TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

von Uwe Reichert

Um den Reportern „etwas zum Beißen zu geben“ – so der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums Gerassimow – wurde am 18. September im Anschluß an das Treffen der Außenminister Shultz und Schewardnadse, das die „prinzipielle“ Einigung über einen INF-Vertrag brachte, die Aufnahme von Verhandlungen über einen atomaren Teststopp angekündigt. Voraussichtlich Anfang Dezember sollen diese Verhandlungen beginnen. Es wäre das erste Mal seit sieben Jahren, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion formell über die Einstellung von Kernwaffentests verhandeln.1 Die damaligen Verhandlungen, die unter Carter und Breshnjew bemerkenswerte Fortschritte gebracht hatten, waren nach der Wahl Reagans zum Präsidenten auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Im Juli 1982 hatte die Reagan-Administration offiziell erklärt, die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen zu wollen.

Das veränderte Klima in den Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, das dem Streben nach weiteren Rüstungskontrollvereinbarungen geprägt zu sein scheint, läßt hoffen. Sollte es denn wirklich nach über vierzig Jahren – in denen die Kernwaffenstaaten zusammengenommen knapp 1700 nukleare Explosionen mit einer Gesamtsprengkraft von schätzungsweise 700 Megatonnen (!) durchgeführt haben – endlich zum Abschluß eines Teststoppvertrages kommen?

Es ist zu hoffen, daß die Bereitschaft der USA, Verhandlungen über einen Teststopp aufzunehmen, mehr ist als eine einlenkende Geste im Vorfeld eines neuen Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow. Hoffnungen können aber allzu leicht an den politischen Gegebenheiten scheitern. Vertreter der jetzigen amerikanischen Regierung haben bisher stets erklärt, daß umfassender Kernwaffenteststopp zwar ein langfristiges Ziel der US-Politik bleibe, gegenwärtig aber nicht im Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten liege. So heißt es zum Beispiel: „Ein umfassender Teststopp bleibt ein langfristiges Ziel der Vereinigten Staaten. Solange aber die Vereinigten Staaten und ihre Freunde und Alliierte sich zur Abschreckung eines Angriffs auf Kernwaffen stützen müssen, wird ein gewisses Maß an Kernwaffentests erforderlich sein. Wir glauben, daß ein solcher Teststopp im Zusammenhang mit einer Zeit gesehen werden muß, in der wir nicht auf nukleare Abschreckung angewiesen sind, um die internationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, und wenn wir weitreichende, tiefgreifende und überprüfbare Reduzierungen von Waffensystemen, erheblich verbesserte Verifikationsfähigkeiten, erweiterte vertrauensbildende Maßnahmen und ein größeres Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte erreicht haben.“2 Und weiter: „Ein sorgfältig strukturiertes nukleares Testprogramm ist notwendig, um zu garantieren, daß unsere Waffen sicher, effektiv, zuverlässig und überlebensfähig sind.“3 Mit anderen Worten heißt dies, daß mit dem Abschluß eines Vertrags über einen umfassenden Teststopp vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag nicht zu rechnen ist.

Der Standpunkt der USA ist das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses, an dem Vertreter der Regierung, der Waffenlabors und des Energie- und des Verteidigungsministeriums beteiligt waren. Der Einfluß der Waffenlabors, die an einer Einstellung der Kernwaffenversuche kaum interessiert sind, ist dabei nicht zu übersehen.

Ein ganz wesentlicher Grund für die Ablehnung eines Teststopps sind die laufenden Entwicklungsarbeiten an einer neuen Generation von Kernwaffen, der sogenannten dritten Generation, die ohne nukleare Versuchsexplosionen nicht möglich wären. Am bekanntesten ist wohl der Röntgenlaser, für dessen Erprobung bereits mehrere Nukleartests durchgeführt wurden.4 Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Konzepte für solche hochentwickelten Kernwaffen, die sich qualitativ erheblich von den bisher existierenden Kernwaffen unterscheiden würden.5 So wird von dem Test „Hazebrook“ den die USA am 3. Februar 1987 durchführten – berichtet, daß er zur Entwicklung einer Kernwaffe diente, die Geschosse mit der hundertfachen Geschwindigkeit von Gewehrkugeln erzeugen soll.6 Eine solche Waffe wäre ein äußerst wirkungsvolles Instrument, um Objekte im Weltraum zu zerstören.

Da die Kernwaffen der dritten Generation zum Teil auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, ist ihre Entwicklung allein aufgrund theoretischer Überlegungen und Computersimulationen nicht möglich, sondern nur mit Hilfe von nuklearen Tests, mit denen experimentelle Daten gewonnen werden können. Amerikanische Waffenexperten sind sich darüber einig – auch wenn dies nicht immer öffentlich geäußert wird -, daß allein zur Entwicklung des Röntgenlasers bis weit in die neunziger Jahre hinein Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von nuklearen Tests nötig sein werden.

Ein umfassender Kernwaffenteststopp wäre damit ein sicheres Mittel, diesen qualitativen Sprung in der Kernwaffentechnologie zu verhindern und die Büchse der Pandora geschlossen zu halten. Solange die USA aber nicht bereit sind, zumindest auf die nukleare Komponente ihres SDI-Projekts zu verzichten, werden sie wohl kaum bereit sein, einem umfassenden Verbot von Nukleartests zuzustimmen. Hier müßten sich die USA aber ernsthaft fragen lassen, ob es ihnen wichtiger ist, über solche hochentwickelten Kernwaben, die zu neuen Bedrohungen und möglicherweise zu Instabilitäten führen werden, zu verfügen oder ob es im Interesse ihrer eigenen Sicherheit nicht besser sein sollte, durch Abschluß eines Teststoppabkommens auch die Sowjetunion an der Entwicklung solcher Kernwaffen zu hindern.

Ein weiteres Argument der amerikanischen Waffenlabors gegen einen Teststopp ist die Behauptung, nukleare Tests seien zur Überprüfung der Zuverlässigkeit stationierter Kernwaffen unerläßlich. Die Direktoren der Labors in Los Alamos und Livermore haben vor Ausschüssen des amerikanischen Kongresses erklärt, daß in der Vergangenheit zwar einige Probleme mit der nuklearen Komponente von Sprengköpfen durch konventionelle Oberprüfungen entdeckt wurden, daß aber die wichtigsten Defekte nur mit Hilfe von Nukleartests entdeckt und behoben werden konnten. Seit Frühjahr letzten Jahres erklären Vertreter des Pentagons wiederholt, daß bei über einem Drittel der amerikanischen Sprengkopfdesigns, die nach 1958 in das Kernwaffenarsenal eingegliedert wurden, Zuverlässigkeitsprobleme aufgetreten seien. Von diesen Problemen seien 75 Prozent nur mit Hilfe nuklearer Tests entdeckt und behoben worden.7

Diese Erklärung stellt ein sehr gewichtiges Argument gegen einen Teststopp dar. Sollten Alterungseffekte, die die Funktionstüchtigkeit von Kernwaffen nachteilig beeinflussen, ohne nukleare Tests nicht behebbar sein, so würde unter einem Teststopp das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der vorhandenen Kernwaffen mit der Zeit abnehmen. Die Abschreckungswirkung der Kernwaffen wäre damit in Frage gestellt.

Zur Unterstützung der These, daß auf nukleare Tests zur Überprüfung der Zuverlässigkeit von Sprengköpfen nicht verzichtet werden könne, wurden Details zu den Defekten, die bei sechs verschiedenen Sprengköpfen nach deren Stationierungsbeginn aufgetreten waren, in dem sogenannten Rosengren-Report veröffentlicht.8 Diese Defekte betreffen vor allem Korrosionserscheinungen am Spaltmaterial, das Klemmen von mechanischen Armierungs- und Sicherungssystemen sowie Veränderungen an chemischen Sprengstoffen. Die Tatsache, daß der Rosengren-Report mehrmals in Anhörungen vor Kongreßausschüssen benutzt wurde, um gegen einen Teststopp Stellung zu nehmen, veranlaßte den Abgeordneten Edward Markey dazu, den Livermore-Physiker Ray Kidder zu bitten, diesen Report zu analysieren und eine eigene Stellungnahme abzugeben. Die Frage, der Kidder in seinem daraufhin angefertigten Bericht nachgegangen ist, lautet: „Stützen die Beispiele, die in dem Rosengren-Report erwähnt werden, die These, daß nukleare Testexplosionen notwendig sind, um das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des bestehenden amerikanischen Arsenals von sorgfältig getesteten Kernwaffen aufrechtzuerhalten?“ Sein Resümee: „Es ist unsere Schlußfolgerung, daß keines dieser Beispiele eine solche These unterstützt.“9

Die im Rosengren-Report zitierten Beispiele sind allerdings nicht vollzählig. Außer den sechs Sprengkopftypen, die der Report erwähnt, waren auch andere Sprengköpfe von Problemen betroffen gewesen. Diese Probleme waren aus Geheimhaltungsgründen im Rosengren-Report nicht erwähnt worden. Mittlerweile sind jedoch alle 14 Sprengkopftypen bekannt, an denen nach Beginn der Stationierung Probleme bzw. Defekte aufgetreten waren und zu deren Behebung nukleare Tests durchgeführt wurden. An der ursprünglichen Schlußfolgerung von Kidder änderte sich jedoch nichts, weil die meisten der Probleme darauf zurückzuführen sind, daß die betreffenden Sprengköpfe vor Beginn ihrer Stationierung nicht ausreichend getestet worden waren. Entweder wurden die ersten Sprengköpfe schon vor Abschluß aller nötigen Tests produziert und in das Kernwaffenarsenal aufgenommen (so z.B. während des Testmoratoriums in den Jahren 1958-61, als man noch bestehende Mängel nicht mit Hilfe von nuklearen Tests hatte beheben können) oder die Sprengköpfe waren nicht in der Version getestet worden, in der sie schließlich stationiert wurden. In den anderen Fällen waren nukleare Tests durchgeführt worden, weil die Waffenlabors Modifizierungen an den Sprengkopfdesigns vorgenommen hatten, anstatt beschädigte Teile durch Neukonstruktionen zu ersetzen.

Das Ergebnis der Kidder-Analyse deckt sich mit den schon bekannten Erklärungen mehrerer ehemaliger Direktoren und Mitarbeitern der Waffenlabors, daß keine nuklearen Tests nötig seien, um Defekte an vorhandenen Sprengköpfen zu beheben.10 Sollte die US-Regierung an ihrem bisherigen Standpunkt festhalten, so dürfte sie zunehmend in Argumentationsschwierigkeiten geraten. Auch könnte ihre Haltung unter Umständen dann so verstanden werden, daß auch heute noch Kernwaffen im Arsenal vorhanden sind, die wegen ungenügender Tests nicht zuverlässig sind. Dann müßte sie sich fragen lassen, warum sie die Produktion und Stationierung unzureichend getesteter und daher unzuverlässiger Kernwaffen zugelassen hat.

Für das Verständnis der Themenkomplexe, die bei den Verhandlungen über einen Teststopp eine Rolle spielen, sind zwei Punkte besonders wichtig: die Leistungsfähigkeit der seismischen Verifikation und die militärische Bedeutung von Tests, die entweder nicht mehr zuverlässig nachgewiesen werden könnten oder die unter einer eventuellen Testschwellen-Regelung erlaubt wären. Beide Punkte sollen hier anhand der Nukleartests, die die Vereinigten Staaten von 1980 bis 1984 durchgeführt haben, erläutert werden.

Abb. 1 zeigt die Verteilung der Ladungsstärken der amerikanischen Nukleartests innerhalb dieses 5 Jahres-Zeitraums. Das Diagramm enthält sowohl die angekündigten als auch die nicht angekündigten Tests. Dargestellt ist die relative Häufigkeit der Tests in Abhängigkeit von ihrer Sprengkraft. Die in Wirklichkeit diskreten Werte sind durch Überlagerung einer Verteilungsfunktion verschmiert, so daß sich eine geglättete Struktur ergibt. Diese Kurve wurde von R. Kidder erstellt und veröffentlicht.11

Das amerikanische Energieministerium (DoE) hat für diesen 5 Jahres-Zeitraum 82 Nukleartests bekanntgegeben. Eine Auswertung der Abb. 1 und ein Vergleich mit den Angaben des DoE zeigt jedoch, daß die USA von Anfang 1980 bis Ende 1984 genau 100 Tests durchgeführt haben müssen..12 Das heißt, 18 Tests waren nicht angekündigt worden.

Wie Mitglieder des Natural Resources Defense Council (NRDC) zeigen konnten, waren acht dieser nicht angekündigten Tests von jeweils mindestens zehn seismischen Stationen des US Geological Survey (USGS) registriert und ihre seismischen Daten veröffentlicht worden. Von diesen wiederum waren fünf auch von dem seismischen Observatorium im schwedischen Hagfors entdeckt und als Nukleartests gekennzeichnet worden.13 Das USGS dagegen, das nicht speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests eingerichtet ist publiziert lediglich die Daten seismischer Ereignisse, ohne sie als Nukleartests oder Erdbeben zu kennzeichnen.

Die Tatsache, daß die seismischen Daten von zehn Tests der USA nicht von dem USGS veröffentlicht wurden, zeigt mit Hilfe von Abb.1, daß die Grenze, bis zu der seismische Ereignisse vom USGS publiziert werden, einer Sprengkraft von 1-1,5 Kilotonnen im Bereich des amerikanischen Testgeländes entspricht. Das Hagfors-Observatorium kann Tests in Nevada oberhalb einer Ladungsstärke von 2-3 Kilotonnen nachweisen.

Moderne seismische Stationen, die speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests entwickelt wurden, können weit schwächere Versuchsexplosionen nachweisen. Die aus 26 Seismometern bestehende Station in Norwegen zum Beispiel kann sowjetische Tests, die im 4200 km entfernten Testgebiet in der Nähe von Semipalatinsk durchgeführt werden, bis herab zu etwa 0,5 Kilotonnen nachweisen.13

Stationen, die innerhalb des sowjetischen Territoriums aufgestellt wären, könnten die Nachweisgrenze auf etwa 0,1 Kilotonnen reduzieren. Solche Stationen innerhalb der Sowjetunion wären zur Überwachung eines umfassenden Teststopps unerläßlich. Bereits in den Teststoppverhandlungen unter Carter und Breschnjew hatte die Sowjetunion der Errichtung seismischer Stationen auf ihrem Territorium zugestimmt. Seit Juli letzten Jahres schließlich sind aufgrund der privaten Übereinkunft zwischen dem NRDC und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften mehrere von amerikanischen Wissenschaftlern betriebene Seismometer in der UdSSR in Betrieb. (Seitdem die Sowjetunion ihr Testmoratorium im Februar dieses Jahres beendet hat, müssen diese Geräte allerdings während der Durchführung von Tests kurzzeitig abgeschaltet werden.)

Aus wissenschaftlicher Sicht wäre damit die Überwachung eines Vertrages, der Testexplosionen mit einer Sprengkraft von mehr als einer Kilotonne verbietet, unter den heutigen Umständen gewährleistet. Die Vereinbarung eines umfassenden Teststopps dagegen würde weitergehende Maßnahmen erfordern (z.B. dichteres Überwachungsnetz, erweiterte Auswertkapazitäten, unangekündigte Vor-Ort-Inspektionen etc.), um auch kleinste Tests entdecken zu können. Über solche Maßnahmen müßten die beiden Supermächte während der Verhandlungen reden, die in Kürze beginnen sollen.

Im Zusammenhang mit einer Nachweisschwelle für nukleare Tests bzw. mit einer eventuellen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen ist es wichtig zu wissen, welche militärische Bedeutung den unterschiedlichen Sprengkraftbereichen zukommt. Abb.1 gibt hierzu ebenfalls nützliche Hinweise.

Die einzige Einschränkung, der unterirdische Kernwaffentests gegenwärtig unterliegen, ist die Limitierung der Sprengkraft auf 150 Kilotonnen durch den Testschwellenvertrag von 1974. Unterhalb dieser Grenze kann die Sprengkraft für einen Test frei gewählt werden; auch unterliegen die Tests keiner zahlenmäßigen Beschränkung. Man kann deshalb annehmen, daß die Häufigkeitsverteilung in Abb.1 ein gewisses Bild der militärischen Signifikanz vermittelt, die den verschiedenen Sprengkraftbereichen zugemessen wird.

Auffallend ist das Maximum im Bereich zwischen 5 und 20 Kilotonnen; 44 % aller Tests wurden in diesem Sprengkraftbereich durchgeführt. Die meisten dieser Tests stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Spaltzündern für thermonukleare Waffen.

Die hohe Zahl von Tests direkt unterhalb der 150-Kilotonnen-Grenze ist zum Teil auf das Testen von strategischen Sprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft zurückzuführen; in vollständiger Konfiguration würden die Ladungsstärken dieser Sprengköpfe dieses Testlimit bis zu einem Faktor 2-3 übersteigen. Der Testschwellenvertrag von 1974 hat damit kaum eine Auswirkung auf die Entwicklung von Sprengköpfen gehabt.

Die bisher bekannten Angaben deuten darauf hin, daß die meisten der Tests, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Röntgenlasers durchgeführt wurden, im Bereich zwischen etwa 50 und 100 Kilotonnen liegen.

Dreizehn Prozent aller Tests hatten eine Ladungsstärke zwischen 1 und 5 Kilotonnen. Vermutlich 2 Tests wurden bei etwa 0,025 Kilotonnen, 2 weitere bei etwa 0,12 Kilotonnen durchgeführt.

Wäre in der Zeit von 1980 bis 1984 die Sprengkraft der Nukleartests auf 10 Kilotonnen anstatt auf 150 Kilotonnen begrenzt gewesen, hätten etwa 60 % dieser Tests nicht durchgeführt werden können. Eine Testschwelle von 5 Kilotonnen hätte etwa 80 %, eine solche von 1 Kilotonne 95 % aller Tests unmöglich gemacht. Ein Testschwellenvertrag, der die Ladungsstärke auf 1 Kilotonne begrenzt, würde nicht nur die Entwicklung und Modernisierung strategischer, sondern auch die vieler taktischer Sprengköpfe unterbinden. Die Entwicklung thermonuklearer Sprengköpfe, mit Ausnahme solcher mit sehr kleiner Sprengkraft (z.B. Neutronenbombe), wäre unmöglich.

Von besonderer Bedeutung ist der Bereich unterhalb einer Kilotonne. Welche Entwicklungen lassen sich in diesem Bereich durchführen? Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

– Experimente zur grundlegenden Physik von Kernwaffen,

– Tests von Hohlraumtargets für die Trägheitseinschlußfusion,

– Untersuchung der Wirkungen von Kernwaffen,

– Durchführung sogenannter „One-point-safety“-Tests, mit denen überprüft wird, ob im Falle eines Unfalles mit einer Kernwaffe eine unbeabsichtigte Nuklearexplosion ausgelöst werden kann oder nicht,

– Entwicklung von taktischen Kernwaffen (z.B. Anti-U-Boot-Waffe, Atomminen),

– Erprobung von Konzepten für Kernwaffen der dritten Generation.

Insbesondere der letzte Punkt verdient Beachtung. Wegen der Energiebündelung, die bei Kernwaffen der dritten Generation beabsichtigt ist, kann in vielen Fällen bei gleichbleibender oder sogar noch erhöhter Reichweite die Sprengkraft der Waffe gesenkt werden. Allerdings erscheint unter der Beschränkung eines 1-Kilotonnen-Limits – vorausgesetzt, ein solcher Vertrag träte in absehbarer Zeit in Kraft – die Entwicklung von einsatzfähigen Kernwaffen der dritten Generation äußerst unwahrscheinlich. Die Entwicklung des Röntgenlasers z.B. wäre wegen der relativ hohen benötigten Sprengkraft ausgeschlossen. Allerdings scheinen Kernwaffen, die ihre Explosionsenergie in kinetische Energie von festen Geschossen oder Flüssigkeitsstrahlen umwandeln, durchaus machbar zu sein. So soll der oben erwähnte Test „Hazebrook“ eine Sprengkraft von nur 40 Tonnen gehabt haben. Inwieweit andere Konzepte für Kernwaffen der dritten Generation durch eine 1-Kilotonnen-Testschwelle betroffen sein würden, ist zur Zeit noch unklar.

Es ist davon auszugehen, daß auch unterhalb einer Testschwelle von einer Kilotonne Neuentwicklungen von Kernspaltungswaffen möglich sein würden. Das qualitative Wettrüsten im Nuklearbereich wäre damit zwar stark behindert, aber nicht völlig unterbunden. Weiterhin ist zu beachten, daß in dem hypothetischen Falle einer 1-Kilotonnen-Testschwelle die Bedeutung von Tests mit sehr kleinen Ladungsstärken stark zunehmen würde. Daran gehindert, Waffen mit größerer Sprengkraft zu entwickeln, würden die Kernwaffenkonstrukteure ihren Einfallsreichtum voll auf den Bereich unterhalb einer Kilotonne konzentrieren. Von daher ist die in Abb. 1 dargestellte Häufigkeitsverteilung auf die militärische Signifikanz einer Testschwelle nur bedingt anwendbar.

Aus dem hier gesagten folgt, daß im Interesse einer wirkungsvollen Rüstungskontrolle ein Verbot aller Nukleartests einer niedrigeren Testschwelle von z.B. einer Kilotonne vorzuziehen ist. Allerdings könnte es aus praktischen Gründen sinnvoll sein, sich über Testschwellenvereinbarungen einem umfassenden Teststopp schrittweise anzunähern – so wie es auch der Vorschlag der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft vorsieht. Ein klar vorgegebener Zeitraum von z.B. drei oder vier Jahren sollte es ermöglichen, während der stufenweisen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen auf zunächst 5, dann 1 und schließlich Null Kilotonnen das seismische Überwachungsnetz so weit auszubauen, daß auch kleinste nukleare Tests mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit entdeckt werden können. Die Politiker sind hier aufgefordert, Vorgaben für die gewünschte Nachweisgenauigkeit zu machen und die politischen und finanziellen Voraussetzungen für den zügigen Ausbau des Überwachungsnetzes zu schaffen.

Verteilung der Ladungsstärke aller amerikanischer Nukleartests, die von Anfang 1980 bis Ende 1984 im Testgebiet in Nevada durchgeführt wurden. Die vertikale Skala ist so gewählt daß die Fläche unterhalb der dargestellten Kurve den Wert 1 ergibt. f (Y) gibt den Anteil der Tests mit einer Ladungsstärke kleiner als Y an.

Anmerkungen

1 Seit Ende Juli 1986 fanden in Genf mehrmals offiziell als „Unterredungen“ bezeichnete Gespräche zwischen amerikanischen und sowjetischen Experten im Zusammenhang mit der Teststopp-Problematik statt. Die Gesprächsteilnehmer hatten jedoch kein Mandat, über einen umfassenden Teststopp zu verhandeln, sondern die Gespräche hatten den Sinn, den eigenen Standpunkt hinsichtlich Verifikationsfragen darzulegen und den Standpunkt der Gegenseite anzuhören.Zurück

2 U.S. Department of State, „U.S. Policy Regarding Limitations on Nuclear Testing“, Special Report No. 150, August 1986, S. 3.Zurück

3 a.a.O., S. 1.Zurück

4 Nachweislich sind 5 Nukleartests bekannt, die die USA zur Entwicklung des Röntgenlasers durchführten (siehe: T. B. Cochran, W. M. Arkin, R. S. Norris, M. M. Hoenig, „Nuclear Weapons Databook, Vol. II: U.S. Nuclear Warhead Production“, Cambridge, Mass., 1987, S. 23). Die tatsachliche Zahl liegt hoher, vermutlich in der Gegend von fünfzehn. Zurück

5 T. B. Taylor, „Kernwaffen der dritten Generation“, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1987, S. 38; K. Tsipis, „Third-Generation Nuclear Weapons“, in: World Armaments and Disarmaments, SIPRI Yearbook 1985, London 1985, S. 83. Zurück

6 M. D. Lemonick, „A Third Generation of Nukes“, Time, May 25, 1987, S. 35. Zurück

7 So z.B. Frank Gaffney und Robert Barker während eines Vortrages vor Vertretern europäischer NATO Staaten (Text abgedruckt in: „The National Security Implications of a Comprehensive Test Ban“, Defense Issues, Vol. 1, No. 40, June 26, 1986). Die Formulierung geht zurück auf eine Antwort des Direktors des Livermore-Laboratoriums, Roger Batzel, auf eine entsprechende Frage von Senator Kennedy während einer Anhörung vor dem Senate Armed Services Committee im April 1986. Zurück

8 J. W. Rosengren, „Some Little-Publicized Difficulties with a Nuclear Freeze, R&D Associates, Report RDA-TR-122116-001, October 1983. Zurück

9 R. Kidder, „Evaluation of the 1983 Rosengren Report from the Standpoint of a Comprehensive Test Ban (CTB), Report UCID-20804, June 17, 1986. Zurück

10 Brief von R. Garwin, N. Bradbury und J. Carson Mark an Präsident Jimmy Carter, 15. August 1978; Brief von H. Bethe, N. Bradbury, R. Garwin, S. Keeny, W. Panofsky, G. Rathjens H. Scoville und P. Warnke an den Kongreßabgeordneten D. Fascell, 14. Mai 1985. Zurück

11 R. Kidder, „Military Significant Nucisar Explosive Yields“, FAS Public Interest Report, Vol. 38, No. 7, September 1985, S. 1.Zurück

12 U. Reichert, „Nuclear Testing and a Comprehensive Nuclear Test Ban – Background and Issues“, in Vorbereitung. Zurück

13 T. B. Cochran, R. S. Norris W. M. Arkin und M. M. Hoenig, „Unannounced U.S. Nuclear Weapons Tests, 1980-1984“, Nuclear Weapons Databook Working Paper 86/1, Januar 1986. Zurück

Dr. Uwe Reichert, Stipendiat der Stiftung Volkswagenwerk, Diplomphysiker an der TH Darmstadt.

