Gewaltfreie Frauenproteste in Südafrika

Gewaltfreie Frauenproteste in Südafrika

Widerstand im Spannungsfeld von Rassismus und Ungleichheit

von Rita Schäfer

Heutige Proteste für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Femizide lassen sich nicht verstehen ohne historische Kontexte. Denn viele Protestformen, Bezugspunkte und Debatten reichen zurück in den gewaltfreien Widerstand schwarzer Frauen gegen das Apartheidregime. Auch dreißig Jahre nach dem Amtsantritt von Nelson Mandela als erster demokratisch gewählter Präsident 1994 sind zivilgesellschaftliche Proteste von Frauen* weiterhin verbreitet. Demonstrant*innen skandalisieren infrastrukturelle Missstände und die grassierende Korruption in staatlichen Einrichtungen. Eine Einordnung.

Nelson Mandela und seine Regierung des African National Congress (ANC), der als politische Partei aus einer der größten Anti-Apartheidorganisationen hervorgegangen war, versprachen nach demokratisch legitimierten Wahlen grundlegende Verbesserungen in allen Lebensbereichen, ein Ende der Militarisierung der ganzen Gesellschaft und der Gewalt von Polizei und Militär. Denn 1985 hatte das repressive Apartheidregime, das seit 1948 an der Macht war, den Ausnahmezustand verhängt. Dieser hatte bis 1994 bürgerkriegsähnliche Zustände in den Wohngebieten der Schwarzen zur Folge.

Kontext: Langer Weg zu Frauenrechten in Südafrika

Um Gewalt, Rassismus und Diskriminierung zu beenden, wurde auch die Gleichheit aller Südafrikaner*innen in der neuen Verfassung 1996 festgeschrieben. Alle Frauen galten nun endlich unabhängig von ihrem Ehestatus als vollwertige Rechtspersonen. Während der Apartheid und in den Jahrhunderten unter kolonialer Herrschaft waren schwarze Frauen unmündig gewesen; sexuelle Minderheiten wurden kriminalisiert. Damit sollte fortan Schluss sein (Schäfer 2008a, S. 221ff.).

Unter Bezug auf internationale Frauen- und Menschenrechtsabkommen verab­schiedete die ANC-Regierung in der Folge Gewaltschutzgesetze. Sie betrachtete allerdings geschlechtsspezifische Gewalt als eine Reaktion auf die Brutalität des Apartheidapparats und hoffte auf ein baldiges Ende: Vergewaltigungen und sexu­alisierte Folter hatten zur Taktik von Geheimpolizei und deren Handlangern gezählt, um Schwestern oder Freundinnen von Regime­gegnern und gewaltfrei protestierende Frauen zu demütigen.

Die so brutalisierten und von den rassistischen Gesetzen betroffenen Frauen hatten in den Jahren der Apartheid Streiks, Schweigemärsche, (Bus-)Boykotte, Petitio­nen und Versammlungen zur basisdemokratischen Selbstverwaltung organisiert. Diese Aktionen des zivilen Ungehorsams, die sie teilweise bei Treffen in kirchlichen Gemeindezentren und unter der Tarnung als christliche Frauengruppen geplant hatten, stärkten ihre Interessenvertretung, Koordinations- und Kommunikationskompetenzen sowie ihr politisches Denken und Selbstbewusstsein als tragende Säulen im Anti-Apartheidkampf.

Zwar waren – je nach zeitspezifischem Kontext – nicht alle Aktionen erfolgreich: So blieben Petitionen mit über 100.000 Unterschriften und ein friedlicher Massenprotest von über 20.000 Frauen vor dem Regierungssitz in Pretoria gegen repressive Ausweisdokumente (so genannte »Pässe«) 1956 erfolglos. Diese Pässe schränkten Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten schwarzer Frauen in den Städten drastisch ein. Dennoch bestärkte die Teilnahme an dieser friedlichen Großdemonstration am 9. August 1956 die Mitwirkenden. In Eigenregie – also ohne dominierende Männer – hatten Frauen unterschiedlicher Herkunft den größten Massenprotest gegen das rassistische Regime organisiert. Vor dem Machtzentrum der Apartheidregierung standen sie eine halbe Stunde lang schweigend, anschließend sangen sie kraftvoll Protestlieder in mehreren Lokalsprachen und die politische Hymne »Nkosi sikelel’ iAfrika« (Gott segne Afri­ka). Ihr Zusammenhalt ermutigte die Demon­strantinnen zu weiterem Widerstand, wie einige in späteren Jahrzehnten in Zeitzeuginnen-Interviews erläuterten (Walker 1991, S. 189ff.).1

Viele der Protestformen des zivilen Ungehorsams gingen unter anderem auf den Juristen und Pazifisten Mohandas Karamchand (Mahatma) Gandhi zurück, der zwischen 1893 und 1914 in Südafrika gearbeitet hatte. Schwarze Frauen organisierten ihren Widerstand aber situationsspezifisch und setzten eigene Akzente, etwa durch symbolreiche Lieder. Dafür nutzten sie Kirchenchöre subversiv.

Spezielle Frauenprobleme – etwa eheliche Gewalt – ordneten die Frauen im Widerstand dem umfassenden Anti-Apartheidkampf unter. Sie wollten dem Apartheidstaat keinen Anlass bieten, Spannungen in der schwarzen Gesellschaft auszunutzen. Denn ihre Analyse war, dass diese Gewaltformen infolge der Apartheid entstanden waren, etwa durch Zwangsumsiedlungen, strukturelle Ausbeutung und Repression, die schwarze Männer erniedrigte und ihr Maskulinitätsverständnis, etwa als sorgende und verantwortungsbewusste Familienvorstände, verhöhnte.

Da die in den 1990er Jahren eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) in Südafrika die Systematik und die zerstörerischen Absichten politisch motivierter Vergewaltigungen aber nicht erfasste, blieb es die Aufgabe von Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Frauenorganisationen, die Muster aufzudecken, zu dokumentieren und Reparationsforderungen daraus abzuleiten (Meintjes 2009, S. 101ff.).

Von Opfern zu Aktivist*innen

Apartheidopfer bzw. -überlebende gründeten im Kontext der TRC die Organisation »Khulumani Support Group« – das Zulu-Wort Khulumani bedeutet „laut sprechen, aussprechen“ bzw. „das Wort ergreifen“. Sowohl verbal als auch auf großen Stoffbändern meldeten sich Khulumani-Mitglieder zu Wort, schrieben gegen das erlittene Unrecht an und verlangten Reparationen. Sie bezeichneten Vergewaltigungen als rassistische Erniedrigungspraxis, mit der Apartheidsoldaten, -polizisten bzw. deren Schlägertrupps Frauenkörper geschunden hatten.

Überlebende malten ihre Gewalterfahrungen auf so genannte »Body Maps«, lebensgroße Bilder basierend auf Körpersilhouetten. Diese Methode aus HIV-/AIDS-Beratungen übertrugen Kunst- und Traumaexpert*innen auf die Bewältigungsarbeit mit Anti-Apartheidaktivistinnen, zumal etliche Vergewaltigte mit HIV infiziert worden waren. Solche Bilder erstellten sie in geschützten Räumen, wo sie sich gegenseitig dabei unterstützten, erlittenes Leid mit traditionellen und christlichen Symbolen für Krankheiten und Gewalt anzudeuten, etwa mit Schlangen in Frauenkörpern. Ihre Bilder wurden Teil eines selbstbestimmten Archivs visueller Erinnerungen.

Kollektiv gemalte Körper und Erinnerungsszenen nutzten frühere Anti-Apartheidaktivistinnen für ihren zivilgesellschaftlichen Protest, konkret ihre Reparationsforderungen. Öffentlichkeitswirksam organisierten ältere und verarmte schwarze Frauen 2022 und 2023/24 im Rahmen ihrer als »Galela« bezeichneten Kampagne – das Xhosa-Wort heißt übersetzt „Ausschüttung“ – wochen- bzw. monatelange Sleep-ins vor dem Verfassungsgericht in Johannesburg. Das Gerichtsgebäude steht symbolträchtig auf dem Gelände eines früheren Gefängnisses für politische Gefangene – mit nach Hautfarben und Geschlechtern getrennten Trakten. Diesen symbolischen Ort wählten die Aktivist*innen anlässlich nationaler Feiertage, an denen offiziell an Apartheidopfer und -gegner*innen gedacht wird, etwa am nationalen Frauen-, Jugend- und Menschenrechtstag. Unweit der früheren Zellen rollten sie mitgebrachte Decken aus und setzten durch ihre körperliche Präsenz vor diesem hohen Haus ein unübersehbares Zeichen ihres Leidens, das durch den verschleppten Zugang zu Reparationen noch nicht gelindert war (Steyn 2022).

Ihre Körper und künstlerischen Ausdrucksformen setzten sie gezielt als Mittel des zivilen Ungehorsams ein. Nur dürftig vor Kälte oder Hitze geschützt, forderten sie in selbstformulierten Liedern, auf handgeschriebenen Plakaten und Spruchbändern Zugang zu Reparationsgeldern aus einem speziell eingerichteten Präsidentenfond, den das Justizministerium verwaltet. Für die auf großen Stoffbildern angeprangerten Vergewaltigungen während der Apartheid war kein einziger Täter strafrechtlich belangt worden; Vergewaltiger und Auftraggeber hüllten sich während der TRC in Schweigen, mächtige Hintermänner dementierten die Verbrechen.

Dennoch zog der frühere ANC-­Präsident Thabo Mbeki (Amtszeit 1999-2008) einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsaufarbeitung durch die TRC. Mbekis Nachfolger Jacob Zuma (Amtszeit 2009-2018) änderte das nicht. Er hatte den Geheimdienst im bewaffneten Untergrund geleitet. Vergewaltigungen durch diese Organisation blieben in der Arbeit der TRC eine Marginalie. Beim Thema Reparationen spielte auch die ANC-Regierung unter Cyril Ramaphosa (2018/19-2024) auf Zeit und verschanzte sich hinter Formalitäten. So blieb aus Sicht früherer Regimegegner*innen nur der gemeinsame zivilgesellschaftliche Protest als Ausweg (Seidman 2020).

Frauenfeindlichkeit und Homophobie

Es sind heutzutage jedoch nicht nur alte schwarze Frauen, die mit zivilem Ungehorsam die ANC-Regierung kritisieren. Jüngere skandalisieren weniger vergangene Fehler, sondern vielmehr gegenwärtige Strukturprobleme – und beziehen sich dabei immer wieder auf Aktionsformen vorangegangener Generationen, gehen aber auch über diese hinaus.

