nuklearprogramme ungehindert weiterführen zu können.
  • Agni ist nicht die Rakete, die sich die Inder wünschen.
  • Agni ist ohne nuklearen Sprengkopf militärisch wertlos, da ihr Streuradius über 100 m liegt. Eine Stationierung von Agni würde demnach die Erklärung des Kernwaffenbesitzes bedeuten. Da die indische Regierung dazu bisher nicht bereit ist, macht es keinen Sinn, Agni als militärische Rakete (missile) auszugeben.

Bisher gibt es in Südasien keinerlei Abkommen im Bereich der Trägersysteme für Kernwaffen, insbesondere für Raketen. Doch erscheint in diesem Bereich ein Abkommen aussichtsreicher zu sein als weitere Vereinbarungen über Kernwaffen. Die Zurückstufung des Agni-Programms könnte ein erster Schritt zu einem regionalen Abkommen über Mittelstreckenraketen werden, falls sich daran auch China beteiligen würde. Dies wiederum könnte ein weiterer Schritt zur weltweiten Eliminierung von Mittelstreckenraketen sein.

Für ein regionales Abkommen müßte jedoch die untere Reichweitengrenze sehr niedrig angesetzt werden, da beiderseits der indisch-pakistanischen Grenze Millionenstädte liegen, z.B. Lahore, welche mit Raketen einer Reichweite unter 100 km vom anderen Land aus bedroht werden können. Mit Hinweis auf die schwierige Scud-Suche während des Golfkriegs halten indische Regierungsbeamte eine Eliminierung von Kurzstreckenraketen für nicht verifizierbar und deshalb nicht verhandelbar.

Kooperation im nicht-militärischen Bereich

Wenn Vereinbarungen über Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung nicht vorankommen, so sollten die Möglichkeiten einer Kooperation in zivilen Bereichen genutzt werden. Solche Kooperationen erfordern sowohl eine permanente organisatorische Basis sowie ein Aktionsprogramm, welches stetig neu gestaltet werden muß. Mögliche Bereiche der Zusammenarbeit sind:

  • Ausweitung des Handels,
  • Energieprogramme,
  • Programme zum Umweltschutz,
  • gemeinsames satellitengestütztes Netz zur Wettervorhersage und zur Fernerkundung,
  • Forschungen und Aktionsprogramme in der Medizin.

Die Wachstumsraten der indischen Wirtschaft lagen in den 80er Jahren im Mittel bei 5<0> <>%. Die um das Jahr 1990 eingeleitete Liberalisierung der Wirtschaft führte zu einem beschleunigten Boom. Von den 840 Millionen Indern zählen 150 bis 200 Millionen zum Mittelstand. Andererseits liegen die Anteile der Armen und der Analphabeten über 40<0> <>%. Die Verhältnisse in Pakistan sind nicht besser.

Die rasche Urbanisierung wird in den kommenden Jahren hohe Ausgaben für Gesundheit und Infrastruktur erfordern. Dies wurde an der Pestepidemie in Surat vom September 1994 deutlich18. Der Anschluß der armen Bevölkerung an den wachsenden Wohlstand der Mittelschicht wird ein politischer und wirtschaftlicher Parforceritt werden. Auf lange Sicht bleibt deshalb unklar, ob der südasiatische Subkontinent den Anschluß an die wirtschaftliche Dynamik Süd-Ost-Asiens und Ostasiens halten kann.

In den vergangenen Jahren knüpften sich viele Erwartungen an die im Jahr 1985 gegründete South Asian Association for Regional Development (SAARC; Sitz: Kathmandu, alle Staaten der Region sind Mitglieder). Könnte SAARC eine Rolle in Südasien spielen, wie die EG in Europa und ASEAN in Südostasien? Die Erwartungen sollten nicht allzu hoch angesetzt werden. Bei SAARC ist Indien sowohl das größte, das wirtschaftlich dynamischste und das militärisch stärkste Land. SAARC ist darum wirtschaftlich und politisch von Indien dominiert und die anderen Länder sehen dies mit Argwohn19. SAARC leidet zudem noch an der geographischen Gegebenheit, daß alle nicht-indischen Mitglieder im wesentlichen nur Grenzen mit Indien haben, so daß ein Warenaustausch unter den nicht-indischen Mitgliedern bereits von der Geographie her wenig Gewicht hat.

Die SAARC kann so als Motor einer wirtschaftlichen Integration nur eine beschränkte Rolle spielen. Sie bildet jedoch ein Netzwerk informeller Diskussionen, bei welchem bilaterale Konflikte in einem regionalen Zusammenhang erörtert werden können. Auf Grund der Beschränkungen von SAARC werden internationale Organisationen und bilaterale Kooperationen mit europäischen oder amerikanischen Ländern weiterhin eine regionale Vermittlungsarbeit leisten müssen. Bilaterale Verständigung kann an gemeinsamen Aktionen im Grenzbereich ansetzen, wie Wasserverteilung, Bekämpfung der Malaria und Schutz der Felder vor Heuschreckeneinfall. Einige gemeinsame Aktionen und Programme werden im indisch-pakistanischen Grenzgebiet bereits durchgeführt. Darüber hinaus ist eine allgemeine Ausweitung und Entpolitisierung des indisch-pakistanischen Handels nötig und möglich.

Ein wichtiger Bereich ziviler Kooperation könnte die Energieversorgung sein, vor allem im Bereich fortgeschrittener Techniken bei erneuerbaren Energien und bei der Kernenergie. Die Schaffung einer regionalen Organisation nach dem Vorbild von Euratom ist vorgeschlagen worden. Gemeinsame Zentren zur Herstellung und Lagerung von Brennstäben wurden vorgeschlagen. Diese Organisation könnte die Aufgaben und Befugnisse einer regionalen Verbindungsstelle zur IAEO wahrnehmen. Dieser Plan dürfte jedoch erst dann spruchreif werden, wenn sich sowohl Pakistan wie auch Indien auf die Beendigung der Produktion von waffenfähigem Spaltstoff verständigt haben. Das Problem ist, daß die Abtrennung des Waffenmaterials im pakistanischen und im indischen Programm an verschiedenen Stellen des Brennstoffkreislaufes erfolgt.

Sowohl Indien wie auch Pakistan unterhalten ein ziviles Weltraumprogramm. Der erste Satellit der Indian Space Research Organisation (ISRO) wurde im Jahre 1981 gestartet. Im Oktober konnte ein Satellit von 580 kg Gewicht in eine polare Umlaufbahn geschossen werden. Ziel der Raketen- und Satellitenentwicklung der ISRO ist ein geostationärer Satellit von einer Tonne Gewicht. Die pakistanische Space and Upper Atmosphere Research Organisation (SUPARCO) hat im Juli 1990 einen Satelliten mit einer chinesischen Trägerrakete in die Umlaufbahn geschossen20. Indien und Pakistan könnten also in Programmen der zivilen Raumfahrt, z.B. bei der Fernerkundung für den Umweltschutz, für die Landwirtschaft und für ein südasiatisches Netz der regionalen Wettervorhersage zusammenarbeiten.

Laufende
Raketenentwicklungsprogramme
Reichweite (km) Nutzlast (kg) Antrieb Status
Pakistan Hatf 1 80 500 fest Test
^ Hatf 2 300 500 fest 2 Stufen Test
^ Hatf 3 600 Entwicklung
^ M11 (chinesische Rakete) 300 500 fest einsatzbereit
Indien Prithvi 150/250 500 flüssig 13. Test Juni 94
^ Agni 2500 500 1. Stufe fest 2. Stufe flüssig 3. Test Feb. 94
^ Sagarika (U-Boot) 300 Ramjet Entwicklung seit 1992

Anmerkungen

1) Der frühere pakistanische Armeechef, Mirza Aslam Beg, widerspricht allerdings diesen Berichten. Das rote Telefon zwischen den Hauptquartieren Indien und Pakistan habe in dieser Krise voll funktioniert und die Leiter der militärischen Operationen beider Seiten hätten regelmäßig und häufig miteinander kommuniziert. (M. A. Beg, Who Will Push the Button? Command and Control of Our Nuclear Programme, Manuscript 1994) Zurück

2) Süddeutsche Zeitung vom 5. Oktober 1994. Zurück

3) Le Monde vom 15. Juni 1994, S. 1 und 3.