Frankreich: Zerbricht der „nationale Nuklearkonsens“?

Frankreich: Zerbricht der „nationale Nuklearkonsens“?

von Johannes M. Becker

Drei Entwicklungen sollten derzeit den Blick der interessierten Öffentlichkeit auf Frankreich richten:

  • der regierungsamtliche Umgang mit den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen jenseits des Rheins,

  • das Agieren der französischen Friedensbewegung und

  • die Veränderungen in der öffentlichen Meinung Frankreichs betreffend die Nuklearpolitik.

Diese Entwicklungen hängen zusammen.

Beschränken wir uns bei erstgenanntem auf die Diskussion um die „option double Zero“: Die seit dem vergangenen März regierende Rechtsregierung hatte zunächst mit Ministerpräsident Chirac und den Ministern Giraud (Militär-) und Raimond (Außen-) vorschnell erklären lassen, man halte nichts von Gorbatschows Vorschlägen – das bei jeder Gelegenheit konstatierte konventionelle Übergewicht der Sowjetunion verbot den Konservativen jeden Gedanken an die „denuclearisation“ Westeuropas; die spätere Einbeziehung französischer Arsenale wurde von der Pariser Rechten ablehnt und das „Abkoppeln“ der USA von Westeuropas Schicksal (gänzlich ungaullistisch) als befürchtenswert an die Wand gemalt. Francois Mitterrand, der Baumeister der Regierung aus sozialistischem Präsidenten und konservativer Koalition, erklärte die Vorstöße Gorbatschows und der Sowjetunion kurzerhand für wünschenswert und akzeptabel. Er düpierte hiermit nicht nur seine „Cohabitations“-Partner in Paris, sondern ein weiteres Mal seinen engsten Bündnispartner in Westeuropa, die BRD und (diesmal) ihre konservative Regierung. Diese hatte sich nämlich in ihrer Hoffnung auf Obstruktionsmöglichkeiten gegen die sowjetisch-amerikanischen Vertragsideen auf Mitterrands Frankreich und Thatchers Großbritannien verlassen.

Mitterrand honorierte mit seinem Vorstoß einerseits zweifellos das Angebot der SU, die französischen Atomarsenale zunächst nicht zu tangieren. Andererseits ist Mitterrand und seinen Ratgebern der Gedanke eines gestärkten westeuropäischen NATO-Pfeilers unter der (atombewaffneten) Hegemonie Frankreichs nicht fern. Das heißt: je weniger Pressionsmöglichkeiten die USA mit hochkonfliktträchtigen Waffen in Westeuropa aufgebaut haben, desto stärker ist die Position Frankreichs. (Wobei „Europäisierung der NATO“ nicht mit zeitweiligen Gedankenspielen von sozialdemokratischer und konservativer französischer Seite zu verwechseln ist, die BRD in irgendeiner Weise direkt an den französischen Nuklearwaffen teilhaben zu lassen.).

Der zweite Punkt betrifft die französische Friedensbewegung. Seit etwa drei Jahren, sicherlich nicht ohne Zusammenhang mit dem Ausscheren der FKP aus der gemein Samen Linksregierung mit Mitterrands Sozialisten, sind vorsichtige Positionsver Schiebungen in der von dieser Bewegung vertretenen Politik wie auch in der der FKP zu konstatieren. (Die FKP, dies zur Erinnerung, war Ende der 70er Jahre mit der PS ins Lager derer übergegangen, die die atomare „Force de frappe“ zum Garanten de nationalen Unabhängigkeit Frankreichs er klärten, und hatte damit den „nationale Nuklearkonsens“ begründet.)

Waren die Demonstrationen der beider großen Arme der französischen Friedensbewegeng, „Mouvement de la Paix“ und „Appel des Cent“, zu Beginn der 80er Jahr, noch unter recht unpolitischen, den bundesdeutschen Beobachter irritierender Slogans wie „J´aime la Vie – J´aime la Paix oder aber „Weder Pershing II, noch SS 20“ organisiert worden, vor allem jedoch unter sorgsamer Ausklammerung vieler grundsätzlicher inländischer Probleme, besonders der „eigenen“ Atomwaffen, so ändert, sich dieses Bild seit Mitte des Jahrzehnts Nun wurde nicht nur Gorbatschows Teststopp-Angebot favorisiert, sondern die französische Regierung wurde vehement aufgefordert, ebenfalls auf diese Tests zu verzichten (die Erprobung und Entwicklung der Neutronenbombe war schon immer in Zentrum der Agitation gewesen). Seit die konkreten Vorschläge der SU vorlagen, agitierte die französische Friedensbewegung weiterhin auf ein aktives, konkretes Eingreifen Frankreichs in den Abrüstungsprozeß.

Die parallelen Entwicklungen innerhalb der KP-Rüstungsdiskussion waren ebenfalls nicht zu übersehen: im Herbst 1986 lehnte die FKP erstmals seit Jahren einen Militäretat ab – dies gegen alle anderen großen Parteien; sie sprach sich insbesondere gegen die gewaltige Modernisierung der Atomwaffenarsenale Frankreichs und gegen die fortlaufenden Sprengversuche auf dem Mururoa-Atoll aus. Das unübersehbare Agieren Mitterrands auf westeuropäischem Parkett (nicht zuletzt unter dem Namen EVI=Europäische Verteidigungs-Initiative gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen bekanntgeworden) wurde kritisiert. Die FKP bekannte sich vorbehaltlos zu den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen; Frankreich dürfe die Möglichkeiten zum weltweiten Abbau der atomaren Potentiale nicht durch eigene Aufrüstung boykottieren, solle sich im Gegenteil verpflichten, seine Arsenale ab einem bestimmten und zu benennenden Punkt abzurüsten.

Schließlich ist da die öffentliche Meinung in Frankreich. Im Bewußtsein der französischen Bevölkerung hängen die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft eng zusammen, sie erscheinen als Garanten der „souverainete nationale“, der nationalen Unabhängigkeit, und sind als solche positiv besetzt mit dem Versuch vor allem de Gaulles in den 60er Jahren, Frankreich dem Zugriff der USA zu entziehen. Der „nationale Nuklearkonsens“ ist aber seit Tschernobyl zumindest für den Bereich der zivilen Nutzung zerbrochen. Im Mai 1986 versuchte die neue Rechtsregierung zwei Wochen erfolgreich, den Franzosen glaubhaft zu machen, die verseuchten Wolken hätten vor den Ardennen, den Vogesen und den Alpen haltgemacht; das Erwachen hinterher war um so abrupter. Große Teile der Bevölkerung schenken der Informationspolitik der Regierung heute keinen Glauben mehr eine Tendenz, die durch die nicht abreißende Kette von heute ruchbar werdenden Pannen wie auch durch das wachsende Bewußtsein von der vollzogenen Fehlplanung im Energiesektor (gewaltige Überkapazitäten) nur verstärkt wird. Demonstrationen mit vielen Tausend Teilnehmern sind heute keine Seltenheit mehr.

Die Auswirkungen dieses Mißtrauens auf den Glauben und das Vertrauen in die „Force de frappe“ sind heute noch schwach, aber sie sind konstatierbar: die Zahl der Franzosen, die die französische Bombe nicht länger für einen Garanten des Friedens und der „Grandeur de la France“ halten, wird immer größer, immer mehr plädieren für ihre Verschrottung, zumindest für die Erklärung ihres Nichteinsatzes. Ein strukturelles Problem kommt allerdings hinzu: Es gibt in Frankreich nur sehr wenige Berührungspunkte zwischen der Friedens– der Anti-AKW- und der Ökologie-Bewegung: die traditionellen Friedensparteien auf der Linken haben ökologische Fragen entweder vernachlässigt (FKP) oder demagogisch aufgegriffen (PS); die „Ecoles“ ihrerseits, stark von rechten und autonomen linken Kräften beeinflußt, ist der Friedensbewegung mit der Rede von der „Fünften Kolonne“ gegenübergetreten. (Das autonome, antikommunistische „Comite pour le Desarmement Nucleaire en Europe“, CODENE, versucht einen Brückenschlag zwischen den Problemgebieten Frieden und Ökologie, aber eben unter Ausgrenzung vor allem der kommunistischen Kreise.)

Kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung? Beginnen wir bei Mitterrand und bei der „classe politique“:

1. Frankreich wird von maßgeblichen Kräften in nahezu allen nichtkommunistischen politischen Lagern als atomares Kernland eines militärisch näher zusammenrückenden Westeuropa gesehen – und da ist der Abbau der US-Raketen nur eine nützliche Entwicklung. Die „Force de frappe“ würde aufgewertet.

2. Das französische Kapital hat eine seiner wenigen Spitzenstellungen auf dem Weltmarkt gerade im Bereich der Nukleartechnologie inne – die Entwicklungsländer sind derzeit im Visier der Exporteure französischer AKW-Technologie. Würde der inländische Atomwaffenmarkt plötzlich entfallen, würde ein Großteil dieses Industriekomplexes in große Schwierigkeiten kommen; die ungeheuer kostspielige „Brüter“-Technologie wird übrigens mit der Perspektive auf die absehbare Verknappung des Natur-Urans in erster Linie waffentechnologisch orientiert betrieben.

3. Mitterrand fürchtet über das Ausscheren der FKP aus dem „nationalen Nuklearkonsens“ einerseits um die Frucht seiner jahrzehntelangen Marginalisierungsbemühungen gegenüber dem einstmals dominierenden kommunistischen Bündnispartner, er will der Friedensbewegung und den immer mit dieser identifizierten Kommunisten das Entspannungs- und Abrüstungsterrain nicht überlassen, er will schließlich der sensibilisierten öffentlichen Meinung in Frankreich keine weiteren Kondensationskerne zu möglicherweise organisierter Ab- oder Gegenwehr gegen seine eigene Nuklearpolitik anbieten. Zumal wenn ihn diese setze 'Politik derzeit nichts kostet.

Derzeit stellt sich Mitterrand als abrüstungswilliger und entspannungsfreudiger Weltmann dar, der überdies seinen (und des legendären Generals) Grundsätzen treu bleibt. Die Lage wird allerdings schwieriger für die konservativen französischen Strategen im Parti Socialiste und in den Rechtsparteien, wenn die „option double Zero“ nur der Anfang bleibt, wenn die Welt gleichsam von einem Abrüstungssog ergriffen wird. Essentielle Konflikte sind absehbar: für den ersten Schritt des sowjetischen Planes einer totalen atomaren Abrüstung bis zum Jahre 2000 ist nämlich das Einfrieren der atomaren Kapazitäten Frankreichs und Großbritanniens vorgesehen. Ob Paris auf die bis zum Jahre 1991 geplante Verdreifachung seiner Schlagkraft verzichten wird, steht derzeit dahin, ist allerdings angesichts des o.a. Szenarios eher unwahrscheinlich.

Akzeptiert man die Sicht von der derzeitigen Haltung der US-Regierung in der Frage der Abrüstung in Europa als einerseits willkommenes Ablenkungsmanöver von SDI und von der weiterhin vehement betriebenen Atomtest-Politik, als andererseits Folge aus der Einsicht, atomare Kriege seien (zumindest in Europa) derzeit nicht mehr führbar und man müsse die konventionelle Rüstung stärken, so kann die französische Politik in Zukunft durchaus wieder zum Hemmschuh weiterer Abrüstung werden:

  • Frankreich ist im konventionellen Bereich relativ schwach, wird daher mit aller Kraft auf seinen Atomwaffen bestehen;
  • Frankreich wird nach einer erfolgten Abrüstung der US-amerikanischen und sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen verstärkt auf EVI orientieren – die verbleibenden atomaren wie nichtatomaren Kurzstreckenraketen der Warschauer-Vertrags-Staaten werden als Legitimationsbasis herhalten müssen.

Die Testballons des beginnenden Präsidentschaftswahikampfes in Paris lassen nichts Gutes erhoffen: da griff der sozialistische Ex-Premier Fabius Mitte Juni eine Anregung Helmut Schmidts auf und gab eine Ausweitung „unserer Strategie der nuklearen Verteidigung auf den Schutz der Bundesrepublik“ zu bedenken (H. Schmidt hatte die Zusammenlegung der deutschen und französischen Truppen unter ein französisches Oberkommando vorgeschlagen); die BRD solle die wirtschaftliche Führungsrolle innehaben), Frankreich die militärische wie die diplomatische. Und der Sprecher des linken Flügels (!) des Parti Socialiste, Jean-Pierre Chevenement, philosophierte: „Die echte Berufung der strategischen französischen Atomwaffe ist es, den Frieden und die Stabilität in Europa zu garantieren. Der Friede ist Sache der Abschreckung, unsere Lebensinteressen enden nicht am Rhein.“ Und: „Die Zeit für eine französische Initiative, die die Schicksalsgemeinschaft unserer beiden Völker besiegelt, ist gekommen.“

Die französischen Sozialisten, denen im eigenen Land derzeit neben den Kommunisten nur eine kleine Anzahl von Gaullisten um Michel Debre widerspricht (auch der ernsthafte Präsidentschaftskandidat Raymond Barre akzentuiert seine „europäischen“ Attitüden), treffen mit ihrer Initiative bei der westdeutschen Rechten auf offene Ohren; Alfred Dregger brachte rechtzeitig seine Idee einer „europäischen Sicherheitsunion“, an der Frankreich „führend“ beteiligt sein müsse, in Erinnerung; und F.J. Strauß erinnerte unlängst erneut an seinen Anspruch, die BRD brauche eine „bescheidene atomare Komponente für die Abschreckung“.

Wie ist dem von französischer Seite zu begegnen? Was ist aus Frankreich an Gegentendenzen zu erwarten? Der endgültige Bruch des „nationalen Nuklearkonsenses“ durch die Kommunisten zur Rückerlangung ihrer abrüstungspolitischen Glaubwürdigkeit erscheint ebenso als ein Hebel zur Bewegung der Fronten wie eine neue Diskussion innerhalb der Sozialistischen Partei; beide Faktoren – die französischen Grünen sind zerstritten, teilweise rechtslastig und an Friedensfragen offenkundig desinteressiert – sind unabdingbare Voraussetzungen, um das öffentliche Bewußtsein weiter zu sensibilisieren und die herrschenden Kräfte unter Druck zu setzen.

Johannes M. Becker ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Marburg.

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen?

30 Jahre „Göttinger Erklärung“

von Corinna Hauswedell

Sie werden in diesen Wochen auf vielfältige Weise gewürdigt – jene achtzehn Wissenschaftler, die vor 30 Jahren mit der „Göttinger Erklärung“ gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr auftraten und damit viel Aufsehen in Politik und Öffentlichkeit erregten. Die historischen Umstände in Erinnerung zu rufen öffnet auch den Blick auf Konstanten und Veränderungen des Engagements von Naturwissenschaftlern gegen die Atomkriegsgefahr heute – einschließlich deren Wirkungen auf die Politik.

„Wenn die Wissenschaftler sagten, ein kleines Land wie die Bundesrepublik schütze sich am besten durch einen ausdrücklichen Verzicht auf den Besitz atomarer Waffen, dann habe das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun (…) man müsse aber Kenntnis von den Erkenntnissen haben, die diese Wissenschaftler nicht hätten, weil sie nicht zu ihm gekommen seien (…)“1 Diese erste heftige Reaktion Adenauers auf die „Göttinger Erklärung“ enthüllte nicht nur die feudalistisch geprägte Denkungsart des Kanzlers, sondern auch in erschreckender Weise das Politikverständnis der Regierenden: Alle anderen sind inkompetent und unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit wird die Wissenschaft von der Politik ausgeschlossen.

Dabei waren es gerade der bemerkenswert demonstrative Mangel an Sachkenntnis und die damit intendierte Verharmlosung in einer Presseerklärung Adenauers vom 5. April 1957 („Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie (…)“.2, die die „Göttinger 18“ schließlich zu ihrem öffentlichen Auftreten provoziert hatten.

Vorausgegangen waren zwischen 1954 und 1956 Meldungen über die geplante atomare Ausrüstung der Bundeswehr mit US-Raketen und im November 1956 ein Brief der Atomwissenschaftler an Verteidigungsminister Strauß, „öffentlich zu erklären, daß die Bundesregierung Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke.“3 Die Antwort war unbefriedigend geblieben und

Adenauers Presseerklärung mußte nun aufs Äußerste beunruhigen. „(…) sie mußte fast zwangsläufig der deutschen Bevölkerung ein völlig falsches Bild von der Wirkung der Atomwaffen vermitteln. Wir fühlten uns also verpflichtet zu handeln (…) Erstens mußte die deutsche Bevölkerung über die Wirkung der Atomwaffen voll aufgeklärt, jeder Beschwichtigungs- oder Beschönigungsversuch mußte verhindert werden. Zweitens mußte eine veränderte Stellung der Bundesregierung zur Frage der atomaren Bewaffnung angestrebt werden. Daher durfte sich die Erklärung nur auf die Bundesrepublik beziehen.“4 So schilderte W. Heisenberg die Motive der „Göttinger“. „Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit (…)“, das war der Antrieb für die achtzehn Wissenschaftler, als „Nichtpolitiker“ in die Politik einzugreifen. Sie nahmen dafür den Vorwurf der Inkompetenz in kaut, mußten sich, wie schon andere vor ihnen, des Vaterlandsverrats bezichtigen lassen. So argwöhnte Adenauer, sie hätten „es geradezu auf eine Schwächung der Bundesrepublik abgesehen.“5

C. F. von Weizsäcker erläuterte zwei Wochen, nachdem die Veröffentlichung zunächst Empörung und dann Beschwichtigungsversuche regierender Politiker ausgelöst hatte, die hinter der Erklärung stehenden Überlegungen:

„Erstens: Der Westen schützt seine eigene Freiheit und den Weltfrieden durch die atornare Rüstung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem eigenen, Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, diese Wahrheit Geltung zu verschaffen; deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß Überzeugend dartun, daß er selbst die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt; wir hätten einen Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land (…)“.6

Daß die „Göttinger“ sich gegen das lähmende und diskriminierende geistige Klima des Kalten Krieges überhaupt zu ihrer Manifestation zusammenfanden, macht bereits ein Gutteil ihrer moralischen und politischen Bedeutung aus.

Die drei Punkte Weizsäckers verweisen auf die Substanz und das Anliegen der „Göttinger 18“ und damit zugleich über den historisch-konkreten Anlaß der „Göttinger Erklärung“ hinaus. Sie enthalten bereits wesentliche Elemente dessen, was heute mit dem Begriff des „neuen Denkens“ impliziert ist.

Auch Heisenberg entwickelte in der direkten Konfrontation mit Adenauers Vorwürfen (siehe oben) die Notwendigkeit, sich der neuen Herausforderung des Atomzeitalters zu stellen: „Wir seien überzeugt, daß jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu einer gefährlichen Schwächung der politischen Stellung der Bundesrepublik führen müßte, daß also gerade die Sicherheit, an der ihm mit Recht soviel gelegen sei, durch eine atomare Bewaffnung aufs Äußerste gefährdet wird. Ich glaube, daß wir in einer Zeit leben, in der sich die Fragen der Sicherheit ebenso radikal veränderten wie etwa beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und man müsse sich in diese Veränderung erst gründlich hineindenken, bevor man leichtfertig den alten Denkmustern folgen dürfe.“7

Die Infragestellung der atomaren Abschreckung (und der damit verbundenen Rüstungsspirale), die Notwendigkeit des eigenständigen Handelns der Menschen (nicht nur der Politiker), die Bereitschaft „im eigenen Land“ mit Abrüstung zu beginnen (einseitig und konkret), diese Schlußfolgerungen, die Weizsäcker bereits 1957 andeutete, sind politischer Natur. Möglich geworden sind sie allerdings aus der (natur-) wissenschaftlichen Kenntnis von dem Ausmaß der atomaren Gefahr.

Nach 30 Jahren fortgesetzter atomarer Aufrüstung mehren sich die Anzeichen, daß dieser Zusammenhang – daß das Atomzeitalter eine wirkliche neue Politikkonzeption für die Friedenssicherung verlangt – auch zunehmend in die Politik Eingang findet.

Bei weitem nicht überall allerdings ist dies schon so. Das Antwortschreiben von Verteidigungsminister Wörner an die Initiatoren des Internationalen Naturwissenschaftlerkongresses in Hamburg im November 1986 „Wege aus dem Wettrüsten“ ist noch vom alten Denken geprägt: „(…) Entscheidend ist dabei allerdings, daß den sicherheitspolitischen Zusammenhängen Rechnung getragen wird. Gestatten Sie mir festzustellen, daß in diesem Punkt die Stellungnahmen zu allen Bereichen möglicher und erforderlicher Abrüstung aus wissenschaftlicher Sicht eine Reihe schwerwiegender Mängel aufweisen (…)“.8 Sicherheitspolitik und wissenschaftliche Sicht bleiben anscheinend unvereinbar für die Regierenden unserer Landes.

Die Veränderungen in den Reihen der „Nichtpolitiker“, 30 Jahre nach der „Göttinger Erklärung“ gerade auch bei den Naturwissenschaftlern, geben allerdings Anlaß zu mehr Zuversicht. Nach den „Göttingern“ sind sehr viele hinzugekommen, die ihre Stimme erheben, die Mitarbeit an Rüstungsprojekten verweigern. Man organisiert sich in unterschiedlicher Weise; Kongresse zu einzelnen Waffensystemen sowie zu allgemeinen Rüstungsfragen sind eine übliche Form des fachlichen Meinungsaustausches wie der politischen Stellungnahme geworden. International ist die Zusammenarbeit – gemeinsam die zu lösenden Aufgaben.

Ein Anlaß für diese neue Qualität und Qualifizierung im Friedensengagement der Wissenschaftler (wie vieler anderer Berufsgruppen) war die erneute Zuspitzung der atomaren Rüstungsdiskussion anläßlich der Stationierung der Mittelstreckenraketen 1983 in Europa.

Vergleicht man heute die Stellungnahme der Naturwissenschaftler, etwa die „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“ (1984) mit der alten „Göttinger Erklärung“ fällt das neue Selbstbewußtsein ins Auge. An die Stelle von Berufung auf „Nichtpolitiker“ – Status und „Wissenschaft“ tritt die explizite Zielstellung, „Öffentlichkeit und Politiker über die geplante Militarisierung des Weltraums und ihrer Konsequenzen sachlich zu informieren sowie konstruktive Beiträge zur Friedenssicherung zu leisten.“9

Die Verantwortung der Wissenschaft wird konkret wahrgenommen: Als „Dienstleistung“ von Experten für die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit und zunehmend als Initiatoren gegenüber der Politik. Während die „Göttinger“ noch schrieben, „wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, liegen jetzt der Vertragsentwurf zur Weltraumrüstung sowie die „Hamburger Abrüstungsvorschläge“ vor.

In dieser Entwicklung kommen tiefgreifende Prozesse zum Ausdruck: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft für alle gesellschaftlichen Bereiche, das sich in Richtung Selbsttätigkeit ändernde Politikbewußtsein vieler Menschen.

Die entsprechenden Rückwirkungen auf die Politik selbst stehen noch aus. Die Chancen allerdings sind größer geworden. An der „Kenntnis von den Erkenntnissen“ mangelt es nicht!

Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn
Atomwissenschaftler (12.04.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die
unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen
Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine
Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher
verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die
aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben,.
Als „taktisch bezeichnet man sie. um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen
menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen.
Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste
Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl
vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als
„klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen
entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der
strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische
Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von
der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von
Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik
wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große
Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen
Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten
wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei
der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer
Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu
allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die
westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige
Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des
Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einen Teil der Weit leistet. Wir hatten
aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für
unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der
Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es
sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es
ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.
Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung
oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir daß es Oberst wichtig ist, die friedliche Verwendung
der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher
mitwirken.

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn Otto
Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef
Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Strassmann,
Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

Anmerkungen

1 Archiv der Gegenwart vom 12.4.1957 Zurück

2 Zit. nach DER SPIEGEL vom 17.4.57 Zurück

3 Otto Hahn, Mein Leben, München 1986, S. 231 Zurück

4 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1979, S. 265 Zurück

5 Zit. nach ebd. Zurück

6 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957. Zitiert aus dem Vortrag am 29.4.1957 in Bonn für die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften, ebd. Zurück

7 W. Heisenberg, a.a.O. Zurück

8 Brief des Bundesministers der Verteidigung vom 19. 12.86 an Prof. Dr. Peter Starlinger. Zurück

9 Aus „Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums“, verabschiedet auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums“ am 7.7.-8.7.1984 in Göttingen. Zurück

Corinna Hauswedell ist Doktorandin im Fach Politikwissenschaft und lebt in Bonn.