Die aktuellen Probleme lassen sich klar beziffern: Zwischen März 2018 und März 2019 dokumentierte die südafrikanische Polizei 2.771 Femizide, 3.445 versuchte Frauenmorde, 36.597 Vergewaltigungen und 82.728 gewalttätige Angriffe auf Frauen (Gouws 2022). Während der Corona-Pandemie stiegen die Zahlen weiter. 2022 wurden landesweit 3.843 Frauen ermordet. Allein im 2. Quartal 2023 registrierte die Polizei 13.090 Vergewaltigungen und 881 Femizide. Hinzu kommt eine Grauzone nicht dokumentierter Fälle. Vielerorts ist die Polizei untätig und die Justiz überfordert. Nur wenige Täter werden strafrechtlich verfolgt; milde Strafen und vielfache Straffreiheit befördern besitzergreifendes Sexualverhalten.

Dagegen protestieren vor allem schwarze junge Frauen, denn sie bilden die Mehrheit der Gewaltopfer bzw. -überlebenden. Im Unterschied zu Weißen können sie sich vielfach keine Häuser oder Wohnungen mit Sicherheitsanlagen leisten. Das betrifft vor allem verarmte Lesben. Deshalb skandalisieren sie Mehrfachdiskriminierungen aufgrund von Geschlechterhierarchien, Hautfarbe (race) und wirtschaftlicher Ungleichheit (class). Schwarze Lesben organisieren immer wieder Aktionen zivilen Ungehorsams, so bei der Pride in Johannesburg 2012, als sie sich in lila T-Shirts und umrahmt von Bannern mit Aufdrucken »Dying for jus­tice« und »No cause for celebration« zwischen die Feiernden auf die Straße legten, um die von weißen Schwulen dominierte Homosexuellenszene wachzurütteln, was während und nach der Pride Kontroversen zwischen verschiedenen Interessenvertreter*innen sexueller Minderheiten auslöste.

Am 1. August 2018 organisierten Frauenrechtsaktivist*innen, Mitarbeiter*innen von Frauenhäusern, lesbische/trans* Aktivist*innen und Engagierte in HIV/AIDS-Netzwerken große Demonstrationen in vielen Metropolen des Landes. In Kapstadt zogen sie vor das Parlamentsgebäude und in Pretoria vor den Regierungssitz. In Pretoria überreichten sie Präsident Cyril Ramaphosa ein Memorandum mit 24 Forderungen zur verbesserten Strafverfolgung von Vergewaltigern und Vermeidung der Reviktimisierung von Vergewaltigten durch Polizei oder Justiz sowie zu systematischen staatlichen Präventionsmaßnahmen. Die Zahl 24 bezog sich auf die Jahre seit den ersten demokratischen Wahlen und dem Amtsantritt von Präsident Nelson Mandela 1994 (Gouws 2018). Einzelne Frauen trugen blutrot getränkte südafrikanische Fahnen, um den ANC anzuprangern, der aus ihrer Sicht das Versprechen von Freiheit und Gleichheit gebrochen hatte.

Ihre Kritik verstärkten sie durch den Zeitpunkt ihrer Proteste: Den Beginn des nationalen Frauenmonats, der anlässlich des nationalen Frauentags am 9. August den Anti-Passprotest von Regimegegnerinnen 1956 zelebriert. In Sprechgesängen, die teilweise auf Lieder von 1956 Bezug nahmen, skandalisierten die Demons­trant*innen das Versagen staatlicher Institutionen und die Frauenverachtung vieler Männer. Dabei trugen sie selbstgestaltete Plakate, die an Ermordete erinnerten, und befestigten großformatige Fotos mit deren Namen an den Sicherheitszäunen von Regierungsgebäuden. Für diese Opfer hatte es weder Sicherheit noch Schutz gegeben.

Ihre Trauer brachten die Demonstrant*innen auch mit ihrer Kleidung zum Ausdruck: Schwarze T-Shirts mit blutroten Schriftzügen, die ihre Kampagne mit Forderungen nach einem Ende der Gewalt auf den Punkt brachten, unterstrichen wirkungsvoll ihre Einheit. Das Motto, also die klare Haltung gegen körperliche Übergriffe: „My body, not your crime scene“, hatten etliche auch auf ihre Haut geschrieben. Damit meinten sie nicht nur einzelne Täter, sondern Strukturprobleme. Südafrika war wie viele Staaten auf dem afrikanischen Kontinent ein Postkonfliktland; während der internationalen AWID-Frauenrechtskonferenz 2008 – also zehn Jahre zuvor – hatten Südafrikaner*innen gemeinsam mit ostafrikanischen Friedensaktivist*innen eine große Demonstration durch Kapstadt organisiert. Ihr Motto lautete: „Kein Krieg auf Frauenkörpern, denn die Gewaltraten in Südafrika waren so hoch wie sonst nur in Kriegsgebieten (Schäfer 2008b, S. 70ff.).

Mit ihrer Kampagne »#Total Shut Down« forderten die Anti-Gewaltaktivist*innen wie bei Generalstreiks während der Apartheid den Stillstand täglicher Aktivitäten, das hielten sie angesichts der dramatischen Ausmaße und Folgen der Gewalt für angemessen. Bei Sportveranstaltungen, die als Inbegriff maskuliner Selbstbestätigung galten, forderten sie Männer auf, ihre Solidarität mit Frauen zu beweisen, während der Proteste die Kinderversorgung und Hausarbeit zu übernehmen, aktiv gegen sexualisierte und andere Gewaltpraktiken vorzugehen und Tätern Paroli zu bieten. Beispielhaft für Solidaritätsbekundungen waren feministisch orientierte, zivilgesellschaftliche Gender-Organisationen, die am Einstellungswandel von Männern arbeiten, allen voran »Sonke Gender Justice«. Eine Schaltstelle der Frauenrechtsorganisationen war »People Opposition ­Women Abuse« (POWA), die seit Jahrzehnten Gewaltprävention und Opfer- bzw. Überlebendenhilfe verbindet. Etliche von jungen feministischen Aktivist*innen gestartete Social Media-Kampagnen wie #MenareTrash, #EndRapeCulture oder #WomenforChange erreichten breite urbane Bevölkerungskreise und erhöhten den zivilgesellschaftlichen Druck auf die Regierenden (Gouws 2018).

Damit erzielten sie gewisse Erfolge. Denn Präsident Cyril Ramaphosa, der selbst aus der Gewerkschaftsbewegung kam, regierte auf einige Forderungen der Protestierenden und lud Anfang November 2018 zahlreiche Vertreter*innen aus verschiedenen Gruppen und Organisationen zu einem Kongress ein. Er erklärte geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide zur nationalen Krise und kündigte einen nationalen Strategieplan an, der Gelder für die Strafermittlungsbehörden, die Opfer- bzw. Überlebendenhilfe und die Prävention vorsehen sollte und 2020 veröffentlicht wurde. Während der Corona-Pandemie verhängte die ANC-Regierung einen strengen Lockdown, Präsident Ramaphosa bezeichnete geschlechtsspezifische Gewalt als zweite Pandemie, der mit einem Verbot des Alkoholverkaufs und besonderen Sozialhilfeleistungen für arme Menschen begegnet werden sollte. Solche Maßnahmen sollten häusliche Gewalt, etwa aus Finanznot, vermeiden. Dennoch belastete und schädigte diese viele Frauen weiterhin.

Die Gewaltschutzgesetze und das Strafrecht gegen Vergewaltiger und Frauenmörder wurden 2022 novelliert, dem folgte ein Gesetz gegen Hassgewalt. Ob diese Gesetzesnovellen und ein neuer nationaler Rat zu Gender-Gewalt reale Änderungen bringen, werden feministische Aktivist*innen weiter beobachten. In zivilem Ungehorsam als Protestform gegen Missstände haben sie Erfahrung – und sie werden den notwendigen Wandel sicherlich lautstark und sichtbar einfordern.

Anmerkung

1) Erinnerungen berühmter und weniger bekannter Aktivistinnen dokumentieren (Auto-)Biographien in unterschiedlichen Landessprachen, historische Fachpublikationen und elektronische Informationsportale zur Geschichte Südafrika wie »SAHA«, »SAHistory« und »Overcoming Apartheid«. Diese Portale richten sich an die interessierte Öffentlichkeit und Lehrkräfte sowie Schüler*innen in Sekundarschulen. An den Women’s March 1956 erinnern auch archivierte Poster, etwa ein ikonographisches Aktivistinnen-Porträt – gestaltet von der Künstlerin und früheren Untergrundkämpferin Judy Seidman (Lissoni 2019).

Literatur

Gouws, A. (2018): South Africa may finally be marching towards solutions to sexual violence. The Conversation, 08.08.2018.

Gouws, A. (2022): Rape is endemic in South ­Africa. Why the ANC governemnt keeps missing the mark. The Conversation, 04.08.2022.

Lissoni, A. (2019): Art as a weapon in South Afri­cas’ liberation struggle. The Conversation, 18.12.2019.

Meintjes, S. (2009): ‚Gendered truth’? Legacies of the South African Truth and Reconciliation Commission. African Journal of Conflict Resolution 9(2), S. 101-112.

Schäfer, R. (2008a): Im Schatten der Apartheid. Frauen-Rechtsorganisationen und geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika. 2. aktualisierte Auflage, Münster-Hamburg-Berlin: Lit-Verlag.

Schäfer, R. (2008b): Frauen und Kriege in Afrika. Eine Gender-Analyse. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel Verlag.

Seidman, J. (2020): The unfinished business of the TRC is killing us, say Apartheid’s victims. Daily Maverick, 08.11.2020.

Steyn, D. (2022): Nearly R2 billion for apartheid reparations is unspent. The President’s Fund is growing as apartheid victims wait. Ground up, 12.12.2022.

Walker, Ch. (1991): Women and resistance in South Africa. Cape Town: David Philip Publishers.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Afrikawissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkt Gender in Südafrika und lebt in Bonn/Bochum.

Keine wahre Revolution ohne feministische Vision

Keine wahre Revolution ohne feministische Vision

Das Beispiel der algerischen Bewegung El-Hirak

von Lilly Roll-Naumann

Eine revolutionäre Bewegung strebt klassischerweise den Sturz der Regierung oder des Staates an – so ein häufiges Narrativ. Dieses staats- und strukturfokussierte Verständnis von Revolution unterwandern Frauen und feministische Aktivist*innen. Sie bringen ein subversives und transformatives Potential in die Bewegungen, die Gesellschaft umfassend und nachhaltig zu verändern. Das Beispiel feministischer Stimmen in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak verdeutlicht, inwiefern der revolutionäre Anspruch der Bewegung ohne diese Stimmen unvollständig bliebe.