4) Einen Bericht aus indischer Sicht findet man in: India Today, 15. Mai 1994, S. 45-66. Zurück

5) Der Spiegel 21/1994, S. 134. Zurück

6) Interview mit dem pakistanischen Verteidigungsminister Syed Ghous Ali Shah, Jane's Defence Weekly, 7. November 1992. Zurück

7) Konkrete Vorschläge enthält: C. D. Maaß u. Mitarbeit von Georg Bautzmann, Überrüstung von Entwicklungsländern: Indien, Stiftung Wissenschaft und Politk, Ebenhausen, Sommer 1993. Zurück

8) Der frühere pakistanische Premierminister Nawaz Sharif erklärt am 24. August 1994, Pakistan habe die Nuklearfähigkeit erreicht (Le Monde vom 25. August 1994, S. 6), worauf der früherer Direktor der Indischen Atomenergiekomission, M. R. Srinivasan, erklärte, Indien habe ebenso die Fähigkeit Kernwaffen herzustellen (Le Monde vom 21. September 1994, S. 6). Einige Autoren, z.B. Gen.(Ret.) Mirza Aslam Beg (Pakistan's Nuclear Imperatives, Manuskript, 1994) geben an, Pakistan habe im Jahr 1987 die Fähigkeit zur Herstellung einer Kernwaffe erlangt, andere sprechen vom Jahr 1989. Ein Bericht des amerikanischen Kongresses sagt, daß Pakistan 216 kg waffenfähiges Uran produziert hat, ausreichend für 13 Atombomben (The News, Islamabad, September 5, 1994). Eine Analyse der nuklearen Kapazitäten Indiens und Pakistans geben David Albright und Tom Zomora , India, Pakistan's Nuclear Weapons: All the Pieces in Place, The Bulletin of Atomic Scientists, June 1989, S. 20-26. Der indische Plutoniumvorrat belief sich demnach im Jahr 1988 auf 200-250 kg, ausreichend für 40-45 Kernwaffen. Die jährliche Zuwachsrate ist ungefähr 75 kg. Zurück

9) Siehe z.B.: C. F. v. Weizsäcker, M. Kulessa, J. Heinrichs: Indiengespräche, Bruckmann, München 1970, S. 62. Zurück

10) Le Monde, 25. Oktober, 1994, S. 3. Zurück

11) Europa Archiv, Folge 2, 1989, Z 17. The News of Friday, Islamabad (2. September 1994, S. 9) berichtet, die pakistanische Luftwaffe habe im Jahr 1984 erwogen, die indischen Reaktoren von Tarapur in der Gegend von Bombay anzugreifen. Zurück

12) Die amerikanische Regierung bot Pakistan im Gegenzug an, die im Jahre 1990 ausgesetzte Militär- und Wirtschaftshilfe wieder aufzunehmen. Es geht dabei um ca. $US 500 Millionen im Jahr. Ebenso sollten bei einer Annahme des capping die 38 F-16 Kampfflugzeuge an Pakistan ausgeliefert werden, für die Pakistan bereits $US 658 Millionen bezahlt hat, deren Auslieferung aber von der amerikanischen Regierung verboten wurde. Zurück

13) Die pakistanische Produktion von waffenfähigem Uran wurde im Jahr 1989 gestoppt, um den Fortbestand der amerikanischen Wirtschafts- und Militärhilfe zu sichern. Im Frühjahr 1990 wurde sie wieder aufgenommen und bleibt seit Sommer 1990 wiederum gestoppt. (A. H. Nayyar, Fissile Material Cutoff in South Asia – Verification Issues, Bulletin of the International Network of Engineers and Scientists against Proliferation, No. 3, October 1994). Zurück

14) Newsline, Karachi, April 1994, S. 33-34a. Zurück

15) Eine eingehende Analyse der Verschränkungen und Paradoxe der indischen und pakistanischen Erklärungen zu Kernwaffen gibt George H. Quester, Nuclear Pakistan and Nuclear India, Military Technology, 10/93, S. 66. Zurück

16) Defense News, July 25-321, 1994, S. 15. Zurück

17) Die Süddeutsche Zeitung vom 7. Juni 1994 berichtet, daß nach Raos Besuch in Washington die Tests der Prithvi wieder aufgenommen wurden. Zurück

18) H. McDonald, Surat's Revenge, Far Eastern Economic Review, 13. Oktober 1994, S. 76. Zurück

19) In der EG gibt es keine entsprechende Dominanz eines Landes. Es erscheint im Lichte dieses Arguments geraten, die EG nicht als Vorbild einer ökonomischen Föderation in Südasien darzustellen. Zurück

20) Aviation Week & Space Technology, 10. August 1992, S. 46. Zurück

Otfried Ischebeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Die Kernwaffen in der Ukraine

Die Kernwaffen in der Ukraine

von Lars C. Colschen

Zu den sicherheitspolitisch schwerwiegenden Problemen, die von einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausgehen, gehören die dort angehäuften Kernwaffen. Die Ukraine ist neben Rußland, Weißrußland und Kasachstan eine der vier ehemaligen Sowjetrepubliken, auf deren Territorium Kernwaffen stationiert sind. Die Implosion eines Kernwaffenstaates und die daraus resultierenden Konflikte sind ein geschichtlicher Präzedenzfall, und das nukleare Nichtverbreitungsregime verfügt über keine Mechanismen, um damit adäquat umgehen zu können.

Die internationale Anerkennung Rußlands als alleiniger Rechtsnachfolger der Sowjetunion bedeutet, daß keine andere ehemalige Sowjetrepublik einen Status als Kernwaffenstaat beanspruchen kann. Im Gegensatz zur Ukraine lassen Weißrußland und Kasachstan keinen ernsthaften Zweifel an der Erfüllung der für alle drei Staaten gleichermaßen geltenden internationalen Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit. Weißrußland ist am 22.7.93 formal Mitglied des NPT als Nichtkernwaffenstaat geworden, nachdem das weißrussische Parlament START I und den NPT gleichzeitig im Februar 1993 vorbehaltlos ratifiziert hatte. Das kasachische Parlament hat beide Schritte am 2.7.92 (START I) und am 13.12.93 (NPT) vollzogen. Aus beiden Staaten hat der Abzug der Kernwaffen ohne signifikante Verzögerungen begonnen. Es kann davon ausgegangen werden, daß beide Staaten noch 1995 kernwaffenfrei sein werden.1

Die Existenz von Kernwaffen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bedeutet eine zweifache Herausforderung für das Nichtverbreitungsregime: die externe und die interne Proliferation.

Externe Proliferation bezieht sich erstens auf die geschwächten nationalen Exportkontrollen bei gleichzeitig gestiegenem Anreiz zu Nuklearexporten aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs und zweitens auf die Gefahr des »brain drain« von Nuklearexperten in Staaten mit Kernwaffenambitionen. Die hier bearbeitete interne Proliferation bezieht sich auf die Gefahr der Entstehung nicht-russischer Kernwaffenstaaten auf dem Territorium der früheren Sowjetunion. Unter diesen befinden sich in der Ukraine die meisten Kernwaffen, nukleartechnischen Anlagen und Nuklearwissenschaftler. Zum nuklearen Erbe der Sowjetunion in der Ukraine gehören fünfzehn Leistungsreaktoren mit 13,8 GWe, zwei Forschungsreaktoren (200 kWth und 10 MWth), sowie ein Metallurgie-Chemie Komplex für die Produktion von Zirkonium, Hafnium und Schwerwasser. Das Potential von Nuklearwissenschaftlern in der Ukraine wird von russischer Seite auf etwa 1.000 eingeschätzt.2

Außerdem befanden sich nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Herbst 1991 insgesamt 176 strategische Nuklearraketen (130 ICBMs vom Typ SS-19 mit je sechs und 46 ICBMs vom Typ SS-24 mit je zehn Sprengköpfen) mit 1.240 Sprengköpfen und 42 schwere Tupolev-Bomber auf den Basen Chmelnizki und Perwomajsk, die mit insgesamt 592 luftgestützten Cruise Missiles (ALCMs) vom Typ AS-15 ausgestattet sind.3 Diese Bomberflotte setzt sich zusammen aus 22 Tupolev-95 (»Bear«) mit jeweils 16 AS-15 ALCMs und 20 Tupolev-160 (»Blackjack«) mit jeweils 12 AS-14 ALCMs. Mit den insgesamt 1832 Nuklearsprengköpfen wäre die Ukraine die weltweit drittgrößte Kernwaffenmacht.

