Editorial

Editorial

von Caroline Thomas

ab Mitte April verhandeln in New York Vertreterinnen und Vertreter von 172 Staaten über die Zukunft der zivilen und militärischen Nutzung der Atomenergie. Der Nicht-Verbreitungs-Vertrag für Atomwaffen steht zur Debatte.

Während für die alten Griechen das Atom noch unteilbar war, gehört heute »dank« Albert Einstein, Otto Hahn und anderen das Wissen über die Spaltung des Atoms und die Nutzung für zivile und militärische Zwecke schon fast zum naturwissenschaftlichen Allgemeingut.

Das, was in den 30er und 40er Jahren die (militärischen) Machthaber der Welt faszinierte – das, was gefeiert wurde als Lösung wichtiger Menschheitsprobleme –, es sollte tatsächlich die Welt verändern: die Katastrophen von Hiroshima und Tschernobyl waren die Folge. 100.000 Menschen fanden innerhalb weniger Minuten in Hiroshima den Tod. Mehr als 800.000 Kinder leben heute auf sog. »heißem« Boden in der nahen Umgebung von Tschernobyl. Welche Langzeitfolgen dieser Katastrophen uns die nächsten Jahrzehnte noch begleiten werden, läßt sich nur erahnen. Die Entdeckung der Kernspaltung verdeutlicht einmal mehr, daß die Wissenschaft sich ihrer ethischen Verantwortung nicht entziehen darf.

Trotz dieser Katastrophen,

  • will sowohl die NATO als auch Rußland heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, immer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten (geschweige denn auf den Besitz von Atomwaffen);
  • wollen die USA den Abwurf der Atombombe »feiern« und der Öffentlichkeit weismachen, die 300.000 Menschen mußten durch den Abwurf der Atombombe sterben, damit der 2. Weltkrieg frühzeitiger beendet wird;
  • sind Großbritannien und Frankreich nicht bereit, sich an internationalen Abrüstungsverhandlungen bezüglich ihrer Atomwaffen zu beteiligen;
  • gibt es bisher nur zwei kleinere Parteien im Bundestag, die einen umfassenden Atomwaffenverzicht in das Grundgesetz aufnehmen wollen, um ein für allemal eine deutsche (und auch eine deutsch-europäische) Atombombe zu verhindern;
  • sind die fünf offiziellen Atommächte nicht bereit, ihre vertragliche Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung, die sie mit der Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages eingegangen sind, endlich umzusetzen;
  • fördern die Industriestaaten die Nutzung der Atomenergie in den »Dritte-Welt«-Ländern, obwohl die Nutzung der Atomenergie ein immens großes Sicherheitsrisiko beinhaltet, und es sich um massive Ressourcenverschwendung handelt;
  • fördert der Nichtverbreitungsvertrag die zivile Nutzung der Atomenergie, obwohl die Trennung von ziviler und militärischer Nutzung nicht möglich ist, jeder Atomenergiestaat auch ein potentieller Atomwaffenstaat ist.

Die Katastrophen von Hiroshima und Tschernobyl werden nicht die letzten sein, wenn nicht weltweit aus der Atomenergie ausgestiegen wird und die Atomwaffen abgeschafft werden. Ein Nichtverbreitungsvertrag kann ein wichtiger Teil eines Atomwaffenkontrollregimes sein. Eine unbefristete Verlängerung dieses Vertrages in seiner jetzigen Form wäre aber das falsche Signal, würde dies doch auch weiterhin zum massiven Ausbau der Nutzung der Atomenergie und mindestens zur vertikalen, aber wahrscheinlich auch zur horizontalen Verbreitung der Atomwaffen führen. Die Überführung des Nichtverbreitungsvertrages in eine Atomwaffenkonvention ähnlich der Chemiewaffenkonvention, die keine Föderung der Atomenergie mehr zum Ziel hat, eine Sicherheitsgarantie für die Nicht-Atomwaffenstaaten beinhaltet und konkrete, zeitlich festgelegte Abrüstungsschritte vorschreibt, wäre ein erster Schritt, der in der nächsten Zeit verwirklicht werden könnte.

Atomare Salamitaktik

Zeitlich gut abgepaßt – im Vorfeld der NVV-Verhandlungen – klopfte auch die Bundesrepublik einmal mehr am (symbolischen) Machtzentrum der internationalen Politik an. Deutsche Soldaten wieder zum Mittel deutscher Außenpolitik zu machen ist offensichtlich nicht ausreichend, um in den Kreis der Mächtigen aufgenommen zu werden. Die Bundesregierung ist offenbar der Auffassung, daß zu dem zweiten Teil der »Mutprobe«, die sie zu bestehen hat, um endlich »dazuzugehören«, auch die Verfügung über Atomwaffen gehört.

So wird in den »Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom Juli '94 ohne große Umschweife eine „nukleare Teilhabe“ eingefordert. Immer schon gab es einzelne Abgeordnete, wie Karl Lamers (CDU), die dieses mehr oder weniger offen proklamierten. Hellhörig macht aber dieses Papier, weil es ein offiziell von der Bundesregierung verabschiedetes Papier ist und u.U. als »Versuchsballon« gestartet wurde, um die Reaktion der deutschen und internationalen Öffentlichkeit abschätzen zu können.

Soll die Forderung scheibchenweise salonfähig gemacht werden, ähnlich der »Salami«-Taktik, mit der auch die Akzeptanz von weltweiten Einsätzen der Bundeswehr so erfolgreich erschlichen worden ist?

Seit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Sitzblockaden Friedensbewegter, das zur Folge hat, daß Tausende damals Verurteilter wahrscheinlich nun amnestiert werden müssen, wissen wir doch aber jetzt, wie wir unseren Widerstand gegen gefährliche Tendenzen deutscher Außenpolitik, z.B. den Griff nach der Bombe, deutlich machen können.

Ihre Caroline Thomas

Nuklearwaffen ohne Zukunft?

Nuklearwaffen ohne Zukunft?

Zur Rolle der Nuklearwaffen nach dem Ende des Kalten Krieges

von Paul Schäfer

Die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist fast so alt wie die Atombombe. Nach dem Schrecken von Hiroshima und Nagasaki war das Bestreben, das Teufelszeug wieder loszuwerden, weit verbreitet. 1946 rief die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen dazu auf, die Atomwaffen zu beseitigen. Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages (Non-Proliferation Treaty) von 1968 fordert Verhandlungen über die allgemeine und vollständige (nukleare) Abrüstung. Doch die nukleare Waffenwelt wuchs und wuchs.

Die internationale Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre forderte eine radikale Abkehr vom Abschreckungsdenken und die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen. Als der Repräsentant der damaligen Supermacht UdSSR, Michael Gorbatschow, 1986 diese Vision aufgriff, schien die Tür für einen rigorosen Einschnitt in die Nuklearpotentiale geöffnet. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Weg endgültig frei, um schrittweise zu einer Welt ohne Kernwaffen zu gelangen.

Doch schon heute wissen wir, daß dieser Weg noch sehr lang sein wird. Sicher, es gab erste Erfolge. Das zwischen den USA und Rußland am 3.1.1993 vereinbarte Abkommen Start II wird die Nuklearwaffen beider Seiten bis zum Jahre 2003 – möglicherweise etwas früher – auf etwa ein Drittel des heutigen Bestandes reduzieren. Am Ende von Start II sollen beide Seiten nicht mehr als 3.000 bis 3.500 strategische Gefechtsköpfe auf ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM), seegestützten Waffen (SLBM) und schweren Bombern haben. Vor den Vereinbarungen über strategische Abrüstung stand das Abkommen über die Verschrottung der atomaren Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag). Diese Abrüstungsschritte wurden ergänzt durch einseitige, aber auf Gegenseitigkeit beruhende Maßnahmen im Bereich der taktischen Nuklearsprengköpfe. In Europa verbleiben allerdings 480 taktische Atomwaffen an Bord von US-Kampfflugzeugen, dazu kommen die Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs.

Diese Bilanz sagt allerdings wenig über den Abrüstungswillen der Atommächte aus, denn es gibt auch ganz andere Signale. So planen z.B. die USA ab 1996 den Bau einer neuen Tritium-Fabrik, obwohl ihre Vorräte weit ins nächste Jahrtausend hineinreichen. Die Atomwaffenbesitzer sträuben sich weiterhin grundsätzlich gegen die Einsicht, daß die vollständige nukleare Abrüstung das einzige probate Mittel gegen die weitere Verbreitung der Kernwaffen ist. Stattdessen entwickeln sie neue Abschreckungsdoktrinen gegen die »Länder des Südens«.

Die nukleare Welt am Ende des 20. Jahrhunderts

1. Die Atomwaffen-Besitzer halten an den Atomwaffen, dem „exklusivsten aller Machtattribute“ (M. Stürmer), fest. Ihre Kernwaffen-Bestände werden zwar verringert, aber deren Modernisierung geht weiter, d.h. eine qualitative Aufrüstung findet statt. Die Doktrin der Abschreckung wird unter neuen Vorzeichen – gegen Länder der »Dritten Welt« gerichtet – fortgeführt.

US-Präsident Clinton hat im Vorfeld der UN-Generalversammlung letzten Herbst eindeutig klargestellt, daß die USA keine neuen atomaren Abrüstungsinitiativen planen und sich weiteren Verringerungen widersetzen werden.1 Dies wird im übrigen auch durch die U.S. Defense Department Nuclear Posture Review (NPR) belegt, die von Clinton in Auftrag gegeben und am 22.9.1994 von Verteidigungsminister Perry vorgelegt wurde. Darin wird festgeschrieben, daß die U.S. strategic nuclear forces im Jahre 2003 aus 14 Trident-U-Booten, aus 450-500 Minuteman III-Interkontinentalraketen, 66 B-52H-Bombern und 20 B-2 Stealth-Bombern bestehen sollen. Die USA behalten sich eine sogenannte »Rekonstitutionsfähigkeit« vor, mit der die Zahl der Sprengköpfe auf den U-Booten und den Interkontinentalraketen rasch aufgestockt werden kann (uploading).

Für die US-Administration ist der Status der »einzig übriggebliebenen Weltmacht« untrennbar mit der führenden Position im militärischen Bereich – Nuklearwaffen eingeschlossen – verbunden. Daher steht für die Clinton-Regierung seither der Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf der weltpolitischen Agenda obenan.

Auch die Russische Föderation hat unter anderen Auspizien den Ehrgeiz, ihren besonderen Status zu verteidigen. Der ökonomische und politische Niedergang muß kompensiert werden. Hinzu kommen, wie ja auch in den USA, die handfesten Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. In ihrer neuen Militärdoktrin hat die russische Regierung weitgehend die Abschreckungsformeln der NATO übernommen und dabei sogar »fortschrittliche« Deklarationen der früheren Sowjetunion, wie der Erklärung eines Nicht-Ersteinsatzes (no first-use) der Atomwaffen, über Bord geworfen.

Präsident Jelzin hat aber auf der UN-Generalversammlung im Herbst `94 immerhin weitere Reduzierungen vorgeschlagen. Das Kalkül für die weiteren Abrüstungsvorschläge liegt auf der Hand: Die Start-II-Regelung ist für die Russische Föderation zu teuer. Der russischen Seite wird – wenn sie nicht eine deutliche Unterlegenheit in Kauf nehmen will – eine aufwendige Umrüstung abverlangt, wenn sie sich auf diesem, dann immer noch sehr hohen Rüstungsniveau mit den USA messen will. Diese Umrüstung ist nicht so ohne weiteres unter den finanziellen Problemen zu bewerkstelligen (Verlagerung auf seegestützte Trägermittel!). Weitere Abrüstungsmaßnahmen wären billiger.

Großbritannien und Frankreich führen in diesem Jahrzehnt umfangreiche Modernisierungen ihrer Arsenale durch, an denen keine Abstriche gemacht werden. Lediglich deren Umfang wird eher moderat reduziert. Frankreich hat zudem die am meisten umstrittene Kurzstreckenrakete HADES außer Dienst gestellt. Nach der Dislozierung neuer U-Boote verlagert sich die Planung der Franzosen und Briten auf die Modernisierung des taktischen Atomwaffenpotentials. Priorität hat dabei die Entwicklung nuklearer Abstandswaffen für Jagdbomber.

Der Atomwaffenbesitz wirft offenkundig immer noch einen Abglanz früherer Größe auf diese Kolonialmächte, den man nicht missen möchte. Und dann gibt es immer noch die exklusive Rolle im UNO-Sicherheitsrat, die elementar mit dem Status als Atommacht zusammenhängt. Nicht zu unrecht wird darüber hinaus mit großem Argwohn die nicht unbeträchtliche Kräfteverschiebung seit 1989 zugunsten des »wiedervereinigten« Deutschland beobachtet. Die Briten müssen zudem feststellen, daß ihre »special partnership« mit den USA ausgehöhlt und durch die neuen »partners in leadership« Bonn-Washington ersetzt wird.

Briten und Franzosen sehen sich auch mit der neuen Situation konfrontiert, was aus ihren Potentialen im Rahmen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union wird. Um die alleinige Verfügungsgewalt über die nationalen Atomwaffen beibehalten zu können, rücken sie derzeit näher zusammen. Sie haben eine Gemeinsame Kommission gebildet, die sich allen Fragen der Atompolitik und -doktrin widmen soll.2

Für das Militärbündnis NATO schließlich gilt: Die alten Formeln der Abschreckungsdoktrin werden auch nach dem Ende des Kalten Krieges von NATO-Dokument zu NATO-Dokument gebetsmühlenartig wiederholt. So lesen wir: „In diesem Zusammenhang unterstreichen wir den essentiellen Wert des Erhalts breit dislozierter substrategischer nuklearer Kräfte der NATO durch die Vereinigten Staaten und europäische Bündnispartner. Diese Kräfte, die integraler Bestandteil des nuklearen Dispositivs der NATO sind, stellen ein wesentliches Element der transatlantischen Bindung dar.“ 3

China läßt an seinem Nuklearwaffenstatus auch nicht rütteln. Gegenwärtig werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um das bestehende Potential qualitativ zu modernisieren. Die Kernwaffenversuche der letzten Jahre verdeutlichen, daß China heftig an der Modernisierung seiner Atomsprengköpfe arbeitet. Die VR China dürfte dabei vom Zerfall der UdSSR profitieren: Russische bzw. ukrainische Technologie und Experten werden eingekauft. Hinzu kommt, daß dank der mäßigenden Rolle Chinas auf Nordkorea die USA die Exportbeschränkungen im Hochtechnologiebereich jüngst aufgehoben haben. China verfügt bisher mit ca. 250 strategischen Sprengköpfen über ein vergleichsweise bescheidenes Arsenal.

Die chinesische Regierung erklärt, daß sie zu umfassender nuklearer Abrüstung bereit sei. Ihr Außenminister hat vor den Vereinten Nationen im September 1994 eine Reihe von Vorschlägen zur nuklearen Abrüstung gemacht: Dies reicht von einer »no-first-use«-Politik, über die Einstellung der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen bis zu einer Konvention über ein allgemeines Verbot der Atomwaffen. Doch einseitige Schritte werden kategorisch ausgeschlossen – solange die nukleare Vormacht der USA und Rußlands bestehenbleibt. In Zukunft könnte eine negative Entwicklung dadurch eintreten, daß die USA und andere Staaten Raketenabwehrsysteme entwickeln und stationieren. Die VR China würde sich gedrängt fühlen, ihr bestehendes Nuklear-Potential erheblich aufzustocken.

2. Der de-facto-Atomwaffenstaat Israel und die potentiellen Atomwaffenstaaten Pakistan und Indien denken gar nicht daran, von ihren Atomprogrammen abzurücken. Auch ein Beitritt zum NPT wird rigoros ausgeschlossen. Damit bleiben Massenvernichtungswaffen Instrumente im Kampf um regionale Vorherrschaft in Nah- und Fernost.

Zur nationalen Sicherheitsdoktrin Israels gehören nukleare Abschreckungswaffen, da man sich – ja nicht zu Unrecht – als bedrohte Insel in einem Meer von Feinden sieht. Israel kann jährlich 40 Kilogramm Plutonium herstellen (reicht für zehn Atombomben), soll bereits im Besitz von 70 Atombomben sein, verfügt über zwei Raketensysteme (Jericho 1 u. 2) mit Reichweiten zwischen 500 und 1.500 Kilometern und über Weltraumsatelliten.4 Der Angriff der Bomberstaffel auf den irakischen Nuklearreaktor Osirak 1981 hat klargemacht, daß Israel diese Monopolstellung mit Gewalt behaupten will.

Indien mißt sich weltpolitisch an China und strebt einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat an. Der Status eines de-facto-Atomwaffenlandes scheint dabei unverzichtbar. Pakistan fühlt sich traditionell durch Indien bedroht und glaubt, nur Kernwaffen könnten die nötige Sicherheit bieten.

Das indische Atomwaffenprogramm geht auf die 60er Jahre zurück. Es begann unmittelbar, nachdem China seine erste Atombombe gezündet hatte. Indien dürfte nach Expertenschätzungen bis Ende 1995 ungefähr 425 Kilogramm waffengrädiges Plutonium angesammelt haben, wobei unklar ist, ob das aus dem einen der beiden Forschungsreaktoren gewonnene Material tatsächlich waffentauglich ist. Damit stünde eine Menge zur Verfügung, die für 32 bis 70 Bomben reichen dürfte. Mittels einer Gaszentrifugenanlage kann außerdem hoch angereichertes Uran erzeugt werden. Ebenfalls wird angenommen, daß Neu-Delhi inzwischen die benötigten Zündvorrichtungen bauen kann. Mit den MIG 23 und MIG 27 stehen auch Transportkapazitäten zur Verfügung.

Seit den frühen siebziger Jahren arbeitet man auch in Pakistan an Nuklearwaffen und hat mit deutscher, amerikanischer und chinesischer Hilfe inzwischen ein beachtliches Level erreicht. Dies gilt v.a. für die Urananreicherungsanlage in Kahuta, die wahrscheinlich jährlich 45 bis 75 Kilogramm waffenfähiges Uran produziert. Die USA haben mit starkem Druck erreicht, daß die Volksrepublik China ihre Unterstützung weiter drosselt. Immerhin soll Pakistan von China eine »Kopie« eines Atomwaffendesigns erhalten haben und wäre demzufolge auch in der Lage, die Bombe zu bauen. Über Trägertechnologien verfügt das Land ohnehin: Von den USA gelieferte F-16-Bomber könnten dafür umgerüstet werden. 1989 testete Pakistan zwei Kurzstreckenraketen, die offensichtlich mit französischer Hilfe entwickelt worden waren.5

3. Die Herausbildung neuer Kernwaffenstaaten in der »Dritten Welt« ist auf längere Sicht nicht auszuschließen. Damit wäre das Ende eines rüstungskontrollpolitisch wichtigen Abkommens, des Atomwaffensperrvertrages, besiegelt.

Die düsteren Prognosen über Mächte, die sich Massenvernichtungswaffen zulegen könnten, sind skeptisch zu betrachten. Die »verbreitungspolitische« Lage in Lateinamerika, in Afrika und auf der koreanischen Halbinsel hat sich in jüngster Zeit entspannt: Brasilien und Argentinien sind dem NPT beigetreten, ihre hegemonialen Rivalitäten scheinen gezügelt; Südafrika hat sein A-Waffenprogramm beendet; im Rahmenabkommen mit den USA vom vergangenen November hat Nordkorea unterschrieben, auf die Wiederaufarbeitung und andere proliferationsträchtige Technologien verzichten zu wollen. Ob dies das letzte Wort bleibt, sei allerdings dahingestellt.6

Algerien, Libyen und Ägypten verfügen zwar über gewisse technologische Möglichkeiten, aber es erscheint unwahrscheinlich, daß sie in absehbarer Zeit in der Lage sind, Atomwaffen und passende Trägersysteme zu produzieren. Nicht vergessen werden sollte, daß auch Südkorea und Taiwan über erhebliche Kapazitäten und Fertigkeiten auf dem Nuklearsektor verfügen. Es wird von der weiteren politischen Entwicklung in Südostasien abhängen, ob daraus neue Verbreitungsgefahren erwachsen.

Die nuklearen Fähigkeiten des Iran werden als gering, seine Ambitionen allerdings als groß eingeschätzt. Mit US-amerikanischer, deutscher und französischer Hilfe wurde bereits unter dem Schahregime in den 70er Jahren mit dem Bau von Atomreaktoren und Kernforschungsanlagen begonnen. Die Revolution 1979 brachte zunächst einen gravierenden Einschnitt. Das Mullah-Regime geriet in die internationale Isolierung, ein Teil der Wissenschaftler und Techniker verließ das Land. Später wurde ein Großteil der nationalen Ressourcen durch den Krieg mit dem Irak gebunden.

Seit Ende der 80er Jahre hat die Islamische Republik Iran den alten Faden wiederaufgenommen und verfolgt ein ehrgeiziges Atomprogramm.7 Allein 1993 soll Teheran mehr als 15 Mrd. Dollar für seine nuklearen Beschaffungen ausgegeben haben.8 Eine Zusammenarbeit mit China, Pakistan und Indien wurde aufgenommen. Jetzt ist auch Rußland im Geschäft: Moskau hat die Lieferung von Reaktoren im Wert von 800 Mio. Dollar zugesagt, um das unvollendete und im irakisch-iranischen Krieg zwischen 1984 und 1988 zerstörte Kernkraftwerk Buschihr in vier Jahren zu Ende bauen zu können. Hinzu kommt, daß die Kohl-Regierung in Bonn erklärt hat, die Exportgenehmigung für das in Hanau einlagernde Nuklearmaterial für den Iran demnächst erteilen zu wollen.9

Soviel scheint plausibel: Die Bekundungen des Iran, Atomenergie nur zu zivilen Zwecken nutzen zu wollen, sind wenig glaubhaft. Die Energieprobleme des Landes sind angesichts der Erdöl- und v.a. Erdgasvorräte auf lange Sicht lösbar. Warum aber sollte der Iran nach der Atombombe greifen? Der Iran fühlt sich regional bedroht durch Israel und dessen nukleare Kapazitäten, durch den Irak, aber vor allem durch die seit dem letzten Golfkrieg immens verstärkte Präsenz der USA. Die Beispiele Irak, Libyen, Haiti, Nordkorea werden in Teheran so wahrgenommen, daß man dem »Teufel« in Washington nur widerstehen könne, wenn man selber Drohmittel in der Hand hat. „Unter diesen Umständen könnte eine nukleare Fähigkeit als der einzige Garant der hochgeschätzten nationalen Unabhängigkeit, oder zugespitzt, des Überlebens, angesehen werden.“ 10 Das Kalkül wäre recht einfach: Von der Annahme ausgehend, daß Kernwaffen Vorsicht und Zurückhaltung bewirken, weil ein großer militärischer Zusammenprall befürchtet wird, könnten Kernwaffen – allein durch ihre Existenz – von Interventionen, Strafaktionen und Einschüchterungsversuchen der USA abschrecken.11

Die Islamische Republik könnte sich auf verschiedenen Wegen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen. Die Zusammenarbeit mit Nordkorea bei den Trägertechnologien zeigt, wie es gehen könnte. Der Iran finanziert gegenwärtig die Entwicklung der Nodong 2-Rakete, die über eine Reichweite von 1.300 km verfügen soll. 150 Exemplare dieser Rakete will Teheran angeblich bestellen.

Noch aber scheint es so zu sein, daß die Islamische Republik eine endgültige Entscheidung über die Beschaffung von Atomwaffen nicht getroffen hat. Mit dem gegenwärtigen Atomprogramm werden aber die Voraussetzungen für die »nukleare Option« geschaffen.

4. Die Umbrüche seit 1989 haben bei den »latenten Atomwaffen-Staaten« Japan und v.a. der Bundesrepublik Deutschland neue machtpolitische Ambitionen geweckt. Beide wollen Ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates werden. Sie halten sich die nukleare Optionen offen.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr General Klaus Naumann erkärt: Deutschland sei „nicht mehr im Maschinenraum des Dampfers UN, KSZE, NATO, EU usw., sondern auf der Brücke.“ 12 Erstmals seit Richelieus Tagen sei Deutschland wirklich souverän und könne sein Umfeld weit über Europa hinaus mitgestalten.13 Das Schäuble/Lamers-Papier „Überlegungen zur europäischen Politik“ hat verdeutlicht, daß man in Verbindung mit Frankreich in Europa eine dominante Rolle spielen will. Gestützt auf diese Machtposition drängt die Bundesregierung in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, denn „dort spielt die Musik“ (Außenminister Kinkel). Welche Rolle könnte in diesem Kontext der Verfügung über Atomwaffen zukommen? Reicht nicht die ökonomische und politische Macht der Bundesrepublik aus, um das Ziel, im Konzert der Großen gleichberechtigt mitzuspielen, zu erreichen? Oder noch schärfer: Ist die BRD nicht besonders gut damit gefahren, als Nicht-Kernwaffenstaat aufzutreten? Warum sollte sie jetzt diesen Status aufgeben?

Festzuhalten ist:

<>a. Die Bundesrepublik Deutschland <>kann als latente Atommacht bezeichnet werden.14 Allein im sog. »Bundeslager« in Hanau lagern 2 t Plutonium – der Stoff für nukleare Alpträume ist reichlich vorhanden.15 Am technischen Know-how und der industriellen Basis dürfte es auch nicht fehlen. Schließlich hat die Bundeswehr in Gestalt der Tornado-Flugzeuge geeignete Trägermittel. Allzulange würde die Bundesrepublik nicht brauchen, um von einer potentiellen zu einer faktischen Atommacht zu werden.

b. Deutschland hat sich zuletzt in den 2+4-Vereinbarungen völkerrechtlich verpflichtet, Massenvernichtungswaffen nicht zu entwickeln, zu produzieren oder zu erwerben. Es ist Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrages. Es dürfte verdammt schwer sein, sich aus diesen Verpflichtungen herauszuwinden.

Allerdings hat die Bundesregierung den NPT-Vertrag nur mit Vorbehalten unterschrieben. Der gewichtigste: Der Atomwaffenverzicht könnte bei einer Einigung Europas hinfällig werden. Die Bundesregierung hat es im unklaren gelassen, ob dieser Vorbehalt noch gültig ist. Sie hält sich ein Hintertürchen offen.

Damit ist die Richtung angedeutet, in der der einseitige Atomwaffenverzicht »aufgeweicht« werden könnte: durch bi- oder multilaterale Kooperation. „Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen die nuklearen Waffen einbezogen werden, und wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist, dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen, (…).“ 16 Es ist nicht allzuweit hergeholt, wenn man annimmt, daß Teile des herrschenden Blocks jetzt ungeduldig auf den Zugriff auf die Atomwaffen unserer Nachbarn warten (siehe hierzu den Beitrag von D. Deiseroth in dieser Ausgabe).

Erst in jüngerer Zeit hat eine Formulierung in der „Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr“ Aufsehen erregt, in der die Aufgaben der künftigen Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr festgelegt wurden. Für Einsätze der KRK sind dabei u.a. vorgesehen, „in der Luftwaffe sechs fliegende Staffeln für Luftangriff, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe.“ 17 Das Verteidigungsministerium bagatellisierte nach öffentlichen Protesten. Von einer nuklearen Einsatzplanung für diese Luftwaffen-Verbände könne keine Rede sein. Aber die Sache ist damit nicht aus der Welt. Zumindest zeigt sie schlaglichtartig, welche Bedeutung die Bundeswehr der nuklearen Teilhabe zumißt.

Hellhörig muß auch machen, daß sich aus der »Elite« der außenpolitischen Politikberater jüngst Stimmen zu Wort gemeldet haben, die ebenfalls die Frage nuklearer Mitverfügung zum Thema gemacht haben. Sie bleiben gewohnt kryptisch. Uwe Nerlich will im Rahmen der gemeinsamen europäischen Verteidigung neue »Obligationen« für Nuklearwaffenstaaten (NWS) erreichen. Es soll »neuartige Konsultationen« zwischen NWS und NNWS geben.18 Vielleicht ist es erhellend, daß derselbe Autor an anderer Stelle über Konfliktszenarien der Zukunft schreibt, „… daß bei künftigen Bedrohungen mit nuklearen oder anderen MVW (Massenvernichtungswaffen) konventionelle Reaktionen in den meisten Eventualfällen nicht ausreichen, also die Möglichkeit direkter nichtkonventioneller Reaktionen in Aussicht genommen werden muß.“ 19

Auch die Proliferationsexperten Häckel und Kaiser haben von den Briten und Franzosen „die Bereitschaft zur weitgehenden Europäisierung der Funktion ihrer Kernwaffen“ gefordert.20 Sie schlagen eine europäische nukleare Planungsgruppe, die die Einsatzoptionen definiert, und eine Entscheidungsstruktur mit europäischer politischer Spitze, die ein Vetorecht Frankreichs und Großbritanniens erhalten kann, vor.21

Die Frage bleibt, welche Motive die politische Klasse dieses Landes dazu treiben könnten, auf die nukleare Karte zu setzen. Sicher, die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sind heute ausschließlich Nuklearmächte. Aber das kann und soll sich ja ändern. Die Bundesregierung hat einen Preis für den Eintritt in dies erlauchte Gremium bereits entrichtet: Die Erlangung von Kriegführungsfähigkeit. Die ganzen Entwicklungen um die Bundeswehreinsätze »out-of-area« (die in dem BVerfG-Urteil kulminierten) hatten ja auch den offen ausgesprochenen Hintersinn, den Beweis für die »nötige Reife« des geeinten Detuschland zu erbringen. Eine Verfügung über Atomwaffen wäre im Moment allerdings kontraproduktiv. Der besondere Appeal der BRD gegenüber den sog. Dritte-Welt-Staaten ist immer noch ihr Status als Nicht-Kernwaffenstaat (dies gilt gleichermaßen für Japan). Nur so kann sie darauf hoffen, die nötige Unterstützung bei den Ländern der »Dritten Welt« für ihr Ansinnen zu bekommen, in den Sicherheitsrat aufgenommen zu werden.

Mehr spricht für die Annahme, daß das Problem erst richtig anfängt, wenn die Bundesrepublik ihren Sitz im Sicherheitsrat erreicht hat. Wird damit nicht der Hunger nach größerer Macht, nach der Beseitigung jeglicher Statusdifferenzierung, völliger Gleichberechtigung also, geweckt werden?

Oder aber, was ist, wenn sie diesen Sitz dauerhaft verweigert bekommt? Wird die Bundesrepublik nicht dann dem Beispiel Chinas folgen, das 1969 erstmals eine Atombombe testete und 1971 in den Sicherheitsrat aufgenommen wurde?

Die Fragen zeigen nur, daß keinerlei Grund zur Beruhigung besteht. Die Entscheidung über eine deutsche Atomwaffenoption steht heute nicht auf der Tagesordnung. Aber vielleicht morgen.

Kernwaffen und Counter-Proliferation: Militärpolitische Implikationen

Mit dem Ende der vielbeschworenen »Konfrontationsära« schien auch ein tiefgreifender Paradigmenwechsel in der internationalen Politik fällig: Beendigung des Rüstungswettlaufs, Zusammenarbeit Ost und West, Nord und Süd bei der Lösung der globalen Probleme. Doch für maßgebliche Teile der sog. strategic community scheint das Denken in den Konfrontationskategorien des Kalten Krieges zur zweiten Natur geworden zu sein. Die militärnahen Denkfabriken v.a. in den USA, die führenden Militärs und Sicherheitspolitiker haben neue Bedrohungen entdeckt, gegen die sich das westliche Bündnis wappnen müsse. Im Zentrum stehe dabei die drohende Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, der mit einer Strategie der Counter-Proliferation begegnet werden müsse. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme. Sie sollen in regionalen Kriegen (Theater Missile Defense) eingesetzt werden und die eigenen Truppen unangreifbarer machen. Aber es geht auch um neue nukleare Einsatzoptionen.

In den USA wurden die Vorarbeiten dazu zwischen 1991 und 1993 geleistet. Eine deterrence study group unter dem Luftwaffenkommandeur Thomas Reed legte erste Ergebnisse 1992 vor (Reed-Panel 1992) 22, die US-Marine verabschiedete im Dezember 1992 den STRATPLAN 201023; im April 1993 einigten sich die Joint Chiefs of Staff auf eine gemeinsame Nukleardoktrin, die »Doctrine for Joint Nuclear Operations«24. Die erste praktische Konsequenz: 1993 bildeten Navy und Air Force erstmals seit 1947 ein gemeinsames Kommando STRATCOM, das die nukleare Einsatz- und Zielplanung auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen sollte.25 Die Clinton-Regierung bestätigte in einer Bottom-Up Review vom Oktober 1993 diese Neuorientierung und billigte, daß Verteidigungsminister Les Aspin die Defence Counterproliferation Initiative (DCI) einleitete. Les Aspin versuchte auch unverzüglich, diese Initiative den NATO-Partnern schmackhaft zu machen. In einem Report an den Kongreß vom Mai 1994 legte Staatssekretär John Deutch im einzelnen dar, welche Schlußfolgerungen für Forschung & Entwicklung, für künftige Beschaffungen und Militärplanungen zu ziehen seien.26 Deutch forderte die Bereitstellung von zusätzlichen 400 Mio. $ pro Jahr für die DCI.

Die »Doctrine for Joint Nuclear Operations« (JCS-Doktrin) wiederholt weitgehend die eingestanzten Formeln der US-Abschreckungsdoktrin: Zu einer glaubwürdigen und durchsetzungsfähigen atomaren Abschreckung gehörten ein ausgewogenes Mix zwischen hochwirksamen konventionellen und nuklearen Waffen, ein breites Einsatzspektrum auch für die Atomwaffen, mit dem alle Konfliktvarianten abgedeckt werden können. „From a massive exchange of nuclear weapons to limited use on a regional battlefield, US nuclear capabilities must confront an enemy with risks of unacceptable damage and disproportionate loss should the enemy choose to introduce WMD (wepaons of mass destruction) in a conflict.“ 27 Sicherung der sog. Eskalationsdominanz – auf jeder Stufe des »Konflikts« – müssen dem Gegner die Bedingungen diktiert werden können.