Der Beginn der 2010er Jahre war im Nahen Osten und in Nord­afrika von einer beispiellosen Protestwelle revolutionärer Umwälzung geprägt. Für einen Moment schaute die ganze Welt mit Spannung auf die zivilen Proteste. Ähnlich schnell wurden die Bewegungen jedoch für gescheitert und die Demokratisierung in der Region für begraben erklärt, mit Schrecken wird besonders an die zum Teil noch andauernden Bürgerkriege gedacht. Eine Perspektive, die Erfolg und Scheitern von revolutionären Bewegungen binär, monokausal und linear misst, etwa an „schnellen, grundlegenden Veränderungen der Staats- und Klassenstrukturen einer Gesellschaft“ (Skocpol 1979, S. 4), versperrt jedoch den Blick auf subtilere Veränderungen wie beispielsweise das geschärfte Bewusstsein der Bürger*innen für die Macht kollektiven Handelns (Stephan und Charrad 2020, S. 6).

Acht Jahre nach den Bewegungen des sogenannten »Arabischen Frühlings«1 ereignete sich eine erneute starke Protestwelle in der Region – im Sudan, in Algerien, im Irak und im Libanon. Was bei näherer Betrachtung dieser Proteste auffällt und an die früheren Bewegungen erinnert, ist die Schlüsselrolle, die Frauen darin einnahmen – noch dazu unterschiedlichsten gesellschaftlichen Status und an der Spitze der Proteste. Doch ihre Rolle ging darüber hinaus, den friedlichen Charakter der Proteste aufrecht zu erhalten.2

Denn, wie die syrische revolutionäre Aktivistin Samer Yazbek weiß, „[d]er Sturz der Diktatoren quer durch die arabische Welt markiert den Beginn der wahren Revolution“ (2012, S. 6, Hervorhebung hinzugefügt). Diese liegt in der „Kontinuität des revolutionären Aktivismus, des revolutionären Bewusstseins und der revolutionären Kreativität von Frauen, so miriam cooke (2016, S. 43). Frauen und Feminist*innen verleihen Revolution eine Dimension, die das populäre Verständnis von revolutionärem Wandel im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation von Gesellschaft und Mentalitäten vertieft. Ohne ihre Beteiligung sind zivile Widerstandsbewegungen mit revolutionär-transformatorischem Anspruch unvollständig.

Dies wurde auch in der algerischen revolutionären Bewegung El-Hirak deutlich, die im Februar 2019 aus Protest gegen die fünfte Amtszeit des seit 20 Jahren regierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika begann und sich bald zu einer Bewegung entwickelte, die einen vollständigen Regimewechsel forderte. Die wöchentlichen Proteste hielten über ein Jahr lang an, bis die Covid-19-Pandemie und deren Instrumentalisierung durch das Regime die Bewegung von der Straße ins Internet verdrängte, wo sich die Verfolgung und Kriminalisierung von Aktivist*innen fortsetzte. Letztlich überdauerte das autoritäre Regime und konsolidierte sich, während die Bewegung heute weitreichend als stark geschwächt bis „verschwunden“ (Martinez und Boserup 2024) betrachtet wird.

Frauen im ganzen Land beteiligten sich in großem Umfang an der Protestbewegung. Einerseits war das in einem stark patriarchal geprägten Land, in dem Frauen auf vielen Ebenen der Gesellschaft marginalisiert werden, für viele eine Überraschung. Andererseits hat das Engagement algerischer Frauen eine lange Tradition, die schon bis zum anti-kolonialen Kampf zurückreicht. Die feministische Bewegung innerhalb des Hirak zeigte sich als politischer Akteur der revolutionären Bewegung sehr aktiv und verband den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit mit dem Kampf für einen Regimewechsel.

Ich möchte am Beispiel des Hirak illustrieren, welche Rolle feministische Stimmen darin durch die Formulierung der Vision eines „Gesellschaftsprojekt[es]“ (B, 79) im Sinne einer umfassenden und nachhaltigen Transformation spielten. Der Kampf von Frauen und feministischen Aktivist*innen um die Akzeptanz ihrer Präsenz gegen Widerstände war gleichzeitig der Kampf für eine Vision, die der repräsentativen und inhaltlichen Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung entsprach. Ihr Kampf garantierte, dass die Bewegung im Einklang mit ihrem ideellen Selbstbild blieb. Die Erkenntnisse basieren auf der Analyse von sieben Interviews mit vier algerischen feministischen Aktivistinnen innerhalb der Hirak-Bewegung zwischen Dezember 2019 und Januar 2020. Die Interviewdaten sind eingebettet in Beobachtungen aus einer sechsmonatigen Feldforschungsphase von Mai bis November 2019.

Doppelter Kampf um Akzeptanz in der Bewegung

Um den Kampf der revolutionären Bewegung an der Seite der männlichen Hälfte der Gesellschaft austragen zu können, mussten Frauen erst die Akzeptanz ihrer Präsenz im öffentlichen Raum und in der patriarchalen Gesellschaft erkämpfen. Meine Interviewpartnerin Manel B.3 bezeichnete das Verwandeln des Protestfreitags in einen „gemischte[n] Tag, an dem Frauen rausgehen und Männer auch rausgehen“, als eine „Niederlage des Konservatismus“ (B, 101). Dieser Akt des Widerstands gegen das Patriarchat erwies sich insbesondere in kleinen traditionellen Städten als außergewöhnlich, „wo die gemischte Gesellschaft zwar sichtbar, aber fast verboten ist“ (A III, 121). Die revolutionäre Präsenz von Frauen repräsentierte meinen Interviewpartnerinnen zufolge ihre „Entscheidung, vollwertige Bürger­innen zu sein und zu werden“ (ebd., 14). Ihre Forderungen waren somit dieselben wie die der Gesamtbewegung, „mit einer einzigen Besonderheit […]: als Bürgerinnen anerkannt zu werden und Gleichstellung konkretisiert zu sehen“ (D, 33). Die Wiederaneignung der Staatsbürgerschaft war Ausdruck eines inneren Prozesses der Selbsterkenntnis, infolgedessen Frauen ihre Teilnahme an einer Demonstration nicht mehr zur Debatte stellten und ihren Familien gegenüber impulsiv mit den Worten erklärten: „Ich bin eine Bürgerin, ich bin betroffen“ (B, 102). Dasselbe galt in Beziehung auf die Gesellschaft:

„Jedes Mal, wenn es einen Aufruf in den sozialen Medien gibt, in dem es heißt: ‚Frauen haben auf der Straße, im Hirak nichts zu suchen!‘, ‚Lass deine Schwester nicht rausgehen!‘, ‚Lass deine Tochter nicht rausgehen!‘ – und die Reaktion kommt sogar von Frauen, die gegen die feministische Bewegung sind. Die Reaktionen sind außergewöhnlich: ‚Nein! Nein! Nein!‘“ (ebd., 107)

Die feministische Bewegung kämpfte im Hirak ebenfalls einen „doppelten Kampf: einen Kampf für den allgemeinen Kampf, wo sich alle einig sind – den Kampf, wo wir das System weghaben wollen. [Und] den individuellen Kampf – nun, nicht individuell – den spezifischen Kampf der feministischen Bewegung. Unseren Kampf als Frauen“ (ebd., 73). So wurde etwa das »carré féministe«, der feministische Block im Protestmarsch in Algier, bedroht und angegriffen (A III, 31-36). Doch „[d]ie Angriffe begannen nicht auf der Straße“ (B, 75) und „nicht nur in dem, natürlich, was man über die islamistische Bewegung weiß, von Seiten der Konservativen, von Seiten der repressiven Machthaber – aber Achtung – sogar auch viel innerhalb dessen, was man für die demokratische Bewegung oder die progressive Bewegung hält“ (A III, 94).

Wie in der Vergangenheit wurde der feministischen Bewegung die historisch bekannte Ablenkungsphrase präsentiert, es sei „nicht der richtige Zeitpunkt“ (B, 58-61), mit der Frauen schon während des Aufbauprozesses der Nation nach dem Unabhängigkeitskrieg „geopfert wurden“ (ebd.). Dies wurde besonders deutlich, als ihre Bemühungen, Frauenrechte im Fahrplan für einen demokratischen Übergang zu verankern, innerhalb des entsprechenden zivilgesellschaftlichen Kollektivs blockiert wurden. Als der Begriff »Gleichberechtigung« unter dem Vorwand, einen politischen Konsens schaffen zu wollen, vollständig aus dem endgültigen Konsenstext der nationalen Konferenz »Consenus Élargi« gestrichen wurde (A III, 53), „handelte“ (ebd., 78) die feministische Bewegung. Vertreten durch eine Reihe von Frauenorganisationen, boykottierte sie die Konferenz in letzter Minute, was „die Mediatisierung und Sichtbarkeit der Forderungen der Frauen erhöhte“ (ebd., 76-79).