Die Nichtverbreitungspolitik der Ukraine

Die erste kernwaffenbezogene Aktivität der ehemaligen Ukrainischen SSR war eine am 24.10.91, also vor der formalen Auflösung der Sowjetunion, vom Parlament verabschiedete Erklärung, die die Kernwaffenfreiheit der Ukraine als Ziel setzt und das Kontrollrecht über die auf ihrem Territorium befindlichen Kernwaffen beansprucht.4

p>Am 21.12.91 wurden in einem »Agreement on Joint Measures on Nuclear Arms« in Alma Ata erstmals im Rahmen des am 8.12.91 in Minsk gegründeten CIS (Commonwealth of Independent States) die vollständige nukleare Abrüstung unter internationaler Kontrolle (Art. 6) und der NPT-Beitritt der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans als Nichtkernwaffenstaaten festgeschrieben (Art. 5).5 Alle taktischen Kernwaffen sollten bis Juli 1992 nach Rußland transferiert werden (Art. 6). Am 30.12.91 vereinbarten die CIS-Staaten in Minsk im »Agreement on Strategic Forces«, alle strategischen Kernwaffensysteme unter ein gemeinsames Kommando der CIS zu stellen (Art. 3) und sie bis Ende 1994 unter gemeinsamer Kontrolle zu verschrotten (Art. 4).

Am 12.3.92 deutete sich erstmals ein ukrainischer Sonderweg an, als der ukrainische Präsident Kravtschuk bezweifelte, daß die nach Rußland zu transferierenden Waffen dort auch vernichtet würden. Er ordnete die Einstellung des Abzuges der 2.600 bis 3.000 taktischen Kernwaffen an und forderte deren Vernichtung unter internationaler Kontrolle. Der Abzug dieser Waffensysteme wurde aber später fortgesetzt und am 6.5.92 beendet6.

Am 23.5.92 haben die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan ein START I-Zusatzprotokoll unterzeichnet, das sogenannte »Lissabonner Protokoll« (LP). Das Protokoll ist ein integraler Bestandteil des START I-Vertrages und das zentrale Instrument hinsichtlich der nuklearen Abrüstung der Ukraine. Es reflektiert die veränderte politische Situation und verleiht START I eine multilaterale Struktur. Das LP enthält rechtlich bindenden Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit, die an zwei Kriterien gemessen wird: Den (1) Transfer aller Kernwaffen nach Rußlan7d und (2) den Beitritt zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten in der »kürzest möglichen Zeit« (Art. V). Dennoch hat das ukrainische Parlament zunächst weder START I ratifiziert, noch ist die Ukraine dem NPT beigetreten.

Im Gegenteil. Sie schuf noch 1992 innerhalb ihres Verteidigungsministeriums ein Zentrum für die administrative Kontrolle über die Kernwaffen8. Im November 1992 folgte die präsidiale Anordnung, den Transfer der strategischen Waffensysteme nach Rußland zu unterbrechen9. Diese Entscheidung reflektierte ein taktisches Verhalten von Präsident Kravtschuk, der auch nach der Unterzeichnung des LPs, ungeachtet ihres späteren Schicksals, zunächst die Kernwaffen unter ukrainische Kontrolle stellen wollte, um deren Einsatz durch Rußland blockieren zu können10.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben die in der Ukraine stationierten Kernwaffen den historisch begründeten Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine, die bis 1991 über 300 Jahre nahezu ununterbrochen unter russischer und sowjetischer Unterdrückung litt, weiter intensiviert. In einem weiteren Schritt »nationalisierte« das ukrainische Parlament, die Verkhovna Rada, am 2.7.93 mit 226 zu 15 Stimmen mit der Verabschiedung der »Guidelines for the Foreign Policy of Ukraine« die auf ihrem Territoritum stationierten Kernwaffen11.

Dieser »Nationalsierungsbeschluß« wurde von der Ukraine als widerspruchsfrei gegenüber den NPT-Verpflichtungen perzipiert, da der Begriff »Besitz« (property) im Vertragwerk nicht geregelt sei12.

Tatsächlich hat die unabhängige Ukraine keine Kernwaffen empfangen, entwickelt oder produziert (NPT, Art.II) und ist laut NPT auch kein Kernwaffenstaat, da sie vor 1967 keinen Nukleartest durchgeführt hat (Art.IX,3). Der NPT enthält keine Bestimmungen, um eine solche Situation adäquat bearbeiten zu können.

Am 30.7.93 erklärte Präsident Kravtschuk, daß START I die modernen 46 SS-24 auf ukrainischem Territorium nicht beträfe und über deren Zerstörung nach der START-Ratifizierung separat verhandelt werden müsse13. Für zusätzliche Unklarheiten sorgte der Umstand, daß die Kernwaffenkategorien im Lissabonner Protokoll (LP) nicht differenziert aufgeführt sind, was der Ukraine ungewollt einen Interpretationsspielraum eröffnet hat. Die am 15.7.93 begonnene Deaktivierung der Kernwaffen betraf dann auch ausschließlich die SS-1914.

Die Regierung erklärte dazu, daß »natürlich« zuerst die alten, noch mit Flüssigtreibstoff betriebenen SS-19 reduziert würden. Der Grund für die Deaktivierung waren auch nicht die internationalen Denuklearisierungsverpflichtungen, sondern der bedenkliche Sicherheitszustand der SS-19. Die Deaktivierung wurde ohne parlamentarische Zustimmung vorgenommen15.

In einer bilateralen Abkommen zwischen der Ukraine und Rußland vom 3.9.93 wurde der vollständige Abzug der Kernwaffen innerhalb von zwei Jahren nach der START I-Ratifizierung vereinbart. Die Vereinbarung wurde aber drei Wochen später von Rußland annulliert, da von ukrainischer Seite der Vertragstext verändert worden war. Der Transfer „aller Sprengköpfe“ wurde dabei durch den Terminus „alle Sprengköpfe betroffen von START I“ ersetzt. Da aber START I aus ukrainischer Sicht die 46 SS-24 nicht betrifft, würde das Abkommen der Ukraine gestatten, Kernwaffen zu behalten16.

Am 18.11.93 hat das ukrainische Parlament dann START I unter Vorbehalt ratifiziert. Deren Umsetzung wurde an insgesamt dreizehn Bedingungen geknüpft. Artikel V des LPs wird dabei weiterhin als nicht bindend betrachtet, die administrative Kontrolle nicht aufgegeben, und die Kernwaffen sollen solange im Besitz der Ukraine verbleiben, wie sie sich auf ihrem Territorium befinden. Ein weiterer gravierender Vorbehalt besteht darin, daß nur 36<0> <>% der Trägersysteme und 42<0> <>% der Sprengköpfe innerhalb der von START I vorgesehenen Frist von sieben Jahren abgerüstet werden sollen17.

Diese Prozentzahlen entsprechen den in START I vorgesehenen Reduktionen für das gesamte ehemalige strategische Arsenal der Sowjetunion (von 10.271 auf 6.000 Kernsprengköpfe und von 2.500 auf 1.600 Trägersysteme). Das Parlament widersetzte sich damit dem Willen von Präsident Kravtschuk, entsprach aber den Forderungen der rechtsradikalen »Rukh«-Partei, die sich schon im Februar 1993 für eine solche proportionale Abrüstung ausgesprochen hatte18.

Eine gleichmäßige Quotierung für alle vier Staaten läßt sich aber aus dem LP nicht herleiten, da Artikel V explizit den Beitritt der Ukraine, Kasachstans und Weißrußlands zum NPT als Nichtkernwaffenstaat verlangt und nur Rußland den NPT-Status als Kernwaffenstaat zugesteht. Diese Abrüstungsquote würde es der Ukraine ermöglichen, alle modernen SS-24 und etwa 600 weitere Sprengköpfe zu behalten.

Den ständigen Forderungen von Kravtschuk nach zusätzlichen finanziellen Kompensationen und Sicherheitsgarantien zur Erfüllung des LP wurde am 13.1.1994 in Moskau mit der Unterzeichnung eines trilateralen Vertrages mit den USA und Rußland Rechnung getragen. Dabei wurden der Ukraine zusätzliche finanzielle (Geld für die nuklearen Materialien aus den abgerüsteten Kernwaffen, Kreditzusagen und Wirtschaftshilfen) und sicherheitspolitische (Grenzgarantien und nukleare Sicherheitsgarantien) Zugeständnisse gemacht19.

Die Sicherheitsgarantien der USA, Rußlands und des United Kingdom unterscheiden sich inhaltlich nicht von den ohnehin existierenden Garantien dieser Kernwaffenstaaten. Sie sind aber speziell auf die Ukraine zugeschnitten und harmonisiert worden.