„Ich sähe es nicht gern, wenn die Leute das wüßten.“

„Ich sähe es nicht gern, wenn die Leute das wüßten.“

Atomwaffen unterwegs

von Otfried Nassauer

Nuklearwaffen sind in der Bundesrepublik und im Hunsrück bekanntlich keine Rarität. Ob auf der Air Base Hahn, wo Experten 150 Atomwaffen vermuten, ob in Hasselbach, wo zumindest 96 Sprengköpfe eingelagert werden sollen, ob zwischen Kriegsfeld und Guterbacherhof (südwestlich von Bad Kreuznach) versteckt im Wald auf dem Höhenrücken, wo die US-Army ein Nuklearwaffendepot, das zu den größeren in der Bundesrepublik gehört, unterhält, oder ob an verschiedenen Flugplätzen in der Eifel – Atomwaffen gehören im Hunsrück wie in anderen Teilen der Bundesrepublik zum militärischen Alltag.1

Nuklearwaffen müssen aber auch transportiert werden. Sie müssen zur Lagerung in die Bundesrepublik gebracht werden, alte Waffen müssen abtransportiert und durch neue ersetzt werden, Sprengköpfe, die vor Ort nicht reparabel sind, müssen zur Instandsetzung gebracht werden, Nuklearwaffenlager, an denen größere Bauarbeiten durchgeführt werden sollen, müssen aus Sicherheitsgründen zwischenzeitlich geräumt werden.2 Auch wenn Atomwaffen nicht gerade zu Übungszwecken durch die Landschaft gefahren werden Für diesen Zweck tun's auch Attrappen) und wenn der Transport „sich auf das erforderliche Mindestmaß“ beschränkt, 3 ist es leicht einsichtig, daß eine große Zahl von Transporten erforderlich ist. Einige konkrete Beispiele: Die Sprengköpfe der alten Nike-Herkules-Raketenbatterie in Hasselbach mußten entfernt werden. Auf dem Gelände entsteht heute die Cruise Missile Basis, zu der zumindest 96 Atomsprengköpfe gebracht werden müssen. In Kriegsfeld, wo u. a. atomare Artilleriemunition des Kalibers 203 mm eingelagert ist, muß gegenwärtig ein alter Sprengsatz gegen einen neuen Typ (W 79) ausgetauscht werden.4 Zukünftig wird auch die alte Atomgranate 155mm durch eine neue (W 82) ersetzt. Die neue Munition hat eine sicherere Konstruktion und – vor allem – sie ist durch ein sogenanntes Tritium-Teil in eine Waffe mit ähnlicher Wirkung wie die Neutronenbombe umbaubar.5 Auch auf dem Flugplatz Hahn fanden und finden nukleare „Modernisierungen“ statt. Die Bestände an B-43 und B-57-Bomben werden gegen B-61 und B-83-Bomben ausgetauscht zukünftig werden atomare Abstandsflugkörper eingeführt.6 Die nukleare Rundumerneuerung der US-Atomwaffen, die den kaum bekannten zweiten Teil des NATO-Beschlusses von Montebello darstellt, 7 soll zu einer Stärkung der nuklearen Einsatzkraft der NATO bei gleichzeitiger 'Rationalisierung' der Lagerbestände führen.

Trotz der relativen Häufigkeit der Transporte ist über ihren Ablauf und die damit verbundenen Gefahren wenig bis gar nichts bekannt. Dies hat seinen Grund darin, daß Lagerung und Transport atomarer Waffen zu den besser gehüteten Geheimnissen der NATO gehören. Sicherheitsfragen haben die US-Army alarmiert: In geheimen Scheinmanövern gelang es z.B. 5-8 Mann starken Teams der Special Forces der US-Army, ein Nuklearwaffenlager zu überfallen die Wachen zu überwältigen und binnen 30 Minuten einer Nuklearwaffe habhaft zu werden.8 Bei Transporten hält man die Gefahr für größer. Der ehemalige Kommandeur der bei der US-Army Europa zuständigen Einheit für den Atomwaffennachschub, der 59. Feldzeugbrigade in Pirmasens, Kelly, meinte deshalb zu einem Journalisten: „Ich würde nicht gerne in der Presse nachlesen, wie wir Atomwaffen transportieren. Ich sähe es nicht gerne, wenn die Leute das wüßten.“9 Terroristenangst und der Wunsch nach einer nicht beunruhigten Bevölkerung in der Umgebung von Atomwaffenlagern greifen Hand in Hand bei solch restriktiver Öffentlichkeitsarbeit. Wer die Aussage von US-Kommandeur Kelly finden will, muß schon den „Honolulu Sunday Star Bulletin and Adviser“ lesen.

Die Nachschuborganisation für Nuklearwaffen

Über das Atomwaffennachschubsystem der US-Luftwaffe, die für die Hahn Air Base und die Cruise Missiles in Hasselbach zuständig ist, ist nur wenig bekannt. Das Military Air Lift Command der US-Air Force, zuständig für den Luftnachschubtransport, dürfte besonders ausgebildete Flugcrews für den Atomwaffentransport haben. Sie bringen die Atomwaffen mit C-141-Starlifter oder C-5-Galaxy-Transportmaschinen über den Atlantik. Entweder werden die Waffen nach Ramstein eingeflogen und von dort weiter verteilt. Oder aber die Transporter landen gleich auf den Bestimmungsflugplätzen.

Innerhalb Europas ist für den Weiterflug Falls erforderlich) die 322. Air Lift Division mit Sitz in Ramstein zuständig, die aber auch auf der Frankfurter Rhein Main Air Base durch eine unterstellte Einheit, die 37. Tactical Air Lift Squadron, vertreten ist.10

Auf dem Bestimmungsflughafen sind dann sogenannte Munition Support Squadrons für die Nuklearwaffen zuständig. 11 „Das Nachschubsystem der US-Luftwaffe für Nuklearwaffen ist auch deshalb relativ unbekannt, weil sich fast alle Aktivitäten auf dem Flugplatz selbst abspielen. Sollten Transporte außerhalb des Flugplatzes, z.B. im Spannungsfall der Antransport der Munition aus dem nahegelegenen Depot erforderlich sein, so gilt für den erforderlichen Fahrzeugkonvoi, daß er so unscheinbar und normal wie möglich aussehen soll, d.h. die Fahrzeuge dürfen nicht gekennzeichnet werden. Ein Hubschrauber soll den Vorgang aus der Luft überwachen.12

Bei der US-Army steht der Nuklearwaffennachschub in ganz Westeuropa unter Kontrolle der 59. Ordnance (Feldzug) Brigade mit Hauptquartier in Pirmasens. Hier ist über die Verfahrensweise erheblich mehr bekannt. Für Artilleriemunition unterhält das US-Heer in der Bundesrepublik 13 Atomwaffenlager, je zwei für die beiden US Corps und je eines für die Corps der Verbündeten bzw. die Einheiten in Schleswig Holstein. Das wichtigste und größte Depot ist Miesau bei Ramstein – von hier aus werden die Waffen an die Corpslager weiterverteilt. Hinzu kommen Lager für die Atommunition für Pershings, die Lance-Raketen und soweit noch vorhanden die Nike-Herkules-Raketen (Buren bei Paderborn).13

Einige Feldzeugkompanien der 59. Ordnance Brigade sind für Atomwaffenlager zuständig, andere aber auch z. B. für den Nachschub an Lenkraketen oder für chemische Waffen. Es handelt sich übrigens um die größte selbständige US-Brigade in Europa. Eine weitere Aufgabe der US-Soldaten in Pirmasens ist es, die Bewachungsmannschaften (Custodial-Detachments US-Army Artillery Groups bzw. Artillerie Detachments genannt) für Nuklearwaffen bei den anderen NATO-Streitkräften zu stellen. In Pirmasens selbst ist auch die PAL-Abteilung der Brigade ansässig. Sie reist jährlich über 100.000 Meilen durch Europa, um die Atomwaffeneinheiten der US-Army mit den Sicherheitscodes und mit Service für die Codierungseinrichtungen an den Waffen zu versorgen (PAL heißt Permissive Action Link). Angesichts solcher Reisetätigkeit wundert es nicht, daß die Brigade in Pirmasens ihren eigenen Hubschrauberverband hat, das 22. Aviation Detachment. 14

Nicht direkt auf dem Hunsrück, sondern südwestlich von Bad Kreuznach, liegt das einzige wichtige Atomwaffenlager der US-Army in der Region. Im Wald des Dreiecks Kriegsfeld, Gerbach und Oberhausen liegt das Depot Northpoint, hier ist die 619. Feldzeugkompanie zuständig.

Werden Atomwaffen der US-Army in Friedenszeiten transportiert, so geschieht dies zumeist über Hubschrauber auf dem Luftweg, nicht wie oft irrig angenommen über Straßen. Atomsprengköpfe werden „im Frieden nicht im öffentlichen Straßenverkehr transportiert“, stellt der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Würzbach, am 13.6.1985 im Bundestag zurecht fest.

Nuklearwaffentransporte finden unter scharfen Sicherheitsmaßnahmen statt. Aus Manöverberichten der US-Streitkräfte geht hervor, daß an einem Transport zumindest drei Hubschrauber beteiligt sind 15 : einer mit Atomwaffen an Bord, eine Ersatzmaschine und ein Helikopter mit Sicherungsmannschaften.16 Ein CH-47 kann z.B. bis zu 8 Nuklearwaffenprojektile 155 mm laden. In der Regel ist anzunehmen, daß nicht mehr als drei solcher Atomgranaten an Bord genommen werden. Es ist deshalb bei größeren Transporten wahrscheinlich, daß mehr als drei Hubschrauber zum Einsatz kommen. Um Unfälle mit weitreichenden Folgen für die Zivilbevölkerung in Friedenszeiten zu vermeiden, sollen Flüge mit Atomwaffen an Bord nicht über bewohnte Gebiete geführt werden. In der Bundesrepublik ist dies so gut wie ausgeschlossen. Atomwaffentransporte müssen, weil die Besiedlung zu dicht ist, über unseren Köpfen stattfinden. Angesichts der nuklearen Modernisierungsprogramme der NATO und angesichts der Notwendigkeit, Atomsprengköpfe auch hier und da zu reparieren, was nicht immer vorort passieren kann, sondern oft auch in Ramstein oder gar in den USA-Laboratorien geschehen muß, sind solche Transporte relativ häufig. Im Durchschnitt überquert täglich sicher mehr als ein solcher Transport mit brisanter Fracht Teile unserer Republik. Außerdem wird die Bundesrepublik von Atombombern des Strategischen Luftkommandos der USA, die sich ständig mit z.T. entschärften Atomwaffen an Bord in der Luft befinden, überflogen. Bei besonderen Anlässen, so wenn über längere Zeit ein nuklearer Fehlalarm nicht widerrufen wird, kommen nuklear munitionierte Kampfflugzeuge der US-Air Force in Europa, die in Sofortbereitschaft lagen (QRA), hinzu.

Was aber passiert, wenn ein Nuklearwaffentransport abstürzt? Die US-Streitkräfte haben versucht, das in Manövern herauszufinden. In den Jahren 1979, 1981 und 1983 wurden Nuklearwaffenmanöver in den USA durchgeführt (Nuclear Weapons Accident Exercises/ NUWAX). Die Berichte darüber sind dick (sie füllen mehrere Ordner) und erschreckend.17

Transportunfälle mit Nuklearwaffen

Atomwaffen haben nicht nur im Krieg eine ungeheure, vernichtende Wirkung, sie stellen auch in Friedenszeiten eine Gefahr dar. Zumindest zwei der vielen schweren Zwischenfälle mit Nuklearwaffen haben die Probleme deutlich gemacht. Sowohl in Thule, Grönland, als auch in Palomares in Spanien sind atombombentragende Flugzeuge der USA abgestürzt. In Palomares erinnern noch heute 4 Meßstationen, die radioaktive Plutoniumstrahlung aufzeichnen sollen, an das mehr als 20 Jahre zurückliegende Unglück. Bei dem Absturz waren zwei Atomwaffen geborsten, Plutonium war freigesetzt worden. Im Rahmen der Aufräumungsarbeiten wurde die Erdoberfläche im Umfang von 2,2 Hektar in mehr als 4900 Fässern abtransportiert – der Boden war hoch verseucht. Weitere 224 Hektar mußten 30 cm tief umgepflügt und gewässert werden? um die radioaktiven Bestandteile zu verteilen. Noch 1977 und 1980 wurden auf gepflügtem Brachland verdoppelte Plutoniumwerte gemessen. Die medizinischen Akten von 50 Personen, die regelmäßig untersucht werden, sind bis heute selbst den Betroffenen nicht zugänglich gewesen, bis nach 20 Jahren die Frist zur Einreichung von Entschädigungsklagen abgelaufen war: Langzeitfolgen eines Atomwaffenunfalls.18

Aber nicht nur auf lange Sicht stellt ein solcher Unfall die Betroffenen vor Probleme schon gleich danach können die US-Streitkräfte nur mühsam mit den gravierendsten Folgen umgehen – dies zeigten die schon angesprochenen Manöver.

Angenommen wurde der Absturz eines mit mehreren Nuklearwaffen beladenen Hubschraubers in Situationen, wo nach Ausfall der Begleitmaschinen Atomwaffen nur noch ins nächste Depot transportiert und der eigentliche Auftrag abgebrochen werden sollte. Hubschrauber dürfen die Bomben im Unterschied zu Luftwaffenflugzeugen im Notfall nicht abwerfen. Deshalb stürzen beide gemeinsam ab. Die Maschine gerät in Brand, je nach Manöverlage in unbewohntem, bewohntem oder militärischem Gebiet. Dabei führen die enormen Temperaturen zur Explosion des konventionellen Zünders bei einer der Atomwaffen, wodurch deren Hülle birst und in dem Sog des Feuers Plutonium aus der Waffe nach oben gerissen und vom Wind verteilt wird. Eine nukleare Verseuchung der Umgebung, in Windrichtung bis zu einigen Kilometern Entfernung, ist die Folge. Je nach angenommener Lage müssen Menschen evakuiert werden, und es wird ein mehrere Quadratkilometer großes Sperrgebiet eingerichtet. Mannigfaltige Probleme, die im Ernstfall Menschen das Leben kosten oder sie ernsthaft und dauerhaft gesundheitlich schädigen können, traten auf. Vielfach waren die eingesetzten Soldaten nicht in der Lage, sie zu meistern. Im folgenden nur einige Beispiele:

– Örtliche Bewohner und die zuständige Feuerwehr treffen am Unglücksort vor den ersten Soldaten ein; sie sind nicht durch Militär, sondern durch Augenzeugen alarmiert worden. Sie wissen nicht daß in dem brennenden Hubschrauber Munition liegt, geschweige denn ahnen sie die Gefahr radioaktiver Verseuchung. Deshalb halten sie auch den Sicherheitsabstand von mehr als 600 Metern nicht ein, der für Soldaten wegen der Gefahr der Explosion des Zünders vorgeschrieben ist. Diese Menschen können durch die Explosion verletzt oder getötet werden, bei Radioaktivitätsaustritt werden sie verseucht. Gerade bei Plutonium, das schon bei Aufnahme in Milligrammgrößenordnungen ernsthaftere Schäden hervorruft, ist die Gefahr besonders groß, weil die strahlenden Partikel in der Luft mit eingeatmet werden können. Auch weiß die örtliche Feuerwehr sicher nicht, daß die konventionellen Zündladungen besonders empfindlich auf Stöße und plötzliche schiede reagieren, daß ihre Explosion sofort, aber auch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erfolgen kann.

– Die militärischen Einheiten in Unfallbereitschaft kommen erst viel zu spät zum Ort des Geschehens. Die ersten Soldaten erreichten im Manöver 1981 erst drei Stunden nach dem Unfall die Absturzstelle. Sie sind unzureichend ausgerüstet, können radioaktive Strahlung nicht oder nur unzulänglich messen (insbesondere fehlen in den Manövern immer wieder Geräte zur Feststellung von Alphastrahlung, die bei einem solchen Unfall am häufigsten auftritt), das Personal reicht in weiten Teilen der ersten Phase kaum, um angemessene Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen und auch durchzusetzen. Eine speziell für Atomwaffenunfälle ausgebildete Einheit kommt erst elfeinhalb Stunden zu spät an.

– Die Identifikation des Unfallgeschehens dauert viel zu lange. Zwar gelang es z.B. 1981 zwei der Atomwaffen relativ schnell zu finden – die dritte wurde aber erst am Tag nach dem Unfall und dann auch 300 m außerhalb der eingerichteten Sicherheitszone gefunden. Wäre sie geborsten gewesen, so wäre ein noch größeres Gebiet verseucht gewesen. Selbst die Einrichtungen der militärischen Unfallmannschaften wurden in ungenügenden Sicherheitsabständen aufgebaut. 1983 befanden sich 75 % der verseuchten Fläche außerhalb der Sperrzone.

– Es gab mehrfach lange kein klares Bild über das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung, Streitigkeiten über die zulässigen Belastungs- und Grenzwerte und selbst bei Ende keinen Überblick über die radioaktive Verstrahlung von Menschen.

– Bei dem Manöver des Jahres 1983 sollten 815 Personen (also nicht sehr viele) evakuiert werden, pro Person wurden 4 Minuten benötigt.

– Über die nötigen Aufräum- und Dekontaminierungsmaßnahmen herrschte massive Unsicherheit und Unklarheit. 1981 war man froh, daß diese nicht mehr Gegenstand der Übung waren, 1983 wurde neben umfassenden Entseuchungsarbeiten auch diskutiert, ob die US-Streitkräfte nicht das ganze verseuchte Gebiet aufkaufen, die darauf stehenden Häuser abreißen und zusammen mit der abzutragenden Erde als radioaktiven Müll deponieren sollten.

Diese und viele andere Probleme, wie unzureichende Kommunikationsmittel, grobe Unwissenheit selbst bei Sondereinheiten, Streitigkeiten um Befehlsgewalt traten auf, obwohl die Ausgangslage der fünftägigen Manöver schon besonders günstig war: Alle Einrichtungen des Basiscamps – einer Zeltstadt für ca.800 Teilnehmer – waren im voraus aufgebaut worden, im Ernstfall gäbe es sie nicht. Weitere Verzögerungen und Improvisationen wären erforderlich.19 All diese und viele andere Schwierigkeiten (Verseuchung von Trinkwasser) traten auf, obwohl nur bei einer der Bomben der konventionelle Zünder explodiert war. Wäre dies bei mehreren passiert, so wären die Übungsteilnehmer noch weiter überfordert gewesen. Die vielen ungelösten und nicht lösbaren Probleme werden auch in der Dienstvorschrift der US-Streitkräfte, die Vorgaben für ein richtiges Reagieren auf Nuklearwaffenunfälle enthält, immer wieder erwähnt. Sie sind nicht gelöst.20 Sie resultieren daraus, daß „ein Nuklearwaffenunfall völlig andersartig ist als die meisten anderen Unfälle, wegen der sehr realistischen Möglichkeit einer radioaktiven Kontamination des Unfallortes, die sich viele Meilen in Windrichtung ausbreiten kann.“21

Anders sieht das der in solchen Fragen zuständige bundesdeutsche Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Kurt Würzbach: „Es gibt kein realistisches Szenario, das die Behauptung der Ausbreitung einer radioaktiven Verstrahlung (er meint einer weitreichenden, d. Red.) auch nur im Entferntesten rechtfertigen.“22 Für Herrn Würzbach ist dies eine Art vernachlässigbares Restrisiko, so wie für die US-Streitkräfte die Explosion des nuklearen Sprengsatzes bei einem Unfall. Da wird lapidar festgestellt, einen solchen habe es bislang nicht gegeben.23 Ein anderes – für das US-Verteidigungsministerium besonders brisantes – Problem wurde allerdings mittlerweile gelöst: Die Übungen zeigten, daß die Glaubwürdigkeit militärischer Stellen all zu sehr litte, wenn man an der generellen Politik festhielte, die Anwesenheit von Atomwaffen weder zu bestätigen noch zu leugnen (was in der Praxis bei solchen Unfällen nur heißen kann, sie zu leugnen). Heute gibt es vorformulierte Presseerklärungen zur Beruhigung der Öffentlichkeit, die der zuständige Presseoffizier nur noch mit Ort, Datum, Art des Unfalls und der Wahl zwischen verschiedenen Varianten zu bearbeiten braucht.24

Leicht gekürzter Vorabdruck aus: Militärheimat Hunsrück, Beiträge zu einer regionalen Rüstungsanalyse, Neckarsulm,1986.

Anmerkungen

1 Arkin, William M.; Fieldhouse, Richard W.: Nuclear Battlefields, Cambridge, 1985, S. 236-245.Zurück

2 Grave, Frank: NATO-Missile Sites: Ripe for Terrorists, Miami Herald 2.1.1983Zurück

3 Deutscher Bundestag, Stenographisches Protokoll der 143. Sitzung, 10. Wahlperiode, Bonn, 13.6.1985, S. 10592.Zurück

4 Charles, Daniel: Unveröffentlichtes Arbeitspapier, ohne Titel, Washington, 1986, S. 3.Zurück

5 ebd.Zurück

6 Arkin, William M.; Cochran, Thomas B.; Hoenig, Milton M.: Resource Paper on the US Nuciear Arsenal, Bulletin of the Atomic Scientists Aug./Sept.1984, S. 6. Zurück

7 In der Öffentlichkeit wird immer nur der erste Teil dieses Beschlusses wiedergegeben: Die Reduzierung der Lagerbestände um 1400 Sprengköpfe.Zurück

8 Greve, Frank, a.a.O.Zurück

9 ders.: Confidence on deoline over N-Storage security, Sunday Star-Bulletin & Adviser, Honolulu, 3 3.1983.Zurück

10 Vgl. Arkin, Fieldhouse, a.a.O.Zurück

11 Informationsbüro für Friedenspolitik (Hrsg.): Lagerung und Transport von Atomwaffen, München 1982, S. 46 ff.; 50th TFW/PAO (Hrsg.): 30 Years in the Hunsrück, Idar Oberstein, 1981, S. 17. Zurück

12 Vgl.: US Congress, Subcommittee of the Committee on Appropriations, House, Military Construction Appropriations FY 1987, Part. 3, 99th Cong.,2nd Sess., Washington, GPO, 1986, S. 1190. Zurück

13 Vgl. Arkin, Fieldhouse, a.a.O.Zurück

14 59th Ordnance Brigade (Hrsg.): Welcome to the 59th Ordnance Brigade, o. O. (Pirmasens), o. J.Zurück

15 Auch andere Hubschrauber können eingesetzt werden: UH-1 H/M, UH-60, CH-53. Zurück

16 Field Command Defense Nuclear Agency: Joint DoD/DoE Nuclear Weapons Accident Exercise NU-WAX '81, After Action Report Vol. II, Kirtland AFB 1982, S. 7 f.Zurück

17 a.a.O. (16); diese.: NUWAX '79, After Action Report, Vol. I/II, o. J. (1979); diess.: NUWAX '83, After Action Report, Vol. I/II, 1983.Zurück

18 Vgl. Der Spiegel: Wie Versuchskaninchen, 1986, Heft 4, S. 123 ff. Zurück

19 Alle Angaben nach Anm.17.Zurück

20 Defense Nuciear Agency: Nuclear Weapons Accident Response Procedures Manual, DNA 51001, 24.1.1984, Washington. Zurück

21 ebd., S. 44. Zurück

22 Deutscher Bundestag, a.a.O., S. 10591.Zurück

23 a.a.O. (20). Altere Angaben sagen noch offen, daß ein solcher Unfall so unwahrscheinlich sei, daß man ihn als zu vernachlässigende Große behandle – so: Department of Defense/Atomic Energy Commission: Guidance and Information on Nuclear Weapons Accident Hazzards, Precautions and Emergency Procedures, Washington, 1973, S. 3. Zurück

24 Department of Defense Directive No. 5230, 16 vom 7.2.1983. Zurück

Otfried Nassauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der GRÜNEN im Dt. Bundestag.

Ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen ist möglich.

Ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen ist möglich.

Erster Schritt zur Abrüstung

von Thomas Büttgenbach, Volker Steinbach, Dieter Wolf-Gladrow

Im Sommer 1985 legte die Bundesrepublik der ständigen Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf einen Vorschlag darüber vor, wie die stufenweise Einführung eines totalen Teststopps für nukleare Waffen mit Mitteln der modernen Seismologie international überwacht werden könnte. Das Überwachungskonzept ist von deutschen Seismologen entwickelt worden und wurde offiziell von der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft (DGG) der Bundesregierung vorgelegt.

Der Abschluß eines solchen umfassenden Teststoppabkommens (comprehensive test ban treaty; CTBT) durch die Nuklearmächte wäre ein entscheidender Beitrag zur weltweiten Friedenssicherung, denn

– zur Entwicklung neuer nuklearer Waffensysteme werden bislang nukleare Tests für unerläßlich gehalten, mit einem Teststop könnte dem Rüstungswettlauf Einhalt geboten werden;

– die vorhandenen Kernwaffenarsenale könnten nicht mehr wie bisher auf ihre Funktionstüchtigkeit geprüft werden;

– es könnte überprüft werden, ob nukleare Schwellenländer, das sind Länder, die prinzipiell innerhalb kurzer Zeit Nuklearwaffen entwickeln könnten, solche Waffen tatsächlich herstellen.