Neu an der JCS-Doktrin ist allerdings das Gewicht, das der Nuklearstreitmacht für künftige regionale Konflikte zugemessen wird. Die Kernwaffen sollen den potentiellen Gegner davon abhalten, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Und, falls die Abschreckung versagt, soll eine adäquate Vergeltung gewährleistet sein. Darüber hinaus sollen US-Kernwaffen auch als Abschreckungsmittel gegen konventionelle Bedrohungen eingesetzt werden! Daher der Schluß: „A selective capability of being able to use lower-yield weapons in retaliation, … is a useful alternative for the US National Command Authorities (NCA).“ 28

Die neue Counter-Proliferation-Doktrin verwischt die Trennlinie zwischen strategischen und taktischen Nuklearwaffen weitgehend. Auch der erwähnte Reed-Report schreibt, „daß die Trennung zwischen strategischen und taktischen, nuklearen Gefechtsfeldwaffen zusehends schwächer wird“.29

Die Implikationen dieser neuen Nukleardoktrin sind in doppelter Hinsicht weitreichend:

a. die nuklearen Dispositive und Einsatzpläne der »regionalen Kommandozentralen« der USA – also z.B. des SACEUR in Europa – werden geprüft und verändert. Neue nichtstrategische Atomwaffen für das »Gefechtsfeld« sollen eingesetzt werden.

b. die Entwicklung und Beschaffung neuer Atomsprengköpfe soll auf den Weg gebracht werden. Zwar hat der Kongreß 1993 die F&E-Pläne der Militärs empfindlich eingeengt (man habe genügend moderne Sprengköpfe, wurde gesagt), aber dennoch wurden einige Schlupflöcher gelassen. So sind in den Etats 1994 und 1995 Mittel für die Erforschung eines neuen High Power Radio Frequency (HPRF)-Sprengkopfes eingestellt, mit dem man elektronische Einrichtungen des Gegners zerstören will.30

Die stattfindende Umorientierung hat ihren Preis. Das Pentagon hat in seinem Etat für 1995 ca. 3 Milliarden Dollar für Counter-Proliferation eingestellt.31 Nach wie vor wird – trotz des Rahmenabkommens mit Nordkorea – ein 8 Mrd. teures Raketenabwehrsystem für Japan geplant. Die amerikanisch-europäische Kooperation zur Weiterentwicklung der THAAD-Rakete macht Fortschritte. Die Rüstungsdirektoren aus den USA, Deutschland, Frankreich und Italien haben jetzt vereinbart, gemeinsam ein Raketenabwehrsystem MEADS (Medium Extended Air Defense System) zu entwickeln, das im Jahre 2005 in Dienst gestellt werden soll.32

Militärische Planung und Außenpolitik sind nicht dasselbe. Zwischen State Department und Pentagon besteht nicht unbedingt volle Übereinstimmung, wie die Gefahr der Proliferation einzuschätzen und wie ihr am besten zu begegnen ist. Soll die traditionelle Politik vorbeugender Diplomatie fortgesetzt und nur durch »moderate« Rüstungsmaßnahmen ergänzt oder durch eine harte, militärisch orientierte Abschreckungspolitik verdrängt werden. Auch die außenpolitischen »think tanks« streiten sich noch, ob man die weitere Proliferation noch verhindern kann oder sich – gleichsam fatalistisch – auf eine gefährliche Ausbreitung einstellen muß.33 Es ist bisher nur eine kleine Minderheit, die eine radikale Lösung des Proliferationsproblems in der globalen nuklearen Abrüstung sieht.

Die Waage zwischen den vorherrschenden Lagern, die beide die atomare Abschreckung nicht in Frage stellen, aber neigt sich mehr und mehr zur Seite der »Hardliner«. Der überwältigende Wahlsieg der Republikaner im November 1994 hat diesen Trend verstärkt.

Noch sind die vom State Department gesetzten Akzente prägend: Die komplizierte Nuklearabrüstung in Rußland und der Ukraine wird mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützt. Die Ukraine konnte dadurch dazu gebracht werden, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Auch im Streit mit Nordkorea setzte die Clinton-Regierung auf Diplomatie und wirtschaftliche Hilfe. Verteidigungsminister Perry, der in Südkorea wieder Atomraketen stationieren wollte, wurde zurückgepfiffen. Die Frage ist: Wie lange noch?

Entwertung der Kernwaffen?

Kritische Autoren haben viel darüber geschrieben, daß nach dem Ende der »Konfrontationsära« die Atomwaffen zunehmend entfunktionalisiert und entwertet würden. Die Kernwaffen seien keine Gefechtsfeldwaffen und würden daher in der heutigen Welt bestenfalls zur Minimalabschreckung gebraucht. An den Protagonisten des Nuklearkomplexes ist diese Kritik an der Abschreckungsdoktrin jedoch vorbeigegangen. Die Debatten um die Verwundbarkeit der modernen Zivilisation (nuklearer Winter!) haben nur zu vermehrten Anstrengungen geführt, solche ausgeklügelten Waffen zu entwickeln, mit denen die sog. Kollateralschäden (Umwelt, Zivilbevölkerung, Infrastruktur) minimiert werden können.

Die neue US-amerikanische Eindämmungspolitik glaubt, noch unverdrossener auf Kernwaffen setzen zu können. Zum einen wegen der technischen Entwicklung kleinerer, aber noch wirkungsvollerer Sprengköpfe. Zum anderen wegen der drückenden Überlegenheit, die das Problem der Selbstabschreckung reduziert. Damit scheint ein Problem gelöst, daß die Nuklearstrategen seit Mitte der 50er Jahre beschäftigt hat: Wie können Atomwaffen unter dem Vorzeichen der gegenseitigen Vernichtungsdrohung (mutual assured destruction) noch politisch instrumentiert werden? Wenn die Zerstörungspotentiale die militärischen Handlungsmöglichkeiten der Kontrahenten paralysieren, wie soll militärische Macht noch in politische Macht umgesetzt werden? Die Antwort war seit der Veröffentlichung von Henry Kissingers Klassiker „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ immer diesselbe: Gestützt auf technologische Druchbrüche bei der Waffenentwicklung und kombiniert mit »geschickter« Diplomatie sollten Kernwaffen auch für begrenzte Kriege nutzbar gemacht werden.34 Verteidigungsminister Schlesinger verkündete 1974 eine Doktrin, die »selektive Einsatzoptionen« für Atomwaffen in begrenzten Konflikten vorsah. Die mit Pershing 2 und Marschflugkörpern aufkommenden Phantasien von der möglichen »Enthauptung« des Gegners waren nur die zugespitzteste Form dieser Strategien. Die Studie »Discriminate Deterrence« knüpfte ebenfalls an Überlegungen an, einen militärischen Sieg mit gezieltem Einsatz der Kernwaffen erreichen zu können, ohne zugleich den großen, alles vernichtenden Knall auszulösen.

Zu den Risiken dieser Nuklearstrategie gehörte immer der Aspekt der Selbstabschreckung. Läßt sich tatsächlich eine uferlose Eskalation in einem Konflikt, in dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, vermeiden? Das Kalkül der Militärs: Die erdrückende Übermacht der bestehenden Atommächte über potentielle Gegner in der »Dritten Welt« wird schon ausreichen, um die andere Seite vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abzuhalten. Falls dies nicht gelingt, wird ein »begrenzter nuklearer Gegenschlag« den Gegner rasch zur Kapitulation nötigen.

Aber hat nicht der Golfkrieg gezeigt, daß für die Niederhaltung unbotmäßiger Regime Atomwaffen völlig überflüssig sind? Sollte diese Erkenntnis nicht ausreichen, um alle Seiten davon zu überzeugen, daß die Atombombe heute obsolet ist? Erinnert sei nur an die aufschlußreiche Antwort eines indischen Generals, der auf die Frage nach den Schlüssen, die aus diesem Krieg zu ziehen seien, antwortete: Man dürfe sich nicht mit Amerika anlegen, wenn man nicht Atomwaffen besitze. Gerade die konventionelle Überlegenheit der hochindustrialisierten Länder scheint den underdogs nahezulegen, sich durch den Erwerb von Massenvernichtungswaffen wenigstens ein »bescheidenes« Drohpotential zu verschaffen. So dreht sich die Rüstungsspirale immer weiter und die Atombombe bleibt begehrt.

Die oben aufgeführten Beispiele zeigen auch, daß Massenvernichtungswaffen bei der Konkurrenz um regionale Vormachtstellungen eine erhebliche Rolle spielen. Solche hegemonialen Konflikte werden künftig zunehmen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie aktuell und dringend die Forderung nach einer völligen Ächtung der Massenvernichtungswaffen ist.

Anmerkungen

1) IAP-Dienst Sicherheitspolitik, 21/94, S. 3. Zurück

2) France, Britain Pursue Nuclear Ties, in: Defense News Zurück

3) Kommunique der Ministertagung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe am 14./15.12.1994. Zurück

4) Juliane Just, Atombomben aus Israels Negev-Wüste, in: Neues Deutschland, 20.2.1995, S. 7. Zurück

5) S. dazu: David Albright, India and Pakistan`s Nuclear Arms Race: Out of the Closet, but not in the Street, in: Arms Control Today, June 1993, pp. 12-16. Zurück

6) Vgl. J. Scheffran, M. Kalinowski, P. Schäfer, Nordkoreas Nuklearprogramm und die Strategie der Counterproliferation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/94, S. 834 ff. Zurück

7) S. dazu: Iran`s Nuclear Activities and the Congressional Response, Congressional Research Service, May 20, 1992. Zurück

8) Institut für strategische Analysen, Die nuklearen Beschaffungsmaßnahmen des Iran, Kurzberichte Nr. 7/94. Zurück

9) Winfried Wolf, Wege zu Massenvernichtungswaffen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/95. Zurück

10) Shahram Chubin, Does Iran want Nuclear Weapons? In: Survival, vol. 37, no 1, Spring 1995, p. 90. Zurück

11) a.a.O. p. 97. Zurück

12) Klaus Naumann, Bundeswehr vor neuen Herausforderungen, in: Soldat und Technik 1/1995, S. 9. Zurück

13) Ders., Sicherheit in Europa – Konsequenzen für die Bundeswehr, in: Europäische Sicherheit 1/95, S. 8. Zurück

14) Matthias Küntzel, Die Stellung der BRD im System der nuklearen Nonproliferation: antimilitarismus information, 12/94, S. 59 ff. Zurück

15) Japan ist drauf und dran, hier die Bundesrepublik in den Schatten zu stellen. Nach heutigen Planungen wird Japan im Jahre 2020 einen solchen Vorrat an Plutonium gehortet haben, der die Gesamtmenge des militärischen Plutoniums übertrifft, welches die beiden Supermächte jemals für Waffen produziert haben. Siehe: Die ZEIT, Nr. 19, vom 7.5.1993, S. 26. Zurück

16) Karl Lamers, im Hessischen Rundfunk, 10. März 1991. Zurück

17) BMVg., Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr vom 12. Juli 1994. S. auch den Beitrag von Dieter Deiseroth in diesem Heft. Zurück

18) Uwe Nerlich, Überlegungen zur Neuordnung der euro-amerikanischen Verteidigung im Rahmen der NATO: Einige Voraussetzungen und Optionen. Ebenhausen 1994, S. 47/48. Zurück

19) Ders., Militärisch relevante Gefahren in künftigen Konstellationen, in: W. Heydrich/J. Krause/U. Nerlich/J. Nötzold/R. Rummel (Hrsg.): Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken, Instrumente, Baden-Baden 1992. Man beachte die Spitzenleistung verschleiernder Sprache: Der Atomkrieg heißt jetzt »nichtkonventionelle Reaktionen«. Zurück

20) Erwin Häckel/Karl Kaiser, Kernwaffenbesitz und Kernwaffenabrüstung: Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa? in: Joachim Krause (Hrsg.), Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden-Baden, 1994, S. 260. Zurück

21) An dieser Stelle soll nicht näher auf die Studie »The role and future of nuclear weapons in Europe«, Assembly of Western European Union, Doc. 1420, 19.5.1994, eingegangen werden, die im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung der WEU von Mr. Decker erstellt wurde. Der Report zeigt nur, daß es innerhalb der WEU Überlegungen gibt, die in die gleiche Richtung zielen. Eine koordinierte WEU-Politik wird daraus noch lange nicht. Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, die am 2. März 1994 im WEU-Hauptquartier in Brüssel weilten, wurde mitgeteilt, daß es keinerlei Überlegungen zur Nuklearfrage gäbe. Zurück

22) Thomas C. Reed and Michael O. Wheeler, The Role of Nuclear Weapons in the New World Order, 13. January 1994. Zurück

23) STRATPLAN 2010, Final Report, Office of the Deputy Chief of Naval Operations for Plans, Policy and Operations, June 1992. Zurück

24) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29.4.1993. Zurück

25) Hans Kristensen, Joshua Handler, Changing Targets: Nuclear Doctrine from the Cold War to the Third World, Paper von Greenpeace International, 26.1. 1995. Zurück

26) Pete V. Domenici, Countering Weapons of Mass Destruction, in: The Washington Quarterly, Winter 1995, pp. 145-152. Zurück

27) JCS, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29. April 1993, I-2. Zurück

28) a.a.O., I-3. Zurück

29) Thomas C. Reed and Michael Wheeler, a.a.O., p. 33. Zurück

30) Hans Kristensen and Joshua Handler, a.a.O., p. 13/14; s.o. den Hinweis auf die mini-nukes im Beitrag von Wolfgang Liebert im gleichen Heft. Zurück

31) a.a.O., p. 79. Zurück

32) FAZ vom 22.2.1995. Zurück

33) Leonard S. Spector, Neo-Nonproliferation, in: Survival, vol, no. 1, Spring 1955, pp. 66-85. Zurück

34) Henry Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, München 1959. Zurück

Paul Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz (PDS).

Der deutsche Atomwaffenverzicht

Der deutsche Atomwaffenverzicht

Der Traum einer »nuklearen Teilhabe« wird trotzdem geträumt

von Dieter Deiseroth

Die Bundesrepublik Deutschland hat – wie eine Vielzahl anderer Staaten – auf Atomwaffen verzichtet. Seit ihrem am 2. Mai 1975 wirksam gewordenen Beitritt zum »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen« (im folgenden: NVV) ist sie wie jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet, „Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen“ (Art. II NVV).

Dieser Atomwaffenverzicht geht weiter als die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1954/55 im Rahmen der sog. Pariser Verträge eingegangene völkerrechtliche Verpflichtung, „Atomwaffen, chemische und biologische Waffen im ihrem Gebiet nicht herzustellen“. Im sogenannten 2+4-Vertrag vom 12. September 19901 hat die BRD ihren sich aus dem NVV ergebenden völkerrechtlich wirksamen Verzicht „auf die Herstellung und den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie auf die Verfügungsgewalt über sie“ bekräftigt und erklärt, „daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird“. Daraus wird oft fälschlich geschlossen, die „Atomwaffenfrage“ sei für Deutschland kein Thema mehr.

Die fünf neuen Bundesländer und Berlin sind atomwaffenfrei. Dies ist eines der positiven Ergebnisse des 2+4-Vertrages2 und der staatlichen Vereinigung von BRD und DDR. Diese Atomwaffenfreiheit gilt aber nicht für die alten Bundesländer.

Die atomar bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missiles) sowie die »nuklearen Artilleriegeschosse« und die »Gefechtsköpfe der bodengestützten nuklearen Kurzstreckenraketensysteme« sind zwischenzeitlich aufgrund der zwischen den USA und der früheren Sowjetunion abgeschlossenen Abrüstungsabkommen aus ganz Deutschland und den anderen NATO-Staaten abgezogen worden. Aber auf dem Territorium Deutschlands (und der anderen europäischen Staaten) lagern trotzdem nach wie vor Atomwaffen. Wahrscheinlich handelt es sich um atomar bestückte Kurzstreckenraketen, die aus der Luft von Flugzeugen abgeschossen werden können (sog. nukleare Flugzeugbewaffnung) sowie freifallende Bomben.

An ihren Abbau ist nicht gedacht. Sie sollen nach Auffassung der NATO und der deutschen Bundesregierung auf unabsehbare Zeit weiterhin in Deutschland bleiben. Ihre genaue Zahl und ihre Lagerorte werden von den offiziellen staatlichen Stellen geheimgehalten. Die Bevölkerung soll sie nicht erfahren3. Vielfach wird allerdings in der Öffentlichkeit davon berichtet, heute seien nach wie vor im europäischen NATO-Bereich ca. 700 Atomwaffen stationiert, darunter möglicherweise 500 in Deutschland. Diese Atomwaffen stehen unter der alleinigen Verfügungsgewalt der US-Regierung und der US-Kommandobehörden. Ob auch Großbritannien und Frankreich in Deutschland Atomwaffen gelagert haben, ist nicht bekannt.

Die nukleare Komponente der NATO-Strategie

Obwohl der Kalte Krieg zu Ende ist und erklärtermaßen eine nukleare militärische Bedrohung nicht (mehr) besteht, halten die USA und die anderen Atomwaffenmächte an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen fest. Die NATO und ihre Mitgliedsstaaten, die über Atomwaffen verfügen, treten zwar – wie die aktuellen Konflikte um Irak, Nordkorea und Pakistan zeigen – erfreulicherweise für eine strikte Einhaltung des NVV und die Verlängerung seiner Geltungsdauer über 1995 hinaus ein. Diese Staaten sind jedoch – ebenso wie in der Zeit des Kalten Krieges – nicht bereit, auf die Option des Einsatzes und sogar des Ersteinsatzes von Atomwaffen zu verzichten.

Die Regierung der NATO-Staaten und auch die deutsche Bundesregierung lehnen erklärtermaßen prinzipiell einen Verzicht auf die Möglichkeit des Erst- oder Zweiteinsatzes von Atomwaffen durch einen NATO-Staat ab. Die Bundesregierung hat vor dem Deutschen Bundestag am 21. April 1993 hierzu ausdrücklich erkärt4 : „Diese eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses, weil konventionelle Streitkräfte allein die Kriegsverhütung nicht gewährleisten können (…) Deshalb wird die Bundesregierung nicht für den Abzug dieser Waffen aus Deutschland oder Europa eintreten. Ebenfalls wird die Bundesregierung nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. (…) Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen. Die Möglichkeit und Führbarkeit konventioneller Kriege würde zunehmen.“

Diese Haltung der NATO-Staaten ist mit Art. VI des NVV nicht vereinbar. Denn Art. VI des NVV verlangt mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit von allen Vertragsstaaten, namentlich gerade von den Atomwaffen besitzenden Staaten, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der „nuklearen Abrüstung“ und zur „allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (gerade auch der Atomwaffen) unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu führen. Über die Art und die Dauer dieser Verhandlung können die Vertragsstaaten streiten. Dagegen dürfen sie das in Art. VI normierte Verhandlungsgebot und Verhandlungsziel als solches nicht in Frage stellen und nicht ignorieren. Anderenfalls sind sie vertragsbrüchig. Das grundsätzliche Ablehnen von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen und das grundsätzliche weitere Beharren auf den Besitz und auf der Option des Einsatzes oder gar des Ersteinsatzes dieser Waffen negiert die grundsätzliche völkerrechtliche Verpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages. Dies ist alles andere als eine Bagatelle, über die man zur Tagesordnung übergehen könnte.

Die Ablehnung von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen ist – ebenso wie das prinzipielle Beharren auf den weiteren Besitz sowie auf der prinzipiellen Option eines Einsatzes von Atomwaffen – ein schwerwiegender völkerrechtlicher Vertragsbruch. Dies gilt nicht nur für die NATO-Atomwaffenstaaten USA, Großbritannien und für Frankreich. In gleicher Weise gilt dies selbstverständlich für andere Atomwaffen-Staaten außerhalb der NATO, die – wie z.B. Rußland in der Nach-Gorbatschow-Ära – auf den weiteren Besitz von Atomwaffen prinzipiell beharren, an der Option ihres Einsatzes „im Fall des Falles“ festhalten und sich prinzipiell weigern, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung zu führen. Staaten, die diesen Vertragsbruch billigen und unterstützen, verhalten sich selbst völkerrechtswidrig.

Der fortgesetzte Verstoß gegen Art. VI des NVV gefährdet zugleich den NVV, d.h. die Verlängerung seiner Geltungsdauer über das Jahr 1995 hinaus. Zahlreiche Staaten haben nämlich innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen wiederholt die Nichtbeachtung des Art. VI durch die Nuklearmächte zum Anlaß genommen, ihre Bereitschaft zum weiteren Festhalten am NVV und zu einem fortgesetzten Atomwaffenverzicht für die Zukunft in Frage zu stellen. Niemand bestreitet: Eine Nichtverlängerung des NVV oder seine »Aufweichung« wäre eine äußerst gefährliche Entwicklung für den Weltfrieden. Deshalb gilt: Wer das »Regime« der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation) und damit den NVV als dessen wichtigsten Pfeiler retten will, muß für eine unverzügliche Beendigung des weiteren Verstoßes gegen seinen Art. VI eintreten.

»Nukleare Teilhabe« Deutschlands

Nach der vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) am 12. Juli 1994 vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr«, die zwischenzeitlich auch vom Bundeskabinett gebilligt worden ist, soll die Bundeswehr künftig aus »Hauptverteidigungskräften« und »Krisenreaktionskräften« bestehen.

Die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr sollen nach der Leitlinie eingesetzt werden

  • in der Landesverteidigung,
  • in NATO und WEU zur Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung sowie zur Verteidigung,
  • im Rahmen der Vereinten Nationen und
  • der KSZE (Einsätze „im gesamten Spektrum von humanitären Maßnahmen bis hin zu militärischen Einsätzen der Charta der Vereinten Nationen“).

Zu diesem Zweck müssen, so heißt es in der Leitlinie, „schnell einsetzbare und verlegefähige Kräfte vorgehalten“ werden, u.a. „in der Luftwaffe 6 fliegende Staffeln für Luftangriffe, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe“.5 »Nukleare Teilhabe« bedeutet nach einer von der Wochenzeitung »Die Zeit« zitierten diesbezüglichen Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums eine „breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben“, wobei von Seiten der Bundeswehr u.a. „eine begrenzte Anzahl von Tornado-Flugzeugen als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden6.

Im Klartext heißt dies: Die Bundeswehr wird darauf eingestellt, daß im Rahmen ihrer »Krisenreaktionskräfte« u.a. „schnell einsetzbare und verlegefähige“ fliegende Staffeln der Bundesluftwaffe mit Tornado-Flugzeugen vorgehalten werden, die als Element der »nuklearen Teilhabe« der Bundeswehr als nukleare Trägersysteme Verwendung finden sollen.

Dies wirft mehrere Fragen auf:

1. Wenn die Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr eine Reichweite von 550 bis 1.400 km haben7, ist zu fragen, wo sie als deutsche »Teilhabe« an einem möglichen Nukleareinsatz von NATO-Bündnispartnern (USA, Großbritannien, Frankreich) eingesetzt werden sollen. Die nuklearen Schaltzentralen der Atommächte Rußland und China liegen außerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge. Für welche Einsatzorte und -ziele innerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge werden dann aber Einsatzpläne im Rahmen der »nukleaen Teilhabe« konzipiert?

2. Wie dargelegt, ist nach Art. II des NVV jeder Nichtkernwaffenstaat und damit auch Deutschland „verpflichtet, (…) Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Im 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 hat Deutschland diesen Atomwaffenverzicht „bekräftigt und erklärt …, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtung halten wird“. Wenn nun entsprechend der neuen »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« für einen Nukleareinsatz von NATO-Bündispartnern deutsche Tornado-Flugzeuge mit deutschen Piloten „als nukleare Trägersysteme“ zur Verfügung gestellt werden, stellt sich die zwingende Frage, ob dann nicht deutsche Hoheitsträger zumindest mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen haben (werden), wenn ein deutsches Tornado-Flugzeug für einen Nukleareinsatz mit ihnen beladen und in den Einsatz geschickt wird? Wie soll sich dies und wie sollen sich darauf gerichtete Planungs- und Vorbereitungshandlungen mit dem deutschen Atomwaffenverzicht vertragen?

NATO-Bündispflichten

Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 1. Dezember 1993 einen Gesetzesentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der u.a. vorsieht, in Artikel 26 des Grundgesetzes einen Absatz 4 einzufügen, der fogenden Wortlaut haben soll: „Die Entwicklung, Herstellung, Lagerhaltung, Beförderung, das in Verkehr bringen, die Aufstellung und Anwendung von atomaren, bakteriologischen, chemischen und anderen Massenvernichtungswaffen sowie die Drohung mit ihrer Anwendung sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Bestehende Bündisverpflichtungen bleiben unberührt.“ 8

Die Sätze 1 und 2 des Vorschlages sind sehr zu begrüßen. Was es mit dem dritten Satz auf sich hat, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs: Dies „trägt bestehenden Bindungen der Bundesrepublik Deutschland aus der Bündnis- und Verteidigunskooperation in der NATO und in Europa Rechnung, nach denen auf ihrem Boden auch Atomwaffen gelagert und von dort eingesetzt werden dürfen“.9 Die SPD geht demnach davon aus, daß »im Fall eines Falles« die auf deutschem Boden nach wie vor noch gelagerten Atomwaffen von hier aus eingesetzt werden dürfen. Von deutschem Boden aus bleiben also Atomschläge weiterhin möglich, faktisch und – so die Auffassung der SPD – auch rechtlich?

Atomwaffengefahren

Atomwaffen stellen – objektiv betrachtet – in mehrfacher Hinsicht eine aktuelle Bedrohung für Mensch und Natur dar. Die UN-Generalversammlung hat in zahlreichen Beschlüssen jeweils mit großer Mehrheit zum Ausdruck gebracht, daß „der Einsatz von nuklearen und thermonuklearen Waffen gegen den Geist, den Wortlaut und die Ziele der Vereinten Nationen verstößt und dadurch eine direkte Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“. Ferner hat sie wiederholt festgestellt, „daß die Existenz und der Einsatz von Nuklearwaffen die größte Bedrohung für das überleben der Menschheit“ sind.10

Bereits die Produktion von Atomwaffen tötet; zu denken ist vor allem an die strahlengeschädigten Bergleute, deren Schicksal kaum jemanden interessiert. Die Beschäftigten in den Labors und Nuklearfabriken tragen gesundheitliche Risiken, die bisher niemand genau abschätzen kann. Unzählige Menschen wurden (und werden?) in der früheren Sowjetunion und in den USA, aber auch in anderen Testgebieten sonst als »Versuchskaninchen« mißbraucht.

Zudem sind mit der Lagerung, dem Transport und der Dislozierung von Atomwaffen unleugbare Unfallrisiken verbunden. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen stellt das unveräußerliche Recht der Menschen auf Leben in Frage. Atomwaffen sind stets potentielle Zielobjekte: für terroristische Aktivitäten, aber auch ggf. für präventive oder reaktive militärische Schläge anderer Mächte. Die Gefahr einens Atomkrieges aus Versehen (durch technisches oder menschliches Versagen) kann nicht ausgeschlossen werden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben zu den Auswirkungen und Folgen einer mit Atomwaffen geführten Auseinandersetzung oder eines Krieges mehrere wichtige Studien vorgelegt, die uns wissen lassen: Im Falle ihres Einsatzes können Atomwaffen zu katostrophalen Schäden, ja zu einer völligen Vernichtung des menschlichen Lebens und der Zivilisation auf unserem Planeten führen. Bestritten wird dies von kaum jemandem. Dennoch wird an Atomwaffen festgehalten.

Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig?

Es spricht vieles dafür, daß jedenfalls der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist. Denn nach geltendem (Kriegs-)Völkerrecht ist der Einsatz von Waffen oder Kriegstaktiken verboten,

  • die geeignt sind, überflüssige Verletzungen und unnötige Leiden zu verursachen,11
  • die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, daß sie ausgedehnte langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen,12
  • die unterschiedslos Zivilpersonen und Soldaten, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, treffen,13
  • die das Territorium neutraler Staaten verletzen.14

Außerdem ist die Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnliche Gasen oder entsprechenden Flüssigkeiten, Materialien, Vorrichtungen oder Waffen verboten.15 Schließlich sind Waffeneinsätze umd militärische Maßnahmen verboten, bei denen „damit zu rechnen ist“, daß sie „auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen“ verursachen, die „in keinem Verhältnis zum erwarteten und mittelbaren militärischen Vorteile stehen“.16

Die Mehrzahl der Völkerrechtler teilt – soweit bislang ersichtlich – diese Auffassung. Allerdings halten die Atomwaffenmächte und die meisten ihrer Verbündeten sowie einzelne Völkerrechtler dennoch einen Einsatz von Atomwaffen als Repressalie und auch die Androhung eines solchen Einsatzes (aus Gründen der »Abschreckung«) unter bestimmten Umständen für zulässig. Angesichts dessen kommt einer Klärung dieser hochkontroversen Frage durch den Internationalen Gerichtshof große Bedeutung zu. Die notwendigen Schritte sind bereits eingeleitet.

Antrag an den Internationalen Gerichtshof

Die Weltgsunheitsorganisation (WHO) in Genf hat im Mai 1993 beim Internationalen Gerichtshof (»Weltgerichtshof«) in Den Haag – im folgenden: IHG – nach Art. 96 der UN-Charta ein Rechtsgutachten (»advisory opinion«) zu der Frage angefordert: „Wäre im Hinblick auf die Folgen für Gesundheit und Umwelt der Gebrauch von Atomwaffen im Krieg oder in einem anderen internationalen Konflikt durch einen Staat eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtung einschließlich der WHO-Verfassung?“

Mit anderen Worten: Die Weltgesundheitsorganisation will endlich geklärt sehen, ob ein Einsatz von Atomwaffen in einem Krieg oder in einem anderen Internationalen Konflikt gegen geltendes Völkerrecht verstoßen würde17.

Der Beschluß der Weltgesundheitsorganisation, ein solches Gutachten einzufordern, erfolgte mit großer Mehrheit, allerdings gegen die Stimmen der Atomwaffenmächte und auch der deutschen Delegation. Die deutsche Bundesregierung hat sich im Verein mit ihren Verbündeten intensiv bemüht, die Anforderung eines solchen Rechtsgutachtens zu verhindern. Ungeachtet der großen Pressionen, die die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündetetn ausgeübt haben, haben zahlreiche Staaten zwischenzeitlich bis zu dem vom IGH gesetzten Termin am 10. Juni 1994 positive Stellungnahmen abgegeben, darunter Irland, Weißrußland, Schweden, Kasachstan, Litauen, Mexiko, Moldavien, Neuseeland, Nordkorea, Papua Neuguinea und die Ukraine.

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrer gegenüber dem IHG abgegebenen Stellungnahme ausdrücklich bestritten, daß die Weltgesundheitsorganisation berechtigt ist, ein solches Rechtsgutachten beim Internationalen Gerichtshof anzufordern. Zum zweiten vertritt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme die Auffassung, daß der Einsatz von Atomwaffen wie der Einsatz jeder anderen Waffe völkerrechtlich in Ausübung des naturgegebenen Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff zulässig sei; nur „Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solche“ seien stets verboten.

Trotz heftigen Widerstandes der Atomwaffenmächte und ihrer Verbündeten hat zwischenzeitlich am 16. Dezember 1994 auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen ebenfalls die Einholung eines Rechtsgutachtens nach Art. 96 der UN-Charta beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag beschlossen. Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit den Regierungen Frankreichs, der USA und Großbritanniens u.a. durch einen Geschäftsordnungsantrag bis zuletzt versucht, einen solchen Beschluß der UN-Generalversammlung zu verhindern.

Trotz allem wurde dann dieser Beschluß der Generalversammlung mit 78 Ja-Stimmen gegen 43 Nein-Stimmen (bei 38 Enthaltungen) gefaßt.

Die Fragestellung des eingeforderten Gutachtens der UN-Generalversammlung geht über diejenige der Weltgesundheitsorganisation hinaus. Die UN-Generalversammlung legt dem Internationalen Gerichtshof die Frage vor, ob nicht nur der Einsatz sondern auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen gegen geltendes Völkerrecht verstößt.

Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit sich ähnlich wie die Parlamente anderer Staaten endlich mit diesen beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingeleiteten Verfahren beschäftigen würden. Die in dem Verfahren vom Internationalen Gerichtshof zu treffenden Entscheidungen haben weitreichende Bedeutung gerade auch für die geltende NATO-Strategie, die nach wie vor an der Möglichkeit eines Einsatzes oder gar eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen festhält. Würde der Internationale Gerichtshof den Einsatz von Atomwaffen und/oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen für völkerrechtswidrig erklären, könnte die geltende NATO-Strategie nicht mehr aufrechterhalten werden. Gleiches würde für die Nuklearstrategien der anderen Atomwaffenmächte wie z.B. für Rußland gelten. Schließlich wäre dann auch kein Raum mehr für eine weitere Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden.

Anmerkungen

1) Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1990 II, S. 1318. Zurück

2) Art. 5 Abs. 3 Satz 3. Zurück

3) Vgl. dazu u.a. die Erklärung der Bundesregierung vom 21. April 1993 vor dem Deutschen Bundestag, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 12/4766, S. 2. Zurück

4) Vgl. BT-Drs. 12/4766, S. 3. Zurück

5) Bundesministerium der Verteidigung, Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr, 12. Juli 1994, S. 7. Zurück

6) vgl. Die Zeit vom 12. August 1994, S. 4. Zurück

7) Vgl. dazu Mechtersheimer/Barth, Militarisierungsatlas, 2. Aufl. 1988, S. 376. Zurück

8) Vgl. BT-Drs. 12/6323 S. 24. Zurück

9) Vgl. BT-Drs. 12/6323, S. 24. Zurück

10) Vgl. u.a. die Resolution der UN-Generalversammlung zu Nuklearwaffen von 1961, Res. 1653 (XVI); bekräftigt u.a durch Resolution 45/59 A von 1990. Zurück

11) Vgl. Art. 23e der Haager Landkriegsordnung (HLKO) vom 18. Okt. 1907, abgedr. in Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Band II, 1967, S.1892; vergl. auch Art. 35 Abs. 2 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 (im folgenden: ZP I 1977). Zurück

12) Vgl. Art. 35 Abs.3 ZP I 1977. Zurück

13) Art. 48 ZP I 1977; vgl. auch Ipsen/Fischer, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, S.1034 ff.; Eberhard Menzel, Legalität oder Illegalität der Anwendung von Atomwaffen, 1960, S.53 ff. Zurück

14) Vgl. Art. 1 des Haager Abkommens »betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges«, der normiert: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich“. RGBl 1910, S. 151. Zurück

15) Dies ist ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts. Vgl. dazu u.a. Ipsen/Fischer, in: Ipsen (1990), op.cit., S. 1028 ff.; HLKO Art. 23a; Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln in Kriegen vom 17. Juni 1925, RGBl. 1925 II, S. 173. Zurück

16) Vgl. Art. 51 Abs. 5b ZP I 1977. Zurück

17) Vgl. Document WHA 46.40 – vom 14. Mai 1993. Zurück

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter am Oberverwaltungsgericht Münster und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Sektion der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms).