Manel B. beschrieb die in der Bevölkerung wachsende Akzeptanz der Selbstkonzeption der feministischen Bewegung im Hirak als ein erstes zentrales Ergebnis ihres doppelten Kampfes:

„Es gab eine Entwicklung […] Das Wort ‚Feminist*innen‘, in den Anfängen des Hirak war es wirklich: ‚Was ist das?‘, ‚Das ist eine fremde Hand!‘, ‚Das ist etwas, das aus dem Ausland kommt, aus dem Westen!‘, dies und das. Jetzt [sagen] alle, auch die, die uns hassen: ‚Die algerischen Feminist*innen.‘ Das war‘s.“ (ebd., 82)

Forderung nach Unabhängigkeit bleibt doppelt unerfüllt

Die revolutionäre Bewegung rahmte ihren Protest als den Kampf für eine zweite Unabhängigkeit durch einschlägige Sprechchöre, Banner und eine symbolische Omnipräsenz der algerischen Nationalflagge. Worte wie die eines Graffitis in Algier-Centre illustrierten dies: „1962 indépendance du sol, 2019 indépendance du peuple“ (1962 Unabhängigkeit des Bodens, 2019 Unabhängigkeit des Volkes). Die Bewegung brachte damit ihre Forderung nach Freiheit und Würde zum Ausdruck – dem uneingelösten Versprechen, das die Staatsbürgerschaft für das algerische Volk nach der Unabhängigkeit enthielt. Für Frauen blieb es in doppeltem Sinne unerfüllt. So wurden sie nach der Revolution zweifach um ihre vollwertige Staatsbürgerschaft betrogen – als Algerierinnen im neuen Staat und als Frauen. Während Frantz Fanon argumentierte, dass der algerische Unabhängigkeitskrieg die patriarchale Familienstruktur erschüttert hätte und das Ende der patriarchalen Strukturen markiere (1967, Kap. 3), widerlegen die tatsächlichen Ereignisse nach der Unabhängigkeit diese These. „Im Krieg waren wir alle gleich – erst danach wurde uns die Staatsbürgerschaft entzogen“, berichtete eine ehemalige »moudjahida« (weibliche Unabhängigkeitskämpferin, zitiert in Turshen 2002, S. 893). Eine „klassische Tendenz in Revolutionen“ (Bouatta 1997, S. 2) ist der Glaube, dass die Befreiung, die das Ziel einer bestimmten Revolution ist, weitere Freiheiten mit sich bringen würde, auch für Frauen. Für Algerien gilt: Zwar erhielten Frauen einige Positionen im Parlament und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, doch blieben diese symbolisch. „Ein langsamer Rückschritt des weiblichen Zustands […] gipfelte in der Verabschiedung des Familiengesetzes im Juli 1984“ (ebd. 1994, S. 23). Dieser auf der islamischen Scharia basierende Gesetzestext verlieh Frauen einen untergeordneten Status gegenüber Männern. Cherifa Bouatta beschreibt dies als einen rechtlichen Dualismus, der den Status der Frauen „einerseits als Bürgerinnen gemäß der Verfassung, dem Strafgesetzbuch und der Arbeitsgesetzgebung“ und andererseits als „Minderjährige unter männlicher Vormundschaft gemäß dem Familiengesetzbuch“ institutionalisierte (1997, S. 6).

Die Forderung der feministischen Bewegung innerhalb des Hirak war somit eine historische. Entsprechend ordnete sich ihr Kampf in ein historisches Kontinuum (A III, 109) für den Wandel kämpfender algerischer Frauen ein: „Wir sprechen von einem Erbe des Kampfes der Frauen in Algerien. Sie sind Heldinnen, die Schlachten gegen den Kolonialismus geschlagen haben. Selbst während der Revolution haben sie ihre Gleichberechtigung durch ihre Präsenz hergestellt, sie haben sie demonstriert“ (A II, 45, zitiert nach Gedächtnisprotokoll). Meine Interview­partnerin Farida A. hob besonders zwei Etappen hervor: die Kämpfe gegen die koloniale Eroberung vor und während des Befreiungskriegs und den weiblichen und feministischen Widerstand gegen den islamistischen Terror der 1990er Jahre (ebd. III, 104-105; 119). Den Kampf von Frauen und Feminist*innen im Hirak konzipierte sie als dritte Etappe zur Illustration des historischen Kontinuums (ebd., 104). Indem die feministische Bewegung ihre revolutionäre Präsenz in einem historischen Kontinuum kämpfender algerischer Frauen konstruierte, unterstreicht sie die Legitimität der weiblichen Präsenz und der feministischen Forderung in der Hirak-Bewegung.

Keine wahre Revolution ohne Frauen und feministische Komponente

Die Präsenz von Frauen und die feministische Vision war für die Selbstkonzeption der revolutionären Bewegung in repräsentativer wie inhaltlicher Hinsicht essentiell. Für deren Selbstverständnis war es zentral, von „dem Volk“ auszugehen, da dieses im Mittelpunkt des identitätsstiftenden Narratives eines Kampfes für eine zweite Unabhängigkeit stand. Frauen und Feminist*innen waren es, die dafür sorgten, dass die Bewegung in Hinsicht auf Geschlecht tatsächlich „das Volk“ repräsentierte und nicht nur einen Teil davon. Hadjer D. beschrieb dies folgendermaßen:

„Es waren die Frauen, die etwas bewirkt haben […]. [Sie] haben dem Hirak durch ihre Präsenz eine andere Dimension verliehen. In einer konservativen Gesellschaft gibt es nicht nur Männer. […] Die Frauen sind da, sie sind auf der Straße, sie haben den öffentlichen Raum besetzt. Und es ist nicht der Hirak, der ihnen den öffentlichen Raum gegeben hat. (ebd., 28)

Die Hirak-Bewegung wurde auch als „la révolution citoyenne“ (die Bürgerrevolution, wortwörtlich: die bürgerliche Revolution) bezeichnet, was das Selbstverständnis der Bewegung als bürgerschaftliche Bewegung widerspiegelt. Dieses beinhaltet einerseits die Tatsache, dass sie von Bürger*innen geführt wurde – gegen den Widerstand eines Militärs, das sich „der Entstehung der Bürgerschaft widersetzt, indem es die Zivilgesellschaft erstickt“ (Addi 2012, S. 112) und inmitten der „sozialen Pathologie [eines] Staates, dessen „politisches System gegenüber der verantwortungsvollen Beteiligung der Bürger*innen verschlossen [ist]“ (Kedidir 2020, Abs. 6). Darüber hinaus umfasst es den Bürgersinn, den die Bewegung in ihrer Haltung und Praxis verkörperte. Farida A. sprach im Interview von dem „Geist der Bürgerrevolution“, der auf der Verhaltensebene wirkte und Mitglieder dazu anregte, „im Einklang [mit ihm] zu sein“ (ebd. III, 47). Sara C. konzipierte dies als neu entwickeltes „staatsbürgerliches Bewusstsein“ (ebd., 63), in dessen Sinne Mitglieder einen Wandel „im Einklang mit [ihren] aktuellen Ambitionen“ (ebd.) forderten: nicht nur auf der Ebene von Strukturen, sondern auch von Gesellschaft und Mentalität (ebd.). Grundlegend für diesen Bürgersinn war praktizierte Toleranz, die Frauen und Feminist*innen im revolutionären Raum lebten und durch ihre Präsenz einforderten:

Was passiert ist, ist, dass wir […] gezwungen waren, uns gegenseitig zu akzeptieren. Wir waren gezwungen, für die Sache toleranter zu werden. Zugegeben, es gibt frauenfeindliche Männer, es gab Konservative, es gibt Leute, die Islamisten sind, aber […] wir haben eine gemeinsame Sache zu erreichen. Das ist ein Wandel.“ (ebd., 40)

Zweites wesentliches Element des Bürgersinns und des zivilen Selbstverständnisses der Bewegung war die „berühmte silmiya [Friedlichkeit]“ (A III, 9): „Markenzeichen, Geburtsurkunde und Ausweis der algerischen Bewegung“ (ebd., 10). Die Vorstellung, dass Frauen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des friedlichen Charakters der Proteste spielten, ist weithin anerkannt (ebd., 11). So wurde die Präsenz von Frauen in der Bewegung einerseits als „wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung der (…) silmiya“ (ebd., 9) und andererseits als „massive Abschreckungswaffe gegen die Repression“ (ebd., 8) bezeichnet. In diesem Verständnis erwiesen Frauen sich als unerlässlich für das Überleben der revolutionären Bewegung durch ihre friedensstiftende Wirkung in die Bewegung hinein wie nach außen.

Die feministische Bewegung kämpfte dafür, dass die revolutionäre Bewegung „im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution“ (ebd., 47) blieb. Mit dem Verweis auf die Forderung der Hirak-Bewegung nach Demokratie deckten die interviewten Aktivistinnen die Widersprüche zwischen den Forderungen der Demonstrant*innen und ihren Einstellungen und Verhaltensweisen auf:

„Viele sagen ‚El Djazaïr horra dimocratiya‘ – ‚Freies und demokratisches Algerien‘, aber ohne zu wissen, was diese Demokratie für einige bedeutet. Ist es möglich, eine Demokratie zu haben, während man Homosexuelle diskriminiert, während man Frauen diskriminiert, während man dieses oder jenes Mitglied der Gesellschaft diskriminiert?“ (B, 74)

Farida A. beschrieb im Interview einen vergleichbaren Erkenntnisprozess bei Männern, die im Einklang mit dem Geist der Bürgerrevolution [sein wollten und] urteilten […], dass sie nicht Meinungs- und Informationsfreiheit fordern […] und Frauen [gleichzeitig] ihre Unterstützung oder Solidarität verweigern konnten, die zu Unrecht angegriffen wurden, weil sie Gleichberechtigung forderten“ (ebd. III, 47). Die feministische Bewegung unterstrich, dass ihre Forderungen sich komplett in den demokratischen Geist der revolutionären Bewegung einordneten: „Die Forderungen sind dieselben. […] Wir wollen einen demokratischen Staat, es ist in diesem demokratischen Staat, dass Freiheit und Gleichheit garantiert werden müssen“ (D, 33). Entsprechend konstruierte sie ihre physische Präsenz in Form des »carré féministe« „ganz in die Bewegung eingeschrieben“ (A I, 92), wo sie zu einem Ort wurde, „der vereinend sein könnte […] und eine Bedeutung haben könnte in dieser Konstruktion der Staatsbürgerschaft für Frauen, natürlich, aber warum nicht auch Staatsbürgerschaft für Frauen und Männer zusammen“ (ebd. III, 30) – „um zu demonstrieren, dass die Frauenfrage [lacht], [nicht] nur den Frauen gehört“ (ebd., 50).

Die feministische Bewegung im Hirak verdeutlichte die Verwobenheit des revolutionären und des feministischen Kampfes, indem sie rhetorisch wie praktisch demonstrierte, dass die Forderung nach Gleichberechtigung in den revolutionären Anspruch eingebettet sein muss. Weibliche Handlungsmacht und der feministische Kampf wurden so praktisch vorgelebt und gleichzeitig zur Bedingung für die Erfüllung des demokratischen Versprechens der Hirak-Bewegung im revolutionären Prozess selbst sowie in der postrevolutionären Zukunft. Dieses Beispiel illustriert eindrucksvoll: Ohne feministische Perspektive weist das Verständnis zivilen Widerstands blinde Flecken auf, ebenso wie große gesellschafts-transformatorische Bewegungen ohne feministische Komponente inkonsequent und in sich unvollständig bleiben.

Anmerkungen

1) Die Bezeichnung »Arabischer Frühling« ist problematisch, da sie eine homogene arabische Bevölkerung in einer großen, ethnisch heterogenen Region suggeriert. Darüber hinaus impliziert die Metapher, dass die Menschen in der Region aus einem Winter ohne Widerstand und Anfechtungsmobilisierung aufgewacht seien (Beinin und Vairel 2013, S. 8f.).