Sie werden erst wirksam, wenn die Ukraine ihre Verpflichtungen aus dem LP erfüllt hat20. Diese neuerlichen Zugeständnisse kann die Ukraine als einen Erfolg ihrer hinhaltenden Politik werten, da eine vorbehaltlose START-Ratifizierung dieses trilaterale Abkommen nicht erforderlich gemacht hätte. Das Abkommen sieht zudem vor, daß in einer ersten zehnmonatigen Phase (bis Mitte Oktober 1994) 200 Sprengköpfe nach Rußland gebracht werden sollen. Tatsächlich sind im März 1994 zwei Zugladungen mit je 60 Sprengköpfen aus Pervomaysk nach Rußland transferiert worden.

Aber Kravtschuk kritisierte im März 1994 das Ausbleiben der russischen Brennstäbe, drohte mit der Einstellung der Sprengkopflieferungen nach Rußland und warnte, daß die vollständige Erfüllung der ukrainischen Verpflichtungen nur möglich wäre, wenn sie durch die ökonomischen Kompensationen gleichzeitig ausgeglichen würden21.

Es läßt sich eine Diskrepanz zwischen den internationalen vertraglichen Vereinbarungen einerseits und deren Umsetzung andererseits feststellen. Auf der Ebene der deklaratorischen Politik strebt die Ukraine unzweifelhaft die Erfüllung des LPs an. Aber in der Praxis ist weder der Abzug aller Kernwaffen nach Rußland gesichert, noch zeichnet sich ein ukrainischer NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat ab.

Die START I-Ratifizierung vom 18.11.93 hat wegen der Vorbehalte die Frage nach dem künftigen Status der Ukraine in bezug auf Kernwaffen nicht geklärt22. Auch die trilaterale Vereinbarung vom 13.1.1994 bedarf einer parlamentarischen Ratifizierung, die auf einen ungenannten Termin nach den Parlamentswahlen am 27.3.94 hinausgeschoben wurde.

Innenpolitischer Hintergrund

Es existieren im ukrainischen Parlament drei Gruppierungen, zwischen denen hinsichtlich des Umgangs mit dem nuklearen Erbe der Sowjetunion substantielle und teilweise nicht vereinbare Positionsdifferenzen bestehen. Hier liegt auch eine Teilbegründung für die widersprüchlichen Erklärungen aus der Ukraine.

(1) Die radikal-nationalistische Rechte, insbesondere die Parteien »Ukrainischer Kongreß der nationaldemokratischen Kräfte« und »Rukh«, intendiert nach dem von ihr durchgesetzten Nationalisierungsbeschluß, diese Waffen zu behalten. Sie strebt den Status als Kernwaffenmacht an und will das LP nicht erfüllen. Speziell die »Rukh« hat Kravtschuk jedwede Autorität aberkannt, nukleare Abrüstungsverträge zu unterzeichnen23.

Sowohl das LP als auch das trilaterale Abkommen wurden von der Rechten abgelehnt. Sie geht davon aus, daß die Ukraine ihre Staatsgrenzen ohne Kernwaffen nicht hinlänglich sichern kann. Die Kernwaffen können nicht vollständig liquidiert werden, solange die staatliche Existenz der Ukraine bedroht ist. Dazu müsse die Ukraine über eine signifikante nukleare Abschreckung verfügen24.

Zudem sei unverständlich, warum Rußland Kernwaffen besitzen dürfe und die Ukraine als souveräner, international anerkannter Staat dieses Recht nicht besäße25. Die Rechte wird unterstützt von der einflußreichen ukrainischen Offiziersunion mit ihren etwa 50.000 Mitgliedern26.

(2) Demgegenüber zielt die extreme Linke darauf ab, die Kernwaffen vollständig nach Rußland zu transferieren und alle internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Sie strebt einen dauerhaften kernwaffenfreien Status für die Ukraine an. Sie bestreitet nicht nur die Abschreckungsfunktion der Kernwaffen, sondern deren Existenz wird vielmehr als eine existentielle Gefahr perzipiert, da sie Rußland zu einem Präventivschlag verleiten könnte27.

(3) Dazwischen existieren verschiedene Gruppen, die keinen monolithischen Block bilden. Sie wollen ebenfalls alle internationalen Verpflichtungen erfüllen und streben eine kernwaffenfreie Ukraine an. Sie unterscheiden sich von der Linken dadurch, daß sie durch eine hinhaltende Politik diese Prozesse verzögern und die Kernwaffen als »bargaining chip« einsetzen, um sowohl militärische Sicherheitsgarantien, als auch ökonomische Zugeständnisse aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen.

Diese Position wird auch von der Regierung und Präsident Kravtschuk getragen. So betrachtet Kravtchuk die Kernwaffen nicht als militärischen Aktivposten, sondern als »material wealth«28. Kravtschuk begründet diese Ansprüche mit der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung und dem niedrigen Wohlstandsniveau der Bevölkerung, die jahrzehntelang unter dem extensiven nuklearen Rüstungsprogramm der Sowjetunion gelitten hat und durch den Abrüstungprozeß finanziell zusätzlich belastet würde. Die von der Regierung verfolgte Hinhaltepolitik zielt darauf ab, trotz der Verpflichtungen aus dem LP weitere finanzielle und sicherheitspolitische Zugeständnisse seitens Rußland und des Westens aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen. Nach wie vor erhält sich die Ukraine alle Handlungsoptionen für den Fall, daß ihre zusätzlichen Kompensationsforderungen nicht erfüllt werden sollten. Insgesamt ist diese Taktik aus ukrainischer Sicht bisher als erfolgreich zu bewerten, wie das trilaterale Abkommen beweist. Eine Fortsetzung dieser Taktik durch Präsident Kravtschuk ist nicht auszuschließen.

Der von der internationalen Staatengemeinschaft ausgeübte Druck wird von Kravtschuk als unverständlich und unverhältnismäßig bewertet. Er verweist darauf, daß auch andere Staaten über Kernwaffen und geheime Kernwaffenprogramme verfügen und nicht dem NPT beigetreten sind. Der politische Druck auf diese Staaten fiele aber ungleich geringer aus, und die Kernwaffenprogramme würden von der Staatengemeinschaft hingenommen oder sogar gefördert29.

Eine Militärdoktrin, aus der sich Rückschlüsse auf die künftige Nichtverbreitungspolitik ziehen ließen, existiert nicht, obwohl sich eine Vorlage seit Anfang 1993 in der parlamentarischen Beratung befindet. Erste Entwürfe wurden von Teilen des Parlamentes als »zu pazifistisch« abgelehnt30.

Die Parlamentswahlen

Die Parlamentswahlen vom 27.3.94 haben einen weiteren potentiellen Konflikt offensichtlich werden lassen. Die Polarisierung hat zugenommen, da die extremen Parteien durchweg Stimmenanteile und damit Parlamentssitze hinzugewinnen konnten.

Zudem offenbarten die Wahlen eine starke regionale Polarisierung. In der Ostukraine gewannen besonders die moskautreuen Kommunisten und andere Parteien des linken Spektrums, die eine stärkere Anlehnung an Rußland und teilweise sogar einen Anschluß an Rußland propagieren. Dagegen dominierten die extreme Rechte und moderaten Nationalisten in der Westukraine. Sie orientieren sich nach Westeuropa. Die Machtposition des Zentrums und der Demokraten und damit der ohnehin instabilen Regierung um Präsident Kravtschuk wurde weiter geschwächt. Auch andere reformorientierte Parteien verloren Sitze in der Verkhovna Rada. Das konfrontative Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative hat sich weiter verschärft31. Keine Gruppierung konnte sich durchsetzen, und das Parlament bleibt weitgehend entscheidungsunfähig. Die innenpolitische Situation hat sich auch durch die wirtschaftliche Krise weiter zugespitzt. Ein Bürgerkrieg und ein Auseinanderbrechen der Ukraine sind angesichts der politischen Gegensätze zwischen dem Osten und Westen der Ukraine nicht auszuschließen.