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Die USA lehnen einen vollständigen Teststopp ab

von Oliver Meier

Seit Januar 1994 wird in Genf über ein Abkommen zum Verbot von Atomtests verhandelt. Die Verhandlungen finden im Vorfeld der Verhandlungen über eine Verlängerung des atomaren Nichtverbreitungsvertrages (Non-Proliferation Treaty) statt. Die Unterzeichnung eines Atomteststopp-Abkommens würde die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages wahrscheinlicher machen, da diejenigen Länder, die keine Kernwaffen besitzen, einen vollständigen Verzicht auf Atomversuche von seiten der atomwaffenbesitzenden Staaten als einen wichtigen Schritt in Richtung auf die im Nichtverbreitungsvertrag geforderte atomare Abrüstung interpretieren würden.

Nachdem alle Atomwaffenstaaten mit Ausnahme von China ihre Atomtestprogramme im Laufe der letzten Jahre unverbindlich eingestellt hatten, schien der Abschluß eines solchen »Comprehensive Test Ban Treaty« (CTBT) auf keine größeren Widerstände mehr zu stoßen. Ende August des letzten Jahres rückte die Clinton-Administration jedoch von ihrer bis dahin vorbehaltlosen Befürwortung eines totalen Teststopps ab. Die amerikanische Regierung fordert seitdem, einen CTBT auf vorerst zehn Jahre zu begrenzen. Außerdem sollen Tests mit einer sehr geringen Detonationskraft nach amerikanischen Vorstellungen von einem Abkommen ausgeschlossen bleiben. Die Vereinigten Staaten möchten ferner ihre vorhandenen Testanlagen nicht vollständig abbauen. Die Wiederaufnahme von Atomtests soll somit jederzeit möglich bleiben.1

Sinn dieser Forderungen ist es, die Forschung im Bereich Atomwaffen – wenn auch auf geringerem Niveau und mit modifizierter Zielstellung – weiterzubetreiben. Damit droht ein wesentliches Ziel des CTBT ausgehöhlt zu werden: die Begrenzung oder gar Beendigung von Modernisierungsmaßnahmen im nuklearen Bereich über die Beschränkung von Forschung und Entwicklung zu erreichen. Insbesondere die Nicht-Nuklearwaffenstaaten hatten die Unterzeichnung eines totalen Teststopp-Vertrages immer als einen Schritt in Richtung auf die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen des Nichtverbreitungsvertrages gesehen. Ein Scheitern der Verhandlungen gibt diesen Staaten daher neue Gründe, eine Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages abzulehnen.

Die Clinton-Administration beugt sich mit ihrer Entscheidung, einem vollständigen Teststopp zunächst nicht zuzustimmen, dem Druck einer innenpolitischen Lobby, die sich aus der Atomwaffenforschergemeinde und Teilen des Militärs zusammensetzt. Der Abschluß eines CTBT vor der Verlängerungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im April scheint inzwischen unwahrscheinlich.2

Im folgenden werden die Hintergründe der amerikanischen Entscheidung, einen unbegrenzten, sofortigen und totalen Ausstieg aus dem Atomtestprogramm vorerst nicht zu vollziehen, dargestellt. Zuerst soll die Position der Clinton-Administration zu Beginn ihrer Amtszeit dargestellt werden. Unter dem Oberbegriff »stockpile stewardship« ist in den letzten Jahren ein Programm in den USA entstanden, das eigentlich gewährleisten sollte, daß die vorhandenen Atomwaffen sicher gelagert werden und einsatzbereit sind. Inzwischen mutieren die unter diesem Programm subsumierten Projekte immer mehr zu dem Versuch, Atomwaffenforschung auch ohne herkömmliche Tests weiterzubetreiben. Nachdem die wichtigsten Vorhaben aus dem »stockpile stewardship«-Programm zusammengefaßt wurden, wird schließlich der Frage nachgegangen, warum Atomwaffenforscher immer noch eine Wiederaufnahme der Atomwaffentests fordern, obwohl sie inzwischen in der Lage sind, Forschung und Entwicklung ohne Tests zu betreiben.

Innenpolitische Nachteile für außenpolitische Vorteile

In seinem ersten Amtsjahr unterstützte Präsident Clinton noch eine vollständige, sofortige und unbegrenzte Einstellung aller Atomwaffentests. Er provozierte damit insbesondere den Widerstand der amerikanischen Atomwaffenforscher, für die Atomtests seit jeher einen zentralen Bestandteil ihrer Arbeit bedeuten. Auch Teile des amerikanischen Militärs lehnen eine Einstellung der nuklearen Tests ab, da sie ungetestete Kernwaffen in ihren Arsenalen als Unsicherheitsfaktor betrachten.3 Trotzdem glaubte Clinton, daß eine Fortsetzung des Moratoriums mehr außenpolitische Vorteile als innenpolitische Nachteile bringen würde. In der Begründung seiner Entscheidung vom 3. Juli 1993, die »no-first-test«-Politik bis auf weiteres fortzusetzen, machte Clinton dies deutlich: „After a thorough review, the Administration determined that the nuclear weapons in the United States are safe and reliable. Additional nuclear tests could help us prepare for a CTB and provide some additional improvements in safety and reliability. However, the President determined that these benefits would be outweighed by the price we would pay in conducting those tests now – through undercutting of our nonproliferation goals.“ 4

In dem gleichen Zusammenhang wies der Präsident das für die Atomwaffenforschung und -produktion zuständige Energieminsterium (Department of Energy, DOE) an, Wege zu erkunden, um die „Sicherheit und Zuverlässigkeit und Zuverlässigkeit“ 5 amerikanischer Nuklearwaffen auch während eines totalen Teststopps zu gewährleisten. Hinter dieser so harmlos klingenden Formulierung verbarg sich eine Konzession an die amerikanische Atomwaffenlobby. Diese hat dazu beigetragen, die amerikanische Haltung in Bezug auf eine Einstellung aller Tests zu ändern, und droht, den bestehenden Modernisierungsstopp im Bereich von Atomwaffen auszuhöhlen. Denn welche Maßnahmen nötig sind, um die „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit“ amerikanischer Atomwaffen sicherzustellen, ist höchst umstritten.

»Stockpile stewardship« als neues Zauberwort

In der Diskussion um die Zukunft der amerikanischen Atomwaffenforschung rückt ein Begriff immer mehr in den Mittelpunkt: »stockpile stewardship«.6 Ursprünglich bezeichnete dieses Programm den Versuch, das vorhandene Atomwaffenarsenal sicher zu verwahren. Inzwischen ist es aber mehr als die Beibehaltung vorhandener Fähigkeiten. Forschungsprogramme, die der Beibehaltung vorhandenen Wissens und vorhandener Fähigkeiten dienen sollten, werden dazu benutzt, Atomwaffenforschung auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiterzubetreiben.

Schon im Juli 1993 hatte die Clinton-Administration im Zusammenhang mit der Verlängerung des Test-Moratoriums eine Direktive (Presidential Decision Directive, PDD) erlassen, die die Umrisse des künftigen »stockpile stewardship«-Programmes beinhaltete. Der Inhalt der PDD ist geheim, allerdings wurde im Verteidigungshaushalt 1994 ein »Stockpile Stewardship Program« verabschiedet, dessen Leitlinien für die nächsten Jahre richtungsweisend sein dürften. Dieses Programm soll sicherstellen, daß die „zentralen intellektuellen und technischen Kompetenzen im Bereich Nuklearwaffen, einschließlich des Designs, der Systemintegration, der Herstellung, Sicherheit, Handhabung, Zuverlässigkeit und Zertifikation“ 7 erhalten bleiben. Drei Programmelemente werden in dem Gesetzestext besonders hervorgehoben:

  • die Fähigkeit zur Computersimulation von Atomexplosionen soll verbessert werden;
  • Maßnahmen zur Durchführung von oberirdischen Experimenten wie „Hydrotests, Hochleistungslaser, Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF), Plasmaphysik und Materialwissenschaften“ sollen verstärkt werden;
  • neue Forschungseinrichtungen, die dazu beitragen, Atomwaffenwirkungen zu untersuchen, sollen gefördert werden. Explizit genannt werden eine fortgeschrittene hydrodynamische Testeinrichtung und die »National Ignition Facility« (NIF).8

Hinter diesen Programmen verbergen sich Bemühungen, auch ohne herkömmliche Atomtests Atomwaffenforschung weiter zu betreiben. Allein 1993 haben die drei großen Atomwaffenforschungslabors des amerikanischen Energieministeriums9 153 Millionen US $ ausgegeben, um Alternativen zu nuklearen Tests zu entwickeln.10 Wenn alle diese Maßnahmen umgesetzt werden, könnten die USA möglicherweise neue Atomwaffen entwickeln, ohne daß diese getestet werden müßten.11

Amerikanische Atomwaffenforscher weisen dies zumeist von sich. Sie behaupten, nach wie vor auf »echte« Atomtests angewiesen zu sein, falls sie neue Waffen konzipieren sollen. Diese Behauptung dürfte allerdings hauptsächlich taktisch motiviert sein. Zuerst sollen aber die drei wichtigsten, unter dem Begriff »stockpile stewardship« aufgeführten Vorhaben genauer dargestellt werden.

Computersimulationen

Computer haben schon immer eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Nuklearwaffen gespielt. Bestimmte physikalische Vorgänge, die bei einer Atomexplosion stattfinden, können durch Computerprogramme (sogenannte Codes) simuliert werden. Inwiefern Computermodellationen hingegen Tests künftig ersetzen können, ist umstritten. Vertreter der Kernwaffenlaboratorien vertreten die Position, daß Computercodes lediglich solche Vorgänge abbilden können, die in der Realität (also in Tests) beobachtbar waren. Voraussagen – und damit die Entwicklung von neuen Atomwaffen seien allein auf Grund von Computersimulationen nicht möglich.

Zugleich wird aber offen eingestanden, daß bei der Simulation von Atomexplosionen durch Computermodelle in den letzten Jahren zum Teil erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. Schließlich wollen die Forscher auch weiterhin Gelder für den Ausbau ihrer Computersysteme bekommen. In dem Bemühen, die eigenen Leistungen im Bereich der Computersimulation anzupreisen, schießen Atomwaffenforscher gelegentlich über das Ziel hinaus und gestehen ein, daß Computer inzwischen auch in der Lage sind, physikalische Abläufe vorherzusagen. So heißt es in einem Bericht des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) aus dem Jahr 1992: „Die Ziele [des »Test Ban Readiness«-Programms, d. Verf.] sind, die Vorhersagefähigkeit im Bereich der Leistungsfähigkeit von Nuklearwaffen zu verbessern, neue fortgeschrittenere nichtnukleare Technologien für Tests zu entwickeln und Sprengköpfe zu entwickeln und zu testen, die weniger von [herkömmlichen] Nukleartests abhängig sind. Ähnliche Aktivitäten umfassen unterirdische Experimente, um die Effektivität des vorhandenen Arsenals zu demonstrieren und um die Vorhersagefähigkeit durch Justierungstests (Benchmark-Tests) zu verbessern, die eine elementare Überprüfungsmöglichkeit für unsere Computercodes darstellen. (…) Wir hatten einige bemerkenswerte Erfolge in dem Bemühen, unsere Vorhersagefähigkeit zu verbessern. Während der letzten zehn Jahre hat eine Kombination aus Atomtests und stetig verbesserten Supercomputerkapazitäten zu erheblichen Verbesserungen in unserer Fähigkeit, einige Aspekte von thermonuklearen Explosionen abzubilden, geführt. (…) Trotzdem bleiben Atomtests die beste und letzte Möglichkeit, um das Vertrauen in unser atomares Arsenal zu bewahren.“12

Computermodelle können aber nicht nur anhand von Atomwaffentests überprüft werden. Schon seit längerer Zeit bereitet sich die amerikanische Atomwaffenforschergemeinde im Rahmen des »Test Ban Readiness«-Programms darauf vor, auch ohne Tests Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu betreiben. Zwei Programme sind hierfür besonders wichtig: sogenannte hydrodynamische und hydronukleare Experimente sowie Forschungen im Bereich der Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF).

Hydrodynamische und hydronukleare Experimente

Computermodelle, die die Vorgänge während einer Atomexplosion simulieren, können nicht nur durch herkömmliche Atomtests überprüft werden. Hydrodynamische und hydronukleare Experimente, bei denen es nicht zu einer vollständigen Atomexplosion kommt, können hier eine wichtige Lücke schließen. Bei hydrodynamischen Tests findet keine Kettenreaktion statt: In einer Gefechtsfeldkopfattrappe werden die spaltbaren Materialien durch sogenanntes passives Material (Natururan oder abgereichertes Uran) ersetzt. Auch wenn man durch diese Tests die genaue Sprengkraft eines Atomwaffendesigns nicht prognostizieren kann, so ist durchaus möglich vorherzusagen, ob ein Design überhaupt funktionsfähig ist.13

Bei hydronuklearen Versuchen wird ähnlich verfahren, allerdings findet hier eine Kettenreaktion statt, da ein Teil des spaltbaren Materials in der Testvorrichtung bleibt. Die Kettenreaktion verläuft allerdings wesentlich langsamer als in einem »echten« Test und führt daher nicht zu einer Atomexplosion.14 Solche »unterkritischen Tests« wie auch hydrodynamische Experimente können aber wichtige Aufschlüsse über die Funktionsweise von Atomwaffen liefern.15 So führten die USA schon während des Atomtestmoratoriums von 1958-61 hydronukleare Tests durch, um ihre Atomaffen qualitativ zu »verbessern«.16

Nach Ansicht der betroffenen Atomwaffenforscher können hydrodynamische Tests nur eine komplementäre Funktion zu echten Atomtests haben: „Oberirdische Tests ohne eine nukleare Explosion werden viele der benötigten Justierungsexperimente ersetzen, aber ohne unterirdische Tests die durch Tests von Prototypen erreichten Vorteile für die Gewinnung von Urteilsfähigkeit und technischen Kompetenzen nicht erhalten werden.“ 17 Zugleich wird allerdings die Bedeutung von hydrodynamischen Tests für die Forschung im Bereich Atomwaffen während eines Teststopps betont: „Falls die Tests tatsächlich eingestellt werden, werden die Laboratorien sich auf oberirdische Tests als primäre experimentelle Quelle verlassen, um technische Probleme zu beantworten, Expertise zu erhalten und theoretische Modelle und Kalkulationen zu überprüfen, die benutzt werden, um das Verhalten von Waffen vorherzusagen.“ 18

Hydronukleare Tests sind besonders nützlich bei der Erstentwicklung von Nuklearwaffen. »Einfache« Atomwaffen der ersten Generation19 können durch diese Experimente in zweifacher Hinsicht sicherer gemacht werden: Erstens kann mit ihnen der optimale Zeitpunkt für die Einleitung der Kernreaktion bestimmt und zweitens die Geschwindigkeit der Kernreaktion in dem Stadium direkt nach dem Beginn der Explosion errechnet werden. Demgegenüber sind die Erkenntnisgewinne im Bereich der modernen Wasserstoffbomben relativ gering – und solche Waffen befinden sich überwiegend im Arsenal der USA.20 Trotzdem wollen die Vereinigten Staaten hydronukleare Experimente von einem CTBT ausgeschlossen wissen. Dabei wird argumentiert, daß diese Tests erstens keine Atomtests im herkömmlichen Sinne seien und zweitens ein mögliches Verbot ohnehin nicht überwacht werden könnte. Eine Einbeziehung von hydrodynamischen Tests in den Vertrag erscheint tatsächlich fragwürdig, da eine Überprüfung eines solchen Verbots nur unter erheblichem Aufwand möglich wäre. Die Durchführung von hydronuklearen Experimenten hingegen könnte relativ einfach festgestellt – und damit verboten werden –, da hier nukleare Spaltstoffe freigesetzt werden.21

Die Frage der Schwelle – also ob Tests mit »geringer« Sprengkraft wie hydronukleare Experimente unter einem Teststopp-Abkommen verboten werden sollen – ist zu einem zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen geworden. Noch im März 1994 hatte die Clinton-Administration in ihren Grundsätze für die CTBT-Verhandlungen verkündet: „The CTBT should constitute a comprehensive ban. It should not be a threshold treaty. It should rule out all nuclear explosions anytime, anywhere, (…).22 Am 4. August hatte der Direktor der ACDA, John D. Holum diese Position noch einmal bekräftigt: „The United States seeks a CTBT that will put an end to all nuclear explosions-period. No thresholds. No exceptions.“ 23

Der beschriebene amerikanische Umschwung in dieser Frage dürfte die Verhandlungen weiter komplizieren. Eine Ausnahmeklausel für hydrodynamische und -nukleare Tests dürfte darüber hinaus die Proliferationsgefahr erhöhen, da diese Technologien insbesondere für Staaten mit sehr jungen Atomwaffenprogrammen interessant ist. Demgegenüber geht es bei Forschungen im Bereich der Trägheitseinschlußfusion primär um die Simulation von Kernfusionprozessen, wie sie in modernen und technisch anspruchsvolleren Wasserstoffbomben stattfinden.

ICF: Zivile Energieforschung für militärische Zwecke?

Bei der Trägheitseinschlußfusion (Inertial Confinement Fusion, ICF) werden entweder Laser oder Teilchenstrahler zur Erzeugung eines extrem dichten Plasmas eingesetzt. Mit Hilfe dieser Technik ist es möglich „Kernfusions- und/oder Kernspaltungsreaktionen im Labor stattfinden (zu) lassen. (…) Es ist allerdings unmöglich, fertige neue Kernwaffendesigns zu entwickeln.“ 24 Nichtsdestotrotz füllt die ICF eine wichtige Lücke in den Bemühungen, Atomwaffenforschung auch während eines Teststopps weiterzubetreiben.

Das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL), das schon jetzt einen der größten Laser der Welt beherbergt (NOVA), hat deshalb das Projekt einer nationalen ICF-Forschungsanlage vorgeschlagen. Die »National Ignition Facility« (NIF) soll die mit Abstand größte Anlage zur Fusionsforschung werden. Der Bau soll ca. US-$ 1 Mrd. kosten, die jährlichen Betriebskosten sollen ungefähr US-$ 250 Millionen betragen.25 Drei Gründe werden offiziell zur Begründung des Projektes angeführt:

  • die NIF soll die zivile Fusionsforschung voranbringen, um Kernfusion als künftige Energiequelle nutzbar zu machen;
  • über den Bau der Anlage sollen qualifizierte Wissenschaftler in der Kernforschung gehalten und neue junge Experten für das Gebiet gewonnen werden;
  • die NIF sei wichtig, um Forschung im Bereich der „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft“ von Nuklearwaffen zu betreiben.

Auch wenn es sich bei ICF grundsätzlich um eine Technologie handelt, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar ist, dürfte es mit dem zivilen Nutzen der NIF nicht allzuweit her sein.26 Entgegen der offiziellen Behauptungen dürfte die Forschung in der NIF allerdings nur zu einem sehr geringen Teil zivilen Zwecken dienen. So sollen die Forschungen dort nur zu einem geringen Teil international und offen vonstatten gehen, wie es in zivilen Forschungsprojekten üblich ist. Außerdem ist die Schwerionenfusion für zivile Anwendungen wesentlich erfolgversprechender als das in der NIF verfolgte Ziel der Energiegewinnung über Hochenergielaser.27 Einen Hinweis auf das Verhältnis von zivilem und militärischem Nutzen der Laserforschung in Livermore gab der Direktor der Laserforschungsgruppe im LLNL schon vor drei Jahren im Zusammenhang mit dem geplanten Ausbau des NOVA-Lasers: „Die Finanzierung des Ausbaus – und für die Laserfusion – ist zu 99% verteidigungrelevant.“ Hauptziel sei dabei, die Kenntnisse über die Waffenphysik zu verbessern.28

Von besonderer Bedeutung ist die NIF für das Lawrence Livermore National Laboratory. Das Laboratorium wird von den drei Kernwaffenforschungszentren des Energieministeriums am stärksten durch Budgetkürzungen bedroht. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß im LLNL in den achtziger Jahren viel zum SDI-Projekt geforscht wurde und ein neuer Arbeitsschwerpunkt immer noch fehlt. Durch den Bau der NIF würden circa 1.500 neue Arbeitsplätze entstehen. Diese werden zwar zwischen den drei Laboratorien Sandia, Los Alamos, Livermore sowie der Universität Rochester, aufgeteilt, aber Livermore dürfte trotzdem den größten Teil der Forschung in der Anlage organisieren.29 Der Bau der NIF ist für Livermore inzwischen zu einer Überlebensfrage geworden. Die Lobby für dieses Projekt ist daher sehr stark. Einen ersten Erfolg konnten die Befürworter inzwischen verbuchen: im Oktober 1994 gab die Energieminsterin Hazel O'Leary bekannt, daß sie die NIF in den Antrag des DOE für das Haushaltsjahr 1995 aufnehmen will. Damit tritt das Projekt in die konkrete Planungsphase. Verläuft alles nach Plan, soll 1998 mit dem Bau der NIF begonnen werden, sie wäre dann im Jahr 2002 betriebsbereit.30

Warum Tests, wenn sie eigentlich überflüssig sind?

Ein Kritiker des neuen amerikanischen Atomwaffenforschungsprogramms bemerkte zu den Bemühungen, die Atomwaffenforschung auch während eines Teststopps fortzusetzen: „Einige dieser Vorschläge [im Rahmen eines Stockpile Stewardship-Programmes; d. Verf.] kommen gefährlich nahe an ein bewußt konstruiertes Programm, um den intendierten Effekt eines vollständigen Teststopps – eine Begrenzung der Fähigkeit neue Waffen zu entwickeln und zu zertifizieren – außer Kraft zu setzen und so zu umgehen.“ 31

Amerikanische Atomwaffenforscher weisen immer wieder darauf hin, daß keines der oben beschriebenen Programme »echte« Tests ersetzen könne. Diese Behauptung stimmt sicherlich, wenn jedes Projekt für sich betrachtet wird. Die Bemühungen einen Teststopp zu umgehen, sind aber komplementär: zusammengenommen versetzen sie Forscher durchaus in die Lage, auch ohne Tests neue Designs zu entwickeln.

Dies bestätigte auch der Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Counterproliferation, Ashton B. Carter. Auf die Frage, ob neue Waffendesigns unbedingt getestet werden müßten, antwortete er: „Ich glaube nicht, daß das auf jeden Fall zutrifft. Sicherlich für einige Arten von Atomwaffen, aber nicht für alle.32 Ein Beispiel für die Neuentwicklung von Atomwaffen ohne Atomtests ist das Projekt eines sogenannten »robusten« Atomsprengkopfes. Diese Waffe soll die neuesten Sicherheitsstandards inkorporieren sowie modular auf verschiedenen Trägersystemen einsetzbar sein. Der eigentliche Zweck des Entwicklungsprogramms liegt jedoch darin, die Atomwissenschaftler zu beschäftigen und interessiert zu halten, auch wenn sie ihre Neu- oder Weiterentwicklungen nicht mehr zur Explosion bringen können.33

Bleibt zu fragen, warum die amerikanischen Atomwaffenforscher immer noch behaupten, daß sie auch weiterhin Tests brauchen. Warum insistieren Atomwaffenforscher darauf, Waffen zu testen, selbst wenn dies gar nicht mehr nötig ist? Drei Motive können ausgemacht werden, weshalb Atomwaffenforscher auch weiterhin Atomtests durchführen wollen, obwohl sie die Weiterentwicklung von Atomwaffen auch ohne »echte« Nukleartests betreiben könnten.

Erstens dienten Atomwaffentests in den vergangenen fünfzig Jahren nicht nur der Überprüfung der theoretischen Berechnung von Atomwaffenexplosionen. Der Anthropologe Hugh Gusterson hat beschrieben, daß Atomtests noch eine ganz andere Bedeutung für Nuklearwaffenforscher haben: Atomtests sind ein Ritual, das den Forschern hilft, die eigenen Ängste, die aus der Arbeit an Massenvernichtungswaffen entstehen, zu bändigen. Atomwaffentests sind darüber hinaus ein Initiierungsritual für neue Forscher. Durch die Leitung eines selbst konzipierten Atomtests wird der neue Kollege in die Gemeinde der alten Forscher aufgenommen. In gewisser Weise legt er damit seine Meisterprüfung ab.34

Damit leitet sich der Wert von Atomtests für die Atomwaffenforschergemeinde nicht nur aus ihrem tatsächlichen Nutzen für die Waffenforschung ab. Atomtests sind zentraler Bestandteil des Berufsethos von Atomwaffenforschern.35 Der Test eines neuen Entwurfes bildet den Höhepunkt eines Forschungsvorhabens: theoretische Berechnungen werden nun zum ersten Mal an der Realität überprüft. Da Nuklearwaffen erst zweimal militärisch eingesetzt wurden, sind diese Tests die einzige Möglichkeit, die Ergebnisse der Arbeit der Wissenschaftler zu verifizieren. Siegfried Hecker, der Direktor des Los Alamos National Laboratory sieht daher in Atomtests keinen wesentlichen Unterschied zu Experimenten in zivilen Wissenschaften: „Was in Bezug auf unsere Position in Hinsicht auf den Bedarf nach Tests für Nuklearwaffen mißverstanden wird, ist, daß sie sich nicht von der Position bei anderen Hochtechnologieunternehmungen unterscheidet – das heißt, daß Komponenten- und Produkttests als unersetzlich angesehen werden. In der Autoindustrie werden Karosserien durch Millionen von simulierten Straßentests geschickt, in der Luftfahrtindustrie helfen Windtunnel neue Designs zu formen, in der Raumfahrtindustrie wird jedes Teil gründlich getestet, bevor es für einen Einsatz akzeptiert wird. Die Regierung, die Steuerzahler und die Verbraucher würden es gleichermaßen als verbrecherisch ansehen oder zumindest als eine Verletzung von professionellen Standards, wenn ungetestete Konsumenten- oder Industrieprodukte auf dem Markt angeboten werden. Und obwohl Nuklearwaffen sich in wichtigen Punkten von anderen komplexen technischen Systemen unterscheiden, ist der Bedarf nach Tests grundsätzlich der gleiche und ein Fehler hätte größere Auswirkungen.“ 36

Zweitens können durch die Betonung der Wichtigkeit von »echten« Atomtests mehr Gelder für Ersatzprogramme akquiriert werden. Eigentlich seien Waffentests unersetzlich, so die Argumentation. Wenn daher erwartet wird, daß die Atomwaffenforscher auch in Zukunft die „Sicherheit, Zuverlässigkeit und Einsatzfähigkeit“ von Kernwaffen garantieren, dann bedarf dies außergewöhnlicher Anstrengungen – und natürlich erheblicher Investitionen. Zugleich kann so die Beibehaltung der bestehenden Testanlagen gerechtfertigt werden. Sollte sich die internationale Lage verschlechtern (etwa durch einen autoritären Umschwung in Rußland), dann wären die USA in der Lage, Produktion und Modernisierung von Atomwaffen schnell wieder hochzufahren. Dies – unter dem Slogan »hedging against an uncertain future« – bekanntgewordene Konzept bildet inzwischen einen zentralen Bestandteil der amerikanischen Atomwaffenpolitik.37

Drittens weigert sich das amerikanische Militär, Atomwaffen in das Arsenal aufzunehmen, die nicht getestet sind. Die Militärs wollen keine Waffen unter ihrem Befehl haben, deren Einsatzfähigkeit sie nicht garantieren können. Selbst wenn es also gelingen sollte, neue Kernwaffen nur auf der Grundlage von Computermodellen und konventionellen Experimenten zu entwickeln, so wären diese militärisch bislang nicht nutzbar. Dies wurde unter anderem im Zusammenhang mit den Plänen für einen »robusten« Sprengkopf deutlich. Vier hochrangige Militärs beschwerten sich direkt beim stellvertretenden Verteidigungsminister und Vorsitzenden des Nuclear Weapons Council, John Deutch, über dieses Vorhaben: „Insbesondere unterstützen wir keinen Plan, einen neuen Sprengkopf zu entwickeln und zu produzieren, ohne daß dieser getestet wird.38 Welche Auswirkungen die oben geschilderten Programme auf die Bemühungen haben werden, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, ist unklar.39 Die USA sind nicht der einzige Staat der einen totalen Teststopp ablehnt. Auch Frankreich versucht gegenwärtig, ein Programm zu entwickeln, um während eines Teststopps die Modernisierung von Atomwaffen voranzutreiben. Großbritannien hat seine Nuklearwaffen bisher auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada getestet und ist damit von der amerikanischen Politik abhängig. Rußland hat bisher einen totalen Teststopp befürwortet, allerdings dürfte sich diese Position durch den amerikanischen Umschwung ebenfalls ändern.40

Die Nichtkernwaffenstaaten haben die Unterzeichnung eines totalen Teststopp-Vertrages bislang als einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Erfüllung des Abrüstungsgebotes im Nichtverbreitungs-Vertrag gesehen. Die Abkehr der USA von ihrer Befürwortung eines CTBT dürfte sie in ihrer Skepsis gegenüber der Politik der Atommächte bestärken. Innenpolitische Zugeständnisse eines in sicherheitspolitischen Fragen schwachen Präsidenten könnten somit zur Gefahr für einen der wichtigsten Verträge in der internationalen Politik werden.

Anmerkungen

1) Vgl. Andreas Zumach: Ausstieg aus dem Ausstieg, taz, 1.9.1994. Zurück

2) Vgl. Andreas Zumach: Atomwaffensperrvertrag in Nöten, taz, 28.1.1995. Zurück

3) In der Vergangenheit wurden nicht nur neuentwickelte Atomwaffen getestet. Aus dem Bestand bereits stationierter Nuklearwaffen wurden nach dem Zufallsprinzip einzelne Sprengköpfe getestet, um zu überprüfen, ob sie erwartungsgemäß funktionieren. Mit einer Einstellung dieser »Überprüfungstests« haben sich die amerikanischen Militärs inzwischen abgefunden, sie weigern sich allerdings, Neuentwicklungen unter ihren Befehl zu nehmen, deren Funktionieren bisher nicht demonstriert werden konnte. Zurück

4) The White House, Fact Sheet. July 3, 1993: Background Information: U.S. Policy on Nuclear Testing and a Comprehensive Test Ban. (Alle Übersetzungen aus dem Englischen durch den Verfasser). Zurück

5) Ebd. Zurück

6) Vgl. hierzu insbesondere Jonathan E. Medalia: Nuclear Weapons Stockpile Stewardship: The Role of Livermore and Los Alamos, CRS Report for Congress, 94-418 F, Washington, D.C., May 12, 1994. Zurück

7) FY 1994 Defense Authorization Act (Sec. 3138), hier zitiert nach Christopher E. Paine: CTB Negotiation Issues with Implications for Nuclear Nonproliferation, Paper prepared for the Panel on the Comprehensive Test Ban Treaty Negotiations, NGO Committee on Disarmament Conference »Assuring the Success of the Non-Proliferation Treaty Extension Conference«, New York, April 20-21, 1994, pp. 13-14. Zurück

8) Ebd. Zurück

9) Dies sind das Livermore National Laboratory in Californien sowie Los Alamos und Sandia National Laboratories in New Mexico. Zurück

10) Genauere Angaben, wieviel Gelder für diesen Bereich ausgegeben werden, sind schwierig, da viele Programme mehrere Funktionen erfüllen dürften. Vgl. Christopher Anderson: Weapons Labs in a New World, in: Science, Vol. 262, 8 October 1993, pp. 168-171, p. 169. Zurück

11) Vgl. auch Matthias Dembinski/ Alexander Kelle/ Harald Müller/ Annette Schaper: Gläserne Labors? Möglichkeiten der Rüstungskontrolle in Forschung und Entwicklung, HSFK-Report 1/1995. Frankfurt: Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Januar 1995. Zurück

12) Future Directions for the Nuclear Weapons Program at LLNL, in: Energy & Technology Review, January/ February 1992, pp. 13-21, p. 16. (Hervorhebungen und Übersetzung d. Verf.) Zurück

13) Vgl. Annette Schaper: The problem of defintion: Just what is a nuclear weapons test?, in: Eric Arnett (Hg.), Implementing the Comprehensive Test Ban – New Aspects of Definition, Organization, and Verification, SIPRI Research Report, No. 8, Oxford 1994, pp. 30-31. Zurück

14) Annette Schaper, The Problem …, 1994, a.a.O. Zurück

15) Vgl. Matthias Dembinski, et al., a.a.O., S. 11f. Zurück

16) Zur Kompatibilität von hydronuklearen Test mit dem Nichtverbreitungsvertrag und einem möglichen CTBT vergleiche George Bunn/Roland Timerbaev: Avoiding the 'Definition' Pitfall To a Comprehensive Test Ban, in: Arms Control Today, May 1993, pp. 15-18. Zurück

17) John D. Immele/Philip D. Goldstone: Redefining the U.S. Nuclear Weapons Program and the DOE Nuclear Weapons Complex, in: Los Alamos Science, Number 21, 1993, p. 43- 49, p. 46. Zurück

18) Ebd., p. 47. (Hervorhebungen d. Verf.) Zurück

19) Zur Funktionsweise von Atomwaffen der ersten und zweiten Generation vgl. Annette Schaper: Kernwaffen der ersten und zweiten Generation: Forschung und Entwicklung, in: Erwin Müller/ Götz Neuneck (Hrsg.): Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle: Neue Technologien, Rüstungsdynamik und Stabilität. Baden-Baden: Nomos 1991/92, S. 71-90. Zurück

20) Christopher E. Paine: CTB Negotiation Issues with Implications for Nuclear Nonproliferation, Paper prepared for the Panel on the Comprehensive Test Ban Treaty Negotiations, NGO Committee on Disarmament Conference Assuring the Success of the Non-Proliferation Treaty Extension Conference, New York, April 20-21, 1994, p. 7. Zurück

21) Vgl. Annette Schaper: The problem of defintion: Just what is a nuclear weapons test?, in: Eric Arnett (Hg.), Implementing the Comprehensive Test Ban – New Aspects of Definition, Organization, and Verification, SIPRI Research Report, No. 8, Oxford 1994, pp. 30-36. Zurück

22) U.S. Arms Control and Disarmament Agency, Office of Public Information: Issues Brief: Comprehensive Test Ban Treaty, Washington, D.C., March 15, 1994, p. 3. Zurück

23) Zitiert nach ACRONYM: A Comprehensive Test Ban: Disappointing Progress, ACRONYM Booklet No. 3, Genf, September 1994, p. 13. Zurück

24) Matthias Dembinski et al., a.a.O.. Zurück

25) William J. Broad: Vast Laser Would Advance Fusion and Retain Bomb Experts, NYT, 12. June 1994. Zurück

26) Vgl. Annette Schaper: Arms Control at the Stage of Research and Development? – The Case of Inertial Confinement Fusion, in: Science & Global Security, Vol. 2, 1991, pp. 279-299. Zurück

27) Vgl. Wolfgang Liebert et al.: Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: Ulrike Kronfeld, Wolfgang Baus, Björn Ebbesen, Markus Jathe (Hrsg.): Naturwisssenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen. Münster/Hamburg: Lit-Verlag 1993, S. 120-174, S. 146ff. Zurück

28) William B. Scott: Livermore Laser Advances Draw New Funding for Continued Research, Aviation Week & Space Technology, February 17, 1992, p. 42. (Übersetzung d. Verf.) Zurück

29) William J. Broad: U.S. Will Build Laser to Create Nuclear Fusion, NYT, 21. October 1994. Zurück

30) DOE: The National Ignition Facility, Fact Sheet, no place, 3. September 1994. Zurück

31) Christopher E. Paine, a.a.O., p. 16. Zurück

32) Office of the Assistant Secretary of Defense (Public Affairs): News Briefing, October 29, 1993, p. 8. Zurück

33) Vgl. Eric Rosenberg: A Debate Brews Over Whether To Build A New Warhead, Defense Week, August 15, 1994. Zurück

34) Hugh Gusterson: Coming of Age in a Weapons Lab: Culture, Tradition and Change in the House of the Bomb, in: The Sciences, Vol. 32, No. 3, May/June 1992, pp. 16-22, insbesondere pp. 21-22. Zurück

35) Zum Selbstverständnis von Wissenschaftlern in der Atomwaffenforschung siehe insbesondere auch: Debra Rosenthal: At the Heart of the Bomb: The Dangerous Allure of Weapons Work Reading, MA, etc.: Addison-Wesley Publishing 1990. Zurück

36) The Laboratory View (Interview with Siegfried Hecker), in: Los Alamos Science, No. 17, 1989: The Future of Nuclear Weapons: The Next Three Decades, pp. 28-35, p. 30. Zurück

37) Vgl. hierzu William M. Arkin: Agnosticism When Real Values Are Needed: Nuclear Policy in the Clinton Administration, in: F.A.S. Public Interest Report, Vol. 47, No. 5, September/ October 1994, pp. 3-10. Zurück

38) Der Brief war unterschrieben von Air Force Maj. Gen. William Jones, Army Brig. Gen. Dale Nelson, Navy Rear Adm. Philip Dur und Air Force Brig. Gen. Anthony Tolin (Mitglied des Generalstabs). Zitiert nach Eric Rosenberg: A Debate Brews Over Whether To Build A New Warhead, Defense Week, August 15, 1994. Zurück

39) Zur Zukunft des Nichtverbreitungsvertrages vgl. antimilitarismus information, Themenheft: Non-Proliferation, 12/1994. Zurück

40) Zur Position der verschiedenen Atomwaffenstaaten zum NPT und CTBT vgl. Friedensforum 1/95 (Schwerpunkt: Atomwaffen abschaffen!). Zurück

Dipl.-Pol. Oliver Meier promoviert an der Arbeitsstelle für Transatlantische Außen- und Sicherheitspolitik, FU Berlin zur amerikanischen Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ist Redaktionsmitglied der antimilitarismus information.