2) In 99 % der mittels des »Women in Resis­tance«-Datensatzes untersuchten gewaltfreien Kampagnen waren Frauen an vorderster Front beteiligt. Je größer ihre zahlenmäßige Beteiligung, desto größer die Korrelation mit gewaltfreien Methoden, selbst in sehr repressiven Kontexten (Chenoweth 2019, S. 1f.).

3) Die Namen der Interviewpartnerinnen wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.

Literatur

Addi, L. (2012): Algérie: Chroniques d’une expérience postcoloniale de modernisation. Algier: Barzakh.

Beinin, J.; Vairel, F. (2013): Introduction: The Middle East and North Africa beyond classical Social Movement Theory. In: Dies. (Hrsg.): Social movements, mobilization, and contestation in the Middle East and North Africa (2. Aufl.). Stanford: Stanford University Press, S. 1-29.

Bouatta, C. (1994): Feminine militancy: Moudjahidates during and after the Algerian War. In: Moghadam, V. M. (Hrsg.), Gender and national identity: Women and politics in Muslim societies. London: Zed Books, S. 18-39.

Bouatta, C. (1997): Evolution of the women’s movement in contemporary Algeria: Organization, objectives and prospects. The United Nations University, WIDER Working Papers 124.

Chenoweth, E. (2019): Women’s participation and the fate of nonviolent campaigns: A report on the Women in Resistance (WiRe) data set. Broomfield: One Earth Future Foundation.

cooke, m. (2016): Women and the Arab Spring: A transnational, feminist Revolution. In: Sadiqi, F. (Hrsg.): Women’s movements in post-“Arab Spring” North Africa. New York: Palgrave Macmillan US, S. 31-44.

Fanon, F. (1967 [1959]): A dying colonialism (Chevalier, H., Übers.). New York: Groove Press.

Kedidir, M. (2020): Le Hirak : Les marches pour la « reconnaissance ». Insaniyat 87, S. 93-110.

Martinez, L.; Boserup, R. A. (2024): Introduction – The disappearing of Algeria’s Hirak. In: Dies. (Hrsg.): The disappearing of Algeria’s Hirak. Paris: Les Dossiers du CERI, S. 8-19.

Skocpol, T. (1979): State and social revolutions. Cambridge: Cambridge University Press.

Stephan, R.; Charrad M. (2020): Introduction: Advancing women’s rights in the Arab world. In: Dies. (Hrsg.): Women rising: In and beyond the Arab Spring. New York: New York University Press, S. 1-12.

Turshen, M. (2002): Algerian women in the liberation struggle and the civil war: From active participants to passive victims. Social Research 69(3), S. 889-911.

Yazbek, S. (2012): A woman in the crossfire: Diaries of the Syrian Revolution. London: Haus Publishing.

Lilly Roll-Naumann, M.A. Peace and Conflict Studies, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Konfliktakademie »ConflictA« am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sie forscht zu gewaltfreier Konflikttransformation, Dialog und Dialogformaten und lässt die Erkenntnisse in die eigene Trainings- und Formatentwicklung einfließen.

Kurzprofil: Konfliktakademie ConflictA

Logo

Die Konfliktakademie »ConflictA« ist ein vom BMBF finanziertes Projekt am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld (seit 2023). Unter dem Leitsatz „Konflikte beforschen, besprechen, bearbeiten und daraus lernen“ entsteht in stetig wachsendem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ein Ort der Verständigung über gesellschaftliche Konflikte in Deutschland – auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Die ConflictA betrachtet, wie sich globale Krisen in lokale Konflikte übersetzen und wie gesellschaftliche Veränderungen in und durch Krisen und Konflikte verlaufen. Sie erforscht dabei u.a. Fragen nach den sozial-kulturellen und politisch-institutionellen Bedingungen gesellschaftlicher Konflikte und deren Aushandlung.

In einer transdisziplinären, partizipativen Arbeitsweise trägt die ConflictA dazu bei, Konfliktverständnis und -fähigkeit der Menschen in der Gesellschaft zu fördern. Sie entwickelt Ansätze der Konfliktbearbeitung und vermittelt Konfliktwissen und -kompetenz.

Dialogformate und Ansätze zur Jugendpartizipation sind dabei ebenso Teil der Konfliktakademie wie eine Befragung zu Konfliktverständnissen in der Bevölkerung oder die wissenschaftliche Begleitung kommunaler Konfliktbearbeitung.

Ein Jahr Krieg im Sudan

Ein Jahr Krieg im Sudan

Zwischen neuen Fronten und alten Problemen

von Hager Ali

Seit einem Jahr tobt im Sudan ein Krieg, der es selbst am ersten Jahrestag selten in Europas Top-Nachrichten schaffte. Die langfristigen humanitären Folgen des Krieges wie auch mittelfristige Aussichten auf Frieden sind kaum absehbar. Mit zunehmend zersplitterten Frontlinien hat der Krieg eine schwer kontrollierbare Eigendynamik angenommen. Für jede ernsthafte Suche nach Frieden ist es wichtig, die Hintergründe des kriegsauslösenden Kampfes zwischen dem Sudanesischen Militär und den paramilitärischen Rapid Support Forces zu verstehen, denn im facettenreichen Krieg überlagern sich zunehmend neue Frontlinien mit alten Problemen.

Am 15. April 2023 brachen in Khartum Kämpfe aus, die schnell in einen landesweiten Krieg eskalierten. Im Mittelpunkt steht ein Machtkampf zwischen dem Staatsoberhaupt und General der Sudanesischen Armee (SAF), Abdelfattah Al-Burhan, und dem Befehlshaber der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), Mohammed Hamdan Dagalo. In den ersten Kriegsmonaten war unklar, wer den Krieg für sich entscheiden könnte. Mit dem Vorstoß der RSF nach Osten und der Einnahme von Wad Madani in Al-Gezira – Sudans »Brotkorb« – am 18. Dezember 2023 kam allerdings eine entscheidende Wende. Der Fall von Wad Madani machte einen potenziellen RSF-Sieg wahrscheinlich und damit gleichzeitig realistische Aussichten auf Frieden zunichte; die RSF hat seitdem keine ernsten Anreize mehr, sich auf Verhandlungen mit der SAF oder auf eine Machtteilung mit Sudans Zivilgesellschaft einzulassen. Seit Januar 2024 fährt die SAF aber auch immer wieder neue Gegenoffensiven in Khartum und brach, ausgestattet mit neuen Drohnen aus dem Iran, die Belagerung der RSF Distrikt für Distrikt auf (Nashed 2024). Ob das aber für eine entscheidende Wende reichen wird, ist nach einem Jahr Krieg genauso unklar wie zu Beginn der Eskalation in Khartum. Besonders Darfur und Kordofan waren schon lange vor dem Krieg stark fragmentiert; die alte Sudan People’s Liberation Army North ist in mittlerweile fünf Faktionen zerfallen. Auch das Sudan Liberation Movement ist zersplittert. Seit sich das Kriegsgeschehen dahin ausgebreitet hat, kämpfen paramilitärische Faktionen sowie regionale und lokale Milizen mit- und gegeneinander – oder nutzen den Krieg für ihre eigenen Interessen (siehe Abbildung).

Abb. 1: Schematische Darstellung der Kriegsparteien im Sudan (Stand April 2024).

Ein Jahr Krieg stürzte den Sudan mit mehr als 10 Millionen Vertriebenen und über 13.000 Toten in die größte Vertreibungskrise der Welt (IOM 2024). Laut Vereinte Nationen sind 24,8 Millionen Menschen, und damit mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung im Sudan, auf humanitäre Hilfe angewiesen (Africanews 2024). Es droht eine schwere Hungerkatastrophe, da mit der militärischen Einnahme von Sudans »Brotkorb« Ernten zerstört wurden. Al-Fasher in Darfur ist mehrmals Schauplatz von genozidaler Gewalt geworden, bei der mehr als 1.300 Menschen der Massalit-Minderheit von der RSF und kooperierenden Milizen exekutiert wurden (Michael und McNeill 2023). Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen durch die RSF ist systematisch und weit verbreitet (REDRESS und SOAS 2023). Dazu werden zunehmend Kinder von den Rapid Support Forces zwangsrekrutiert (ACJPS 2024). Im Februar 2024 sind durch die RSF Sudans Internet Service Provider offline gegangen, womit die Bevölkerung nicht nur von der Außenwelt abgeschnitten wurde, sondern auch die Organisation von humanitärer Hilfe weiter erschwert wird (Reuters 2024).

Der Weg in den Krieg

Der Machtkampf zwischen Al-Burhan und Dagalo geht auf eine versuchte Reform im Sicherheitssektor zurück, bei der die RSF in die SAF integriert werden sollte. Um das Militär nach dem Putsch der beiden Führungsfiguren im Oktober 2021 als Regierungsbasis wieder tragfähig zu machen und kommerzielle Interessen zu bewahren, zielten sowohl Al-Burhan als auch Dagalo auf eine grundlegende Reform des Sicherheitsapparates. Das Timing des Oktober-Coups zerschlug Sudans versuchten Demokratisierungsprozess seit 2019 (siehe dazu Hartmann in W&F 2019/4). Allerdings geschah das an einem Zeitpunkt, an dem Omar Al-Bashirs politisches System zwar formell aufgelöst war, die Interimsregierung aber noch zu wenige voll geformte Institutionen und betriebsfähige Regierungsorgane hervorgebracht hatte. Durch die Auflösung der politischen Maschinerie der »National Congress Party« hatten Al-Burhan und Dagalo keinen Zugriff mehr auf eine vorgefertigte politische Basis, die sie nach ihrem Putsch landesweit mobilisieren und verwalten konnten (Ali 2023b). Währenddessen brachten die grassierende Wirtschaftskrise und andauernder Protest der Zivilgesellschaft Al-Burhans Regierung in Zugzwang. Es blieb Al-Burhan wenig mehr als direkte Repression gegen die Zivilgesellschaft, um politisch zu überleben. Damit wurde eine zentralisierte Streitkraft überlebensnotwendig, um Defizite im Staatsapparat auszugleichen.