Einfluß der USA/des Westens

In den USA und anderen NATO-Staaten besitzt die horizontale Nichtverbreitung von Kernwaffen eine hohe politische Priorität. Ein NPT-Beitritt der Ukraine würde die Chancen für eine von den USA angestrebte unbegrenzte NPT-Verlängerung erhöhen und wäre eine Bestätigung der Vitalität des nuklearen Nichtverbreitungsregimes. Ziel des Westens ist es, daß aus der Auflösung der Sowjetunion letztlich mit Rußland nur ein Kernwaffenstaat hervorgeht. Dennoch wurde, als sich der Zerfall der Sowjetunion abzeichnete, die ukrainische Kernwaffenproblematik von der Bush-Administration zunächst nicht thematisiert. Bush warnte lediglich vor einem »selbstmöderischen Nationalismus« und galt seitdem als Gegner eines souveränen ukrainischen Staates. Die diplomatischen Anstrengungen wurden auf Rußland und Präsident Yeltzin konzentriert. Erst als die Probleme bezüglich der Kernwaffen auf ukrainischem Boden virulent wurden, wurde der Ukraine eine intensive diplomatische Aufmerksamkeit zuteil. Die dann einsetzenden Bemühungen der USA verstärkten in der Ukraine die Perzeption, daß Kernwaffen eine Schlüsselfunktion besitzen, um politische Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Clinton-Administration hat die Bemühungen für eine kernwaffenfreie Ukraine intensiviert und die bilateralen Beziehungen, z.B. durch die Bildung einer bilateralen Arbeitsgruppe für Verteidigungsfragen, ausgebaut32.

Zudem profitiert die Ukraine anteilmäßig von den vom US-Congress gebilligten Finanzhilfen im »Safe and Scure Dismantlement Program« (SSD), dem sogenannten »Nunn-Lugar Act«, für eine vertragsgemäße Vernichtung der Kernwaffen. Von der Gesamtsumme waren zunächst $ 175 Mill. für die Ukraine vorgesehen. Weitere $ 155 Mill. wurden der Ukraine als Wirtschaftshilfe zugesagt33.

Die ursprüngliche US-Politik, erst Geld zu vergeben, nachdem die Ukraine START I vorbehaltlos ratifiziert hat und dem NPT als Nichtkernwaffenstaat beigetreten ist, wurde im Frühjahr 1993 aufgegeben, um die begonnene Deaktivierung der SS-19 finanziell abzusichern34.

Am 4.3.94 erklärte die Clinton-Administration eine Aufstockung der Zuschüsse auf insgesamt $ 700 Mill. (je $ 350 Mill. für den nuklearen Abrüstungsprozeß und als Wirtschaftshilfe)35.

Die finanziellen Erfordernisse für den Denuklearisierungprozeß in der Ukraine sind umstritten. Die Ukraine bezeichnet die genannten Finanzhilfen als unzureichend. Ursprüngliche Forderungen der Ukraine beliefen sich auf $ 1,5 Mrd.36. Sie stiegen bald auf $ 2,8 Mrd.37.

Solche Forderungen waren für die USA inakzeptabel. Sie waren aber bereit, der Ukraine den Erlös aus dem Verkauf der nuklearen Materialien, geschätzte $ 1-2 Milliarden, zukommen zu lassen38.

Offiziell betrachtet die Clinton-Administration die Existenz einer unabhängigen und starken Ukraine als in ihrem Interesse liegend.

Aber die vorbehaltlose Erfüllung der Verpflichtungen aus dem LP wurde von den USA zu der essentiellen Vorbedingung für „erfolgreiche und langfristige Beziehungen zwischen beiden Staaten“ gemacht. Bis dahin seien Kooperationen in allen Politikfeldern, inklusive wirtschaftlicher Vereinbarungen, nur sehr begrenzt möglich39.

Dies gilt insbesondere für eine über die Sicherheitsgarantien hinausgehende sicherheitspolitische Kooperation. Bisher wurde in diesem Zusammenhang explizit der Begriff der »security guarantees« vermieden, da sie eine NATO-ähnliche »Schutzschirmlösung« nahelegen würde40.

Ein NPT-Beitritt der Ukraine mit einem Sonderstatus als „transitional country with nuclear weapons“, wie er von Verteidigungsminister Morozov im Juli 1993 vorgeschlagen wurde, ist für die USA inakzeptabel. Die Clinton-Administration bedient sich dabei einer Mixtur aus politisch-diplomatischem Druck einerseits, sowie ökonomischen Anreizen und politischen Zusagen andererseits (»carrot and stick approach«)41.

Auch die NATO hat die Ukraine mehrfach dazu aufgefordert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Die Drohung mit dem Ausschluß der Ukraine aus dem North Atlantic Cooperation Council (NACC42) wurde aber nicht realisiert, da die NATO sich entschied, die Ukraine durch eine Politik der Einbindung zu beeinflussen43.

Allerdings wäre es undenkbar, so der belgische Außenminister Claes, die von der NATO geplante »Partnership for Peace«-Initiativ44e auch der Ukraine anzubieten, solange diese sich weigert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Der Einfluß Rußlands

Für die Ukraine sind sowohl die politische Situation in Rußland als auch die Politik Rußlands gegenüber der Ukraine wesentliche Einflußfaktoren bei der Bestimmung der eigenen Nichtverbreitungspolitik. Bereits am 4.11.92 hatte der russische Oberste Sowjet zwar START I gebilligt, stellte die Ratifizierung aber explizit unter den Vorbehalt der Beitritte der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten. Auch Sicherheitsgarantien wurden zunächst an die vorbehaltlose START-Ratifizierung geknüpft45. Im trilateralen Abkommen gab Rußland dann aber doch die von der Ukraine geforderten Sicherheitsgarantien ab. Rußland weigert sich aber, die vorbehaltliche START I-Ratifizierung der Ukraine anzuerkennen. Um zusätzlichen Druck auszuüben, erklärte das russische Verteidigungsministerium im November 1993, daß Rußland die Annahme der ukrainischen Kernwaffen bald verweigern müßte, weil sie zu unsicher werden würden und deren Auseinandernehmen zu gefährlich würde46.

In einem bilateralen Abkommen wurde im Austausch für die transferierten Kernwaffen vereinbart, Brennstäbe für den Betrieb ziviler Kernkraftwerke an die Ukraine zu schicken. Dabei wird das hochangereicherte Uran (HEU) aus den ukrainischen Sprengköpfen auf Kosten der USA zu Brennstäben mit niedrig angereichertem Uran (LEU) verarbeitet47.

Trotz solcher eigenen Beziehungen werden die amerikanisch-ukrainischen politischen Beziehungen in Rußland skeptisch beurteilt. Die russische Regierung betrachtet insgesamt eine Strategie des politischen Drucks prinzipiell als erfolgversprechender als den »carrot and stick approach« der USA48.

Neben diesen Aktivitäten auf offizieller Ebene versuchen russische Altkommunisten und Nationalisten den ukrainisch-russischen Konflikt weiter zu schüren. Sie unterstützen die Kräfte in der Ukraine, die für eine »Kernwaffenmacht Ukraine« sind. Ihre Motivation beziehen sie dabei aus ihrer Gegnerschaft zum noch nicht ratifizierten START II-Vertrag. Eine Ukraine mit Kernwaffen würde eine solche Ratifizierung in Frage stellen. Allerdings dürfte ein fortgesetzter Denuklearisierungsprozeß in Rußland und eine kernwaffenfreie Ukraine ein geringeres sicherheitspolitisches Risiko bedeuten als keine Umsetzung von START II und eine nuklear bewaffnete Ukraine.

Ein russischer Präventivschlag für den Fall, daß die Ukraine die Kernwaffen auf Dauer zu behalten gedenkt, ist (noch) kein Bestandteil der russischen Politik. Derartige Reaktionen können aber auch nicht ausgeschlossen werden, zumal sich Moskau in seiner neuen Militärdoktrin nach wie vor einen nuklearen Erstschlag vorbehält und das »nahe Ausland« zu seinem alleinigen Einflußbereich deklariert49. Trotz des trilateralen Abkommens enthält die russische Politik insgesamt weniger kooperative Elemente und zielt eher darauf ab, die Ukraine im internationalen System politisch zu isolieren.

Folgen eines Scheiterns der Denuklearisierung der Ukraine

(a) Abrüstungspolitische Konsequenzen: Die zeitliche Entkopplung von START-Ratifizierung und NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat kann zur Verzögerung des START-Gesamtprozesses führen. Rußland und die USA werden ohne die Erfüllung beider Bedingungen aus dem LP durch die Ukraine auch nicht das Folgeabkommen START II ratifizieren können, da START II auf START I basiert50.

Insofern wäre die Umsetzung beider START-Verträge und damit die erst vor wenigen Jahren zumindest auf quantitativer Ebene eingeleitete Umkehr des vertikalen Proliferationsprozesses gefährdet.