Der Abschluß eines solchen Abkommens zwischen den Nuklearmächten bleibt jedoch wohl noch solange ein Wunschtraum, wie die entscheidenden Politiker meinen, nationale Sicherheit sei nur durch Aufrüstung zu erreichen.

Die Sowjetunion hat zuletzt im Februar 1985 Verhandlungen über ein umfassendes Teststoppabkommen angeboten und ihren Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August bis Ende 1985) unterstrichen. Die Reagan- Administration lud sowjetische Wissenschaftler zu einem amerikanischen Kernwaffentest ein. Der Vorschlag der UdSSR wurde mit dem Hinweis auf weitere notwendige Versuchsreihen abgelehnt. Ein Grund ist sicherlich die Entwicklung des nukleargezündeten Roentgenlasers im Rahmen des SDI-Programms. 1

Beide Angebote beinhalten sicherlich propagandistische Aspekte (der amerikanische Vorschlag war offensichtlich eine Reaktion auf die Ankündigung des sowjetischen Moratoriums) im Vorfeld des Genfer Gipfeltreffens. Ein beiderseitigen Moratorium (wie schon 1959 bis August 1961 auf einen amerikanischen Vorschlag hin vor Abschluß des eingeschränkten Teststoppabkommens) wäre allerdings der beste Einstieg in konkrete Verhandlungen.

Geschichte einer Initiative

Um die Hintergründe der Initiative von deutschen Geophysikern für einen umfassenden Teststopp näher zu beleuchten, ist es notwendig, etwas in der Geschichte zurückzugehen.

Seit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki gab es bis zur Mitte der 50er Jahre nur vereinzelte Kernwaffenversuche. Danach stieg ihre Zahl stark an. Dabei handelte es sich überwiegend um Tests in der Atmosphäre, mit oft starkem radioaktiven Niederschlag (Fallout). Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten wurde dabei großen Strahlendosen ausgesetzt. Als dies in den USA und Großbritannien bekannt wurde, wuchs der öffentliche Druck, die Kernwaffenversuche einzustellen.

Einen wichtigen Anstoß zum Beginn ernsthafter Gespräche zwischen Großbritannien, der USA und der UdSSR gab eine Petition, die der Nobelpreisträger Linus Pauling im Januar 1958 der UN vorlegte. Darin fordern mehr als 9000 Wissenschaftler aus 49 Nationen, einschließlich des Ostblocks, einen sofortigen Stopp aller Atombombenteste. zu Anfang der Verhandlungen machten die Amerikaner und Briten den Vorschlag, die Testtätigkeit für ein Jahr zu unterbrechen, wenn die UdSSR ebenfalls ihre Tests einstellen würde. Diese Stillhalte-Absprache (Moratorium) sollte dann von Jahr zu Jahr erneuert werden. Und tatsächlich stellten alle Verhandlungspartner freiwillig am Ende des Jahres 1958 ihre Tests ein. Leider zogen sich die Teststoppverhandlungen hin, da man sich über die Anzahl von jährlichen „Ortsbesichtigungen“ in den Testgebieten nicht einigen konnte. Die US-Delegation zweifelte außerdem an der Überwachung mit seismischen Methoden. Zu allem Übel verschlechterte sich 1960 das politische Klima drastisch durch die U 2-Krise (Abschuß eines Spionage- Flugzeuges der USA über der UdSSR) und die Zündung der ersten französischen Atombombe. Das Moratorium wurde daraufhin im September 1961 zunächst durch die UdSSR mit ungewöhnlich starken Kernwaffentests in der Atmosphäre, dann auch durch die USA beendet. Die Chance, einen freiwilligen totalen Teststopp durch einen Vertrag zu manifestieren und damit die rasante Entwicklung von Kernwaffen zu stoppen, war dahin.

Nach der Kuba-Krise 1962 maß der amerikanische Präsident Kennedy wieder dem Teststoppabkommen höchste Priorität zu. In Folge wurden 1963 die Abrüstungsgespräche neu belebt. Sie führten nach einer erstaunlich kurzen Verhandlungsphase zum Abschluß des begrenzten Teststopp- Abkommens (Partial Test Ban Treaty) am 5. 8. 1963. Dabei wurden die noch immer bestehenden Streitpunkte (Anzahl der „Ortsbesichtigungen“, Nachweis unterirdischer Kernexplosionen mit seismologischen Methoden) umgangen. Dieser Vertrag verbietet nur oberirdische Kernwaffentests.

Leider nahm die Zahl der Tests nach Unterzeichnung des Abkommens nicht ab. Der Vertrag führte nur dazu, daß die Versuche unter die Erde verlegt wurden. Gleichwohl haben sich die Unterzeichnerstaaten in der Präambel des Vertrages verpflichtet, solange Verhandlungen zu führen, bis ein vollständiger Teststopp erreicht ist. 2 7 Diese Verpflichtung wird in dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffen- Sperrvertrag (ng. Nuclear Nonproliferation Treaty) noch einmal bekräftigt (siehe Abb. 1). In diesem Vertrag, den bis heute 128 Staaten unterzeichnet haben, werden die Atommächte außerdem dazu aufgefordert, ihre Bestände an Nuklearwaffen einzufrieren. 3 Der letzte ernsthafte Versuch, ein umfassendes Teststoppabkommen auszuhandeln, wurde unter der Präsidentschaft Carters (USA) gemacht. Dabei akzeptierte die UdSSR den Vorschlag, unbemannte seismische Stationen auf ihrem Territorium zur Kontrolle auch kleinerer Ladungsstärken aufzustellen 4. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan wurden die Gespräche leider von amerikanischer Seite abgebrochen. Zu diesem Schritt hat aber auch die Meinung einiger Wissenschaftler von den Forschungszentren für Nuklearwaffen (Lawrence Livermore National Laboratory, Los Alamos National Laboratory) beigetragen, ohne Testexplosionen sei die Zuverlässigkeit des amerikanischen Atombombenarsenals nicht gewährleistet. Dieser Einstellung hat sich in Folge auch die Reagan- Administration angeschlossen.

In dieser politisch festgefahrenen Situation meldete sich eine Gruppe engagierter deutscher Geophysiker auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung“ in Mainz am 2. und 3. Juli 1983 zum erstenmal öffentlich zu Wort. In einem speziellen Symposium behandelten sie die technischen und wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Überwachung eines umfassenden Testverbots. Sie kamen zu der Oberzeugung, daß aus technischer Sicht der Überwachung eines Vertrages nichts mehr im Wege steht. Worauf es nur noch ankäme, wäre der politische Wille der beteiligten Staaten 5. Angesichts dieser Argumente aktivierten sie ihre Fachkollegen, politischen Druck auszuüben; Es kam im Februar 1984 zu der Verabschiedung einer Resolution durch die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft (DGG), in der die jetzige Bundesregierung aufgefordert wird, sich in Genf für den Abschluß eines Teststoppabkommens aktiv einzusetzen (siehe Rubrik: Resolution der DGG zu einem Verbot von Kernwaffentests). Nach Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt wurde eine Expertengruppe der DGG beauftragt, einen Vorschlag zur Errichtung eines seismischen Überwachungsnetzes als Grundlage für ein umfassendes Teststoppabkommen zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein Dreistufenplan, den die Bundesregierung durch den Diplomaten Henning Wegener bereits im Juli 1985, nur knapp zwei Jahre nach dem Beginn der öffentlichen Diskussion, der UNO-Abrüstungskonferenz in Genf vortragen ließ.

Vorschlag der Bundesregierung

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag sieht die schrittweise Einführung eines internationalen Überwachungs- und Überprüfungssystems für unterirdische Kernwaffenversuche vor. Danach sollen zunächst die Daten der vorhandenen seismischen Stationen ausgetauscht und untersucht werden. Innerhalb von 2 Jahren wären damit Explosionen mit einer Raumwellenmagnitude größer als mb = 5,0 überall sicher erkennbar. Dies entspricht je nach Art des Gesteins, in dem die Bombe gezündet wird) einer Ladungsstärke von über 10 bis 100 kt TNT. Nach weiteren 2 Jahren könnte durch die Installation einiger weiterer Stationen in Gebieten, in denen bisher keine Messapparaturen zur Verfügung standen, die Identifikationsgrenze auf mb = 4,7 (5-50 kt TNT) herabgedrückt werden. Längerfristig wird eine Standardisierung der Stationen auf modernem Niveau angestrebt (digitale breitbandige Registrierung, Bohrlochseismometer). Ein schneller und vollständiger Datenaustausch ist mit Hilfe von Satelliten möglich. Damit könnten in etwa 8 Jahren Ereignisse mit Magnitude mb größer als 4,0 (1-10 kt TNT) sicher identifiziert werden. Daneben wird die Einführung von zusätzlichen Messestationen (z. T. Arrays) in den Kernwaffenstaaten selbst angestrebt. Damit könnten lokal noch Explosionen Magnitude mb = 3,0 erkannt werden.

Einschätzung des Dreistufenplans

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag beruht auf folgender Einschätzung der Situation: 1.) Zwischen den Supermächten USA und UdSSR besteht beiderseitiges Mißtrauen, so daß ein Abkommen über ein Testverbot nur in Zusammenhang mit einer gesicherten Verifikation möglich ist. 2.) Statt eines umfassenden Teststoppabkommens sind daher in den nächsten Jahren bestenfalls Schwellenabkommen in ähnlicher Form wie das 150 kt-Abkommen von 1976 zu erwarten (sogenannte Niedrigschwellenabkommen, engl. Low Threshold Test Ban Treaty (LTTBT)). 3.) Einbeziehung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten ist erst nach längeren Verhandlungen möglich.

Unter diesen Voraussetzungen ist der eingebrachte Vorschlag durchaus folgerichtig. Mit der stufenweise technischen Verbesserung und Standardisierung der vorhandenen und der Errichtung einiger neuer Stationen kann die Verifikationsschwelle nach und nach heruntergedrückt werden. Die einzelnen Staaten könnten sofort, d. h. vor dem Abschluß eines Vertrages, damit beginnen, die technischen Voraussetzungen auf ihren jeweiligen Territorien bereitzustellen. Sobald sich genügend viele Staaten daran beteiligen, wäre eine Überwachung zunächst bei einem relativ hohen Schwellenwert möglich. Nach dem Vorschlag kann man aber erst nach frühestens 8 Jahren einen Schwellenwert von 10 kt TNT erreichen. Das erscheint uns angesichts der ständig fortschreitenden Aufrüstung keine ausreichende Perspektive zu sein. Dies vor allem, wenn man sieht, daß die Entwicklung zu Kernwaffen mit immer kleinerer Ladungsstärke hinläuft (im Zusammenhang mit immer zielgenaueren Trägersystemen. Nach Abb. 2 findet schon heute der Hauptteil der Versuche im Bereich von 10 kt TNT statt. Daher muß der Errichtung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten schon in einer frühen Phase höchste Priorität eingeräumt werden.

Dem Abschluß eines Teststoppabkommens (bzw. eines Niedrigschwellenabkommens) stehen heute in erster Linie politische Gründe im Wege. Die UdSSR hat 1985 Verhandlungen angeboten und ihren guten Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August 1985 bis Ende 1985) unterstrichen. Parteichef Gorbatschow hat in einem Brief an Bundeskanzler Kohl die Ansicht vertreten, daß man auch „mit nationalen Mitteln“ ein Abkommen überprüfen könne 6. Von westlicher Seite wird dagegen zur Zeit keine Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Die USA entwickeln einen mit Kernexplosionen betriebenen Roentgenlaser im Rahmen des SDI-Programms. Der französische Staatspräsident Mitterand und Regierungschef Fabius pilgern zum Muroroa-Atoll, um den Tests von Neutronenbomben beizuwohnen.

Resumee

Der relativ schnelle Erfolg, eine konservativ-liberale Bundesregierung innerhalb von zwei Jahren von den eigenen friedenssichernden Zielen zu überzeugen und zu aktivieren, zeigt exemplarisch, wie weit naturwissenschaftliche Forschung und der daraus resultierende politische Druck letztendlich den politischen Willen beeinflussen können. Natürlich darf das kein Grund sein, sich nur noch auf die Schulter zu klopfen. Unserer Meinung nach kommt es gerade jetzt darauf an, das Verbot von Kernwaffentests zum Thema zu machen, um auch auf internationaler Ebene gezielt auf die politische Willensbildung einwirken zu können. Ein konkreter nächster Schritt könnte sein die nationalen Regierungen darauf zu drängen, sofort mit dem Zusammenschluß bestehender seismischer Stationen zu einem Überwachungsnetz zu beginnen. Für dieses Netz könnten die Daten sofort in einem eigenen Datenzentrum gesammelt und analysiert werden. Eine ständige Expertengruppe kann aufgrund dieser Untersuchungen möglichst rasch eine Verbesserung des Netzes und der Auswertungsverfahren vorschlagen („learning by doing“). Eine entsprechende Forderung ist in dem deutschen Vorschlag bereits formuliert worden.

Der Aufbau eines internationalen seismischen Kontrollnetzes, unabhängig vom Stand der Verhandlungen in Genf, würde der Forderung nach dem Abschluß eines Teststoppabkommens deutlich Nachdruck verleihen.

Welchen Stellenwert ein Teststoppabkommen international hat, wird in der Haltung der „Nicht-Atommächte“ unter den Unterzeichnern des Atomwaffen-Sperrvertrags deutlich: Sie sehen einen umfassenden Teststop nicht nur als den wichtigsten Schritt zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens an, sondern auch als die am besten durchzuführende Maßnahme, um die vertikale (d. h. Entwicklung) und horizontale (Auslieferung an andere Staaten) Weiterverbreitung von nuklearen Waffen zu verhindern. Denn während die atomwaffenlosen Staaten ihrer Verpflichtung nachkommen, keine nuklearen Waffen zu entwickeln oder zu erwerben, halten sich die Nuklearmächte nicht an ihr Versprechen, „die Verhandlungen fortzusetzen, um das nukleare Wettrüsten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu stoppen und um eine nukleare Abrüstung zu erreichen“ (Artikel 6 des Atomwaffen-Sperrvertrages). So wird heute laut darüber nachgedacht, den Vertrag nach seinem Ablauf (1995) nicht mehr zu verlängern oder ihn vorzeitig aufzukündigen.

Es wird Zeit, daß der Forderung nach einem umfassenden Teststoppabkommen auch in der Friedensbewegung eine zentrale Rolle zukommt. Bisher haben sich die Aktivitäten in dieser Richtung fast ausschließlich auf einen kleinen – Expertenkreis beschränkt. Eine Ausnahme bildet die internationale Ärzteorganisation zur Verhinderung eines Nuklearkrieges (Friedensnobelpreis 1985) die ein umfassendes Teststoppabkommen zu ihrer Hauptforderung erkürt hat.

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Ergänzungen

Bestimmung Sprengkraft aus der seismischen Amplitude

Unterirdische Explosionen und Erdbeben haben nicht nur lokale Auswirkungen: Ein Teil der freigesetzten Energie breitet sich in Form von elastischen Wellen im Erdkörper und an dessen Oberfläche aus.

Das durchlaufende Material wird dabei elastisch verformt, d. h. es kehrt nach der Deformation in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

Der Widerstand, den ein Material den beiden Verformungsarten Kompression und Scherung entgegensetzt, wird durch das Kompressionsmodul K und Schermodul G beschrieben: Je weniger ein Körper der Belastung nachgibt, desto größer ist das entsprechende Modul. Für Flüssigkeiten z. B. gilt G = 0, da sie einer Scherung keinerlei Widerstand entgegensetzen.

Diesen beiden Verformungsarten entsprechen die beiden möglichen elastischen Wellen: Kompressionswellen und Scherwellen. Die sich innerhalb des Erdkörpers ausbreitenden Wellen nennt man, im Gegensatz zu den Oberflächenwellen, Raumwellen.

Bei der unterirdischen Explosion einer Atombombe wird, im Gegensatz zu einem Erdbeben, Energie nahezu gleichmäßig nach allen Richtungen hin angestrahlt. Dabei bilden sich im Gestein Kompressionswellen aus, die unabhängig vom Standort des Beobachters einen positiven, ersten Ausschlag im Seismogramm erzeugen. Als Maß für die Stärke eines solchen seismologischen Ereignisses benutzen Seismologen die Magnitude. Diese Größe wird aus der Amplitude der gemessenen Welle und der Entfernung von der Quelle berechnet. Für die verschiedenen Wellentypen gibt es unterschiedliche Magnitudenskalen. Bei der Raumwellenmagnitude (mb) werden die Amplituden jener Wellen gemessen, die durch das Erdinnere gelaufen sind. Für die Berechnung der Sprengkraft W (in Einheiten von 1000 Tonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT gemessen, kurz: kt TNT) werden Formeln folgender Art benutzt:

mb = c1 x log (W) + c2

Die Konstanten c1 und c2 hängen davon ab, wie die Gesteine im Untergrund der Testgebiete beschaffen sind (Festgestein, Lockersedimente) und vom Laufweg, den die Wellen zwischen Quelle (Ort der Explosion) und Empfänger (Seismometer) zurücklegen müssen. Um eine genaue Bestimmung der Konstanten zu ermöglichen, sind „Eichsprengungen“ (Zündung einer Bombe mit bekannter Sprengkraft) innerhalb der Testgebiete notwendig. Fehlen diese Testsprengungen, können die auftretenden Unsicherheiten bei der Bestimmung dazu führen, daß ein registriertes Ereignis der Magnitude mb = 5 im ungünstigsten Fall von einer 100 kt Bombe oder im idealen Fall von einer 10 kt Bombe stammt.

Entkopplung (decoupling)

Um einen Kernwaffentest zu verheimlichen, gibt es die Möglichkeit einer „Entkopplung“ der Explosion vom umgebenden Gestein, indem man die Bombe innerhalb eines Hohlraumes (Kaverne) zündet. Stabile Hohlräume können jedoch nur in Festgestein (z. B. Granit) und Salzlagerstätten geschaffen werden. Beispielsweise ist für die Entkopplung einer Bombe mit der Sprengkraft von 50 kt TNT eine Kaverne mit einem Radius von mindestens 60 m notwendig. Der dabei anfallende Aushub erfordert enorme bergmännische Aktivität, die den Spionagesatelliten sicher nicht verborgen bleiben dürfte.

Um sicherzugehen, basiert der deutsche Dreistufenplan zur Kontrolle eines Teststoppabkommens auf einer hoch eingeschätzten Entkopplung. So wird bei der dritten Phase davon ausgegangen, daß es möglich ist, eine Bombe mit 1 kt TNT Sprengkraft auf eine zu beobachtende Stärke von 5 t TNT zu dämpfen, aber auch solche geringen Stärken lassen sich noch von einem regionalen Seismometern in der Nähe des Testgebietes registrieren und entdecken. Allerdings darf der Abstand höchstens 500 – 1000 km betragen. Da die Stationen innerhalb der zu kontrollierenden Länder stationiert werden müssen, kommen nur unbemannte, selbständig arbeitende Seismometer in Frage, die ständig von allen Vertragspartnern abgefragt werden können. Stationen dieser Art sind aber bereits von Spezialisten der amerikanischen Sandia National Laboratories entwickelt worden. 3

Meßtechnik heute

Die seismische Meß- und Interpretationstechnik hat in den letzten Jahren von der Elektronik und den Möglichkeiten der Datenverarbeitung profitiert. Mit Seismometern können noch Bodenbewegungen in der Größenordnung von „Nano-Metern“ (Millionstel Millimeter) erfaßt werden., Ihr Auflösungsvermögen wird nicht mehr durch eine unzureichende Technik begrenzt, sondern nur noch durch die Unruhe des Erdbodens. Diese immer vorhandene „Bodenunruhe“ wird sowohl durch natürliche (z. B. Wind, Meeresbrandung) als auch durch künstliche Quellen (Industrie, Verkehr) hervorgerufen. Die kurzperiodische Bodenunruhe geht mit der Tiefe drastisch zurück. Daher installiert man Seismometer neuerdings bis zu 300 Meter Tiefe (Bohrlochseismometer). Ein „Array“ ist die Anordnung von mehreren Seismometern in einem Gebiet mit der Ausdehnung von einigen Kilometern bis einigen 100 Kilometern. Die Messungen werden auf Magnetband aufgezeichnet und mit Hilfe großer Computer verarbeitet (z. B. „stapeln“). Mit einem einzigen Array ist schon eine sehr gute Lokalisation der Quelle möglich (Richtantenne). Heute sind sogar schon Arrays in Betrieb, die mit Bohrlochseismometern arbeiten. Sie stellen z. Zt. den höchsten technischen Standard dar. Die für die Erdbebenforschung installierten Seismometer messen die Bodenbewegungen meist nur im Bereich von 1 bis 10 Hz. Um besser zwischen Kernexplosionen und Erdbeben unterscheiden zu können (der Frequenzinhalt der erzeugten Wellen ist unterschiedlich), wird der Frequenzbereich auf 0,01 – 10 oder sogar bis 30 Hz ausgedehnt (Breitbandregistrierung).

Mainz, den 21. Februar 1984

Resolution der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft, zur Weitergabe an die
Bundesregierung beschlossen von der Mitgliederversammlung anläßlich Ihrer 44.
Jahrestagung.

Im Hinblick auf die besondere Verantwortung der Wissenschaftler für den Frieden
fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, ihren ganzen
Einfluß auf die Nuklearmächte geltend zu machen, um eine Beendigung des
Rüstungswettlaufs durch wirksame und kontrollierbare Verträge herbeizuführen.

Ein Vertrag über ein Verbot aller Kernwaffenversuche hat dabei hohe Priorität und
wird seit vielen Jahren in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen – auch mit
Unterstützung der Bundesrepublik – gefordert. Er scheiterte bisher unter anderem
daran, daß eine wirksame Kontrolle eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen nicht
möglich war.

Nach 25 Jahren intensiver geophysikalischer Untersuchungen sind jetzt die technisch-
wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine Überwachung der Einhaltung eines Verbots
unterirdischer Atombombentests gegeben. Ein weltweit zu errichtendes Netz moderner
seismischer Stationen und ein internationales Datenaustausch System würden die Entdeckung
und Erkennung unterirdischer Kernexplosionen bis zu sehr kleinen Ladungsstärken herab
sicherstellen. Die technischen Kenndaten des seismischen Überwachungssystems können den
politisch vorzugebenden Randbedigungen angepaßt werden.

Daher fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, die
beiden Großmächte sowie alle anderen Unterzeichnerstaaten an ihre im
Teilteststoppvertrag von 1963 und im Nichtverbreitungsvertrag von 1968 abgegebene
Verpflichtung zu erinnern, die Verhandlungen über ein vollständiges Verbot aller
Kernwaffentest. bis zum erfolgreichen Abschluß unverzüglich fortzusetzen.

Anmerkungen

1 Wer kann's besser?, Spiegel Ausgabe v. 5. 8. 85.Zurück

2 Aichele, H., Büttgenbach, T., Rademacher, H. Steinbach, V., Wolf, D., 1984, Verbot von Kernwaffenversuchen, Wandzeitung zur Rüstungsforschung Nr. 5, Hrsg.: Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung, Friedrich- Ebert- Straße 114, 4400 Münster.Zurück

3 Epstein, W, 1985, A Critical Time for Nuclear Nonproliferation, Scientific American, Vol 253 (2). Zurück

4 Hafemeister, D., Romm, J. J., Tsipis, K., 1985 Überwachung der Rüstungskontrolle, Spektrum der Wissenschaft, Mai- Ausgabe, S. 34-42. Zurück

5 Hartes, H.- P., Aichele, H., Rademacher, H., 1983, Es kommt auf den politischen Willen an – Ein seismisches Netz zur Erfassung unterirdischer Kernexplosionen, in: Verantwortung für den Frieden. Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hrsg. H. P. Den, H.- P. Hartes, M. Kreck, P. Starlinger, Spiegel-Verlag, Hamburg.Zurück

6 Frankfurter Rundschau, 6. 9. 85. Zurück

7 Abrüstung – Nachrüstung – Friedenssicherung 1983, Hrsg.:J. v. Mönch, M. Klingst, Beck Texte im DTV, München. Zurück

Dipl. Geophys. Thomas Büttgenbach, Dipl. Geophys. Volker Sehbach, Dipl. Phys. Dieter Wolf-Gladrow sind tätig am Institut für Geophysik und Meteorologie der Universität Köln

1999: Ende der Atomwaffen?

1999: Ende der Atomwaffen?

von Redaktion

Niemand kann mit der ständig aktualisierten Angst vor der nuklearen Bedrohung leben: die Verdrängung hat ihr Recht. Doch dieser Stabilisierungsgewinn schließt ein das Sich-Einlassen auf gegebene Verhältnisse. Man muß der Skepsis gegenüber ihrer Veränderbarkeit Raum geben – und dies kann schnell unempfindlich machen gegenüber den Chancen und Perspektiven der (auch radikalen) Veränderung.