Wo sich Coups durch das Militär häufen, betreiben amtierende Staatsoberhäupter sogenanntes »Coup Proofing«. Statistisch haben militärbasierte Diktaturen die kürzeste Lebensdauer im Vergleich zu anderen Diktaturen. Wer durch einen Putsch an die Macht kommt, wird selbst auch wahrscheinlicher durch einen Coup des Amtes enthoben. Mit 17 Putschversuchen seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 ist der Sudan eines der putschanfälligsten Länder der Welt (Powell und Thyne 2024). Wirtschaftliche Privilegien und die strategische Besetzung von führenden Ämtern senken Putschrisiken, in dem sie Streitkräfte durch Konzessionen an das amtierende Regime binden. Gleichzeitig wird durch sogenanntes »Counterbalancing« mit Paramilitärs und privaten Sicherheitsfirmen eine zu große Machtkonzentration im Militär vermindert. Doch mehrere quasi-unabhängige Streitkräfte in einem Staat zu haben ist äußerst riskant, weil sie den Sicherheitsapparat genauso gut zerreißen können. Sudans ungewöhnliche Konstellation von zwei Streitkräften in einem Staat ist sowohl Omar Al-Bashirs Erfolg mit dieser »Coup Proofing«-Strategie, als auch Al-Burhans Scheitern darin (Ali 2023a).

Nachdem Omar Al-Bashir selbst durch einen Militärputsch im Jahr 1989 an die Macht kam, kooptierte er in den frühen 2000er Jahren den Vorläufer der RSF, die »Janjaweed«, um die Machtkonzentration in der sudanesischen Armee zu entschärfen. Solange sich die RSF auf Aufstandsbekämpfung und Rohstoffhandel in Sudans Peripherie spezialisierte, konnte sie erstarken ohne die politische Hegemonie der SAF direkt herauszufordern. Damit waren die Rapid Support Forces zwar wichtig für Al-Bashirs politische Reichweite außerhalb Khartums, bekamen umgekehrt aber nicht das gleiche politische Gewicht in der Hauptstadt wie die SAF. Die Zweckallianz zwischen al-Burhan und Dagalo seit 2019 störte diese fragile Koexistenz. Mit Dagalos Ernennung zum Vizevorsitzenden der Interimsregierung kam der RSF eine neue Verhandlungsmacht in Khartum zu, mit der sie nun direkt auf Konfrontationskurs mit Al-Burhan und der SAF stand.

Parallel rekrutierte die RSF weiter und wuchs auf circa 150.000 Soldaten an. Dass die RSF wachsende paramilitärische Kraft mit viel Schadenspotenzial wurde und nach dem Putsch 2021 trotzdem nur wenig Aufsicht erfuhr, deutet stark darauf hin, dass Al-Burhan das Couprisiko durch die RSF seit 2021 verkannt oder gänzlich woanders verortetet hatte. Der Verdacht des Verrats galt den eigenen Reihen in der SAF, Eliten und Akteuren des alten Regimes, und insbesondere Al-Bashirs Geheimdienst, dem »National Intelligence Security Service« (NISS). Neben dem Geheimdienst, geriet auch der vom Innenministerium verwaltete Polizeiapparat in den Fokus von präventiven »Reform«bestrebungen.

Tatsächlich stammten die ersten Meutereien nach dem Sturz von Al-Bashir aus Faktionen der SAF und Eliten des alten Regimes: 2019 vereitelte die SAF einen versuchten Coup durch einen Stabschef, Al-Bashirs ehemaligen Außenminister Ali Karti und den Generalsekretär der Islamischen Bewegung Zubeir Ahmed Al-Hassan (Sudan Tribune 2019). Frühere Eliten des Bashir-Regimes in Khartum versuchten wenig später am 15. Januar 2020 eine Meuterei. Dagalo warf Al-Bashirs ehemaligem Geheimdienstchef Salah Gosh vor, diesen Aufstand orchestriert zu haben (BBC 2020). Wenige Wochen bevor Al-Burhan und Dagalo im Oktober 2021 die Macht ergriffen, scheiterte am 21.09.2021 ein weiterer Putschversuch von 21 Offizieren und vier Soldaten der SAF, die dem Bashir-Regime loyal geblieben waren.

Neben dem anhaltenden Risiko von Meutereien und Coup-Plänen machte der konstante Druck aus der Zivilgesellschaft durch Proteste und zivilen Ungehorsam das Projekt der Monopolisierung der Streitkräfte für das Regime so überlebenswichtig wie riskant. Zwar wurde bereits vom »­Juba-Abkommen« aus dem Jahre 2020 eine Zentralisierung der Streitkräfte im Sudan vorgesehen. Sinn und Zweck dieses Schrittes war es jedoch, bessere Rahmenbedingungen für demokratische Governance im Sudan zu schaffen. Im Kontext von Al-Burhans post-Coup Autokratie hingegen konnte mit einer Zentralisierung der Streitkräfte das politische Zentrum wieder stabilisiert werden, weil bis dato eine institutionell verankerte Regierungspartei wie die von Al-Bashir fehlte (Ali 2023b).

Die Verhandlungen zwischen Al-Burhan und Dagalo darüber, wer die neuen vereinigten Streitkräfte kontrollieren würde, erwiesen sich dann in der Folge als überaus schwierig. Die RSF, die vorher lediglich ein hypothetisches Putschrisiko darstellte, war nun eine reale Bedrohung für Al-Burhans Regime. Wenige Tage vor dem Kriegsausbruch am 15. April ent­sandte Dagalo Truppen der RSF ohne Erlaubnis der SAF nach Khartum und dem Merowe Flughafen. Dies war der Auftakt für den anhaltenden Zermürbungskrieg zwischen zwei Armeen über die Zivilbevölkerung hinweg.

Kriegsdynamik und Erfolgsstrategien der RSF

Entgegen vieler Erwartungen konnten die RSF schnell dramatische Geländegewinne verzeichnen. Für die Erfolge der RSF waren drei Faktoren im Kriegsverlauf maßgeblich: Militärlogistik, die Geografie der Kämpfe, und die Sabotage von Versorgungslinien.

Dass weder RSF noch SAF die Hauptstadt vollständig einnehmen konnten, liegt vor allem daran, dass das städtische Umfeld beiden Schwierigkeiten bereitet. Der Luftraum ist für Flugzeuge und Helikopter eingeschränkt und zwingt die SAF in einen Häuserkampf, auf den sie weder spezialisiert noch vorbereitet war. Die RSF ist mit ihrer Agilität und kleineren Waffen zwar besser für das städtische Schlachtfeld aufgestellt. Doch zu Beginn der Eskalation hatte die RSF, bis auf wenige über die Stadt verteilte Quartiere, kaum Versorgungslinien in der Hauptstadt (Ali 2023a). RSF-Soldaten plünderten daher oft Häuser von Zivilist*innen und nutzten sie als versteckte Abschussorte gegen die sudanesische Luftwaffe (Nashed 2023). Die Fähigkeit, zivile Infrastruktur in Gefechten zu nutzen, drängte die SAF taktisch in die Offensive, was in urbaner Kriegsführung gegen Guerilla die eher nachteilige Position ist. Umgekehrt konnte die SAF besonders jene Distrikte verteidigen, in denen ihre Quartiere und Infrastrukturen dichter waren. Hier war es die RSF, die in die Offensive gehen musste. Der Kampf um Khartum bleibt damit für beide Seiten ein militärstrategisches Patt.

Mit der Verlagerung der Kampfstandorte in Sudans ländliche Peripherie nahmen die Entfernungen zwischen SAF-Quartieren und den Frontlinien zu. Im offenen ländlichen Luftraum wurde die sudanesische Luftwaffe zu einem viel leichterem Ziel von Boden-Luft-Angriffen. Auf vertrauterem Terrain konnte die RSF dagegen ihre lokalen und regionalen Netzwerke in Belagerungen von SAF-Stützpunkten ausnutzen und gleichzeitig der sudanesischen Luftwaffe dramatische Verluste beibringen. Auch griffen die RSF gezielt die Infrastruktur der SAF an, indem sie Treibstoffdepots an Flughäfen, Start- und Landebahnen, sowie Hangars zur Wartung überfielen und zerstörten. In Zentral- und Süd-Darfur nutzten die RSF und die mit ihr kooperierende SPLM-N Al-Hilu Straßenblockaden, um die Versorgungsengpässe der SAF während Belagerungen zu verschärfen. Die zunehmende Anzahl von MANPADS und Drohnen im Arsenal der RSF machte die anfänglichen Nachteile der RSF gegen Luftangriffe wett. Konfliktdaten zwischen November und Dezember 2023 von ACLED zeichnen den Rückgang von Angriffen aus der Entfernung auch nach (ACLED 2024). Ohne Luftunterstützung, zuverlässige Versorgungslinien oder lokale Stützpunkte zur Neuformierung zog sich die SAF in der Folge oft zurück.

Die RSF konnten darüber hinaus viel schneller auf bereits etablierte Knotenpunkte im Schmuggel von Waffen durch den Sahel zugreifen (Ali 2024). Aufbauend auf der bestehenden Kooperation mit der Gruppe Wagner im Goldschmuggel in Darfur, konnten sich die RSF dazu auch das regionale Netzwerk der Söldnerorganisation in Libyen, Chad und der Zentralafrikanischen Republik zunutze machen. Im Vergleich zu den Waffenlieferungen an die RSF ist weniger über Waffenlieferungen an die SAF bekannt. Gesichert ist jedoch, dass Iran die SAF über Port Sudan mehrmals pro Woche beliefert. Die stärker diversifizierten Lieferketten von Waffen an die RSF machen es schwerer, sie von ihren Versorgungsketten abzuschneiden, als es umgekehrt bei der SAF der Fall war.

Keine schnelle Kriegsbeendigung erwartbar

Seit Ausbruch des Krieges wurden viele Feuerpausen ausgehandelt, die jedoch selten eingehalten wurden. Das lag weniger an der Qualität der Verhandlungen, als an Kriegsdynamiken der SAF und RSF: eine Niederlegung der Waffen rentierte sich taktisch für keine der Kriegsparteien. Die Beendigung des Krieges war lange nicht gewollt, weil politisch zu viel für beide auf dem Spiel stand. Nach einem Jahr Krieg ist aber auch wahrscheinlich, dass weder die RSF noch die SAF den Krieg aus eigener Kraft beenden können.

Eine wirkliche Kontrolle über das Kriegsgeschehen zu garantieren ist für beide Akteure durch die Zersplitterung der Frontlinien zunehmend unmöglich. Die fortgeschrittene Involvierung von bewaffneten Faktionen, wie denen der SLM und SPLM-N sowie lokalen und regionalen Milizen, stört die Befehlsketten innerhalb und zwischen Einheiten der SAF und RSF. Dabei spielen nicht unbedingt die Größe und Anzahl der nun involvierten Milizen und Faktionen eine Rolle in der Aufrechterhaltung der Befehlsgewalt. Der Grad ihrer Formalisierung und gesellschaftlichen Verankerung ist ausschlaggebend dafür, inwiefern sie Al-Burhans oder Dagalos Autorität auf kommunaler und regionaler Ebene herausfordern oder gar überstimmen können. Die SPLM-N, SLM und JEM sind zwar intern gespalten, existierten aber schon lange vor dem Krieg und haben ihre jeweiligen etablierten politischen Plattformen und Netzwerke jenseits der Zentralregierung. Je mehr lokal etablierte Faktionen also sich am Krieg beteiligen, desto stärker regionalisiert sich der Hauptkonflikt zwischen der SAF und der RSF, und desto mehr zersplittern auch die Fronten an faktionsspezifischen Prioritäten. Umgekehrt bedeutet der schleichende Zerfall von Befehlsketten für Al-Burhan und Dagalo, dass sich lokale Gefechte von ihrer nationalen Zielsetzung entfernen.

