„Ich sähe es nicht gern, wenn die Leute das wüßten.“

„Ich sähe es nicht gern, wenn die Leute das wüßten.“

Atomwaffen unterwegs

von Otfried Nassauer

Nuklearwaffen sind in der Bundesrepublik und im Hunsrück bekanntlich keine Rarität. Ob auf der Air Base Hahn, wo Experten 150 Atomwaffen vermuten, ob in Hasselbach, wo zumindest 96 Sprengköpfe eingelagert werden sollen, ob zwischen Kriegsfeld und Guterbacherhof (südwestlich von Bad Kreuznach) versteckt im Wald auf dem Höhenrücken, wo die US-Army ein Nuklearwaffendepot, das zu den größeren in der Bundesrepublik gehört, unterhält, oder ob an verschiedenen Flugplätzen in der Eifel – Atomwaffen gehören im Hunsrück wie in anderen Teilen der Bundesrepublik zum militärischen Alltag.1

Nuklearwaffen müssen aber auch transportiert werden. Sie müssen zur Lagerung in die Bundesrepublik gebracht werden, alte Waffen müssen abtransportiert und durch neue ersetzt werden, Sprengköpfe, die vor Ort nicht reparabel sind, müssen zur Instandsetzung gebracht werden, Nuklearwaffenlager, an denen größere Bauarbeiten durchgeführt werden sollen, müssen aus Sicherheitsgründen zwischenzeitlich geräumt werden.2 Auch wenn Atomwaffen nicht gerade zu Übungszwecken durch die Landschaft gefahren werden Für diesen Zweck tun's auch Attrappen) und wenn der Transport „sich auf das erforderliche Mindestmaß“ beschränkt, 3 ist es leicht einsichtig, daß eine große Zahl von Transporten erforderlich ist. Einige konkrete Beispiele: Die Sprengköpfe der alten Nike-Herkules-Raketenbatterie in Hasselbach mußten entfernt werden. Auf dem Gelände entsteht heute die Cruise Missile Basis, zu der zumindest 96 Atomsprengköpfe gebracht werden müssen. In Kriegsfeld, wo u. a. atomare Artilleriemunition des Kalibers 203 mm eingelagert ist, muß gegenwärtig ein alter Sprengsatz gegen einen neuen Typ (W 79) ausgetauscht werden.4 Zukünftig wird auch die alte Atomgranate 155mm durch eine neue (W 82) ersetzt. Die neue Munition hat eine sicherere Konstruktion und – vor allem – sie ist durch ein sogenanntes Tritium-Teil in eine Waffe mit ähnlicher Wirkung wie die Neutronenbombe umbaubar.5 Auch auf dem Flugplatz Hahn fanden und finden nukleare „Modernisierungen“ statt. Die Bestände an B-43 und B-57-Bomben werden gegen B-61 und B-83-Bomben ausgetauscht zukünftig werden atomare Abstandsflugkörper eingeführt.6 Die nukleare Rundumerneuerung der US-Atomwaffen, die den kaum bekannten zweiten Teil des NATO-Beschlusses von Montebello darstellt, 7 soll zu einer Stärkung der nuklearen Einsatzkraft der NATO bei gleichzeitiger 'Rationalisierung' der Lagerbestände führen.

Trotz der relativen Häufigkeit der Transporte ist über ihren Ablauf und die damit verbundenen Gefahren wenig bis gar nichts bekannt. Dies hat seinen Grund darin, daß Lagerung und Transport atomarer Waffen zu den besser gehüteten Geheimnissen der NATO gehören. Sicherheitsfragen haben die US-Army alarmiert: In geheimen Scheinmanövern gelang es z.B. 5-8 Mann starken Teams der Special Forces der US-Army, ein Nuklearwaffenlager zu überfallen die Wachen zu überwältigen und binnen 30 Minuten einer Nuklearwaffe habhaft zu werden.8 Bei Transporten hält man die Gefahr für größer. Der ehemalige Kommandeur der bei der US-Army Europa zuständigen Einheit für den Atomwaffennachschub, der 59. Feldzeugbrigade in Pirmasens, Kelly, meinte deshalb zu einem Journalisten: „Ich würde nicht gerne in der Presse nachlesen, wie wir Atomwaffen transportieren. Ich sähe es nicht gerne, wenn die Leute das wüßten.“9 Terroristenangst und der Wunsch nach einer nicht beunruhigten Bevölkerung in der Umgebung von Atomwaffenlagern greifen Hand in Hand bei solch restriktiver Öffentlichkeitsarbeit. Wer die Aussage von US-Kommandeur Kelly finden will, muß schon den „Honolulu Sunday Star Bulletin and Adviser“ lesen.

Die Nachschuborganisation für Nuklearwaffen

Über das Atomwaffennachschubsystem der US-Luftwaffe, die für die Hahn Air Base und die Cruise Missiles in Hasselbach zuständig ist, ist nur wenig bekannt. Das Military Air Lift Command der US-Air Force, zuständig für den Luftnachschubtransport, dürfte besonders ausgebildete Flugcrews für den Atomwaffentransport haben. Sie bringen die Atomwaffen mit C-141-Starlifter oder C-5-Galaxy-Transportmaschinen über den Atlantik. Entweder werden die Waffen nach Ramstein eingeflogen und von dort weiter verteilt. Oder aber die Transporter landen gleich auf den Bestimmungsflugplätzen.

Innerhalb Europas ist für den Weiterflug Falls erforderlich) die 322. Air Lift Division mit Sitz in Ramstein zuständig, die aber auch auf der Frankfurter Rhein Main Air Base durch eine unterstellte Einheit, die 37. Tactical Air Lift Squadron, vertreten ist.10

Auf dem Bestimmungsflughafen sind dann sogenannte Munition Support Squadrons für die Nuklearwaffen zuständig. 11 „Das Nachschubsystem der US-Luftwaffe für Nuklearwaffen ist auch deshalb relativ unbekannt, weil sich fast alle Aktivitäten auf dem Flugplatz selbst abspielen. Sollten Transporte außerhalb des Flugplatzes, z.B. im Spannungsfall der Antransport der Munition aus dem nahegelegenen Depot erforderlich sein, so gilt für den erforderlichen Fahrzeugkonvoi, daß er so unscheinbar und normal wie möglich aussehen soll, d.h. die Fahrzeuge dürfen nicht gekennzeichnet werden. Ein Hubschrauber soll den Vorgang aus der Luft überwachen.12

Bei der US-Army steht der Nuklearwaffennachschub in ganz Westeuropa unter Kontrolle der 59. Ordnance (Feldzug) Brigade mit Hauptquartier in Pirmasens. Hier ist über die Verfahrensweise erheblich mehr bekannt. Für Artilleriemunition unterhält das US-Heer in der Bundesrepublik 13 Atomwaffenlager, je zwei für die beiden US Corps und je eines für die Corps der Verbündeten bzw. die Einheiten in Schleswig Holstein. Das wichtigste und größte Depot ist Miesau bei Ramstein – von hier aus werden die Waffen an die Corpslager weiterverteilt. Hinzu kommen Lager für die Atommunition für Pershings, die Lance-Raketen und soweit noch vorhanden die Nike-Herkules-Raketen (Buren bei Paderborn).13

Einige Feldzeugkompanien der 59. Ordnance Brigade sind für Atomwaffenlager zuständig, andere aber auch z. B. für den Nachschub an Lenkraketen oder für chemische Waffen. Es handelt sich übrigens um die größte selbständige US-Brigade in Europa. Eine weitere Aufgabe der US-Soldaten in Pirmasens ist es, die Bewachungsmannschaften (Custodial-Detachments US-Army Artillery Groups bzw. Artillerie Detachments genannt) für Nuklearwaffen bei den anderen NATO-Streitkräften zu stellen. In Pirmasens selbst ist auch die PAL-Abteilung der Brigade ansässig. Sie reist jährlich über 100.000 Meilen durch Europa, um die Atomwaffeneinheiten der US-Army mit den Sicherheitscodes und mit Service für die Codierungseinrichtungen an den Waffen zu versorgen (PAL heißt Permissive Action Link). Angesichts solcher Reisetätigkeit wundert es nicht, daß die Brigade in Pirmasens ihren eigenen Hubschrauberverband hat, das 22. Aviation Detachment. 14

Nicht direkt auf dem Hunsrück, sondern südwestlich von Bad Kreuznach, liegt das einzige wichtige Atomwaffenlager der US-Army in der Region. Im Wald des Dreiecks Kriegsfeld, Gerbach und Oberhausen liegt das Depot Northpoint, hier ist die 619. Feldzeugkompanie zuständig.

Werden Atomwaffen der US-Army in Friedenszeiten transportiert, so geschieht dies zumeist über Hubschrauber auf dem Luftweg, nicht wie oft irrig angenommen über Straßen. Atomsprengköpfe werden „im Frieden nicht im öffentlichen Straßenverkehr transportiert“, stellt der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Würzbach, am 13.6.1985 im Bundestag zurecht fest.

Nuklearwaffentransporte finden unter scharfen Sicherheitsmaßnahmen statt. Aus Manöverberichten der US-Streitkräfte geht hervor, daß an einem Transport zumindest drei Hubschrauber beteiligt sind 15 : einer mit Atomwaffen an Bord, eine Ersatzmaschine und ein Helikopter mit Sicherungsmannschaften.16 Ein CH-47 kann z.B. bis zu 8 Nuklearwaffenprojektile 155 mm laden. In der Regel ist anzunehmen, daß nicht mehr als drei solcher Atomgranaten an Bord genommen werden. Es ist deshalb bei größeren Transporten wahrscheinlich, daß mehr als drei Hubschrauber zum Einsatz kommen. Um Unfälle mit weitreichenden Folgen für die Zivilbevölkerung in Friedenszeiten zu vermeiden, sollen Flüge mit Atomwaffen an Bord nicht über bewohnte Gebiete geführt werden. In der Bundesrepublik ist dies so gut wie ausgeschlossen. Atomwaffentransporte müssen, weil die Besiedlung zu dicht ist, über unseren Köpfen stattfinden. Angesichts der nuklearen Modernisierungsprogramme der NATO und angesichts der Notwendigkeit, Atomsprengköpfe auch hier und da zu reparieren, was nicht immer vorort passieren kann, sondern oft auch in Ramstein oder gar in den USA-Laboratorien geschehen muß, sind solche Transporte relativ häufig. Im Durchschnitt überquert täglich sicher mehr als ein solcher Transport mit brisanter Fracht Teile unserer Republik. Außerdem wird die Bundesrepublik von Atombombern des Strategischen Luftkommandos der USA, die sich ständig mit z.T. entschärften Atomwaffen an Bord in der Luft befinden, überflogen. Bei besonderen Anlässen, so wenn über längere Zeit ein nuklearer Fehlalarm nicht widerrufen wird, kommen nuklear munitionierte Kampfflugzeuge der US-Air Force in Europa, die in Sofortbereitschaft lagen (QRA), hinzu.

Was aber passiert, wenn ein Nuklearwaffentransport abstürzt? Die US-Streitkräfte haben versucht, das in Manövern herauszufinden. In den Jahren 1979, 1981 und 1983 wurden Nuklearwaffenmanöver in den USA durchgeführt (Nuclear Weapons Accident Exercises/ NUWAX). Die Berichte darüber sind dick (sie füllen mehrere Ordner) und erschreckend.17

Transportunfälle mit Nuklearwaffen

Atomwaffen haben nicht nur im Krieg eine ungeheure, vernichtende Wirkung, sie stellen auch in Friedenszeiten eine Gefahr dar. Zumindest zwei der vielen schweren Zwischenfälle mit Nuklearwaffen haben die Probleme deutlich gemacht. Sowohl in Thule, Grönland, als auch in Palomares in Spanien sind atombombentragende Flugzeuge der USA abgestürzt. In Palomares erinnern noch heute 4 Meßstationen, die radioaktive Plutoniumstrahlung aufzeichnen sollen, an das mehr als 20 Jahre zurückliegende Unglück. Bei dem Absturz waren zwei Atomwaffen geborsten, Plutonium war freigesetzt worden. Im Rahmen der Aufräumungsarbeiten wurde die Erdoberfläche im Umfang von 2,2 Hektar in mehr als 4900 Fässern abtransportiert – der Boden war hoch verseucht. Weitere 224 Hektar mußten 30 cm tief umgepflügt und gewässert werden? um die radioaktiven Bestandteile zu verteilen. Noch 1977 und 1980 wurden auf gepflügtem Brachland verdoppelte Plutoniumwerte gemessen. Die medizinischen Akten von 50 Personen, die regelmäßig untersucht werden, sind bis heute selbst den Betroffenen nicht zugänglich gewesen, bis nach 20 Jahren die Frist zur Einreichung von Entschädigungsklagen abgelaufen war: Langzeitfolgen eines Atomwaffenunfalls.18

Aber nicht nur auf lange Sicht stellt ein solcher Unfall die Betroffenen vor Probleme schon gleich danach können die US-Streitkräfte nur mühsam mit den gravierendsten Folgen umgehen – dies zeigten die schon angesprochenen Manöver.

Angenommen wurde der Absturz eines mit mehreren Nuklearwaffen beladenen Hubschraubers in Situationen, wo nach Ausfall der Begleitmaschinen Atomwaffen nur noch ins nächste Depot transportiert und der eigentliche Auftrag abgebrochen werden sollte. Hubschrauber dürfen die Bomben im Unterschied zu Luftwaffenflugzeugen im Notfall nicht abwerfen. Deshalb stürzen beide gemeinsam ab. Die Maschine gerät in Brand, je nach Manöverlage in unbewohntem, bewohntem oder militärischem Gebiet. Dabei führen die enormen Temperaturen zur Explosion des konventionellen Zünders bei einer der Atomwaffen, wodurch deren Hülle birst und in dem Sog des Feuers Plutonium aus der Waffe nach oben gerissen und vom Wind verteilt wird. Eine nukleare Verseuchung der Umgebung, in Windrichtung bis zu einigen Kilometern Entfernung, ist die Folge. Je nach angenommener Lage müssen Menschen evakuiert werden, und es wird ein mehrere Quadratkilometer großes Sperrgebiet eingerichtet. Mannigfaltige Probleme, die im Ernstfall Menschen das Leben kosten oder sie ernsthaft und dauerhaft gesundheitlich schädigen können, traten auf. Vielfach waren die eingesetzten Soldaten nicht in der Lage, sie zu meistern. Im folgenden nur einige Beispiele:

– Örtliche Bewohner und die zuständige Feuerwehr treffen am Unglücksort vor den ersten Soldaten ein; sie sind nicht durch Militär, sondern durch Augenzeugen alarmiert worden. Sie wissen nicht daß in dem brennenden Hubschrauber Munition liegt, geschweige denn ahnen sie die Gefahr radioaktiver Verseuchung. Deshalb halten sie auch den Sicherheitsabstand von mehr als 600 Metern nicht ein, der für Soldaten wegen der Gefahr der Explosion des Zünders vorgeschrieben ist. Diese Menschen können durch die Explosion verletzt oder getötet werden, bei Radioaktivitätsaustritt werden sie verseucht. Gerade bei Plutonium, das schon bei Aufnahme in Milligrammgrößenordnungen ernsthaftere Schäden hervorruft, ist die Gefahr besonders groß, weil die strahlenden Partikel in der Luft mit eingeatmet werden können. Auch weiß die örtliche Feuerwehr sicher nicht, daß die konventionellen Zündladungen besonders empfindlich auf Stöße und plötzliche schiede reagieren, daß ihre Explosion sofort, aber auch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erfolgen kann.

– Die militärischen Einheiten in Unfallbereitschaft kommen erst viel zu spät zum Ort des Geschehens. Die ersten Soldaten erreichten im Manöver 1981 erst drei Stunden nach dem Unfall die Absturzstelle. Sie sind unzureichend ausgerüstet, können radioaktive Strahlung nicht oder nur unzulänglich messen (insbesondere fehlen in den Manövern immer wieder Geräte zur Feststellung von Alphastrahlung, die bei einem solchen Unfall am häufigsten auftritt), das Personal reicht in weiten Teilen der ersten Phase kaum, um angemessene Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen und auch durchzusetzen. Eine speziell für Atomwaffenunfälle ausgebildete Einheit kommt erst elfeinhalb Stunden zu spät an.

– Die Identifikation des Unfallgeschehens dauert viel zu lange. Zwar gelang es z.B. 1981 zwei der Atomwaffen relativ schnell zu finden – die dritte wurde aber erst am Tag nach dem Unfall und dann auch 300 m außerhalb der eingerichteten Sicherheitszone gefunden. Wäre sie geborsten gewesen, so wäre ein noch größeres Gebiet verseucht gewesen. Selbst die Einrichtungen der militärischen Unfallmannschaften wurden in ungenügenden Sicherheitsabständen aufgebaut. 1983 befanden sich 75 % der verseuchten Fläche außerhalb der Sperrzone.

– Es gab mehrfach lange kein klares Bild über das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung, Streitigkeiten über die zulässigen Belastungs- und Grenzwerte und selbst bei Ende keinen Überblick über die radioaktive Verstrahlung von Menschen.

– Bei dem Manöver des Jahres 1983 sollten 815 Personen (also nicht sehr viele) evakuiert werden, pro Person wurden 4 Minuten benötigt.

– Über die nötigen Aufräum- und Dekontaminierungsmaßnahmen herrschte massive Unsicherheit und Unklarheit. 1981 war man froh, daß diese nicht mehr Gegenstand der Übung waren, 1983 wurde neben umfassenden Entseuchungsarbeiten auch diskutiert, ob die US-Streitkräfte nicht das ganze verseuchte Gebiet aufkaufen, die darauf stehenden Häuser abreißen und zusammen mit der abzutragenden Erde als radioaktiven Müll deponieren sollten.

Diese und viele andere Probleme, wie unzureichende Kommunikationsmittel, grobe Unwissenheit selbst bei Sondereinheiten, Streitigkeiten um Befehlsgewalt traten auf, obwohl die Ausgangslage der fünftägigen Manöver schon besonders günstig war: Alle Einrichtungen des Basiscamps – einer Zeltstadt für ca.800 Teilnehmer – waren im voraus aufgebaut worden, im Ernstfall gäbe es sie nicht. Weitere Verzögerungen und Improvisationen wären erforderlich.19 All diese und viele andere Schwierigkeiten (Verseuchung von Trinkwasser) traten auf, obwohl nur bei einer der Bomben der konventionelle Zünder explodiert war. Wäre dies bei mehreren passiert, so wären die Übungsteilnehmer noch weiter überfordert gewesen. Die vielen ungelösten und nicht lösbaren Probleme werden auch in der Dienstvorschrift der US-Streitkräfte, die Vorgaben für ein richtiges Reagieren auf Nuklearwaffenunfälle enthält, immer wieder erwähnt. Sie sind nicht gelöst.20 Sie resultieren daraus, daß „ein Nuklearwaffenunfall völlig andersartig ist als die meisten anderen Unfälle, wegen der sehr realistischen Möglichkeit einer radioaktiven Kontamination des Unfallortes, die sich viele Meilen in Windrichtung ausbreiten kann.“21

Anders sieht das der in solchen Fragen zuständige bundesdeutsche Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Kurt Würzbach: „Es gibt kein realistisches Szenario, das die Behauptung der Ausbreitung einer radioaktiven Verstrahlung (er meint einer weitreichenden, d. Red.) auch nur im Entferntesten rechtfertigen.“22 Für Herrn Würzbach ist dies eine Art vernachlässigbares Restrisiko, so wie für die US-Streitkräfte die Explosion des nuklearen Sprengsatzes bei einem Unfall. Da wird lapidar festgestellt, einen solchen habe es bislang nicht gegeben.23 Ein anderes – für das US-Verteidigungsministerium besonders brisantes – Problem wurde allerdings mittlerweile gelöst: Die Übungen zeigten, daß die Glaubwürdigkeit militärischer Stellen all zu sehr litte, wenn man an der generellen Politik festhielte, die Anwesenheit von Atomwaffen weder zu bestätigen noch zu leugnen (was in der Praxis bei solchen Unfällen nur heißen kann, sie zu leugnen). Heute gibt es vorformulierte Presseerklärungen zur Beruhigung der Öffentlichkeit, die der zuständige Presseoffizier nur noch mit Ort, Datum, Art des Unfalls und der Wahl zwischen verschiedenen Varianten zu bearbeiten braucht.24

Leicht gekürzter Vorabdruck aus: Militärheimat Hunsrück, Beiträge zu einer regionalen Rüstungsanalyse, Neckarsulm,1986.

Anmerkungen

1 Arkin, William M.; Fieldhouse, Richard W.: Nuclear Battlefields, Cambridge, 1985, S. 236-245.Zurück

2 Grave, Frank: NATO-Missile Sites: Ripe for Terrorists, Miami Herald 2.1.1983Zurück

3 Deutscher Bundestag, Stenographisches Protokoll der 143. Sitzung, 10. Wahlperiode, Bonn, 13.6.1985, S. 10592.Zurück

4 Charles, Daniel: Unveröffentlichtes Arbeitspapier, ohne Titel, Washington, 1986, S. 3.Zurück

5 ebd.Zurück

6 Arkin, William M.; Cochran, Thomas B.; Hoenig, Milton M.: Resource Paper on the US Nuciear Arsenal, Bulletin of the Atomic Scientists Aug./Sept.1984, S. 6. Zurück

7 In der Öffentlichkeit wird immer nur der erste Teil dieses Beschlusses wiedergegeben: Die Reduzierung der Lagerbestände um 1400 Sprengköpfe.Zurück

8 Greve, Frank, a.a.O.Zurück

9 ders.: Confidence on deoline over N-Storage security, Sunday Star-Bulletin & Adviser, Honolulu, 3 3.1983.Zurück

10 Vgl. Arkin, Fieldhouse, a.a.O.Zurück

11 Informationsbüro für Friedenspolitik (Hrsg.): Lagerung und Transport von Atomwaffen, München 1982, S. 46 ff.; 50th TFW/PAO (Hrsg.): 30 Years in the Hunsrück, Idar Oberstein, 1981, S. 17. Zurück

12 Vgl.: US Congress, Subcommittee of the Committee on Appropriations, House, Military Construction Appropriations FY 1987, Part. 3, 99th Cong.,2nd Sess., Washington, GPO, 1986, S. 1190. Zurück

13 Vgl. Arkin, Fieldhouse, a.a.O.Zurück

14 59th Ordnance Brigade (Hrsg.): Welcome to the 59th Ordnance Brigade, o. O. (Pirmasens), o. J.Zurück

15 Auch andere Hubschrauber können eingesetzt werden: UH-1 H/M, UH-60, CH-53. Zurück

16 Field Command Defense Nuclear Agency: Joint DoD/DoE Nuclear Weapons Accident Exercise NU-WAX '81, After Action Report Vol. II, Kirtland AFB 1982, S. 7 f.Zurück

17 a.a.O. (16); diese.: NUWAX '79, After Action Report, Vol. I/II, o. J. (1979); diess.: NUWAX '83, After Action Report, Vol. I/II, 1983.Zurück

18 Vgl. Der Spiegel: Wie Versuchskaninchen, 1986, Heft 4, S. 123 ff. Zurück

19 Alle Angaben nach Anm.17.Zurück

20 Defense Nuciear Agency: Nuclear Weapons Accident Response Procedures Manual, DNA 51001, 24.1.1984, Washington. Zurück

21 ebd., S. 44. Zurück

22 Deutscher Bundestag, a.a.O., S. 10591.Zurück

23 a.a.O. (20). Altere Angaben sagen noch offen, daß ein solcher Unfall so unwahrscheinlich sei, daß man ihn als zu vernachlässigende Große behandle – so: Department of Defense/Atomic Energy Commission: Guidance and Information on Nuclear Weapons Accident Hazzards, Precautions and Emergency Procedures, Washington, 1973, S. 3. Zurück

24 Department of Defense Directive No. 5230, 16 vom 7.2.1983. Zurück

Otfried Nassauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der GRÜNEN im Dt. Bundestag.

Ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen ist möglich.

Ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen ist möglich.

Erster Schritt zur Abrüstung

von Thomas Büttgenbach, Volker Steinbach, Dieter Wolf-Gladrow

Im Sommer 1985 legte die Bundesrepublik der ständigen Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf einen Vorschlag darüber vor, wie die stufenweise Einführung eines totalen Teststopps für nukleare Waffen mit Mitteln der modernen Seismologie international überwacht werden könnte. Das Überwachungskonzept ist von deutschen Seismologen entwickelt worden und wurde offiziell von der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft (DGG) der Bundesregierung vorgelegt.

Der Abschluß eines solchen umfassenden Teststoppabkommens (comprehensive test ban treaty; CTBT) durch die Nuklearmächte wäre ein entscheidender Beitrag zur weltweiten Friedenssicherung, denn

– zur Entwicklung neuer nuklearer Waffensysteme werden bislang nukleare Tests für unerläßlich gehalten, mit einem Teststop könnte dem Rüstungswettlauf Einhalt geboten werden;

– die vorhandenen Kernwaffenarsenale könnten nicht mehr wie bisher auf ihre Funktionstüchtigkeit geprüft werden;

– es könnte überprüft werden, ob nukleare Schwellenländer, das sind Länder, die prinzipiell innerhalb kurzer Zeit Nuklearwaffen entwickeln könnten, solche Waffen tatsächlich herstellen.

Der Abschluß eines solchen Abkommens zwischen den Nuklearmächten bleibt jedoch wohl noch solange ein Wunschtraum, wie die entscheidenden Politiker meinen, nationale Sicherheit sei nur durch Aufrüstung zu erreichen.

Die Sowjetunion hat zuletzt im Februar 1985 Verhandlungen über ein umfassendes Teststoppabkommen angeboten und ihren Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August bis Ende 1985) unterstrichen. Die Reagan- Administration lud sowjetische Wissenschaftler zu einem amerikanischen Kernwaffentest ein. Der Vorschlag der UdSSR wurde mit dem Hinweis auf weitere notwendige Versuchsreihen abgelehnt. Ein Grund ist sicherlich die Entwicklung des nukleargezündeten Roentgenlasers im Rahmen des SDI-Programms. 1

Beide Angebote beinhalten sicherlich propagandistische Aspekte (der amerikanische Vorschlag war offensichtlich eine Reaktion auf die Ankündigung des sowjetischen Moratoriums) im Vorfeld des Genfer Gipfeltreffens. Ein beiderseitigen Moratorium (wie schon 1959 bis August 1961 auf einen amerikanischen Vorschlag hin vor Abschluß des eingeschränkten Teststoppabkommens) wäre allerdings der beste Einstieg in konkrete Verhandlungen.

Geschichte einer Initiative

Um die Hintergründe der Initiative von deutschen Geophysikern für einen umfassenden Teststopp näher zu beleuchten, ist es notwendig, etwas in der Geschichte zurückzugehen.

Seit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki gab es bis zur Mitte der 50er Jahre nur vereinzelte Kernwaffenversuche. Danach stieg ihre Zahl stark an. Dabei handelte es sich überwiegend um Tests in der Atmosphäre, mit oft starkem radioaktiven Niederschlag (Fallout). Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten wurde dabei großen Strahlendosen ausgesetzt. Als dies in den USA und Großbritannien bekannt wurde, wuchs der öffentliche Druck, die Kernwaffenversuche einzustellen.

Einen wichtigen Anstoß zum Beginn ernsthafter Gespräche zwischen Großbritannien, der USA und der UdSSR gab eine Petition, die der Nobelpreisträger Linus Pauling im Januar 1958 der UN vorlegte. Darin fordern mehr als 9000 Wissenschaftler aus 49 Nationen, einschließlich des Ostblocks, einen sofortigen Stopp aller Atombombenteste. zu Anfang der Verhandlungen machten die Amerikaner und Briten den Vorschlag, die Testtätigkeit für ein Jahr zu unterbrechen, wenn die UdSSR ebenfalls ihre Tests einstellen würde. Diese Stillhalte-Absprache (Moratorium) sollte dann von Jahr zu Jahr erneuert werden. Und tatsächlich stellten alle Verhandlungspartner freiwillig am Ende des Jahres 1958 ihre Tests ein. Leider zogen sich die Teststoppverhandlungen hin, da man sich über die Anzahl von jährlichen „Ortsbesichtigungen“ in den Testgebieten nicht einigen konnte. Die US-Delegation zweifelte außerdem an der Überwachung mit seismischen Methoden. Zu allem Übel verschlechterte sich 1960 das politische Klima drastisch durch die U 2-Krise (Abschuß eines Spionage- Flugzeuges der USA über der UdSSR) und die Zündung der ersten französischen Atombombe. Das Moratorium wurde daraufhin im September 1961 zunächst durch die UdSSR mit ungewöhnlich starken Kernwaffentests in der Atmosphäre, dann auch durch die USA beendet. Die Chance, einen freiwilligen totalen Teststopp durch einen Vertrag zu manifestieren und damit die rasante Entwicklung von Kernwaffen zu stoppen, war dahin.

Nach der Kuba-Krise 1962 maß der amerikanische Präsident Kennedy wieder dem Teststoppabkommen höchste Priorität zu. In Folge wurden 1963 die Abrüstungsgespräche neu belebt. Sie führten nach einer erstaunlich kurzen Verhandlungsphase zum Abschluß des begrenzten Teststopp- Abkommens (Partial Test Ban Treaty) am 5. 8. 1963. Dabei wurden die noch immer bestehenden Streitpunkte (Anzahl der „Ortsbesichtigungen“, Nachweis unterirdischer Kernexplosionen mit seismologischen Methoden) umgangen. Dieser Vertrag verbietet nur oberirdische Kernwaffentests.

Leider nahm die Zahl der Tests nach Unterzeichnung des Abkommens nicht ab. Der Vertrag führte nur dazu, daß die Versuche unter die Erde verlegt wurden. Gleichwohl haben sich die Unterzeichnerstaaten in der Präambel des Vertrages verpflichtet, solange Verhandlungen zu führen, bis ein vollständiger Teststopp erreicht ist. 2 7 Diese Verpflichtung wird in dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffen- Sperrvertrag (ng. Nuclear Nonproliferation Treaty) noch einmal bekräftigt (siehe Abb. 1). In diesem Vertrag, den bis heute 128 Staaten unterzeichnet haben, werden die Atommächte außerdem dazu aufgefordert, ihre Bestände an Nuklearwaffen einzufrieren. 3 Der letzte ernsthafte Versuch, ein umfassendes Teststoppabkommen auszuhandeln, wurde unter der Präsidentschaft Carters (USA) gemacht. Dabei akzeptierte die UdSSR den Vorschlag, unbemannte seismische Stationen auf ihrem Territorium zur Kontrolle auch kleinerer Ladungsstärken aufzustellen 4. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan wurden die Gespräche leider von amerikanischer Seite abgebrochen. Zu diesem Schritt hat aber auch die Meinung einiger Wissenschaftler von den Forschungszentren für Nuklearwaffen (Lawrence Livermore National Laboratory, Los Alamos National Laboratory) beigetragen, ohne Testexplosionen sei die Zuverlässigkeit des amerikanischen Atombombenarsenals nicht gewährleistet. Dieser Einstellung hat sich in Folge auch die Reagan- Administration angeschlossen.

In dieser politisch festgefahrenen Situation meldete sich eine Gruppe engagierter deutscher Geophysiker auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung“ in Mainz am 2. und 3. Juli 1983 zum erstenmal öffentlich zu Wort. In einem speziellen Symposium behandelten sie die technischen und wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Überwachung eines umfassenden Testverbots. Sie kamen zu der Oberzeugung, daß aus technischer Sicht der Überwachung eines Vertrages nichts mehr im Wege steht. Worauf es nur noch ankäme, wäre der politische Wille der beteiligten Staaten 5. Angesichts dieser Argumente aktivierten sie ihre Fachkollegen, politischen Druck auszuüben; Es kam im Februar 1984 zu der Verabschiedung einer Resolution durch die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft (DGG), in der die jetzige Bundesregierung aufgefordert wird, sich in Genf für den Abschluß eines Teststoppabkommens aktiv einzusetzen (siehe Rubrik: Resolution der DGG zu einem Verbot von Kernwaffentests). Nach Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt wurde eine Expertengruppe der DGG beauftragt, einen Vorschlag zur Errichtung eines seismischen Überwachungsnetzes als Grundlage für ein umfassendes Teststoppabkommen zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein Dreistufenplan, den die Bundesregierung durch den Diplomaten Henning Wegener bereits im Juli 1985, nur knapp zwei Jahre nach dem Beginn der öffentlichen Diskussion, der UNO-Abrüstungskonferenz in Genf vortragen ließ.

Vorschlag der Bundesregierung

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag sieht die schrittweise Einführung eines internationalen Überwachungs- und Überprüfungssystems für unterirdische Kernwaffenversuche vor. Danach sollen zunächst die Daten der vorhandenen seismischen Stationen ausgetauscht und untersucht werden. Innerhalb von 2 Jahren wären damit Explosionen mit einer Raumwellenmagnitude größer als mb = 5,0 überall sicher erkennbar. Dies entspricht je nach Art des Gesteins, in dem die Bombe gezündet wird) einer Ladungsstärke von über 10 bis 100 kt TNT. Nach weiteren 2 Jahren könnte durch die Installation einiger weiterer Stationen in Gebieten, in denen bisher keine Messapparaturen zur Verfügung standen, die Identifikationsgrenze auf mb = 4,7 (5-50 kt TNT) herabgedrückt werden. Längerfristig wird eine Standardisierung der Stationen auf modernem Niveau angestrebt (digitale breitbandige Registrierung, Bohrlochseismometer). Ein schneller und vollständiger Datenaustausch ist mit Hilfe von Satelliten möglich. Damit könnten in etwa 8 Jahren Ereignisse mit Magnitude mb größer als 4,0 (1-10 kt TNT) sicher identifiziert werden. Daneben wird die Einführung von zusätzlichen Messestationen (z. T. Arrays) in den Kernwaffenstaaten selbst angestrebt. Damit könnten lokal noch Explosionen Magnitude mb = 3,0 erkannt werden.

Einschätzung des Dreistufenplans

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag beruht auf folgender Einschätzung der Situation: 1.) Zwischen den Supermächten USA und UdSSR besteht beiderseitiges Mißtrauen, so daß ein Abkommen über ein Testverbot nur in Zusammenhang mit einer gesicherten Verifikation möglich ist. 2.) Statt eines umfassenden Teststoppabkommens sind daher in den nächsten Jahren bestenfalls Schwellenabkommen in ähnlicher Form wie das 150 kt-Abkommen von 1976 zu erwarten (sogenannte Niedrigschwellenabkommen, engl. Low Threshold Test Ban Treaty (LTTBT)). 3.) Einbeziehung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten ist erst nach längeren Verhandlungen möglich.

Unter diesen Voraussetzungen ist der eingebrachte Vorschlag durchaus folgerichtig. Mit der stufenweise technischen Verbesserung und Standardisierung der vorhandenen und der Errichtung einiger neuer Stationen kann die Verifikationsschwelle nach und nach heruntergedrückt werden. Die einzelnen Staaten könnten sofort, d. h. vor dem Abschluß eines Vertrages, damit beginnen, die technischen Voraussetzungen auf ihren jeweiligen Territorien bereitzustellen. Sobald sich genügend viele Staaten daran beteiligen, wäre eine Überwachung zunächst bei einem relativ hohen Schwellenwert möglich. Nach dem Vorschlag kann man aber erst nach frühestens 8 Jahren einen Schwellenwert von 10 kt TNT erreichen. Das erscheint uns angesichts der ständig fortschreitenden Aufrüstung keine ausreichende Perspektive zu sein. Dies vor allem, wenn man sieht, daß die Entwicklung zu Kernwaffen mit immer kleinerer Ladungsstärke hinläuft (im Zusammenhang mit immer zielgenaueren Trägersystemen. Nach Abb. 2 findet schon heute der Hauptteil der Versuche im Bereich von 10 kt TNT statt. Daher muß der Errichtung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten schon in einer frühen Phase höchste Priorität eingeräumt werden.

Dem Abschluß eines Teststoppabkommens (bzw. eines Niedrigschwellenabkommens) stehen heute in erster Linie politische Gründe im Wege. Die UdSSR hat 1985 Verhandlungen angeboten und ihren guten Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August 1985 bis Ende 1985) unterstrichen. Parteichef Gorbatschow hat in einem Brief an Bundeskanzler Kohl die Ansicht vertreten, daß man auch „mit nationalen Mitteln“ ein Abkommen überprüfen könne 6. Von westlicher Seite wird dagegen zur Zeit keine Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Die USA entwickeln einen mit Kernexplosionen betriebenen Roentgenlaser im Rahmen des SDI-Programms. Der französische Staatspräsident Mitterand und Regierungschef Fabius pilgern zum Muroroa-Atoll, um den Tests von Neutronenbomben beizuwohnen.

Resumee

Der relativ schnelle Erfolg, eine konservativ-liberale Bundesregierung innerhalb von zwei Jahren von den eigenen friedenssichernden Zielen zu überzeugen und zu aktivieren, zeigt exemplarisch, wie weit naturwissenschaftliche Forschung und der daraus resultierende politische Druck letztendlich den politischen Willen beeinflussen können. Natürlich darf das kein Grund sein, sich nur noch auf die Schulter zu klopfen. Unserer Meinung nach kommt es gerade jetzt darauf an, das Verbot von Kernwaffentests zum Thema zu machen, um auch auf internationaler Ebene gezielt auf die politische Willensbildung einwirken zu können. Ein konkreter nächster Schritt könnte sein die nationalen Regierungen darauf zu drängen, sofort mit dem Zusammenschluß bestehender seismischer Stationen zu einem Überwachungsnetz zu beginnen. Für dieses Netz könnten die Daten sofort in einem eigenen Datenzentrum gesammelt und analysiert werden. Eine ständige Expertengruppe kann aufgrund dieser Untersuchungen möglichst rasch eine Verbesserung des Netzes und der Auswertungsverfahren vorschlagen („learning by doing“). Eine entsprechende Forderung ist in dem deutschen Vorschlag bereits formuliert worden.

Der Aufbau eines internationalen seismischen Kontrollnetzes, unabhängig vom Stand der Verhandlungen in Genf, würde der Forderung nach dem Abschluß eines Teststoppabkommens deutlich Nachdruck verleihen.

Welchen Stellenwert ein Teststoppabkommen international hat, wird in der Haltung der „Nicht-Atommächte“ unter den Unterzeichnern des Atomwaffen-Sperrvertrags deutlich: Sie sehen einen umfassenden Teststop nicht nur als den wichtigsten Schritt zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens an, sondern auch als die am besten durchzuführende Maßnahme, um die vertikale (d. h. Entwicklung) und horizontale (Auslieferung an andere Staaten) Weiterverbreitung von nuklearen Waffen zu verhindern. Denn während die atomwaffenlosen Staaten ihrer Verpflichtung nachkommen, keine nuklearen Waffen zu entwickeln oder zu erwerben, halten sich die Nuklearmächte nicht an ihr Versprechen, „die Verhandlungen fortzusetzen, um das nukleare Wettrüsten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu stoppen und um eine nukleare Abrüstung zu erreichen“ (Artikel 6 des Atomwaffen-Sperrvertrages). So wird heute laut darüber nachgedacht, den Vertrag nach seinem Ablauf (1995) nicht mehr zu verlängern oder ihn vorzeitig aufzukündigen.

Es wird Zeit, daß der Forderung nach einem umfassenden Teststoppabkommen auch in der Friedensbewegung eine zentrale Rolle zukommt. Bisher haben sich die Aktivitäten in dieser Richtung fast ausschließlich auf einen kleinen – Expertenkreis beschränkt. Eine Ausnahme bildet die internationale Ärzteorganisation zur Verhinderung eines Nuklearkrieges (Friedensnobelpreis 1985) die ein umfassendes Teststoppabkommen zu ihrer Hauptforderung erkürt hat.

——————————————————————————————————-

Ergänzungen

Bestimmung Sprengkraft aus der seismischen Amplitude

Unterirdische Explosionen und Erdbeben haben nicht nur lokale Auswirkungen: Ein Teil der freigesetzten Energie breitet sich in Form von elastischen Wellen im Erdkörper und an dessen Oberfläche aus.

Das durchlaufende Material wird dabei elastisch verformt, d. h. es kehrt nach der Deformation in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

Der Widerstand, den ein Material den beiden Verformungsarten Kompression und Scherung entgegensetzt, wird durch das Kompressionsmodul K und Schermodul G beschrieben: Je weniger ein Körper der Belastung nachgibt, desto größer ist das entsprechende Modul. Für Flüssigkeiten z. B. gilt G = 0, da sie einer Scherung keinerlei Widerstand entgegensetzen.

Diesen beiden Verformungsarten entsprechen die beiden möglichen elastischen Wellen: Kompressionswellen und Scherwellen. Die sich innerhalb des Erdkörpers ausbreitenden Wellen nennt man, im Gegensatz zu den Oberflächenwellen, Raumwellen.

Bei der unterirdischen Explosion einer Atombombe wird, im Gegensatz zu einem Erdbeben, Energie nahezu gleichmäßig nach allen Richtungen hin angestrahlt. Dabei bilden sich im Gestein Kompressionswellen aus, die unabhängig vom Standort des Beobachters einen positiven, ersten Ausschlag im Seismogramm erzeugen. Als Maß für die Stärke eines solchen seismologischen Ereignisses benutzen Seismologen die Magnitude. Diese Größe wird aus der Amplitude der gemessenen Welle und der Entfernung von der Quelle berechnet. Für die verschiedenen Wellentypen gibt es unterschiedliche Magnitudenskalen. Bei der Raumwellenmagnitude (mb) werden die Amplituden jener Wellen gemessen, die durch das Erdinnere gelaufen sind. Für die Berechnung der Sprengkraft W (in Einheiten von 1000 Tonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT gemessen, kurz: kt TNT) werden Formeln folgender Art benutzt:

mb = c1 x log (W) + c2

Die Konstanten c1 und c2 hängen davon ab, wie die Gesteine im Untergrund der Testgebiete beschaffen sind (Festgestein, Lockersedimente) und vom Laufweg, den die Wellen zwischen Quelle (Ort der Explosion) und Empfänger (Seismometer) zurücklegen müssen. Um eine genaue Bestimmung der Konstanten zu ermöglichen, sind „Eichsprengungen“ (Zündung einer Bombe mit bekannter Sprengkraft) innerhalb der Testgebiete notwendig. Fehlen diese Testsprengungen, können die auftretenden Unsicherheiten bei der Bestimmung dazu führen, daß ein registriertes Ereignis der Magnitude mb = 5 im ungünstigsten Fall von einer 100 kt Bombe oder im idealen Fall von einer 10 kt Bombe stammt.

Entkopplung (decoupling)

Um einen Kernwaffentest zu verheimlichen, gibt es die Möglichkeit einer „Entkopplung“ der Explosion vom umgebenden Gestein, indem man die Bombe innerhalb eines Hohlraumes (Kaverne) zündet. Stabile Hohlräume können jedoch nur in Festgestein (z. B. Granit) und Salzlagerstätten geschaffen werden. Beispielsweise ist für die Entkopplung einer Bombe mit der Sprengkraft von 50 kt TNT eine Kaverne mit einem Radius von mindestens 60 m notwendig. Der dabei anfallende Aushub erfordert enorme bergmännische Aktivität, die den Spionagesatelliten sicher nicht verborgen bleiben dürfte.

Um sicherzugehen, basiert der deutsche Dreistufenplan zur Kontrolle eines Teststoppabkommens auf einer hoch eingeschätzten Entkopplung. So wird bei der dritten Phase davon ausgegangen, daß es möglich ist, eine Bombe mit 1 kt TNT Sprengkraft auf eine zu beobachtende Stärke von 5 t TNT zu dämpfen, aber auch solche geringen Stärken lassen sich noch von einem regionalen Seismometern in der Nähe des Testgebietes registrieren und entdecken. Allerdings darf der Abstand höchstens 500 – 1000 km betragen. Da die Stationen innerhalb der zu kontrollierenden Länder stationiert werden müssen, kommen nur unbemannte, selbständig arbeitende Seismometer in Frage, die ständig von allen Vertragspartnern abgefragt werden können. Stationen dieser Art sind aber bereits von Spezialisten der amerikanischen Sandia National Laboratories entwickelt worden. 3

Meßtechnik heute

Die seismische Meß- und Interpretationstechnik hat in den letzten Jahren von der Elektronik und den Möglichkeiten der Datenverarbeitung profitiert. Mit Seismometern können noch Bodenbewegungen in der Größenordnung von „Nano-Metern“ (Millionstel Millimeter) erfaßt werden., Ihr Auflösungsvermögen wird nicht mehr durch eine unzureichende Technik begrenzt, sondern nur noch durch die Unruhe des Erdbodens. Diese immer vorhandene „Bodenunruhe“ wird sowohl durch natürliche (z. B. Wind, Meeresbrandung) als auch durch künstliche Quellen (Industrie, Verkehr) hervorgerufen. Die kurzperiodische Bodenunruhe geht mit der Tiefe drastisch zurück. Daher installiert man Seismometer neuerdings bis zu 300 Meter Tiefe (Bohrlochseismometer). Ein „Array“ ist die Anordnung von mehreren Seismometern in einem Gebiet mit der Ausdehnung von einigen Kilometern bis einigen 100 Kilometern. Die Messungen werden auf Magnetband aufgezeichnet und mit Hilfe großer Computer verarbeitet (z. B. „stapeln“). Mit einem einzigen Array ist schon eine sehr gute Lokalisation der Quelle möglich (Richtantenne). Heute sind sogar schon Arrays in Betrieb, die mit Bohrlochseismometern arbeiten. Sie stellen z. Zt. den höchsten technischen Standard dar. Die für die Erdbebenforschung installierten Seismometer messen die Bodenbewegungen meist nur im Bereich von 1 bis 10 Hz. Um besser zwischen Kernexplosionen und Erdbeben unterscheiden zu können (der Frequenzinhalt der erzeugten Wellen ist unterschiedlich), wird der Frequenzbereich auf 0,01 – 10 oder sogar bis 30 Hz ausgedehnt (Breitbandregistrierung).

Mainz, den 21. Februar 1984

Resolution der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft, zur Weitergabe an die
Bundesregierung beschlossen von der Mitgliederversammlung anläßlich Ihrer 44.
Jahrestagung.