Vorschläge zur Schaffung einer von Nuklearwaffen freien Welt werden dann gleichermaßen als realitätsfremde Utopie wie als utopielose, die Aufrüstungsrealität bloß legitimierende Propaganda empfunden. Solch „kritisch-realistische“ Skepsis kommt natürlich auch aus der pessimistisch stimmenden Erfahrung des Scheiterns der Abrüstungsbemühungen der Vergangenheit – doch nicht allein, ihre Wurzel ist auch die eigene Unfähigkeit zum utopischen Denken und zielbewußtem Handeln. Vor allem: wo es um bloße Utopie und reine Propaganda geht, bedarf es keiner intellektuell-politischen Prüfung, auch keiner Probe der Praxis.

Nimmt man die verlautbarten weitreichenden Zielsetzungen der Führer der beiden Großmächte, so scheinen sie identisch.

Der Präsident der USA Reagan verkündete in seiner Rede vom März 1983 die Vision der Abschaffung der Atomwaffen. Der Weg dazu führte bei ihm über den Aufbau eines Raketenabwehrsystems. Es sollte Angriffswaffen obsolet machen. Das SDI-Konzept ist – wie kein anderes sicherheitspolitisches Konstrukt – seitdem geprüft worden. Die Übereinstimmung in der Einschätzung ist erstaunlich: die Utopie des Vorschlags ist die nukleare Kriegsführungsoption, nicht die Entnuklearisierung des Krieges – die Vision der friedlichen Welt ist Propaganda. Der Generalsekretär der KPdSU, Gorbatschow, hat jetzt einen Stufen-Plan vorgelegt, der die völlige Befreiung der Menschheit von Nuklearwaffen vorsieht: „Ende 1999 gibt es auf der Erde keine Kernwaffen mehr.“ Auch dieser Vorschlag wird ausführlich zu prüfen sein, man muß sich auf ihn einlassen.

Der hier vorgezeichnete Weg direkter Abrüstung scheint kaum „realistischer“, doch allemal plausibler und vernünftiger. Warum erst eine neue, gefährliche Runde des Wettrüstens einleiten, um evtl. die Waffen verschrotten zu lassen? Warum die unermeßliche Vergeudung von Ressourcen für bizarre neue Waffensysteme? Vor allem: hier wird nicht wie bei der Strategischen „Verteidigungs“-Initiative das Bild einer zukünftigen Welt gezeichnet, in der eine militärisch unverwundbar gewordene Seite im „Hegemonialrausch“ (Norbert Elias) seine Friedensversion der anderen, unterlegenen Seite diktiert. Das Vorhaben setzt nicht auf die Macht der Kriegstechnik, sondern auf die Rationalität der Politik. Es bedarf auch nicht der riesigen Mobilisierung der Wissenschaft für militärische Zwecke. Warum also kein grundsätzliches JA zum Abrüstungsplan der UdSSR?

Details und verdeckte Optionen müssen noch untersucht werden. Feststeht: es handelt sich um die bisher weitreichendste sowjetische Initiative. In einigen Fragen nimmt sie die Kritik der NATO-Staaten an früheren Vorschlägen auf. Dieses weitreichende Entgegenkommen – etwa in der Frage der Kontrolle der Abrüstung – wird von sowjetischer Seite als Konsequenz des heute notwendigen „Umdenkens“ interpretiert. Und in der Tat ist dieses Umdenken angesichts der Zerstörungspotentiale in Ost und West dringend geboten. Nur scheint man dies in Moskau eher begriffen zu haben.

Auch wenn der Bundesregierung im Vorwahljahr der offizielle (wenn auch etappenweise) Einstieg in SDI gelungen ist, so scheiterte sie bisher völlig in ihrem Bemühen, für die Politik der Weltraumbewaffnung eine politische Massenbasis zu bekommen. Sie ist weiter isoliert – und reagiert in doppelter Weise: denunzierend und demagogisch, auf jeden Fall mit der verstärkten Pflege des alten Feinbildes der FÜNFTEN KOLONNE MOSKAUS.

– Der CDU-Generalsekretär denunziert die IPPNW Die Ärzte würden sowjetische Vorstellungen übernehmen und propagieren, hieß es. Aber ein Teststopp für Kernwaffenversuche ist vernünftig und bleibt es, auch wenn die UdSSR ihn fordert.

– Der Bundesinnenminister bezeichnet die Unterschriftensammlung gegen eine bundesdeutsche SDI-Beteiligung als „kommunistisch gesteuert“. CDU-Anfragen im Landtag von NRW beschäftigen sich mit der Naturwissenschaftler-Initiative.

Denunzierung statt Dialog: die Fälle, in denen während der Friedenswoche Einladungen zu Podiumsdiskussionen oder Streitgespräche von Vertretern des Regierungslagers angenommen wurden, lassen sich – bei über 300 Veranstaltungen – an einer Hand abzählen!

Für die Friedensbewegung steht verstärkt die Aufgabe, sich kritisch und ohne Angst mit derlei Kampagnen, ihrer Funktion und ihrer Wirkungsmechanismen auseinanderzusetzen. Horst Eberhard Richters Betrachtungen zum Vorwurf des „Antiamerikanismus“ oder die jüngst neu aufgelegte Arbeit Werner Hofmanns zur „Soziologie des Antikommunismus“ können – ergänzend zu Carl Nedelmanns Darlegungen in diesem Heft – als Beispiel dienen.

Während noch weit in das Jahr 1985 über Resignation und mangelnde Mobilisierungsfähigkeit geklagt wurde, zeigte sich gegen Ende des Jahres eine fast unerwartete Aktivitätsbereitschaft. Die Naturwissenschaftler-Initiative hat daran großen Anteil: durch die Veröffentlichung des Aufrufs gegen eine bundesdeutsche Beteiligung an SDI und die Durchführung der Friedenswoche im November. Der Aufruf erfuhr eine große Zustimmung in der SPD, in den Gewerkschaften, in christlichen Kreisen etc. Hunderte von Wissenschaftlern und Ingenieuren in Großforschungseinrichtungen und Betrieben sprachen sich gegen SDI aus. An den Hochschulen wurden in der Friedenswoche über 35.000 Unterschriften gesammelt. In dieser Woche fanden Veranstaltungen an 52 Hochschulorten statt; zahlreiche Initiativen stabilisierten sich, neue wurden gegründet. Die Herausbildung eines aktiven Kerns, der sich auf langfristige Aufklärung eingestellt hat, ist für die Fortführung der Friedensarbeit von großer Bedeutung.

Für das Jahr 1986 sehen wir drei große Schwerpunkte der Friedensarbeit:

  • Große Kongresse der berufsbezogenen Friedensinitiativen, z.T. auf internationaler Ebene: Die Tagung der Kulturwissenschaftler im April in Tübingen, der nächste IPPNW-Weltkongreß, der im Juni in Köln stattfindet, und der Kongreß der Naturwissenschaftler im Spätherbst. Darüber hinaus werden internationale Konferenzen bzw. Fachtagungen der Pädagogen und der Informatiker stattfinden.
  • Im November wird es eine Friedenswoche der Wissenschaftler-Initiativen geben, die an allen Hochschulen stattfinden soll.
  • Wird die Unterschriftensammlung gegen SDI fortgesetzt werden, hinzu kommt noch die vom BdWi initiierte Resolution gegen den militärischen Mißbrauch der biologischen Forschung.

Automatisierung des Schlachtfelds?

Automatisierung des Schlachtfelds?

von Karlheinz Hug

„In diesem 20. Jahrhundert ist der Humanismus vergessen und verspottet und alles durch die selbstlose Arbeit der Wissenschaft Geschaffene von schamlosen Mördern mit Beschlag belegt und auf die Vernichtung von Menschen gerichtet. Was auch die Heuchler von den großen Zielen des Krieges reden mögen, ihre Lüge vermag die schreckliche und schändliche Wahrheit nicht zu verdecken: diesen Krieg gebar die Gewinnsucht, die einzige Göttin, die die Realpolitiker, diese Mörder, die mit dem Leben des Volkes Handeln treiben, anerkennen und anbeten.“
Maxim Gorki, unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges.

„Die Weiterentwicklung der Grundlagen der Elektronik in den USA ist heute für die Verteidigung genauso wichtig, wie es die Atombombe im 2. Weltkrieg war.“
De Lauer, Unterstaatssekretär für Forschung
und Entwicklung im Department of Defense, (DeL 82, S. 37).

Die automatische Datenverarbeitung und die Informatik als die Wissenschaft, die deren Grundlagen bereitstellt, sind in ihrer Entwicklung von ihren Anfängen bis heute bei allen wesentlichen technologischen Neuerungen primär (aber nicht ausschließlich) von militärischen Interessen bestimmt worden und als Ergebnis in wesentlichen Teilen durch militärische Anforderungen geprägt. Noch immer ist die Produktion von Destruktionspotentialen – und nicht die Erleichterung der menschlichen Arbeit – der vorherrschende Faktor für die Geschwindigkeit und die Richtung der Entwicklung der Informatik (BKS8 1), (Kei82), (Rei82). Das US-amerikanische Verteidigungsministerium (U.S. Department of Defense, DoD) hat in den letzten Jahren gewaltige wissenschaftspolitische Maßnahmen im Bereich der Informatik ergriffen, die zusammen dazu beitragen sollen, die militärstrategische Überlegenheit der USA für die kommenden Jahrzehnte abzusichern und auszubauen.

Mit dem hardware-technologischen FuE Programm VHSIC (Very High Speed Intergrated Circuits) soll eine neue Generation miniaturisierter integrierter Schaltkreise mit höherer Verarbeitungsgeschwindigkeit zum Einsatz in hochleistungsfähigen Waffensystemen geschaffen werden (Bar82), (Sum82). Eine breit angelegte softwaretechnologische Initiative des DoD ist die Entwicklung der höheren Programmiersprache Ada, die einheitlich im gesamten DoD-Bereich für die Programmierung der in Waffensysteme eingebetteten Rechensysteme eingesetzt werden soll (Rei83), (Kei82), (KeK83). Die Software spielt eine zunehmend wichtige Rolle schon beim Entwurf und der Entwicklung (und nicht erst beim Betrieb) eines militärischen Systems. Die Fehleranfälligkeit dieser komplexen Systeme ist keineswegs ingenieurmäßig bewältigt. Das vom DoD 1983 gestartete STARS Programm (Software Technology for Adaptable, Reliable Systems) soll zur Lösung der Software-Probleme der US Militärs führen und die softwaretechnologischen Grundlagen für die Realisierung der Kriegsführungspläne der US Regierung schaffen (Rei83).

„Forsche Handlungen sind jetzt nötig, wenn wir unsere militärische Vorherrschaft durch die Nutzung von Rechnertechnologie erhalten wollen … Es ist wesentlich, daß die USA die Führung in dieser (Software- und System-) Technologie behalten, um ihre angekündigte strategische Position zu unterstützen …“ (DoD83, S. 59, 67, 61).

Das Strategie Computing-Programm von DARPA

Wie schon im STARS Programm angekündigt, hat das Pentagon nun seinen laufenden Programmen ein weiteres von „Orwellschem Charakter“ hinzugefügt. Mit diesem unter dem Namen „Strategic Computing and Survivability“ (SCS) von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) im Oktober 1983 veröffentlichten FuE-Programm soll eine neue Generation superintelligenter Rechner für militärische Einsatzzwecke hervorgebracht werden, wobei die jüngsten Fortschritte in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Mikroelektronik und Rechnerarchitektur nach den Zielvorstellungen des DoD genutzt, ausgerichtet und vorangetrieben werden sollen. Das Programm wird falls es wie geplant realisiert wird – einen tiefgehenden Einfluß auf den Charakter der Informatikforschung in den USA – und aufgrund der zwischen den NATO-Staaten bestehenden wissenschaftspolitischen Strukturen auch in der BRD – ausüben. Zum anderen wird es einen weiteren Beitrag zur Destabilisierung der angespannten weltpolitischen Situation leisten.

Die Finanzierung des SCS-Programms ist bereits vom Kongress bewilligt (Suc84). Für das Haushaltsjahr 1984 hat DARPA bereits 50 Millionen Dollar erhalten (1985 95 Mill., 1986 150 Mill.). Für die ersten fünf Jahre sieht DARPA insgesamt Ausgaben in Höhe von 600 Millionen Dollar vor (ScV84, S. 50). Bis Ende des Jahrzehnts sollen nahezu eine Milliarde Dollar an fünf Universitäten, zwei nationale Forschungszentren, zwei Konzerne und weitere kleinere Auftragnehmer fließen (CoK83, S. 53).

Gemessen an den Forschungsausgaben für Reagans Krieg-im – Weltraum-Programm „Strategie Defense Initiative“ in Höhe von knapp 1 Milliarde Dollar für 1984 und 1,8 Milliarden Dollar für 1985 (Ege84, S. 280) mag das SCS-Programm als relativ klein erscheinen; es sollte deshalb jedoch nicht unterschätzt werden.

DARPA hat die mit dem SCS-Programm verfolgten Ziele in einem 80 Seiten langen Bericht dargelegt. Darin wird gefordert, „den Vereinigten Staaten ein breites Spektrum von Maschinenintelligenztechnologie verfügbar zu machen und Anwendungen der Technologie auf kritische Probleme der Verteidigung zu demonstrieren“ (Win84).

Diese Maschinen sollen nach den Vorstellungen des Direktors von DARPA, Robert S. Cooper, menschenähnliche Fähigkeiten besitzen. Sie sollen die Aktionen militärischer Systeme auf dem Gefechtsfeld sehen, beurteilen, planen und sogar überwachen können. Cooper sieht die USA weltweit an zwei Fronten im Konkurrenzkampf stehen: politisch und militärisch mit der Sowjetunion, ökonomisch mit seinen Handelspartnern (CoK83, S. 53). Besonders herausfordernd ist dabei Japans Projekt der Fünften Rechnergeneration. Deshalb soll DARPA eine Hauptrolle bei der Entwicklung der zukünftigen Rechnertechnologie einnehmen, von der DARPA behauptet, daß sie „unsere (der USA, K.H.) nationale Sicherheit und unsere ökonomische Stärke vergrößern wird“ (Win84).

Die Technologie für das Air Land Battle Konzept

Vorrangig am SCS-Programm ist sein Beitrag zur Implementierung der vom DoD entwickelten Kriegsführungsdoktrinen. Schon im „Leitlinien-Dokument“ bzw. der Präsidenten-Direktive NSDD-32 wurde gefordert, der Verbesserung der Überlebens- und Widerstandsfähigkeiten und der Entwicklung von C3I-Systemen (C3I = Command, Control, Communications and Intelligence; Befehls-, Kontroll-, Kommunikations- und nachrichtendienstliches System) Priorität zu geben. Bei der Umsetzung der „Air Land Battle“ Doktrin in die Praxis ist die Entwicklung von technologisch fortgeschrittenen Waffen sowie von Aufklärungs- und Kommunikationssystemen einer der wichtigsten Faktoren (Ege82). Weiter in die Zukunft weist das „Air Land Battle 2000“-Konzept: Die USA müssen bereit und fähig sein, zukünftig an verschiedenen Orten der Welt mit verschiedensten Mitteln gegen unterschiedliche Gegner Kriege zu führen. In der von Heeresinspekteur Glanz unterzeichneten Fassung heißt es: „Die Kampfführung verlangt folgende wesentliche Fähigkeiten: Aufklärung tief in die gegnerischen Formationen hinein, hohe Beweglichkeit von Einheiten und Feuerkraft und Vorstoß in die Tiefe, um schnell die Initiative an sich zu reißen und das Nahgefecht zu beenden …

Der Luftraum über dem Gefechtsfeld wird dichtgepackt sein mit hochwertigen luft- und weltraumgestützten Überwachungs-, Aufklärungs- und Zielerfassungssystemen, mit Luftabwehrsystemen oder anderen Waffen, die die Nutzung des Luftraums über dem Gefechtsfeld durch diese Systeme verhindern sollen …

Gleichzeitig werden die Kommunikationssysteme für die Gefechtsführung das Ziel heftiger, hochentwickelter und äußerst wirkungsvoller Maßnahmen der elektronischen Kriegsführung sein. Hocheffektive Führungs- und Kommandostrukturen sind notwendig, um die Fähigkeiten der modernen Waffensysteme voll zu nutzen.“ (MPD83, S. 80, 82, 83)

Ein direkter Zusammenhang zwischen dem SCS-Programm und dem Air Land Battle 2000-Konzept ergibt sich daraus, daß letzteres als Integrationsinstrument für vorhandene Technologien und laufende FuE-Arbeiten dienen soll.

Weitere Hintergründe werden durch Äußerungen von Verteidigungsminister Weinberger beleuchtet: „Während der nächsten Jahre könnten wir mit ernsthaften Herausforderungen in mehreren Regionen der ganzen Welt konfrontiert werden, möglicherweise gleichzeitig.“ (Ege84, S. 284)

Um die Mobilität für Einsätze in der Dritten Welt zu verbessern, werden die schnellen Eingreiftruppen in den nächsten Jahren für „schnelle Reaktionen und weltweite gewaltsame Interventionsunternehmen“ (Weinberger) mit leichten, technologisch hochentwickelten Waffensystemen ausgerüstet (Ege84, S. 286). Ein Problem für die US-Militärs ist dabei die „sich schnell vermindernde Vorhersagbarkeit militärischer Situationen.“ (ScV84, S. 48)

Nach den Vorstellungen von DARPA könnten den kämpfenden US-Streitkräften „intelligente“ Waffensysteme und Schlachtführungshilfen enorm helfen.

Wenn der „Feind“ seine Kampftaktik ändert, so könnten die gegenwärtigen rechnergesteuerten Waffen versagen, wird in dem Bericht befürchtet. Das Neuprogrammieren der Waffen würde aber zu lange dauern, um effektiv zu sein. Deshalb seien gewaltige Anstrengungen nötig, um flexiblere, autonome Waffensysteme zu entwickeln, die auf den Schlachtfeldern eingesetzt werden können, „wo die Regeln des Gefechts schnell geändert werden können“ (ScV84, S. 48). Weinberger formuliert das, von den technischen Details abstrahierend, so: „Wir müssen die Planung für unsere Streitkräfte und unseren Gegenschlag flexibel gestalten, so daß wir den Konflikt vorteilhaft für die Mächte der Freiheit beenden können.“ (Ege84, S. 279)

Daß für einen solchen zukünftigen Krieg der Einsatz atomarer Waffen geplant ist (wie z. B. in der Air Land Battle Doktrin festgelegt), wird auch in dem Dokument von DARPA nicht verschwiegen:

„Wir brauchen Rechner, die weitaus mehr intelligente Arbeitsfähigkeiten, erhöhte Überlebensfähigkeit in feindlicher und starker Strahlung ausgesetzter Umgebung, und immens verbesserte Mensch-Maschinen-Schnittstellen haben.“ (ScV84, S. 48)

Der Krieg der Sterne

Das SCS-Programm soll auch eine Schlüsselfunktion bei der Militarisierung des Weltraums ausüben. Der Bau eines weltraumgestützten Raketenabwehrsystems (ABM- bzw. BMD-System), den Reagan in seiner „Star Wars“-Rede vom 23. März 1983 gefordert hat, würde enorme Anforderungen an das C3I-System stellen (Ege84, S. 282), (EnD84, S. 289). Euphorisch äußerte Weinberger am 11. April 1 983:

„Heute ermöglicht die gewaltige technologische Revolution in der Mikroelektronik den Bau sehr kleiner Hochleistungsrechner, die es uns erlauben, mobile Raketenabwehrsysteme zu erwägen, die im Weltraum, in der Luft und zu Lande stationiert werden können. Diese Kapazität, gekoppelt mit Energiestrahlwaffen, „intelligenten“ Raketen und hochentwickelten Sensoren, gibt uns die Möglichkeit, einen Entwurf für die Entwicklung einer Raketenabwehr vorzulegen, zu der der Präsident kürzlich aufgerufen hat.“ (EnD 84, S. 290)

Die Unwägbarkeiten, die durch die Schnelligkeit hervorgerufen werden, mit der die Systeme einsatzfähig sein müssen, sieht DARPA durch Automatisierung als eliminierbar an. Im Strategic-Computer Bericht heißt es dazu:

„Ein besonders hervorzuhebendes Beispiel … ist die geplante Abwehr strategischer nuklear Raketen, bei der Systeme so schnell reagieren müssen, daß wahrscheinlich fast vollständiges Vertrauen in autonome Systeme gesetzt werden muß. Gleichzeitig wird die Komplexität und Unvorhersagbarkeit von Faktoren, die Entscheidungen beeinflussen, sehr groß sein“ (ScV 84, S. 48).

Künstliche Intelligenz wird militarisiert

Eine zentrale Rolle im SCS-Programm spielt die künstliche Intelligenz (KI), eine Fachdisziplin der Informatik, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Unter den Forschungsgebieten aus der KI, mit denen DARPA die militärischen Anwendungen erschließen will, sind Expertensysteme mit sehr großen Wissensbasen, Erkennung optischer und akustischer Muster (Bild- und Spracherkennung), maschinelles Verstehen natürlicher Sprachen, Graphik- und Navigationssysteme. Als auch für die militärische Verwertung ausgereister Ergebnisse anderer Bereiche betrachtet DARPA Software-Produktionsumgebungen nach der Prototyping-Methode, Rechnerarchitekturen für stark parallel arbeitende Mehrprozessorsysteme, Entwurfsmethoden für Mikrosysteme und Halbleiterproduktionstechnologien.

Im zivilen Bereich werden Expertensysteme heute für automatisierte Beratungen eingesetzt, wo sie als Partner mit Benutzern zusammen Lösungen für Probleme aus jeweils eingegrenzten Aufgabenbereichen spezieller Fachgebiete erarbeiten sollen. Die Kommunikation des Menschen mit der Maschine soll auf der höheren Ebene der Artikulation von Problemstellungen stattfinden. Expertensysteme sollen Fragen, die der Benutzer in natürlicher Sprache im Dialog eingibt, automatisch erkennen und Problemlösungen verständlich darstellen und begründen können (Rau 82). Ihre Fachkompetenz erhalten die Expertensysteme durch die Ansammlung großer Mengen von Wissen, d. h. von fachspezifischen Fakten, Arbeitstechniken, Schlußregeln und Lösungsverfahren, die geeignet repräsentiert sind und vom Expertensystem genutzt werden können.

Anwendungsgebiete von Expertensystemen gibt es im wissenschaftlichen Bereich u.a. in der Medizin, Chemie, Biologie, Geologie (Öl- und Erzvorkommen). In den USA erscheinen Expertensysteme nach einigen Jahren großenteils DARPA finanzierter universitärer Forschung seit 1983 auf dem Markt zur kommerziellen Verwertung.

DARPA sieht in Expertensystemen „die vielleicht phänomenalste“ Technologie, die ihm zur Befriedigung seiner militärischen Bedürfnisse zur Verfügung steht. „Die Methoden zur Identifizierung und Mechanisierung von praktischem Wissen, gesundem Menschenverstand und Fachwissen sind ausgereift“, behauptet DARPA in seinem Bericht (ScV 84, S. 50).

In der Fachwelt gehen allerdings die Ansichten darüber, wozu Expertensysteme fähig sind und wozu nicht, extrem auseinander. Weniger euphorisch äußert sich z. B. der KI-Forscher bei Hewlett-Packard, Betram Raphael:

„Ich glaube, man hat den Eindruck übertrieben, daß wir die Methode, wie man Expertensysteme konstruiert, schon richtig im Griff haben. Wir haben lediglich gewisse Vorstellungen, die uns zu brauchbaren Expertensystemen und zu Verfahrensweisen, wie diese Werkzeuge herzustellen seien, hinführen können“ (Hel 84, S. 345).

Trotz solcher Vorbehalte betrachten die Militärs Expertensysteme als besonders hilfreich bei der Führung komplexer Gefechtssituationen und beim Einsatz ihrer barocken Waffenmaschinerie. Nicht zu Unrecht meint DARPA, daß Kommandierende und Soldaten durch die Anzahl der Entscheidungen, die sie in kurzer Zeit in einer extremen, unüberschaubaren Kriegssituation zu treffen haben, überfordert werden könnten. Expertensysteme sollen hier Abhilfe schaffen und große Teile der „Aufgabe“ übernehmen. Dahinter steht die Absicht, den „modernen“ Krieg führbar und gewinnbar zu machen.

Erste Anwendungen für die drei Teilstreitkräfte

DARPA schlägt in seinem Bericht vor, daß zunächst bis Ende der 80er Jahre drei „herausfordernde“ militärische Anwendungen – je eine für jede Abteilung der Teilstreitkräfte Armee, Luftwaffe und Marine – entwickelt werden.

Als Anwendung für die US-Army sieht DARPA ein autonomes System vor: ein fahrerloses Landfahrzeug, das zur Aufklärung, Munitionsverwaltung und Munitionslieferung eingesetzt werden könnte. Das Fahrzeug soll fähig sein, querfeldein mit Geschwindigkeiten bis zu 60 km/h zu fahren, wobei es sich auf seinem Weg zu einem vorherberechneten Ort mittels visueller Sensoren und eines Bordrechners selbst steuern soll. Ein mit einem Echtzeit-Expertensystem zusammenarbeitendes Bildverarbeitungssystem soll Hindernisse entdecken, Geländeorientierungspunkte lokalisieren und identifizieren, und eine Karte des Gebietes anlegen. Die für das Fahrzeug hochentwickelten Fähigkeiten der Bilderkennung und -verarbeitung und von Expertensystemen sollen dann auch für autonome Maschinen wie Marschflugkörper, Unterseeroboter, und – als erhoffter spin-off in den zivilen Bereich – für Materialbehandlungssysteme in Fabriken anwendbar sein.