Nach einem Jahr Krieg ist der Zustand von Kommandostrukturen innerhalb der SAF und RSF ebenfalls fraglich. Je mehr sich in der SAF die Wahrnehmung einer realistischen Niederlage verbreitet, desto höher wird das Risiko von offenen Meutereien, Desertionen und Spannungen über spezifische Entscheidungen. RSF-Kämpfer und verbündete Milizen hingegen durchlaufen oft keine reguläre militärische Ausbildung. Das Marodieren und Terrorisieren von Zivilist*innen erfordert im Grunde genommen auch keine rigiden Befehlsstrukturen oder ausgeklügelten Strategien. Das macht RSF-Einheiten zwar agiler und unvorhersehbarer. Befehle werden aber möglicherweise nicht über alle Ränge hinweg befolgt, besonders wenn es um die Sicherheit von Zivilist*innen geht.

All dies spricht dafür, dass Kriegshandlungen nicht schnell zum Erliegen kommen werden, selbst wenn von Al-Burhan oder Dagalo der entsprechende Befehl käme. Mit der Faktionierung und Informalisierung nimmt der Krieg eine Eigendynamik an, die Al-Burhan und Dagalo immer weniger kontrollieren können. Damit sind nach einem Jahr Krieg die Friedensaussichten unklarer denn je.

Sanktionen greifen nicht

Einige Hoffnung richtete sich darauf, dass eventuell Sanktionen den Krieg schneller beenden könnten. Der Verlauf des Krieges deutet jedoch stark darauf hin, dass die bisherigen Sanktionen nicht greifen. Nicht nur kamen viele Sanktionen viel zu spät (bspw. die Sanktionen der EU erst im Oktober 2023 bzw. Januar 2024), sie fokussieren sich auch primär auf die finanziellen Ressourcen der SAF und RSF und bestimmte Entscheidungsträger. Dieser Sanktionsansatz für sich allein genommen ist jedoch unzureichend; die finanziellen und materiellen Ressourcen, die den Krieg aufrechterhalten, haben sich seit April 2023 enorm diversifiziert.

Es wird auch unterschätzt, dass sich Gewaltakteure auf Sanktionen eingestellt haben und diese aktiv umgehen. Der besondere Anreiz des Goldschmuggels im Sudan liegt darin, dass damit wirtschaftlichen Sanktionen ausgewichen werden kann. Durch die neuen Korridore zum Schmuggel von Waffen durch den Sahel, die in diesem Krieg geöffnet wurden, liegt es nahe zu vermuten, dass die geschmuggelten Waffen selbst zu einer sanktionsresistenten Währung werden könnten (Ali 2024). Der direkte Austauschhandel (»Bartering«) von Waffen, Treibstoff, Munition und Gold kann vor allem von der RSF zur Umgehung von Sanktionen und Waffenembargos genutzt werden – und zu einer Selbstfinanzierung, die gar nicht von Sanktionen erreicht werden kann. Die größte Schwäche der aktuellen Sanktionsmaßnahmen liegt dadurch darin, dass sie die Hilfsnetzwerke um die RSF, vor allem zwischen Wagner, den VAE und beispielsweise Haftar in Libyen, in ihrer Gesamtheit verfehlen.

Hoffnungen für die Zukunft?

Dass mit der Beendigung von Kriegen ohne Weiteres ein neues, gar ziviles und demokratisches Kapitel begonnen werden kann, ist eine gefährliche Fehlwahrnehmung in politischer Praxis und in der Wissenschaft. Das gilt auch für den Sudan. Militärische Transgressionen in Politik, das dysfunktionale Verhältnis der zentralen Regierung in Khartum zum Rest des Landes, und die jahrzehntelange Ausgrenzung der Zivilgesellschaft werden mit dem heutigen Krieg nicht einfach suspendiert – im Gegenteil. Die jüngste Zersplitterung der Frontlinien überlagert die alten Bruchstellen zwischen Hauptstadt und Regionen wie Darfur oder Kordofan. Die Entgleisung des Machtkampfs zwischen Al-Burhan und Dagalo in einen facettenreichen und landesweiten Krieg ist ein neuer Ausdruck der großen Entfernung zwischen nationaler Politik und regionaler Wirklichkeit, die Bürgerkriege, Sezessionen und demokratischen Aktivismus der sudanesischen Zivilgesellschaft über die Jahre befeuerte.

Sudans militärisch-autokratische Geschichte warf bereits lange vor dem Krieg einen Schatten auf eine demokratische Zukunft. Um jetzt aus diesem Schatten herauszutreten, müssen Friedensansätze aber auch weiter gedacht werden als bis zur nächsten Feuerpause. Der Weg aus diesem Krieg ist der langfristige Aufbau von inklusiver und stabiler Governance sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. Ohnehin überfällige Sanktionen und Waffenembargos durch Deutschland und die EU dürfen hingegen keine falschen Illusionen erzeugen, dass sie etwa maßgeblich zum Frieden im Sudan beitragen könnten.

Literatur

ACJPS (2024): Sudan: Sixty-six children detained and used as pawns by RSF against SAF. African Centre for Justice and Peace Studies, 12.01.2024.

ACLED (2024): Situation Update January 2024 Sudan: The Rapid Support Forces (RSF) Gains Ground in Sudan. acleddata.com, 12.1.2024.

Africanews (2024): Sudan: over 25 million people facing humanitarian crisis, says UNHCR. AfricaNews, 12.04.2024.

Ali, H. (2023a): The Sudan Crisis: A Power Struggle By Design. Aljazeera English, 18.05.2023.

Ali, H. (2023b): Why the Military Promised to Withdraw from Power in Sudan. Political Violence at a Glance, 10.1.2023.

Ali, H. (2024): The War in Sudan: How Weapons and Networks Shattered a Power Struggle. GIGA Focus Middle East 2 (2024), S. 1-14.

BBC (2020): Sudan Army Quells Khartoum Mutiny by Pro-Bashir Troops. BBC, 15.01.2020.

IOM (2024): Dire Plight of More Than 10 Million Now Displaced by Conflicts in Sudan Must Not be Ignored. Mitteilung, 26.1.2024.

Michael, M.; McNeill, R. (2023): Reuters Special Report: Sudan refugees detail second wave of bloody ethnic purge by Arab forces. Reuters, 22.11.2023.

Nashed, M. (2023): Sudan residents describe raids, evictions by RSF soldiers. Aljazeera English, 07.05.2023.

Nashed, M. (2024): Can the Sudanese Army Sustain its Recent Battlefield Success? Aljazeera English, 15.03.2024.

Nashed, M. (2023): Sudan residents describe raids, evictions by RSF soldiers. Aljazeera English, 07.05.2023.

Powell, J.; Thyne, C. (2024): Global Instances of Coups, 1950-present. Version 29 January 2024.

REDRESS; SOAS (2023): Ruining a Country, Devastating its People. Accountability for serious violations of international human rights and humanitarian law in Sudan since 15 April 2023. Bericht, September 2023.

Reuters (2024): Sudanese Left in the Dark by RSF-Imposed Telecoms Blackout. Reuters, 12.02.2024.

Sudan Tribune (2019): Sudanese Army Thwarts Coup Attempt, arrests its chief of staff. Sudan Tribune, 24.07.2019.

Hager Ali ist wissenschaftliche Mitar­beiterin am »German Institute for Global and Area Studies« (GIGA) in Hamburg und ­promoviert an der Universität Hamburg.

»Freiwillige« Kolonialisierung?

»Freiwillige« Kolonialisierung?

Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika

von Dolly Afoumba

Wie ist die Existenz dominanter Wirtschafts-, Kultur- und Militärinstitutionen in Westafrika nach dem Ende des formellen Kolonialismus zu verstehen? Weshalb scheint ein »freiwilliger« Kolonialismus fortzubestehen? Was genau ist darunter zu verstehen? Der Beitrag versucht sich an der Analyse der neokolonialen Herrschaftsmuster, die sich im Franc CFA, der Frankophonie und militärischen Abkommen mit ehemals kolonisierten Staaten widerspiegeln, und diskutiert kritisch deren Rolle und Einfluss.

In diesem Artikel setze ich mich mit der Idee des »freiwilligen« Kolonialismus auseinander. Was ist »freiwilliger Kolonialismus«? Wie drückt sich die Freiwilligkeit in den heutigen Beziehungen zwischen Frankreich oder auch Deutschland und ihren ehemaligen Kolonien aus? Es gilt herauszufinden, inwiefern die Institutionen oder Abkommen, die beide Seiten sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch militärisch verknüpfen, zur Aufrechterhaltung des (neo-)kolonialen Systems beitragen.

»Freiwillige Kolonisierung«?

Die Idee des Willens, beherrscht oder unterworfen werden zu wollen, wurde von Kaku Nubukpo und anderen zumindest für den frankophonen Raum popularisiert (Nubukpo et al. 2016). Der togolesische Ökonom Nubukpo ist der Ansicht, dass die Länder unter dem Franc-CFA-Regime freiwillig oder absichtlich dortgeblieben sind, da einige beschlossen hatten, die Franc-Zone zu verlassen. Er spricht daher von »freiwilliger Knechtschaft«. Ein gänzlich anderes Konzept »freiwilliger Kolonisierung« brachte US-Ökonom Paul Romer mit der Idee der »Charter Cities« ins Spiel. Die Idee war, dass neue afrikanische Städte geschaffen werden sollen, die mindestens 50 Jahre ausschließlich von westlichen Länder verwalten werden sollen. Hier würde ein Kolonialsystem freiwillig und im Vordergrund des Machtverhältnisses gesetzt werden.