Kernwaffen in Südasien

Kernwaffen in Südasien

Die Proliferation muß gestoppt werden

von Otfried Ischebeck

Die Unabhängigkeit des südasiatischen Subkontinents vom britischen Kolonialregime wurde von einer Massenbewegung durch gewaltfreien Widerstand erreicht. Die Trennung des Kolonialreiches in einen moslemischen Teil, West- und Ostpakistan, und in die Indische Föderation im Jahr 1947 führte jedoch zu einem sehr gewalttätigen Bürgerkrieg und zu einem Massenexodus mehrerer Millionen Moslems aus Indien nach Pakistan und von Hindus aus Pakistan nach Indien. Ca. 1 Million Menschen wurden umgebracht.

Pakistan und Indien führten erneut gegeneinander Kriege in den Jahren 1965 und 1971. Der letzte Krieg führte zur Aufspaltung Pakistans in das heutige Pakistan und Bangladesch. Die Gefahr erneuter Kriege entstand einerseits aus dem Bürgerkrieg in Kaschmir, sowie durch die Entwicklung von Kernwaffen und Raketen in beiden Ländern. Im Laufe einer Krise um Kaschmir sollen im Jahr 1990 bereits Atomwaffen an die pakistanische Luftwaffe ausgeliefert worden sein. Erst durch eilige Vermittlung des CIA-Direktors Gates sei die Krise beigelegt worden1.

In Deutschland hört man hin und wieder, Inder und Pakistaner würden im Falle eines Krieges den Einsatz einiger Kernwaffen auf Bevölkerungszentren hinnehmen. Das heißt, Kernwaffen würden in einem Krieg nicht nur in taktischer Mission, sondern als Terrorwaffen eingesetzt. Doch sind solche »wilden« Argumentationen eher Ausnahmen unter militärischen und politischen Fachleuten in Südasien. Sowohl in Indien wie auch in Pakistan gibt es intensive Bemühungen, die regionalen Sicherheitsfragen einschließlich der Einsatzdoktrin und der Kontrolle von Massenvernichtungssystemen in regierungsabhängigen Instituten (z.B. dem Indian Institute for Defence Studies and Analyses in New Delhi und dem Institute for Strategic Studies in Islamabad) sowie an Universitäten und regierungsunabhängigen Instituten zu durchleuchten und Meinungen zu publizieren.

Viele Wissenschaftler dieser Institute und der mit Sicherheitsfragen befaßten Regierungsbeamten haben an amerikanischen oder britischen Universitäten studiert oder ausländische Militärakademien absolviert. An den nationalen Universitäten werden Vorlesungen und wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte und zu aktuellen Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle durchgeführt. Ein Europäer hat leichten Zugang zur fachlichen Debatte mit Wissenschaftlern und Politikern über Sicherheitsfragen in Indien wie in Pakistan.

Die Arbeiten dieser Institute konnten bisher jedoch kein umfassendes Sicherheitskonzept für Südasien entwickeln und in die Politik überleiten. Ausgangspunkte dafür könnten zum einen das Abkommen von Simla aus dem Jahr 1972 bilden, in dem Indien und Pakistan versichern, ihre Konflikte friedlich zu regeln, sowie die Erfahrung einer nun über zwanzig Jahre währenden Zeit ohne großen Regionalkrieg. Die Probleme liegen in der Komplexität der sicherheitspolitischen Lage im südlichen Asien:

1. Die strategischen und sicherheitspolitischen Interessen der Länder Südasiens, insbesondere Indiens und Pakistans sind nicht bipolar reziprok, wie dies im Ost-West-Konflikt der Fall war.

2. Ein umfassendes Sicherheitskonzept muß vier Ebenen ansprechen:

  • lokalisierte Konflikte,
  • konventionelle Streitkräfte,
  • Raketen und Kernwaffen,
  • die Einbindung Südasiens in umfassende Sicherheitsstrukturen.

Jede Ebene erfordert eigene Konzepte zur Rüstungsbeschränkung, Vertrauensbildung und Krisenstabilität, welche aus den speziellen Bedingungen der Region zu entwickeln sind. Alle vier Ebenen sind verknüpft. Insbesondere können Vorschläge zur Kontrolle von Kernwaffen und Raketen nicht ohne Fortschritte auf den anderen drei Ebenen erfolgreich sein.

3. Die vier Ebenen der Sicherheitspolitik in Südasien sind mit komplexen und emotionsgeladenen Konflikten der Innenpolitik verflochten, die häufig zu Gewaltausbrüchen führen. Die Verbindung von religiösen mit sozialen Bewegungen führt zu politischen Koalitionen und zu Konflikten, in welche Europäer nur wenig Einblick haben. Die Agitationen und Konflikte um den Abriß der Babry-Moschee in Ayodhya und die Bombenattentate in Bombay im Jahr 1993 sind dafür ein Beispiel. In Pakistan führt die politische und gesellschaftliche Rolle des Militärs die Politiker des Landes immer wieder zu Winkelzügen, welche von außen gesehen bizarr erscheinen.

Trotz der Unwägbarkeiten der Innenpolitik, der Spannungen und Agitationen um Kaschmir sowie um Raketen und Kernwaffen, wird gegenwärtig eine akute Gefahr eines vierten indisch-pakistanischen Krieges weder in Pakistan noch in Indien gesehen. Jedoch können die Unruhen in der pakistanischen Südprovinz Sind und insbesondere der Aufstand in Kaschmir erneut eine internationale Krise entstehen lassen. Die Regierungen Südasiens, insbesondere von Indien und Pakistan, sollten also, solange sie politisch einigermaßen handlungsfähig sind, die Zeit für Fortschritte bei der Friedenssicherung nutzen.

Machtinteressen und Machtkonstellationen

Für die Formulierung und Bewertung von Vorschlägen zur Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Südasien muß man Machtinteressen und Machtkonstellationen auf dem Subkontinent genau kennen. Eine Übertragung von im Ost-West-Konflikt erfolgreichen Ansätzen ist wenig erfolgversprechend.

Bisher wurden die militärisch orientierten Kernenergieprogramme in Indien wie in Pakistan begründet mit Erfordernissen nationaler Unabhängigkeit, mit dem gleichen Recht aller Länder, Kernreaktoren und Kernwaffen zu bauen, und – so das Argument von Zulfiqar Bhutto – der Notwendigkeit einer Fähigkeit der islamischen Länder zur Herstellung von Kernwaffen. Hinter diesen allgemeinen Begründungen standen drängendere Ängste: Indien wurde 1964, zwei Jahre nach dem für Indien sehr demütigend verlaufenen Grenzkrieg mit China im Himalaya, von der chinesischen Kernwaffenexplosion im Jahre 1964 aufgeschreckt. Als Indien im Jahr 1974 eine unterirdische Kernexplosion der Stärke der Hiroshimabombe ausgeführt hatte, drei Jahre nach dem letzten indisch-pakistanischen Krieg, breitete sich in Pakistan die Sorge vor der Erpressbarkeit durch Indien aus. Bereits in den 70er Jahren bildete sich also ein nukleares Dreieck aus China, Indien und Pakistan heraus.

Das indisch-pakistanische Problem steht im Zentrum der Sicherheitsfragen. Pakistan sucht eine Machtbalance zum Schutz vor einem möglichen indischen Angriff, wobei eingeräumt wird, daß die indischen Streitkräfte einen größeren Umfang haben können. Man spricht von einer »balanced imbalance«. In Indien sind allerdings die Begründungen für die Entwicklung von Raketen und die militärischen Nuklearprogramme nicht so sehr auf das Nachbarland Pakistan fixiert, wie es dort in umgekehrter Richtung der Fall ist. Der Konflikt mit Pakistan wird von Indien nicht als bipolar angesehen. Vielmehr sucht Indien seinen Platz in der Welt im Vergleich mit China: bei der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, im Handel, bei ausländischen Investitionen, und in der globalen politischen Rolle. Bei allen Indikatoren wird Indien hinter China eingestuft. In dieser Hinsicht werden auch die Programme zur Entwicklung von Kernwaffen und Raketen im Spiegel chinesischer Potentiale aufgefaßt, nicht hingegen als Antwort auf eine Bedrohung aus China. Durch neuerliche Verabredungen zur Truppenreduzierung und Vertrauensbildung zwischen der indischen und der chinesischen Regierung haben sich die militärischen Spannungen an der Himalayagrenze deutlich reduziert.

Indiens Orientierung an China impliziert, daß die Entwicklung und Einführung von Kernwaffen und Raketen noch vorsichtiger gehandhabt wird als in Pakistan, andererseits jedoch mit noch größerem Nachdruck. Das indische Maßnehmen an China führt zu vielen Spannungen mit den Nachbarländern Südasiens, denn Indien ist aufgrund dieser Konkurrenz nicht nur geographisch, demographisch und wirtschaftlich dominant in der Region, sondern auch militärisch.

Das sicherheitspolitische Spannungsfeld Südasiens erstreckt sich also über den südasiatischen Subkontinent hinaus. Neben der »chinesischen Herausforderung« verweisen einige Stimmen auf die amerikanische militärische Präsenz im Indischen Ozean (Militärbasis auf Diego Garcia). Vorrang in den indischen militärisch-strategischen Überlegungen hat heute nicht die Grenze am Himalaya oder die Grenze zu Pakistan, sondern die maritime Aufrüstung zur Machtprojektion über den Indischen Ozean (Entwicklung eines Atom-U-Boots samt Raketen, Bau eines Flugzeugträgers sowie eines Flugzeugs für diesen Träger). Die Gegend um Lahore ist das traditionelle Einfallstor für Invasionen des indischen Subkontinents (Tschingis Chan, Timur Leng, die Mogulkaiser, …). Trotz akuter militärischer Konflikte im Grenzgebiet zu Pakistan geben diese historischen Erfahrungen derzeit nicht Anlaß, von einer prinzipiellen Bedrohung Indiens durch Pakistan zu sprechen.

Indien hat im Oktober 1994 offiziell seine Anwartschaft auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angemeldet2. Indien würde dadurch Mitglied im Club der für den Frieden in der Welt besonders verantwortlichen Mächte. Mehr noch würde es aber im Rahmen der Vereinten Nationen als Sprecher in Sicherheitsfragen der südasiatischen Länder anerkannt. Dies wird nur gelingen, wenn Indien auf dem Verhandlungswege die aktuellen Konflikte mit Pakistan beilegen kann. Lokale Konflikte im indisch-pakistanischen Grenzbereich verbinden sich so mit der Konzeption einer Neugestaltung der weltweiten sicherheitspolitischen Ordnung.

Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung

Provinz Sind: Zeitungsmeldungen berichten fast täglich von Toten bei Schußwechseln in der pakistanischen Südprovinz Sind zwischen Sunniten und Schiiten und zwischen Eingesessenen und Zuwanderern aus Indien. Armee und Polizei versuchen unter Einsatz von Gewalt, in der Provinz die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach pakistanischen Berichten erhalten die Rebellen ihre Waffen aus Indien, welches die Unruhen im Sind als Revanche für den pakistanischen Einfluß in Kaschmir ausnutzen wolle.

Siachen Gletscher: Im östlichen Karakorum Gebirge, nicht weit vom Baltorogletscher, wo Expeditionen und Trekker aus aller Welt Achttausender besteigen und die Gipfel bewundern, liefern sich pakistanische und indische Soldaten seit 1984 einen Stellungskrieg, der bis in 7000 m Höhe hinaufgezogen wird. Ungefähr 2000 Soldaten besetzen auf jeder Seite 200 bis 300 Höhenstellungen, ca. 4000 Pakistanische und eine noch größere Zahl indischer Soldaten leisten Unterstützungsarbeit. Der Höhenkrieg kostete bisher ungefähr 1000 Menschen das Leben. Die Mehrzahl der Todesfälle sind Folge der Höhe, der Witterungsbedingungen und der Gefahren der Berge. Von beiden Seiten wird eingeräumt, daß dieser Stellungskrieg absurd ist. Ein Zurückweichen am Siachen Gletscher wird aber von jeder Seite als ein Zurückweichen im Kaschmirkonflikt angesehen und somit bleibt der Stellungskrieg bis heute bestehen. Kaschmir: Kaschmir ist seit der Unabhängigkeit Indiens ein Unruheherd und die Zugehörigkeit Kaschmir zu Indien blieb stets umstritten. Man kann nach der Religionszugehörigkeit den indisch kontrollierten Teil von Kaschmir in drei Teile zerlegen:

  • die Provinz Jammu: ca. 50<0> <>% Moslems, 50<0> <>% Hindus,
  • das Kashmir Valley, ca. 100 km lang: fast ausschließlich von Moslems bewohnt,
  • Ladakh, flächenmäßig der größte Teil des indisch kontrollierten Kaschmirs; die Bevölkerung ist überwiegend buddhistisch (Moslems: 11-12<0> <>%) und gehört ethnisch und kulturell zu Tibet.

Seit 1990 hat sich der Krieg in Kaschmir intensiviert, Indien hat zur Zeit in Kaschmir ca. 300 000 Soldaten stationiert, das ist ein Drittel der gesamten Armee. Die Intensivierung ist nicht zuletzt ein Resultat der Beendigung des Krieges in Afghanistan, welcher unter tatkräfter Hilfe des amerikanischen CIA von Pakistan aus moslemische »internationale Brigaden« geschaffen hatte, von denen danach Teile mit pakistanischer Unterstützung in Kaschmir aktiv wurden.4 Der Krieg forderte in den vergangenen Jahren 16 000 Todesopfer5.

In Pakistan wird das Kaschmirproblem als das wesentliche Hindernis für jegliche Vereinbarungen mit Indien über Sicherheit und Vertrauensbildung in Südasien angesehen. Die politische Unterstützung des Aufstandes in Kaschmir ist zu einem wichtigen Faktor der pakistanischen Innenpolitik geworden.

Beide Seiten haben in diesem Krieg viel zu verlieren. Die pakistanische Regierung und Armee riskieren einen Ansehensverlust beim eigenen Volk, wenn der Aufstand trotz pakistanischer politischer, logistischer und vielleicht sogar militärischer Hilfe niedergeschlagen werden sollte. Die indische Regierung riskiert eine Verschärfung der Autonomie- oder Unabhängigkeitsbewegungen in anderen Landesteilen und anti-indischer Strömungen in anderen Staaten Südasiens, sowie eine Vertrauenskrise in der Armee. Bei einer Abtretung des indisch kontrollierten Kaschmir an Pakistan käme Ladakh über kurz oder lang unter chinesischen Einfluß, da sich Pakistan als moslemischer Staat definiert und Ladakh weder religiös noch ethnisch mit dem übrigen Pakistan zusammenhängt.

Auf Grund des hohen Einsatzes für beide Regierungen ist zu erwarten, daß die Krise um Kaschmir noch mehrere Jahre anhalten wird. Die indische Regierung setzt auf Zeitgewinn und beharrt darauf, daß der Aufstand in Kaschmir eine innenpolitische Angelegenheit Indiens sei. Die pakistanische Regierung versucht hingegen, den Krieg zum Gegenstand internationaler Politik zu machen. Indisch-pakistanische Verhandlungen auf dem Niveau von Außenministertreffen führten zu keiner Verständigung. Die pakistanische Regierung versuchte in den vergangenen Jahren, die Menschenrechtskommission der UNO einzuschalten, fand aber bislang dabei wenig internationale Unterstützung. Moslemische Untergrundkämpfer versuchen, durch Bombenattentate in Delhi die Krise auszudehnen, vergleichbar mit der Ausweitung des Nordirland-Konflikts nach England. Langfristig können Entwicklungen aus dem Kaschmirkrieg wieder zu einer Kriegsgefahr zwischen Indien und Pakistan führen, insbesondere durch die Verfolgung von Aufständischen über die Kontrollinie hinweg.

Bereits heute wird von einigen pakistanischen Politikern versucht, den Besitz von Kernwaffen und den Aufstand in Kaschmir miteinander zu verknüpfen. Die Existenz einer nuklearen Abschreckung auf niedrigem Niveau, so wird argumentiert, habe verhindert, daß in den Jahren nach Ende des Krieges in Afghanistan ein erneuter indisch-pakistanischer Krieg ausgebrochen sei.

In den vergangenen Jahren haben sich mehrere Initiativen aus westlichen Ländern um eine Vermittlung im Kaschmir-Konflikt bemüht, jedoch ohne nennenswerten Erfolg, da beide Kontrahenten auf ihren Positionen beharrten. Nicht-regierungsgebundene internationale Gremien könnten in einem zeitlich nicht begrenzten langwierigen Diskussionsprozeß in der Kaschmirfrage u.U. vermitteln. Solche Gremien, z.B. die Pugwashbewegung, haben auch bei der Auflösung des Ost-West-Konfliktes eine wichtige Vermittlerrolle gespielt.

Konventionelle Streitkräfte

Die Rüstungsausgaben stellen in Pakistan offiziell 27<0> <>%, in Wirklichkeit aber über 40<0> <>% des Staatshaushaltes dar. Der Staat gibt doppelt soviel für Militär aus wie für Erziehung und Gesundheit. In Indien halten sich Militärausgaben und Ausgaben für Erziehung und Gesundheit ungefähr die Waage. Beide Länder haben ambitionierte Modernisierungsprogramme aller Streitkräfte: neue Panzer, Panzerhaubitzen, modernste Kampfflugzeuge, U-Boote, Fregatten, Flugzeugträger.

Vertrauensbildende Maßnahmen und Impulse zur Dämpfung der konventionellen Rüstung können den Weg zur regionalen nuklearen Rüstungskontrolle öffnen. In den vergangenen Jahren ist in dieser Hinsicht vieles erreicht worden. Im Jahr 1987 wurden die Generalstäbe mit einem roten Telefon verbunden, nachdem es durch grenznahe Manöver beinahe zu einem indisch-pakistanischen Krieg gekommen wäre.6

Kleine Schritte beim Ausbau der vertrauensbildenden Maßnahmen können wichtige Impulse geben, z.B. die Erweiterung des roten Telefons von einem Instrument zur Steuerung von Krisen zu einem regelmäßigen Informationskanal zwischen den Führungsstäben der Armeen. Als weiterer Schritt könnten feste Relationen einzelner Streitkräfte zwischen der pakistanischen und der indischen Armee nach dem Prinzip der »Balanced Imbalance«7 vereinbart werden.

Die Armeestäbe beider Seiten sind Anhänger der klassischen Panzerschule. Nun erwies sich in der europäischen Strategiediskussion der 50er Jahre die Massierung des Angriffs beim klassischen Panzerkonzept als Nährboden für die Bereitstellung taktischer Kernwaffen. Eine konventionelle Defensivorientierung der Armee könnte den Drang nach taktischen Kernwaffen dämpfen.

Kernwaffen

Im Zuge der Diskussion um eine neue Verteilung der Weltmacht stehen internationale Verhandlungen über die politische Rolle und die Kontrolle der Kernwaffen auf der Tagesordnung. Da weder Pakistan noch Indien bereit zu sein scheinen, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten, muß geklärt werden, wie eventuell auszuhandelnde regionale Abkommen mit dem Kernwaffensperrvertrag in Beziehung gesetzt werden können.

Pakistan und Indien haben in langjähriger Anstrengung die Fähigkeit zur Herstellung von Kernwaffen erworben.8 Nun wird jetzt in beiden Ländern versucht, den Kernwaffen und Trägersystemen eine sicherheitspolitische Begründung zu geben, welche über die bisherigen Begründungen hinausgeht. In Pakistan ist dies die Erfordernis einer »low-level deterrence«, die, bei Fortbestehen politischer und auch militärischer Spannungen, einen großen Krieg mit Indien verhindert. Vielfach wird argumentiert, daß in den Jahren 1989 bis 1992 (Ende des Krieges in Afghanistan, Intensivierung des Aufstandes in Kaschmir, Rückgang des amerikanischen strategischen Interesses in der Region) ein Krieg mit Indien sehr wahrscheinlich gewesen wäre, wenn nicht diese »low-level deterrence« bestanden hätte.

Lange Zeit blieb die Begründung der indischen Ablehnung eines Beitritts zum Nichtverbreitungsvertrag dieselbe: Der Vertrag errichte unter den Staaten eine Zweiklassengesellschaft9. Die Bedrohung durch China ist aber heute das entscheidende Argument, für die Ablehnung eines Beitritts. Darin liegt auch der Grund, daß die indische Regierung den pakistanischen Vorschlag einer nuklearfreien Zone in Südasien ablehnt. Diese nuklearfreie Zone soll, so die pakistanische Vorstellung, von einer Konferenz garantiert werden, an der neben Indien und Pakistan die fünf anerkannten Kernwaffenstaaten sowie Japan und Deutschland teilnehmen sollen. Im Gegenzug hat die pakistanische Regierung vor kurzem den indischen Vorschlag abgelehnt, ein Abkommen zu treffen, nach dem Bevölkerungszentren von einer nuklearen Bedrohung ausgeschlossen blieben10. Die pakistanische Regierung sieht in dieser Möglichkeit ein Druckmittel einer kleinen Atommacht gegen eine große Atommacht.

Nachdem um das Jahr 1987 die indische Regierung einen erneuten Krieg gegen Pakistan erwogen hat, um den Status von Pakistan als Kernwaffenmacht zu verhindern, schlossen Benazir Bhutto und Rajiv Gandhi im Dezember 1989 ein Abkommen, in dem sie sich gegenseitig verpflichten, auf Angriffe auf Atomanlagen zu verzichten11. Das Abkommen wurde im Jahr 1992 ratifiziert. Es kommt einer gegenseitigen Anerkennung als Kernwaffenmächte nahe.

Die amerikanische Regierung machte im Frühjahr 1994 einen Anlauf, um den Kernwaffenstatus von Indien und Pakistan international zu sanktionieren, indem sie vorschlug, beide Länder sollten ihre Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial einstellen und die Produktionsanlagen internationaler Kontrolle zugänglich machen. Im Gegenzug sollten die bisher akkumulierten Bestände stillschweigend hingenommen werden. Der Sonderbeauftragte von Präsident Clinton, Strobe Talbott, unterbreitete diesen als »capping« bezeichneten Vorschlag im April 1994 den Regierungen in Islamabad und New Delhi12.

Auf der pakistanischen Seite wurde darauf hingewiesen, daß die Produktion von waffenfähigem Material bereits auf eigene Veranlassung eingestellt worden sei13. Indische Gesprächspartner weisen zum Teil barsch darauf hin, daß sich kein Land so um Zurückhaltung bei der Herstellung von Kernwaffen bemüht habe wie Indien. Die westlichen Regierungen, vorab die der USA, sollten sich daran ein Beispiel nehmen und sich aus indischen Belangen heraushalten. Welches Schicksal dem amerikanischen Vorschlag beschieden sein wird, und wie er von den Regierungen Indiens und Pakistans jenseits aller öffentlichen Rhetorik diskutiert wird, ist noch nicht abzusehen.

Zumindest die pakistanische Bevölkerung scheint von der Vorstellung eines Einfrierens der Produktion von Kernwaffenmaterial auf amerikanischen Druck hin nicht angetan. In einer Umfrage vom April 1994 sprachen sich 73<0> <>% für einen pakistanischen Kernwaffenbesitz aus. 93<0> <>% sprachen sich gegen ein Einfrieren des Programms aus, selbst wenn die amerikanische Regierung daraufhin die bestellten F-16 Kampfflugzeuge freigeben würde. 95<0> <>% sprachen der amerikanischen Regierung die moralische Autorität ab, Pakistans und Indiens Kernwaffenprogramme in Frage zu stellen. 67<0> <>% sprachen sich hingegen für ein indisch-pakistanisches Abkommen zur Eliminierung der Kernwaffen aus. Ein mit Kernwaffen geführter indisch-pakistanischer Krieg wurde von 34<0> <>% der Befragten für möglich gehalten14.

In der öffentlichen Rhetorik üben sich beide Regierungen im andeutungsreichen Versteckspiel. Politisch wird dies als Erfolg gewertet, gelang es doch, die Kernwaffenprogramme bis an die Schwelle der internationalen Sanktionierung heranzuführen. Doch sowohl der pakistanischen, wie auch der indischen Regierung sollte klar sein, daß das bisher allseitig geübte Versteckspiel um »nuclear capabilities« ins Auge gehen kann. Argumente wie: „Wir unterschreiben den Kernwaffensperrvertrag, wenn die andere Seite unterschreibt“, oder die Ablehnung aller Vorschläge der Gegenseite mit dem Argument: „Die andere Seite lehnt alle unsere Vorschläge ab“, beschwören die Gefahr herauf, daß nach Hiroshima und Nagasaki erneut Kernwaffen in Asien eingesetzt werden.15

Raketen

Die Entwicklung von Raketen in Südasien geschieht offener als die Entwicklung von Kernwaffen. Dies mag daran liegen, daß eine Rakete aus mehreren 10 000 Teilen besteht, und deshalb vor ihrer militärischen Verwendung sorgfältig und über mehrere Jahre getestet werden muß, da eine nicht getestete Rakete militärisch wertlos ist. Die Tabelle faßt die laufenden Entwicklungsprogramme zusammen. Indien entwickelt zudem die Panzerabwehrrakete Nag und die Boden-Luft-Raketen Trishul und Akash. Die SLBM Sagarika soll eine Modifikation der Prithvi sein16.

Im Frühjahr 1994 waren Fragen des militärischen Raketenprogramms ein wichtiges Thema der indischen Innenpolitik. Wohl im Hinblick auf den bevorstehenden Besuch von Ministerpräsident Rao in Washington wurde der elfte Test der Prithvi-Rakete, der erste unter militärischer Regie, ausgesetzt und die Agni-Rakete wurde nach ihrem erfolgreichem dritten Test als »technology demonstrator« zurückgestuft17. Es sollen keine weiteren Tests stattfinden. Zuvor galt die Agni als »missile« und der dritte Test der Rakete im Mai 1994 erprobte gerade den Wiedereintrittskörper und die Zielgenauigkeit, d.h. Subsysteme von besonderer militärischer Relevanz.

Die parlamentarische Opposition witterte in den beiden Schritten ein Zurückweichen der Regierung in Fragen der Landesverteidigung vor amerikanischen Forderungen und verlangte von der Regierung Klarstellung. Die Absichten der indischen Regierung bleiben allerdings unklar. Mögliche Absichten sind:

  • Das militärische Raketenprogramm soll aus dem diplomatischen Schußfeld genommen werden.
  • Die Raketen können ein Bargaining Chip werden, um die Nuklearprogramme ungehindert weiterführen zu können.
  • Agni ist nicht die Rakete, die sich die Inder wünschen.
  • Agni ist ohne nuklearen Sprengkopf militärisch wertlos, da ihr Streuradius über 100 m liegt. Eine Stationierung von Agni würde demnach die Erklärung des Kernwaffenbesitzes bedeuten. Da die indische Regierung dazu bisher nicht bereit ist, macht es keinen Sinn, Agni als militärische Rakete (missile) auszugeben.

Bisher gibt es in Südasien keinerlei Abkommen im Bereich der Trägersysteme für Kernwaffen, insbesondere für Raketen. Doch erscheint in diesem Bereich ein Abkommen aussichtsreicher zu sein als weitere Vereinbarungen über Kernwaffen. Die Zurückstufung des Agni-Programms könnte ein erster Schritt zu einem regionalen Abkommen über Mittelstreckenraketen werden, falls sich daran auch China beteiligen würde. Dies wiederum könnte ein weiterer Schritt zur weltweiten Eliminierung von Mittelstreckenraketen sein.

Für ein regionales Abkommen müßte jedoch die untere Reichweitengrenze sehr niedrig angesetzt werden, da beiderseits der indisch-pakistanischen Grenze Millionenstädte liegen, z.B. Lahore, welche mit Raketen einer Reichweite unter 100 km vom anderen Land aus bedroht werden können. Mit Hinweis auf die schwierige Scud-Suche während des Golfkriegs halten indische Regierungsbeamte eine Eliminierung von Kurzstreckenraketen für nicht verifizierbar und deshalb nicht verhandelbar.

Kooperation im nicht-militärischen Bereich

Wenn Vereinbarungen über Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung nicht vorankommen, so sollten die Möglichkeiten einer Kooperation in zivilen Bereichen genutzt werden. Solche Kooperationen erfordern sowohl eine permanente organisatorische Basis sowie ein Aktionsprogramm, welches stetig neu gestaltet werden muß. Mögliche Bereiche der Zusammenarbeit sind:

  • Ausweitung des Handels,
  • Energieprogramme,
  • Programme zum Umweltschutz,
  • gemeinsames satellitengestütztes Netz zur Wettervorhersage und zur Fernerkundung,
  • Forschungen und Aktionsprogramme in der Medizin.

Die Wachstumsraten der indischen Wirtschaft lagen in den 80er Jahren im Mittel bei 5<0> <>%. Die um das Jahr 1990 eingeleitete Liberalisierung der Wirtschaft führte zu einem beschleunigten Boom. Von den 840 Millionen Indern zählen 150 bis 200 Millionen zum Mittelstand. Andererseits liegen die Anteile der Armen und der Analphabeten über 40<0> <>%. Die Verhältnisse in Pakistan sind nicht besser.

Die rasche Urbanisierung wird in den kommenden Jahren hohe Ausgaben für Gesundheit und Infrastruktur erfordern. Dies wurde an der Pestepidemie in Surat vom September 1994 deutlich18. Der Anschluß der armen Bevölkerung an den wachsenden Wohlstand der Mittelschicht wird ein politischer und wirtschaftlicher Parforceritt werden. Auf lange Sicht bleibt deshalb unklar, ob der südasiatische Subkontinent den Anschluß an die wirtschaftliche Dynamik Süd-Ost-Asiens und Ostasiens halten kann.

In den vergangenen Jahren knüpften sich viele Erwartungen an die im Jahr 1985 gegründete South Asian Association for Regional Development (SAARC; Sitz: Kathmandu, alle Staaten der Region sind Mitglieder). Könnte SAARC eine Rolle in Südasien spielen, wie die EG in Europa und ASEAN in Südostasien? Die Erwartungen sollten nicht allzu hoch angesetzt werden. Bei SAARC ist Indien sowohl das größte, das wirtschaftlich dynamischste und das militärisch stärkste Land. SAARC ist darum wirtschaftlich und politisch von Indien dominiert und die anderen Länder sehen dies mit Argwohn19. SAARC leidet zudem noch an der geographischen Gegebenheit, daß alle nicht-indischen Mitglieder im wesentlichen nur Grenzen mit Indien haben, so daß ein Warenaustausch unter den nicht-indischen Mitgliedern bereits von der Geographie her wenig Gewicht hat.

Die SAARC kann so als Motor einer wirtschaftlichen Integration nur eine beschränkte Rolle spielen. Sie bildet jedoch ein Netzwerk informeller Diskussionen, bei welchem bilaterale Konflikte in einem regionalen Zusammenhang erörtert werden können. Auf Grund der Beschränkungen von SAARC werden internationale Organisationen und bilaterale Kooperationen mit europäischen oder amerikanischen Ländern weiterhin eine regionale Vermittlungsarbeit leisten müssen. Bilaterale Verständigung kann an gemeinsamen Aktionen im Grenzbereich ansetzen, wie Wasserverteilung, Bekämpfung der Malaria und Schutz der Felder vor Heuschreckeneinfall. Einige gemeinsame Aktionen und Programme werden im indisch-pakistanischen Grenzgebiet bereits durchgeführt. Darüber hinaus ist eine allgemeine Ausweitung und Entpolitisierung des indisch-pakistanischen Handels nötig und möglich.