DARPA schätzt, daß der Rechner des Landfahrzeuges, um seine komplexen Aufgaben in der geforderten Zeit erledigen zu können, eine Rechenleistung von 10.000 bis 100.000 MIPS (das sind 10 bis 100 Milliarden Befehle pro Sekunde, wobei als Einheit ein Befehl eines Von Neumann-Rechners zugrundegelegt ist, erbringen müßte. (Im Vergleich dazu erstreckt sich heutzutage der Leistungsbereich von etwa 1 MIPS bei Mikrorechnern bis zu 30 bis 40 MIPS, die auf den leistungsfähigsten Rechnern verfügbar sind.) Für den Speicher des Bordrechners schätzt DARPA eine notwendige Kapazität von ca. 10 Gigabytes (= 10**10 Bytes, zum Vergleich: der zentrale Rechner, der dem Fachbereich Informatik der TH Darmstadt für Forschungs- und Lehrbetriebs- und Dienstleistungsaufgaben zur Verfügung steht, hat einen Hauptspeicher von 4 Megabytes = 4*10**6 Bytes). Darüberhinaus soll der Bordrechner weniger als einen halben Kubikmeter Raum einnehmen, weniger als 250 kg wiegen, und weniger als ein Kilowatt elektrischer Leistung verbrauchen. Extreme Anforderungen an die Hardware also – kämen sie nicht von DARPA, sondern aus einem zivilen Bereich, so gelten sie vermutlich als maßlos übertrieben und ihre Realisierung wäre wegen fehlender Kapitalinvestitionen zum Scheitern verurteilt.

Die zweite Anwendung, die im SCS-Programm für die US-Air Force vorgesehen ist, ist ein kollaboratives Rechensystem für Kampfflugzeuge. Dieser „Roboterkollege“ soll die Aufgabe erfüllen, einen Kampfpiloten unter extremen Gefechtsbedingungen bei der Überwachung und Handhabung der zahlreichen Flug- und Waffensysteme seines Flugzeugs zu unterstützen. Denn schon bei Übungen zeigte sich, daß die Piloten der hochgezüchteten Flugzeuge gar nicht dazu kommen, die vielen theoretisch möglichen Fähigkeiten ihrer Maschinen auszunutzen (Kal 81,.S. 24). Um diesem Mangel abzuhelfen, sollen Expertensysteme, Spracherkennung und graphische Technologien ausgiebig Verwendung finden. Die in einem solchen Expertensystem gespeicherten Wissensbasen oder Mengen von Regeln sollen dem DARPA-Bericht zufolge mit „mehreren Tausend“ Regeln „signifikant größer sein als irgendeine der bisher bewältigten.“ (ScV 84 S. 49)

Mit den Anstrengungen auf den Gebieten maschinellen Verstehens natürlicher Sprachen und sehr großer Wissenshasen sollen die Probleme der Mensch-Maschine-Kommunikation gelöst werden: Der Pilot spricht die Kommandos, der Roboter antwortet und führt sie aus. Jeder Pilot soll sein System so „trainieren“ können, daß es eng mit ihm zusammenarbeitet und sich an sich verändernde Bedingungen anpaßt.

„Eine solche Zusammenarbeit könnte den menschlichen Piloten aus der Rolle eines Knopf-und-Schalter-Technikers in die eines Flugzeugkommandeurs befördern, die Gesamtaufgabe auszuführen“ (CoK 83, S. 54), meint DARPA-Chef Cooper.

Die dritte, für die US-Navy vorgesehene Anwendung ist ein Seeschlacht-Managementsystem. Es soll als Modell für andere großdimensionierte Managementsysteme dienen, die bei militärischen Einschätzungen auf einem Gefechtsfeld helfen sollen. Diese Systeme sollen die Konsequenzen militärischer Handlungsabläufe simulieren, mutmaßliche Ereignisse vorhersagen, detaillierte Aktionspläne entwickeln, Konflikte zwischen verschiedenen konkurrierenden Zielen lösen, geeignete Handlungen empfehlen, die auf dem Gefechtsfeld gewonnenen Signale interpretieren und auf sich verändernde Gefechtsentwicklungen reagieren können. Diese Informationen sollen zusammengefaßt als raffinierte Graphik auf Bildschirmen präsentiert werden. Statt den enormen Datenstrom, der zukünftige Schlachten kennzeichnen wird, selbst bewältigen zu müssen, könnten sich die Befehlshaber und ihre Stäbe auf die „größeren strategischen Fragen“ konzentrieren. Die Navy hat solche Systeme bereits auf ihrem Flugzeugträger U.S.S. Carl Vinsson erprobt. Sie stellt sich vor, daß bei zukünftigen Managementsystemen ca. 20.000 Regeln in ein „verteiltes Expertensystem“ eingebracht werden. Da die Schnittstelle zwischen den Kommandierenden und dem Rechensystem großenteils auf Graphik und Sprache, zwei rechenintensiven Technologien, beruhen soll, müßte der Rechner ein effektives Leistungsniveau von ca. 10.000 MIPS bieten.

Die Rechner, auf deren Entwicklung das SCS-Programm abzielt, sollen auch bei der Führung von Kriegsspielen helfen oder beim aerodynamischen und hydrodynamischen Entwurf von Flugzeugen und Schiffen eingesetzt werden. Und schließlich sollen die superintelligenten Rechner auch als Fachberater für Entscheidungsträger in Bereichen wie Logistik, Flugeinsätze bei Flugzeugträgern und nukleare Planung fungieren.

Der Betrieb der geplanten Expertensysteme erfordert zunehmende Rechenkapazität und Leistung, die um drei bis vier Größenordnungen (!) über der heutiger Maschinen liegt. DARPA schlägt deshalb vor, Rechner mit weitentwickelten Fähigkeiten zur Parallelverarbeitung auf VLSI (Very Large Scale Integration) Basis zu bauen. Für den Anfang soll die Mikroelektronik der Maschinen noch in den verbreiteten Silizium-Technologien hergestellt werden, für die Zukunft ist jedoch eine Konzentration auf die Gallium-Arsenid Technologie vorgesehen. Der Grund dafür: höhere Schaltgeschwindigkeiten bei geringerem Energieverbrauch und größere Widerstandsfähigkeit gegen die in Gefechtssituationen erwartete nukleare Strahlung. Die neuen militärischen Systeme sollen ja schließlich auch einem länger andauernden Atomkrieg standhalten können.

Eine Forschungsinfrastruktur wird geschaffen

Die Realisierung des DARPA-Plans erfordert eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Universitäten, der Industrie und der Regierung, wobei das Militär die koordinierende und führende Funktion ausübt. Wesentlich dabei ist die Schaffung einer starken US-weiten Forschungsinfrastruktur. Sie soll die Einrichtung von „Leistungszentren“ an den Universitäten, die Vernetzung der gegenwärtig verfügbaren von DARPA finanzierten KI-Maschinenparks und die Einrichtung von Silizium-Giessereien zur schnellen Produktion von VLSI-Chips einschließen. Mit dem SCS-Programm wird so die Integration von FuE- und Produktions-Potentialen in den US-amerikanischen militärisch industriellen Komplex weiter fortschreiten.

Es gibt jedoch auch skeptische Meinungen aus dem Industriebereich, die wie folgt zusammengefaßt werden können.

  • DARPA, bestehend aus relativ wenigen hervorragenden Leuten (und nicht einer riesigen Bürokratie wie die National Science Foundation), Könnte von der Führung des SCS-Programms überfordert werden, da so viele verschiedene Aktivitäten und Forscher über einen großen Bereich zu koordinieren sind.
  • Es mangelt an talentierten, qualifizierten Fachkräften.
  • Die Konkurrenz zwischen zivilen und militärischen KI-Interessen könnte sich verschärfen. Das DARPA-Programm könnte dem zivilen Bereich Personal entziehen.

Auch im Lager der Reagan-Regierung findet das SCS-Programm nicht nur einhellige Zustimmung. Ed Zschau, ehemaliger leitender Angestellter einer Rechnerfirma, Vorsitzender der Projektgruppe für Spitzentechnologie der Republikanischen Partei, Kongreßmitglied für einen Bezirk von Silicon Valley, stellt am SCS-Programm die starke Betonung der militärischen Anwendungen in Frage. Es gibt zu Bedenken, daß die technologischen Innovationen klassifiziert werden könnten, weil ihnen militärische Bedeutung unterstellt wird, so daß sie nur schwerlich aus dem militärischen in den privatwirtschaftlichen Bereich durchdringen könnten.

„Ich würde mich wohler fühlen, wenn es zwei militärische und eine kommerzielle Anwendung wären“, meint Zschau, und „wenn dieses ganze Geld an die Lockheeds der Welt ginge, dann hätte ich dabei nicht so gute Gefühle wie bei einem Programm, das an die Universitäten geht“ (SpV 84, S. 50).

Offenbar will Zschau die Interessen der verschiedenen Teile der Rechnerindustrie vertreten und befürchtet daher, daß der technologische spin-off nicht in gewünschter Masse stattfinden könnte.

Wie wird das SCS-Programm im Wissenschaftsbereich aufgenommen? Die beiden großen Fachorganisationen ACM (Association for Computing Machinery) und IEEE (The Institute of Electrical and Electronics Engineers) haben das DARPA-Programm – wie zuvor andere DoD-Initiativen – stillschweigend akzeptiert (New 84).

Antimilitaristische Kräfte regen sich

Abgelehnt wird das SCS-Programm von CPSR (Computer Professionals for social Responsibility), einer Vereinigung von Informatikfachleuten, die der wachsenden globalen Bedrohung einer Atomkriegskatastrophe entgegenwirken wollen. Die Organisation, deren Mitgliederzahl wächst, versteht sich als Teil der Friedensbewegung, zu der sie einen fachspezifischen Beitrag leistet. Die Hauptzielsetzung von CPSR ist es, ihre Mitglieder, die politische Führung und die breite Öffentlichkeit über den Beitrag der Rechnertechnologie zu den Gefahren des atomaren Wettrüstens aufzuklären, und über soziale Prozesse, die zu weltweitem Frieden führen können, zu informieren. In der Grundsatzerklärung von CPSR heißt es:

„Wir mißbilligen die Verschwendung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten durch das Streben nach größerer militärischer Macht, die nicht zu unserer Sicherheit, sondern zu unserem gemeinsamen Risiko beiträgt. Wir fordern, daß unsere Talente, Mittel und Energien auf mehr sozial Verantwortbare Ziele hingelenkt werden. Wir beschließen, für eine Welt zu arbeiten, in der Wissenschaft und Technologie benutzt werden, nicht um Waffen für den Krieg zu produzieren, sondern um eine sichere und gerechte Gesellschaft zu fördern.“

Zu den Aktivitäten von CPSR gehören die Herausgabe einer eigenen Zeitung (The CPSR Newsletter), Veröffentlichungen, die Durchführung von Seminaren, Podiumsgesprächen und Veranstaltungen, und die Zusammenarbeit mit Fachleuten und Wissenschaftlern aus anderen Ländern.

CPSR hat ein Komitee gebildet, das zwei Positionspapiere zum SCS-Programm erarbeitet. Eine Stellungnahme richtet sich an die Informatikergemeinschaft, um die Diskussion – unter denen, die schon an SCS-Projekten arbeiten und unter der Fachwelt allgemein – über das SCS-Programm anzuregen. Die andere Stellungnahme richtet sich an die Politiker und die Öffentlichkeit. Der Konsens innerhalb CPSR konzentriert sich auf folgende Kritikpunkte am SCS-Programm.

– SCS zielt auf spezifische neue Waffensysteme. CPSR gibt zu bedenken, daß neue Forschungsvorhaben in der Informatik hinsichtlich ihrer Relevanz für diese spezifischen Anwendungen bewertet werden, und nicht nach ihrem allgemeinen wissenschaftlichen Wert.

– SCS fördert den Einsatz von KI, um den Betrieb komplexer militärischer Systeme unter unvorhersagbaren Um-. ständen zu steuern. CPSR gibt zu bedenken, daß Situationen mit extremer Unsicherheit genau die falsche Umgebung für die Anwendung von KI sind, insbesondere wenn das Risiko groß ist.

– SCS fördert die militärische Anwendung von Rechnertechnologie als eine Lösung für Probleme der Verteidigung. CPSR gibt zu bedenken, daß bisherige Versuche, Überlegenheit in neuen Waffensystemen zu erreichen, ein Wettrüsten ohne erkennbares Ende angeheizt haben, anstatt die Sicherheit zu erhöhen.

Der letzte Kritikpunkt ist der schwerstwiegende: „Wir glauben weder, daß der Weg zu nationaler Sicherheit in militärischer Überlegenheit liegt, noch daß Überlegenheit durch den Einsatz von Rechnern erreicht werden kann.“ (Suc 84)

Die Diskussion um das Strategic Computing-Programm und seine Auswirkungen sollten auch in der BRD weitergeführt werden. Mit der Bildung der bundesweiten Initiative „Informatiker für Frieden und gesellschaftlicher Verantwortung“ nach dem Vorbild CPSR sind die Voraussetzungen verbessert worden, die militärischen Einflüsse auf die Informatik aufzuzeigen, humane Alternativen zu entwickeln, und diese langfristig gemeinsam mit anderen demokratischen Kräften durchzusetzen.

Literatur

(Bar 82) Barnaby, Frank: Computer und Militär, in: Müllert, N. (Hrsg.): Schöne elektronische Welt. Hamburg, 1982, 146-158

(BKS 81) Broedner, Peter/ Krüger, Detlef/ Senf, Bernd: Der programmierte Kopf. Eine Sozialgeschichte der Datenverarbeitung. Berlin, 1981

(CoK 83) Cooper, Robert S./ Kahn, Robert E.: SCS: Towards Supersmart Computer for the Military. IEEE spectrum, November 1983, 53-55

(DeL 82) De Lauer, Richard D.: The Force Multiplier. IEEE spectrum, October 1982, 36-37

(DoD 83) Department of Defense: Software Technologie for Adaptable, Reliable Systems (STARS) Program Strategy. ACM Sigsoft Software Engineering Notes, Vol. 8, No. 2, April 1983, 55-108

(Ege 82) Ege, Konrad: Schlachtfeld Europa. Die neue Heeresdoktrin der Nato. Blätter für deutsche und internationale Politik, 12, 1982

(Ege 84) Ege, Konrad: Das Pentagon-Budget 1985: Weltraumwaffen, Air-Land Battle und Interventionen in der Dritten Welt. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1984, 278-287

(EnD 84) Engels, Dieter/ Dietrich-Swiderski, Jochen: Militarisierung des Weltraums. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1984, 288309

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(Kai 81) Kaldor, Mary: Rüstungsbarock. Das Arsenal der Zerstörung und das Ende der militärischen Techno-Logik. Berlin, 1981

(Kei 82) Keil, Richard: Die neue Waffe Der Computer. In: GI 12. Jahrestagung, Informatik-Fachberichte 57, Berlin, 1982, 457- 478

(KeK 83). Keil, Reinhard/ Kreowski, Hansjörg: Bis daß der Tod sie scheidet: Atomwaffen und Computer – Die Liaison des Jahrhunderts. In: Bickenbach, J. u. a. (Hrsg.) Informatiker für Frieden – Informatik für Krieg. Beiträge zum Thema: Informatik und Militär. TU Berlin, 1983, 16-33

(MPD 83) Die „Air-Land-Battle“-Doktrin. Eine offensive Kriegsführungsdoktrin für das Schlachtfeld Europa. Militärpolitik Dokumentation, Heft 34/ 35, 1983

(New 84) Newman, Ron: Strategie Computing and professional Ethics. The CPSR Newsletter, Vol. 2, No. 1, Winter 1984

(Rau 82) Raulefs, Peter: Knowledge Engineering. Informatik-Spektrum, Band 5, Heft 1, Februar 1982, 50-51

(Rei 82) Reisin, Michaela: Computerisiertes Militär – militarisierte Informatik. In: GI 12, Jahrestagung, Informatik-Fachberichte 57, Berlin, 1982, 432 -456

(Rei 83) Reisin, Michaela: Entstehung und Entwicklung des Fachgebietes Software Engineering vor dem Hintergrund militärischer Anwendung. In: Bickenbach, J. u.a. (Hrsg.): Informatiker für Frieden – Informatik für Krieg. Beiträge zum Thema: Informatik und Militär. TU Berlin, 1983, 34-53

(ScV 84) Schatz, Willie/ Verity, John W.: DARPA's Big Push in Al. Datamation, February 1984, 48-50

(Suc 84) Suchman, Larry W.: VHSIC: A Promise of Lecerage. IEEE spectrum, October 1982, 93-94

(Win 84) Winograd, Terry: DARPA Strategie Computing Proposal. The CPSR Newsletter, Vol. 2, No. 1, Winter 1984

Konzeption der Bundesregierung zur Förderung der Entwicklung der
Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechniken, BMFT (Hrsg.), Bonn 1984

(19)
Wehrtechnische Forschung, Entwicklung und Beschaffung

Die Bundesregierung sieht in der Entwicklung auf elektronischem Gebiet die
Möglichkeit, die Fähigkeiten der Bundeswehr zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages
entscheidend zu stärken.

In Würdigung des Berichtes der Kommission für Langzeitplanung der Bundeswehr
beauftragt sie den Bundesminister der Verteidigung, die Entwicklungen auf den Gebieten

  • Mikroelektronik
  • Nachrichtentechnik und
  • Inforrnationsverarbeitung

zu verfolgen, diese unter Berücksichtigung der Bedürfnisse zur Auftragserfüllung
der Bundeswehr durch gezielte anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu nutzen,
sowie ausreichende eigene Anstrengungen im Bereich der wehrtechnischen Forschung und
Entwicklung zur Zukunftssicherung zu unternehmen.

Im Rahmen des von ihm zu erarbeitenden Forschungs- und Technologiekonzeptes sind
dafür in Zusammenarbeit mit Instituten und Industrie geeignete Maßnahmen vorzusehen.

Für den Bereich der wehrtechnischen Forschung auf dem Gebiet Informationstechnik
ist darüber hinaus eine enge Abstimmung mit anderen Ressorts, wie BMFT und BMP,
vorzusehen, um den Einsatz von Mitteln und Ergebnissen für die Wehrtechnik zu optimieren.
Der Bundesminister der Verteidigung wird daher von den anderen Ressorts schon beider
Formulierung von Fachprogrammen und sich daraus ergebenden Einzelaufgaben beteiligt
werden, um seine mittel- bis langfristigen Erfordernisse ressortübergreifend in die
Planung einzubringen.

Für die Zwecke des Datenschutzes sowohl bei der Übertragung von personenbezogenen
Daten als auch für die Zwecke der Landesverteidigung ist es erforderlich, neue Techniken
der Verschlüsselung in der Informationsübertragung zu untersuchen und in Verbindung mit
den neuen Kommunikationsdiensten weiter zu entwickeln. Die Bundesregierung wird daher ein
ressortübergreifendes Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Kryptierung in Angriff
nehmen und beauftragt den Bundesminister der Verteidigung mit der Federführung.

Aus dem Hearing des Defense Department zu Weltraumwaffen

„Der Knall begann, als eine Befragung, die Robert S. Cooper, den Direktor der,
Defense Advanced Research Projects Agency, George Keyworth, Reagans Wissenschaftsberater
und Generalleutnant James A. Abrahamson, Direktor der Strategic Defense Initiative
einschloß, feststellte, daß ein im Weltraum stationierten Laser Abwehr System, dazu
konzipiert die sowjetischen Langstreckenraketen in ihrer Startphase zu zerstören, in
einer außerordentlich kurzen Zeit ausgelöst werden müßte.

Die Triebwerke zu zerstören, bevor sie die atomaren Sprengköpfe in den Weltraum
befördert hätten, würde eine Aktion verlangen, so schnell, daß es eine Entscheidung im
Weißen Haus ausschließen würde – und sogar eine Entscheidung durch den Computer
notwendig machen wurde. An dieser Stelle explodierte der demokratische Senator Paul E.
Tsongas: „Vielleicht sollten wir R2-D2 (den Roboter aus „Star Wars“ die
Red.) zur Präsidentenschaft in den 90ern favorisieren. Schließlich wird er allzeit in
Betrieb sein.“

„Hat irgend jemand dem Präsidenten erzählt, daß er aus dem Entscheidungsprozeß
raus ist?“ fragte Tsongas. „Ich sicher nicht“, sagte Keyworth.

Sen. Joseph R. Biden Jr. (demokratischer Abgeordneter) stellte die Frage in den
Mittelpunkt, ob ein Irrtum möglicherweise die Sowjets dazu provozieren konnte, einen
realen Angriff auszulösen. „Laßt uns annehmen, der Präsident selber wurde einen
Fehler machen (…)“ sagte er. „Warum ?“ unterbrach Cooper. „Wir
müssen die Technologie so machen, daß er keinen Fehler machen kann.“

„OK.“ sagte Biden. „Sie haben mich überzeugt. Sie haben mich
überzeugt, daß ich dieses Programm nicht auf den Weg bringen will.“

aus einem AP-Artikel in Los Angeles Times, 26. April 1984

Karlheinz Hug ist Diplom-Mathematiker und wissenschaftlicher Angestellter am Fachbereich Informatik der TH Darmstadt, Alexanderstraße 24, 6100 Darmstadt.

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– eine neue Initiative ist jetzt dringend notwendig

von Mike Pentz

Das Jahr 1983 endete mit der Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II Raketen der USA in Großbritannien und in der BRD, und es scheint unausweichlich, daß die nächsten Jahre von einer weiteren Steigerung der nuklearen Rüstung der USA und ihren NATO-Verbündeten gekennzeichnet sein werden, einer Steigerung, die die Eskalation der 70er Jahre, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht weit in den Schatten stellen wird. Es scheint auch unausweichlich, daß die einseitige nukleare Aufrüstung der USA in den 80er Jahren, wie in den 70er Jahren, mit entsprechenden sowjetischen Gegenmaßnahmen beantwortet werden wird.

Der sowjetische Verteidigungsminister, Marschall Dimitri Ustinov, sagte vor einem Jahr im Zusammenhang mit den USA-Plänen für die Bereitstellung von hundert neuen MX-Raketen in Minuteman-Raketensilos:

„Wenn uns die derzeitige Regierung im Weißen Haus entgegen dem gesunden Menschenverstand und der Friedenssehnsucht der Völker durch die Stationierung von MX-Raketen herausfordert, wird die Sowjetunion mit der Stationierung einer neuen Interkontinentalrakete des gleichen Typs antworten, die der MX in keiner Weise nachstehen wird. Ebenso wird die UdSSR, falls erforderlich, schnell und wirksam auf andere Bedrohungen aus Washington reagieren.“1

Im August 1983 veröffentlichte das sowjetische Komitee für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit einen wichtigen Appell gegen die zunehmende Kriegsgefahr in Europa. Er enthielt folgenden Abschnitt:

„Selbstverständlich wird das Sowjetvolk niemandem gestatten, die in Europa und in der übrigen Welt bestehende Parität zu zerstören; denn das würde seine Sicherheit gefährden. Die sowjetische Öffentlichkeit begrüßt einmütig die Maßnahmen, die angesichts der sich jetzt abzeichnenden Lage ergriffen werden, um die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und seiner Verbündeten auf dem erforderlichen Niveau zu halten.“2 Am 1. Oktober 1983 nahm eine Massendemonstration in Moskau eine ausgezeichnete Erklärung an: „Laßt uns die Gefahr eines Kernwaffenkrieges von Europa abwenden! Vermindert die bestehenden Arsenale!“ Diese Forderungen werden fraglos von den Friedensbewegungen nicht nur in ganz Europa, sondern auch in der UdSSR und in den USA einhellig unterstützt. Die Erklärung enthielt aber auch folgende Feststellung, die der obigen prinzipiell entspricht: „Wir sind für ein einfaches und klares Prinzip – gleiche Sicherheit für alle! Es gibt keinen Unterschied zwischen einer amerikanischen, britischen oder französischen Rakete, wenn sie gegen die UdSSR und deren Verbündete gerichtet ist und sie treffen kann. Es ist unser unverzichtbares Recht, uns gegen jedwede Rakete zu schützen! Sollten die USA und die NATO beginnen, neue Raketen zu stationieren, ist es die Pflicht der sowjetischen Regierung, wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen.“3

Allen diesen Erklärungen liegt das „Prinzip der Parität“ und der gleichen Sicherheit zugrunde, und eingebettet in das „Prinzip“ ist das unausgesprochene Axiom: „Parität“ ist eine notwendige Bedingung für „gleiche Sicherheit“.

Ich glaube, es ist an der Zeit, genauer zu prüfen, was die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe „Parität“ und „Sicherheit“ oder auch „Verteidigungsfähigkeit“ und „wirksame Gegenmaßnahmen“ bedeuten. Der Kontext ist klar der eines sich steigernden Wettrüstens.