Im Hinblick auf die besondere Verantwortung der Wissenschaftler für den Frieden
fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, ihren ganzen
Einfluß auf die Nuklearmächte geltend zu machen, um eine Beendigung des
Rüstungswettlaufs durch wirksame und kontrollierbare Verträge herbeizuführen.

Ein Vertrag über ein Verbot aller Kernwaffenversuche hat dabei hohe Priorität und
wird seit vielen Jahren in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen – auch mit
Unterstützung der Bundesrepublik – gefordert. Er scheiterte bisher unter anderem
daran, daß eine wirksame Kontrolle eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen nicht
möglich war.

Nach 25 Jahren intensiver geophysikalischer Untersuchungen sind jetzt die technisch-
wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine Überwachung der Einhaltung eines Verbots
unterirdischer Atombombentests gegeben. Ein weltweit zu errichtendes Netz moderner
seismischer Stationen und ein internationales Datenaustausch System würden die Entdeckung
und Erkennung unterirdischer Kernexplosionen bis zu sehr kleinen Ladungsstärken herab
sicherstellen. Die technischen Kenndaten des seismischen Überwachungssystems können den
politisch vorzugebenden Randbedigungen angepaßt werden.

Daher fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, die
beiden Großmächte sowie alle anderen Unterzeichnerstaaten an ihre im
Teilteststoppvertrag von 1963 und im Nichtverbreitungsvertrag von 1968 abgegebene
Verpflichtung zu erinnern, die Verhandlungen über ein vollständiges Verbot aller
Kernwaffentest. bis zum erfolgreichen Abschluß unverzüglich fortzusetzen.

Anmerkungen

1 Wer kann's besser?, Spiegel Ausgabe v. 5. 8. 85.Zurück

2 Aichele, H., Büttgenbach, T., Rademacher, H. Steinbach, V., Wolf, D., 1984, Verbot von Kernwaffenversuchen, Wandzeitung zur Rüstungsforschung Nr. 5, Hrsg.: Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung, Friedrich- Ebert- Straße 114, 4400 Münster.Zurück

3 Epstein, W, 1985, A Critical Time for Nuclear Nonproliferation, Scientific American, Vol 253 (2). Zurück

4 Hafemeister, D., Romm, J. J., Tsipis, K., 1985 Überwachung der Rüstungskontrolle, Spektrum der Wissenschaft, Mai- Ausgabe, S. 34-42. Zurück

5 Hartes, H.- P., Aichele, H., Rademacher, H., 1983, Es kommt auf den politischen Willen an – Ein seismisches Netz zur Erfassung unterirdischer Kernexplosionen, in: Verantwortung für den Frieden. Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hrsg. H. P. Den, H.- P. Hartes, M. Kreck, P. Starlinger, Spiegel-Verlag, Hamburg.Zurück

6 Frankfurter Rundschau, 6. 9. 85. Zurück

7 Abrüstung – Nachrüstung – Friedenssicherung 1983, Hrsg.:J. v. Mönch, M. Klingst, Beck Texte im DTV, München. Zurück

Dipl. Geophys. Thomas Büttgenbach, Dipl. Geophys. Volker Sehbach, Dipl. Phys. Dieter Wolf-Gladrow sind tätig am Institut für Geophysik und Meteorologie der Universität Köln

1999: Ende der Atomwaffen?

1999: Ende der Atomwaffen?

von Redaktion

Niemand kann mit der ständig aktualisierten Angst vor der nuklearen Bedrohung leben: die Verdrängung hat ihr Recht. Doch dieser Stabilisierungsgewinn schließt ein das Sich-Einlassen auf gegebene Verhältnisse. Man muß der Skepsis gegenüber ihrer Veränderbarkeit Raum geben – und dies kann schnell unempfindlich machen gegenüber den Chancen und Perspektiven der (auch radikalen) Veränderung.

Vorschläge zur Schaffung einer von Nuklearwaffen freien Welt werden dann gleichermaßen als realitätsfremde Utopie wie als utopielose, die Aufrüstungsrealität bloß legitimierende Propaganda empfunden. Solch „kritisch-realistische“ Skepsis kommt natürlich auch aus der pessimistisch stimmenden Erfahrung des Scheiterns der Abrüstungsbemühungen der Vergangenheit – doch nicht allein, ihre Wurzel ist auch die eigene Unfähigkeit zum utopischen Denken und zielbewußtem Handeln. Vor allem: wo es um bloße Utopie und reine Propaganda geht, bedarf es keiner intellektuell-politischen Prüfung, auch keiner Probe der Praxis.

Nimmt man die verlautbarten weitreichenden Zielsetzungen der Führer der beiden Großmächte, so scheinen sie identisch.

Der Präsident der USA Reagan verkündete in seiner Rede vom März 1983 die Vision der Abschaffung der Atomwaffen. Der Weg dazu führte bei ihm über den Aufbau eines Raketenabwehrsystems. Es sollte Angriffswaffen obsolet machen. Das SDI-Konzept ist – wie kein anderes sicherheitspolitisches Konstrukt – seitdem geprüft worden. Die Übereinstimmung in der Einschätzung ist erstaunlich: die Utopie des Vorschlags ist die nukleare Kriegsführungsoption, nicht die Entnuklearisierung des Krieges – die Vision der friedlichen Welt ist Propaganda. Der Generalsekretär der KPdSU, Gorbatschow, hat jetzt einen Stufen-Plan vorgelegt, der die völlige Befreiung der Menschheit von Nuklearwaffen vorsieht: „Ende 1999 gibt es auf der Erde keine Kernwaffen mehr.“ Auch dieser Vorschlag wird ausführlich zu prüfen sein, man muß sich auf ihn einlassen.

Der hier vorgezeichnete Weg direkter Abrüstung scheint kaum „realistischer“, doch allemal plausibler und vernünftiger. Warum erst eine neue, gefährliche Runde des Wettrüstens einleiten, um evtl. die Waffen verschrotten zu lassen? Warum die unermeßliche Vergeudung von Ressourcen für bizarre neue Waffensysteme? Vor allem: hier wird nicht wie bei der Strategischen „Verteidigungs“-Initiative das Bild einer zukünftigen Welt gezeichnet, in der eine militärisch unverwundbar gewordene Seite im „Hegemonialrausch“ (Norbert Elias) seine Friedensversion der anderen, unterlegenen Seite diktiert. Das Vorhaben setzt nicht auf die Macht der Kriegstechnik, sondern auf die Rationalität der Politik. Es bedarf auch nicht der riesigen Mobilisierung der Wissenschaft für militärische Zwecke. Warum also kein grundsätzliches JA zum Abrüstungsplan der UdSSR?

Details und verdeckte Optionen müssen noch untersucht werden. Feststeht: es handelt sich um die bisher weitreichendste sowjetische Initiative. In einigen Fragen nimmt sie die Kritik der NATO-Staaten an früheren Vorschlägen auf. Dieses weitreichende Entgegenkommen – etwa in der Frage der Kontrolle der Abrüstung – wird von sowjetischer Seite als Konsequenz des heute notwendigen „Umdenkens“ interpretiert. Und in der Tat ist dieses Umdenken angesichts der Zerstörungspotentiale in Ost und West dringend geboten. Nur scheint man dies in Moskau eher begriffen zu haben.

Auch wenn der Bundesregierung im Vorwahljahr der offizielle (wenn auch etappenweise) Einstieg in SDI gelungen ist, so scheiterte sie bisher völlig in ihrem Bemühen, für die Politik der Weltraumbewaffnung eine politische Massenbasis zu bekommen. Sie ist weiter isoliert – und reagiert in doppelter Weise: denunzierend und demagogisch, auf jeden Fall mit der verstärkten Pflege des alten Feinbildes der FÜNFTEN KOLONNE MOSKAUS.

– Der CDU-Generalsekretär denunziert die IPPNW Die Ärzte würden sowjetische Vorstellungen übernehmen und propagieren, hieß es. Aber ein Teststopp für Kernwaffenversuche ist vernünftig und bleibt es, auch wenn die UdSSR ihn fordert.

– Der Bundesinnenminister bezeichnet die Unterschriftensammlung gegen eine bundesdeutsche SDI-Beteiligung als „kommunistisch gesteuert“. CDU-Anfragen im Landtag von NRW beschäftigen sich mit der Naturwissenschaftler-Initiative.

Denunzierung statt Dialog: die Fälle, in denen während der Friedenswoche Einladungen zu Podiumsdiskussionen oder Streitgespräche von Vertretern des Regierungslagers angenommen wurden, lassen sich – bei über 300 Veranstaltungen – an einer Hand abzählen!

Für die Friedensbewegung steht verstärkt die Aufgabe, sich kritisch und ohne Angst mit derlei Kampagnen, ihrer Funktion und ihrer Wirkungsmechanismen auseinanderzusetzen. Horst Eberhard Richters Betrachtungen zum Vorwurf des „Antiamerikanismus“ oder die jüngst neu aufgelegte Arbeit Werner Hofmanns zur „Soziologie des Antikommunismus“ können – ergänzend zu Carl Nedelmanns Darlegungen in diesem Heft – als Beispiel dienen.

Während noch weit in das Jahr 1985 über Resignation und mangelnde Mobilisierungsfähigkeit geklagt wurde, zeigte sich gegen Ende des Jahres eine fast unerwartete Aktivitätsbereitschaft. Die Naturwissenschaftler-Initiative hat daran großen Anteil: durch die Veröffentlichung des Aufrufs gegen eine bundesdeutsche Beteiligung an SDI und die Durchführung der Friedenswoche im November. Der Aufruf erfuhr eine große Zustimmung in der SPD, in den Gewerkschaften, in christlichen Kreisen etc. Hunderte von Wissenschaftlern und Ingenieuren in Großforschungseinrichtungen und Betrieben sprachen sich gegen SDI aus. An den Hochschulen wurden in der Friedenswoche über 35.000 Unterschriften gesammelt. In dieser Woche fanden Veranstaltungen an 52 Hochschulorten statt; zahlreiche Initiativen stabilisierten sich, neue wurden gegründet. Die Herausbildung eines aktiven Kerns, der sich auf langfristige Aufklärung eingestellt hat, ist für die Fortführung der Friedensarbeit von großer Bedeutung.

Für das Jahr 1986 sehen wir drei große Schwerpunkte der Friedensarbeit:

  • Große Kongresse der berufsbezogenen Friedensinitiativen, z.T. auf internationaler Ebene: Die Tagung der Kulturwissenschaftler im April in Tübingen, der nächste IPPNW-Weltkongreß, der im Juni in Köln stattfindet, und der Kongreß der Naturwissenschaftler im Spätherbst. Darüber hinaus werden internationale Konferenzen bzw. Fachtagungen der Pädagogen und der Informatiker stattfinden.
  • Im November wird es eine Friedenswoche der Wissenschaftler-Initiativen geben, die an allen Hochschulen stattfinden soll.
  • Wird die Unterschriftensammlung gegen SDI fortgesetzt werden, hinzu kommt noch die vom BdWi initiierte Resolution gegen den militärischen Mißbrauch der biologischen Forschung.

Automatisierung des Schlachtfelds?

Automatisierung des Schlachtfelds?

von Karlheinz Hug

„In diesem 20. Jahrhundert ist der Humanismus vergessen und verspottet und alles durch die selbstlose Arbeit der Wissenschaft Geschaffene von schamlosen Mördern mit Beschlag belegt und auf die Vernichtung von Menschen gerichtet. Was auch die Heuchler von den großen Zielen des Krieges reden mögen, ihre Lüge vermag die schreckliche und schändliche Wahrheit nicht zu verdecken: diesen Krieg gebar die Gewinnsucht, die einzige Göttin, die die Realpolitiker, diese Mörder, die mit dem Leben des Volkes Handeln treiben, anerkennen und anbeten.“
Maxim Gorki, unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges.

„Die Weiterentwicklung der Grundlagen der Elektronik in den USA ist heute für die Verteidigung genauso wichtig, wie es die Atombombe im 2. Weltkrieg war.“
De Lauer, Unterstaatssekretär für Forschung
und Entwicklung im Department of Defense, (DeL 82, S. 37).

Die automatische Datenverarbeitung und die Informatik als die Wissenschaft, die deren Grundlagen bereitstellt, sind in ihrer Entwicklung von ihren Anfängen bis heute bei allen wesentlichen technologischen Neuerungen primär (aber nicht ausschließlich) von militärischen Interessen bestimmt worden und als Ergebnis in wesentlichen Teilen durch militärische Anforderungen geprägt. Noch immer ist die Produktion von Destruktionspotentialen – und nicht die Erleichterung der menschlichen Arbeit – der vorherrschende Faktor für die Geschwindigkeit und die Richtung der Entwicklung der Informatik (BKS8 1), (Kei82), (Rei82). Das US-amerikanische Verteidigungsministerium (U.S. Department of Defense, DoD) hat in den letzten Jahren gewaltige wissenschaftspolitische Maßnahmen im Bereich der Informatik ergriffen, die zusammen dazu beitragen sollen, die militärstrategische Überlegenheit der USA für die kommenden Jahrzehnte abzusichern und auszubauen.

Mit dem hardware-technologischen FuE Programm VHSIC (Very High Speed Intergrated Circuits) soll eine neue Generation miniaturisierter integrierter Schaltkreise mit höherer Verarbeitungsgeschwindigkeit zum Einsatz in hochleistungsfähigen Waffensystemen geschaffen werden (Bar82), (Sum82). Eine breit angelegte softwaretechnologische Initiative des DoD ist die Entwicklung der höheren Programmiersprache Ada, die einheitlich im gesamten DoD-Bereich für die Programmierung der in Waffensysteme eingebetteten Rechensysteme eingesetzt werden soll (Rei83), (Kei82), (KeK83). Die Software spielt eine zunehmend wichtige Rolle schon beim Entwurf und der Entwicklung (und nicht erst beim Betrieb) eines militärischen Systems. Die Fehleranfälligkeit dieser komplexen Systeme ist keineswegs ingenieurmäßig bewältigt. Das vom DoD 1983 gestartete STARS Programm (Software Technology for Adaptable, Reliable Systems) soll zur Lösung der Software-Probleme der US Militärs führen und die softwaretechnologischen Grundlagen für die Realisierung der Kriegsführungspläne der US Regierung schaffen (Rei83).

„Forsche Handlungen sind jetzt nötig, wenn wir unsere militärische Vorherrschaft durch die Nutzung von Rechnertechnologie erhalten wollen … Es ist wesentlich, daß die USA die Führung in dieser (Software- und System-) Technologie behalten, um ihre angekündigte strategische Position zu unterstützen …“ (DoD83, S. 59, 67, 61).

Das Strategie Computing-Programm von DARPA

Wie schon im STARS Programm angekündigt, hat das Pentagon nun seinen laufenden Programmen ein weiteres von „Orwellschem Charakter“ hinzugefügt. Mit diesem unter dem Namen „Strategic Computing and Survivability“ (SCS) von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) im Oktober 1983 veröffentlichten FuE-Programm soll eine neue Generation superintelligenter Rechner für militärische Einsatzzwecke hervorgebracht werden, wobei die jüngsten Fortschritte in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Mikroelektronik und Rechnerarchitektur nach den Zielvorstellungen des DoD genutzt, ausgerichtet und vorangetrieben werden sollen. Das Programm wird falls es wie geplant realisiert wird – einen tiefgehenden Einfluß auf den Charakter der Informatikforschung in den USA – und aufgrund der zwischen den NATO-Staaten bestehenden wissenschaftspolitischen Strukturen auch in der BRD – ausüben. Zum anderen wird es einen weiteren Beitrag zur Destabilisierung der angespannten weltpolitischen Situation leisten.

Die Finanzierung des SCS-Programms ist bereits vom Kongress bewilligt (Suc84). Für das Haushaltsjahr 1984 hat DARPA bereits 50 Millionen Dollar erhalten (1985 95 Mill., 1986 150 Mill.). Für die ersten fünf Jahre sieht DARPA insgesamt Ausgaben in Höhe von 600 Millionen Dollar vor (ScV84, S. 50). Bis Ende des Jahrzehnts sollen nahezu eine Milliarde Dollar an fünf Universitäten, zwei nationale Forschungszentren, zwei Konzerne und weitere kleinere Auftragnehmer fließen (CoK83, S. 53).

Gemessen an den Forschungsausgaben für Reagans Krieg-im – Weltraum-Programm „Strategie Defense Initiative“ in Höhe von knapp 1 Milliarde Dollar für 1984 und 1,8 Milliarden Dollar für 1985 (Ege84, S. 280) mag das SCS-Programm als relativ klein erscheinen; es sollte deshalb jedoch nicht unterschätzt werden.

DARPA hat die mit dem SCS-Programm verfolgten Ziele in einem 80 Seiten langen Bericht dargelegt. Darin wird gefordert, „den Vereinigten Staaten ein breites Spektrum von Maschinenintelligenztechnologie verfügbar zu machen und Anwendungen der Technologie auf kritische Probleme der Verteidigung zu demonstrieren“ (Win84).

Diese Maschinen sollen nach den Vorstellungen des Direktors von DARPA, Robert S. Cooper, menschenähnliche Fähigkeiten besitzen. Sie sollen die Aktionen militärischer Systeme auf dem Gefechtsfeld sehen, beurteilen, planen und sogar überwachen können. Cooper sieht die USA weltweit an zwei Fronten im Konkurrenzkampf stehen: politisch und militärisch mit der Sowjetunion, ökonomisch mit seinen Handelspartnern (CoK83, S. 53). Besonders herausfordernd ist dabei Japans Projekt der Fünften Rechnergeneration. Deshalb soll DARPA eine Hauptrolle bei der Entwicklung der zukünftigen Rechnertechnologie einnehmen, von der DARPA behauptet, daß sie „unsere (der USA, K.H.) nationale Sicherheit und unsere ökonomische Stärke vergrößern wird“ (Win84).

Die Technologie für das Air Land Battle Konzept

Vorrangig am SCS-Programm ist sein Beitrag zur Implementierung der vom DoD entwickelten Kriegsführungsdoktrinen. Schon im „Leitlinien-Dokument“ bzw. der Präsidenten-Direktive NSDD-32 wurde gefordert, der Verbesserung der Überlebens- und Widerstandsfähigkeiten und der Entwicklung von C3I-Systemen (C3I = Command, Control, Communications and Intelligence; Befehls-, Kontroll-, Kommunikations- und nachrichtendienstliches System) Priorität zu geben. Bei der Umsetzung der „Air Land Battle“ Doktrin in die Praxis ist die Entwicklung von technologisch fortgeschrittenen Waffen sowie von Aufklärungs- und Kommunikationssystemen einer der wichtigsten Faktoren (Ege82). Weiter in die Zukunft weist das „Air Land Battle 2000“-Konzept: Die USA müssen bereit und fähig sein, zukünftig an verschiedenen Orten der Welt mit verschiedensten Mitteln gegen unterschiedliche Gegner Kriege zu führen. In der von Heeresinspekteur Glanz unterzeichneten Fassung heißt es: „Die Kampfführung verlangt folgende wesentliche Fähigkeiten: Aufklärung tief in die gegnerischen Formationen hinein, hohe Beweglichkeit von Einheiten und Feuerkraft und Vorstoß in die Tiefe, um schnell die Initiative an sich zu reißen und das Nahgefecht zu beenden …

Der Luftraum über dem Gefechtsfeld wird dichtgepackt sein mit hochwertigen luft- und weltraumgestützten Überwachungs-, Aufklärungs- und Zielerfassungssystemen, mit Luftabwehrsystemen oder anderen Waffen, die die Nutzung des Luftraums über dem Gefechtsfeld durch diese Systeme verhindern sollen …

Gleichzeitig werden die Kommunikationssysteme für die Gefechtsführung das Ziel heftiger, hochentwickelter und äußerst wirkungsvoller Maßnahmen der elektronischen Kriegsführung sein. Hocheffektive Führungs- und Kommandostrukturen sind notwendig, um die Fähigkeiten der modernen Waffensysteme voll zu nutzen.“ (MPD83, S. 80, 82, 83)

Ein direkter Zusammenhang zwischen dem SCS-Programm und dem Air Land Battle 2000-Konzept ergibt sich daraus, daß letzteres als Integrationsinstrument für vorhandene Technologien und laufende FuE-Arbeiten dienen soll.

Weitere Hintergründe werden durch Äußerungen von Verteidigungsminister Weinberger beleuchtet: „Während der nächsten Jahre könnten wir mit ernsthaften Herausforderungen in mehreren Regionen der ganzen Welt konfrontiert werden, möglicherweise gleichzeitig.“ (Ege84, S. 284)

Um die Mobilität für Einsätze in der Dritten Welt zu verbessern, werden die schnellen Eingreiftruppen in den nächsten Jahren für „schnelle Reaktionen und weltweite gewaltsame Interventionsunternehmen“ (Weinberger) mit leichten, technologisch hochentwickelten Waffensystemen ausgerüstet (Ege84, S. 286). Ein Problem für die US-Militärs ist dabei die „sich schnell vermindernde Vorhersagbarkeit militärischer Situationen.“ (ScV84, S. 48)

Nach den Vorstellungen von DARPA könnten den kämpfenden US-Streitkräften „intelligente“ Waffensysteme und Schlachtführungshilfen enorm helfen.

Wenn der „Feind“ seine Kampftaktik ändert, so könnten die gegenwärtigen rechnergesteuerten Waffen versagen, wird in dem Bericht befürchtet. Das Neuprogrammieren der Waffen würde aber zu lange dauern, um effektiv zu sein. Deshalb seien gewaltige Anstrengungen nötig, um flexiblere, autonome Waffensysteme zu entwickeln, die auf den Schlachtfeldern eingesetzt werden können, „wo die Regeln des Gefechts schnell geändert werden können“ (ScV84, S. 48). Weinberger formuliert das, von den technischen Details abstrahierend, so: „Wir müssen die Planung für unsere Streitkräfte und unseren Gegenschlag flexibel gestalten, so daß wir den Konflikt vorteilhaft für die Mächte der Freiheit beenden können.“ (Ege84, S. 279)

Daß für einen solchen zukünftigen Krieg der Einsatz atomarer Waffen geplant ist (wie z. B. in der Air Land Battle Doktrin festgelegt), wird auch in dem Dokument von DARPA nicht verschwiegen:

„Wir brauchen Rechner, die weitaus mehr intelligente Arbeitsfähigkeiten, erhöhte Überlebensfähigkeit in feindlicher und starker Strahlung ausgesetzter Umgebung, und immens verbesserte Mensch-Maschinen-Schnittstellen haben.“ (ScV84, S. 48)

Der Krieg der Sterne

Das SCS-Programm soll auch eine Schlüsselfunktion bei der Militarisierung des Weltraums ausüben. Der Bau eines weltraumgestützten Raketenabwehrsystems (ABM- bzw. BMD-System), den Reagan in seiner „Star Wars“-Rede vom 23. März 1983 gefordert hat, würde enorme Anforderungen an das C3I-System stellen (Ege84, S. 282), (EnD84, S. 289). Euphorisch äußerte Weinberger am 11. April 1 983:

„Heute ermöglicht die gewaltige technologische Revolution in der Mikroelektronik den Bau sehr kleiner Hochleistungsrechner, die es uns erlauben, mobile Raketenabwehrsysteme zu erwägen, die im Weltraum, in der Luft und zu Lande stationiert werden können. Diese Kapazität, gekoppelt mit Energiestrahlwaffen, „intelligenten“ Raketen und hochentwickelten Sensoren, gibt uns die Möglichkeit, einen Entwurf für die Entwicklung einer Raketenabwehr vorzulegen, zu der der Präsident kürzlich aufgerufen hat.“ (EnD 84, S. 290)

Die Unwägbarkeiten, die durch die Schnelligkeit hervorgerufen werden, mit der die Systeme einsatzfähig sein müssen, sieht DARPA durch Automatisierung als eliminierbar an. Im Strategic-Computer Bericht heißt es dazu:

„Ein besonders hervorzuhebendes Beispiel … ist die geplante Abwehr strategischer nuklear Raketen, bei der Systeme so schnell reagieren müssen, daß wahrscheinlich fast vollständiges Vertrauen in autonome Systeme gesetzt werden muß. Gleichzeitig wird die Komplexität und Unvorhersagbarkeit von Faktoren, die Entscheidungen beeinflussen, sehr groß sein“ (ScV 84, S. 48).