Ein wichtiger Bereich ziviler Kooperation könnte die Energieversorgung sein, vor allem im Bereich fortgeschrittener Techniken bei erneuerbaren Energien und bei der Kernenergie. Die Schaffung einer regionalen Organisation nach dem Vorbild von Euratom ist vorgeschlagen worden. Gemeinsame Zentren zur Herstellung und Lagerung von Brennstäben wurden vorgeschlagen. Diese Organisation könnte die Aufgaben und Befugnisse einer regionalen Verbindungsstelle zur IAEO wahrnehmen. Dieser Plan dürfte jedoch erst dann spruchreif werden, wenn sich sowohl Pakistan wie auch Indien auf die Beendigung der Produktion von waffenfähigem Spaltstoff verständigt haben. Das Problem ist, daß die Abtrennung des Waffenmaterials im pakistanischen und im indischen Programm an verschiedenen Stellen des Brennstoffkreislaufes erfolgt.

Sowohl Indien wie auch Pakistan unterhalten ein ziviles Weltraumprogramm. Der erste Satellit der Indian Space Research Organisation (ISRO) wurde im Jahre 1981 gestartet. Im Oktober konnte ein Satellit von 580 kg Gewicht in eine polare Umlaufbahn geschossen werden. Ziel der Raketen- und Satellitenentwicklung der ISRO ist ein geostationärer Satellit von einer Tonne Gewicht. Die pakistanische Space and Upper Atmosphere Research Organisation (SUPARCO) hat im Juli 1990 einen Satelliten mit einer chinesischen Trägerrakete in die Umlaufbahn geschossen20. Indien und Pakistan könnten also in Programmen der zivilen Raumfahrt, z.B. bei der Fernerkundung für den Umweltschutz, für die Landwirtschaft und für ein südasiatisches Netz der regionalen Wettervorhersage zusammenarbeiten.

Laufende
Raketenentwicklungsprogramme
Reichweite (km) Nutzlast (kg) Antrieb Status
Pakistan Hatf 1 80 500 fest Test
^ Hatf 2 300 500 fest 2 Stufen Test
^ Hatf 3 600 Entwicklung
^ M11 (chinesische Rakete) 300 500 fest einsatzbereit
Indien Prithvi 150/250 500 flüssig 13. Test Juni 94
^ Agni 2500 500 1. Stufe fest 2. Stufe flüssig 3. Test Feb. 94
^ Sagarika (U-Boot) 300 Ramjet Entwicklung seit 1992

Anmerkungen

1) Der frühere pakistanische Armeechef, Mirza Aslam Beg, widerspricht allerdings diesen Berichten. Das rote Telefon zwischen den Hauptquartieren Indien und Pakistan habe in dieser Krise voll funktioniert und die Leiter der militärischen Operationen beider Seiten hätten regelmäßig und häufig miteinander kommuniziert. (M. A. Beg, Who Will Push the Button? Command and Control of Our Nuclear Programme, Manuscript 1994) Zurück

2) Süddeutsche Zeitung vom 5. Oktober 1994. Zurück

3) Le Monde vom 15. Juni 1994, S. 1 und 3.

4) Einen Bericht aus indischer Sicht findet man in: India Today, 15. Mai 1994, S. 45-66. Zurück

5) Der Spiegel 21/1994, S. 134. Zurück

6) Interview mit dem pakistanischen Verteidigungsminister Syed Ghous Ali Shah, Jane's Defence Weekly, 7. November 1992. Zurück

7) Konkrete Vorschläge enthält: C. D. Maaß u. Mitarbeit von Georg Bautzmann, Überrüstung von Entwicklungsländern: Indien, Stiftung Wissenschaft und Politk, Ebenhausen, Sommer 1993. Zurück

8) Der frühere pakistanische Premierminister Nawaz Sharif erklärt am 24. August 1994, Pakistan habe die Nuklearfähigkeit erreicht (Le Monde vom 25. August 1994, S. 6), worauf der früherer Direktor der Indischen Atomenergiekomission, M. R. Srinivasan, erklärte, Indien habe ebenso die Fähigkeit Kernwaffen herzustellen (Le Monde vom 21. September 1994, S. 6). Einige Autoren, z.B. Gen.(Ret.) Mirza Aslam Beg (Pakistan's Nuclear Imperatives, Manuskript, 1994) geben an, Pakistan habe im Jahr 1987 die Fähigkeit zur Herstellung einer Kernwaffe erlangt, andere sprechen vom Jahr 1989. Ein Bericht des amerikanischen Kongresses sagt, daß Pakistan 216 kg waffenfähiges Uran produziert hat, ausreichend für 13 Atombomben (The News, Islamabad, September 5, 1994). Eine Analyse der nuklearen Kapazitäten Indiens und Pakistans geben David Albright und Tom Zomora , India, Pakistan's Nuclear Weapons: All the Pieces in Place, The Bulletin of Atomic Scientists, June 1989, S. 20-26. Der indische Plutoniumvorrat belief sich demnach im Jahr 1988 auf 200-250 kg, ausreichend für 40-45 Kernwaffen. Die jährliche Zuwachsrate ist ungefähr 75 kg. Zurück

9) Siehe z.B.: C. F. v. Weizsäcker, M. Kulessa, J. Heinrichs: Indiengespräche, Bruckmann, München 1970, S. 62. Zurück

10) Le Monde, 25. Oktober, 1994, S. 3. Zurück

11) Europa Archiv, Folge 2, 1989, Z 17. The News of Friday, Islamabad (2. September 1994, S. 9) berichtet, die pakistanische Luftwaffe habe im Jahr 1984 erwogen, die indischen Reaktoren von Tarapur in der Gegend von Bombay anzugreifen. Zurück

12) Die amerikanische Regierung bot Pakistan im Gegenzug an, die im Jahre 1990 ausgesetzte Militär- und Wirtschaftshilfe wieder aufzunehmen. Es geht dabei um ca. $US 500 Millionen im Jahr. Ebenso sollten bei einer Annahme des capping die 38 F-16 Kampfflugzeuge an Pakistan ausgeliefert werden, für die Pakistan bereits $US 658 Millionen bezahlt hat, deren Auslieferung aber von der amerikanischen Regierung verboten wurde. Zurück

13) Die pakistanische Produktion von waffenfähigem Uran wurde im Jahr 1989 gestoppt, um den Fortbestand der amerikanischen Wirtschafts- und Militärhilfe zu sichern. Im Frühjahr 1990 wurde sie wieder aufgenommen und bleibt seit Sommer 1990 wiederum gestoppt. (A. H. Nayyar, Fissile Material Cutoff in South Asia – Verification Issues, Bulletin of the International Network of Engineers and Scientists against Proliferation, No. 3, October 1994). Zurück

14) Newsline, Karachi, April 1994, S. 33-34a. Zurück

15) Eine eingehende Analyse der Verschränkungen und Paradoxe der indischen und pakistanischen Erklärungen zu Kernwaffen gibt George H. Quester, Nuclear Pakistan and Nuclear India, Military Technology, 10/93, S. 66. Zurück

16) Defense News, July 25-321, 1994, S. 15. Zurück

17) Die Süddeutsche Zeitung vom 7. Juni 1994 berichtet, daß nach Raos Besuch in Washington die Tests der Prithvi wieder aufgenommen wurden. Zurück

18) H. McDonald, Surat's Revenge, Far Eastern Economic Review, 13. Oktober 1994, S. 76. Zurück

19) In der EG gibt es keine entsprechende Dominanz eines Landes. Es erscheint im Lichte dieses Arguments geraten, die EG nicht als Vorbild einer ökonomischen Föderation in Südasien darzustellen. Zurück

20) Aviation Week & Space Technology, 10. August 1992, S. 46. Zurück

Otfried Ischebeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Die Kernwaffen in der Ukraine

Die Kernwaffen in der Ukraine

von Lars C. Colschen

Zu den sicherheitspolitisch schwerwiegenden Problemen, die von einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausgehen, gehören die dort angehäuften Kernwaffen. Die Ukraine ist neben Rußland, Weißrußland und Kasachstan eine der vier ehemaligen Sowjetrepubliken, auf deren Territorium Kernwaffen stationiert sind. Die Implosion eines Kernwaffenstaates und die daraus resultierenden Konflikte sind ein geschichtlicher Präzedenzfall, und das nukleare Nichtverbreitungsregime verfügt über keine Mechanismen, um damit adäquat umgehen zu können.

Die internationale Anerkennung Rußlands als alleiniger Rechtsnachfolger der Sowjetunion bedeutet, daß keine andere ehemalige Sowjetrepublik einen Status als Kernwaffenstaat beanspruchen kann. Im Gegensatz zur Ukraine lassen Weißrußland und Kasachstan keinen ernsthaften Zweifel an der Erfüllung der für alle drei Staaten gleichermaßen geltenden internationalen Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit. Weißrußland ist am 22.7.93 formal Mitglied des NPT als Nichtkernwaffenstaat geworden, nachdem das weißrussische Parlament START I und den NPT gleichzeitig im Februar 1993 vorbehaltlos ratifiziert hatte. Das kasachische Parlament hat beide Schritte am 2.7.92 (START I) und am 13.12.93 (NPT) vollzogen. Aus beiden Staaten hat der Abzug der Kernwaffen ohne signifikante Verzögerungen begonnen. Es kann davon ausgegangen werden, daß beide Staaten noch 1995 kernwaffenfrei sein werden.1

Die Existenz von Kernwaffen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bedeutet eine zweifache Herausforderung für das Nichtverbreitungsregime: die externe und die interne Proliferation.

Externe Proliferation bezieht sich erstens auf die geschwächten nationalen Exportkontrollen bei gleichzeitig gestiegenem Anreiz zu Nuklearexporten aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs und zweitens auf die Gefahr des »brain drain« von Nuklearexperten in Staaten mit Kernwaffenambitionen. Die hier bearbeitete interne Proliferation bezieht sich auf die Gefahr der Entstehung nicht-russischer Kernwaffenstaaten auf dem Territorium der früheren Sowjetunion. Unter diesen befinden sich in der Ukraine die meisten Kernwaffen, nukleartechnischen Anlagen und Nuklearwissenschaftler. Zum nuklearen Erbe der Sowjetunion in der Ukraine gehören fünfzehn Leistungsreaktoren mit 13,8 GWe, zwei Forschungsreaktoren (200 kWth und 10 MWth), sowie ein Metallurgie-Chemie Komplex für die Produktion von Zirkonium, Hafnium und Schwerwasser. Das Potential von Nuklearwissenschaftlern in der Ukraine wird von russischer Seite auf etwa 1.000 eingeschätzt.2

Außerdem befanden sich nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Herbst 1991 insgesamt 176 strategische Nuklearraketen (130 ICBMs vom Typ SS-19 mit je sechs und 46 ICBMs vom Typ SS-24 mit je zehn Sprengköpfen) mit 1.240 Sprengköpfen und 42 schwere Tupolev-Bomber auf den Basen Chmelnizki und Perwomajsk, die mit insgesamt 592 luftgestützten Cruise Missiles (ALCMs) vom Typ AS-15 ausgestattet sind.3 Diese Bomberflotte setzt sich zusammen aus 22 Tupolev-95 (»Bear«) mit jeweils 16 AS-15 ALCMs und 20 Tupolev-160 (»Blackjack«) mit jeweils 12 AS-14 ALCMs. Mit den insgesamt 1832 Nuklearsprengköpfen wäre die Ukraine die weltweit drittgrößte Kernwaffenmacht.

Die Nichtverbreitungspolitik der Ukraine

Die erste kernwaffenbezogene Aktivität der ehemaligen Ukrainischen SSR war eine am 24.10.91, also vor der formalen Auflösung der Sowjetunion, vom Parlament verabschiedete Erklärung, die die Kernwaffenfreiheit der Ukraine als Ziel setzt und das Kontrollrecht über die auf ihrem Territorium befindlichen Kernwaffen beansprucht.4

p>Am 21.12.91 wurden in einem »Agreement on Joint Measures on Nuclear Arms« in Alma Ata erstmals im Rahmen des am 8.12.91 in Minsk gegründeten CIS (Commonwealth of Independent States) die vollständige nukleare Abrüstung unter internationaler Kontrolle (Art. 6) und der NPT-Beitritt der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans als Nichtkernwaffenstaaten festgeschrieben (Art. 5).5 Alle taktischen Kernwaffen sollten bis Juli 1992 nach Rußland transferiert werden (Art. 6). Am 30.12.91 vereinbarten die CIS-Staaten in Minsk im »Agreement on Strategic Forces«, alle strategischen Kernwaffensysteme unter ein gemeinsames Kommando der CIS zu stellen (Art. 3) und sie bis Ende 1994 unter gemeinsamer Kontrolle zu verschrotten (Art. 4).

Am 12.3.92 deutete sich erstmals ein ukrainischer Sonderweg an, als der ukrainische Präsident Kravtschuk bezweifelte, daß die nach Rußland zu transferierenden Waffen dort auch vernichtet würden. Er ordnete die Einstellung des Abzuges der 2.600 bis 3.000 taktischen Kernwaffen an und forderte deren Vernichtung unter internationaler Kontrolle. Der Abzug dieser Waffensysteme wurde aber später fortgesetzt und am 6.5.92 beendet6.

Am 23.5.92 haben die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan ein START I-Zusatzprotokoll unterzeichnet, das sogenannte »Lissabonner Protokoll« (LP). Das Protokoll ist ein integraler Bestandteil des START I-Vertrages und das zentrale Instrument hinsichtlich der nuklearen Abrüstung der Ukraine. Es reflektiert die veränderte politische Situation und verleiht START I eine multilaterale Struktur. Das LP enthält rechtlich bindenden Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit, die an zwei Kriterien gemessen wird: Den (1) Transfer aller Kernwaffen nach Rußlan7d und (2) den Beitritt zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten in der »kürzest möglichen Zeit« (Art. V). Dennoch hat das ukrainische Parlament zunächst weder START I ratifiziert, noch ist die Ukraine dem NPT beigetreten.

Im Gegenteil. Sie schuf noch 1992 innerhalb ihres Verteidigungsministeriums ein Zentrum für die administrative Kontrolle über die Kernwaffen8. Im November 1992 folgte die präsidiale Anordnung, den Transfer der strategischen Waffensysteme nach Rußland zu unterbrechen9. Diese Entscheidung reflektierte ein taktisches Verhalten von Präsident Kravtschuk, der auch nach der Unterzeichnung des LPs, ungeachtet ihres späteren Schicksals, zunächst die Kernwaffen unter ukrainische Kontrolle stellen wollte, um deren Einsatz durch Rußland blockieren zu können10.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben die in der Ukraine stationierten Kernwaffen den historisch begründeten Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine, die bis 1991 über 300 Jahre nahezu ununterbrochen unter russischer und sowjetischer Unterdrückung litt, weiter intensiviert. In einem weiteren Schritt »nationalisierte« das ukrainische Parlament, die Verkhovna Rada, am 2.7.93 mit 226 zu 15 Stimmen mit der Verabschiedung der »Guidelines for the Foreign Policy of Ukraine« die auf ihrem Territoritum stationierten Kernwaffen11.

Dieser »Nationalsierungsbeschluß« wurde von der Ukraine als widerspruchsfrei gegenüber den NPT-Verpflichtungen perzipiert, da der Begriff »Besitz« (property) im Vertragwerk nicht geregelt sei12.

Tatsächlich hat die unabhängige Ukraine keine Kernwaffen empfangen, entwickelt oder produziert (NPT, Art.II) und ist laut NPT auch kein Kernwaffenstaat, da sie vor 1967 keinen Nukleartest durchgeführt hat (Art.IX,3). Der NPT enthält keine Bestimmungen, um eine solche Situation adäquat bearbeiten zu können.

Am 30.7.93 erklärte Präsident Kravtschuk, daß START I die modernen 46 SS-24 auf ukrainischem Territorium nicht beträfe und über deren Zerstörung nach der START-Ratifizierung separat verhandelt werden müsse13. Für zusätzliche Unklarheiten sorgte der Umstand, daß die Kernwaffenkategorien im Lissabonner Protokoll (LP) nicht differenziert aufgeführt sind, was der Ukraine ungewollt einen Interpretationsspielraum eröffnet hat. Die am 15.7.93 begonnene Deaktivierung der Kernwaffen betraf dann auch ausschließlich die SS-1914.

Die Regierung erklärte dazu, daß »natürlich« zuerst die alten, noch mit Flüssigtreibstoff betriebenen SS-19 reduziert würden. Der Grund für die Deaktivierung waren auch nicht die internationalen Denuklearisierungsverpflichtungen, sondern der bedenkliche Sicherheitszustand der SS-19. Die Deaktivierung wurde ohne parlamentarische Zustimmung vorgenommen15.

In einer bilateralen Abkommen zwischen der Ukraine und Rußland vom 3.9.93 wurde der vollständige Abzug der Kernwaffen innerhalb von zwei Jahren nach der START I-Ratifizierung vereinbart. Die Vereinbarung wurde aber drei Wochen später von Rußland annulliert, da von ukrainischer Seite der Vertragstext verändert worden war. Der Transfer „aller Sprengköpfe“ wurde dabei durch den Terminus „alle Sprengköpfe betroffen von START I“ ersetzt. Da aber START I aus ukrainischer Sicht die 46 SS-24 nicht betrifft, würde das Abkommen der Ukraine gestatten, Kernwaffen zu behalten16.

Am 18.11.93 hat das ukrainische Parlament dann START I unter Vorbehalt ratifiziert. Deren Umsetzung wurde an insgesamt dreizehn Bedingungen geknüpft. Artikel V des LPs wird dabei weiterhin als nicht bindend betrachtet, die administrative Kontrolle nicht aufgegeben, und die Kernwaffen sollen solange im Besitz der Ukraine verbleiben, wie sie sich auf ihrem Territorium befinden. Ein weiterer gravierender Vorbehalt besteht darin, daß nur 36<0> <>% der Trägersysteme und 42<0> <>% der Sprengköpfe innerhalb der von START I vorgesehenen Frist von sieben Jahren abgerüstet werden sollen17.

Diese Prozentzahlen entsprechen den in START I vorgesehenen Reduktionen für das gesamte ehemalige strategische Arsenal der Sowjetunion (von 10.271 auf 6.000 Kernsprengköpfe und von 2.500 auf 1.600 Trägersysteme). Das Parlament widersetzte sich damit dem Willen von Präsident Kravtschuk, entsprach aber den Forderungen der rechtsradikalen »Rukh«-Partei, die sich schon im Februar 1993 für eine solche proportionale Abrüstung ausgesprochen hatte18.

Eine gleichmäßige Quotierung für alle vier Staaten läßt sich aber aus dem LP nicht herleiten, da Artikel V explizit den Beitritt der Ukraine, Kasachstans und Weißrußlands zum NPT als Nichtkernwaffenstaat verlangt und nur Rußland den NPT-Status als Kernwaffenstaat zugesteht. Diese Abrüstungsquote würde es der Ukraine ermöglichen, alle modernen SS-24 und etwa 600 weitere Sprengköpfe zu behalten.

Den ständigen Forderungen von Kravtschuk nach zusätzlichen finanziellen Kompensationen und Sicherheitsgarantien zur Erfüllung des LP wurde am 13.1.1994 in Moskau mit der Unterzeichnung eines trilateralen Vertrages mit den USA und Rußland Rechnung getragen. Dabei wurden der Ukraine zusätzliche finanzielle (Geld für die nuklearen Materialien aus den abgerüsteten Kernwaffen, Kreditzusagen und Wirtschaftshilfen) und sicherheitspolitische (Grenzgarantien und nukleare Sicherheitsgarantien) Zugeständnisse gemacht19.

Die Sicherheitsgarantien der USA, Rußlands und des United Kingdom unterscheiden sich inhaltlich nicht von den ohnehin existierenden Garantien dieser Kernwaffenstaaten. Sie sind aber speziell auf die Ukraine zugeschnitten und harmonisiert worden.

Sie werden erst wirksam, wenn die Ukraine ihre Verpflichtungen aus dem LP erfüllt hat20. Diese neuerlichen Zugeständnisse kann die Ukraine als einen Erfolg ihrer hinhaltenden Politik werten, da eine vorbehaltlose START-Ratifizierung dieses trilaterale Abkommen nicht erforderlich gemacht hätte. Das Abkommen sieht zudem vor, daß in einer ersten zehnmonatigen Phase (bis Mitte Oktober 1994) 200 Sprengköpfe nach Rußland gebracht werden sollen. Tatsächlich sind im März 1994 zwei Zugladungen mit je 60 Sprengköpfen aus Pervomaysk nach Rußland transferiert worden.

Aber Kravtschuk kritisierte im März 1994 das Ausbleiben der russischen Brennstäbe, drohte mit der Einstellung der Sprengkopflieferungen nach Rußland und warnte, daß die vollständige Erfüllung der ukrainischen Verpflichtungen nur möglich wäre, wenn sie durch die ökonomischen Kompensationen gleichzeitig ausgeglichen würden21.

Es läßt sich eine Diskrepanz zwischen den internationalen vertraglichen Vereinbarungen einerseits und deren Umsetzung andererseits feststellen. Auf der Ebene der deklaratorischen Politik strebt die Ukraine unzweifelhaft die Erfüllung des LPs an. Aber in der Praxis ist weder der Abzug aller Kernwaffen nach Rußland gesichert, noch zeichnet sich ein ukrainischer NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat ab.

Die START I-Ratifizierung vom 18.11.93 hat wegen der Vorbehalte die Frage nach dem künftigen Status der Ukraine in bezug auf Kernwaffen nicht geklärt22. Auch die trilaterale Vereinbarung vom 13.1.1994 bedarf einer parlamentarischen Ratifizierung, die auf einen ungenannten Termin nach den Parlamentswahlen am 27.3.94 hinausgeschoben wurde.

Innenpolitischer Hintergrund

Es existieren im ukrainischen Parlament drei Gruppierungen, zwischen denen hinsichtlich des Umgangs mit dem nuklearen Erbe der Sowjetunion substantielle und teilweise nicht vereinbare Positionsdifferenzen bestehen. Hier liegt auch eine Teilbegründung für die widersprüchlichen Erklärungen aus der Ukraine.

(1) Die radikal-nationalistische Rechte, insbesondere die Parteien »Ukrainischer Kongreß der nationaldemokratischen Kräfte« und »Rukh«, intendiert nach dem von ihr durchgesetzten Nationalisierungsbeschluß, diese Waffen zu behalten. Sie strebt den Status als Kernwaffenmacht an und will das LP nicht erfüllen. Speziell die »Rukh« hat Kravtschuk jedwede Autorität aberkannt, nukleare Abrüstungsverträge zu unterzeichnen23.

Sowohl das LP als auch das trilaterale Abkommen wurden von der Rechten abgelehnt. Sie geht davon aus, daß die Ukraine ihre Staatsgrenzen ohne Kernwaffen nicht hinlänglich sichern kann. Die Kernwaffen können nicht vollständig liquidiert werden, solange die staatliche Existenz der Ukraine bedroht ist. Dazu müsse die Ukraine über eine signifikante nukleare Abschreckung verfügen24.

Zudem sei unverständlich, warum Rußland Kernwaffen besitzen dürfe und die Ukraine als souveräner, international anerkannter Staat dieses Recht nicht besäße25. Die Rechte wird unterstützt von der einflußreichen ukrainischen Offiziersunion mit ihren etwa 50.000 Mitgliedern26.

(2) Demgegenüber zielt die extreme Linke darauf ab, die Kernwaffen vollständig nach Rußland zu transferieren und alle internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Sie strebt einen dauerhaften kernwaffenfreien Status für die Ukraine an. Sie bestreitet nicht nur die Abschreckungsfunktion der Kernwaffen, sondern deren Existenz wird vielmehr als eine existentielle Gefahr perzipiert, da sie Rußland zu einem Präventivschlag verleiten könnte27.

(3) Dazwischen existieren verschiedene Gruppen, die keinen monolithischen Block bilden. Sie wollen ebenfalls alle internationalen Verpflichtungen erfüllen und streben eine kernwaffenfreie Ukraine an. Sie unterscheiden sich von der Linken dadurch, daß sie durch eine hinhaltende Politik diese Prozesse verzögern und die Kernwaffen als »bargaining chip« einsetzen, um sowohl militärische Sicherheitsgarantien, als auch ökonomische Zugeständnisse aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen.

Diese Position wird auch von der Regierung und Präsident Kravtschuk getragen. So betrachtet Kravtchuk die Kernwaffen nicht als militärischen Aktivposten, sondern als »material wealth«28. Kravtschuk begründet diese Ansprüche mit der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung und dem niedrigen Wohlstandsniveau der Bevölkerung, die jahrzehntelang unter dem extensiven nuklearen Rüstungsprogramm der Sowjetunion gelitten hat und durch den Abrüstungprozeß finanziell zusätzlich belastet würde. Die von der Regierung verfolgte Hinhaltepolitik zielt darauf ab, trotz der Verpflichtungen aus dem LP weitere finanzielle und sicherheitspolitische Zugeständnisse seitens Rußland und des Westens aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen. Nach wie vor erhält sich die Ukraine alle Handlungsoptionen für den Fall, daß ihre zusätzlichen Kompensationsforderungen nicht erfüllt werden sollten. Insgesamt ist diese Taktik aus ukrainischer Sicht bisher als erfolgreich zu bewerten, wie das trilaterale Abkommen beweist. Eine Fortsetzung dieser Taktik durch Präsident Kravtschuk ist nicht auszuschließen.

Der von der internationalen Staatengemeinschaft ausgeübte Druck wird von Kravtschuk als unverständlich und unverhältnismäßig bewertet. Er verweist darauf, daß auch andere Staaten über Kernwaffen und geheime Kernwaffenprogramme verfügen und nicht dem NPT beigetreten sind. Der politische Druck auf diese Staaten fiele aber ungleich geringer aus, und die Kernwaffenprogramme würden von der Staatengemeinschaft hingenommen oder sogar gefördert29.

Eine Militärdoktrin, aus der sich Rückschlüsse auf die künftige Nichtverbreitungspolitik ziehen ließen, existiert nicht, obwohl sich eine Vorlage seit Anfang 1993 in der parlamentarischen Beratung befindet. Erste Entwürfe wurden von Teilen des Parlamentes als »zu pazifistisch« abgelehnt30.

Die Parlamentswahlen

Die Parlamentswahlen vom 27.3.94 haben einen weiteren potentiellen Konflikt offensichtlich werden lassen. Die Polarisierung hat zugenommen, da die extremen Parteien durchweg Stimmenanteile und damit Parlamentssitze hinzugewinnen konnten.

Zudem offenbarten die Wahlen eine starke regionale Polarisierung. In der Ostukraine gewannen besonders die moskautreuen Kommunisten und andere Parteien des linken Spektrums, die eine stärkere Anlehnung an Rußland und teilweise sogar einen Anschluß an Rußland propagieren. Dagegen dominierten die extreme Rechte und moderaten Nationalisten in der Westukraine. Sie orientieren sich nach Westeuropa. Die Machtposition des Zentrums und der Demokraten und damit der ohnehin instabilen Regierung um Präsident Kravtschuk wurde weiter geschwächt. Auch andere reformorientierte Parteien verloren Sitze in der Verkhovna Rada. Das konfrontative Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative hat sich weiter verschärft31. Keine Gruppierung konnte sich durchsetzen, und das Parlament bleibt weitgehend entscheidungsunfähig. Die innenpolitische Situation hat sich auch durch die wirtschaftliche Krise weiter zugespitzt. Ein Bürgerkrieg und ein Auseinanderbrechen der Ukraine sind angesichts der politischen Gegensätze zwischen dem Osten und Westen der Ukraine nicht auszuschließen.

Einfluß der USA/des Westens

In den USA und anderen NATO-Staaten besitzt die horizontale Nichtverbreitung von Kernwaffen eine hohe politische Priorität. Ein NPT-Beitritt der Ukraine würde die Chancen für eine von den USA angestrebte unbegrenzte NPT-Verlängerung erhöhen und wäre eine Bestätigung der Vitalität des nuklearen Nichtverbreitungsregimes. Ziel des Westens ist es, daß aus der Auflösung der Sowjetunion letztlich mit Rußland nur ein Kernwaffenstaat hervorgeht. Dennoch wurde, als sich der Zerfall der Sowjetunion abzeichnete, die ukrainische Kernwaffenproblematik von der Bush-Administration zunächst nicht thematisiert. Bush warnte lediglich vor einem »selbstmöderischen Nationalismus« und galt seitdem als Gegner eines souveränen ukrainischen Staates. Die diplomatischen Anstrengungen wurden auf Rußland und Präsident Yeltzin konzentriert. Erst als die Probleme bezüglich der Kernwaffen auf ukrainischem Boden virulent wurden, wurde der Ukraine eine intensive diplomatische Aufmerksamkeit zuteil. Die dann einsetzenden Bemühungen der USA verstärkten in der Ukraine die Perzeption, daß Kernwaffen eine Schlüsselfunktion besitzen, um politische Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Clinton-Administration hat die Bemühungen für eine kernwaffenfreie Ukraine intensiviert und die bilateralen Beziehungen, z.B. durch die Bildung einer bilateralen Arbeitsgruppe für Verteidigungsfragen, ausgebaut32.

Zudem profitiert die Ukraine anteilmäßig von den vom US-Congress gebilligten Finanzhilfen im »Safe and Scure Dismantlement Program« (SSD), dem sogenannten »Nunn-Lugar Act«, für eine vertragsgemäße Vernichtung der Kernwaffen. Von der Gesamtsumme waren zunächst $ 175 Mill. für die Ukraine vorgesehen. Weitere $ 155 Mill. wurden der Ukraine als Wirtschaftshilfe zugesagt33.

Die ursprüngliche US-Politik, erst Geld zu vergeben, nachdem die Ukraine START I vorbehaltlos ratifiziert hat und dem NPT als Nichtkernwaffenstaat beigetreten ist, wurde im Frühjahr 1993 aufgegeben, um die begonnene Deaktivierung der SS-19 finanziell abzusichern34.

Am 4.3.94 erklärte die Clinton-Administration eine Aufstockung der Zuschüsse auf insgesamt $ 700 Mill. (je $ 350 Mill. für den nuklearen Abrüstungsprozeß und als Wirtschaftshilfe)35.

Die finanziellen Erfordernisse für den Denuklearisierungprozeß in der Ukraine sind umstritten. Die Ukraine bezeichnet die genannten Finanzhilfen als unzureichend. Ursprüngliche Forderungen der Ukraine beliefen sich auf $ 1,5 Mrd.36. Sie stiegen bald auf $ 2,8 Mrd.37.

Solche Forderungen waren für die USA inakzeptabel. Sie waren aber bereit, der Ukraine den Erlös aus dem Verkauf der nuklearen Materialien, geschätzte $ 1-2 Milliarden, zukommen zu lassen38.

Offiziell betrachtet die Clinton-Administration die Existenz einer unabhängigen und starken Ukraine als in ihrem Interesse liegend.

Aber die vorbehaltlose Erfüllung der Verpflichtungen aus dem LP wurde von den USA zu der essentiellen Vorbedingung für „erfolgreiche und langfristige Beziehungen zwischen beiden Staaten“ gemacht. Bis dahin seien Kooperationen in allen Politikfeldern, inklusive wirtschaftlicher Vereinbarungen, nur sehr begrenzt möglich39.

Dies gilt insbesondere für eine über die Sicherheitsgarantien hinausgehende sicherheitspolitische Kooperation. Bisher wurde in diesem Zusammenhang explizit der Begriff der »security guarantees« vermieden, da sie eine NATO-ähnliche »Schutzschirmlösung« nahelegen würde40.

Ein NPT-Beitritt der Ukraine mit einem Sonderstatus als „transitional country with nuclear weapons“, wie er von Verteidigungsminister Morozov im Juli 1993 vorgeschlagen wurde, ist für die USA inakzeptabel. Die Clinton-Administration bedient sich dabei einer Mixtur aus politisch-diplomatischem Druck einerseits, sowie ökonomischen Anreizen und politischen Zusagen andererseits (»carrot and stick approach«)41.

Auch die NATO hat die Ukraine mehrfach dazu aufgefordert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Die Drohung mit dem Ausschluß der Ukraine aus dem North Atlantic Cooperation Council (NACC42) wurde aber nicht realisiert, da die NATO sich entschied, die Ukraine durch eine Politik der Einbindung zu beeinflussen43.

Allerdings wäre es undenkbar, so der belgische Außenminister Claes, die von der NATO geplante »Partnership for Peace«-Initiativ44e auch der Ukraine anzubieten, solange diese sich weigert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Der Einfluß Rußlands

Für die Ukraine sind sowohl die politische Situation in Rußland als auch die Politik Rußlands gegenüber der Ukraine wesentliche Einflußfaktoren bei der Bestimmung der eigenen Nichtverbreitungspolitik. Bereits am 4.11.92 hatte der russische Oberste Sowjet zwar START I gebilligt, stellte die Ratifizierung aber explizit unter den Vorbehalt der Beitritte der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten. Auch Sicherheitsgarantien wurden zunächst an die vorbehaltlose START-Ratifizierung geknüpft45. Im trilateralen Abkommen gab Rußland dann aber doch die von der Ukraine geforderten Sicherheitsgarantien ab. Rußland weigert sich aber, die vorbehaltliche START I-Ratifizierung der Ukraine anzuerkennen. Um zusätzlichen Druck auszuüben, erklärte das russische Verteidigungsministerium im November 1993, daß Rußland die Annahme der ukrainischen Kernwaffen bald verweigern müßte, weil sie zu unsicher werden würden und deren Auseinandernehmen zu gefährlich würde46.

In einem bilateralen Abkommen wurde im Austausch für die transferierten Kernwaffen vereinbart, Brennstäbe für den Betrieb ziviler Kernkraftwerke an die Ukraine zu schicken. Dabei wird das hochangereicherte Uran (HEU) aus den ukrainischen Sprengköpfen auf Kosten der USA zu Brennstäben mit niedrig angereichertem Uran (LEU) verarbeitet47.