Die Geschichte des nuklearen Wettrüstens ist die einer Serie von den USA initiierter einseitiger Eskalation, die von der UdSSR gewöhnlich nach mehreren Jahren Verspätung mit Gegeneskalationen erwidert wurde. Ein typisches Beispiel für diesen Prozeß waren die MIRV-Sprengköpfe. Die USA führten sie von 1970 an ein, und die UdSSR stellte den Gleichstand auf diesem Gebiet etwa 1976 her. Das Ergebnis schließlich:

  1. ) auf beiden Seiten hatte sich das Potential zur Bekämpfung strategischer Ziele (die sogenannte „counterforce capability“), sowohl auf Grund der Zunahme der Zahl der Sprengköpfe, die mehrere Ziele unabhängig bekämpfen können, als auch auf Grund der gleichzeitig erhöhten Zielgenauigkeit der Raketen bedeutend erhöht;
  2. ) die Sicherheit der USA als auch der UdSSR (von der Sicherheit ganz Europas ganz zu schweigen) hatte sich entscheidend vermindert.

1979/80 stellte die UdSSR bekanntlich eine ungefähre „Parität“ mit den USA auf dem Gebiet der strategischen Kernwaffensysteme her. Aber trotz der ungeheuren Anstrengungen und Opfer, die es kostete, um die Lücke zu schließen, die vorher zwischen den USA und der UdSSR in Bezug auf das Potential zur Bekämpfung strategischer Ziele bestanden hatte, bedeutete die Herstellung der „Parität“ nicht, daß sich die Sicherheit erhöht hätte; ganz im Gegenteil, die Sicherheit der UdSSR war 1980 wesentlich geringer als 1970. Aus diesem Beispiel folgt (und weitere ließen sich anführen), daß mit der Erringung der „Parität“ nicht mehr Sicherheit gewonnen wird; sie kann – und in der Praxis ist das der Fall – weniger Sicherheit bedeuten.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die USA mit ihrer jetzigen einseitigen nuklearen Hochrüstung einen neuen außerordentlich gefährlichen „Sprung“ nach vorn im nuklearen Wettrüsten unternehmen. Die Einführung von Raketen mit hoher Zielgenauigkeit, wie z.B. die Pershing II-Raketen, die Marschflugkörper, die Trident D5 und die MX, bedeutet nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Eskalation, denn wenn solche Raketen zuverlässig funktionieren, werden sie erstmals in der Lage sein, befestigte „Punktziele“, wie die Silos sowjetischer Interkontinentalraketen, sowie Kommando- und Kontrollzentralen zu treffen, und zwar mit faktisch 100 prozentiger Wahrscheinlichkeit. Sobald die Stationierung dieser neuen hochwirksamen counterforce-Waffen von weiteren technischen Fortschritten auf dem Gebiet der U-Boot-Abwehr begleitet ist, besteht die große Gefahr, daß militärische und politische Führer in den USA auf den Gedanken kommen, sie hätten eine „glaubhafte Erstschlagsfähigkeit“' erlangt. Alles deutet daraufhin. daß die UdSSR auf diese neueste Eskalation wieder mit einer Gegeneskalation reagieren wird, indem sie vergleichbare Raketen von hoher Zielgenauigkeit entwickelt und stationiert und möglicherweise solche „Gegenmaßnahmen“ trifft, wie die Anordnung der „Starts sofort nach der Warnung“ bei bestimmten. sonst verwundbaren Raketen, die auf feste Startbahnen angewiesen sind, oder indem sie mobile ballistische Raketen stationieren. wie sie die USA selbst einzuführen beabsichtigen, und zwar die einen einzigen Sprengkopf tragende Midgetman-Rakete (kleine Interkontinentalrakete). Die kritische Frage lautet, ob solche „Wie du mir so ich dir“ Gegeneskalationen die Sicherheit der UdSSR erhöhen oder vermindern werden, vorausgesetzt, daß die USA diese neuen Stationierungen weiter energisch betreiben, wenn nicht die „Freeze“-Kampagne eine viel größere Wirkung erreicht, als es bis jetzt der Fall war (so beträchtlich sie auch sein mag). Die Frage lautet nicht, ob die Sicherheit der UdSSR (und der USA) im Falle der Unterlassung jeder weiteren Eskalation durch eine der beiden Seiten größer wäre als im Falle einer bedeutenden weiteren Eskalation durch beide Seiten. Die eigentliche Frage lautet, ob die Sicherheit der UdSSR (und der USA) größer wäre, wenn die UdSSR, wie in der Vergangenheit mit einer Gegeneskalation antwortet, oder ob sie größer wäre, wenn die UdSSR jetzt eine Haltung des „genug ist genug“ einnähme, d.h. eine Politik des „einseitigen Einfrierens“ der nuklearen Rüstung verfolgte und daher auf eine Erwiderung verzichtete. Mit anderen Worten, wäre die Sicherheit der UdSSR bei einer Erwiderung geringer als bei einer Nichterwiderung? Ich glaube, es gibt berechtigte Gründe für die Annahme, daß eine von der UdSSR verfolgte Politik des einseitigen Einfrierens speziell auf dem Gebiet der Offensivwaffen, mit denen strategische Ziele des Gegners bekämpft werden können (diese Politik schlösse die Indienststellung neuer raketentragender U-Boote, wie z. B. der Taifunklasse, nicht unbedingt aus), die Sicherheit der UdSSR nicht vermindern, sondern erhöhen würde. Solange die UdSSR eine entsprechende Zweitschlagskapazität behält – und mit weitreichenden U-Boot-gestützten ballistischen Raketen wird diese noch lange Zeit gewährleistet sein -, solange kann es keinen Verlust geben an Sicherheit als Folge eines Verzichts auf den Versuch, auf dem Gebiet der strategischen Offensivwaffen zur Führung eines Nuklearkrieges einen Gleichstand mit den USA zu erreichen. Die politische Wirkung einer Haltung des einseitigen „Einfrierens“, die von der UdSSR zur Erprobung und Stationierung neuer strategischer Raketen eingenommen würde (zum Unterschied von den von U-Booten aus gestarteten Raketen, die für den zweiten Schlag vorgesehen wären und keine größere Zielgenauigkeit hätten als die heutigen Raketen dieses Typs), wäre immens – besonders in den USA, aber auch in Europa und in der ganzen übrigen Welt. Die „Freeze“-Bewegung in den USA hat in dem kurzen Zeitraum von drei Jahren eindrucksvolle Ergebnisse erzielt: ein Mehrheitsvotum im Repräsentantenhaus, die bemerkenswerte Erklärung der römisch-katholischen Bischöfe und, was am allerwichtigsten ist, die ausdrückliche Unterstützung von fast 80% der Bevölkerung. Eine einseitige Erklärung der UdSSR über ein bedingungsloses „Einfrieren“ – das, nebenbei bemerkt, leicht mit „nationalen technischen Mitteln“ verifizierbar wäre -, hätte eine starke politische Wirkung auf die „Freeze“-Bewegung und die Öffentlichkeit in den USA. Die Regierung der USA sähe sich der massiven Forderung gegenüber, diesem Beispiel zu folgen, und auf Grund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen könnte ein solches Verlangen nicht ignoriert werden. Selbst wenn die Sowjetunion ein solches einseitiges „Einfrieren“ in der ersten Instanz auf einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren beschränkte, bis die andere Seite den gleichen Schritt unternimmt, wäre die politische Wirkung immer noch sehr groß. Selbst ein „Einfrieren“ oder ein Moratorium, dessen Dauer und Umfang begrenzt wären, hätten eine größere Wirkung – z. B. eine Erklärung der Sowjetunion, daß sie auf die Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II-Raketen in Europa nicht mit der Stationierung vergleichbarer Raketen reagiert. Eine Solche Politik des „genug ist genug“, die eine auffallende Abkehr von der früheren Politik der automatischen Gegeneskalation bedeuten würde, riefe tatsächlich einen starken Eindruck hervor. Sie würde die Friedensbewegungen außerordentlich stärken und das politische Kräftegleichgewicht sowohl in Westeuropa als auch in den USA gründlich verändern. Das Ergebnis einer solchen Politik wäre schließlich eine bedeutende Zunahme der Sicherheit sowohl der UdSSR als auch der übrigen Welt. Mir scheint, eine Politik der „Gegeneskalation zur Wiederherstellung der Parität“ kann nicht automatisch mit einer Politik der „Gegeneskalation zur Gewährleistung der Sicherheit“ gleichgesetzt werden. Die USA und die UdSSR nähern sich jetzt sehr rasch einer Situation wirklich gleicher Sicherheit, nämlich einer Situation, in der die Sicherheit gleich null ist, und eine Überprüfung der diesem negativen Prozeß zugrundeliegenden Politik ist jetzt dringend erforderlich. Der Begriff „Verteidigungsfähigkeit“ muß ebenfalls klarer definiert und kritisch geprüft werden. In Großbritannien schenkt die Kampagne für nukleare Abrüstung den Argumenten, die den Slogan „Kernwaffen sind kein Schutz“ erhärten, immer stärkere Beachtung. Ich glaube, die Argumente für diese These sind richtig und zwingend, und ich denke nicht, daß sie nur für Großbritannien gelten. Freilich gibt es zwischen Großbritannien (oder Frankreich) und den USA oder der UdSSR anerkanntermaßen bedeutende Unterschiede, und daher ist es politisch realistisch, in Großbritannien für vollständige und bedingungslose einseitige nukleare Abrüstung (als ein mittelfristiges Ziel) einzutreten, wogegen ein solches Vorgehen in den USA oder der UdSSR offensichtlich nicht realistisch wäre. Aber sowohl im Falle der USA als auch im Falle der UdSSR ist die Frage angebracht, ob die Anhäufung großer Mengen sogenannter Counterforce-Kernwaffen von hoher Treffsicherheit überhaupt etwas mit legitimer oder wirksamer „Verteidigungfähigkeit“ zu tun hat. Das läßt die Frage beiseite, ob das Konzept der „Verteidigung durch nukleare Abschreckung“ (die alte Doktrin der sicheren gegenseitigen Vernichtung) selbst ein glaubwürdiges Konzept ist oder nicht bloß eine gefährliche Illusion. Die sowjetische Öffentlichkeit hat gewiß einmütig die Maßnahmen zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit ihres Landes begrüßt. Aber wenn diese Maßnahmen auf die gleiche alte Formel von der Gegeneskalation wie in der Vergangenheit hinauslaufen, frage ich mich wirklich, ob nach dem Stattfinden einer kritischen öffentlichen Debatte über die zugrundeliegende „Logik“ die Zustimmung noch so einhellig wäre.

In Diskussionen erhoben sowjetische Kollegen folgende Einwände gegen die in diesem Artikel entwickelten Thesen:

  1. ) Es sind die USA, die das nukleare Wettrüsten angeführt haben und anführen. Es sind die USA, die jetzt durch ihre jüngste einseitige Eskalation das strategische Gleichgewicht zerstören. Weshalb wird die Sowjetunion aufgefordert, eine so maßgebliche Initiative, wie die Erklärung eines einseitigen „Einfrierens“, zu ergreifen? Jetzt sind eindeutig die USA an der Reihe, von einer weiteren Eskalation des nuklearen Wettrüstens Abstand zu nehmen. Die UdSSR erklärte sich bereits mit einem bilateralen „Einfrieren“ einverstanden, bei dem eine annähernde strategische Parität gewahrt bliebe und dem ausgewogene Reduzierungen auf beiden Seiten folgen sollten.
  2. ) Wenn die Sowjetunion die Position eines „einseitigen Einfrierens“ bezöge, während die USA die geplante Entwicklung und Stationierung einer großen Zahl neuer strategischer Waffen fortsetzen, entstände eine sehr gefährliche Lage: Sie würde die Illusion wecken, ein großer nuklearstrategischer Vorteil erlaube es, zu Mitteln der „nuklearen Erpressung“ zu greifen oder gar einen entwaffnenden Erstschlag zu führen. Trotz aller Erfolge, die die Friedensbewegung der USA aufzuweisen hat, können wir uns sicherlich nicht darauf verlassen, daß sie eine so gefährliche Entwicklung verhindert.

Auf den ersten Einwand habe ich eine ganz einfache Antwort: Es bestehen keinerlei Aussichten, daß die Regierung von Reagan oder von Frau Thatcher oder von Kohl ihre Politik ändern werden, außer im Falle eines wesentlich verstärkten Drucks, der von der Massenbewegung für den Frieden in deren Ländern ausgeübt wird. Es ist vielleicht denkbar, daß in der Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, bevor die nukleare Konfrontation unwiderruflich und in fataler Weise instabil geworden ist, diese Bewegungen imstande sein werden, eine so bedeutsame Veränderung herbeizuführen, wie das bedingungslose „Einfrieren“ der Entwicklung und Stationierung neuer strategischer Kernwaffen. Wenn nicht sehr bald eine neue Initiative ergriffen wird, um die teuflische Spirale von Eskalation und Gegeneskalation zu zerbrechen, werden wir damit konfrontiert sein, daß die Katastrophe nahe und unausweichlich ist. Es ist nicht realistisch, von der USA-Regierung eine solche Initiative zu erwarten. Die sowjetische Friedensbewegung muß nicht die sowjetische Regierung unter massiven Druck setzen, damit diese Initiativen für Abrüstung und Frieden ergreift. Es steht völlig in ihrer Macht, jetzt eine solche Initiative zu ergreifen; hierdurch könnte sie eine politischen Prozeß einleiten, der zu rascher und umfassender nuklearer Abrüstung führt.

Auf den zweiten Einwand kann ich antworten, daß die Risiken der „nuklearen Erpressung“ bedeutungslos sind angesichts der Risiken des andauernden und sich faktisch beschleunigenden nuklearen Wettrüstens und daß man der Gefahr von „Illusionen über den Erstschlag“ nicht kontert, indem man selbst eine ebensolche (gleichfalls illusorische) „Erstschlagsfähigkeit“ erwirbt im Gegenteil, durch solche „Gegenmaßnahmen“ erhöhen sich bloß die offensichtlichen Vorteile einer „Prävention“ und damit auch die Gefahr, daß ein Erstschlag wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen wird.

Anmerkungen

1 Marschall Dimitri Ustinov in einem TASS-Interview vom 7. Dezember 1982. Zurück

2 Aus dem Appell, den das Sowjetische Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit am 3. August 1983 verbreitet hat. Zurück

3 Aus der Erklärung, die von der großen Antikriegsdemonstration am 1. Oktober 1983 in Moskau angenommen und vom Sowjetischen Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit am 14. Oktober verbreitet wurde. Zurück

Michael Pentz ist Professor der Physik und Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät der „Open University“, England. Er ist Mitglied des Leitungsgremiums der „Kampagne für nukleare Abrüstung“ und Vorsitzender der Vereinigung „Wissenschaftler gegen Kernwaffen“ (SANA).

Notwendige waffentechnologische Erkenntnisse und zweifelhafte völkerrechtliche Schlußfolgerungen.

Notwendige waffentechnologische Erkenntnisse und zweifelhafte völkerrechtliche Schlußfolgerungen.

Bemerkungen zu Mike Pentz: „Das nukleare Wettrüsten. Eine neue Initiative ist jetzt dringend notwendig“

von Bernhelm Boos und Ib Matin Jarvad

Mit erfreulicher Nüchternheit hat Mike Pentz auf einige technologisch-naturwissenschaftlich gesicherte Umstände aufmerksam gemacht, die in der zugespitzten Situation unmittelbar vor der beginnenden Stationierung der Cruise Missiles und Pershing II nicht ausreichend klar gemacht und von Teilen der Friedensbewegung unzutreffend dargestellt worden waren.

Es handelt sich insbesondere um die folgenden vier Punkte:

  • Unmöglichkeit der „Enthauptung“, militärtechnische Bedeutungslosigkeit der Begriffe
  • „Verteidigung“ und
  • „Parität“ und
  • fortlaufende Verringerung der Sicherheit vor einem Atomkrieg.

1. Mike Pentz zeigt, dank eine nukleare „Enthauptung“ oder gar „Entwaffnung“ der Sowjetunion nicht möglich ist. Jede Atommacht, nicht nur die USA und die UdSSR, sondern auch Frankreich, England und China, kann die Welt in den Abgrund nuklearer Vernichtung stoßen. Aber auch der Einsatz der modernsten vorhandenen Technologie kann einen Aggressor nicht davor schützen, mit in den Untergang gerissen zu werden – sei es durch die globalen meteorologischen und biologischen Folgen der Kernexplosion, sei es durch die Vergeltungsschläge, die von strategischen Atomraketenbatterien auf atomgetriebenen U-Booten geführt werden können.

Pentz geht hierbei richtig davon aus, daß weder die hohe Treffsicherheit moderner Raketen, noch eine zahlenmäßige Überlegenheit an strategisch einsetzbaren Kernsprengköpfen für die Neutralisierung des sowjetischen Raketenpotentials ausreichen: Nicht technisch, weil beim gegenwärtigen Stand der Unterwasserakustik zumindest die strategischen Atom-U-Boote, die im Ochotskischen Meer versteckt liegen, vermutlich aber auch die von Murmansk in Geleitzügen ausgebrachten Atom-U-Boote, wenn sie erst einmal das offene Meer erreicht haben und dort ruhig liegen bleiben, als unverletzlich angesehen werden müssen. Die Neutralisierung ist aber auch nicht politisch möglich oder wo ist die Exilregierung, die nach der Vernichtung der politischen, militärischen, industriellen und kulturellen Zentren im westlichen Teil der Sowjetunion, für die Pershing II und Cruise Missiles durchaus geeignete Werkzeuge sein können, mit der notwendigen Autorität eine Erhebung der Offiziere und Mannschaften in den entfernter liegenden verschonten Kommandobunkern, Raketenstellungen und U-Booten gegen den Befehl zur Vergeltung, ihre „Verbrüderung“ mit den „Befreiern“ von einem „verhaßten“ Regime, die Kapitulation leiten kann? Mit Recht geht Pentz nicht auf diese absurden Spekulationen ein, wenn es um den Nachweis geht, daß die Sowjetunion auch mit Cruise Missiles und Pershing II und auch ohne die angekündigten Gegenmaßnahmen nicht „enthauptet“ werden kann.

Und doch handelt es sich bei diesen Spekulationen um wesentliche Bestandteile der US-amerikanischen Atomkriegsplanung! Eine Einschätzung neuer Technologien darf sich daher nicht mit der vorurteilslosen Untersuchung ihrer Möglichkeiten und Grenzen bescheiden, sondern muß auch die Eigenschaften und Wirkungen in die Analyse einbeziehen, die den neuen Geräten zu Recht oder Unrecht zugeschrieben werden. Die Einsicht, daß die Sowjetunion – ob mit oder ohne Cruise und Pershing II – nicht enthauptet und nicht entwaffnet werden kann, ist nicht mehr und nicht weniger wert als die Einsicht, daß bedeutende Teile der amerikanischen Regierung wie überhaupt der führenden Kreise der westlichen Welt auf Grund ihres Hasses und ihrer Fremdheit gegenüber dem sowjetischen Gesellschaftssystem dabei sind, ihren eigenen Propagandalügen aufzusitzen und mit jeder Meldung über einzelne Rückschläge, Unverständlichkeiten oder vorkommende Ungerechtigkeiten, die aus der Sowjetunion zu uns dringt. ihren Illusionen über die eingebildete Bereitschaft des Sowjetvolkes, sich einen angeblich verhaßten Kopf abschlagen zu lassen, mehr Schein von Realismus zu verleihen. Leider hat Pentz es versäumt, sich mit dieser ebenso realen, politisch-realen, wenn auch gespenstischen und illusionären Kehrseite seiner Argumentation auseinanderzusetzen.

2. Mike Pentz benutzt die Gelegenheit, um noch einmal eindringlich klar zu machen, daß es keine technischen Verteidigungs- oder Schutzmittel gegen nukleare Schläge gibt: Die quantitativen und qualitativen Merkmale der freigesetzten Energie bei Kernexplosionen und die Geschwindigkeit der ballistischen Raketen machen Zivilschutz-programme und Antiraketenprogramme über dem Zielgebiet zu einer Absurdität oder jedenfalls zu einer äußerst aufwendigen Angelegenheit, die nur wenige Objekte und wenige Menschen schützen kann. Präventive Maßnahmen wie die Beschädigung der gegnerischen Raketen unmittelbar nach dem Start durch Laserwaffen von Satelliten aus oder gar ihre vorbeugende Zerstörung in ihren Silos und auf ihren Unterseebooten sind technisch auch nicht vollständig möglich, wie wir in Übereinstimmung mit Pentz 1 schon gesehen haben, und damit in Anbetracht des ungeheuren Vernichtungspotentials auch nur weniger unversehrter Raketen irrelevant für Schutz und Verteidigung.

Damit hat Mike Pentz Recht, daß im technischen Sinn die eingeleiteten sowjetischen Gegenmaßnahmen – Stationierung operativ-taktischer Raketenverbände in der DDR und in der CSSR – keinen Beitrag zu einer erhöhten sowjetischen „Verteidigungsbereitschaft“ leisten. Sie verstärken auch nicht wesentlich die sowjetische Vergeltungsfähigkeit, gar nicht im Verhältnis zu den USA und kaum im Verhältnis zu den westeuropäischen Stationierungsländern der Cruise Missiles und Pershing II, denen auch ohne die neuen sowjetischen Gegenmaßnahmen die sichere Vernichtung droht, wenn von ihnen ein atomarer Angriff gegen die Sowjetunion oder ihre Verbündeten vorgetragen wird.

Nun hat der Begriff „Verteidigung“ aber nicht nur eine physikalisch-technische Seite, sondern auch eine politische, wonach nämlich internationale Verhandlungen und Abkommen, die zu Rüstungsbegrenzung und Abrüstung führen, in letzter Instanz die einzigen wirksamen Verteidigungs- und Schutzmittel gegen eine nukleare Bedrohung darstellen. Danach muß jede militärische Maßnahme, jeder konkrete Rüstungs- und Abrüstungsschritt unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob dadurch ein internationales Abkommen erleichtert oder erschwert wird. Das wollen wir in den folgenden Punkten näher untersuchen.

3. Die nächste wichtige Feststellung von Pentz ist, daß die Begriffe „Gleichheit“ und „Parität“ bei Kernwaffen keine militärische Bedeutung haben. Tatsächlich sind sie auch für die konventionelle Kriegführung bedeutungslos, ein Umstand, mit dem Clausewitz sich schon unter dem Begriff „Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und von ungleicher Stärke“2 auseinandergesetzt hat. Der Angriff unterscheidet sich von der Verteidigung nicht nur durch „das positive Motiv, welches jener hat und diese entbehrt“, sondern vor allem durch sein Ziel, „die Niederwerfung des Gegners“, im Unterschied zum Ziel der Verteidigung, dem „Abwehren des Angriffs“. Gleichstand, d. h. für den Angreifer die Aussicht, einen Krieg zu gewinnen, und für den Verteidiger die Aussicht, angegriffen zu werden, besteht nach Clausewitz nur bei einem erheblichen Übergewicht des Angreifers, wobei das zeitliche Moment eine große Rolle spielen kann, wie das Blitzkrieg-Konzept im zweiten Weltkrieg bestätigt hat.

Verschiedentlich ist nun eingewendet worden, daß für Kernwaffen ein umgekehrtes Verhältnis gelte. Die Überlegenheit der konventionellen Verteidigung sei von der Überlegenheit des nuklearen Aggressors abgelöst worden: „Launch them or loose them“ – das sei die logische Konsequenz der MIRV-Technologie und der effektiven Methoden der Terminalsteuerung, die einer Rakete des Angreifers die Fähigkeit verleihen, mehrere Raketen des Gegners zu vernichten. In Wirklichkeit ändert das aber nichts an der weiterhin bestehenden, ja in Anwesenheit von Kernwaffen vielfach verstärkten Überlegenheit der Verteidigung, die für die Erreichung ihres Ziels, den Angriff durch Abschreckung abzuwehren, nur eine bescheidene Anzahl ihrer Atomraketen durch einen ersten Schlag bringen muß, während der Angreifer den Gegner niederwerfen, ihn entwaffnen muß – und das auf einen Schlag, weil sonst der Erfolg nach (1.) zu teuer bezahlt wird: „Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferungen bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen … Sobald also der Kraftaufwand (und der voraussehbare eigene Schaden, BB/IMJ) so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.“3

Hier erscheinen nun aber mehrere subjektive Größen: der „Wert des politischen Zwecks“ und die „Größe der Aufopferungen“. Nach unserer eigenen subjektiven Einschätzung gibt es keine politischen Zwecke, deren Durchsetzung es wert wäre, die Existenz von Zivilisation und nackter menschlicher Existenz aufs Spiel zu setzen. Aber diese Einschätzung wird nicht von allen geteilt. Was also muß derjenige machen, der einen Angriff befürchtet? Er muß den „Wert des politischen Zwecks“ durch politische Zugeständnisse herabsetzen, z. B. durch Verzicht der Sowjetunion auf die angekündigten „Gegenmaßnahmen“, oder die „Größe der Aufopferungen“ des Angreifers heraufsetzen, z. B. durch die Durchführung dieser Gegenmaßnahmen. Soweit stehen also Verzicht und Durchführung der Gegenmaßnahmen noch auf einer Stufe.