Für den 1995 stattfindenden Aushandlungsprozeß über eine NPT-Verlängerung wären sowohl eine Entscheidung für einen Status als Kernwaffenstaat als auch eine über 1995 hinausgehende Verzögerungstaktik der Ukraine eine schwere Hypothek.

Eine nuklear bewaffnete Ukraine würde die Effektivität und Nützlichkeit des NPT und auch des Nichtverbreitungsregimes in Frage stellen. Ein möglicher ersatzloser Zusammenbruch des NPT könnte das gesamte Nichtverbreitungsregime zerfallen lassen, da dann auch andere Staaten Ambitionen entwickeln könnten, nuklear zu proliferieren. Ein anderes Szenario bestünde darin, daß sich die Mehrheit der Staaten nur für eine kurzzeitige Verlängerung des NPT ausspricht, um die Regulierung der Kernwaffenfrage in der Ukraine abzuwarten. Inwieweit ein Kernwaffenstaat Ukraine darüber hinausgehend einen »Dominoeffekt« auslösen könnte, ist abhängig von schwer kalkulierbaren Reaktionen anderer Akteure, aber nicht auszuschließen.

(b) Folgen für die Ukraine: Scheitern alle Bemühungen um eine kernwaffenfreie Ukraine, wäre sie nicht nur vertragsbrüchig geworden, sondern würde als Folge diplomatisch und politisch isoliert und ein Paria im internationalen System werden. Mit eigenen Kernwaffen wären wirtschaftliche und politische Sanktionen durch die internationale Staatengemeinschaft verbunden, die sich durch einen »Sitz am Tisch« der Kernwaffenstaaten – wenn die Ukraine diesen überhaupt erhalten würde – schwerlich aufwiegen ließen. Aus dieser Perspektive hätte die Ukraine mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Daher wäre ein solcher Schritt vor der ukrainischen Bevölkerung nur dadurch zu rechtfertigen, wenn mit der Aufgabe der Kernwaffen gleichzeitig die staatliche Existenz durch Rußland unmittelbar bedroht wäre. In diesem Fall würde ein eigenes Kernwaffenarsenal als legitim perzipiert und würde allen internationalen Sanktionen übergeordnet werden. Die Kernwaffen würden unabhängig von ihrer Funktionsfähigkeit bereits eine gewisse Abschreckungsfunktion erfüllen, weil sie auch bei hoher Unsicherheit hinsichtlich ihres Zustandes einen nicht kalkulierbaren Faktor darstellen würden. Andererseits würden sich ukrainische politische Entscheidungsträger und Militärs langfristig kaum mit einer solchen Außenwirkung zufriedengeben, sondern sicherstellen wollen, daß die Kernwaffen einen hohen Verläßlichkeitsgrad aufweisen. Dabei müßte die Ukraine, neben erheblichen finanziellen und organisatorischen Kosten, auch die »positive operative Kontrolle« über »ihre« Kernwaffen erlangen und technische Fragen hinsichtlich der Wartung dieser Kernwaffen lösen.

Fazit

Insgesamt befanden sich die Akteure, die an der Effektivität und Aufrechterhaltung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes interessiert sind, in einer politischen Dilemmasituation. Sie konnten die drastischen politischen Veränderungen nach der Implosion der Sowjetunion und die drohende Gefahr der Entstehung neuer Kernwaffenstaaten nicht ignorieren. Gleichzeitig haben die politischen Bemühungen um eine Beseitigung der in der Ukraine stationierten Kernwaffen dazu geführt, daß sich die Ukraine ihrer tatsächlichen Machtposition erst richtig bewußt geworden ist. Sie haben somit ungewollt zu der unkalkulierbaren und widersprüchlichen Nichtverbreitungspolitik der Ukraine beigetragen. Die Bush-Administration machte den Fehler, die Ukraine zu einem Zeitpunkt zu vernachlässigen, als sie internationale Unterstützung für ihre Souveränitätsbestrebungen und ihre Etablierung als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft suchte. Der Ukraine wurde erst politische Aufmerksamkeit geschenkt, als sich die Kernwaffen auf ihrem Territorium sich bereits zu einem manifesten Problem der nuklearen Nichtverbreitung entwickelt hatten. Die Erhöhung des internationalen politischen Gewichtes eines ökonomischen Krisenlandes hat dazu beigetragen, daß dieser Staat nicht wie vorgesehen von den Kernwaffen zügig Abschied nimmt. Eine kernwaffenfreie Ukraine sieht sich in der Gefahr, in eine relative Bedeutungslosigkeit abzurutschen, wie dies den meisten anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bereits widerfahren ist. Die Kernwaffen werden, neben der Schwarzmeerflotte, vielfach als das sichtbarste Attribut der ukrainischen Staatlichkeit betrachtet. Aus dieser Perspektive ist eher das politische Verhalten Kasachstans und Weißrußlands bemerkenswert, nicht das der Ukraine.

Der Konflikt um die Kernwaffen in der Ukraine verläuft auf drei interdependenten Ebenen:

(1) Auf der innenpolitischen Ebene zwischen den politischen Gruppierungen im ukrainischen Parlament. Dort stehen sich teilweise unvereinbare Positionsdifferenzen gegenüber. Dazu besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges und eines Auseinanderbrechens der Ukraine.

(2) Auf der bilateralen Ebene zwischen Rußland und der Ukraine. Sie ist geprägt durch die historischen Erfahrungen der Ukraine und die Perzeption einer existentiellen Bedrohung durch Rußland.

(3) Auf der multilateralen Ebene zwischen der Ukraine und den anderen START I-Vertragspartnern, speziell den USA und Rußland. Hier geht es um die vertragsgemäße Implementation der Vereinbarungen aus dem LP und die nachträglich damit verknüpften finanziellen und sicherheitspolitischen Bedingungen der Ukraine.

(ad 1) Die Wahlen vom 27.3. haben keiner parlamentarischen Gruppierung zum Sieg verholfen. Die Polarisierung im Parlament hat sich weiter verstärkt. Die Nichtverbreitungspolitik bleibt unklar und mehrere Szenarien sind denkbar. Wenn die radikal-nationalistischen Rechte die politische Macht übernehmen würde, bestünden wenig Aussichten für eine Verbesserung der politischen Beziehungen mit Rußland, und auch die Bemühungen der anderen Vertragsstaaten um eine START I-Implementierung und einen NPT-Beitritt der Ukraine blieben wahrscheinlich ergebnislos. Verlöre Kravtschuk die Präsidentschaftswahlen am 26.6.94 zudem an einen Vertreter der radikal-nationalistische Rechten, verschlechterten sich die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine weiter. In diesem Fall wäre ein Szenario am wahrscheinlichsten, in dem die Ukraine versucht, die »positive Kontrolle« über die Kernwaffen zu erlangen und die perzipierte Bedrohung seitens Rußland nuklear abzuschrecken. Dann würden weder negative noch positive wirtschaftliche und politische Sanktionen die Ukraine zur Aufgabe der Waffen bewegen können. Eine Erweiterung des »nuklearen Schutzschirmes« auf die Ukraine durch die USA oder eine vollständige Denuklearisierung Rußlands wären hier mögliche, aber mittelfristig unwahrscheinliche Lösungsmöglichkeiten.

Bliebe die jetzige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungstaktiken beim Abzug der Kernwaffen, verknüpft mit neuerlichen finanziellen und (sicherheits)politischen Forderungen, nicht auszuschließen.

Neben der Polarisierung in der Verkhovna Rada gefährden innenpolitische Konflikte speziell zwischen der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit (rund 40 Millionen) und der starken russischen Minderheit (etwa 14 Millionen) die staatliche Einheit der Ukraine und stellen einen weiteren Unsicherheitsfaktor hinsichtlich eines geordneten und planmäßigen Transfers aller Kernwaffen nach Rußland dar. Hinzu kommt die Wirtschaftkrise, die den sozialen Frieden gefährdet. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann jede weitere Verzögerung des Denuklearisierungsprozesses folgenschwer sein.

(ad 2) Die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine sind eng mit der politische Situation in Rußland verknüpft und müssen solange als gering eingeschätzt werden, wie die instabile politische Lage in Moskau anhält oder sich noch verschärft. Verbessern sich die diplomatischen Beziehungen zu Rußland und stabilisiert sich dort die politische Situation, würde auch die militärische Bedrohung im Parlament geringer eingeschätzt, was wiederum die Chancen für eine vertragsgerechte START-Implementierung und einen NPT-Beitritt erhöhen würde.