Künstliche Intelligenz wird militarisiert

Eine zentrale Rolle im SCS-Programm spielt die künstliche Intelligenz (KI), eine Fachdisziplin der Informatik, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Unter den Forschungsgebieten aus der KI, mit denen DARPA die militärischen Anwendungen erschließen will, sind Expertensysteme mit sehr großen Wissensbasen, Erkennung optischer und akustischer Muster (Bild- und Spracherkennung), maschinelles Verstehen natürlicher Sprachen, Graphik- und Navigationssysteme. Als auch für die militärische Verwertung ausgereister Ergebnisse anderer Bereiche betrachtet DARPA Software-Produktionsumgebungen nach der Prototyping-Methode, Rechnerarchitekturen für stark parallel arbeitende Mehrprozessorsysteme, Entwurfsmethoden für Mikrosysteme und Halbleiterproduktionstechnologien.

Im zivilen Bereich werden Expertensysteme heute für automatisierte Beratungen eingesetzt, wo sie als Partner mit Benutzern zusammen Lösungen für Probleme aus jeweils eingegrenzten Aufgabenbereichen spezieller Fachgebiete erarbeiten sollen. Die Kommunikation des Menschen mit der Maschine soll auf der höheren Ebene der Artikulation von Problemstellungen stattfinden. Expertensysteme sollen Fragen, die der Benutzer in natürlicher Sprache im Dialog eingibt, automatisch erkennen und Problemlösungen verständlich darstellen und begründen können (Rau 82). Ihre Fachkompetenz erhalten die Expertensysteme durch die Ansammlung großer Mengen von Wissen, d. h. von fachspezifischen Fakten, Arbeitstechniken, Schlußregeln und Lösungsverfahren, die geeignet repräsentiert sind und vom Expertensystem genutzt werden können.

Anwendungsgebiete von Expertensystemen gibt es im wissenschaftlichen Bereich u.a. in der Medizin, Chemie, Biologie, Geologie (Öl- und Erzvorkommen). In den USA erscheinen Expertensysteme nach einigen Jahren großenteils DARPA finanzierter universitärer Forschung seit 1983 auf dem Markt zur kommerziellen Verwertung.

DARPA sieht in Expertensystemen „die vielleicht phänomenalste“ Technologie, die ihm zur Befriedigung seiner militärischen Bedürfnisse zur Verfügung steht. „Die Methoden zur Identifizierung und Mechanisierung von praktischem Wissen, gesundem Menschenverstand und Fachwissen sind ausgereift“, behauptet DARPA in seinem Bericht (ScV 84, S. 50).

In der Fachwelt gehen allerdings die Ansichten darüber, wozu Expertensysteme fähig sind und wozu nicht, extrem auseinander. Weniger euphorisch äußert sich z. B. der KI-Forscher bei Hewlett-Packard, Betram Raphael:

„Ich glaube, man hat den Eindruck übertrieben, daß wir die Methode, wie man Expertensysteme konstruiert, schon richtig im Griff haben. Wir haben lediglich gewisse Vorstellungen, die uns zu brauchbaren Expertensystemen und zu Verfahrensweisen, wie diese Werkzeuge herzustellen seien, hinführen können“ (Hel 84, S. 345).

Trotz solcher Vorbehalte betrachten die Militärs Expertensysteme als besonders hilfreich bei der Führung komplexer Gefechtssituationen und beim Einsatz ihrer barocken Waffenmaschinerie. Nicht zu Unrecht meint DARPA, daß Kommandierende und Soldaten durch die Anzahl der Entscheidungen, die sie in kurzer Zeit in einer extremen, unüberschaubaren Kriegssituation zu treffen haben, überfordert werden könnten. Expertensysteme sollen hier Abhilfe schaffen und große Teile der „Aufgabe“ übernehmen. Dahinter steht die Absicht, den „modernen“ Krieg führbar und gewinnbar zu machen.

Erste Anwendungen für die drei Teilstreitkräfte

DARPA schlägt in seinem Bericht vor, daß zunächst bis Ende der 80er Jahre drei „herausfordernde“ militärische Anwendungen – je eine für jede Abteilung der Teilstreitkräfte Armee, Luftwaffe und Marine – entwickelt werden.

Als Anwendung für die US-Army sieht DARPA ein autonomes System vor: ein fahrerloses Landfahrzeug, das zur Aufklärung, Munitionsverwaltung und Munitionslieferung eingesetzt werden könnte. Das Fahrzeug soll fähig sein, querfeldein mit Geschwindigkeiten bis zu 60 km/h zu fahren, wobei es sich auf seinem Weg zu einem vorherberechneten Ort mittels visueller Sensoren und eines Bordrechners selbst steuern soll. Ein mit einem Echtzeit-Expertensystem zusammenarbeitendes Bildverarbeitungssystem soll Hindernisse entdecken, Geländeorientierungspunkte lokalisieren und identifizieren, und eine Karte des Gebietes anlegen. Die für das Fahrzeug hochentwickelten Fähigkeiten der Bilderkennung und -verarbeitung und von Expertensystemen sollen dann auch für autonome Maschinen wie Marschflugkörper, Unterseeroboter, und – als erhoffter spin-off in den zivilen Bereich – für Materialbehandlungssysteme in Fabriken anwendbar sein.

DARPA schätzt, daß der Rechner des Landfahrzeuges, um seine komplexen Aufgaben in der geforderten Zeit erledigen zu können, eine Rechenleistung von 10.000 bis 100.000 MIPS (das sind 10 bis 100 Milliarden Befehle pro Sekunde, wobei als Einheit ein Befehl eines Von Neumann-Rechners zugrundegelegt ist, erbringen müßte. (Im Vergleich dazu erstreckt sich heutzutage der Leistungsbereich von etwa 1 MIPS bei Mikrorechnern bis zu 30 bis 40 MIPS, die auf den leistungsfähigsten Rechnern verfügbar sind.) Für den Speicher des Bordrechners schätzt DARPA eine notwendige Kapazität von ca. 10 Gigabytes (= 10**10 Bytes, zum Vergleich: der zentrale Rechner, der dem Fachbereich Informatik der TH Darmstadt für Forschungs- und Lehrbetriebs- und Dienstleistungsaufgaben zur Verfügung steht, hat einen Hauptspeicher von 4 Megabytes = 4*10**6 Bytes). Darüberhinaus soll der Bordrechner weniger als einen halben Kubikmeter Raum einnehmen, weniger als 250 kg wiegen, und weniger als ein Kilowatt elektrischer Leistung verbrauchen. Extreme Anforderungen an die Hardware also – kämen sie nicht von DARPA, sondern aus einem zivilen Bereich, so gelten sie vermutlich als maßlos übertrieben und ihre Realisierung wäre wegen fehlender Kapitalinvestitionen zum Scheitern verurteilt.

Die zweite Anwendung, die im SCS-Programm für die US-Air Force vorgesehen ist, ist ein kollaboratives Rechensystem für Kampfflugzeuge. Dieser „Roboterkollege“ soll die Aufgabe erfüllen, einen Kampfpiloten unter extremen Gefechtsbedingungen bei der Überwachung und Handhabung der zahlreichen Flug- und Waffensysteme seines Flugzeugs zu unterstützen. Denn schon bei Übungen zeigte sich, daß die Piloten der hochgezüchteten Flugzeuge gar nicht dazu kommen, die vielen theoretisch möglichen Fähigkeiten ihrer Maschinen auszunutzen (Kal 81,.S. 24). Um diesem Mangel abzuhelfen, sollen Expertensysteme, Spracherkennung und graphische Technologien ausgiebig Verwendung finden. Die in einem solchen Expertensystem gespeicherten Wissensbasen oder Mengen von Regeln sollen dem DARPA-Bericht zufolge mit „mehreren Tausend“ Regeln „signifikant größer sein als irgendeine der bisher bewältigten.“ (ScV 84 S. 49)

Mit den Anstrengungen auf den Gebieten maschinellen Verstehens natürlicher Sprachen und sehr großer Wissenshasen sollen die Probleme der Mensch-Maschine-Kommunikation gelöst werden: Der Pilot spricht die Kommandos, der Roboter antwortet und führt sie aus. Jeder Pilot soll sein System so „trainieren“ können, daß es eng mit ihm zusammenarbeitet und sich an sich verändernde Bedingungen anpaßt.

„Eine solche Zusammenarbeit könnte den menschlichen Piloten aus der Rolle eines Knopf-und-Schalter-Technikers in die eines Flugzeugkommandeurs befördern, die Gesamtaufgabe auszuführen“ (CoK 83, S. 54), meint DARPA-Chef Cooper.

Die dritte, für die US-Navy vorgesehene Anwendung ist ein Seeschlacht-Managementsystem. Es soll als Modell für andere großdimensionierte Managementsysteme dienen, die bei militärischen Einschätzungen auf einem Gefechtsfeld helfen sollen. Diese Systeme sollen die Konsequenzen militärischer Handlungsabläufe simulieren, mutmaßliche Ereignisse vorhersagen, detaillierte Aktionspläne entwickeln, Konflikte zwischen verschiedenen konkurrierenden Zielen lösen, geeignete Handlungen empfehlen, die auf dem Gefechtsfeld gewonnenen Signale interpretieren und auf sich verändernde Gefechtsentwicklungen reagieren können. Diese Informationen sollen zusammengefaßt als raffinierte Graphik auf Bildschirmen präsentiert werden. Statt den enormen Datenstrom, der zukünftige Schlachten kennzeichnen wird, selbst bewältigen zu müssen, könnten sich die Befehlshaber und ihre Stäbe auf die „größeren strategischen Fragen“ konzentrieren. Die Navy hat solche Systeme bereits auf ihrem Flugzeugträger U.S.S. Carl Vinsson erprobt. Sie stellt sich vor, daß bei zukünftigen Managementsystemen ca. 20.000 Regeln in ein „verteiltes Expertensystem“ eingebracht werden. Da die Schnittstelle zwischen den Kommandierenden und dem Rechensystem großenteils auf Graphik und Sprache, zwei rechenintensiven Technologien, beruhen soll, müßte der Rechner ein effektives Leistungsniveau von ca. 10.000 MIPS bieten.

Die Rechner, auf deren Entwicklung das SCS-Programm abzielt, sollen auch bei der Führung von Kriegsspielen helfen oder beim aerodynamischen und hydrodynamischen Entwurf von Flugzeugen und Schiffen eingesetzt werden. Und schließlich sollen die superintelligenten Rechner auch als Fachberater für Entscheidungsträger in Bereichen wie Logistik, Flugeinsätze bei Flugzeugträgern und nukleare Planung fungieren.

Der Betrieb der geplanten Expertensysteme erfordert zunehmende Rechenkapazität und Leistung, die um drei bis vier Größenordnungen (!) über der heutiger Maschinen liegt. DARPA schlägt deshalb vor, Rechner mit weitentwickelten Fähigkeiten zur Parallelverarbeitung auf VLSI (Very Large Scale Integration) Basis zu bauen. Für den Anfang soll die Mikroelektronik der Maschinen noch in den verbreiteten Silizium-Technologien hergestellt werden, für die Zukunft ist jedoch eine Konzentration auf die Gallium-Arsenid Technologie vorgesehen. Der Grund dafür: höhere Schaltgeschwindigkeiten bei geringerem Energieverbrauch und größere Widerstandsfähigkeit gegen die in Gefechtssituationen erwartete nukleare Strahlung. Die neuen militärischen Systeme sollen ja schließlich auch einem länger andauernden Atomkrieg standhalten können.

Eine Forschungsinfrastruktur wird geschaffen

Die Realisierung des DARPA-Plans erfordert eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Universitäten, der Industrie und der Regierung, wobei das Militär die koordinierende und führende Funktion ausübt. Wesentlich dabei ist die Schaffung einer starken US-weiten Forschungsinfrastruktur. Sie soll die Einrichtung von „Leistungszentren“ an den Universitäten, die Vernetzung der gegenwärtig verfügbaren von DARPA finanzierten KI-Maschinenparks und die Einrichtung von Silizium-Giessereien zur schnellen Produktion von VLSI-Chips einschließen. Mit dem SCS-Programm wird so die Integration von FuE- und Produktions-Potentialen in den US-amerikanischen militärisch industriellen Komplex weiter fortschreiten.

Es gibt jedoch auch skeptische Meinungen aus dem Industriebereich, die wie folgt zusammengefaßt werden können.

  • DARPA, bestehend aus relativ wenigen hervorragenden Leuten (und nicht einer riesigen Bürokratie wie die National Science Foundation), Könnte von der Führung des SCS-Programms überfordert werden, da so viele verschiedene Aktivitäten und Forscher über einen großen Bereich zu koordinieren sind.
  • Es mangelt an talentierten, qualifizierten Fachkräften.
  • Die Konkurrenz zwischen zivilen und militärischen KI-Interessen könnte sich verschärfen. Das DARPA-Programm könnte dem zivilen Bereich Personal entziehen.

Auch im Lager der Reagan-Regierung findet das SCS-Programm nicht nur einhellige Zustimmung. Ed Zschau, ehemaliger leitender Angestellter einer Rechnerfirma, Vorsitzender der Projektgruppe für Spitzentechnologie der Republikanischen Partei, Kongreßmitglied für einen Bezirk von Silicon Valley, stellt am SCS-Programm die starke Betonung der militärischen Anwendungen in Frage. Es gibt zu Bedenken, daß die technologischen Innovationen klassifiziert werden könnten, weil ihnen militärische Bedeutung unterstellt wird, so daß sie nur schwerlich aus dem militärischen in den privatwirtschaftlichen Bereich durchdringen könnten.

„Ich würde mich wohler fühlen, wenn es zwei militärische und eine kommerzielle Anwendung wären“, meint Zschau, und „wenn dieses ganze Geld an die Lockheeds der Welt ginge, dann hätte ich dabei nicht so gute Gefühle wie bei einem Programm, das an die Universitäten geht“ (SpV 84, S. 50).

Offenbar will Zschau die Interessen der verschiedenen Teile der Rechnerindustrie vertreten und befürchtet daher, daß der technologische spin-off nicht in gewünschter Masse stattfinden könnte.

Wie wird das SCS-Programm im Wissenschaftsbereich aufgenommen? Die beiden großen Fachorganisationen ACM (Association for Computing Machinery) und IEEE (The Institute of Electrical and Electronics Engineers) haben das DARPA-Programm – wie zuvor andere DoD-Initiativen – stillschweigend akzeptiert (New 84).

Antimilitaristische Kräfte regen sich

Abgelehnt wird das SCS-Programm von CPSR (Computer Professionals for social Responsibility), einer Vereinigung von Informatikfachleuten, die der wachsenden globalen Bedrohung einer Atomkriegskatastrophe entgegenwirken wollen. Die Organisation, deren Mitgliederzahl wächst, versteht sich als Teil der Friedensbewegung, zu der sie einen fachspezifischen Beitrag leistet. Die Hauptzielsetzung von CPSR ist es, ihre Mitglieder, die politische Führung und die breite Öffentlichkeit über den Beitrag der Rechnertechnologie zu den Gefahren des atomaren Wettrüstens aufzuklären, und über soziale Prozesse, die zu weltweitem Frieden führen können, zu informieren. In der Grundsatzerklärung von CPSR heißt es:

„Wir mißbilligen die Verschwendung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten durch das Streben nach größerer militärischer Macht, die nicht zu unserer Sicherheit, sondern zu unserem gemeinsamen Risiko beiträgt. Wir fordern, daß unsere Talente, Mittel und Energien auf mehr sozial Verantwortbare Ziele hingelenkt werden. Wir beschließen, für eine Welt zu arbeiten, in der Wissenschaft und Technologie benutzt werden, nicht um Waffen für den Krieg zu produzieren, sondern um eine sichere und gerechte Gesellschaft zu fördern.“

Zu den Aktivitäten von CPSR gehören die Herausgabe einer eigenen Zeitung (The CPSR Newsletter), Veröffentlichungen, die Durchführung von Seminaren, Podiumsgesprächen und Veranstaltungen, und die Zusammenarbeit mit Fachleuten und Wissenschaftlern aus anderen Ländern.

CPSR hat ein Komitee gebildet, das zwei Positionspapiere zum SCS-Programm erarbeitet. Eine Stellungnahme richtet sich an die Informatikergemeinschaft, um die Diskussion – unter denen, die schon an SCS-Projekten arbeiten und unter der Fachwelt allgemein – über das SCS-Programm anzuregen. Die andere Stellungnahme richtet sich an die Politiker und die Öffentlichkeit. Der Konsens innerhalb CPSR konzentriert sich auf folgende Kritikpunkte am SCS-Programm.

– SCS zielt auf spezifische neue Waffensysteme. CPSR gibt zu bedenken, daß neue Forschungsvorhaben in der Informatik hinsichtlich ihrer Relevanz für diese spezifischen Anwendungen bewertet werden, und nicht nach ihrem allgemeinen wissenschaftlichen Wert.

– SCS fördert den Einsatz von KI, um den Betrieb komplexer militärischer Systeme unter unvorhersagbaren Um-. ständen zu steuern. CPSR gibt zu bedenken, daß Situationen mit extremer Unsicherheit genau die falsche Umgebung für die Anwendung von KI sind, insbesondere wenn das Risiko groß ist.

– SCS fördert die militärische Anwendung von Rechnertechnologie als eine Lösung für Probleme der Verteidigung. CPSR gibt zu bedenken, daß bisherige Versuche, Überlegenheit in neuen Waffensystemen zu erreichen, ein Wettrüsten ohne erkennbares Ende angeheizt haben, anstatt die Sicherheit zu erhöhen.

Der letzte Kritikpunkt ist der schwerstwiegende: „Wir glauben weder, daß der Weg zu nationaler Sicherheit in militärischer Überlegenheit liegt, noch daß Überlegenheit durch den Einsatz von Rechnern erreicht werden kann.“ (Suc 84)

Die Diskussion um das Strategic Computing-Programm und seine Auswirkungen sollten auch in der BRD weitergeführt werden. Mit der Bildung der bundesweiten Initiative „Informatiker für Frieden und gesellschaftlicher Verantwortung“ nach dem Vorbild CPSR sind die Voraussetzungen verbessert worden, die militärischen Einflüsse auf die Informatik aufzuzeigen, humane Alternativen zu entwickeln, und diese langfristig gemeinsam mit anderen demokratischen Kräften durchzusetzen.

Literatur

(Bar 82) Barnaby, Frank: Computer und Militär, in: Müllert, N. (Hrsg.): Schöne elektronische Welt. Hamburg, 1982, 146-158

(BKS 81) Broedner, Peter/ Krüger, Detlef/ Senf, Bernd: Der programmierte Kopf. Eine Sozialgeschichte der Datenverarbeitung. Berlin, 1981

(CoK 83) Cooper, Robert S./ Kahn, Robert E.: SCS: Towards Supersmart Computer for the Military. IEEE spectrum, November 1983, 53-55

(DeL 82) De Lauer, Richard D.: The Force Multiplier. IEEE spectrum, October 1982, 36-37

(DoD 83) Department of Defense: Software Technologie for Adaptable, Reliable Systems (STARS) Program Strategy. ACM Sigsoft Software Engineering Notes, Vol. 8, No. 2, April 1983, 55-108

(Ege 82) Ege, Konrad: Schlachtfeld Europa. Die neue Heeresdoktrin der Nato. Blätter für deutsche und internationale Politik, 12, 1982

(Ege 84) Ege, Konrad: Das Pentagon-Budget 1985: Weltraumwaffen, Air-Land Battle und Interventionen in der Dritten Welt. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1984, 278-287

(EnD 84) Engels, Dieter/ Dietrich-Swiderski, Jochen: Militarisierung des Weltraums. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1984, 288309

(Hel 84) Helms, Hans G.: Künstliche Intelligenz? Maschinen, die denken? Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1984, 334-354

(Kai 81) Kaldor, Mary: Rüstungsbarock. Das Arsenal der Zerstörung und das Ende der militärischen Techno-Logik. Berlin, 1981

(Kei 82) Keil, Richard: Die neue Waffe Der Computer. In: GI 12. Jahrestagung, Informatik-Fachberichte 57, Berlin, 1982, 457- 478

(KeK 83). Keil, Reinhard/ Kreowski, Hansjörg: Bis daß der Tod sie scheidet: Atomwaffen und Computer – Die Liaison des Jahrhunderts. In: Bickenbach, J. u. a. (Hrsg.) Informatiker für Frieden – Informatik für Krieg. Beiträge zum Thema: Informatik und Militär. TU Berlin, 1983, 16-33

(MPD 83) Die „Air-Land-Battle“-Doktrin. Eine offensive Kriegsführungsdoktrin für das Schlachtfeld Europa. Militärpolitik Dokumentation, Heft 34/ 35, 1983

(New 84) Newman, Ron: Strategie Computing and professional Ethics. The CPSR Newsletter, Vol. 2, No. 1, Winter 1984

(Rau 82) Raulefs, Peter: Knowledge Engineering. Informatik-Spektrum, Band 5, Heft 1, Februar 1982, 50-51

(Rei 82) Reisin, Michaela: Computerisiertes Militär – militarisierte Informatik. In: GI 12, Jahrestagung, Informatik-Fachberichte 57, Berlin, 1982, 432 -456

(Rei 83) Reisin, Michaela: Entstehung und Entwicklung des Fachgebietes Software Engineering vor dem Hintergrund militärischer Anwendung. In: Bickenbach, J. u.a. (Hrsg.): Informatiker für Frieden – Informatik für Krieg. Beiträge zum Thema: Informatik und Militär. TU Berlin, 1983, 34-53

(ScV 84) Schatz, Willie/ Verity, John W.: DARPA's Big Push in Al. Datamation, February 1984, 48-50

(Suc 84) Suchman, Larry W.: VHSIC: A Promise of Lecerage. IEEE spectrum, October 1982, 93-94

(Win 84) Winograd, Terry: DARPA Strategie Computing Proposal. The CPSR Newsletter, Vol. 2, No. 1, Winter 1984

Konzeption der Bundesregierung zur Förderung der Entwicklung der
Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechniken, BMFT (Hrsg.), Bonn 1984

(19)
Wehrtechnische Forschung, Entwicklung und Beschaffung

Die Bundesregierung sieht in der Entwicklung auf elektronischem Gebiet die
Möglichkeit, die Fähigkeiten der Bundeswehr zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages
entscheidend zu stärken.