Trotz solcher eigenen Beziehungen werden die amerikanisch-ukrainischen politischen Beziehungen in Rußland skeptisch beurteilt. Die russische Regierung betrachtet insgesamt eine Strategie des politischen Drucks prinzipiell als erfolgversprechender als den »carrot and stick approach« der USA48.

Neben diesen Aktivitäten auf offizieller Ebene versuchen russische Altkommunisten und Nationalisten den ukrainisch-russischen Konflikt weiter zu schüren. Sie unterstützen die Kräfte in der Ukraine, die für eine »Kernwaffenmacht Ukraine« sind. Ihre Motivation beziehen sie dabei aus ihrer Gegnerschaft zum noch nicht ratifizierten START II-Vertrag. Eine Ukraine mit Kernwaffen würde eine solche Ratifizierung in Frage stellen. Allerdings dürfte ein fortgesetzter Denuklearisierungsprozeß in Rußland und eine kernwaffenfreie Ukraine ein geringeres sicherheitspolitisches Risiko bedeuten als keine Umsetzung von START II und eine nuklear bewaffnete Ukraine.

Ein russischer Präventivschlag für den Fall, daß die Ukraine die Kernwaffen auf Dauer zu behalten gedenkt, ist (noch) kein Bestandteil der russischen Politik. Derartige Reaktionen können aber auch nicht ausgeschlossen werden, zumal sich Moskau in seiner neuen Militärdoktrin nach wie vor einen nuklearen Erstschlag vorbehält und das »nahe Ausland« zu seinem alleinigen Einflußbereich deklariert49. Trotz des trilateralen Abkommens enthält die russische Politik insgesamt weniger kooperative Elemente und zielt eher darauf ab, die Ukraine im internationalen System politisch zu isolieren.

Folgen eines Scheiterns der Denuklearisierung der Ukraine

(a) Abrüstungspolitische Konsequenzen: Die zeitliche Entkopplung von START-Ratifizierung und NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat kann zur Verzögerung des START-Gesamtprozesses führen. Rußland und die USA werden ohne die Erfüllung beider Bedingungen aus dem LP durch die Ukraine auch nicht das Folgeabkommen START II ratifizieren können, da START II auf START I basiert50.

Insofern wäre die Umsetzung beider START-Verträge und damit die erst vor wenigen Jahren zumindest auf quantitativer Ebene eingeleitete Umkehr des vertikalen Proliferationsprozesses gefährdet.

Für den 1995 stattfindenden Aushandlungsprozeß über eine NPT-Verlängerung wären sowohl eine Entscheidung für einen Status als Kernwaffenstaat als auch eine über 1995 hinausgehende Verzögerungstaktik der Ukraine eine schwere Hypothek.

Eine nuklear bewaffnete Ukraine würde die Effektivität und Nützlichkeit des NPT und auch des Nichtverbreitungsregimes in Frage stellen. Ein möglicher ersatzloser Zusammenbruch des NPT könnte das gesamte Nichtverbreitungsregime zerfallen lassen, da dann auch andere Staaten Ambitionen entwickeln könnten, nuklear zu proliferieren. Ein anderes Szenario bestünde darin, daß sich die Mehrheit der Staaten nur für eine kurzzeitige Verlängerung des NPT ausspricht, um die Regulierung der Kernwaffenfrage in der Ukraine abzuwarten. Inwieweit ein Kernwaffenstaat Ukraine darüber hinausgehend einen »Dominoeffekt« auslösen könnte, ist abhängig von schwer kalkulierbaren Reaktionen anderer Akteure, aber nicht auszuschließen.

(b) Folgen für die Ukraine: Scheitern alle Bemühungen um eine kernwaffenfreie Ukraine, wäre sie nicht nur vertragsbrüchig geworden, sondern würde als Folge diplomatisch und politisch isoliert und ein Paria im internationalen System werden. Mit eigenen Kernwaffen wären wirtschaftliche und politische Sanktionen durch die internationale Staatengemeinschaft verbunden, die sich durch einen »Sitz am Tisch« der Kernwaffenstaaten – wenn die Ukraine diesen überhaupt erhalten würde – schwerlich aufwiegen ließen. Aus dieser Perspektive hätte die Ukraine mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Daher wäre ein solcher Schritt vor der ukrainischen Bevölkerung nur dadurch zu rechtfertigen, wenn mit der Aufgabe der Kernwaffen gleichzeitig die staatliche Existenz durch Rußland unmittelbar bedroht wäre. In diesem Fall würde ein eigenes Kernwaffenarsenal als legitim perzipiert und würde allen internationalen Sanktionen übergeordnet werden. Die Kernwaffen würden unabhängig von ihrer Funktionsfähigkeit bereits eine gewisse Abschreckungsfunktion erfüllen, weil sie auch bei hoher Unsicherheit hinsichtlich ihres Zustandes einen nicht kalkulierbaren Faktor darstellen würden. Andererseits würden sich ukrainische politische Entscheidungsträger und Militärs langfristig kaum mit einer solchen Außenwirkung zufriedengeben, sondern sicherstellen wollen, daß die Kernwaffen einen hohen Verläßlichkeitsgrad aufweisen. Dabei müßte die Ukraine, neben erheblichen finanziellen und organisatorischen Kosten, auch die »positive operative Kontrolle« über »ihre« Kernwaffen erlangen und technische Fragen hinsichtlich der Wartung dieser Kernwaffen lösen.

Fazit

Insgesamt befanden sich die Akteure, die an der Effektivität und Aufrechterhaltung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes interessiert sind, in einer politischen Dilemmasituation. Sie konnten die drastischen politischen Veränderungen nach der Implosion der Sowjetunion und die drohende Gefahr der Entstehung neuer Kernwaffenstaaten nicht ignorieren. Gleichzeitig haben die politischen Bemühungen um eine Beseitigung der in der Ukraine stationierten Kernwaffen dazu geführt, daß sich die Ukraine ihrer tatsächlichen Machtposition erst richtig bewußt geworden ist. Sie haben somit ungewollt zu der unkalkulierbaren und widersprüchlichen Nichtverbreitungspolitik der Ukraine beigetragen. Die Bush-Administration machte den Fehler, die Ukraine zu einem Zeitpunkt zu vernachlässigen, als sie internationale Unterstützung für ihre Souveränitätsbestrebungen und ihre Etablierung als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft suchte. Der Ukraine wurde erst politische Aufmerksamkeit geschenkt, als sich die Kernwaffen auf ihrem Territorium sich bereits zu einem manifesten Problem der nuklearen Nichtverbreitung entwickelt hatten. Die Erhöhung des internationalen politischen Gewichtes eines ökonomischen Krisenlandes hat dazu beigetragen, daß dieser Staat nicht wie vorgesehen von den Kernwaffen zügig Abschied nimmt. Eine kernwaffenfreie Ukraine sieht sich in der Gefahr, in eine relative Bedeutungslosigkeit abzurutschen, wie dies den meisten anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bereits widerfahren ist. Die Kernwaffen werden, neben der Schwarzmeerflotte, vielfach als das sichtbarste Attribut der ukrainischen Staatlichkeit betrachtet. Aus dieser Perspektive ist eher das politische Verhalten Kasachstans und Weißrußlands bemerkenswert, nicht das der Ukraine.

Der Konflikt um die Kernwaffen in der Ukraine verläuft auf drei interdependenten Ebenen:

(1) Auf der innenpolitischen Ebene zwischen den politischen Gruppierungen im ukrainischen Parlament. Dort stehen sich teilweise unvereinbare Positionsdifferenzen gegenüber. Dazu besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges und eines Auseinanderbrechens der Ukraine.

(2) Auf der bilateralen Ebene zwischen Rußland und der Ukraine. Sie ist geprägt durch die historischen Erfahrungen der Ukraine und die Perzeption einer existentiellen Bedrohung durch Rußland.

(3) Auf der multilateralen Ebene zwischen der Ukraine und den anderen START I-Vertragspartnern, speziell den USA und Rußland. Hier geht es um die vertragsgemäße Implementation der Vereinbarungen aus dem LP und die nachträglich damit verknüpften finanziellen und sicherheitspolitischen Bedingungen der Ukraine.

(ad 1) Die Wahlen vom 27.3. haben keiner parlamentarischen Gruppierung zum Sieg verholfen. Die Polarisierung im Parlament hat sich weiter verstärkt. Die Nichtverbreitungspolitik bleibt unklar und mehrere Szenarien sind denkbar. Wenn die radikal-nationalistischen Rechte die politische Macht übernehmen würde, bestünden wenig Aussichten für eine Verbesserung der politischen Beziehungen mit Rußland, und auch die Bemühungen der anderen Vertragsstaaten um eine START I-Implementierung und einen NPT-Beitritt der Ukraine blieben wahrscheinlich ergebnislos. Verlöre Kravtschuk die Präsidentschaftswahlen am 26.6.94 zudem an einen Vertreter der radikal-nationalistische Rechten, verschlechterten sich die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine weiter. In diesem Fall wäre ein Szenario am wahrscheinlichsten, in dem die Ukraine versucht, die »positive Kontrolle« über die Kernwaffen zu erlangen und die perzipierte Bedrohung seitens Rußland nuklear abzuschrecken. Dann würden weder negative noch positive wirtschaftliche und politische Sanktionen die Ukraine zur Aufgabe der Waffen bewegen können. Eine Erweiterung des »nuklearen Schutzschirmes« auf die Ukraine durch die USA oder eine vollständige Denuklearisierung Rußlands wären hier mögliche, aber mittelfristig unwahrscheinliche Lösungsmöglichkeiten.

Bliebe die jetzige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungstaktiken beim Abzug der Kernwaffen, verknüpft mit neuerlichen finanziellen und (sicherheits)politischen Forderungen, nicht auszuschließen.

Neben der Polarisierung in der Verkhovna Rada gefährden innenpolitische Konflikte speziell zwischen der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit (rund 40 Millionen) und der starken russischen Minderheit (etwa 14 Millionen) die staatliche Einheit der Ukraine und stellen einen weiteren Unsicherheitsfaktor hinsichtlich eines geordneten und planmäßigen Transfers aller Kernwaffen nach Rußland dar. Hinzu kommt die Wirtschaftkrise, die den sozialen Frieden gefährdet. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann jede weitere Verzögerung des Denuklearisierungsprozesses folgenschwer sein.

(ad 2) Die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine sind eng mit der politische Situation in Rußland verknüpft und müssen solange als gering eingeschätzt werden, wie die instabile politische Lage in Moskau anhält oder sich noch verschärft. Verbessern sich die diplomatischen Beziehungen zu Rußland und stabilisiert sich dort die politische Situation, würde auch die militärische Bedrohung im Parlament geringer eingeschätzt, was wiederum die Chancen für eine vertragsgerechte START-Implementierung und einen NPT-Beitritt erhöhen würde.

Die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine sind legitim und von der Regelung der Kernwaffenfrage nicht zu trennen. Das entscheidende Kriterium ist die ukrainische Perzeption. Die Notwendigkeit eines Schutzes gegenüber Rußland ist in Politik, Militär und der Bevölkerung weit verbreitet. Dies ist Ausdruck großen Mißtrauens gegenüber dem übermächtigen Nachbarn. Eine kernwaffenfreie Ukraine mit einem nuklear bewaffneten Rußland wird vielfach als existentielle Bedrohung empfunden. Eigene Kernwaffen sollen diese Unterschiede nivellieren.

Zudem vermindern Wahlerfolge von Parteien mit imperialistischen Ambitionen in Rußland, wie die der »Liberaldemokratischen Partei« von Schirinowski, die Aussichten auf bessere bilaterale Beziehungen. Wenn zudem der »Westen« die Ukraine sicherheitspolitisch nicht stärker einbindet, könnte sich die Ukraine um Alternativen bemühen, ihre nationale Sicherheit allein und gegebenenfalls mit Kernwaffen zu gewährleisten.

(ad 3) Die USA und Rußland haben mit dem trilateralen Abkommen und den zusätzlichen Sicherheitsgarantien gekoppelt mit finanziellen Anreizen erreicht, daß die Ukraine sich zu ihren Verpflichtungen aus dem LP erneut bekannt hat. Das trilaterale Abkommen wird vielfach als der letzte Mosaikstein bei der Konfliktlösung um die Kernwaffen in der Ukraine betrachtet.

Es ist aber fraglich, ob diese multilateralen Aktivitäten die anderen beiden Konfliktebenen hinreichend beeinflussen können, um die Umsetzung dieser Verpflichtungen zu gewährleisten.

Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr, daß der Einfluß, der von den anderen beiden Ebenen auf die Gesamtproblematik ausgeht, dafür sorgt, daß die Chancen einer vertragsgemäßen Umsetzung nicht entscheidend steigen können. So kann auch das trilaterale Abkommen das ukrainische Mißtrauen gegenüber Rußland nicht beseitigen oder die innenpolitischen Positionsdifferenzen aufheben.

Eine enge sicherheitspolitische Kooperation mit dem Westen oder gar ein NATO-Beitritt der Ukraine würden erfolgversprechender darauf hinwirken können, daß eine nukleare Abschreckung gegen Rußland auch vom ukrainischen Parlament mehrheitlich nicht mehr als erforderlich perzipiert wird, ist aber wegen der politischen Reaktionen aus Rußland unrealistisch.

Um das Ziel einer kernwaffenfreien Ukraine erreichen zu können, ist eine erfolgreiche Bearbeitung der Konflikte auf allen drei Ebenen unabdingbar. Ein erster Schritt auf diesem Weg wären vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Ukraine und Rußland. Zweitens kann eine intensivere und gezieltere Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft dazu beitragen, den sozialen Frieden wiederherzustellen und einen Zerfall des Staates verhindern. Die bislang zugesagten Wirtschaftshilfen und Kredite sind nicht ausreichend.

Unter dem Gesichtspunkt, daß ein ukrainischer Bürgerkrieg jederzeit ausbrechen kann, sollten die Anstrengungen zur gleichzeitigen Regulierung aller drei Konfliktebenen unverzüglich verstärkt werden.

Ausblick

Die bestehenden Konflikte um die Kernwaffen in der Ukraine lassen nur wenige unzweifelhafte Aussagen über die künftige ukrainische Nichtverbreitungspolitik zu. Solange die innenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine und Rußland so instabil bleiben, scheinen selbst bindende politische Vereinbarungen, inklusive des LPs und des trilateralen Abkommens, keine Gewähr dafür zu bieten, daß die Ukraine letztlich kernwaffenfrei wird (und bleibt). Die Ukraine ist innerhalb des nuklearen Nichtverbreitungsregimes derzeit kein verläßlicher Akteur.

Psychologisch betrachtet wird es immer schwieriger, die Ukraine von der Aufgabe der Kernwaffen zu überzeugen, desto länger sich Politiker, Militärs und Bevölkerung als Kernwaffenstaat wahrnehmen.

Da die Ukraine ihre abrüstungspolitischen Verpflichtungen bezüglich der SS-24 anders interpretiert als hinsichtlich der SS-19 und Bomber, können auch die ersten beiden Transfers von je 60 Sprengköpfen kein Indiz dafür sein, daß die Ukraine sich auf dem Weg zur Kernwaffenfreiheit befindet. Die modernen SS-24, die für sich allein ein Abschreckungspotential darstellen, werden den Kardinalpunkt in diesem Konflikt darstellen. Bleibt die bisherige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungen verknüpft mit neuen Forderungen wahrscheinlich. Solche Verzögerungen können aber angesichts der instabilen innenpolitischen Situation in der Ukraine dazu führen, daß ein Bürgerkrieg in einem Staat mit Kernwaffen stattfindet. Kommt die extreme Rechte an die Macht, kann dies zu einer Konfrontation mit Rußland führen, bei der die dann in der Ukraine verbliebenen Kernwaffen die Art und Weise der Konfliktaustragung entscheidend prägen können.

Literatur

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UNIDIR Newsletter, »START and Nuclear Disarmament – Documentation«, No.22/23, Genf, Juni/September 1993, S. 36-55.

Anmerkungen

1) Arms Control Today, März 1994, S. 24. Zurück

2) Schröder, 1992, S. 46-47. Zurück

3) Bezüglich der Bomberanzahl und Sprengköpfe existieren unterschiedliche Zahlenangaben. Alle hier genannten Zahlenangaben beziehen sich auf: The International Institute for Strategic Studies, »Military Balance, 1993-1994«, London, October, 1993, S. 240-243. Zurück

4) Lockwood, April 1994, S. 20. Zurück

5) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 31-32. Zurück

6) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

7) In der CIS ist die Zerstörung der Kernwaffen aus technischen Gründen nur in Rußland möglich. Zurück

8) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

9) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

10) Coll, 1993. Zurück

11) Potter, 1993, S. 101. Zurück

12) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 53. Zurück

13) Lockwood, September 1993, S. 25. Zurück

14) IISS, 1993, S. 91. Zurück

15) Lockwood, September 1993, S. 30. Zurück

16) Trust and Verify, Oktober 1993, S. 1-2. Zurück

17) Trust and Verify, December 1993, S. 1. Zurück

18) Potter, 1993, S. 104. Zurück

19) Arms Control Today, März 1994, S. 23. Zurück

20) Arms Control Today, März 1994, S. 22-23. Zurück

21) Arms Control Today, April 1994, S. 20. Zurück

22) Sollte die Ukraine Kernwaffen behalten, wird die Wartung dieser Waffensysteme ein wesentliches Problem. Dabei figuriert das Material Tritium an prominenter Stelle. Da es sich um tritiumabhängige thermonukleare Kernwaffen handelt und Tritium mit einer jährlichen Rate von 5,5<0> <>% zerfällt, muß dieser Zerfall in bestimmten Zeitabständen kompensiert werden. Es befinden sich aber keine Tritiumproduktionsanlagen in der Ukraine. Siehe dazu: Colschen, 1994, S. 23-28. Zurück

23) Shapiro, 1994. Zurück

24) Potter, 1993, S. 102-103. Zurück

25) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

26) Lockwood, Mai 1993, S. 23. Zurück

27) Hoagland, 1993. Zurück

28) Reuter, 3. Dezember 1993. Zurück

29) UNIDIR Newsletter, Juni/September 1993, S. 48. Zurück

30) Magenheimer, Heinz, 1993, S. 38. Zurück

31) IHT, 20. April 1994. Zurück

32) Smith, 8.Juni 1993. Zurück

33) Goshko, Dezember 1993. Zurück

34) Lockwood, November 1993, S. 28. Zurück

35) Greenhouse, 5.-6.März 1994. Zurück

36) Bohlen, Januar 1993. Zurück

37) Katz, Oktober 1993. Zurück

38) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

39) Lockwood, Mai 1993, S. 24. Zurück

40) Hoagland, 1993. Zurück

41) Keeny, 1993, S. 2. Zurück

42) Im NACC kooperieren NATO-Staaten und die Mitglieder der früheren Warschauer Paktes auf militärischer Ebene. Zurück

43) Reuter, 2. Dezember 1993. Zurück

44) Diese NATO-Initiative soll die militärischen und politischen Beziehungen zu den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes weiter vertiefen. Zurück

45) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

46) Associated Press, 1.12.1993. Zurück

47) Arms Control Today, März 1994, S. 21. Zurück

48) Brown, 1993, S. 28. Zurück

49) Spiegel, November 1993, S. 168-169. Zurück

50) START II befindet sich in den USA seit dem 15.Januar 1993 und in Rußland seit dem 2.März 1993 in der parlamentarischen Beratung. Zurück

Lars C. Colschen ist Diplom-Politologe, seit 1990 Mitglied von IANUS/Darmstadt. Dienstliche Adresse: IANUS, Schloßgartenstraße 9, 64289 Darmstadt, Tel.: 06151-163016, FAX: 06151-164321.

Teststopp in den USA

Teststopp in den USA

Der Widerstand der A-Waffen-Lobby

von Erdmute Otto • Martin Kalinowsky

Nachdem die USA letztes Jahr noch einmal 6 Atomtests durchgeführt hatten (England und Frankreich sowie GUS keine; China 2), schlossen sie sich den bestehenden Moratorien von Frankreich und Rußland an. Präsident Bush unterzeichnete im Oktober 1992 das Nuclear Testing Moratorium Act, auch Hatfield Amendment genannt.

Das Moratorium gilt für die USA und GB bis Ende Juni 1993. Die USA werden bis 9/1996 »nur« noch bis zu 15 weiteren Tests durchführen oder auch gar keine mehr. Das Testen kann frühestens wieder fortgeführt werden, wenn der Präsident 90 Kongress-Sitzungen (ohne Unterbrechung durch die Pause von August bis Januar) vorher einen Bericht gegeben hat, der mehrere Punkte enthalten muß:

  • Plan zum Erreichen eines CTB; Plan, Sicherheitsmerkmale in allen Kernwaffen zu installieren; Anzahl und Art der geplanten Atomtests, u.a.. Der Kongress hat die Möglichkeit, wichtige Teile des Berichts durch Mißbilligung zu Fall zu bringen.
  • Außerdem dürfen Atomtests nur nach Sicherheits- und Zuverlässigkeitstests zugelassen werden.
  • Nach 9/1996 können die USA nur dann weitertesten, wenn ein anderer Staat bis dahin das Testen wieder aufnimmt. Das betrifft auch China, das auf dem Standpunkt steht, noch Nachholbedarf und Rechtfertigung zu haben.

Auf einem Treffen mit Boris Jelzin Anfang April stimmten beide Präsidenten überein, daß die Verhandlungen für einen CTB möglichst früh beginnen sollten. Die US-Regierung meint damit noch diesen Sommer.

Es besteht außerdem eine große Chance, daß nach 1947, 1950 und 1959 zum erstenmal seit langem wieder ein Jahr ohne Atomtest verstreicht. Die Hoffnungen darauf hatten sich mit dem Regierungswechsel in den USA verstärkt.

Die Erstellung von Plan und Begründung neuer Tests hat sich mittlerweile so weit verzögert, daß mit Verstreichen des 18. Mai immer unwahrscheinlicher wird, ob die notwendigen 90 Sitzungstage noch zusammenkommen. Dies ist nur noch möglich, wenn sich der Beginn der Herbstpause verzögert, was allerdings öfter vorkommt. Sollte der Termin tatsächlich verstrichen sein, dann wäre der nächste US-Kernwaffentest frühestens 1994 durchführbar.

Navy und Air Force sind aber nicht bereit, Geld auszugeben für die Sicherheitsvorkehrungen, die getestet und dann an den Kernwaffen installiert werden sollen. Das beweist, daß die geplanten Sicherheitstests keinen Sinn mehr haben würden.

Die Arms Control und Disarmament Agency und Department of Defense argumentieren wegen der Proliferationsgefahr für eine »no first test policy«. So kam es bisher noch zu keiner Einigung unter den Regierungsbehörden.

Gleichzeitig haben zahlreiche Mitglieder von Senat und Abgeordnetenhaus sowohl Resolutionen, die den Beginn von CTB-Verhandlungen fordern, als auch einen Gesetzesvorschlag unterschrieben, in dem es um die Kosten der britischen Atomtests (incl. der ökologischen) geht.

In fast allen wichtigen Tageszeitungen wurden diese Vorgänge mehrfach in Editorials kommentiert und gegen weitere Kernwaffentests argumentiert.

Das alles ist sehr ermutigend für TeststopgegnerInnen, aber es gibt immer noch starke Kräfte für die Fortsetzung von Kernwaffentests.

Aber …

Das Department of Energy (DoE) und Großbritannien halten an ihren Plänen für weitere Tests fest. Ein erster wurde für Juli angesetzt, wieder abgesetzt, worauf ein weiterer für September angekündigt wurde, der nun allerdings nicht mehr einhaltbar ist.

Auch von den Kernwaffen-Laboratorien des DoE wird Druck ausgeübt, um eine Änderung des Gesetzes zu bewirken.

Sie arbeiten auch ohne offiziellen Auftrag an neuen Kernwaffendesigns weiter, der »Mininuke« (weniger als 1 Kilotonne) im Bereich von einer Kilotonne, dem Sprengkopf zum Durchbohren von Beton und Erdschichten und einem Sprengkopf, der einen starken elektromagnetischen Impuls generieren soll. Die Labs geraten allerdings zunehmend in die Defensive. Gemeinsam mit dem DoE, DoD und dem Joint Chief of Staff drängen sie die Clinton Administration darauf, nach 1996 unbefristet weiterzutesten, allerdings mit einer Höchstgrenze von einer Kilotonne.

Zahlreiche Mitglieder von Senat und Haus wandten sich daraufhin an Clinton und äußerten ihre Besorgnis über diesen das Gesetz mißachtenden Vorschlag, unter anderem, weil sie annehmen, daß er sowohl die Glaubwürdigkeit als auch die eigenen Anstrengungen unterminiert, die Weiterverbreitung von Kernwaffen zu verhindern. Nach der Reaktion der Clinton-Administration zu urteilen scheint dieser Vorschlag zumindest vorläufig gestorben zu sein.

Die Kernwaffenlaboratorien befassen sich zunehmend ernsthaft mit der Frage, ob und wie sie in Zukunft ohne Kernwaffentests auskommen können. Das soll v.a. mit neuen und altbewährten AGEX (Above Ground Experiments) Technologien erreicht werden (Hydrodynamische Tests, Computersimulationen, Trägheitseinschlußfusion, etc.).

Diese können zwar nicht ein voller Ersatz zum unterirdischen Testen sein, aber sie sollen offensichtlich die Expertise in den für Kernwaffen wesentlichen Feldern der Physik erhalten.

Dafür sollen auch neue Einrichtungen gebaut werden, und es ist sehr wahrscheinlich, daß der Etatposten für Kernwaffentests bei einem Teststop sogar steigt. So ist der Bau der National Ignition Facility geplant, der rund eine halbe Milliarde $ kosten soll.

Wahrscheinlich ist, daß die USA als erste wieder beginnen Atomtests durchzuführen, denn weder Frankreich noch Rußland wollen die ersten sein, die wieder testen. Die AtomtestgegnerInnen in den USA betonen besonders, wie einmalig diese Chance ist und wie gefährlich es wäre, sollten die USA sie zunichte machen.

Solange noch die Chance besteht, daß die Herbstpause des Kongresses in diesem Jahr spät genug beginnt und Clinton doch noch den Bericht vorlegt, engagieren sich in diesen Wochen die beiden Seiten intensiv zur Durchsetung ihrer Interessen.

AktivistInnen rufen dazu auf, Briefe an Clinton und Abgeordnete zu schreiben. Sie planen außerdem einfallsreiche Aktionen, um der Lobbyarbeit derjenigen, die weitere Tests wolle, etwas entgegenzusetzen.

Beispielsweise wird um den 6. Juni herum eine der größten Demonstrationen und gewaltfreien Aktionen seit den frühen 80er Jahren in Livermore, Californien, erwartet. Dort ist eins der drei Kernwaffenlaboratorien.

Was hat das mit uns zu tun?

Als Mitglied der Europäischen Union, als NATO-Mitglied und als ein Land, das die US-Kenwaffen im eigenen Land als »Schutz« immer noch duldet, hat Deutschland ebenso eine Verantwortung, sich zu Kernwaffentests zu äußern.

Erdmute Otto, Psychologin und Martin Kalinowsky, Kernphysiker bei IANUS, verbrachten dreieinhalb an- und aufregende Monate in Los Alamos (New Mexiko, USA). Im nächsten Heft (3/93) wird von ihnen ein ausführlicher Bericht über die Entwicklung der Kernwaffenforschung 50 Jahre nach Gründung des Los Alamos National Laboratory erscheinen.

Technologietransfer oder Technologieblockade?

Technologietransfer oder Technologieblockade?

von Achim Seiler

Der folgende Aufsatz versucht sich der Frage zu nähern, ob eine Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (horizontale Proliferation) am besten durch eine umfassende und im Idealfall totale Beschränkung und Kontrolle der Weitergabe von relevanten Technologien zu erreichen ist, oder aber vielmehr durch eine massive und relativ bereitwillige Zurverfügungstellung der im Norden generierten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse. Ziel des letztgenannten Ansatzes ist die baldmögliche Schließung der politischen und sozio-ökonomischen Gegensätze zwischen Nord und Süd unter Inkaufnahme der Beschleunigung der Weitergabe des Wissens um massenvernichtungswaffenrelevante Technologien. Der Ansatz dieses Beitrages wird somit überraschen, impliziert er doch offensichtlich eine Infragestellung der politischen Gültigkeit der gegenwärtigen Bemühungen um konzertierte Aktionen zur Eindämmung der Proliferationsgefahr. Um es gleich vorwegzunehmen: dies ist nicht die Intention dieses Artikels. Ziel dieses Aufsatzes ist vielmehr, aus technologie- und entwicklungspolitischer Sicht auf Defizite bei der Analyse der Proliferationsproblematik hinzuweisen, die sich vor allem aus einer nicht-adäquaten Berücksichtigung der Süd-Dimension der Problematik ergeben.

Das Problemverständnis, mit welchem die politischen Entscheidungsträger in den westlichen Industrienationen gegenwärtig versuchen, die deutlich gestiegene Proliferationsgefahr politisch in den Griff zu bekommen, ist technisch verkürzt und zielt hauptsächlich auf die Etablierung symptombekämpfender Kontrollmöglichkeiten, wie die Einrichtung von safeguard-Systemen oder neuerdings multinationale Beschäftigungsprogramme für Atomwissenschaftler aus der ehemaligen UdSSR. Nicht-Weiterverbreitungspolitik ist nach diesem Verständnis status-quo-orientiert und somit lediglich Teil eines global wirksamen Politikmusters, welches versucht, das internationale System der ungleichen Verteilung politischer und ökonomischer Nutzen und Lasten bei der Neugestaltung der politischen Weltordnung zu reetablieren und so lange wie zeitlich noch möglich, zugunsten der im Westen gewohnten Konsum- und Lebensgewohnheiten aufrechtzuerhalten. Folglich überrascht es nicht, daß die westlichen Industriestaaten – alarmiert durch die im Irak aufgebaute Kombination von Träger- sowie Nukleartechnologien bzw. ein umfangreiches Spektrum an Massenvernichtungswaffen – zwar schnell bereit sind, im Rahmen von lancierten UN-Aktionen aktiv an der Zerstörung dieser bedrohlichen Potentiale mitzuwirken, sich aber weiterhin sehr zurückhaltend zeigen, was die Einlösung ihrer eigenen Abrüstungsverpflichtungen gemäß dem NPT-Vertrag anbetrifft. Durch die Weigerung zum Abbau der eigenen Arsenale an Massenvernichtungswaffen, wie auch zu einem umfassenden Teststop soll die alte Nuklearlogik weiterhin aufrechterhalten werden, auch wenn der unmittelbare Gegner zur Zeit abhanden gekommen zu sein scheint.

Vor allem hinsichtlich der hier angelegten Verengung auf die militärische Dimension von Sicherheit, die zudem entschieden einseitig ausgelegt wird, besteht die Gefahr der Etablierung eines „verteidigungspolitischen Fundamentalismus“ (Till Bastian) der reichen Industriestaaten als einer Grundkonstante bei der anstehenden Neuordnung der politischen Welt.

Ein weiteres gravierendes Defizit des etablierten Non-Proliferationsansatzes ist, abgesehen von der Eurozentriertheit und der Fixierung auf die militärpolitische Dimension von Sicherheit, daß die hier unternommenen Anstrengungen in erster Linie Symptome bekämpfen und der faktischen Weiterverbreitung von Technologien und Kenntnissen, die zum Aufbau von Massenvernichtungswaffen relevant sind bzw. relevant werden, systematisch hinterherhinken. Wurde unter »Proliferation« zunächst nur die horizontale Weiterverbreitung von militärisch relevanter Nukleartechnologie verstanden – die vertikale Aufrüstung stand nie zur Disposition – so wurde der Begriff allmählich auch auf den Bereich der B- und C-Waffen ausgedehnt und umfaßt, seit dies aus der Sicht des Nordens akut geworden ist, mit den dazugehörigen Trägertechnologien seit wenigen Jahren zum ersten Mal auch ein Segment »konventioneller« Rüstung (MTCR).

Blickt man zurück auf ca. 20 Jahre mehr oder minder erfolgreiche Geschichte der Nicht-Weiterverbreitungsbemühungen seit Existenz des NPT-Vertrages, so bleibt zunächst festzuhalten, daß sich die Zahl der Atomwaffenstaaten in diesem Zeitraum faktisch verdoppelt hat. Trendprojektionen, so problematisch sie auch sind, gehen für das Jahr 2030 von weltweit 40 Kernwaffenstaaten aus – das hieße, daß somit jeder vierte souveräne Staat in der Völkergemeinschaft zu jenem Zeitpunkt im Besitz nuklearer Sprengkörper sein würde1. Es handelt sich also bei dem Begriff der Non-Proliferation – wie auch vermutlich dem dazugehörigen Gedankengebäude – um einen sich selbst und die Öffentlichkeit irreführenden Euphemismus. Es sollte daher besser von Proliferationsverzögerung gesprochen werden. Damit würde auch der Weg frei gemacht werden, den Blick endlich stärker auf die Ursachen und Mechanismen der Weiterverbreitung zu legen: Rüstungsexporte, vermeintlicher politischer Status-Gewinn nach innen und außen, sowie die Möglichkeit, sich im Hinblick auf die kommenden Auseinandersetzungen um lebenswichtige Ressourcen frühzeitig ausreichende Optionen in der jeweiligen Region zu sichern.

Die ökonomische und ökologische Dimension der Proliferation

Vor allem im Hinblick auf die offensichtlich verdrängte Frage nach den politischen und ökonomischen Ursachen für das massive Interesse vieler Regierungen in der 3. Welt am Erwerb von Massenvernichtungswaffen, liegt der zentrale Schwachpunkt der etablierten Non-Proliferationsbemühungen. Nicht-Weiterverbreitung wird, aufs Technische reduziert, zu einem Baustein bei der Rekonstruktion einer alten Weltordnung gemacht, die die ökonomischen und ökologischen Dimensionen globaler Sicherheit geflissentlich ignoriert. So ist bezeichnenderweise keine Rede davon, bei der politischen Neuordnung der Welt ein Junktim herzustellen zu den legitimen Bedürfnissen der Länder in der 3. Welt nach einer längst überfälligen Neuordnung der Weltwirtschaft. Konkrete Maßnahmenkataloge, die seit über 20 Jahren auf den Foren der Vereinten Nationen verhandelt wurden, die in vielen Dokumenten in schriftlicher Form fixiert sind, und die von den Industrieländern gerade auch im Hinblick auf ihre Mitverpflichtung am ökonomischen und damit auch sozialen und politischen Wohlergehen der Völker im Süden, mitunterzeichnet wurden, werden nach dem Zerfall der UdSSR mehr denn je in unverhohlen neokolonialistischer Attitüde als politische Makulatur behandelt.