Die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine sind legitim und von der Regelung der Kernwaffenfrage nicht zu trennen. Das entscheidende Kriterium ist die ukrainische Perzeption. Die Notwendigkeit eines Schutzes gegenüber Rußland ist in Politik, Militär und der Bevölkerung weit verbreitet. Dies ist Ausdruck großen Mißtrauens gegenüber dem übermächtigen Nachbarn. Eine kernwaffenfreie Ukraine mit einem nuklear bewaffneten Rußland wird vielfach als existentielle Bedrohung empfunden. Eigene Kernwaffen sollen diese Unterschiede nivellieren.

Zudem vermindern Wahlerfolge von Parteien mit imperialistischen Ambitionen in Rußland, wie die der »Liberaldemokratischen Partei« von Schirinowski, die Aussichten auf bessere bilaterale Beziehungen. Wenn zudem der »Westen« die Ukraine sicherheitspolitisch nicht stärker einbindet, könnte sich die Ukraine um Alternativen bemühen, ihre nationale Sicherheit allein und gegebenenfalls mit Kernwaffen zu gewährleisten.

(ad 3) Die USA und Rußland haben mit dem trilateralen Abkommen und den zusätzlichen Sicherheitsgarantien gekoppelt mit finanziellen Anreizen erreicht, daß die Ukraine sich zu ihren Verpflichtungen aus dem LP erneut bekannt hat. Das trilaterale Abkommen wird vielfach als der letzte Mosaikstein bei der Konfliktlösung um die Kernwaffen in der Ukraine betrachtet.

Es ist aber fraglich, ob diese multilateralen Aktivitäten die anderen beiden Konfliktebenen hinreichend beeinflussen können, um die Umsetzung dieser Verpflichtungen zu gewährleisten.

Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr, daß der Einfluß, der von den anderen beiden Ebenen auf die Gesamtproblematik ausgeht, dafür sorgt, daß die Chancen einer vertragsgemäßen Umsetzung nicht entscheidend steigen können. So kann auch das trilaterale Abkommen das ukrainische Mißtrauen gegenüber Rußland nicht beseitigen oder die innenpolitischen Positionsdifferenzen aufheben.

Eine enge sicherheitspolitische Kooperation mit dem Westen oder gar ein NATO-Beitritt der Ukraine würden erfolgversprechender darauf hinwirken können, daß eine nukleare Abschreckung gegen Rußland auch vom ukrainischen Parlament mehrheitlich nicht mehr als erforderlich perzipiert wird, ist aber wegen der politischen Reaktionen aus Rußland unrealistisch.

Um das Ziel einer kernwaffenfreien Ukraine erreichen zu können, ist eine erfolgreiche Bearbeitung der Konflikte auf allen drei Ebenen unabdingbar. Ein erster Schritt auf diesem Weg wären vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Ukraine und Rußland. Zweitens kann eine intensivere und gezieltere Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft dazu beitragen, den sozialen Frieden wiederherzustellen und einen Zerfall des Staates verhindern. Die bislang zugesagten Wirtschaftshilfen und Kredite sind nicht ausreichend.

Unter dem Gesichtspunkt, daß ein ukrainischer Bürgerkrieg jederzeit ausbrechen kann, sollten die Anstrengungen zur gleichzeitigen Regulierung aller drei Konfliktebenen unverzüglich verstärkt werden.

Ausblick

Die bestehenden Konflikte um die Kernwaffen in der Ukraine lassen nur wenige unzweifelhafte Aussagen über die künftige ukrainische Nichtverbreitungspolitik zu. Solange die innenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine und Rußland so instabil bleiben, scheinen selbst bindende politische Vereinbarungen, inklusive des LPs und des trilateralen Abkommens, keine Gewähr dafür zu bieten, daß die Ukraine letztlich kernwaffenfrei wird (und bleibt). Die Ukraine ist innerhalb des nuklearen Nichtverbreitungsregimes derzeit kein verläßlicher Akteur.

Psychologisch betrachtet wird es immer schwieriger, die Ukraine von der Aufgabe der Kernwaffen zu überzeugen, desto länger sich Politiker, Militärs und Bevölkerung als Kernwaffenstaat wahrnehmen.

Da die Ukraine ihre abrüstungspolitischen Verpflichtungen bezüglich der SS-24 anders interpretiert als hinsichtlich der SS-19 und Bomber, können auch die ersten beiden Transfers von je 60 Sprengköpfen kein Indiz dafür sein, daß die Ukraine sich auf dem Weg zur Kernwaffenfreiheit befindet. Die modernen SS-24, die für sich allein ein Abschreckungspotential darstellen, werden den Kardinalpunkt in diesem Konflikt darstellen. Bleibt die bisherige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungen verknüpft mit neuen Forderungen wahrscheinlich. Solche Verzögerungen können aber angesichts der instabilen innenpolitischen Situation in der Ukraine dazu führen, daß ein Bürgerkrieg in einem Staat mit Kernwaffen stattfindet. Kommt die extreme Rechte an die Macht, kann dies zu einer Konfrontation mit Rußland führen, bei der die dann in der Ukraine verbliebenen Kernwaffen die Art und Weise der Konfliktaustragung entscheidend prägen können.

Literatur

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Anmerkungen

1) Arms Control Today, März 1994, S. 24. Zurück

2) Schröder, 1992, S. 46-47. Zurück

3) Bezüglich der Bomberanzahl und Sprengköpfe existieren unterschiedliche Zahlenangaben. Alle hier genannten Zahlenangaben beziehen sich auf: The International Institute for Strategic Studies, »Military Balance, 1993-1994«, London, October, 1993, S. 240-243. Zurück

4) Lockwood, April 1994, S. 20. Zurück

5) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 31-32. Zurück

6) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

7) In der CIS ist die Zerstörung der Kernwaffen aus technischen Gründen nur in Rußland möglich. Zurück

8) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

9) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

10) Coll, 1993. Zurück

11) Potter, 1993, S. 101. Zurück

12) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 53. Zurück

13) Lockwood, September 1993, S. 25. Zurück

14) IISS, 1993, S. 91. Zurück

15) Lockwood, September 1993, S. 30. Zurück

16) Trust and Verify, Oktober 1993, S. 1-2. Zurück

17) Trust and Verify, December 1993, S. 1. Zurück

18) Potter, 1993, S. 104. Zurück

19) Arms Control Today, März 1994, S. 23. Zurück

20) Arms Control Today, März 1994, S. 22-23. Zurück

21) Arms Control Today, April 1994, S. 20. Zurück

22) Sollte die Ukraine Kernwaffen behalten, wird die Wartung dieser Waffensysteme ein wesentliches Problem. Dabei figuriert das Material Tritium an prominenter Stelle. Da es sich um tritiumabhängige thermonukleare Kernwaffen handelt und Tritium mit einer jährlichen Rate von 5,5<0> <>% zerfällt, muß dieser Zerfall in bestimmten Zeitabständen kompensiert werden. Es befinden sich aber keine Tritiumproduktionsanlagen in der Ukraine. Siehe dazu: Colschen, 1994, S. 23-28. Zurück

23) Shapiro, 1994. Zurück

24) Potter, 1993, S. 102-103. Zurück

25) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

26) Lockwood, Mai 1993, S. 23. Zurück

27) Hoagland, 1993. Zurück

28) Reuter, 3. Dezember 1993. Zurück

29) UNIDIR Newsletter, Juni/September 1993, S. 48. Zurück

30) Magenheimer, Heinz, 1993, S. 38. Zurück

31) IHT, 20. April 1994. Zurück

32) Smith, 8.Juni 1993. Zurück

33) Goshko, Dezember 1993. Zurück

34) Lockwood, November 1993, S. 28. Zurück

35) Greenhouse, 5.-6.März 1994. Zurück

36) Bohlen, Januar 1993. Zurück

37) Katz, Oktober 1993. Zurück

38) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

39) Lockwood, Mai 1993, S. 24. Zurück

40) Hoagland, 1993. Zurück

41) Keeny, 1993, S. 2. Zurück

42) Im NACC kooperieren NATO-Staaten und die Mitglieder der früheren Warschauer Paktes auf militärischer Ebene. Zurück

43) Reuter, 2. Dezember 1993. Zurück

44) Diese NATO-Initiative soll die militärischen und politischen Beziehungen zu den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes weiter vertiefen. Zurück

45) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

46) Associated Press, 1.12.1993. Zurück

47) Arms Control Today, März 1994, S. 21. Zurück

48) Brown, 1993, S. 28. Zurück

49) Spiegel, November 1993, S. 168-169. Zurück

50) START II befindet sich in den USA seit dem 15.Januar 1993 und in Rußland seit dem 2.März 1993 in der parlamentarischen Beratung. Zurück

Lars C. Colschen ist Diplom-Politologe, seit 1990 Mitglied von IANUS/Darmstadt. Dienstliche Adresse: IANUS, Schloßgartenstraße 9, 64289 Darmstadt, Tel.: 06151-163016, FAX: 06151-164321.