In Würdigung des Berichtes der Kommission für Langzeitplanung der Bundeswehr
beauftragt sie den Bundesminister der Verteidigung, die Entwicklungen auf den Gebieten

  • Mikroelektronik
  • Nachrichtentechnik und
  • Inforrnationsverarbeitung

zu verfolgen, diese unter Berücksichtigung der Bedürfnisse zur Auftragserfüllung
der Bundeswehr durch gezielte anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu nutzen,
sowie ausreichende eigene Anstrengungen im Bereich der wehrtechnischen Forschung und
Entwicklung zur Zukunftssicherung zu unternehmen.

Im Rahmen des von ihm zu erarbeitenden Forschungs- und Technologiekonzeptes sind
dafür in Zusammenarbeit mit Instituten und Industrie geeignete Maßnahmen vorzusehen.

Für den Bereich der wehrtechnischen Forschung auf dem Gebiet Informationstechnik
ist darüber hinaus eine enge Abstimmung mit anderen Ressorts, wie BMFT und BMP,
vorzusehen, um den Einsatz von Mitteln und Ergebnissen für die Wehrtechnik zu optimieren.
Der Bundesminister der Verteidigung wird daher von den anderen Ressorts schon beider
Formulierung von Fachprogrammen und sich daraus ergebenden Einzelaufgaben beteiligt
werden, um seine mittel- bis langfristigen Erfordernisse ressortübergreifend in die
Planung einzubringen.

Für die Zwecke des Datenschutzes sowohl bei der Übertragung von personenbezogenen
Daten als auch für die Zwecke der Landesverteidigung ist es erforderlich, neue Techniken
der Verschlüsselung in der Informationsübertragung zu untersuchen und in Verbindung mit
den neuen Kommunikationsdiensten weiter zu entwickeln. Die Bundesregierung wird daher ein
ressortübergreifendes Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Kryptierung in Angriff
nehmen und beauftragt den Bundesminister der Verteidigung mit der Federführung.

Aus dem Hearing des Defense Department zu Weltraumwaffen

„Der Knall begann, als eine Befragung, die Robert S. Cooper, den Direktor der,
Defense Advanced Research Projects Agency, George Keyworth, Reagans Wissenschaftsberater
und Generalleutnant James A. Abrahamson, Direktor der Strategic Defense Initiative
einschloß, feststellte, daß ein im Weltraum stationierten Laser Abwehr System, dazu
konzipiert die sowjetischen Langstreckenraketen in ihrer Startphase zu zerstören, in
einer außerordentlich kurzen Zeit ausgelöst werden müßte.

Die Triebwerke zu zerstören, bevor sie die atomaren Sprengköpfe in den Weltraum
befördert hätten, würde eine Aktion verlangen, so schnell, daß es eine Entscheidung im
Weißen Haus ausschließen würde – und sogar eine Entscheidung durch den Computer
notwendig machen wurde. An dieser Stelle explodierte der demokratische Senator Paul E.
Tsongas: „Vielleicht sollten wir R2-D2 (den Roboter aus „Star Wars“ die
Red.) zur Präsidentenschaft in den 90ern favorisieren. Schließlich wird er allzeit in
Betrieb sein.“

„Hat irgend jemand dem Präsidenten erzählt, daß er aus dem Entscheidungsprozeß
raus ist?“ fragte Tsongas. „Ich sicher nicht“, sagte Keyworth.

Sen. Joseph R. Biden Jr. (demokratischer Abgeordneter) stellte die Frage in den
Mittelpunkt, ob ein Irrtum möglicherweise die Sowjets dazu provozieren konnte, einen
realen Angriff auszulösen. „Laßt uns annehmen, der Präsident selber wurde einen
Fehler machen (…)“ sagte er. „Warum ?“ unterbrach Cooper. „Wir
müssen die Technologie so machen, daß er keinen Fehler machen kann.“

„OK.“ sagte Biden. „Sie haben mich überzeugt. Sie haben mich
überzeugt, daß ich dieses Programm nicht auf den Weg bringen will.“

aus einem AP-Artikel in Los Angeles Times, 26. April 1984

Karlheinz Hug ist Diplom-Mathematiker und wissenschaftlicher Angestellter am Fachbereich Informatik der TH Darmstadt, Alexanderstraße 24, 6100 Darmstadt.

Das nukleare Wettrüsten – eine neue Initiative ist jetzt dringend notwendig

Das nukleare Wettrüsten
– eine neue Initiative ist jetzt dringend notwendig

von Mike Pentz

Das Jahr 1983 endete mit der Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II Raketen der USA in Großbritannien und in der BRD, und es scheint unausweichlich, daß die nächsten Jahre von einer weiteren Steigerung der nuklearen Rüstung der USA und ihren NATO-Verbündeten gekennzeichnet sein werden, einer Steigerung, die die Eskalation der 70er Jahre, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht weit in den Schatten stellen wird. Es scheint auch unausweichlich, daß die einseitige nukleare Aufrüstung der USA in den 80er Jahren, wie in den 70er Jahren, mit entsprechenden sowjetischen Gegenmaßnahmen beantwortet werden wird.

Der sowjetische Verteidigungsminister, Marschall Dimitri Ustinov, sagte vor einem Jahr im Zusammenhang mit den USA-Plänen für die Bereitstellung von hundert neuen MX-Raketen in Minuteman-Raketensilos:

„Wenn uns die derzeitige Regierung im Weißen Haus entgegen dem gesunden Menschenverstand und der Friedenssehnsucht der Völker durch die Stationierung von MX-Raketen herausfordert, wird die Sowjetunion mit der Stationierung einer neuen Interkontinentalrakete des gleichen Typs antworten, die der MX in keiner Weise nachstehen wird. Ebenso wird die UdSSR, falls erforderlich, schnell und wirksam auf andere Bedrohungen aus Washington reagieren.“1

Im August 1983 veröffentlichte das sowjetische Komitee für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit einen wichtigen Appell gegen die zunehmende Kriegsgefahr in Europa. Er enthielt folgenden Abschnitt:

„Selbstverständlich wird das Sowjetvolk niemandem gestatten, die in Europa und in der übrigen Welt bestehende Parität zu zerstören; denn das würde seine Sicherheit gefährden. Die sowjetische Öffentlichkeit begrüßt einmütig die Maßnahmen, die angesichts der sich jetzt abzeichnenden Lage ergriffen werden, um die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und seiner Verbündeten auf dem erforderlichen Niveau zu halten.“2 Am 1. Oktober 1983 nahm eine Massendemonstration in Moskau eine ausgezeichnete Erklärung an: „Laßt uns die Gefahr eines Kernwaffenkrieges von Europa abwenden! Vermindert die bestehenden Arsenale!“ Diese Forderungen werden fraglos von den Friedensbewegungen nicht nur in ganz Europa, sondern auch in der UdSSR und in den USA einhellig unterstützt. Die Erklärung enthielt aber auch folgende Feststellung, die der obigen prinzipiell entspricht: „Wir sind für ein einfaches und klares Prinzip – gleiche Sicherheit für alle! Es gibt keinen Unterschied zwischen einer amerikanischen, britischen oder französischen Rakete, wenn sie gegen die UdSSR und deren Verbündete gerichtet ist und sie treffen kann. Es ist unser unverzichtbares Recht, uns gegen jedwede Rakete zu schützen! Sollten die USA und die NATO beginnen, neue Raketen zu stationieren, ist es die Pflicht der sowjetischen Regierung, wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen.“3

Allen diesen Erklärungen liegt das „Prinzip der Parität“ und der gleichen Sicherheit zugrunde, und eingebettet in das „Prinzip“ ist das unausgesprochene Axiom: „Parität“ ist eine notwendige Bedingung für „gleiche Sicherheit“.

Ich glaube, es ist an der Zeit, genauer zu prüfen, was die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe „Parität“ und „Sicherheit“ oder auch „Verteidigungsfähigkeit“ und „wirksame Gegenmaßnahmen“ bedeuten. Der Kontext ist klar der eines sich steigernden Wettrüstens.

Die Geschichte des nuklearen Wettrüstens ist die einer Serie von den USA initiierter einseitiger Eskalation, die von der UdSSR gewöhnlich nach mehreren Jahren Verspätung mit Gegeneskalationen erwidert wurde. Ein typisches Beispiel für diesen Prozeß waren die MIRV-Sprengköpfe. Die USA führten sie von 1970 an ein, und die UdSSR stellte den Gleichstand auf diesem Gebiet etwa 1976 her. Das Ergebnis schließlich:

  1. ) auf beiden Seiten hatte sich das Potential zur Bekämpfung strategischer Ziele (die sogenannte „counterforce capability“), sowohl auf Grund der Zunahme der Zahl der Sprengköpfe, die mehrere Ziele unabhängig bekämpfen können, als auch auf Grund der gleichzeitig erhöhten Zielgenauigkeit der Raketen bedeutend erhöht;
  2. ) die Sicherheit der USA als auch der UdSSR (von der Sicherheit ganz Europas ganz zu schweigen) hatte sich entscheidend vermindert.

1979/80 stellte die UdSSR bekanntlich eine ungefähre „Parität“ mit den USA auf dem Gebiet der strategischen Kernwaffensysteme her. Aber trotz der ungeheuren Anstrengungen und Opfer, die es kostete, um die Lücke zu schließen, die vorher zwischen den USA und der UdSSR in Bezug auf das Potential zur Bekämpfung strategischer Ziele bestanden hatte, bedeutete die Herstellung der „Parität“ nicht, daß sich die Sicherheit erhöht hätte; ganz im Gegenteil, die Sicherheit der UdSSR war 1980 wesentlich geringer als 1970. Aus diesem Beispiel folgt (und weitere ließen sich anführen), daß mit der Erringung der „Parität“ nicht mehr Sicherheit gewonnen wird; sie kann – und in der Praxis ist das der Fall – weniger Sicherheit bedeuten.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die USA mit ihrer jetzigen einseitigen nuklearen Hochrüstung einen neuen außerordentlich gefährlichen „Sprung“ nach vorn im nuklearen Wettrüsten unternehmen. Die Einführung von Raketen mit hoher Zielgenauigkeit, wie z.B. die Pershing II-Raketen, die Marschflugkörper, die Trident D5 und die MX, bedeutet nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Eskalation, denn wenn solche Raketen zuverlässig funktionieren, werden sie erstmals in der Lage sein, befestigte „Punktziele“, wie die Silos sowjetischer Interkontinentalraketen, sowie Kommando- und Kontrollzentralen zu treffen, und zwar mit faktisch 100 prozentiger Wahrscheinlichkeit. Sobald die Stationierung dieser neuen hochwirksamen counterforce-Waffen von weiteren technischen Fortschritten auf dem Gebiet der U-Boot-Abwehr begleitet ist, besteht die große Gefahr, daß militärische und politische Führer in den USA auf den Gedanken kommen, sie hätten eine „glaubhafte Erstschlagsfähigkeit“' erlangt. Alles deutet daraufhin. daß die UdSSR auf diese neueste Eskalation wieder mit einer Gegeneskalation reagieren wird, indem sie vergleichbare Raketen von hoher Zielgenauigkeit entwickelt und stationiert und möglicherweise solche „Gegenmaßnahmen“ trifft, wie die Anordnung der „Starts sofort nach der Warnung“ bei bestimmten. sonst verwundbaren Raketen, die auf feste Startbahnen angewiesen sind, oder indem sie mobile ballistische Raketen stationieren. wie sie die USA selbst einzuführen beabsichtigen, und zwar die einen einzigen Sprengkopf tragende Midgetman-Rakete (kleine Interkontinentalrakete). Die kritische Frage lautet, ob solche „Wie du mir so ich dir“ Gegeneskalationen die Sicherheit der UdSSR erhöhen oder vermindern werden, vorausgesetzt, daß die USA diese neuen Stationierungen weiter energisch betreiben, wenn nicht die „Freeze“-Kampagne eine viel größere Wirkung erreicht, als es bis jetzt der Fall war (so beträchtlich sie auch sein mag). Die Frage lautet nicht, ob die Sicherheit der UdSSR (und der USA) im Falle der Unterlassung jeder weiteren Eskalation durch eine der beiden Seiten größer wäre als im Falle einer bedeutenden weiteren Eskalation durch beide Seiten. Die eigentliche Frage lautet, ob die Sicherheit der UdSSR (und der USA) größer wäre, wenn die UdSSR, wie in der Vergangenheit mit einer Gegeneskalation antwortet, oder ob sie größer wäre, wenn die UdSSR jetzt eine Haltung des „genug ist genug“ einnähme, d.h. eine Politik des „einseitigen Einfrierens“ der nuklearen Rüstung verfolgte und daher auf eine Erwiderung verzichtete. Mit anderen Worten, wäre die Sicherheit der UdSSR bei einer Erwiderung geringer als bei einer Nichterwiderung? Ich glaube, es gibt berechtigte Gründe für die Annahme, daß eine von der UdSSR verfolgte Politik des einseitigen Einfrierens speziell auf dem Gebiet der Offensivwaffen, mit denen strategische Ziele des Gegners bekämpft werden können (diese Politik schlösse die Indienststellung neuer raketentragender U-Boote, wie z. B. der Taifunklasse, nicht unbedingt aus), die Sicherheit der UdSSR nicht vermindern, sondern erhöhen würde. Solange die UdSSR eine entsprechende Zweitschlagskapazität behält – und mit weitreichenden U-Boot-gestützten ballistischen Raketen wird diese noch lange Zeit gewährleistet sein -, solange kann es keinen Verlust geben an Sicherheit als Folge eines Verzichts auf den Versuch, auf dem Gebiet der strategischen Offensivwaffen zur Führung eines Nuklearkrieges einen Gleichstand mit den USA zu erreichen. Die politische Wirkung einer Haltung des einseitigen „Einfrierens“, die von der UdSSR zur Erprobung und Stationierung neuer strategischer Raketen eingenommen würde (zum Unterschied von den von U-Booten aus gestarteten Raketen, die für den zweiten Schlag vorgesehen wären und keine größere Zielgenauigkeit hätten als die heutigen Raketen dieses Typs), wäre immens – besonders in den USA, aber auch in Europa und in der ganzen übrigen Welt. Die „Freeze“-Bewegung in den USA hat in dem kurzen Zeitraum von drei Jahren eindrucksvolle Ergebnisse erzielt: ein Mehrheitsvotum im Repräsentantenhaus, die bemerkenswerte Erklärung der römisch-katholischen Bischöfe und, was am allerwichtigsten ist, die ausdrückliche Unterstützung von fast 80% der Bevölkerung. Eine einseitige Erklärung der UdSSR über ein bedingungsloses „Einfrieren“ – das, nebenbei bemerkt, leicht mit „nationalen technischen Mitteln“ verifizierbar wäre -, hätte eine starke politische Wirkung auf die „Freeze“-Bewegung und die Öffentlichkeit in den USA. Die Regierung der USA sähe sich der massiven Forderung gegenüber, diesem Beispiel zu folgen, und auf Grund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen könnte ein solches Verlangen nicht ignoriert werden. Selbst wenn die Sowjetunion ein solches einseitiges „Einfrieren“ in der ersten Instanz auf einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren beschränkte, bis die andere Seite den gleichen Schritt unternimmt, wäre die politische Wirkung immer noch sehr groß. Selbst ein „Einfrieren“ oder ein Moratorium, dessen Dauer und Umfang begrenzt wären, hätten eine größere Wirkung – z. B. eine Erklärung der Sowjetunion, daß sie auf die Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II-Raketen in Europa nicht mit der Stationierung vergleichbarer Raketen reagiert. Eine Solche Politik des „genug ist genug“, die eine auffallende Abkehr von der früheren Politik der automatischen Gegeneskalation bedeuten würde, riefe tatsächlich einen starken Eindruck hervor. Sie würde die Friedensbewegungen außerordentlich stärken und das politische Kräftegleichgewicht sowohl in Westeuropa als auch in den USA gründlich verändern. Das Ergebnis einer solchen Politik wäre schließlich eine bedeutende Zunahme der Sicherheit sowohl der UdSSR als auch der übrigen Welt. Mir scheint, eine Politik der „Gegeneskalation zur Wiederherstellung der Parität“ kann nicht automatisch mit einer Politik der „Gegeneskalation zur Gewährleistung der Sicherheit“ gleichgesetzt werden. Die USA und die UdSSR nähern sich jetzt sehr rasch einer Situation wirklich gleicher Sicherheit, nämlich einer Situation, in der die Sicherheit gleich null ist, und eine Überprüfung der diesem negativen Prozeß zugrundeliegenden Politik ist jetzt dringend erforderlich. Der Begriff „Verteidigungsfähigkeit“ muß ebenfalls klarer definiert und kritisch geprüft werden. In Großbritannien schenkt die Kampagne für nukleare Abrüstung den Argumenten, die den Slogan „Kernwaffen sind kein Schutz“ erhärten, immer stärkere Beachtung. Ich glaube, die Argumente für diese These sind richtig und zwingend, und ich denke nicht, daß sie nur für Großbritannien gelten. Freilich gibt es zwischen Großbritannien (oder Frankreich) und den USA oder der UdSSR anerkanntermaßen bedeutende Unterschiede, und daher ist es politisch realistisch, in Großbritannien für vollständige und bedingungslose einseitige nukleare Abrüstung (als ein mittelfristiges Ziel) einzutreten, wogegen ein solches Vorgehen in den USA oder der UdSSR offensichtlich nicht realistisch wäre. Aber sowohl im Falle der USA als auch im Falle der UdSSR ist die Frage angebracht, ob die Anhäufung großer Mengen sogenannter Counterforce-Kernwaffen von hoher Treffsicherheit überhaupt etwas mit legitimer oder wirksamer „Verteidigungfähigkeit“ zu tun hat. Das läßt die Frage beiseite, ob das Konzept der „Verteidigung durch nukleare Abschreckung“ (die alte Doktrin der sicheren gegenseitigen Vernichtung) selbst ein glaubwürdiges Konzept ist oder nicht bloß eine gefährliche Illusion. Die sowjetische Öffentlichkeit hat gewiß einmütig die Maßnahmen zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit ihres Landes begrüßt. Aber wenn diese Maßnahmen auf die gleiche alte Formel von der Gegeneskalation wie in der Vergangenheit hinauslaufen, frage ich mich wirklich, ob nach dem Stattfinden einer kritischen öffentlichen Debatte über die zugrundeliegende „Logik“ die Zustimmung noch so einhellig wäre.

In Diskussionen erhoben sowjetische Kollegen folgende Einwände gegen die in diesem Artikel entwickelten Thesen:

  1. ) Es sind die USA, die das nukleare Wettrüsten angeführt haben und anführen. Es sind die USA, die jetzt durch ihre jüngste einseitige Eskalation das strategische Gleichgewicht zerstören. Weshalb wird die Sowjetunion aufgefordert, eine so maßgebliche Initiative, wie die Erklärung eines einseitigen „Einfrierens“, zu ergreifen? Jetzt sind eindeutig die USA an der Reihe, von einer weiteren Eskalation des nuklearen Wettrüstens Abstand zu nehmen. Die UdSSR erklärte sich bereits mit einem bilateralen „Einfrieren“ einverstanden, bei dem eine annähernde strategische Parität gewahrt bliebe und dem ausgewogene Reduzierungen auf beiden Seiten folgen sollten.
  2. ) Wenn die Sowjetunion die Position eines „einseitigen Einfrierens“ bezöge, während die USA die geplante Entwicklung und Stationierung einer großen Zahl neuer strategischer Waffen fortsetzen, entstände eine sehr gefährliche Lage: Sie würde die Illusion wecken, ein großer nuklearstrategischer Vorteil erlaube es, zu Mitteln der „nuklearen Erpressung“ zu greifen oder gar einen entwaffnenden Erstschlag zu führen. Trotz aller Erfolge, die die Friedensbewegung der USA aufzuweisen hat, können wir uns sicherlich nicht darauf verlassen, daß sie eine so gefährliche Entwicklung verhindert.

Auf den ersten Einwand habe ich eine ganz einfache Antwort: Es bestehen keinerlei Aussichten, daß die Regierung von Reagan oder von Frau Thatcher oder von Kohl ihre Politik ändern werden, außer im Falle eines wesentlich verstärkten Drucks, der von der Massenbewegung für den Frieden in deren Ländern ausgeübt wird. Es ist vielleicht denkbar, daß in der Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, bevor die nukleare Konfrontation unwiderruflich und in fataler Weise instabil geworden ist, diese Bewegungen imstande sein werden, eine so bedeutsame Veränderung herbeizuführen, wie das bedingungslose „Einfrieren“ der Entwicklung und Stationierung neuer strategischer Kernwaffen. Wenn nicht sehr bald eine neue Initiative ergriffen wird, um die teuflische Spirale von Eskalation und Gegeneskalation zu zerbrechen, werden wir damit konfrontiert sein, daß die Katastrophe nahe und unausweichlich ist. Es ist nicht realistisch, von der USA-Regierung eine solche Initiative zu erwarten. Die sowjetische Friedensbewegung muß nicht die sowjetische Regierung unter massiven Druck setzen, damit diese Initiativen für Abrüstung und Frieden ergreift. Es steht völlig in ihrer Macht, jetzt eine solche Initiative zu ergreifen; hierdurch könnte sie eine politischen Prozeß einleiten, der zu rascher und umfassender nuklearer Abrüstung führt.

Auf den zweiten Einwand kann ich antworten, daß die Risiken der „nuklearen Erpressung“ bedeutungslos sind angesichts der Risiken des andauernden und sich faktisch beschleunigenden nuklearen Wettrüstens und daß man der Gefahr von „Illusionen über den Erstschlag“ nicht kontert, indem man selbst eine ebensolche (gleichfalls illusorische) „Erstschlagsfähigkeit“ erwirbt im Gegenteil, durch solche „Gegenmaßnahmen“ erhöhen sich bloß die offensichtlichen Vorteile einer „Prävention“ und damit auch die Gefahr, daß ein Erstschlag wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen wird.

Anmerkungen

1 Marschall Dimitri Ustinov in einem TASS-Interview vom 7. Dezember 1982. Zurück

2 Aus dem Appell, den das Sowjetische Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit am 3. August 1983 verbreitet hat. Zurück

3 Aus der Erklärung, die von der großen Antikriegsdemonstration am 1. Oktober 1983 in Moskau angenommen und vom Sowjetischen Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit am 14. Oktober verbreitet wurde. Zurück

Michael Pentz ist Professor der Physik und Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät der „Open University“, England. Er ist Mitglied des Leitungsgremiums der „Kampagne für nukleare Abrüstung“ und Vorsitzender der Vereinigung „Wissenschaftler gegen Kernwaffen“ (SANA).

Notwendige waffentechnologische Erkenntnisse und zweifelhafte völkerrechtliche Schlußfolgerungen.

Notwendige waffentechnologische Erkenntnisse und zweifelhafte völkerrechtliche Schlußfolgerungen.

Bemerkungen zu Mike Pentz: „Das nukleare Wettrüsten. Eine neue Initiative ist jetzt dringend notwendig“

von Bernhelm Boos und Ib Matin Jarvad

Mit erfreulicher Nüchternheit hat Mike Pentz auf einige technologisch-naturwissenschaftlich gesicherte Umstände aufmerksam gemacht, die in der zugespitzten Situation unmittelbar vor der beginnenden Stationierung der Cruise Missiles und Pershing II nicht ausreichend klar gemacht und von Teilen der Friedensbewegung unzutreffend dargestellt worden waren.