Dabei zeigen die inzwischen nicht mehr zu ignorierenden Katastrophentrends weltweit an, wie berechtigt die hier aufgestellten Forderungen auch heute noch sind, und gerade angesichts der zunehmend erkannten Verflechtung ökonomischer und ökologischer Entwicklungen in ihrem Kern dringender denn je auf der weltpolitischen Agenda stehen müßten. Hierzu gehören die Forderungen nach einer massiven Unterstützung der 3. Welt beim Aufbau eigener wissenschaftlich-technischer Kapazitäten; nach einem kostengünstigen Zugang zu Patenten und Lizenzen; nach verringerten globalen Rüstungsausgaben und der Umwidmung der hierdurch freiwerdenden Mittel zugunsten entwicklungspolitischer Ziele; nach einer Stabilisierung der Exporterlöse für Rohstoffe und die allgemeine Einhaltung von Ethik-Standards im wirtschaftlichen Umgang der Staaten miteinander (code of conduct); nach einer Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% (bzw. 1%) des Bruttosozialprodukts der Industrieländer und einer Erhöhung des Anteils der Entwicklungsländer auf 25% der Weltindustrieproduktion bis zum Jahre 2000. Demgegenüber läßt sich feststellen, daß die Industrieländer, abgesehen von verbalen Zugeständnissen, bislang nicht bereit waren – und dies vor dem Hintergrund der Schuldendekade heute weniger denn je sind – den legitimen Forderungen der Entwicklungsländer nach strukturellen Reformen der globalen Wirtschafts- und Finanzmechanismen substantiell entgegenzukommen.

Vielmehr ist seit Beginn der 80er Jahre, im wesentlichen mitverursacht durch die Hochzinspolitik der amerikanischen Regierung, mit welcher die überzogenen Rüstungsanstrengungen der USA finanziert werden sollten, eine Entwicklung eingetreten, die aus entwicklungspolitischer Sicht grotesker nicht sein könnte. Durch den weltweiten Anstieg der Zinsen sahen sich immer mehr Länder nicht mehr in der Lage, die zu variablem Zins auf dem freien Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite (mit denen sowohl Importinvestitionen, als auch der Kauf von Großwaffensystemen aus den Industrieländern finanziert wurden), termingerecht zu bedienen. Die Folge waren und sind regelmäßige Umschuldungsverhandlungen, bei welchen die Regierungen der verschuldeten Länder ihre nationale Souveränität partiell aufgeben und die harten, ausschließlich an der Wiederherstellung der Zinsendienstfähigkeit orientierten wirtschaftspolitischen Auflagen des Internationalen Währungsfonds akzeptieren müssen. Da sich immer mehr Länder im gleichen Zeitraum somit gezwungen sehen, immer größere Mengen – hauptsächlich agrarischer – Rohstoffe auf dem Weltmarkt abzusetzen, um mit den hier erzielten Verkaufserlösen die hohen Zinsen und Umschuldungsgebühren bezahlen zu können, sind die Rohstoffpreise seit Beginn der 80er Jahre real um ca. 40% gefallen. Mit den immer niedrigeren Erlösen sollen aber Verbindlichkeiten gegenüber dem Norden bedient werden, die sich mittlerweile auf 1,3 Billionen US$ belaufen, ohne daß der Norden jedoch bereit wäre, in entsprechendem Umfang seine Märkte für höherwertige Exportgüter aus den Entwicklungsländern zu öffnen. Jährlich findet somit, insbesondere durch Schulden- und Zinsendienst, ein Nettokapitaltransfer von Süd nach Nord in Höhe von 60 Milliarden US$ statt. Sowohl indirekt infolge des Rohstoffdumpings, als auch durch den direkten Kapitaltransfer von Süd nach Nord, finanzieren somit die Armen den ökologisch ruinösen Wohlstand der Reichen, der nun seinerseits wieder dazu verwendet wird, durch den Aufbau und die latente Drohung mit dem Einsatz eines hochtechnisierten und vielseitig differenzierten Militärapparates (AirLandBattle) den Status Quo der ungleichen globalen Nutzen-Lasten-Verteilungen militärpolitisch abzusichern.

Der Aufbau und die Finanzierung der hierfür notwendigen, immer teureren, Waffen- und Logistiksysteme wird nun, da dies über eine Ausweitung der Militärbudgets innenpolitisch in den Industriestaaten nicht mehr möglich erscheint, durch eine Erhöhung der Produktionsstückzahlen und den umfangreichen, gerne auch kreditfinanzierten Export eben dieser Waffen in die 3. Welt gesehen. Hierdurch ergibt sich die Paradoxie, daß einerseits die mühsam und teuer generierten Rüstungstechnologien aus Kostengründen transferiert werden müssen, damit gleichzeitig jedoch, in Abhängigkeit von der wissenschaftlich-technischen Absorptionsfähigkeit des jeweiligen Empfängerlandes, der Innovationsvorsprung des Nordens bei Rüstungsgütern, d.h. also auch der Herrschaftsvorsprung, durch überlegene Aufklärungs- und Zerstörungsmechanismen tendenziell wieder preisgegeben wird.

Politische Exportkriterien

Am Wettlauf um die »nachholende Entwicklung« bei Rüstungstechnologien können auch politische Exportbestimmungen der Industrieländer, die etwa wie die Endverbleibsklauseln nach »guten« und nach »schlechten« Abnehmerländern zu unterscheiden versuchen, prinzipiell nichts ändern. Der Transfer des in die Waffensysteme eingebauten Wissens und die inkorporierte Technologie wird sich auf diese Weise nicht regulieren, sondern allenfalls zeitlich etwas verzögern lassen, zumal »verbündete« Regierungen in der 3. Welt oftmals auf den schwächsten sozialen Füßen stehen und ihre innen-, außen- sowie bündnispolitische Konstanz von daher in vielen Fällen mehr als fraglich ist. Ferner kann die von einem Abnehmerland als vertraulich zu behandelnde Waffentechnologie in sich bereits einen ausreichenden Anreiz für ihre Regierung darstellen, diese Technologie im Wissen um die ohnehin zeitlich befristete Dauer der technischen Brisanz auf dem grauen Markt halbstaatlicher Tauschgeschäfte gegen andere, z.B. unmittelbar proliferationsrelevante Technologien und Materialien zu tauschen, an die man ohne adäquates »Eintrittsticket« sonst nicht herankäme (Uran gegen Know How bei Trägertechnologien). Darüberhinaus steht die Rüstungslobby in den Industrieländern mittlerweile unter so starken Exportzwängen, daß die Empfängerländer vor dem Hintergrund einer inzwischen immer breiter gefächerten Palette von Anbietern durchaus in der Lage sind, als Vorbedingung für die Öffnung des eigenen militärischen Beschaffungsmarktes – etwa für Kampfpanzer aus amerikanischer Produktion – die gleichzeitige Aufnahme der Lizenzproduktion von amerikanischen Kampfjets (F-15) im eigenen Land zu fordern (Ägypten).

Dies gilt nun vor dem Hintergrund der verstärkten Non-Proliferationsbemühungen umso mehr, als Staaten im Austausch gegen den Verzicht beispielsweise auf die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen klare Bedingungen stellen können, welche Gegenleistungen finanzieller, politischer, diplomatischer oder – immer wichtiger – technologischer Art, von ihnen im Austausch erwartet werden. Oftmals werden die tatsächlich geleisteten Transfers ziviler (Weltraumforschung) oder militärischer Technologien lediglich dazu benutzt, um unmittelbar an anderen proliferationsrelevanten Feldern, etwa im Bereich der Trägertechnologien, weiterzuarbeiten. Schließlich ist mit jeder Übertragung von Wissen oder Technologie in ein anderes Land, sei es in Form von (Rüstungs)exporten, Lizenzen, schlüsselfertigen Produktionsanlagen, Blaupausen oder Know How, irreversibel die Stärkung und Weiterentwicklung der dortigen bodenständigen Technologiekapazitäten verbunden. Damit entfallen aber ebenso irreversible nichtmilitärische Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten zur Kontrolle mißliebiger Verwendungs- und Nutzungszusammenhänge gegen den Willen der dortigen Regierungen. Es entfällt, technologisch bedingt, in der Tendenz natürlich ebenso die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel, um unbotmäßige Staatsführungen zur Einhaltung der von den Industrieländern gewünschten Bestimmungen zu zwingen. Der vermeintliche Ausweg, der von den Industrieländern auch offensichtlich gangbar gemacht werden soll, um – abgestützt durch überlegene militärische Optionen – innerhalb oder außerhalb der UNO, neue politische Instrumente zur Kontrolle unerwünschter Entwicklungen zur Verfügung zu haben, ist daher die permanente Weiterrüstung in der vollen militärischen Bandbreite offensiver und defensiver Potentiale.

GPALS als falscher Lösungsweg

Gerade jedoch der Aufbau weltraumgestützter Verteidigungssysteme (GPALS) als einseitiger technischer Ausweg aus dem politischen Dilemma, die Staaten der 3. Welt zumindest hinsichtlich ihrer Militärpotentiale und der von ihnen ausgehenden Bedrohung inzwischen als vollwertige Mitglieder der Staatengemeinschaft anerkennen zu müssen, läuft auf ein aberwitziges Wettrennen hinaus. Die teuer erworbenen technologischen Vorsprünge im Norden werden durch den Zwang zu kostensenkenden Rüstungsexporten jeweils wieder zunichte gemacht. Unter Kostenaspekten dürften bei der hier angelegten Etablierung eines militärischen Nord-Süd-Gegensatzes dieselben Argumentationsmuster gelten, die auch in der SDI-Debatte von den Befürwortern nicht widerlegt werden konnten: weltraumgestützte Verteidigungsanstrengungen stehen in keinem wie auch immer vertretbaren Verhältnis zu den relativ preiswert zu modifizierenden Angriffstechnologien.

Unter dem Aspekt der Bindung gigantischer Ressourcen in einem neuen, uferlosen Rüstungswettlauf, wird sich der ökonomische Graben zwischen Nord und Süd nur vertiefen, die inzwischen dringendst gemeinsam zu lösenden Menschheitsprobleme hingegen werden sich auf absehbare Zeit weiter vergrößern. Daß aus bündnispolitischen Gründen offensichtlich einzelne ausgewählte Länder der 3. Welt (z.B. Israel) beim Aufbau eines weltraumgestützten Abwehrsystems von vornherein miteinbezogen werden – somit auch ein Technologie-Sharing stattfindet –, kann die Geschwindigkeit nur erhöhen, mit welcher militärtechnologische Vorsprünge auf der Verteidigungsseite durch Verbesserungen der Offensivkapazitäten obsolet werden. So berechtigt dieses Vorgehen gerade im Falle Israels auch sein mag, politisch wird damit die Spannung des Nahen Ostens in eine militärtechnische Rückversicherung der Stabilisierung des gegenwärtigen Status Quo eingebaut. Die ohnehin eurozentristisch und symptombekämpfend angelegten Non-Proliferationsbemühungen werden hierdurch sicherlich nicht schlüssiger.

Defizite der etablierten Non-Proliferationsansätze

Selbst wenn man dem eurozentristisch verkürzten Ansatz der etablierten Non-Proliferationsbemühungen folgt, und auf ein dringend gebotenes Junktim zwischen der Etablierung einer alten Neuen Weltordnung und den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verzichtet, ergeben sich aus dem bislang skizzierten folgende immanente Widersprüche, an denen die »Non-Proliferation« letztlich scheitern dürfte:

  1. Die Regierungen in den Industrieländern werden erkennen müssen, daß sie die Entwicklung bodenständiger Fähigkeiten zum Bau von Massenvernichtungswaffen in den Ländern der 3. Welt nicht werden verhindern können, mit ihren eigenen Rüstungsexporten aber sehr wohl zu einer Beschleunigung der Verbreitung proliferationsrelevanter Technologien (etwa bei Trägertechnologien) beitragen.
  2. Der Versuch, bei Beibehaltung der eigenen militärisch-offensiven Optionen im Norden zur Einrichtung einer einseitigen Sicherheitszone zur Abwehr begrenzter Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu kommen, um sich auf diese Weise den erwünschten machtpolitischen Spielraum erhalten zu können, dürfte die politische Bereitschaft im Süden zur horizontalen, aber auch zur vertikalen Proliferation nur vergrößern.
  3. Eine lückenlose Kontrolle der in die Entwicklungsländer exportierten Technologien bzw. der Rüstungsrelevanz der dort generierten Wissensbasen wird nicht möglich sein. Schließlich würde dies darauf hinauslaufen, durch Technologieblockaden die Staaten in der 3. Welt an der Erreichung des industriellen Entwicklungsstandes des Deutschen Reiches von 1914 (C-Waffen) oder der USA Anfang der 40er Jahre (A-Waffen) zu hindern.
  4. Bei der Überwachung des Transfers proliferationsrelevanter Rüstungsgüter in die Entwicklungsländer darf also nicht nur nach dem waffentechnologischen Leistungsstand der Industrieländer zu Beginn der 90er Jahre ausgegangen werden. Auch der Export oder die eigenständige Produktion von Komponenten und Bauteilen der vorletzten Generation müßte weiterhin kontrolliert werden, um Umwegstrategien zu verhindern. Damit werden in der Tendenz immer mehr Technologien aus ungleichzeitigen Technologieentwicklungen proliferationsrelevant. Die politischen Bemühungen, Inspektionen und technische Kontrollen bei allen in den Entwicklungsländern installierten chemischen Anlagen – etwa zur Produktion von Pflanzenschutzmitteln – einzuführen, werden von den Staaten der 3. Welt mit dem Verweis abgelehnt werden, daß es sich hierbei lediglich um den neokolonialen Versuch handele, den Aufbau eigenständiger Industriestrukturen im Süden behindern zu wollen. Dies gilt insbesondere solange die Kernwaffenstaaten im Norden ihrerseits nicht zur umfassenden Abrüstung bei Kernwaffen bereit sind und darüberhinaus reziproke Kontrollen ihrer eigenen Anlagen durch Vertreter des Südens akzeptieren.
  5. Das selbst in den Industrieländern erst rudimentär wahrgenommene zivil/militärische Wechselverhältnis (dual use/dual purpose) trifft selbstverständlich auch für die in die Entwicklungsländer exportierten Hochtechnologien zu. In Abhängigkeit vom jeweils erreichten wissenschaftlich-technischen Standard, wird es insbesondere den Schwellenländern möglich sein, unter zivilen Vorzeichen akquirierte Technologien aus dem Ausland für militärische Belange einzusetzen (Weltraumforschung/Kernenergie).
  6. Die Forderungen der Industrieländer an die Schwellenländer, den Export bodenständig entwickelter Rüstungsgüter mit hoher Proliferationsrelevanz (Kampfflugzeuge/Raketen) einzustellen, wird von den entsprechenden Regierungen unter sarkastischem Verweis auf haushaltstechnische Notwendigkeiten angesichts der drückenden Schuldenlast abgelehnt (Brasilien/Indien) oder aber zum Hebel für den Transfer hochsensibler dual use-Güter gemacht, die mittlerweile strikten Ausfuhrkontrollen im Norden unterliegen.

Gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung

Es ist vielmehr notwendig, die Welt am Ende eines an Fanatismus und ideologischen Fehleinschätzungen reichen Jahrhunderts als das wahrzunehmen, was sie ist: interdependent und verletzlich. Es waren lange Jahre des Wettrüstens im Norden erforderlich, um hier die Erkenntnis reifen zu lassen, daß ein einseitiger Gewinn an Sicherheit schließlich lediglich die Unsicherheit der anderen Seite erhöht und somit als zentrale Triebkraft für gegenseitiges Wettrüsten fungiert; »Sicherheitspartnerschaft« und »Kooperation statt Konfrontation« waren und sind die Ergebnisse. Angesichts der realen Gefahr der Etablierung eines neuen, weltweit wirkenden Gegensatzes zwischen Nord und Süd, wobei Verbalradikalismus und terroristische Aktivitäten in südlichen Ländern zum Anlaß für einen »verteidigungspolitischen Fundamentalismus« im Norden genommen werden, ist es dringend geboten, von Seiten der Friedensforschung verstärkt darauf hinzuweisen, daß es sich die Menschheit angesichts der alarmierenden wirtschaftlichen und ökologischen Schieflagen auf dem Globus nicht mehr leisten kann, noch einmal 40 Jahre durchzurüsten, bis sich die Erkenntnis der Sicherheitspartnerschaft auch im Nord-Süd-Verhältnis durchgesetzt haben wird. Anstatt im Norden nun einen Weg zu gehen, der – abgestützt durch astronomisch teure Weltraumsysteme – politisch ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückführt und auf (einseitige) militärische Sicherheit statt globale Entwicklung setzt, wären die Länder im Norden besser beraten, gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung anzustreben. Das notwendig gewordene neue Verständnis von globaler Sicherheit muß in Zukunft neben der militärischen auch gleichermaßen die ökonomischen und ökologischen Dimensionen von Sicherheit miteinbeziehen. Nur so kann gewährleistet werden, daß Massenvernichtungswaffen von den Staaten der 3. Welt nicht als politische Instrumente erworben und regional eingesetzt werden, um sich angesichts der Verknappung der Ressourcen frühzeitig angemessene Entwicklungs- und Zugriffsoptionen – etwa auf umstrittene Trinkwasservorkommen – sichern zu können.

Die Einlösung der vor allem auch ökologisch gebotenen Forderungen der 3. Welt nach einem ökonomischen Ausgleich und nach gerechteren Strukturen in der Weltwirtschaft, wird die soziale und wirtschaftliche Situation vieler hundert Millionen Menschen signifikant verbessern. Damit schwindet aber auch der soziale Nährboden für Fanatismus und religiösen Fundamentalismus, und Potentaten vom Schlage eines Saddam Hussein wird der politische Rückhalt im eigenen Land entzogen. Der mit der globalen ökonomischen Umverteilung anstehende – aus ökologischen Gründen aber mittlerweile ohnehin nicht mehr zu vermeidende – Konsumverzicht im Norden, dürfte ein relativ moderater Preis sein, um die Verfestigung einer konfrontativen Konstellation zu vermeiden, in welcher bei permanenter Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, die Industrieländer in immer kürzeren Zeitabständen mit militärischen Mitteln eingreifen müßten, um ABC-Waffenpotentiale ihnen unliebsamer Regime überfallartig zu vernichten.

Die durchaus sinnvollen und notwendigen Bemühungen um eine Verlangsamung der Weiterverbreitung, insbesondere um eine weltweite Ächtung aller Kategorien von Massenvernichtungswaffen, sollten daher weitergeführt werden – allerdings unter der Regie einer supranationalen Organisation und eingebettet in ein Politikmuster, welches nach der gemeinsamen Lösung der anstehenden Menschheitsprobleme fragt. Nur so kann vermieden werden, daß die »Non-Proliferation« – in Verbindung mit GPALS und Air Land Battle – von vornherein als Instrumente neokolonialer Machtprojektion des Nordens mißinterpretiert und konterkariert werden können. Ferner müßte sich der Norden zu einer umfassenden und bedingungslosen Abrüstung bei ABC-Waffen bereiterklären, ein kleiner Restbestand könnte bei der UNO als Minimalabschreckung eingelagert werden.

Werden auf diese Weise erst einmal die gröbsten Zonen der Ungleichverteilung militärischer Sicherheit beseitigt, kann gleichzeitig der Ausgleich der ökonomischen und ökologischen Lasten-Nutzen-Verteilungen politisch in Angriff genommen werden. Ein in dieses Gesamtpaket eingebundenes – supranational angesiedeltes – Non-Proliferationsregime wird vermutlich die uneingeschränkte Resonanz der Staaten in der südlichen Hemisphäre finden. Schließlich darf man den dort lebenden Völkern unterstellen, daß sie ebenso wie wir am persönlichen, sozialen und ökonomischen Wohlstand Interesse haben und lediglich die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit den Boden für extremistische, religiös-fundamentalistische Terrorregime abgeben.

Literatur

Aspen Strategy Group: New Threats, Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical, and Delivery Capabilities in the Third World, Lanham, Maryland 1990
Bastian, Till: Naturzerstörung – Die Quelle der künftigen Kriege, Studie im Auftrag der IPPNW, Berlin, o.J
Carus, W. Seth: Ballistic missiles in modern conflict; Center for Strategic and International Studies, Washington 1991
Nolan, Janne E.: Trappings of Power: ballistic missiles in the Third World, Washington 1991
Liebert, W.: Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck: Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden 1991
Liebert, W., M.Kalinowski, G.Neuneck: Technologische Möglichkeiten des Irak für eine Kernwaffe, IANUS-Schriftenreihe Nr. 13,1990
Scheffran,J., G.Neuneck: Ist der Geist schon aus der Flasche?, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, Heft 3-4; 1990
Scheffran,J.; J.Altmann, W.Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Stellungnahme der Naturwissenschaftler-Initiative für den Frieden v. 19.02.1992, Hamburg

Anmerkungen

1) vgl: Commission on Integrated Long-Term Strategy (Ikle-Wohlstetter-Commission), Washington, 1988 Zurück

Achim Seiler, Dipl.-Pol., ist Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik, Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Möglichkeiten und Methoden der Rüstungskonversion für Plutoniumindustrie und Kernwaffen

von Karl F. Alexander

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist nun, im Herbst 1991, ebenso wie auf anderen Feldern der internationalen Politik, auch auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung eine noch vor kurzem nicht für möglich gehaltene Dynamik zu beobachten. Davon zeugen die jüngsten Vorschläge der Präsidenten Bush und Gorbatschow und die von ihnen angekündigten, zum Teil auch einseitigen Maßnahmen. So hat Bush am 27. September die Abschaffung der gesamten weltweiten Bestände der USA an bodengestützten atomaren Kurzstreckenwaffen und die Einstellung einiger Projekte der Kernwaffenmodernisierung angekündigt sowie weitere Verhandlungen zu drastischen Reduzierungen des strategischen Kernwaffenpotentials angeboten. Gorbatschow hat bereits am 5. Oktober diese Initiative mit analogen Maßnahmen und zum Teil noch weitergehenden Vorschlägen beantwortet.

Mit der Realisierung dieser Maßnahmen und Vorschläge, die erstmalig quantitative und qualitative Einschnitte um Größenordnungen in das Overkill-Potential der sich gegenüberstehenden Nuklearwaffenarsenale bedeuten, stellen sich auch die spezifischen technischen Fragen der Rüstungskonversion auf diesem Gebiet in neuer Schärfe.

Eines der dringendsten Probleme ist das folgende: Die bisherigen Abkommen verpflichteten die Partner zur Zerstörung der davon betroffenen Kernwaffenträger (Raketen, Marschflugkörper u. a.), nicht aber der eigentlichen Kernsprengköpfe, die vorher auszubauen waren und keiner weiteren Kontrolle unterliegen. Auch das START-Abkommen über die strategischen Offensivwaffen hält sich offenbar an dieses Muster. Dies ist auch aus der bisherigen Herangehensweise verständlich, weil bei allen Abrüstungsabkommen die zuverlässige Verifizierung ihrer Einhaltung durch die vertragsschließenden Parteien garantiert sein muß. Mit den heutigen Aufklärungsmitteln und den vereinbarten Vor-Ort-Inspektionen läßt sich dies bei den Kernwaffenträgern offensichtlich erreichen, wie das schon die detaillierten Festlegungen des INF-Abkommens zeigten. Neue und schwierigere Probleme treten aber auf, wenn es um die ja auch zur nuklearen Abrüstung gehörende kontrollierte und verifizierbare Beseitigung der Kernsprengköpfe (der »Atombomben« im eigentlichen Sinne) geht.

Es ist bemerkenswert, daß in den Fernseherklärungen von Bush und Gorbatschow dieses Problem erstmalig als Verhandlungsgegenstand angesprochen wurde. So schlug Bush den Beginn von Diskussionen mit der Sowjetunion vor u.a. „um eine gemeinsame technische Kooperation für sichere und umweltverträgliche Lagerung, Transport und Zerstörung von Atomsprengköpfen zu prüfen“. Gorbatschow wurde noch etwas konkreter: „Die Sowjetunion erklärt sich bereit, mit den USA in einen substantiellen Dialog über die Entwicklung sicherer und ökologisch verantwortbarer Technologien für Lagerung und Transport von nuklearen Gefechtsköpfen, von Verfahren für die Verwertung nuklearer Ladungen und für die Erhöhung der nuklearen Sicherheit zu treten“ 1.

Die Kernwaffenarsenale der Welt umfaßten Mitte der achtziger Jahre nach Schätzungen etwa 5O OOO Sprengköpfe – von in einem Rucksack transportierbaren Atomminen (Sprengkraft ca. 1OOO t TNT) bis zu Megatonnen-Wasserstoffbomben, von denen eine einzige zur vollständigen Zerstörung einer Großstadt ausreicht. Die innere Konstruktion solcher Sprengköpfe ist zwar in groben Umrissen bekannt, wird aber im Detail strengstens geheimgehalten. Bei der bisher üblichen ungehemmt fortschreitenden Weiterentwicklung der Waffentechnik wird der nukleare Sprengstoff aus ausgemusterten Sprengköpfen entnommen und in umgearbeiteter Form in die neuen wieder eingebaut. Ohne Aufgabe des qualitativen Wettrüstens in der Kernwaffentechnik wird es daher kaum gelingen, einen gegenseitig akzeptablen und möglichst umfassenden Kontrollmechanismus für den atomaren Sprengstoff zu vereinbaren, als Voraussetzung für dessen verifizierbare Beseitigung. Die ausgesprochen vorsichtigen Formulierungen in den Erklärungen von Bush und Gorbatschow zu diesem Problem zeigen, daß hier noch schwierige Verhandlungen bevorstehen.

Die vordringlichsten Maßnahmen

Diese Sachlage erfordert zunächst, einfacher zu kontrollierende Verträge zur Beendigung des qualitativen Wettrüstens auszuhandeln. Die dringendste Forderung ist daher gegenwärtig ein endgültiges Verbot aller Kernwaffentests, an dessen Verifizierbarkeit kein Zweifel mehr besteht. Als nächster Schritt wäre ein Verbot der Herstellung neuen atomaren Sprengstoffs zu vereinbaren, um dann zur gegenseitig kontrollierten Beseitigung des in den von Abrüstungsmaßnahmen betroffenen Sprengköpfen enthaltenen Sprengstoffs überzugehen. Genau diese Vorschläge sind auch in der Erklärung Gorbatschows enthalten: „Die Sowjetunion verhängt mit sofortiger Wirkung ein Moratorium über nukleare Tests mit einer Dauer von einem Jahr. Sie rechnet damit, daß diesem Beispiel auch die anderen kernwaffenbesitzenden Mächte folgen. Dadurch würde der Weg für die baldmöglichste und vollständige Einstellung der Nukleartests eröffnet“. Und weiter: „Die UdSSR tritt dafür ein, mit den USA eine kontrollierte Einstellung der Produktion aller Kernspaltstoffe herbeizuführen“. Leider vermißt man analoge Aussagen in der Bush-Erklärung, die im übrigen – wenn auch in deutlich eingeschränkter Form – an der Notwendigkeit einer qualitativen Weiterentwicklung der Kernwaffen festhält: „Wir können uns ohne Gefahr diese Schritte leisten, die ich heute angekündigt habe – Schritte, die geeignet sind, die Gefahr von Fehleinschätzungen in einer Krise zu verringern. Aber um das zu tun, müssen wir entschieden jene Elemente unserer strategischen Modernisierung weiter verfolgen, die demselben Zweck dienen“.

Nukleare Sprengstoffe

Die klassischen Atombomben erhalten ihre Sprengkraft bekanntlich aus einer explosiv verlaufenden Kernspaltungs-Kettenreaktion, wofür sich als Sprengstoff Uranium 235 (Hiroshima-Bombe) und Plutonium 239 (Nagasaki-Bombe) eignen. Auch das Prinzip der »Wasserstoffbombe«, das den meisten modernen Kernwaffen zugrunde liegt, erfordert als Zünder eine Spaltstoffladung. Die Herstellung beider Stoffe ist sehr aufwendig: U 235 erfordert große industrielle Anlagen zur Isotopentrennung, Plutonium wird in Kernreaktoren aus U 238 »erbrütet« und muß durch chemische Aufarbeitung der hochradioaktiven Brennstoffstäbe abgetrennt werden. Die Existenz der dazu erforderlichen Anlagen kann heutzutage kaum noch geheimgehalten werden. Die heimliche Herstellung größerer Mengen von waffenfähigem U 235 oder Plutonium kann daher durch internationale Kontrollmechanismen zuverlässig verhindert werden.

Dies wird heute schon durch den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung der Kernwaffen (NPT-Vertrag) für die Mehrzahl aller Staaten garantiert, die ihre kerntechnischen Anlagen der Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) unterstellt haben2. Davon sind allerdings bisher die offiziell Kernwaffen besitzenden Staaten (USA, UdSSR, England, Frankreich, China) ausgenommen. Außerdem gibt es Staaten, die dem NPT-Vertrag nicht beigetreten sind und möglicherweise über die Fähigkeit verfügen, Kernwaffen herzustellen (Indien, Pakistan, Israel, Südafrika u.a.). Ein Vertrag der Kernwaffenmächte über die vollständige Einstellung der Produktion von Kernsprengstoff und die Anwendung der IAEA-Kontrollen auf ihre dazu geeigneten Anlagen würde diese unbefriedigende Situation grundlegend ändern, weitere Staaten zum Anschluß an den NPT- Vertrag bewegen, und den wachsenden Unmut vieler kernwaffenloser Unterzeichnerstaaten über ihre nicht gleichberechtigte Behandlung ausräumen.

Die gegenwärtigen Sprengstoffvorräte

Ein solcher Produktionsstopp würde zwar zunächst nichts an der wahnsinnigen Overkill-Kapazität der existierenden Waffenlager ändern, würde aber das notwendige Vertrauen für den kontrollierten Abbau der angehäuften Sprengstoffvorräte schaffen. Die Größenordnung dieser Vorräte ergibt sich aus einer 1985 publizierten Abschätzung3. Danach verfügten allein die USA über mindestens 500 Tonnen waffenverwendbaren Uraniums und ungefähr 100 Tonnen Plutonium. Die Vorräte der UdSSR dürften von gleicher Größenordnung sein. Die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe entspricht der Energiemenge, die bei der Spaltung von etwa einem Kilogramm Uranium freigesetzt wird. Eine Kernspaltungsbombe oder der Zünder einer Spaltungs-Fusions-Kernwaffe (»Wasserstoffbombe«) enthält nur einige Kilogramm Spaltstoff, bei raffinierten modernen Konstruktionen möglicherweise auch weniger. Die angesammelten Vorräte reichen also sicher für wesentlich mehr als die schon vorhandenen Zehntausende von Sprengköpfen aus. Es gibt also keinen rational einsehbaren Grund gegen einen verifizierbaren Produktionsstopp.

Herstellungsverbot von Tritium

Die heute überwiegenden Spaltungs-Fusions-Kernwaffen enthalten als Kernfusionssprengstoff Deuterium und Lithium, Substanzen, die ohne nuklearen Zünder vollkommen harmlos sind und daher auch keiner besonderen Kontrolle zu unterliegen brauchen. Eine wichtige Besonderheit der modernen Kernwaffen besteht aber darin, daß sie als Zündhilfe und zur Erhöhung des Wirkungsgrades außerdem noch das schwere Wasserstoffisotop Tritium einsetzen, das über die (d,t)-Reaktion unter den Bedingungen der Kernspaltungsexplosion eine besonders intensive und energiereiche Neutronenstrahlung erzeugt. In besonders extremer Weise wird diese Eigenschaft bei der sogenannten »Neutronenbombe«4 ausgenutzt. Tritium wird ähnlich wie Plutonium in Kernreaktoren durch Neutronenbestrahlung von Lithium erbrütet. Es ist ein stark radioaktives Isotop, dessen Halbwertszeit nur 12 Jahre beträgt. Herstellung und Verbleib kann prinzipiell mit den gleichen Methoden kontrolliert werden wie beim Plutonium.

Wegen seiner relativ kurzen Halbwertszeit hätte aber ein Herstellungsverbot von Tritium für Kernwaffen die Auswirkung, daß die existierenden Sprengköpfe wegen des radioaktiven Zerfalls des in ihnen enthaltenen Tritiums, das nicht mehr ersetzt werden kann, langsam aber sicher unwirksam würden, bzw. das noch nicht zerfallene Tritium würde für immer weniger Sprengköpfe reichen5. Die naturgesetzlich gegebene Halbwertszeit des Tritiums würde damit einen maximalen Zeitrahmen für die schrittweise Beseitigung der vorhandenen Kernwaffen setzen.

Probleme der Rüstungskonversion

Werden die politischen Probleme der atomaren Abrüstung gelöst und konkrete Schritte zur Abschaffung der Kernwaffen vereinbart, so entsteht die Aufgabe der Konversion dafür geeigneter Teile des bisher eingesetzten Potentials für zivile Zwecke.

Für die Kernwaffenträger (Raketen, Flugzeuge, U-Boote usw.) bleibt wahrscheinlich die Verschrottung bzw. anderweitige Vernichtung die einzige Methode der Wahl, wie dies bereits bei der Realisierung des INF-Abkommens demonstriert wurde. Die Herstellungsbetriebe können natürlich zum großen Teil auf die Produktion ziviler Güter umgestellt werden.

Im Gegensatz dazu ist bei den Sprengköpfen gerade der Kernsprengstoff ein wertvolles, für die Nutzung in der zivilen Kernenergetik gut geeignetes Material. Aus diesem Grunde spricht Gorbatschow auch von der „Verwertung der nuklearen Ladungen“. Die einzig zweckmäßige und noch dazu nutzbringende Methode einer solchen Verwertung waffenfähigem Spaltmaterials ist seine Verbrennung in energieliefernden Kernreaktoren. So können z.B. aus einer Tonne hochangereichertem U 235 nach Verdünnung mit gewöhnlichem Uranium etwa 30 Tonnen Reaktorbrennstoff hergestellt werden, ausreichend zum Betrieb eines Druckwasserreaktors mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW für ein Jahr. Auch Plutonium läßt sich in verdünnter Form nach bereits bewährten Technologien in konventionellen Kernreaktoren verbrennen. 1990 waren weltweit 324 496 Megawatt elektrische Leistung in Kernkraftwerken installiert, diese erzeugten etwa 17% der Elektroenergie6. Würden die vorhandenen mehr als 1000 t Kernwaffensprengstoff als Brennstoff für Kernreaktoren eingesetzt, so könnte damit diese gewaltige Kapazität drei Jahre lang versorgt werden. Die Verifizierung der friedlichen Verwendung des ehemaligen Kernsprengstoffs erfordert eine lückenlose und quantitative Kontrolle des Spaltmaterialflusses durch eine teilweise automatisierte und durch Inspektoren vor Ort abgesicherte Überwachung, für die es bereits bei der IAEA Systemlösungen gibt.