Teststopp in den USA

Teststopp in den USA

Der Widerstand der A-Waffen-Lobby

von Erdmute Otto • Martin Kalinowsky

Nachdem die USA letztes Jahr noch einmal 6 Atomtests durchgeführt hatten (England und Frankreich sowie GUS keine; China 2), schlossen sie sich den bestehenden Moratorien von Frankreich und Rußland an. Präsident Bush unterzeichnete im Oktober 1992 das Nuclear Testing Moratorium Act, auch Hatfield Amendment genannt.

Das Moratorium gilt für die USA und GB bis Ende Juni 1993. Die USA werden bis 9/1996 »nur« noch bis zu 15 weiteren Tests durchführen oder auch gar keine mehr. Das Testen kann frühestens wieder fortgeführt werden, wenn der Präsident 90 Kongress-Sitzungen (ohne Unterbrechung durch die Pause von August bis Januar) vorher einen Bericht gegeben hat, der mehrere Punkte enthalten muß:

  • Plan zum Erreichen eines CTB; Plan, Sicherheitsmerkmale in allen Kernwaffen zu installieren; Anzahl und Art der geplanten Atomtests, u.a.. Der Kongress hat die Möglichkeit, wichtige Teile des Berichts durch Mißbilligung zu Fall zu bringen.
  • Außerdem dürfen Atomtests nur nach Sicherheits- und Zuverlässigkeitstests zugelassen werden.
  • Nach 9/1996 können die USA nur dann weitertesten, wenn ein anderer Staat bis dahin das Testen wieder aufnimmt. Das betrifft auch China, das auf dem Standpunkt steht, noch Nachholbedarf und Rechtfertigung zu haben.

Auf einem Treffen mit Boris Jelzin Anfang April stimmten beide Präsidenten überein, daß die Verhandlungen für einen CTB möglichst früh beginnen sollten. Die US-Regierung meint damit noch diesen Sommer.

Es besteht außerdem eine große Chance, daß nach 1947, 1950 und 1959 zum erstenmal seit langem wieder ein Jahr ohne Atomtest verstreicht. Die Hoffnungen darauf hatten sich mit dem Regierungswechsel in den USA verstärkt.

Die Erstellung von Plan und Begründung neuer Tests hat sich mittlerweile so weit verzögert, daß mit Verstreichen des 18. Mai immer unwahrscheinlicher wird, ob die notwendigen 90 Sitzungstage noch zusammenkommen. Dies ist nur noch möglich, wenn sich der Beginn der Herbstpause verzögert, was allerdings öfter vorkommt. Sollte der Termin tatsächlich verstrichen sein, dann wäre der nächste US-Kernwaffentest frühestens 1994 durchführbar.

Navy und Air Force sind aber nicht bereit, Geld auszugeben für die Sicherheitsvorkehrungen, die getestet und dann an den Kernwaffen installiert werden sollen. Das beweist, daß die geplanten Sicherheitstests keinen Sinn mehr haben würden.

Die Arms Control und Disarmament Agency und Department of Defense argumentieren wegen der Proliferationsgefahr für eine »no first test policy«. So kam es bisher noch zu keiner Einigung unter den Regierungsbehörden.

Gleichzeitig haben zahlreiche Mitglieder von Senat und Abgeordnetenhaus sowohl Resolutionen, die den Beginn von CTB-Verhandlungen fordern, als auch einen Gesetzesvorschlag unterschrieben, in dem es um die Kosten der britischen Atomtests (incl. der ökologischen) geht.

In fast allen wichtigen Tageszeitungen wurden diese Vorgänge mehrfach in Editorials kommentiert und gegen weitere Kernwaffentests argumentiert.

Das alles ist sehr ermutigend für TeststopgegnerInnen, aber es gibt immer noch starke Kräfte für die Fortsetzung von Kernwaffentests.

Aber …

Das Department of Energy (DoE) und Großbritannien halten an ihren Plänen für weitere Tests fest. Ein erster wurde für Juli angesetzt, wieder abgesetzt, worauf ein weiterer für September angekündigt wurde, der nun allerdings nicht mehr einhaltbar ist.

Auch von den Kernwaffen-Laboratorien des DoE wird Druck ausgeübt, um eine Änderung des Gesetzes zu bewirken.

Sie arbeiten auch ohne offiziellen Auftrag an neuen Kernwaffendesigns weiter, der »Mininuke« (weniger als 1 Kilotonne) im Bereich von einer Kilotonne, dem Sprengkopf zum Durchbohren von Beton und Erdschichten und einem Sprengkopf, der einen starken elektromagnetischen Impuls generieren soll. Die Labs geraten allerdings zunehmend in die Defensive. Gemeinsam mit dem DoE, DoD und dem Joint Chief of Staff drängen sie die Clinton Administration darauf, nach 1996 unbefristet weiterzutesten, allerdings mit einer Höchstgrenze von einer Kilotonne.

Zahlreiche Mitglieder von Senat und Haus wandten sich daraufhin an Clinton und äußerten ihre Besorgnis über diesen das Gesetz mißachtenden Vorschlag, unter anderem, weil sie annehmen, daß er sowohl die Glaubwürdigkeit als auch die eigenen Anstrengungen unterminiert, die Weiterverbreitung von Kernwaffen zu verhindern. Nach der Reaktion der Clinton-Administration zu urteilen scheint dieser Vorschlag zumindest vorläufig gestorben zu sein.

Die Kernwaffenlaboratorien befassen sich zunehmend ernsthaft mit der Frage, ob und wie sie in Zukunft ohne Kernwaffentests auskommen können. Das soll v.a. mit neuen und altbewährten AGEX (Above Ground Experiments) Technologien erreicht werden (Hydrodynamische Tests, Computersimulationen, Trägheitseinschlußfusion, etc.).

Diese können zwar nicht ein voller Ersatz zum unterirdischen Testen sein, aber sie sollen offensichtlich die Expertise in den für Kernwaffen wesentlichen Feldern der Physik erhalten.

Dafür sollen auch neue Einrichtungen gebaut werden, und es ist sehr wahrscheinlich, daß der Etatposten für Kernwaffentests bei einem Teststop sogar steigt. So ist der Bau der National Ignition Facility geplant, der rund eine halbe Milliarde $ kosten soll.

Wahrscheinlich ist, daß die USA als erste wieder beginnen Atomtests durchzuführen, denn weder Frankreich noch Rußland wollen die ersten sein, die wieder testen. Die AtomtestgegnerInnen in den USA betonen besonders, wie einmalig diese Chance ist und wie gefährlich es wäre, sollten die USA sie zunichte machen.

Solange noch die Chance besteht, daß die Herbstpause des Kongresses in diesem Jahr spät genug beginnt und Clinton doch noch den Bericht vorlegt, engagieren sich in diesen Wochen die beiden Seiten intensiv zur Durchsetung ihrer Interessen.

AktivistInnen rufen dazu auf, Briefe an Clinton und Abgeordnete zu schreiben. Sie planen außerdem einfallsreiche Aktionen, um der Lobbyarbeit derjenigen, die weitere Tests wolle, etwas entgegenzusetzen.

Beispielsweise wird um den 6. Juni herum eine der größten Demonstrationen und gewaltfreien Aktionen seit den frühen 80er Jahren in Livermore, Californien, erwartet. Dort ist eins der drei Kernwaffenlaboratorien.

Was hat das mit uns zu tun?

Als Mitglied der Europäischen Union, als NATO-Mitglied und als ein Land, das die US-Kenwaffen im eigenen Land als »Schutz« immer noch duldet, hat Deutschland ebenso eine Verantwortung, sich zu Kernwaffentests zu äußern.

Erdmute Otto, Psychologin und Martin Kalinowsky, Kernphysiker bei IANUS, verbrachten dreieinhalb an- und aufregende Monate in Los Alamos (New Mexiko, USA). Im nächsten Heft (3/93) wird von ihnen ein ausführlicher Bericht über die Entwicklung der Kernwaffenforschung 50 Jahre nach Gründung des Los Alamos National Laboratory erscheinen.