Es handelt sich insbesondere um die folgenden vier Punkte:

  • Unmöglichkeit der „Enthauptung“, militärtechnische Bedeutungslosigkeit der Begriffe
  • „Verteidigung“ und
  • „Parität“ und
  • fortlaufende Verringerung der Sicherheit vor einem Atomkrieg.

1. Mike Pentz zeigt, dank eine nukleare „Enthauptung“ oder gar „Entwaffnung“ der Sowjetunion nicht möglich ist. Jede Atommacht, nicht nur die USA und die UdSSR, sondern auch Frankreich, England und China, kann die Welt in den Abgrund nuklearer Vernichtung stoßen. Aber auch der Einsatz der modernsten vorhandenen Technologie kann einen Aggressor nicht davor schützen, mit in den Untergang gerissen zu werden – sei es durch die globalen meteorologischen und biologischen Folgen der Kernexplosion, sei es durch die Vergeltungsschläge, die von strategischen Atomraketenbatterien auf atomgetriebenen U-Booten geführt werden können.

Pentz geht hierbei richtig davon aus, daß weder die hohe Treffsicherheit moderner Raketen, noch eine zahlenmäßige Überlegenheit an strategisch einsetzbaren Kernsprengköpfen für die Neutralisierung des sowjetischen Raketenpotentials ausreichen: Nicht technisch, weil beim gegenwärtigen Stand der Unterwasserakustik zumindest die strategischen Atom-U-Boote, die im Ochotskischen Meer versteckt liegen, vermutlich aber auch die von Murmansk in Geleitzügen ausgebrachten Atom-U-Boote, wenn sie erst einmal das offene Meer erreicht haben und dort ruhig liegen bleiben, als unverletzlich angesehen werden müssen. Die Neutralisierung ist aber auch nicht politisch möglich oder wo ist die Exilregierung, die nach der Vernichtung der politischen, militärischen, industriellen und kulturellen Zentren im westlichen Teil der Sowjetunion, für die Pershing II und Cruise Missiles durchaus geeignete Werkzeuge sein können, mit der notwendigen Autorität eine Erhebung der Offiziere und Mannschaften in den entfernter liegenden verschonten Kommandobunkern, Raketenstellungen und U-Booten gegen den Befehl zur Vergeltung, ihre „Verbrüderung“ mit den „Befreiern“ von einem „verhaßten“ Regime, die Kapitulation leiten kann? Mit Recht geht Pentz nicht auf diese absurden Spekulationen ein, wenn es um den Nachweis geht, daß die Sowjetunion auch mit Cruise Missiles und Pershing II und auch ohne die angekündigten Gegenmaßnahmen nicht „enthauptet“ werden kann.

Und doch handelt es sich bei diesen Spekulationen um wesentliche Bestandteile der US-amerikanischen Atomkriegsplanung! Eine Einschätzung neuer Technologien darf sich daher nicht mit der vorurteilslosen Untersuchung ihrer Möglichkeiten und Grenzen bescheiden, sondern muß auch die Eigenschaften und Wirkungen in die Analyse einbeziehen, die den neuen Geräten zu Recht oder Unrecht zugeschrieben werden. Die Einsicht, daß die Sowjetunion – ob mit oder ohne Cruise und Pershing II – nicht enthauptet und nicht entwaffnet werden kann, ist nicht mehr und nicht weniger wert als die Einsicht, daß bedeutende Teile der amerikanischen Regierung wie überhaupt der führenden Kreise der westlichen Welt auf Grund ihres Hasses und ihrer Fremdheit gegenüber dem sowjetischen Gesellschaftssystem dabei sind, ihren eigenen Propagandalügen aufzusitzen und mit jeder Meldung über einzelne Rückschläge, Unverständlichkeiten oder vorkommende Ungerechtigkeiten, die aus der Sowjetunion zu uns dringt. ihren Illusionen über die eingebildete Bereitschaft des Sowjetvolkes, sich einen angeblich verhaßten Kopf abschlagen zu lassen, mehr Schein von Realismus zu verleihen. Leider hat Pentz es versäumt, sich mit dieser ebenso realen, politisch-realen, wenn auch gespenstischen und illusionären Kehrseite seiner Argumentation auseinanderzusetzen.

2. Mike Pentz benutzt die Gelegenheit, um noch einmal eindringlich klar zu machen, daß es keine technischen Verteidigungs- oder Schutzmittel gegen nukleare Schläge gibt: Die quantitativen und qualitativen Merkmale der freigesetzten Energie bei Kernexplosionen und die Geschwindigkeit der ballistischen Raketen machen Zivilschutz-programme und Antiraketenprogramme über dem Zielgebiet zu einer Absurdität oder jedenfalls zu einer äußerst aufwendigen Angelegenheit, die nur wenige Objekte und wenige Menschen schützen kann. Präventive Maßnahmen wie die Beschädigung der gegnerischen Raketen unmittelbar nach dem Start durch Laserwaffen von Satelliten aus oder gar ihre vorbeugende Zerstörung in ihren Silos und auf ihren Unterseebooten sind technisch auch nicht vollständig möglich, wie wir in Übereinstimmung mit Pentz 1 schon gesehen haben, und damit in Anbetracht des ungeheuren Vernichtungspotentials auch nur weniger unversehrter Raketen irrelevant für Schutz und Verteidigung.

Damit hat Mike Pentz Recht, daß im technischen Sinn die eingeleiteten sowjetischen Gegenmaßnahmen – Stationierung operativ-taktischer Raketenverbände in der DDR und in der CSSR – keinen Beitrag zu einer erhöhten sowjetischen „Verteidigungsbereitschaft“ leisten. Sie verstärken auch nicht wesentlich die sowjetische Vergeltungsfähigkeit, gar nicht im Verhältnis zu den USA und kaum im Verhältnis zu den westeuropäischen Stationierungsländern der Cruise Missiles und Pershing II, denen auch ohne die neuen sowjetischen Gegenmaßnahmen die sichere Vernichtung droht, wenn von ihnen ein atomarer Angriff gegen die Sowjetunion oder ihre Verbündeten vorgetragen wird.

Nun hat der Begriff „Verteidigung“ aber nicht nur eine physikalisch-technische Seite, sondern auch eine politische, wonach nämlich internationale Verhandlungen und Abkommen, die zu Rüstungsbegrenzung und Abrüstung führen, in letzter Instanz die einzigen wirksamen Verteidigungs- und Schutzmittel gegen eine nukleare Bedrohung darstellen. Danach muß jede militärische Maßnahme, jeder konkrete Rüstungs- und Abrüstungsschritt unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob dadurch ein internationales Abkommen erleichtert oder erschwert wird. Das wollen wir in den folgenden Punkten näher untersuchen.

3. Die nächste wichtige Feststellung von Pentz ist, daß die Begriffe „Gleichheit“ und „Parität“ bei Kernwaffen keine militärische Bedeutung haben. Tatsächlich sind sie auch für die konventionelle Kriegführung bedeutungslos, ein Umstand, mit dem Clausewitz sich schon unter dem Begriff „Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und von ungleicher Stärke“2 auseinandergesetzt hat. Der Angriff unterscheidet sich von der Verteidigung nicht nur durch „das positive Motiv, welches jener hat und diese entbehrt“, sondern vor allem durch sein Ziel, „die Niederwerfung des Gegners“, im Unterschied zum Ziel der Verteidigung, dem „Abwehren des Angriffs“. Gleichstand, d. h. für den Angreifer die Aussicht, einen Krieg zu gewinnen, und für den Verteidiger die Aussicht, angegriffen zu werden, besteht nach Clausewitz nur bei einem erheblichen Übergewicht des Angreifers, wobei das zeitliche Moment eine große Rolle spielen kann, wie das Blitzkrieg-Konzept im zweiten Weltkrieg bestätigt hat.

Verschiedentlich ist nun eingewendet worden, daß für Kernwaffen ein umgekehrtes Verhältnis gelte. Die Überlegenheit der konventionellen Verteidigung sei von der Überlegenheit des nuklearen Aggressors abgelöst worden: „Launch them or loose them“ – das sei die logische Konsequenz der MIRV-Technologie und der effektiven Methoden der Terminalsteuerung, die einer Rakete des Angreifers die Fähigkeit verleihen, mehrere Raketen des Gegners zu vernichten. In Wirklichkeit ändert das aber nichts an der weiterhin bestehenden, ja in Anwesenheit von Kernwaffen vielfach verstärkten Überlegenheit der Verteidigung, die für die Erreichung ihres Ziels, den Angriff durch Abschreckung abzuwehren, nur eine bescheidene Anzahl ihrer Atomraketen durch einen ersten Schlag bringen muß, während der Angreifer den Gegner niederwerfen, ihn entwaffnen muß – und das auf einen Schlag, weil sonst der Erfolg nach (1.) zu teuer bezahlt wird: „Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferungen bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen … Sobald also der Kraftaufwand (und der voraussehbare eigene Schaden, BB/IMJ) so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.“3

Hier erscheinen nun aber mehrere subjektive Größen: der „Wert des politischen Zwecks“ und die „Größe der Aufopferungen“. Nach unserer eigenen subjektiven Einschätzung gibt es keine politischen Zwecke, deren Durchsetzung es wert wäre, die Existenz von Zivilisation und nackter menschlicher Existenz aufs Spiel zu setzen. Aber diese Einschätzung wird nicht von allen geteilt. Was also muß derjenige machen, der einen Angriff befürchtet? Er muß den „Wert des politischen Zwecks“ durch politische Zugeständnisse herabsetzen, z. B. durch Verzicht der Sowjetunion auf die angekündigten „Gegenmaßnahmen“, oder die „Größe der Aufopferungen“ des Angreifers heraufsetzen, z. B. durch die Durchführung dieser Gegenmaßnahmen. Soweit stehen also Verzicht und Durchführung der Gegenmaßnahmen noch auf einer Stufe.

In (2.) hatten wir aber gefunden, daß alle militärischen Maßnahmen im Atomzeitalter unter dem Gesichtspunkt bewertet werden müssen, ob sie bessere oder schlechtere Voraussetzungen für Begrenzungs- oder Abrüstungsverhandlungen schaffen. Wir können das jetzt präzisieren 4 : Das alte humanitäre Kriegsvölkerrecht, das souveränen Staaten das Recht zur Kriegführung zugestand und nur auf die Verhütung unnötiger Leiden für Offiziere, Mannschaften und Zivilbevölkerung sah, ist, solange die Bedrohung durch Kernwaffen weiterbesteht, praktisch ohne Relevanz. Die von vielen Völkerrechtlern geteilte Auffassung, daß die Anwendung der operativ-taktischen Kernwaffenverbände in der DDR und der CSSR ebenso gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würde, wie jeder andere Einsatz von Kernwaffen, hat deshalb keine große Bedeutung.5 Aber auch das der Bildung der UNO zugrunde liegende, aus der Erfahrung zweier Weltkriege abgeleitete neue völkerrechtliche Prinzip der aktiven Kriegsverhinderung, Kriegsächtung und allgemeiner kontrollierter Abrüstung ist heute angesichts des fortwährenden Wettrüstens überholt. Die Feststellung, daß die angekündigten Gegenmaßnahmen der Sowjetunion dieses völkerrechtliche Prinzip weiter abschwächen, bringt uns auch nicht weiter. Als einziges übergeordnetes völkerrechtliches Prinzip bleibt demnach nur das von Pentz herabgesetzte Prinzip der „Gleichheit und gleichen Sicherheit“ zwischen den beiden nuklearen Hauptmächten USA und UdSSR und ihren Verbündeten. Diese Formel bedeutet bekanntlich nicht unbedingt Gleichheit bei allen Mannschaftsstärken und Waffentypen, sondern drückt in erster Linie eine objektive historische Lage aus, nämlich die gegenseitig gesicherte Vernichtung in einem Atomkrieg (Mutual Assured Destruction = MAD) und die Anerkennung, daß eine Erhöhung der eigenen Sicherheit, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung nur auf dem Weg gleichberechtigter Verhandlungen und nicht durch Erpressung, Drohung oder Gewalt erreicht werden kann. Das Prinzip der Gleichheit und gleichen Sicherheit gibt keine absolute Garantie gegen einen Atomkrieg und führt nicht automatisch zu einer Beendigung des Wettrüstens und zur Abrüstung, aber es ist für uns die einzige Hoffnung, so lange es Kernwaffen in den militärischen Beständen gibt.

In diesem Sinn der Bewahrung der Terrorbalance findet das militärtechnisch tatsächlich bedeutungslose Konzept der Gleichheit seine militärpolitische Bedeutung. Der Begriff der „gleichen Sicherheit“ erweist sich damit als grundlegend für die internationalen Beziehungen im Zeitalter der Kernwaffen. Das Bewußtsein, daß Sicherheit – und Bedrohung – unteilbar sind, muß festgehalten werden.

– Durch Pershing II und Cruise Missiles wird die Sicherheit der Sowjetunion herabgesetzt. Das zu akzeptieren, ohne durch Aufstellung ähnlicher Mittel nun auch die Sicherheit der USA oder ihrer westeuropäischen Verbündeten zu verringern, würde den Frieden auch nicht sicherer machen, während die gezielte Verringerung unserer Sicherheit durch die sowjetischen Gegenmaßnahmen immerhin eine Aussicht auf die Wiederaufnahme der Genfer Verhandlungen eröffnet mit dem Ziel, sowohl die neuen sowjetischen Raketenverbände in der DDR und CSSR wie auch die Pershing II und Cruise Missiles aus Europa zu entfernen. Wer auf gleichberechtigte Verhandlungen als letztlich einziges reales Mittel der Atomkriegsverhütung setzt, muß für die Bewahrung einer ungefähren Parität in den nuklearen Angriffsmitteln eintreten, weil nun einmal Gleichheit und gleiche Interessenlage zu den Bedingungen für erfolgreiche Verhandlungen gehören, so unsinnig das Bestehen auf Parität auch vom rein militärtechnischen Standpunkt aus ist, worin Pentz ja Recht hat.

4. Schließlich muß man Pentz auch zustimmen, wenn er feststellt, daß mit jeder neuen Runde im nuklearen Wettrüsten die Sicherheit beider Seiten, der USA wie der UdSSR, weiter herabgesetzt wird und daß die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch des nuklearen Infernos wächst. Das ist richtig und drückt die Schwäche der Friedensbewegung und die Schwäche der Sowjetunion und ihrer Verbündeten aus, daß es weder denen noch uns bisher gelungen ist, z. B. die von vielen Millionen Menschen in den USA und von einer großen Mehrzahl von Mitgliedsländern der UNO unterstützte „Freeze“-Forderung durchzusetzen.

Die UdSSR und ihre Verbündeten sind in einer Wahlsituation, in einem Dilemma. einerseits weiß die Führungsgruppe der Sowjetunion sicherlich, daß „genug ist genug“. Andererseits muß sie die Möglichkeit stabilisierender Wirkungen ihrer Sicherheitspolitik aufrecht erhalten. Das bedeutet, daß man die Unterschiede zwischen der sicherheitspolitischen Lage der Friedensbewegung im Westen und der sicherheitspolitischen Lage der UdSSR, ihrer Verbündeten und ihrer Bevölkerungen beachten muß:

Erstens ist das Bedrohungsniveau unterschiedlich. Die UdSSR und ihre Verbündeten werden unmittelbar von den waffentechnologischen Erneuerungen bedroht. Die Bevölkerung der westlichen Länder und hierunter die Friedensbewegung wird nur von eventuellen Folgewirkungen und Gegenmaßnahmen bedroht; das heißt, sie ist höchstens mittelbar bedroht.

Zweitens sind auch die Wirkungsmöglichkeiten unterschiedlich. Die Friedensbewegung im Westen hat einen unmittelbaren, aber trotzdem bisher noch nicht genügenden Einfluß auf das gesamte Rüstungsniveau im Westen. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten haben dagegen nur einen mittelbaren Einfluß durch eine konzertierte Aktion von Verhandlungen und Gegenmaßnahmen.

Im Lichte der historischen Erfahrung, daß die Friedensbewegung im Westen – trotz ihrer Größe und unmittelbaren Wirkungsmöglichkeit – noch nicht die Stärke errungen hat, einen wesentlichen Einfluß auf das Rüstungsniveau im Westen auszuüben, halten wir es für zweifelhaft, ob die SU und ihre Verbündeten ihre einzige, mittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf das totale Rüstungsniveau im Westen wesentlich abschwächen können. Die wesentliche Frage, die die westliche Friedensbewegung an die SU und ihre Verbündeten unseres Erachtens stellen könnte, ist eigentlich nur, wie lange die Sowjetunion den Abschluß ihrer notwendigen und legitimen Gegenmaßnahmen hinausschieben und auf welche Weise sie diese ausführen und umkehrbar halten kann, damit die westliche Friedensbewegung eine weitere Chance bekommt, Einfluß zu üben.

Wenn wir in dieser Weise Unterschiede in der Interessenlage der Friedensbewegung im Westen und des Warschauer Paktes herausarbeiten, gehen wir auch davon ausübt daß die Stabilität der sicherheitspolitischen Doktrinen des Warschauer Paktes in der jetzigen Lage auch ein notwendiger Bestandteil der relativen Sicherheit der nuklearen Abschreckung ist und daß deshalb die eventuellen Gegenmaßnahmen notwendig sind, auch wenn sie zusammen mit den US-amerikanischen Erneuerungen eine insgesamt geringere Sicherheit ergeben.

Anmerkungen

1 P. Ehrlich et al., Long-term biological consequences of nuclear war, Science 222, S. 1293-1300 (23.12.1983) Zurück

2 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Jubiläumsausgabe, Dümmlers Verlag, Bonn 1980, S. 204; vgl. auch S. 613-862.Zurück

3 Ibidem, S. 217 Zurück

4 Vgl. B. Booss, Vabenteknologi og folhetet, vervielfältigt, Roskilde 1983; N. Pasch und G. Stuby (Hrsg.), Juristen gegen Kriegsgefahr in Europa-Protokoll einer internationalen Konferenz, Theurer Verlag, Köln 1983.Zurück

5 Das humanitäre Völkerrecht regelt die Führung des Krieges, nicht aber seine Zielsetzung. Das bedeutet nach Meinung verschiedener Völkerrechtler, daß nur die militärisch unnötigen Kriegshandlungen, die Exzesse verboten werden können, während Kriegshandlungen, die unmittelbar dem Kriegsziel dienen, im Geiste des grundsätzlich den Krieg anerkennenden humanitären Kriegsvölkerrechts legal sein können. Z. B. wurden und werden die vorsätzlichen Zivilbombardements während des 2. Weltkriegs, die zur Niederwerfung des Gegners seine Industriezentren und die Moral seiner Bevölkerung zerstören sollten, als legal angesehen; siehe 1. M. Jarvad, Völkerrecht und Verhinderung eines Nuklearkrieges, Wissenschaftliche Welt 27, 4 (1983), S. 12-16. Zurück

Bernhelm Booss und Ib Matin Jarvad sind außerplanmäßige Professoren am Universitätscenter Roskilde (Dänemark).

Logik der Abschreckung – eine Kritik

Logik der Abschreckung – eine Kritik

von Peter Furth

Die atomare Drohung ist spätestens seit 1945, seit Hiroshima und Nagasaki, in der Welt, Strategie und Mechanismus der Abschreckung seit 1949, seitdem auch die Sowjetunion über Atombomben verfügt. Das usprüngliche Konzept der Abschreckung war verteidigungsorientiert, Drohung wurde als Vergeltung verstanden. Die Abschreckung sollte darauf beruhen, daß Drohung und Gegendrohung, Angriffs- und Vergeltungsschlag ebenbürtig waren, daß die den ersten Schlag auslösende Seite über den Erwiderungsschlag mit der Selbstvernichtung rechnen mußte. Damit schien eine Schwelle in der Geschichte der Menschheit erreicht, eine Wende im Verhältnis von Krieg und Politik. Es war die vorherrschende Meinung, daß der Krieg kein (beherrschbares) Mittel der Politik mehr sein könnte. Es schien so, als müßte das, was bis dahin Politik hieß, neu bestimmt werden, weil die Politik nicht mehr die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden hatte. Aber diese Einsicht war nur stabil auf der Grundlage gegenseitig garantierter Vernichtung, sie blieb damit bestimmt durch das von ihr Negierte, den Krieg.

Von vorneherein müssen wir einen Widerspruch im Abschreckungskonzept, schon in dem der massiven Vergeltung, wahrnehmen, der weitertrieb und wohl nicht stillzustellen ist. Die Abwendung von der Geschichte als ständigem Übergang zwischen Krieg und Frieden kann sich im Rahmen der Abschreckungskonzeption nur in Formen und mit Mitteln dieser zu verlassenden Geschichte vollziehen. Der Frieden durch Abschreckung ist ein Krieg in effigie. Der Krieg muß reale Möglichkeit bleiben, damit die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden durch die Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens ersetzt wird. Ein solches Konzept nimmt sich realistisch aus und ist doch wohl utopisch; denn vergessen wir nicht: Es muß um den Preis der Katastrophe auf Dauer, man kann sagen ewig gelten.

Diese Inkonsistenz der anfänglichen Abschreckungskonzeption ist sehr früh in der Form eines strategischen Problems erkannt worden. Der Krieg hat ja als Androhung auf der Ebene der massiven Vergeltung gerade wegen der unbegrenzbaren Folgen nur begrenzte Abschreckungswirkung. Die Glaubwürdigkeit von Drohung und Gegendrohung bleibt gerade solange zweifelhaft, wie die Drohung der Vernichtung zugleich die Drohung der Selbstvernichtung ist. Der Strategieforscher Herman Kahn faßte das Problem lakonisch zusammen: Mit dem Selbstmord ist nicht zu drohen. Als Konsequenz aus diesem Dilemma ergibt sich: Es muß möglich sein, einen Krieg zu führen, um mit ihm drohen zu können. Und man muß chancenreich mit ihm drohen können, um nicht genötigt zu werden, ihn zu führen oder die Kapitulation zu erleiden. Unter dieser Perspektive mußte die Strategie der Abschreckung gegenseitig garantierter Zerstörung verbessert, wenn man so will, verlassen werden.

Worin liegt der tiefere Grund für das eben in der Sprache der Strategie formulierte Problem? Die Unmöglichkeit des Krieges der massiven Vergeltung bedeutete offenbar nicht das Ende einer Politik, die ihr Wesen im Krieg als Entscheidungsmittel hat. Schon der Terminus Abschreckung und die Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden, zeigen das. Er ist von unverwüstlicher Plausibilität, wie die unüberwundene Naturgeschichte der Politik, der Politik, die ihre oberste Norm in der Souveränität hat, die letztlich nur als Freiheit im Gebrauch von Gewalt nach innen und nach außen bestimmt werden kann. Für eine solche Politik werden gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen nicht als eine Realität sui generis erfahrbar. Sie werden vielmehr in die Perspektive der Machtmehrung oder Machtminderung in einem dualen System von Freund und Feind gepreßt und der Regulierung durch zwischenstaatliche Gewaltandrohung oder Anwendung unterworfen. In diesem Modell von Souveränitätspolitik (in Reingestalt realisiert in der europäischen Staatenwelt der Neuzeit) beruhte Abschreckung auf dem ständig vollzogenen und vollziehbaren Übergang von Frieden zu Krieg und umgekehrt. Dieser Übergang kann unter atomaren Bedingungen nicht mehr sein und hat doch immer noch irgendeine Geltung.