Für die Durchsetzung des Herstellungsverbots neuen Kernsprengstoffs wäre die Überwachung und teilweise Umrüstung von Anlagen zur Anreicherung von Uranium erforderlich. Diese Anlagen sind heute schon ein unentbehrlicher Bestandteil der zivilen Kernenergetik, da fast alle Kernkraftwerke an U<|>235 angereicherten Brennstoff benötigen. Mit dem dafür erforderlichen geringen Anreicherungsgrad ist aber dieses Material grundsätzlich nicht für Kernwaffen geeignet. Das waffenfähige Plutonium wird demgegenüber in dafür speziell errichteten Produktionsreaktoren hergestellt. Hier dürfte aus technischen und ökonomischen Gründen die Stillegung und Demontage dieser Reaktoren die Methode zur Durchsetzung des Herstellungsverbots sein. Tatsächlich sind in den letzten Jahrzehnten auch schon einige dieser Produktionsreaktoren stillgelegt worden.

Plutonium fällt aber auch bei der Wiederaufarbeitung des Kernbrennstoffs aus der zivilen Kernergienutzung an. Dieses Plutonium enthält höhere Anteile der schwereren Isotope Pu 240, Pu 241 und Pu 242, die seine Verwendung für Kernwaffen zwar erheblich behindern, aber nicht völlig ausschließen. Daher ist eine strenge internationale Kontrolle aller Plutoniumvorräte, also auch derer aus der zivilen Kernenergetik, von der Wiederaufarbeitung bis zur endgültigen energetischen Nutzung, dringend geboten. Das Kontrollsystem der IAEA konzentriert sich auch jetzt schon gerade auf dieses Problem.

Eine neue Aufgabenstellung wäre die Einbeziehung der Produktion und Verwendung von Tritium in das internationale Kontrollsystem, falls eine Ersatzlieferung für Kernwaffen verhindert werden soll. Dies ist wichtig, weil zukünftige Kernfusionsreaktoren Tritium als Brennstoff benötigen und in größeren Mengen produzieren werden, so daß also ein absolutes Herstellungsverbot nicht sinnvoll wäre. Aufbauend auf den Erfahrungen des schon existierenden Kontrollsystem der IAEA für Spaltmaterialien dürften aber auch für dieses Problem akzeptable Lösungen möglich sein.

Ein mögliches Szenarium für die Konversion

Wie wir gesehen haben, ist die Abschaffung der Kernwaffen und die Konversion ihrer technischen Basis für friedliche Zwecke ein kompliziertes Problem, das nicht auf einmal gelöst werden kann. Auch die Aussicht auf einen gegenwärtig möglich erscheinenden großen Schritt zur Reduzierung der vorhandenen Arsenale ändert nichts an dieser Fesstellung, zeigt aber, daß jetzt auch die für die Kernwaffen spezifischen Fragen der Konversion auf der Tagesordnung stehen. Ein zum Erfolg führendes Konzept muß aus einer gut abgestimmten Folge politischer und technischer Schritte bestehen. Dabei muß jeder vorangehende Schritt die Vertrauensbasis für den folgenden schaffen. Ein solches Szenarium könnte vielleicht so aussehen:

1. Internationale Konvention über die Beendigung der weiteren Kernwaffenrüstung. Dazu gehören das vollständige Verbot aller Kernwaffentests und die Einstellung der weiteren Herstellung von Kernsprengstoff. Stillegung der Produktionsreaktoren für Plutonium und Umrüstung der Trennanlagen für Uranium. Volle Anwendung der Kontrollbestimmungen des NPT-Vertrages auch auf die kernwaffenbesitzenden Staaten.

2. Vereinbarung zwischen der UdSSR und den USA über wesentliche Reduzierungen der Vorräte an waffenfähigem Spaltmaterial und dessen zivile Nutzung unter Kontrolle der IAEA. Dies könnten zunächst auch jeweils einseitige Maßnahmen sein.

3. Bei allen weiteren Verträgen über den Abbau von Kernwaffenpotentialen wird gleichzeitig festgelegt, wieviel und nach welchen Modalitäten Kernsprengstoff der zivilen Nutzung zugeführt wird.

4. Möglichst frühzeitige Einbeziehung der anderen kernwaffenbesitzenden Staaten in die abgestimmten Reduzierungsabkommen einschließlich der Verpflichtungen zur Konversion.

5. Internationale Konvention über die vollständige Abschaffung der Kernwaffen nach einem vereinbarten Zeitplan. Dies würde die Einbeziehung aller Staaten ohne Ausnahme in das Kontrollsystem des NPT-Vertrages voraussetzen. Weitere Maßnahmen wären die Öffnung auch der Waffenlaboratorien, Produktionsstätten und Lager für Sprengköpfe gegenüber der internationalen Kontrolle, und schließlich die verifizierbare Liquidierung der gesamten militärischen Infrastruktur für Herstellung, Lagerung und Einsatz von Kernwaffen.

Die Vision der kernwaffenfreien Welt

Aus gegenwärtiger Sicht scheint der letzte Schritt der schwierigste zu sein. Auch mit den vollkommensten technischen Kontrollmethoden wird es wohl kaum möglich sein, festzustellen, ob nicht doch von dieser oder jener Seite einige wenige Atombomben vorher beiseite geschafft wurden. Einziges Mittel gegen solche Befürchtungen kann nur die weltweite Entwicklung eines Vertrauensklimas sein, das den Krieg generell als Mittel der Politik ausschließt. Erst wenn auch die Abrüstungsmaßnahmen auf konventionellem Gebiet zu einem Zustand der gegenseitigen Angriffsunfähigkeit geführt haben, wird es vermutlich möglich sein, auch diesen letzten Schritt in der atomaren Abrüstung zu gehen. Der größte Teil der gegenwärtigen Kernwaffenpotentiale könnte aber schon in den nächsten Jahren abgebaut und zum Teil auch zivilen Zwecken nutzbar gemacht werden. Die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet stimmen hoffnungsvoll. Aber weiterhin wird öffentlicher Druck notwendig sein, damit das schließlich zu erreichende Ziel einer kernwaffenfreien, friedlichen Welt nicht aus den Augen verloren wird, auch wenn diese Vision heute noch vielen verantwortlichen Politikern utopisch erscheinen mag.7

Dr. Karl F. Alexander ist Physiker und em.Professor. Bis Ende 1988 leitete er das Zentralinstitut für Elektronenphysik der Akademie der Wissenschaften in Berlin.

Tritium

Tritium

Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung

von Lars Colschen • Martin Kalinowski

Bis vor wenigen Jahren wurde dem Tritium im sicherheitspolitischen Kontext in der Öffentlichkeit kaum Beachtung geschenkt. In der militärischen Sphäre der Kernwaffenstaaten ist Tritium dagegen seit Beginn der 60er Jahre immer eine ausreichend verfügbare Ingredienz für den Kernwaffenbau gewesen. Das änderte sich schlagartig, als 1988 in den USA die militärischen Produktionsreaktoren für Tritium und Plutonium wegen Sicherheitsmängeln stillgelegt werden mußten und als Folge die »Tritium Crisis« zu einer in Politik und Wissenschaft offen diskutierten Frage der nationalen Sicherheit hochstilisiert wurde. Politiker in Regierung und Kongreß, sowie Vertreter aus dem Pentagon fürchteten das Fehlen von Reserven, so daß die stillgelegte Produktion in Kombination mit dem radioaktiven Zerfall des Tritiums die Kernwaffen sukzessive untauglich machen würde, was in eine einseitigen quantitativen und qualitativen nuklearen Abrüstung gemündet wäre und Modernisierungsprogramme erheblich erschwert hätte. Abrüstungsexperten hingegen sahen in dem Tritiumzerfall die Chance, diesen für eine Dynamisierung des nuklearen Abrüstungsprozesses zu instrumentalisieren.

0 Bq*: Argentinien, Australien, Japan, Malaysien, Schweiz
0,0002000 GBq: Mexiko
0,0037000 GBq: Finnland
0,0050000 GBq: Indonesien
0,0370000 GBq: Philippinen
370,0000000 GBq: USA
3.700,0000000 GBq: Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande,
Norwegen, Süd Afrika, U.K.
37.000,0000000 GBq: Kanada
370.000,0000000 GBq: Schweden
Keine Lizenz erforderlich CSFR, Ungarn, Rumänien
* Bq ist das Maß für die Tritiumaktivität. 1 Bq=1 Zerfall pro Sekunde. 370.000 GBq Tritium sind etwa 1 Gramm.

Etwa gleichzeitig schlug in Kanada eine Diskussion hohe politische Wogen, in der es darum ging zu vermeiden, daß von den in großen Schwerwasserreaktoren produzierten, für die zivile Nutzung vorgesehenen Tritiummengen Anteile für Kernwaffen mißbraucht werden könnten.

In Europa geriet Tritium in die Schlagzeilen, als Anfang 1980 aufgedeckt wurde, daß das bundesdeutsche Unternehmen NTG illegal Tritium und Tritiumtechnologie für das pakistanische Kernwaffenprogramm geliefert hatte.

Physikalische Eigenschaften und Produktion

Tritium ist das schwerste der drei Wasserstoffisotope (sonst: Wasserstoff und Deuterium). Es hat ein Proton und zwei Neutronen im Kern. Tritium ist radioaktiv und zerfällt bei Aussendung eines Elektrons zum stabilen Helium-3. Die Halbwertszeit beträgt 12,3 Jahre. Tritium ist in der Natur, obschon in geringen Mengen vorhanden, nicht gewinnbar, sondern kann nur künstlich in Kernreaktoren erzeugt werden. Aus praktischen Gründen werden zur Gewinnung nennenswerter Tritiummengen besonders zwei Produktionswege genutzt:

  • Targets aus Lithium-6 werden in den Reaktor eingeführt und mit Neutronen beschossen. Bei einer Kernreaktion entsteht Tritium als Zerfallsprodukt. Auf diese Weise lassen sich die größten Tritiummengen herstellen, weshalb sie auch zur Versorgung der Kernwaffen verwendet wird.
  • Tritium entsteht in Schwerwasserreaktoren automatisch während des Reaktorbetriebes aus dem Deuterium des Kühlwassers. Dies ist zunächst einmal eine radioaktive Verunreinigung des Kühlwassers (Kontamination), welche durch Tritiumextraktionsanlagen behoben werden kann. Bei diesem Reinigungsvorgang wird Tritium quasi als »Abfallprodukt« gewonnen. Dieser Methode bedient sich der kanadische Tritiumproduzent, da er zahlreiche Reaktoren dieses Typs betreibt.

Die Ambivalenz der zivilen und militärischen Nutzbarkeit von Tritium

Tritium ist ein mehrseitig einsetzbares Material. Das Problem dabei ist, daß es militärische und zivile Anwendungsmöglichkeiten gibt.

Unter der Kategorie der zivilen Verwendungen können industrielle und wissenschaftliche Nutzungen subsumiert werden, während bei militärischen Verwendungen die für Nuklearwaffen und die für andere Zwecke unterschieden werden können. Die Menge an Tritium, die weltweit bisher für militärische Zwecke mindestens produziert worden ist, übertrifft die für zivile Zwecke verwendete um den Faktor 10.

Von der physischen Beschaffenheit des Tritiums her ist nicht erkennbar, ob das Tritium zivil oder militärisch genutzt werden soll. Der Umgang mit Tritium ist daher von Natur aus ambivalent. Ein Mißbrauch von für ausschließlich zivile Zwecke produziertem und gehandeltem Tritium für militärische Zwecke kann daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Im zivilen Bereich dient Tritium sowohl als energieversorgungsunabhängige Lichtquelle in industriellen Produkten (z.B. Landebahnmarkierungen, EXIT-Schilder, Leuchtziffern in Uhren), als auch in der Forschung und Wissenschaft (als Tracer in der Biologie, Medizin und Geologie sowie bei der Fusionsforschung).

In der militärischen Sphäre findet Tritium in zwei Bereichen Anwendung. Einmal fungiert es analog zum zivilen Bereich als energieversorgungsunabhängige Lichtquelle (z.B. zur Beleuchtung der Zieleinrichtungen von Handfeuerwaffen oder für die Landebahnbeleuchtung bei nächtlichen Militäraktionen wie der Invasion von Grenada durch die USA).

Von weitaus größerer Relevanz ist Tritium aber für die Staaten, die sich im Besitz von Kernwaffen befinden. Hier hat Tritium entweder den Effekt der Sprengwirkungssteigerung (Faktor zwei bis zehn bei Spaltbomben) oder ist sogar für die Funktionsfähigkeit unabdingbar (bei der Wasserstoff- sowie der Neutronenbombe). Bei ersterem, dem sogenannten »boosting«, wird gasförmiges Tritium in Mengen von rund zwei bis drei Gramm je Sprengkopf eingesetzt, während bei den Neutronenbomben bis zu 20 Gramm pro Sprengkopf benötigt werden.

Alle fünf offiziellen Kernwaffenstaaten (USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich und China) nutzen Tritium heute wahrscheinlich in allen Sprengköpfen ihrer Kernwaffenarsenale.

Einfache Kernsprengsätze, wie sie zunächst jeder Staat zu konstruieren anstrebt, der sich noch in der ersten Phase seines Kernwaffenprogrammes befindet, sind tritiumlos (dies traf auch auf die Bomben zu, mit denen Hiroshima und Nagasaki zerstört worden sind).

Der Tritiummarkt

Die derzeitige zivile Nachfrage auf dem stark schwankenden Tritiummarkt liegt durchschnittlich bei 500 bis 1.000 Gramm pro Jahr weltweit. Der Preis für ein Gramm gasförmigen Tritiums beträgt 1991 etwa $ 28.000, nachdem er 1988 noch bei $ 13.000 lag. Hauptanbieter sind Kanada (Ontario Hydro, OH), die USA (Oak Ridge National Laboratory, ORNL), die UdSSR und Frankreich. Auch in der Bundesrepublik kann Tritium käuflich erworben werden. Primär aber treten die Bundesrepublik bzw. bundesdeutsche Unternehmen und Behörden (u.a. das Kernforschungszentrum Karlsruhe) als Nachfrager auf dem Tritiummarkt auf.

Aufsehenerregend war Mitte der 80er Jahre die Entscheidung Kanadas, durch das Unternehmen Ontario Hydro 2,5 Kilogramm Tritium pro Jahr auf dem zivilen Weltmarkt anzubieten. Die Angst vor einer möglichen militärischen Verwendung dieser augenscheinlichen Überproduktion war der Gegenstand von massivem öffentlichen Druck. Als Folge traf die kanadische Regierung gesetzgeberische Maßnahmen, die eine ausschließlich zivile Nutzung des kanadischen Tritiums sicherstellen sollen. Kanada hofft, sich in dieser Marktnische zu etablieren und setzt auf eine starke Ausweitung der zivilen Tritiumnachfrage. Diese Hoffnung richtet sich weniger auf den industriellen Sektor, sondern in erster Linie auf einen wissenschaftlichen Durchbruch bei der Fusionsforschung, durch den ein zusätzlicher Bedarf in der Größenordnung von mehreren Kilogramm Tritium erwartet wird.

OH kommen dabei die jüngsten Probleme bei der militärischen Tritiumproduktion zugute. Seit April 1988 mußten die Tritiumpoduktionsanlagen in Savannah River/South Carolina aus Sicherheitsgründen stillgelegt werden. Mit diesen Anlagen wurde der gesamte militärische Bedarf der USA gedeckt, geringe Mengen wurden für die zivile Nutzung verkauft. Trotz des Produktionsstopps wurden auch 1990 noch 180 Gramm Tritium aus dieser Quelle auf dem internationalen Markt angeboten.

Die kommerziellen Tritiumverkäufe aus der UdSSR stammen mutmaßlich ebenfalls aus militärischer Produktion. Bei künftig möglicherweise strengeren Sicherheitsbestimmungen für den Reaktorbetrieb erscheint auch die sowjetische Tritiumproduktion nicht als gesichert. Damit könnte sich, zumindest mittelfristig, für Kanada bzw. OH eine globale Monopolstellung ergeben, was auch auf den Tritiumpreis Auswirkungen haben könnte.

Tritiumkontrolle

Bei der praktizierten Tritiumkontrolle haben die Kernwaffenrelevanz und die diesbezügliche Verhinderung der Proliferation von Tritium und Tritiumtechnologie sowie die abrüstungspolitische Bedeutung bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

Auf der nationalen Ebene haben die Gesetzgeber die Anlagenbetreiber aus Strahlenschutzgründen dazu verpflichtet, ein Kontroll- und Buchführungssystem zu implementieren, wenn mit Tritiummengen oberhalb einer festgelegten Freigrenze hantiert wird. In Bezug auf den Strahlenschutz existieren internationale Richtlinien aufgrund von Empfehlungen der IAEO (Internationale Atomenergie Organisation), NEA (Nuclear Energy Agency) und ICRP (International Commission on Radiation Protection). Diese sind in die nationale Gesetzgebung vieler Staaten übernommen worden.

Ebenso bestehen in den meisten Staaten, in denen mit Tritium umgegangen wird, Regelungen für die Produktion, den Erwerb, Import und Export von Tritium. In der Regel sind die genannten Aktivitäten oberhalb einer Grenzmenge lizenzpflichtig. Nach der Lizenzerteilung sind die zuständigen Behörden jedoch nicht zu physischen Kontrollen oder anderen Verifikationsmaßnahmen berechtigt. Zollämter haben weder das Wissen noch die technischen Voraussetzungen, um einen Verdacht auf illegalen Tritiumtransfer zu überprüfen.

Die Regelungen variieren stark von Staat zu Staat. Dies wird besonders augenfällig bei einem Vergleich der nationalen Grenzwerte für Exportmengen, oberhalb derer eine Lizenz erforderlich ist (siehe Tabelle).

Mögliche Diebstahlvarianten und Abzweigungsstrategien für Tritium sind bei den meisten Staaten nicht in die Überlegungen bzgl. der entsprechenden Gesetzgebung eingegangen. Eine systematische Kontrolle über den Verbleib von Tritium ist zudem wegen der Vielzahl relevanter Vorschriften und zuständiger Behörden kaum durchführbar. Wenn Individuen oder Staaten die Absicht haben, unerkannt Tritium ein- oder auszuführen, bieten sich vielfältige Schlupflöcher. So befürchtet die NRC (Nuclear Regulatory Commission; das ist die in den USA u.a. für den Tritiumexport zuständige Lizensierungsbehörde), daß die derzeitigen Bestrebungen der US-Gesetzgebung, die Tritiumexportkontrollen zu verschärfen (u.a. durch die schriftliche Verpflichtung des Empfängers, keinen unautorisierten Weitertransfer des Tritiums durchzuführen), zu Einbußen bei der Kontrolle des internationalen Tritiummarktes (durch die USA!) führen könnten, da bisherige und potentielle Kunden sich dann an Anbieter wenden könnten, deren Staaten weniger Bedingungen an ihre Tritiumexporte knüpften.

Mit der Ausnahme der COCOM-Liste (Coordinating Committee for Multilateral Export Control) ist Tritium bisher keiner internationalen Technologietransferkontrolle unter dem Gesichtspunkt der Nichtweiterverbreitung unterworfen. COCOM ist in vielerlei Hinsicht ein nur sehr begrenztes Instrument. Es hat eine relativ geringe und einseitige Mitgliedschaft (nur die führenden westlichen Industrienationen). Es richtet sich als externes Regime gegen eine bestimmte Staatengruppe, die kommunistisch regierten Staaten, die es bewußt ausgrenzt und nicht zu integrieren versucht. COCOM ist daher als ein hochgradig diskriminierendes Technologieverweigerungsinstrument zu charakterisieren. Zudem hat es sich insofern überholt, als diese Staatengruppe spätestens seit 1989 nicht mehr als der monolithische Block existiert, als der er von den COCOM-Mitgliedsstaaten 40 Jahre lang perzipiert worden war. Dem versucht COCOM derzeit durch Änderungen sowohl der Inhalte der COCOM-Liste, als auch der Zielstaaten gerecht zu werden. Bezüglich der weiteren Entwicklung bestehen zahlreiche Unwägbarkeiten. Bliebe COCOM erhalten und Tritium auf der Liste, was wegen seiner Kernwaffenrelevanz zu erwarten ist, würde sich bei einer mutmaßlichen Erweiterung der Mitgliedschaft auch die Tritiumexportkontrolle ausdehnen. Nachdem die meisten ehemaligen sozialistischen Staaten wegen »Wegfall der Geschäftsgrundlage« von der Liste der Zielstaaten gestrichen worden sind, zeichnet sich eine neue Liste von Staaten ab, denen (neben den wenigen noch verbliebenen Staaten wie Nordkorea, Vietnam oder Kuba) in erster Linie gemeinsam ist, daß ihnen in irgendeiner Form Ambitionen auf ABC-Waffen unterstellt werden.

Das COCOM-Konzept kann aus den genannten Gründen auch bei etwaigen Modifikationen kein geeignetes Instrument für eine hinreichende Tritiumkontrolle auf internationaler Ebene darstellen.

Neue Entwicklungen bei der Tritiumkontrolle

Neben der derzeitigen COCOM-Revision zeichnen sich seit dem Herbst 1990 bezüglich einer internationalen Kontrolle von Tritium und Tritiumtechnologie aus Gründen der Nichtweiterverbreitung auf mehreren Ebenen neue Entwicklungen ab.

1. Im September 1990 wurde auf der vierten Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (Non-Proliferation Treaty, NPT) die Proliferationsrelevanz von Tritium erstmals auf dieser Ebene bestätigt. Obschon Tritium und dessen mögliche Abzweigung für eine militärische Nutzung in dem Vertragswortlaut von 1970 kein expliziter Kontrollgegenstand des NPT ist, wurde auf der Konferenz dazu aufgerufen, eine frühzeitige und adäquate Koordination bei der Kontrolle von Tritiumexporten sicherzustellen.

Dabei wurde aber keine Diskussion mit der Intention geführt, Tritium zusätzlich zu Plutonium und hochangereichertem Uran (highly enriched uranium, HEU) unter Safeguardsmaßnahmen zu stellen, d.h. eine Tritiumkontrolle in den NPT zu integrieren. Trotzdem ist diese Sensibilisierung in Bezug auf Tritium ein erster Schritt der NPT-Mitgliedstaaten, sich mit einer Tritiumkontrolle zu beschäftigen.

2. Die Staaten der Nuclear Suppliers Group (NSG) haben während ihres letzten Treffen vom 5. bis 7.März 1991 in Den Haag eine Arbeitsgruppe mit der Aufgabe eingesetzt, die Richtlinien und die Liste der nuklearen Materialien und Technologien zu überarbeiten, die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können, d.h. Dual-Use-Charakter besitzen.

Da Tritium in diese Kategorie fällt, haben einige Staaten, darunter auch Deutschland, vorgeschlagen, Tritium und Tritiumtechnolgie auf diese Liste zu setzen. Bis Ende 1991 wird die Arbeitsgruppe eine Vorlage für eine Ergänzung der NSG-Richtlinien erarbeiten, die auf dem nächsten Treffen der NSG 1992 in Warschau verabschiedet werden soll.

3. Kanada legt als weltweit größter Produzent von Tritium für den zivilen Markt besonderen Wert auf eine effektive Kontrolle seiner Tritiumexporte. So wurde eine entsprechende Ergänzung zum Kooperationsabkommen zwischen EURATOM und Kanada im Mai 1991 verabschiedet. Sie umfaßt eine Vereinbarung über die Lieferungen von Tritium und Tritiumtechnologie von Kanada für die europäische Fusionsforschung. Darin wird die EURATOM beauftragt, die vertragsgemäße Verwendung des gelieferten Tritiums in EURATOM-Mitgliedsstaaten zu überwachen. Eingeschlossen ist auch die Überprüfung gelieferter Tritiumtechnologie und von Tritium, das damit produziert oder verarbeitet wird.

Eine bilaterale technische Arbeitsgruppe hat den Auftrag, die spezifischen Modalitäten der Kontrolle und Buchführung auszuarbeiten. Die Mitte 1991 abgeschlossenen Kaufverhandlungen über die Lieferung von zehn Gramm Tritium an die Kernforschungsanlage Karlsruhe (KfK) bilden in diesem Zusammenhang einen Präzedenzfall. Der erste Teil des Tritiums, welches in Raten über einen mehrjährigen Zeitraum geliefert werden soll, wird 1992 nach Karlsruhe transferiert. Hier hat die EURATOM, die sich noch in der Entwicklungsphase bei den zu treffenden Safeguardsmaßnahmen befindet, die Gelegenheit, erste Erfahrungen mit der Tritiumkontrolle zu sammeln.

Dabei ist sich die EURATOM-Safeguardsabteilung der Dual-Use-Problematik des Tritums bewußt und beabsichtigt, dies bei der Entwicklung der Safeguards, z.B. durch Maßnahmen zur Verhinderung von Abzweigungen, auch zu berücksichtigen.

Bislang allerdings beschränken sich die EURATOM-Zuständigkeiten auf Tritiumlieferungen für Fusionsprojekte. EURATOM besitzt noch kein Mandat für Tritium, das für andere zivile Anwendungen oder gar militärische Zwecke gedacht ist.

Analoge Abkommen mit anderen potentiellen Tritiumlieferanten an EURATOM-Mitgliedsstaaten für Fusionsforschungsprojekte sind zu erwarten. Derzeit laufen Verhandlungen der EURATOM mit sowjetischen Behörden über eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nukleartechnik, bei denen es auch um Regelungen für Tritium geht.

4. In den USA werden Umgang und Verkauf von Tritium durch das DoE (Department of Energy) und die NRC (Nuclear Regulatory Commission) nach zwei nationalen Gesetzen, dem Atomic Energy Act von 1954 und dem Nuclear Non-Proliferation Act von 1978, kontrolliert.

In einem Report vom März 1991 hat das GAO (General Accounting Office) festgestellt, daß die nationalen Kontrollen von Tritiumexporten für zivile Zwecke verbessert werden können. Anlaß für diesen Report waren mehrere Tritiumtransfers, bei denen relativ hohe Differenzen auftraten zwischen den Tritiummengen, die vor dem Transfer gemessen wurden und denen, die beim Empfänger noch ankamen. Daß der Report in der Rubrik »Nuclear Nonproliferation« erschienen ist, zeigt auch an, daß die USA zu den Staaten gehören, die die Dual-Use-Problematik erkannt haben und diesem Umstand mit gesetzgeberischen Maßnahmen Rechnung zu tragen versuchen. Der GAO-Report konstatiert erhebliche Schwächen im Management der Tritiumhandhabungen. Beispielsweise war nur eine allein arbeitende Person ohne jegliche Kontrolle dafür zuständig, das Tritiumgas in die Kontainer einzufüllen und für den Transport vorzubereiten. Das verantwortliche DoE versucht, die festgestellten Schwächen dadurch auszuräumen, indem es das bisher zuständige ORNL aller Verantwortlichkeiten bezüglich Tritium enthoben hat und die Tritiumoperationen seit Juli 1990 in der moderneren, angeblich besser geeigneten Tritiumanlage des Mound Laboratory in Ohio durchfuehren läßt. Zudem empfiehlt das GAO der NRC, schriftliche Endverbrauchsbestimmungen von den Empfängern zu verlangen und Abkommen mit den Empfängerstaaten abzuschließen, die einen Transfer des Tritiums in ein Drittland nur mit Zustimmung der NRC ermöglichen soll.

Fallbeispiel: Bundesrepublik und Tritiumexporte nach Pakistan

Neben den Kontrolldefiziten in den USA hat ein anderer Fall aus den Jahren 1985/1986 in der Bundesrepublik die internationale Aufmerksamkeit bezüglich Tritium erregt.

Illegale Exporte von Tritium und Tritiumtechnologie nach Pakistan (einem Land, welches in Verdacht steht, intensiv an einem eigenen Kernwaffenprogramm zu arbeiten) haben Gesetzeslücken und Vollzugsdefizite der bestehenden Gesetzgebung offensichtlich werden lassen. Interessengegensätze verschiedener Ressorts (besonders zwischen dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem Außenministerium) sowie unterbesetzte und fachlich überforderte Exportkontrollorgane (besonders das Bundesamt für Wirtschaft, BAW und das Zollkriminalinstitut) haben es der Neuen Technologien GmbH (NTG) leicht gemacht, einen lukrativen Auftrag trotz evidenter Kernwaffenrelevanz zu realisieren.

Durch den illegalen Export von Tritium und Tritiumtechnologie haben sich seitdem die politischen Prioritäten in der Bundesrepublik in der Proliferationsfrage gewandelt. Die militärische Relevanz wurde erkannt, und die zuständigen Behörden (speziell das BAW) sind für diese Problematik sensibilisiert worden. Zudem wurden gesetzgeberische Maßnahmen und personelle Verstärkungen im Bereich der Exportkontrolle vorgenommen. Dies schließt aber nicht aus, daß Pakistan oder ein anderer Staat mit modifizierter Umgehungsstrategie sich nicht doch wieder erfolgreich den deutschen Exportkontrollen entziehen kann, um sich Tritium und Tritiumtechnologie für sein Kernwaffenprogramm zu verschaffen. Die nationalen Gesetzgebungen und Exportkontrollpraktiken vieler Staaten fallen sogar hinter den deutschen Standard zurück. Durch den NTG-Pakistan Fall bietet sich die Gelegenheit, daß die Bundesrepublik bei einem internationalen Aushandlungsprozeß über eine internationale Tritiumkontrolle die eigenen Erfahrungen einbringen kann.

Fazit

Das Fehlen stringenter, effektiver Kontrollmechnismen für Tritium und Tritiumtechnologie auf internationaler Ebene kann unter Proliferationsgesichtspunkten fatale Folgewirkungen nach sich ziehen. Im Gegensatz zu den speziellen nuklearen Materialien (Plutonium und HEU) existieren auf internationaler Ebene auch keine Vereinbarungen über den physischen Schutz von Tritium gegen Diebstahl oder Sabotage.

Erste Ansätze (COCOM, EURATOM, NSG) aus den letzten Jahren zeigen, daß eine globale Tritiumkontrolle keine Utopie bleiben muß. Für die Organisation dieser Kontrolle existieren mehrere Optionen. Sie reichen von Richtlinien für eine Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen für zivile Tritiumexporte bis zu der Möglichkeit der Kontrolle der zivilen und militärischen Produktion, des Transportes und der Endnutzung von Tritium durch eine unabhängige internationale Organisation (z.B. die IAEA oder eine neue Organisation) mit einem entsprechenden Apparat für die Verifikation und Sanktionsmöglichkeiten. Für die Realisierung spielen zahlreiche Faktoren wie politische Akzeptanz, technische Verifizierbarkeit und Kosten eine Rolle.

Die derzeitigen Initiativen von EURATOM sind in diesem Kontext ein konstruktiver Beitrag, aber aufgrund der organisationsimmanenten geographischen und der bestehenden anwendungsspezifischen Beschränkungen nur ein erster Schritt für eine globale Lösung.

Wünschenswert sind aber noch wesentlich weitergehende Optionen, die der Ambivalenzproblematik von Tritium besser gerecht werden.

  1. Es wäre ein generelles Produktionsverbot für Tritium denkbar. Dafür wäre die Suche nach Ersatzstoffen für die verschiedenen industriellen Anwendungen notwendig, und die Fusionsforschung müßte beendet werden. Die nukleare Abrüstung müßte mit einer am Tritiumzerfall orientierten Mindestrate vorangetrieben werden. Die Verifikation wäre einfach, da nur noch die Nichtproduktion von Tritium kontrolliert werden müßte.
  2. Weniger radikal wäre ein Herstellungs- und Nutzungsverbot von Tritium für militärische Zwecke und eine ausschließlich zivile Nutzung der Tritiumproduktion. Dies hätte dieselben Implikation für die nukleare Abrüstung, würde aber die industriellen Anwendungen und die Forschung gestatten. Die Kontrolle würde sich auf die Nichtproduktion in potentiellen militärischen und zivilen Anlagen und auf die Kontrolle der gesamten zivilen Tritiumvorräte erstrecken.

Ausblick

Wenn Kernwaffen auch weiterhin Bestandteil der Militärdoktrinen in den Kernwaffenstaaten blieben, wäre eine Tritiumproduktion in diesen Staaten auf lange Sicht unerläßlich. Falls an der Abschreckungsdoktrin festgehalten, aber gleichzeitig radikal bis auf ein »minimale Abschreckungsarsenal« mit etwa 1.000 Nuklearsprengköpfen abgerüstet würde, dann wäre eine Tritiumproduktion in den USA und der UdSSR bzw. Rußland bis weit in das 21. Jahrhundert nicht mehr notwendig (bis ungefähr zum Jahr 2030). Großbritannien, China, Frankreich und Israel könnten sich anschließen und ihre militärische Tritiumproduktion ebenfalls einstellen sowie die Produktion für den zivilen Markt durch ein internationales Safeguardssystem kontrollieren lassen. Somit könnte ein zunächst bilaterales Abkommen weiter internationalisiert werden.

Falls in den nächsten 40 Jahren auf politischer Ebene die Voraussetzungen für eine kernwaffenfreie Welt geschaffen würden, dann wäre eine internationale Tritiumkontrolle, die unter anderem ein Verbot der militärischen Nutzung von Tritium enthielte, ein möglicher Baustein für die Realisierung dieser Utopie.

Literatur

Colschen/Kalinowski, „Die Kontrolle der militärischen Nutzung von Tritium“ in: Müller/Neuneck (Hrsg.), „Stabilität und Rüstungsmodernisierung“, Baden-Baden 1991

Lars Colschen ist Diplom-Politologe, Martin Kalinowski ist Diplom-Physiker und am Zentrum für interdisziplinäre Technikforschung der TH Darmstadt beschäftigt. Beide arbeiten an dem Projekt zur Tritiumkontrolle im Rahmen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaften und Sicherheitspolitik (IANUS) an der TH Darmstadt.