In (2.) hatten wir aber gefunden, daß alle militärischen Maßnahmen im Atomzeitalter unter dem Gesichtspunkt bewertet werden müssen, ob sie bessere oder schlechtere Voraussetzungen für Begrenzungs- oder Abrüstungsverhandlungen schaffen. Wir können das jetzt präzisieren 4 : Das alte humanitäre Kriegsvölkerrecht, das souveränen Staaten das Recht zur Kriegführung zugestand und nur auf die Verhütung unnötiger Leiden für Offiziere, Mannschaften und Zivilbevölkerung sah, ist, solange die Bedrohung durch Kernwaffen weiterbesteht, praktisch ohne Relevanz. Die von vielen Völkerrechtlern geteilte Auffassung, daß die Anwendung der operativ-taktischen Kernwaffenverbände in der DDR und der CSSR ebenso gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würde, wie jeder andere Einsatz von Kernwaffen, hat deshalb keine große Bedeutung.5 Aber auch das der Bildung der UNO zugrunde liegende, aus der Erfahrung zweier Weltkriege abgeleitete neue völkerrechtliche Prinzip der aktiven Kriegsverhinderung, Kriegsächtung und allgemeiner kontrollierter Abrüstung ist heute angesichts des fortwährenden Wettrüstens überholt. Die Feststellung, daß die angekündigten Gegenmaßnahmen der Sowjetunion dieses völkerrechtliche Prinzip weiter abschwächen, bringt uns auch nicht weiter. Als einziges übergeordnetes völkerrechtliches Prinzip bleibt demnach nur das von Pentz herabgesetzte Prinzip der „Gleichheit und gleichen Sicherheit“ zwischen den beiden nuklearen Hauptmächten USA und UdSSR und ihren Verbündeten. Diese Formel bedeutet bekanntlich nicht unbedingt Gleichheit bei allen Mannschaftsstärken und Waffentypen, sondern drückt in erster Linie eine objektive historische Lage aus, nämlich die gegenseitig gesicherte Vernichtung in einem Atomkrieg (Mutual Assured Destruction = MAD) und die Anerkennung, daß eine Erhöhung der eigenen Sicherheit, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung nur auf dem Weg gleichberechtigter Verhandlungen und nicht durch Erpressung, Drohung oder Gewalt erreicht werden kann. Das Prinzip der Gleichheit und gleichen Sicherheit gibt keine absolute Garantie gegen einen Atomkrieg und führt nicht automatisch zu einer Beendigung des Wettrüstens und zur Abrüstung, aber es ist für uns die einzige Hoffnung, so lange es Kernwaffen in den militärischen Beständen gibt.

In diesem Sinn der Bewahrung der Terrorbalance findet das militärtechnisch tatsächlich bedeutungslose Konzept der Gleichheit seine militärpolitische Bedeutung. Der Begriff der „gleichen Sicherheit“ erweist sich damit als grundlegend für die internationalen Beziehungen im Zeitalter der Kernwaffen. Das Bewußtsein, daß Sicherheit – und Bedrohung – unteilbar sind, muß festgehalten werden.

– Durch Pershing II und Cruise Missiles wird die Sicherheit der Sowjetunion herabgesetzt. Das zu akzeptieren, ohne durch Aufstellung ähnlicher Mittel nun auch die Sicherheit der USA oder ihrer westeuropäischen Verbündeten zu verringern, würde den Frieden auch nicht sicherer machen, während die gezielte Verringerung unserer Sicherheit durch die sowjetischen Gegenmaßnahmen immerhin eine Aussicht auf die Wiederaufnahme der Genfer Verhandlungen eröffnet mit dem Ziel, sowohl die neuen sowjetischen Raketenverbände in der DDR und CSSR wie auch die Pershing II und Cruise Missiles aus Europa zu entfernen. Wer auf gleichberechtigte Verhandlungen als letztlich einziges reales Mittel der Atomkriegsverhütung setzt, muß für die Bewahrung einer ungefähren Parität in den nuklearen Angriffsmitteln eintreten, weil nun einmal Gleichheit und gleiche Interessenlage zu den Bedingungen für erfolgreiche Verhandlungen gehören, so unsinnig das Bestehen auf Parität auch vom rein militärtechnischen Standpunkt aus ist, worin Pentz ja Recht hat.

4. Schließlich muß man Pentz auch zustimmen, wenn er feststellt, daß mit jeder neuen Runde im nuklearen Wettrüsten die Sicherheit beider Seiten, der USA wie der UdSSR, weiter herabgesetzt wird und daß die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch des nuklearen Infernos wächst. Das ist richtig und drückt die Schwäche der Friedensbewegung und die Schwäche der Sowjetunion und ihrer Verbündeten aus, daß es weder denen noch uns bisher gelungen ist, z. B. die von vielen Millionen Menschen in den USA und von einer großen Mehrzahl von Mitgliedsländern der UNO unterstützte „Freeze“-Forderung durchzusetzen.

Die UdSSR und ihre Verbündeten sind in einer Wahlsituation, in einem Dilemma. einerseits weiß die Führungsgruppe der Sowjetunion sicherlich, daß „genug ist genug“. Andererseits muß sie die Möglichkeit stabilisierender Wirkungen ihrer Sicherheitspolitik aufrecht erhalten. Das bedeutet, daß man die Unterschiede zwischen der sicherheitspolitischen Lage der Friedensbewegung im Westen und der sicherheitspolitischen Lage der UdSSR, ihrer Verbündeten und ihrer Bevölkerungen beachten muß:

Erstens ist das Bedrohungsniveau unterschiedlich. Die UdSSR und ihre Verbündeten werden unmittelbar von den waffentechnologischen Erneuerungen bedroht. Die Bevölkerung der westlichen Länder und hierunter die Friedensbewegung wird nur von eventuellen Folgewirkungen und Gegenmaßnahmen bedroht; das heißt, sie ist höchstens mittelbar bedroht.

Zweitens sind auch die Wirkungsmöglichkeiten unterschiedlich. Die Friedensbewegung im Westen hat einen unmittelbaren, aber trotzdem bisher noch nicht genügenden Einfluß auf das gesamte Rüstungsniveau im Westen. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten haben dagegen nur einen mittelbaren Einfluß durch eine konzertierte Aktion von Verhandlungen und Gegenmaßnahmen.

Im Lichte der historischen Erfahrung, daß die Friedensbewegung im Westen – trotz ihrer Größe und unmittelbaren Wirkungsmöglichkeit – noch nicht die Stärke errungen hat, einen wesentlichen Einfluß auf das Rüstungsniveau im Westen auszuüben, halten wir es für zweifelhaft, ob die SU und ihre Verbündeten ihre einzige, mittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf das totale Rüstungsniveau im Westen wesentlich abschwächen können. Die wesentliche Frage, die die westliche Friedensbewegung an die SU und ihre Verbündeten unseres Erachtens stellen könnte, ist eigentlich nur, wie lange die Sowjetunion den Abschluß ihrer notwendigen und legitimen Gegenmaßnahmen hinausschieben und auf welche Weise sie diese ausführen und umkehrbar halten kann, damit die westliche Friedensbewegung eine weitere Chance bekommt, Einfluß zu üben.

Wenn wir in dieser Weise Unterschiede in der Interessenlage der Friedensbewegung im Westen und des Warschauer Paktes herausarbeiten, gehen wir auch davon ausübt daß die Stabilität der sicherheitspolitischen Doktrinen des Warschauer Paktes in der jetzigen Lage auch ein notwendiger Bestandteil der relativen Sicherheit der nuklearen Abschreckung ist und daß deshalb die eventuellen Gegenmaßnahmen notwendig sind, auch wenn sie zusammen mit den US-amerikanischen Erneuerungen eine insgesamt geringere Sicherheit ergeben.

Anmerkungen

1 P. Ehrlich et al., Long-term biological consequences of nuclear war, Science 222, S. 1293-1300 (23.12.1983) Zurück

2 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Jubiläumsausgabe, Dümmlers Verlag, Bonn 1980, S. 204; vgl. auch S. 613-862.Zurück

3 Ibidem, S. 217 Zurück

4 Vgl. B. Booss, Vabenteknologi og folhetet, vervielfältigt, Roskilde 1983; N. Pasch und G. Stuby (Hrsg.), Juristen gegen Kriegsgefahr in Europa-Protokoll einer internationalen Konferenz, Theurer Verlag, Köln 1983.Zurück

5 Das humanitäre Völkerrecht regelt die Führung des Krieges, nicht aber seine Zielsetzung. Das bedeutet nach Meinung verschiedener Völkerrechtler, daß nur die militärisch unnötigen Kriegshandlungen, die Exzesse verboten werden können, während Kriegshandlungen, die unmittelbar dem Kriegsziel dienen, im Geiste des grundsätzlich den Krieg anerkennenden humanitären Kriegsvölkerrechts legal sein können. Z. B. wurden und werden die vorsätzlichen Zivilbombardements während des 2. Weltkriegs, die zur Niederwerfung des Gegners seine Industriezentren und die Moral seiner Bevölkerung zerstören sollten, als legal angesehen; siehe 1. M. Jarvad, Völkerrecht und Verhinderung eines Nuklearkrieges, Wissenschaftliche Welt 27, 4 (1983), S. 12-16. Zurück

Bernhelm Booss und Ib Matin Jarvad sind außerplanmäßige Professoren am Universitätscenter Roskilde (Dänemark).

Logik der Abschreckung – eine Kritik

Logik der Abschreckung – eine Kritik

von Peter Furth

Die atomare Drohung ist spätestens seit 1945, seit Hiroshima und Nagasaki, in der Welt, Strategie und Mechanismus der Abschreckung seit 1949, seitdem auch die Sowjetunion über Atombomben verfügt. Das usprüngliche Konzept der Abschreckung war verteidigungsorientiert, Drohung wurde als Vergeltung verstanden. Die Abschreckung sollte darauf beruhen, daß Drohung und Gegendrohung, Angriffs- und Vergeltungsschlag ebenbürtig waren, daß die den ersten Schlag auslösende Seite über den Erwiderungsschlag mit der Selbstvernichtung rechnen mußte. Damit schien eine Schwelle in der Geschichte der Menschheit erreicht, eine Wende im Verhältnis von Krieg und Politik. Es war die vorherrschende Meinung, daß der Krieg kein (beherrschbares) Mittel der Politik mehr sein könnte. Es schien so, als müßte das, was bis dahin Politik hieß, neu bestimmt werden, weil die Politik nicht mehr die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden hatte. Aber diese Einsicht war nur stabil auf der Grundlage gegenseitig garantierter Vernichtung, sie blieb damit bestimmt durch das von ihr Negierte, den Krieg.

Von vorneherein müssen wir einen Widerspruch im Abschreckungskonzept, schon in dem der massiven Vergeltung, wahrnehmen, der weitertrieb und wohl nicht stillzustellen ist. Die Abwendung von der Geschichte als ständigem Übergang zwischen Krieg und Frieden kann sich im Rahmen der Abschreckungskonzeption nur in Formen und mit Mitteln dieser zu verlassenden Geschichte vollziehen. Der Frieden durch Abschreckung ist ein Krieg in effigie. Der Krieg muß reale Möglichkeit bleiben, damit die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden durch die Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens ersetzt wird. Ein solches Konzept nimmt sich realistisch aus und ist doch wohl utopisch; denn vergessen wir nicht: Es muß um den Preis der Katastrophe auf Dauer, man kann sagen ewig gelten.

Diese Inkonsistenz der anfänglichen Abschreckungskonzeption ist sehr früh in der Form eines strategischen Problems erkannt worden. Der Krieg hat ja als Androhung auf der Ebene der massiven Vergeltung gerade wegen der unbegrenzbaren Folgen nur begrenzte Abschreckungswirkung. Die Glaubwürdigkeit von Drohung und Gegendrohung bleibt gerade solange zweifelhaft, wie die Drohung der Vernichtung zugleich die Drohung der Selbstvernichtung ist. Der Strategieforscher Herman Kahn faßte das Problem lakonisch zusammen: Mit dem Selbstmord ist nicht zu drohen. Als Konsequenz aus diesem Dilemma ergibt sich: Es muß möglich sein, einen Krieg zu führen, um mit ihm drohen zu können. Und man muß chancenreich mit ihm drohen können, um nicht genötigt zu werden, ihn zu führen oder die Kapitulation zu erleiden. Unter dieser Perspektive mußte die Strategie der Abschreckung gegenseitig garantierter Zerstörung verbessert, wenn man so will, verlassen werden.

Worin liegt der tiefere Grund für das eben in der Sprache der Strategie formulierte Problem? Die Unmöglichkeit des Krieges der massiven Vergeltung bedeutete offenbar nicht das Ende einer Politik, die ihr Wesen im Krieg als Entscheidungsmittel hat. Schon der Terminus Abschreckung und die Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden, zeigen das. Er ist von unverwüstlicher Plausibilität, wie die unüberwundene Naturgeschichte der Politik, der Politik, die ihre oberste Norm in der Souveränität hat, die letztlich nur als Freiheit im Gebrauch von Gewalt nach innen und nach außen bestimmt werden kann. Für eine solche Politik werden gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen nicht als eine Realität sui generis erfahrbar. Sie werden vielmehr in die Perspektive der Machtmehrung oder Machtminderung in einem dualen System von Freund und Feind gepreßt und der Regulierung durch zwischenstaatliche Gewaltandrohung oder Anwendung unterworfen. In diesem Modell von Souveränitätspolitik (in Reingestalt realisiert in der europäischen Staatenwelt der Neuzeit) beruhte Abschreckung auf dem ständig vollzogenen und vollziehbaren Übergang von Frieden zu Krieg und umgekehrt. Dieser Übergang kann unter atomaren Bedingungen nicht mehr sein und hat doch immer noch irgendeine Geltung.

Machen wir uns klar, wie dieser Widerspruch sich äußert, wohin er treibt. Denn hier liegt das Unheimliche, weil eigentlich Irreale am atomaren Abschreckungsfrieden. Dafür müssen wir ohne jede moralische Arroganz den ausgezeichneten Bezug des Krieges zur Wirklichkeit ins Auge fassen.

Der Krieg ist offenbar in einer Welt, in der. die menschliche Gattung nur Gegenstand des Nachdenkens, bestenfalls imaginiertes Subjekt des Denkens, aber nicht in irgendeiner Form Subjekt des Handelns ist, so unüberschreitbar wie die Wirklichkeit selbst. In Verhältnissen, wo Gegensätze antagonistisch aufeinandertreffen, also ohne Bezug auf ein gemeinsames oder überlegenes Drittes, ist der Krieg unersetzbare Entscheidungsinstanz; in Erinnerung an Clausewitz gesagt: „äußerste Wirklichkeit“.

Der kriegerische Apparat soll im Abschreckungssystem durch sein bloßes Vorhandensein, als anwendbarer, d. h. im Status der Möglichkeit, bewirken, was bislang nur durch den Krieg, den wirklichen Kampf, erreicht werden sollte und konnte: die Herstellung eines eindeutigen und auf absehbare Zeit irreversiblen Zustands, in dem die Wirklichkeit gewissermaßen die Form des kategorischen Urteils hat, weil sie als Resultat eines Messens (genauer: eines Sich-selbst-Messens) entgegengesetzter Kräfte nicht nur ist, sondern auch gilt.

Unter den Bedingungen der endgültigen Abschreckung soll nun die Rüstung, was sie einstmals ermöglichen sollte, das wirkliche (sich selbst) Messen der Kräfte, von sich aus leisten. Sie hat damit die Funktion eines symbolischen Krieges: Krieg als das Berechnen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Das Resultat kann nur hypothetisch gelten, soll aber kategorische Bedeutung haben. Es geht immer noch um Entscheidung, sie soll aber ohne ihren Vollzug entschieden werden. Das heißt, es muß im Abschreckungsfrieden so erbittert und rücksichtslos gerüstet werden, wie sonst im Krieg gekämpft wurde. So hypothetisch das Anhäufen von Vernichtungsmöglichkeiten bleibt, so kategorisch muß es betrieben werden. Dieser Charakter des Abschreckungsfriedens zeigt sich an der Norm, die ihn garantieren soll: dem Gleichgewicht der Kräfte. Es entzieht sich jeder Festlegung und bedeutet die gegenseitige Provokation der Rüstungssteigerung. Die Rüstung, die Entscheidungsfunktion haben soll wie der kriegerische Kampf selber, kann nicht das Gleichgewicht als Ziel anstreben. Sie muß auf Überlegenheit zielen, das Gleichgewicht kann dabei als Nebenfolge faktisch resultieren – ein Nebenprodukt, das aber als Hauptprodukt fungieren soll! Rüstung ist nicht an sich Abschreckungsrüstung, sondern sie ist erst als Überlegenheitsrüstung Abschreckungsrüstung. Aber Überlegenheit ist auch unter atomaren Bedingungen keine Angelegenheit des Probabilismus, deswegen ist es nur schwer vorstellbar, daß angestrebte und vermutete Überlegenheit nicht schließlich durch Krieg realisiert werden wird.

Die Angriffsdrohung des Eskalationskonzepts

Diese Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit, in der die Möglichkeit Wirklichkeitsbedeutung haben soll, die Wirklichkeit der Möglichkeit aber nicht sein darf, war von vornherein verantwortlich für eine Dynamik, die die starre Symmetrie der globalen Vergeltungsstrategie sprengte und ihren Umbau zu einem umfassenden und lückenlosen Eskalationssystem der „flexible response“ erzwang. Als die Eskalation als taktische Wendung in die Abschreckungsstrategie eingeführt und schließlich zu einem ihrer Schlüsselbegriffe wurde, erregte das keine durchschlagende Beunruhigung, wie es eigentlich hätte sein müssen. Mit der Eskalation schien (und scheint den meisten auch heute noch) ein Mittel gefunden, das die Abschreckung auf allen Stufen zu einem System der Gegenseitigkeit macht. Durch die Einführung der Eskalation wurde die Abschreckung glaubhaft, als wäre sie nach dem Muster sprachlicher Verständigung gewirkt – wie eine Bestätigung für die Gegenseitigkeitsphilosophie der Kommunikationstheorie. Dabei ist der Sinn der Eskalation, die Gegenseitigkeit zu relativieren, wenn nicht aufzuheben.

Eine einfache Überlegung führt auf die Spur. Die Doktrin und die Praxis der Eskalation wurden entwickelt für den Abschreckungsbereich unterhalb der gegenseitigen Vernichtung, d.h. für denjenigen Bereich, in dem es überhaupt noch ein „Mehr“ und eine Asymmetrie der Drohung und Risikobereitschaft geben kann gegenüber der Risikogleichheit und Drohungssymmetrie der globalen Vergeltung. Und die Frage ist: Soll die Eskalation diese Asymmetrie aufheben oder zur strategischen Chance ausbauen?

Die Eskalation ist durch und durch janusköpfig, doppelgesichtig; aber an welches ihrer Gesichter halten wir uns? Einerseits ist die Eskalation an die Fesselung des Krieges, seine Reduzierung auf bloße Möglichkeit gebunden, und andererseits hebt sie diese Fesselung auf, bezieht sich auf den Krieg als Wirklichkeit. Denn sie soll einerseits den Übergang der globalen Vergeltungsdrohung in die Vernichtungswirklichkeit verhindern. Das soll sie aber gerade dadurch, daß sie andererseits das Messen der Kräfte auf den unteren Stufen der Abschreckung durch den wirklichen Krieg ermöglicht.

Wird die Eskalation konsequent wechselseitig gedacht, als ein Prozeß sich überbietender Aktionen und Reaktionen, so führt sie rasch durch alle Stufen hin zur gegenseitig vernichtenden Vergeltung – hebt sich also selbst auf. Das aber kann nicht ihr ausschlaggebender Sinn sein.

Schauen wir auf etwas an der Eskalation, das wie Gegenseitigkeit aussieht, primär aber Einseitigkeit ist. Dann zeigt sich uns der wahre, jedenfalls der überwiegende Sinn der Eskalation. Die Eskalation ist eine einseitig unternommene Drohung oder Aktion, die das Selbstgefährdungsrisiko des antwortenden Gegners anhebt. Und was entscheidend ist: Sie wird von der Erwartung geleitet, daß sie eine Schwelle setzt, die der Gegner selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin nicht überschreitet. Hält die Gegenseite diese Erwartung ein, dann sieht es so aus, als sei die Gegenseitigkeit der Abschreckung wieder hergestellt. Das ist aber nur Schein. In Wirklichkeit führt die Eskalation in einem solchen Fall, wenn auch nicht zum unbedingten Sieg der einen und zur Niederlage der anderen Seite, so doch zu einem Überlegenheitsgefälle, das wie alles in diesem symbolischen Krieg der Abschreckungsdrohungen einen nur schwer bestimmbaren Status zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hat. Und es ist durchaus vorstellbar, daß es zu einer Akkumulation solcher „Eskalationsniederlagen“ im Prozeß der Drohungen und der Drohungssteigerungen kommt, die – eine Katastrophenreaktion ausgeschlossen – irreversible Folgen für eine Seite haben könnte.

Um der Glaubwürdigkeit der Abschreckung willen bedeutet Eskalation also einen Oberschuß in der Drohung, eine einseitig angestrebte und einseitig festzuhaltende Disproportionalität im Verhältnis der Waffenpotentiale und ihrer Anwendungsdrohung. Die Einführung der Eskalation in die Abschreckungsbalance hat den Vergeltungssinn der Drohung zugunsten des Angriffssinns der Drohung verdrängt. Wie irrational und vorsätzlich unkontrollierbar die Abschreckung dadurch wird, sieht man daran: Eskalation als die Herbeiführung und Nutzung von Asymmetrie kann nicht sein ohne die relative Blindheit (die Selbstverblendung) für die notwendige Bereitschaft der Gegenseite, die Ebene der Gegendrohungen zu erhöhen und auch selber die Eskalierungsinitiative zu ergreifen. In einem Eskalationssystem kann man offenbar nur dann glaubwürdig abschrecken, wenn man sich selber gegen die Abschreckung immunisiert. Die strategischen Analytiker formulieren das auf ihre Weise. In ihren Augen ist die Grundlage eskalierender Abschreckung eine Bereitschaft, die sie „risk taking“ nennen, und schlagen deshalb die bewußte Einnahme eines irrationalen Standpunktes vor, weil ohne ihn die Steigerung der Risikobereitschaft nicht glaubhaft würde. (Beaufre)

Eskalation und Erstschlag

Ich meine, an der Eskalation tritt das Wesen des Abschreckungssystems, in dem wir heute leben, hervor. Die Eskalation ist Indiz und Mechanismus einer Strategie und Rüstung der Überlegenheit. Das große Ziel dieser Strategie und dieser Rüstung ist vorgeschoben. Es muß in der Aufhebung der gegnerischen Vergeltungskapazität bestehen. Erforderlich ist dafür die Fähigkeit, die den ominösen „Erstschlag“ bekommen hat. Und Erstschlag meint erster und einziger Schlag, also ein Schlag, der den zweiten, den Erwiderungsschlag unmöglich macht. In Perfektion gedacht, betrifft das natürlich die Ebene des Krieges, auf der die gegenseitige Vernichtung droht. Sicher, dieses Ziel ist heute und demnächst wohl noch nicht erreichbar, die Entwicklung dahin aber doch schon klar erkennbar. Die letzten Eskalationen beruhen alle auf Waffen und Strategiekonzepten, der sogenannten „counter force“, die ihr Wesen nicht in der reaktiven Vergeltungsdrohung, sondern in der präventiven Zerstörung der gegnerischen Verteidigungsfähigkeit haben.

Clausewitz Bestimmung des wesensmäßigen Kriegsziels, Wehrlosmachung des Gegners, scheint wieder möglich, der Krieg scheint wieder eingesetzt in sein altes Recht, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel zu sein. In den Termini der Abschreckungsdoktrin gesagt: Die Strategie der gegenseitigen Vergeltung hat sich in die Strategie der einseitig vorbeugenden Gegenvergeltung verwandelt.

Wir gelangen zu einem Ergebnis, das paradox anmutet. Die Möglichkeit einer endzeitlichen Katastrophe besteht weiterhin und ist uns wohl auch näher gerückt. Aber die Furcht vor ihr ist inzwischen durch eine andere Art der Wahrnehmung überlagert. Die Blendung, die von der Apokalypseerwartung ausging, nimmt ab. An Stelle der Nivellierung von Opfern und Tätern im gleichen Untergang tritt ihre Unterscheidung wieder hervor. Mit dem Versuch einer Rückkehr zu strategischen Konstellationen aus dem voratomaren Verhältnis von Krieg und Frieden wird die ungleiche Verteilung von Überlebenshoffnung und Untergangswahrscheinlichkeit erkennbar. Die regionale Begrenzung des atomaren Risikos macht die Heuchelei in der Gleichsetzung von Verteidigung und atomarer Abschreckung sinnfällig. So wird vor dem Hintergrund des möglichen allgemeinen Infernos ein an überschaubaren Bereichen orientiertes konkretes Friedensengagement wieder lebendig und vielleicht auch organisationsfähig. Der erkennbare Unterschied zwischen Geisel und Geiselnehmer schafft vielleicht noch einmal die Chance einer alternativen demokratischen Friedenspolitik.

Dr. Peter Furth ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.