Machen wir uns klar, wie dieser Widerspruch sich äußert, wohin er treibt. Denn hier liegt das Unheimliche, weil eigentlich Irreale am atomaren Abschreckungsfrieden. Dafür müssen wir ohne jede moralische Arroganz den ausgezeichneten Bezug des Krieges zur Wirklichkeit ins Auge fassen.

Der Krieg ist offenbar in einer Welt, in der. die menschliche Gattung nur Gegenstand des Nachdenkens, bestenfalls imaginiertes Subjekt des Denkens, aber nicht in irgendeiner Form Subjekt des Handelns ist, so unüberschreitbar wie die Wirklichkeit selbst. In Verhältnissen, wo Gegensätze antagonistisch aufeinandertreffen, also ohne Bezug auf ein gemeinsames oder überlegenes Drittes, ist der Krieg unersetzbare Entscheidungsinstanz; in Erinnerung an Clausewitz gesagt: „äußerste Wirklichkeit“.

Der kriegerische Apparat soll im Abschreckungssystem durch sein bloßes Vorhandensein, als anwendbarer, d. h. im Status der Möglichkeit, bewirken, was bislang nur durch den Krieg, den wirklichen Kampf, erreicht werden sollte und konnte: die Herstellung eines eindeutigen und auf absehbare Zeit irreversiblen Zustands, in dem die Wirklichkeit gewissermaßen die Form des kategorischen Urteils hat, weil sie als Resultat eines Messens (genauer: eines Sich-selbst-Messens) entgegengesetzter Kräfte nicht nur ist, sondern auch gilt.

Unter den Bedingungen der endgültigen Abschreckung soll nun die Rüstung, was sie einstmals ermöglichen sollte, das wirkliche (sich selbst) Messen der Kräfte, von sich aus leisten. Sie hat damit die Funktion eines symbolischen Krieges: Krieg als das Berechnen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Das Resultat kann nur hypothetisch gelten, soll aber kategorische Bedeutung haben. Es geht immer noch um Entscheidung, sie soll aber ohne ihren Vollzug entschieden werden. Das heißt, es muß im Abschreckungsfrieden so erbittert und rücksichtslos gerüstet werden, wie sonst im Krieg gekämpft wurde. So hypothetisch das Anhäufen von Vernichtungsmöglichkeiten bleibt, so kategorisch muß es betrieben werden. Dieser Charakter des Abschreckungsfriedens zeigt sich an der Norm, die ihn garantieren soll: dem Gleichgewicht der Kräfte. Es entzieht sich jeder Festlegung und bedeutet die gegenseitige Provokation der Rüstungssteigerung. Die Rüstung, die Entscheidungsfunktion haben soll wie der kriegerische Kampf selber, kann nicht das Gleichgewicht als Ziel anstreben. Sie muß auf Überlegenheit zielen, das Gleichgewicht kann dabei als Nebenfolge faktisch resultieren – ein Nebenprodukt, das aber als Hauptprodukt fungieren soll! Rüstung ist nicht an sich Abschreckungsrüstung, sondern sie ist erst als Überlegenheitsrüstung Abschreckungsrüstung. Aber Überlegenheit ist auch unter atomaren Bedingungen keine Angelegenheit des Probabilismus, deswegen ist es nur schwer vorstellbar, daß angestrebte und vermutete Überlegenheit nicht schließlich durch Krieg realisiert werden wird.

Die Angriffsdrohung des Eskalationskonzepts

Diese Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit, in der die Möglichkeit Wirklichkeitsbedeutung haben soll, die Wirklichkeit der Möglichkeit aber nicht sein darf, war von vornherein verantwortlich für eine Dynamik, die die starre Symmetrie der globalen Vergeltungsstrategie sprengte und ihren Umbau zu einem umfassenden und lückenlosen Eskalationssystem der „flexible response“ erzwang. Als die Eskalation als taktische Wendung in die Abschreckungsstrategie eingeführt und schließlich zu einem ihrer Schlüsselbegriffe wurde, erregte das keine durchschlagende Beunruhigung, wie es eigentlich hätte sein müssen. Mit der Eskalation schien (und scheint den meisten auch heute noch) ein Mittel gefunden, das die Abschreckung auf allen Stufen zu einem System der Gegenseitigkeit macht. Durch die Einführung der Eskalation wurde die Abschreckung glaubhaft, als wäre sie nach dem Muster sprachlicher Verständigung gewirkt – wie eine Bestätigung für die Gegenseitigkeitsphilosophie der Kommunikationstheorie. Dabei ist der Sinn der Eskalation, die Gegenseitigkeit zu relativieren, wenn nicht aufzuheben.

Eine einfache Überlegung führt auf die Spur. Die Doktrin und die Praxis der Eskalation wurden entwickelt für den Abschreckungsbereich unterhalb der gegenseitigen Vernichtung, d.h. für denjenigen Bereich, in dem es überhaupt noch ein „Mehr“ und eine Asymmetrie der Drohung und Risikobereitschaft geben kann gegenüber der Risikogleichheit und Drohungssymmetrie der globalen Vergeltung. Und die Frage ist: Soll die Eskalation diese Asymmetrie aufheben oder zur strategischen Chance ausbauen?

Die Eskalation ist durch und durch janusköpfig, doppelgesichtig; aber an welches ihrer Gesichter halten wir uns? Einerseits ist die Eskalation an die Fesselung des Krieges, seine Reduzierung auf bloße Möglichkeit gebunden, und andererseits hebt sie diese Fesselung auf, bezieht sich auf den Krieg als Wirklichkeit. Denn sie soll einerseits den Übergang der globalen Vergeltungsdrohung in die Vernichtungswirklichkeit verhindern. Das soll sie aber gerade dadurch, daß sie andererseits das Messen der Kräfte auf den unteren Stufen der Abschreckung durch den wirklichen Krieg ermöglicht.

Wird die Eskalation konsequent wechselseitig gedacht, als ein Prozeß sich überbietender Aktionen und Reaktionen, so führt sie rasch durch alle Stufen hin zur gegenseitig vernichtenden Vergeltung – hebt sich also selbst auf. Das aber kann nicht ihr ausschlaggebender Sinn sein.

Schauen wir auf etwas an der Eskalation, das wie Gegenseitigkeit aussieht, primär aber Einseitigkeit ist. Dann zeigt sich uns der wahre, jedenfalls der überwiegende Sinn der Eskalation. Die Eskalation ist eine einseitig unternommene Drohung oder Aktion, die das Selbstgefährdungsrisiko des antwortenden Gegners anhebt. Und was entscheidend ist: Sie wird von der Erwartung geleitet, daß sie eine Schwelle setzt, die der Gegner selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin nicht überschreitet. Hält die Gegenseite diese Erwartung ein, dann sieht es so aus, als sei die Gegenseitigkeit der Abschreckung wieder hergestellt. Das ist aber nur Schein. In Wirklichkeit führt die Eskalation in einem solchen Fall, wenn auch nicht zum unbedingten Sieg der einen und zur Niederlage der anderen Seite, so doch zu einem Überlegenheitsgefälle, das wie alles in diesem symbolischen Krieg der Abschreckungsdrohungen einen nur schwer bestimmbaren Status zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hat. Und es ist durchaus vorstellbar, daß es zu einer Akkumulation solcher „Eskalationsniederlagen“ im Prozeß der Drohungen und der Drohungssteigerungen kommt, die – eine Katastrophenreaktion ausgeschlossen – irreversible Folgen für eine Seite haben könnte.

Um der Glaubwürdigkeit der Abschreckung willen bedeutet Eskalation also einen Oberschuß in der Drohung, eine einseitig angestrebte und einseitig festzuhaltende Disproportionalität im Verhältnis der Waffenpotentiale und ihrer Anwendungsdrohung. Die Einführung der Eskalation in die Abschreckungsbalance hat den Vergeltungssinn der Drohung zugunsten des Angriffssinns der Drohung verdrängt. Wie irrational und vorsätzlich unkontrollierbar die Abschreckung dadurch wird, sieht man daran: Eskalation als die Herbeiführung und Nutzung von Asymmetrie kann nicht sein ohne die relative Blindheit (die Selbstverblendung) für die notwendige Bereitschaft der Gegenseite, die Ebene der Gegendrohungen zu erhöhen und auch selber die Eskalierungsinitiative zu ergreifen. In einem Eskalationssystem kann man offenbar nur dann glaubwürdig abschrecken, wenn man sich selber gegen die Abschreckung immunisiert. Die strategischen Analytiker formulieren das auf ihre Weise. In ihren Augen ist die Grundlage eskalierender Abschreckung eine Bereitschaft, die sie „risk taking“ nennen, und schlagen deshalb die bewußte Einnahme eines irrationalen Standpunktes vor, weil ohne ihn die Steigerung der Risikobereitschaft nicht glaubhaft würde. (Beaufre)

Eskalation und Erstschlag

Ich meine, an der Eskalation tritt das Wesen des Abschreckungssystems, in dem wir heute leben, hervor. Die Eskalation ist Indiz und Mechanismus einer Strategie und Rüstung der Überlegenheit. Das große Ziel dieser Strategie und dieser Rüstung ist vorgeschoben. Es muß in der Aufhebung der gegnerischen Vergeltungskapazität bestehen. Erforderlich ist dafür die Fähigkeit, die den ominösen „Erstschlag“ bekommen hat. Und Erstschlag meint erster und einziger Schlag, also ein Schlag, der den zweiten, den Erwiderungsschlag unmöglich macht. In Perfektion gedacht, betrifft das natürlich die Ebene des Krieges, auf der die gegenseitige Vernichtung droht. Sicher, dieses Ziel ist heute und demnächst wohl noch nicht erreichbar, die Entwicklung dahin aber doch schon klar erkennbar. Die letzten Eskalationen beruhen alle auf Waffen und Strategiekonzepten, der sogenannten „counter force“, die ihr Wesen nicht in der reaktiven Vergeltungsdrohung, sondern in der präventiven Zerstörung der gegnerischen Verteidigungsfähigkeit haben.

Clausewitz Bestimmung des wesensmäßigen Kriegsziels, Wehrlosmachung des Gegners, scheint wieder möglich, der Krieg scheint wieder eingesetzt in sein altes Recht, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel zu sein. In den Termini der Abschreckungsdoktrin gesagt: Die Strategie der gegenseitigen Vergeltung hat sich in die Strategie der einseitig vorbeugenden Gegenvergeltung verwandelt.

Wir gelangen zu einem Ergebnis, das paradox anmutet. Die Möglichkeit einer endzeitlichen Katastrophe besteht weiterhin und ist uns wohl auch näher gerückt. Aber die Furcht vor ihr ist inzwischen durch eine andere Art der Wahrnehmung überlagert. Die Blendung, die von der Apokalypseerwartung ausging, nimmt ab. An Stelle der Nivellierung von Opfern und Tätern im gleichen Untergang tritt ihre Unterscheidung wieder hervor. Mit dem Versuch einer Rückkehr zu strategischen Konstellationen aus dem voratomaren Verhältnis von Krieg und Frieden wird die ungleiche Verteilung von Überlebenshoffnung und Untergangswahrscheinlichkeit erkennbar. Die regionale Begrenzung des atomaren Risikos macht die Heuchelei in der Gleichsetzung von Verteidigung und atomarer Abschreckung sinnfällig. So wird vor dem Hintergrund des möglichen allgemeinen Infernos ein an überschaubaren Bereichen orientiertes konkretes Friedensengagement wieder lebendig und vielleicht auch organisationsfähig. Der erkennbare Unterschied zwischen Geisel und Geiselnehmer schafft vielleicht noch einmal die Chance einer alternativen demokratischen Friedenspolitik.

Dr. Peter Furth ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

The Night After

The Night After

von Redaktion

„The World After Nuclear War“ war das Thema einer wissenschaftlichen Konferenz, die im November 1983 in Washington stattfand. Eines ihrer wesentlichen Resultate: Es wird keinen „Day After“ geben.

Biologen, Chemiker, Physiker und Geographen untersuchten zwei Jahre lang in verschiedenen Szenarios die Auswirkungen eines Atomkrieges auf die klimatischen Verhältnisse der Erde. Ihre Prophezeiung: Schlimmer noch als die unmittelbaren Wirkungen von Druckwelle, Feuerstürmen und radioaktiver Strahlung seien die globalen ökologischen Schäden. Die Ausrottung des homo sapiens als Folge dieser Schäden sei nicht mehr auszuschließen. Den wesentlichen Gesichtspunkt verdeutlicht Carl Sagan anhand eines 5.000 Megatonnen-Szenarios (etwas weniger als die Hälfte des nuklearen Potentials in der Welt): Die gewaltigen Verbrennungsprozesse nach einer atomaren Explosion führen zur Bildung eines photochemischen Smogs, der einmal in die Stratosphäre gelangt – die Ozonschutzschicht der Erde angreift. Die normalerweise durch diese Ozonschicht absorbierte ultraviolette Strahlung würde als Folge ungehindert. auf die Erdoberfläche einwirken und im menschlichen Organismus erhebliche Schäden (Krebs, Genmutationen u.a.) hervorrufen.

Dann würde die Nacht kommen. 200 Millionen Tonnen des rußigen Smogs würden eine Erscheinung hervorrufen, die Stephen Schneider vom National Center for Atmospheric Research „a blacktop high-way three miles up“ nennt. Der Smog würde einen so großen Teil der Sonneneinstrahlung absorbieren, daß nur noch fünf Prozent der normalen Lichtmenge die Erde erreichte. Diese dauernde Dämmerung würde den Photosynthese-Prozeß, durch den die Grünpflanzen Sonnenenergie in chemische Energie (Kohlenhydrate) umwandeln, nahezu stoppen.

Für einige Monate würde diese Rauchschicht einen Temperatursturz hervorrufen. Die Oberfläche der Gewässer könnte bis zu einem Meter Tiefe gefrieren. Es herrsche ein „nuklearer Winter“.

Auf einen weiteren Aspekt machen die amerikanischen Forscher aufmerksam: Die Radioaktivität des Niederschlags ist gegenüber früheren Reports deutlich höher anzusetzen. Neuentwickelte Atombomben (sog. „low-yield atomic bombs“) schleudern den radioaktiven Staub weniger hoch in die Atmosphäre. Daraus folgt, daß der „fallout“ nicht auf ein weniger gefährliches Level „gekühlt“ worden ist, wenn er die Erde erreicht. 30 Prozent des nordamerikanischen Territoriums würden von einer radioaktiven Strahlung befallen, deren Intensität höher sei als 200 rads (das ist mehr als die Hälfte der letalen Dosis).

Dämmerung am hellen Tag

Die Aussagen von Sagan, Ehrlich, Schneider er al. decken sich weitgehend mit den Untersuchungsergebnissen, die auch der Mainzer Luftchemiker Prof. Dr. Paul J. Crutzen auf der Konferenz referierte. Crutzen hatte bereits im Frühjahr 1982 seine Analysen (zusammen mit John W. Birks) in der schwedischen Wissenschaftszeitschrift „ambio“ publiziert (Titel: „The Atmosphere After a Nuclear War: Twilight at Noon“, ambio, Vol 11, No. 2-3, pp 114-125, 1982) und inzwischen um wichtige Berechnungen ergänzt. (Die Max-Planck-Gesellschaft veröffentlichte seine wichtigsten Resultate in einer umfangreichen Presseerklärung vom 26. 10.83.)

Auf Crutzen geht u.a. die – inzwischen als gesichert geltende Theorie zurück, daß Stickoxyde, wenn sie über 20 Kilometer Höhe hinaus in die Stratosphäre gelangen, dort den verstärkten Abbau von Ozon bewirken. Kernwaffenexplosionen erzeugen eine beträchtliche Menge an Stickoxyden, die mit dem Explosionsfeuerball in große Höhen steigen.

In der Troposphäre begünstigen Stickoxyde zusammen mit Kohlenmonoxyd und Methan sowie hoch reaktiven Kohlenwasserstoffen anders als in der Stratosphäre die Entstehung von Ozon. Der aus diesem Stoffen gebildete photochemische Smog führt jedoch dazu, daß Ozon in solchen Konzentrationen entsteht, daß es giftig wirkt und die Photosynthese der Pflanze beeinträchtigt. (Crutzen hat nun detailliert nachgerechnet, welche Auswirkungen die Waldbrände und die Feuer in Erdöl und Erdgas verarbeitenden Industrieanlagen auf die Atmosphäre haben.

Aus dem „Ambio“-Szenarium ließ sich ableiten, daß nach einem Nuklearkrieg mindestens eine Million Quadratkilometer Wald brennen würde. Das entspricht der Fläche von Dänemark, Schweden und Norwegen. Dadurch würden mehrere Millionen Tonnen Stickoxyde gebildet, ebenso einige zehn Millionen Tonnen Kohlenwasserstoffe. „Der Kohlenmonoxydpegel würde global auf das Zwei- bis Vierfache, über den Kontinenten lokal noch weit höher, ansteigen. In derselben Größenordnung läge die Belastung aus brennenden Erdöl- und Erdgasförderungs- und Verarbeitungsanlagen.“ (Presseerklärung der MPG)

Crutzen kommt zu dem oben schon genannten Ergebnis einer nahezu die gesamte Nordhalbkugel der Erde überziehenden Staub- und Rußschicht, die den größten Teil des für die Aufrechterhaltung der pflanzlichen Stoffwechselfunktionen notwendigen Lichtes absorbieren würde. Der Autor hat unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren errechnet, daß für die Dauer von 10 bis 30 Tagen höchstens zehn, möglicherweise aber nur ein Prozent des Sonnenlichts zum Erdboden durchdringen können.

Diese 30 Tage und länger dauernde Dämmerung und Kälte würde entscheidende ökologische Kreisläufe auf der Erde ganz empfindlich stören und Hungerkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes erzeugen.

Überleben möglich?

Die Weltföderation der Wissenschaftler – ein Zusammenschluß von Wissenschaftlerverbänden und Gewerkschaften aus den sozialistischen und aus einigen westeuropäischen Ländern – hat sich jüngst ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt und eine Studie zu den möglichen Folgen eines Atomkriegs vorgelegt.

Gestützt auf die verschiedenen Einzelstudien (UNO, Päpstliche Akademie der Wissenschaften, AMBIO etc.) versucht die WFW-Expertise eine Gesamtbilanz zu ziehen. Untersucht werden die unmittelbaren Zerstörungen in Folge eines Atomkrieges, mögliche Wirkungen durch radioaktive Strahlung (Massenkrankheiten, Seuchen, mentale Schäden…) und langfristige ökologische Konsequenzen. Auch hier ziehen die Autoren den Schluß:

„In der Natur besteht ein höchst flexibles ökologisches Gesamtsystem, das in der Lage ist, einen Gleichgewichtszustand aufrechtzuerhalten und Änderungen bis zum gewissen Grade auszugleichen (…) Diese Flexibilität des globalen Ökosystems in einem Kernwaffenkrieg herauszufordern, das wäre ein Spiel mit den Existenzbedingungen der Menschheit.“

Europa – Atomwaffenfrei!

Europa – Atomwaffenfrei!

von Rebecca Johnson

Die internationale Kommission zu Massenvernichtungswaffen (Weapons of Mass Destruction Commission) unter Leitung von Dr. Hans Blix rief in ihrem Abschlussbericht dazu auf, „die Welt von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen zu befreien“. Biologische und chemische Waffen sind bereits völkerrechtlich verboten; das ist bei Atomwaffen nicht der Fall.

Obwohl der Kalte Krieg schon lange vorbei ist, schätzt das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), dass nach wie vor etwa 11.000 strategische und taktische Atomwaffen stationiert sind. Knapp 1.000 davon werden momentan in Europa vorgehalten.

Die Vereinigten Staaten lagern in sechs europäischen Ländern weiterhin 350 taktische Atomwaffen, von denen rund 140 der NATO zugeordnet sind.1 Letztere sind in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert – also in Ländern, die offiziell als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten und dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten sind. Aus Griechenland hingegen wurden die US-Atomwaffen schon vor etlichen Jahren abgezogen, und die griechische Regierung hat vermutlich auch ihre Mitwirkung an der politischen Komponente der nuklearen Teilhabe aufgegeben.

In Großbritannien sind in Lakenheath ebenfalls 110 frei fallende Fliegerbomben der USA stationiert, allerdings beteiligt sich das Vereinigte Königreich nicht an der nuklearen Teilhabe, da es ein eigenständiger Atomwaffenstaat ist. Das Land verfügt über vier U-Boote, die mit US-amerikanischen Trident-Raketen und etwa 160-200 in Großbritannien gefertigten Nuklearsprengköpfen bestückt sind.

Frankreich ist nicht in die nukleare Planung oder Teilhabe der NATO integriert, besitzt aber selbst 348 Atomwaffen; als Trägersysteme dienen U-Boote und Bomber. In einer politischen Grundsatzrede begründete der damalige Präsident Chirac, dieses Arsenal werde für die Verteidigung von Frankreich und seiner „vitalen Interessen“, einschließlich der „Verteidigung von verbündeten Staaten“, gebraucht.2 Und natürlich dürfen in der Aufzählung die mehr als 5.000 Atomwaffen Russlands nicht fehlen, von denen auf Grund ihrer Größe und Reichweite etwa 2.330 als »taktisch« eingestuft werden. Ein erheblicher Teil der taktischen Sprengköpfe ist vermutlich entlang der russischen Flanke nach Europa stationiert.3

Die Regierungen all dieser Länder setzen mit dem Bau bzw. der Stationierung von Atomwaffen die europäische Sicherheit unter Druck. Wozu?

Nukleare Teilhabe in der NATO

In ihrem »Strategischen Konzept« von 1999 betont die NATO, dass Atomwaffen die „oberste Garantie“ für die Sicherheit des Bündnisses bieten und „breite Teilhabe an der kollektiven Verteidigungsplanung der involvierten europäischen Bündnispartner bezüglich der nuklearen Aufgaben, der Stationierung von Nuklearstreitkräften auf ihrem Hoheitsgebiet im Frieden und an Führungs-, Überwachungs- und Konsultationsvorkehrungen“ erfordern. Dafür beherbergen einige europäische Länder US-amerikanische Atomwaffenbasen und taktische Atomwaffen auf ihrem Territorium. Sie halten Flugzeuge vor, die für den Transport von Atomwaffen ausgerüstet sind, und ihre Piloten trainieren Einsätze mit Atomwaffen. Das »Strategischen Konzept« steht 2009 zur Überprüfung an, bislang gibt es aber keinerlei Anzeichen, dass die NATO die Rolle von Atomwaffen gründlich analysieren oder die grundlegenden politischen Änderungen berücksichtigen wird, die die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffendispositivs im 21. Jahrhundert immer problematischer machen.

Ein Beispiel dafür, wie krampfhaft die Nukleare Planungsgruppe an bekannten Positionen festhält, ist eine Verlautbarung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe der NATO vom Juni 2007, die sich auf die Überprüfung des nuklearen Streitkräftedispositivs der NATO und das Mandat der Hochrangigen Beratergruppe bezieht: „Wir bestätigen die Prinzipien der Nuklearpolitik der NATO gemäß dem Strategischen Konzept des Bündnisses. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die laufende Arbeit der Hochrangigen Gruppe, die ständig die Anforderungen für die Abschreckung im 21.Jahrhundert überprüft und die [Verteidigungs-]Minister entsprechend berät.“4

In den 1960er Jahren mochten es manche der nuklearen Teilhabe der NATO zugeschrieben haben, dass Länder wie Deutschland und Italien zur Aufgabe ihrer nationalen Atomwaffenprogramme und dem Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag gedrängt werden konnten. Heute lässt sich aber nicht mehr übersehen, dass die europäischen Atomwaffen und die Doktrin der nuklearen Teilhabe wirksamere Ansätze der Nichtverbreitung und Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung behindern.

Inzwischen werden die Rolle und Nützlichkeit von Atomwaffen selbst von unerwarteter Seite hinterfragt. Ein Beispiel für das allmähliche Umdenken war ein Meinungsartikel von Henry Kissinger (Außenminister unter Richard Nixon), George Schultz (Außenminister unter Ronald Reagan), William J. Perry (Verteidigungsminister unter Präsident Clinton) und Senator Sam Nunn (ehemaliger Vorsitzender des Streitkräfteausschusses des US-Senats und Mitbegründer der Nunn-Lugar-Initiative zur kooperativen Reduzierung von Bedrohungen), der im Januar 2007 im Wall Street Journal erschien.5

Unter Bezug auf US-Präsidenten wie Dwight D. Eisenhower und John F. Kennedy stellten die vier Autoren, die mehrere Jahrzehnte lang die Außen- und Nuklearpolitik der USA prägten, fest: „Es ist äußerst fraglich, ob wir die alte sowjetisch-amerikanische Strategie der ‚gesicherten gegenseitigen Zerstörung’ bei immer mehr potenziell atomar bewaffneten Feinden weltweit erfolgreich reproduzieren können, ohne das Risiko eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen dramatisch zu erhöhen.“ Mit anderen Worten: Abschreckung funktioniert heute nicht mehr so wie früher gedacht. Die Autoren machen sich zwar für weitere massive Einschnitte in die größten Nukleararsenale stark, bleiben aber nicht bei den Zahlenspielen der Rüstungskontrolle aus den Zeiten des Kalten Krieges stehen. Sie befürworten praktische Schritte, die auf die US-Politik ausgerichtet sind, orientieren sich dabei aber an den »13 praktischen Schritten«, denen bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags im Jahr 2000 alle teilnehmenden Staaten zustimmten. Vor allem aber begreifen sie, dass die Abwertung und Marginalisierung von Atomwaffen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabdingbar ist, weil dann erst das vollständige Verbot dieses Waffentyps auf die Agenda kann.

Zweck und Rolle der NATO haben sich seit dem Kalten Krieg massiv gewandelt, das Bündnis hielt aber unverändert an seiner unzeitgemäßen Nukleardoktrin fest, d.h. an Vereinbarungen zur nuklearen Teilhabe zwischen den USA und einigen europäischen Ländern. Das Bündnis schreckt offenbar davor zurück, die Nukleardoktrin vor dem Hintergrund der Sicherheitsherausforderungen des 21. Jahrhunderts rigoros auf den Prüfstand zu stellen. Statt dessen entschied es sich für marginale Änderungen: So führte die NATO das Konzept »regionaler Konflikte« ein und erweiterte die Liste möglicher Ziele und Feinde, die mit den Atomwaffen abgeschreckt werden sollen.

Die nukleare Teilhabe der NATO wirft drei grundlegende Probleme auf:

  • Erstens haben sich in den letzten Jahren immer wieder Regierungen aus Lateinamerika und dem Nahen Osten darüber beschwert, dass die nukleare Teilhabe Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) verletzt.
  • Zweitens werden Bedenken geäußert, dass die nukleare Teilhabe ein Einfallstor für nukleare Weiterverbreitung ist, da die Kontrolle über die Waffen im Kriegsfall an die entsprechenden Bündnispartner überginge. Die betroffenen NATO-Mitglieder argumentieren, dass sie den NVV dennoch einhielten, schließlich hätte es die nukleare Teilhabe schon vor dem NVV gegeben und ohnehin würde der NVV im Falle eines »großen Krieg« gegenstandslos. Diese Erklärung reicht allerdings den NVV-Mitgliedern nicht aus, die der Auffassung sind, Verträge dürften „keine Ausnahmen zulassen, und der NVV ist für die Unterzeichnerstaaten in Friedens- wie in Kriegszeiten gleichermaßen bindend.“6 Diese Staaten befürchten, dass die NATO-Doktrin die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des NVV untergräbt und Ungewissheit über den Status der Nicht-Atomwaffenstaaten besteht, die sich an der nuklearen Teilhabe beteiligen. Außerdem würden sich die NATO-Staaten als erste beschweren, wenn andere Bündnisse ähnliche Arrangements einführen würden: Was würde wohl passieren, wenn Russland seine Atomwaffen mit Belarus teilen wollte oder China mit Nordkorea?
  • Drittens behindert die nukleare Teilhabe innerhalb der NATO die volle Umsetzung des NVV. NATO-Staaten geraten immer wieder unter Druck der USA (manchmal auch von Großbritannien und Frankreich), Abrüstungsvorschläge abzulehnen, die in multilateralen Foren wie den NVV-Konferenzen oder dem Ersten Komitee der UN-Generalversammlung von den Nicht-Atomwaffenstaaten mehrheitlich unterstützt werden.

Die »Prinzipien und Ziele für nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung«, denen die Vertragsstaaten im Zusammenhang mit der unbegrenzten Verlängerung des NVV 1995 zustimmten, enthalten etliche Verpflichtungen mit Relevanz für Europa, beispielsweise die Einrichtung weiterer atomwaffenfreier Zonen und bessere Sicherheitsgarantien für die Nicht-Atomwaffenstaaten vor dem Einsatz oder der Drohung mit den Einsatz von Atomwaffen. Die Nuklearpolitik der NATO behindert die Ausweitung solcher negativer Sicherheitsgarantien sowie die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Überdies steht die NATO-Politik im Widerspruch zu einem Großteil des Aktionsprogramms, das von den Mitgliedsstaaten bei der Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2000 vereinbart wurde, darunter die Verpflichtung zu mehr Transparenz, eine weitere Reduzierung nicht-strategischer Arsenale, eine Absenkung des Einsatzstatus von Atomwaffen und eine verminderte Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik.

Atomwaffenpolitik in Europa

Frankreich ist zwar Mitglied der NATO, beteiligt sich allerdings nicht an der nuklearen Planung der Allianz. Bei der öffentlichen Darstellung der französischen Nuklearpolitik durch Präsident Chirac vergangenes Jahr klang aber durchaus das »Strategische Konzept« der NATO durch, als er die force de frappe als „ultimativen Garant für unsere Sicherheit“ bezeichnete. Er sagte, Atomwaffen gäben Frankreich die „Fähigkeit, unsere Handlungsfreiheit zu bewahren, unsere Politik selbst zu kontrollieren und die Beständigkeit unserer demokratischen Werte sicherzustellen“. Außer zur „Sicherung der strategischen Versorgung“ und der Verteidigung „verbündeter Länder“ könnten die französischen Atomwaffen laut Chirac auch „im Fall einer gegen solche Interessen gerichteten untragbaren Aggression, Bedrohung oder Erpressung eingesetzt werden.“7

Russland wiederum richtet seine Atomwaffenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges an der NATO aus; dies zeigt sich u.a. daran, dass die Sicherheitsgarantien des Landes schwach und voller Einschränkungen sind und dass es die erklärte Nicht-Ersteinsatz-Doktrin der ehemaligen Sowjetunion aufgegeben hat. Während die junge Generation in Europa ohne das permanente Damoklesschwert der nuklearen Vernichtung aufwächst, sind die politischen Entscheidungsträger weiterhin auf der Suche nach immer flexibleren Atomwaffen und »benutzerfreundlicheren« Doktrinen – im Endeffekt die Wiedereinführung des Damoklesschwertes, nun aber nicht über den eigenen Köpfen. Mag die Bedrohung eines totalen Atomkrieges auch gesunken sein, so bringen die politischen Entscheidungen der NATO und Russlands die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches und Einsatzes doch wieder näher.

In diesen Kontext gehört auch der Druck der Regierung Bush auf die Tschechische Republik und Polen, sich am US-amerikanischen Raketenabwehrprogramm zu beteiligen. Die Verhandlungen zu diesem Thema finden zwar im bilateralen Rahmen statt, als neue NATO-Mitglieder können diese beiden Länder das amerikanische Ansinnen aber kaum ausschlagen.

Das britische Abschreckungskonzept, auf dessen Basis die Londoner Regierung unter Premierminister Tony Blair am 14. März 2007 eine Entscheidung für die Modernisierung des nuklearen Trident-Systems8 durch das skeptische Parlament peitschte, ist ein Fall für sich. Bei Lesen des relevanten »White Paper«9 könnte man fast vergessen, dass es sich bei den Atomwaffen um die tödlichsten Waffen der Welt handelt, dass mit einer einzigen Atombombe eine ganze Stadt komplett vernichtet werden kann. Die britische Diskussion um einen Ersatz für Trident hat deutlich gemacht, dass den Politikern und Vertretern des Verteidigungsministeriums nur noch ein Argument offen steht, um die Aufrechterhaltung, Entwicklung und Modernisierung von Atomwaffen zu rechtfertigen: Sie müssen sich darauf versteifen, dass diese Waffen nur zu dem einen Zweck da sind, sie nie einzusetzen. Anders als Frankreich und die Vereinigten Staaten, die in den vergangenen Jahren die Umstände, unter denen sie zu einem Atomwaffeneinsatz bereit wären, immer genauer präzisiert haben, musste die britische Regierung auf Euphemismen wie »Versicherungspolitik« zurückgreifen, um die Abgeordneten in Sicherheit zu wiegen und zur Abgabe ihrer Stimme für die Trident-Modernisierung zu überreden. So begründet geht es nicht um die nächste Generation eines Atomwaffenarsenals mit einer Vernichtungskapazität von 1.200 Hiroshima-Bomben, das ohne Zusammenarbeit mit den USA undenkbar wäre. Nein, die Abgeordneten sollten lediglich für einige neue U-Boote stimmen, die die Lebensdauer der »unabhängigen nuklearen Abschreckung« als Versicherung gegen unbekannte Bedrohungen der Zukunft verlängern.

Gefährlicher Unsinn

In Zeiten, in denen allerorten über nuklearen Terrorismus geredet und das Interesse weiterer Staaten am Erwerb von Atomwaffen erkennbar wird, ist das ein gefährlicher Unsinn. Atomwaffen sind keine hilfreiche Versicherungspolitik oder ein Voodoo-Talisman, um hässliche unbekannte Bedrohungen fernzuhalten. Wie Kissinger, Schultz, Perry und Nunn darlegen, sind Atomwaffen ein Instrument der Politik und strategisch und taktisch einsetzbare Werkzeuge im militärischen Arsenal. Wenn wir den Kurs jetzt nicht ändern und die Abrüstung von Atomwaffen entschieden angehen, werden wir mit ansehen müssen, dass die Proliferation neu auflebt und sich schwache Staatsführer erneut für Atomwaffen interessieren, um übermächtige Länder oder Nachbarn zu neutralisieren oder zu erpressen.

Was also sollten wir tun? Zuallererst sollten die europäischen Länder unbedingt denjenigen in Großbritannien den Rücken stärken – einschließlich den aktiven Vertretern des Zivilgesellschaft sowie Regierungsmitgliedern und Abgeordneten –, die fordern, dass Großbritannien seine Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag voll umsetzt und Trident abschafft anstatt die Fehlentscheidung von Tony Blair weiter zu betreiben. Die Einführung einer neuen Atomwaffengeneration würde die Proliferation weiter anheizen. Es gibt auf den britischen Inseln erheblichen Widerstand gegen die Trident-Modernisierung, vor allem in Schottland. Kürzlich stimmte das Regionalparlament von Schottland bei 39 Enthaltungen mit 71 zu 16 Stimmen gegen Trident. Die britische Debatte ist noch längst nicht abgeschlossen. Jetzt, wo sich die Diskussion nicht länger um den Zeitpunkt und die Vorteile der Indienststellung einer neuen Atom-U-Boot-Flotte dreht, kann endlich die Rolle und Nützlichkeit von Atomwaffen für die Sicherheit im 21. Jahrhundert thematisiert werden.

Die schottische Regierung braucht für ihre Versuche, London zum Umdenken und zum Beginn echter nuklearer Abrüstung zu überreden, unbedingt Rückendeckung. Dies ist nicht nur für Schottland wichtig, sonder für die Sicherheit und Nichtverbreitungspolitik in ganz Europa. Da viele britische Außenpolitiker Angst haben, dass Frankreich im Falle der Abschaffung des britischen Atomwaffenarsenals eine Vormachtstellung zufiele, stehen sämtlichen Staaten Europas in der Verantwortung, eine solche Entwicklung zu verhindern und Frankreich seinerseits unter Druck zu setzen, seine Atomwaffen aufzugeben.

Außerdem sollten die NATO-Länder bei der anstehenden Revision des »Strategischen Konzepts« auf eine gründliche Überprüfung der Rolle und Implikationen von Atomwaffen und nuklearen Doktrinen im 21. Jahrhundert drängen. In diesem Kontext sollte die NATO auch den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa forcieren. Taktische Atomwaffen sind transportabel, verwundbar und einsatzbereit. Sie sind potentiell destabilisierend und provozieren zusätzliche Risiken und Unsicherheiten. Die NATO sollte eine Entscheidung für den Abzug der Atomwaffen als Hebel nutzen für Verhandlungen mit Russland, seine taktischen Atomarsenale aus der Reichweite zu NATO-Ländern abzuziehen und somit Gespräche über die vollständige Abschaffung aller taktischen Atomwaffen zu ermöglichen. Entsprechend sollten die Nicht-Atomwaffenstaaten in der NATO jegliches Training für den Ernstfall beenden und ihre Flugzeuge nicht länger für den Einsatz von Atomwaffen ausrüsten. Der Zeitpunkt dafür ist günstig, da Deutschland und Belgien (und vielleicht auch andere Länder mit nuklearer Teilhabe) zur Zeit ihre alternde Flugzeugflotte ersetzen und die Chance nutzen könnten, die anachronistische nukleare Rolle der Luftwaffe aufzugeben. Die Beendigung der nuklearen Teilhabe würde die Wirksamkeit des NVV erheblich stärken.

Natürlich würde Europa nicht im luftleeren Raum agieren. Der NVV gibt den grundlegenden völkerrechtlichen und politischen Rahmen vor, in dem Europa seine Abhängigkeit von Atomwaffen verringern und beenden könnte. Parallel dazu sprechen auch überwältigende regionale und globale Sicherheitsargumente dafür, jetzt eindeutige Schritte zu einem Verbot und zur Abschaffung von Atomwaffen einzuleiten.

NATO-Atomwaffenstandorte in Europa1

Land Luftwaffenstützpunkt B61-Sprengköpfe unter Verfügung von
USA NATO Gesamt
Belgien Kleine Brogel 0 20 20
Deutschland Büchel 0 20 20
Nörvenich* 0 0 0
Ramstein* 0 0 0
Großbritannien Lakenheath 110 0 110
Italien Aviano 50 0 50
Ghedi Torre 0 40 40
Niederlande Volkel 0 20 20
Türkei Akinci* 0 0 0
Balikesir* 0 0 0
Incirlik 50 40 90
Gesamt 210 140 350
* Hier sind keine Atomwaffen mehr gelagert, es bestehen aber noch Grüfte für die Lagerung. Manche dieser Standorte sind außerdem in die nukleare Kontroll- und Kommandokette der NATO eingebunden.
Die Zahlen in dieser Tabelle wurden aus Informationen von Hans Kristensen zusammengestellt. 1)

Anmerkungen

1) Hans Kristensen, Direktor des Nuclear Information Project der Federation of American Scientists, bestätigte kürzlich, dass 130 taktische Atomwaffen wohl endgültig von der US-Luftwaffenbasis Ramstein abgezogen sind. Davon waren 40 der NATO zugeordnet, die übrigen 90 gehörten zum US-Arsenal.

2) Rede von Jacques Chirac vor den Strategischen Luft- und Seestreitkräften auf dem Nuklearwaffenstützpunkt L’Ile Longue am 19. Januar 2006.

3) SIPRI (2007): SIPRI Yearbook 2007. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford University Press, S.515.

4) NATO, Final Communiqueof Ministerial meetings of the Defence Planning Committee and the Nuclear Planning Group held in Brussels on Friday, 15 June 2007.

5) Der Artikel wurde am 12. Januar 2007 unter dem Titel „Am Abgrund einer neuen nuklearen Bedrohung“ in der Frankfurter Rundschau dokumentiert.

6) Stellungnahme des ägyptischen Delegierten beim dritten Vorbereitungstreffen zur Überprüfungskonferenz 2000 des NVV am 12. Mai 1999.

7) Rede von Jacques Chirac, op.cit.

8) Die britische Atomwaffenkapazität beruht auf dem so genannten Trident-System: britische Atom-U-Boote des Typs Trident sind mit von den USA geleasten Trident-Raketen ausgestattet; diese sind mit britischen Atomsprengköpfen bestückt. Die U-Boote sind nördlich von Glasgow an der schottischen Westküste in Faslane stationiert [Anmerkung der Übersetzerin].

9) Ministry of Defence and Foreign and Commonwealth Office (2006):The Future of the United Kingdom’s Nuclear Deterrent, Cm 6994, published December 4, 2006.

Rebecca Johnson ist Gründerin und Direktorin des britischen Acronym Institute for Disarmament Diplomacy Übersetzung: Regina Hagen

Beginn eines Wettrüstens im All?

Beginn eines Wettrüstens im All?

Der chinesische ASAT-Test

von Götz Neuneck

Am 11. Januar 2007 hat China, das jahrelang Gegner der Bewaffnung des Weltraums war, einen Anti-Satelliten (ASAT)-Test durchgeführt: Es zerstörte einen eigenen Wettersatelliten in einer Höhe von ca. 865km mittels einer Mittelstreckenrakete. Neben den USA und Russland bewies nun auch China die Fähigkeit, Satelliten über dem eigenen Territorium »abzuschießen«. Damit unterstreicht es seine Ambitionen auf dem Gebiet der militärischen Raumfahrt, es beschwört aber auch die Gefahr eines Rüstungswettlaufs im All herauf. Denn sollten sich in Washington die Hardliner durchsetzen, könnten Programme zum Schutz eigener Satelliten und damit die Weltraumbewaffnung forciert werden. Weitere Staaten könnten in eine ressourcenverschlingende Konkurrenz einsteigen.

Viele Regierungen zeigten sich besorgt über diesen Test. Seitens der EU verwies ein Sprecher vor der Genfer Abrüstungskonferenz darauf, dass dieser Test unvereinbar mit den internationalen Anstrengungen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum sei. Leider sind diese Aktivitäten bereits länger durch die USA und China blockiert. Auch ein US-Sprecher zeigte sich beunruhigt. Dabei haben die USA wenig Anrecht auf eine Verurteilung Chinas, schließlich haben sie mit ihren Raketenabwehrtests im All den drohenden Rüstungsschub ausgelöst und eine Rüstungskontrolle im Weltraum bisher kategorisch abgelehnt. Im aktuellen US-Rüstungsbudget ist ca. 1 Mrd. US-Dollar eingestellt für Programme, die auf eine Bewaffnung des Weltraums hinzielen: Ein »Space-based Interceptor Test Bed« ist für 2008 geplant; entwickelt werden manövrierbare Mini-Satelliten, ASAT-Laser und neue Flugkörper. Die diversen Raketenabwehrprogramme, bei denen der Abfangvorgang eines anfliegenden Sprengkopfes im Wesentlichen im All stattfindet, haben inhärente ASAT-Fähigkeiten. Studien unterbreiten Vorschläge für Weltraumwaffen. Die neue »US National Space Policy« vom August 2006 verfügt, dass die USA ihre „Aktionsfreiheit im Weltraum“ sichern müssen. Der Schutz der US-Weltraumfähigkeiten wird initiiert, indem den Gegnern der USA die Nutzung des Weltraums für feindliche Zwecke »verweigert« werden soll.

Auch andere Staaten sind nicht untätig. Viele Raumfahrt treibende Staaten besitzen Vorläufertechnologien wie Minisatelliten oder Raketen. Das bestehende Weltraumrecht bietet bisher aber nur begrenzte Verbotstatbestände. Ein Gutachten des »International Court of Justice« zur Legitimität einer einseitig vorgenommen Einführung von Weltraumwaffen vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Weltraumvertrages könnte hier Rechtsklarheit schaffen.

Nun wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, rechtlich verbindliche, überprüfbare und wirkungsvolle Regelungen zu schaffen, um eine Bewaffnung des Weltraums zu verhindern. es gibt fünf herausragende Gründe für eine präventive Rüstungskontrolle im Weltraum:

  • das Eskalationspotenzial von Weltraumwaffen,
  • die begrenzte Zahl der Raumfahrtakteure,
  • die teuren und wenig effektiven Technologien für Waffenzwecke,
  • das zunehmende Weltraumschrottproblem und
  • die guten Überwachungschancen im All.

In der Vergangenheit wurden diverse Vorschläge erarbeitet um den Weltraum auf multilateraler Grundlage waffenfrei zu halten. Die Implementierung von konkreten Maßnahmen, wie z.B. einem »Code of Conduct«, wäre ein erster wichtiger Schritt. Rechtsverbindliche Regeln, wie der Verzicht »Satelliten anzugreifen«, würden die Grundlage für Rüstungskontrolle im Weltraum schaffen. Ein »Moratorium für Weltraumtests« könnte ein erster Schritt sein hin zu einem Vertrag, in dem alle Weltraumwaffen geächtet werden. Die Einhaltung eines »Null-Waffen-Vertrags« ist schließlich leichter zu überprüfen als ein Vertrag, der zwischen unterschiedlichen Zahlen und Arten von Waffen differenziert.

Eine Gruppe von »like-minded states«, wie Deutschland, Schweden, Kanada, Brasilien, Japan, könnte eine UN-Resolution einbringen, die einen internationalen Verhandlungsprozess, ähnlich dem Ottawa-Prozess, in Gang bringt. Die Einführung Transparenz bildender Schritte vieler Nationen würde die US-Administration isolieren und möglicherweise zu einer Aufgabe der Blockade in Genf zwingen. Die UN selbst könnte zur Begleitung des Prozesses eine »Group of Experts« berufen, die z.B. ein Zusatzprotokoll zum Weltraumvertrag ausarbeitet.

Die EU sollte auf diesem Sektor die Initiative nicht anderen Staaten überlassen. Aufgabe Europäischer Sicherheits- und Friedenspolitik muss es sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Gestalt annehmende EU-Weltraumpolitik die Weltraumbewaffnung ausschließt und dass andere, mit der EU kooperierende Staaten, zur Waffenfreiheit des Weltraums beitragen. Deutschland könnte zum 40. Jahrestages des Weltraumvertrages in den nächsten Monaten – auch in der Funktion der EU-Ratspräsidentschaft – entscheidende Impulse dazu geben.

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereichs Abrüstung und Rüstungskontrolle am Institut für Frieden und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) und Verfasser einer Studie zum Thema, die bei der Deutschen Stiftung Friedensforschung erschienen ist.