Die Bezeichnung »freiwilliger Kolonialismus« hängt dabei von dem Bild ab, das man dem ehemaligen Kolonisierten zuschreibt, und wie er sich selbst sieht. Franz Fanon (2001 [1959], S. 12) schrieb schon 1959: „Der Kolonialismus kämpft, um seine Herrschaft und die menschliche und wirtschaftliche Ausbeutung zu stärken. Er kämpft auch, um das Bild, das er von den Algeriern hat, und das abgewertete Bild, das die Algerier von sich selbst hatten, identisch zu bewahren“. Dieses Zitat zeigt zu Recht, dass das Kolonialsystem von einem gewissen Minderwertigkeitskomplex genährt wird, den die Kolonisierten zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenüber den Kolonialherren haben: der Wunsch, geliebt zu werden. Die Freiwilligkeit könnte also von Menschen kommen, die ihres Selbstwertgefühls beraubt wurden. Sie glauben daher, der Dienst für ihre Herren würde ihnen mehr Selbstwertgefühl und Selbstliebe einbringen, als der eigenen Heimat zu dienen. Es scheint aber auch heute noch in der Forschung nicht klar zu sein, wie diese Freiwilligkeit zu verstehen ist. Es müsste noch mehr dazu geforscht werden, wann es gewollte und bewusste Handlungen sind und wann es sich eher um Handlungen unter Zwang handelt. Im weiteren Verlauf des Beitrags will ich dieser Idee der Freiwilligkeit auf drei Ebenen nachspüren und zu verstehen versuchen.

Wirtschaftliche Dimension: Der Fall »Franc CFA«

Mit der Idee von Kaku Nubukpo konnten die ganzen antikolonialen Proteste gegen die Währung Franc CFA in Afrika infrage gestellt werden. Die Proteste der afrikanischen Zivilgesellschaft gegen den Franc CFA begannen im Jahr 2016, genau dem Jahr der Erscheinung seines Werkes. So bot er den Medien den geeigneten und auch attraktivsten Slogan, um all diesen Bewegungen entgegenzuwirken. Es ging nicht mehr um Neo-Kolonialismus oder koloniale Kontinuität, sondern um die freiwillige Kolonisierung, an denen afrikanische Eliten profitieren. Für ihn galt es festzuhalten: „[D]ie lokalen Regierungen in Afrika sind diejenigen, die den Franc CFA wollen“ (Nubukpo 2016). Doch stimmt das?

Die Abkommen für die Gründung der kolonialen Währung Franc CFA wurden auf Initiative General De Gaulles im Jahr 1945 unterschrieben. Dies geschah in einem kolonialen Kontext, in dem Frankreich der einzige Entscheidungsträger war. Das erklärte Ziel bestand darin, Frankreich nach dem Krieg wieder die Kontrolle über seine verschiedenen Kolonien zu verschaffen. Nach einer Rezension des Buches von Soumaïla Cissé (2013) sollte diese Währung auch dazu dienen, „die Integration der ehemaligen französischen Kolonien in den internationalen Handel zu erleichtern“ (Haïdara 2016). Dies sollte durch zwei der vier Kernprinzipien des Franc CFA geschehen: die feste Parität und die freie Konvertierbarkeit des Franc CFA mit dem französischen Franc. Es ging also um die garantierte Konvertibilität der Kolonialwährung mit einer starken Währung, die auf dem internationalen Markt als solche anerkannt war. Eine Währung, die zugleich stark und stabil war und alle französischen Kolonien in sich vereinte. Alle Zutaten waren damit vorhanden, um die Kolonien davon zu überzeugen, dieses System nach der Unabhängigkeit beizubehalten. Dennoch traten 1955 mehrere Staaten wie Kambodscha, Laos und Vietnam aus dem System aus, die nordafrikanischen Länder folgten ebenfalls. Es blieben nur die französischsprachigen Länder südlich der Sahara. Sind sie denn angesichts dieses scheinbaren Altruismus Frankreichs aus reiner Freiwilligkeit geblieben?

Kako Nubukpo zufolge waren sie unter keinerlei Zwang, vielmehr stellte er die konkreten Erfahrungen einzelner Staaten in den Vordergrund. Er sagte in einem Interview, dass „die Erfahrung des Scheiterns von Guinea Conakry, das Ende der 1950er Jahre auf den Franc CFA verzichtete, den Eifer der afrikanischen Länder, die diesem Land hatten folgen wollen, abkühlte“ (Nubukpo 2016b). Er umging es jedoch, die Gründe für das Scheitern von Guinea Conakry unter der Regierung von Sékou Touré zu erklären. Frankreich nutzte vier Mittel, um die afrikanischen Staaten dazu zu zwingen, unter dem kolonialen Regime des Franc CFA zu bleiben.

Zunächst musste der Unabhängigkeitsdrang diesen Ländern durch die Sabotage der neu geschaffenen Währungen gebremst werden. So geschah es mit Guinea Conakry. Constantin Melnik erklärte, wie die französische Regierung den Wiederaufbauplan von Sékou Touré sabotierte, nachdem sein Land den Franc CFA verlassen hatte: „Der französische Geheimdienst würde Falschgeld herstellen, Guinea damit überschwemmen und so seine Wirtschaft schwächen sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärken. Die Fallschirmjäger des Service Action wurden mobilisiert. Im benachbarten Senegal wurden die sogenannten Maquisards ausgebildet, die bereit waren, alles zu tun, was der große weiße Zauberer, der Macht und Lohn verteilte, wollte. Es wurden Waffen und gefälschte Banknoten verschickt“ (Melnik 1994, S. 363).

Die Umsetzung dieses Projekts wird als »Operation Persil« bezeichnet. Dies erfahren wir in den Schriften von Maurice Robert (2014), damaliger Leiter der Afrika-Abteilung des SDECE (Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage). Diese Operation trug maßgeblich zur Schwächung der guineischen Wirtschaft bei. Heute wird Guinea missbräuchlich als Beispiel angezeigt, um jeden anderen Staat abzuschrecken, der aus dem Franc-CFA-System aussteigen möchte. Die Einführung von Falschgeld im zweiten Schritt führte zu Inflation und zu einem monetären Chaos auf dem Binnenmarkt Guineas. Der Staat war nicht mehr in der Lage, die Menge des Geldes im Land sowie die Kapitalzuflüsse und -abflüsse zu kontrollieren; die Unternehmen und die Bevölkerung wussten nicht genau, ob sie legitimes Geld oder Falschgeld in ihren Kassen hatten. Der Vertrauensverlust in die Währung führte zu weiterer Destabilisierung des Landes.

Frankreich nutzte auch die Strategie der Isolierung. Im Jahr 1965 war Guinea, wie heute beispielsweise Mali, durch Frankreich und seine Verbündeten in Westafrika isoliert. Die Elfenbeinküste, Niger, Senegal und Burkina Faso brachen ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Guinea ab (Société Générale Guinée o.J.). Zwischen der Sabotage seiner Währung, Putschversuchen (wie 1961) und wirtschaftlicher Isolation konnte die Wirtschaft Guineas keinerlei Fortschritt erzielen.

Andere Länder versuchten ebenfalls, aus diesem System auszusteigen, wie z. B. Togo unter Sylvanius Olympio im Jahr 1960. Nach dessen Ermordung 1963 stieg Togo wieder in das Franc-CFA-System ein. Mali unter Modibo Keita kann ebenso als ein Beispiel gelten. Mali wurde ebenso wie Guinea Conakry isoliert und trat am 01. Juni 1984 nach dem Sturz und Tod von Keita wieder dem Franc-CFA-System bei (Tambour 2021).

Die französische Regierung ist die oberste Instanz bei der Verwaltung des Franc CFA. Zu den Prinzipien des Franc CFA gehört auch die Fixierung der Parität. Eine solche Garantie wäre für Investoren attraktiv, da sie sich keine Sorgen um die Volatilität der Währung machen müssten. Seit seiner Einführung hat der Franc CFA jedoch mehrere Abwertungen erfahren, die einseitig von Frankreich beschlossen wurden. Dies lernen wir von der Forschung des ivorischen Ökonom Nicola Agbohou. Nach der Abwertung des Franc CFA im Jahr 1994 sagte Édouard Balladur, der damalige französische Premierminister, der Franc CFA wurde 1994 auf Betreiben Frankreichs abgewertet, weil es uns schien, dass dies die beste Formel war, um diesen Ländern (den Afrikanern) bei ihrer Entwicklung zu helfen“ (Jeune Afrique Economique 1994, zitiert von Agbohou 1999). Später erinnert er daran, dass „die Währung kein technisches, sondern ein politisches Thema ist, das die Souveränität und Unabhängigkeit der Nationen berührt“. Ein Ausbruch des französischen Ministers, der viel über die wahren Entscheidungsträger der Währungspolitik in den Ländern des Franc CFA aussagt. Mit dieser Währung besetzt Frankreich nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle Führung dieser Länder, sondern auch ihre Souveränität. Zudem wurde diese Abwertung deutlich von afrikanischen Führern verweigert. Agbohou (1999) berichtet, dass Omar Bongo, Präsident von Gabun, und Gnassingbé Eyadema, Präsident von Togo, diese Entscheidung anprangerten: „Wir wurden in denselben Korb geworfen“, bedauerte Bongo. „Frankreich […] hat […] entschieden. Die afrikanischen Stimmen zählten nicht viel“, sagte Gnassingbé. Die Stimme der westafrikanischen Zivilgesellschaften war erst recht weder gefragt noch wurde sie berücksichtigt. Ein ähnlich koloniales Verhältnis zur Währung Franc CFA wurde im Jahr 2019 sichtbar, als im französischen Parlament über »das Ende des CFA Franc« debattiert wurde. Die westafrikanischen Bevölkerungen, geschweige denn ihre Regierungen, die diese Währung benutzen, waren nicht gefragt und nicht eingeladen. Institutionell drückt sich das neokoloniale Verhältnis des Franc CFA darin aus, dass die Debatten auf den außerplanmäßigen Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der CEMAC (Central African Economic and Monetary Community) und WAEMU (West African Economic and Monetary Union) immer unter der Aufsicht des französischen Finanzministers und der Direktorin des IMF (International Monetary Fund) stattfinden.

All dies zeigt, dass es eine wahrhaft töricht wäre, im Fall des Franc CFA von freiwilliger Knechtschaft zu sprechen.

Auf kultureller Ebene: die Frankophonie

Zunächst einmal ist es schwierig, eine kulturelle Institution als kolonial zu bezeichnen. Aber die Mittel der Herrschaft sind zahlreich und die Sprache ist eine furchtbare Waffe bei der Unterwerfung von Völkern. Die Geschichte, in die sich die Gründung der Frankophonie einreiht, ist die Geschichte des Verbots der lokalen Sprachen in Behörden, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zugunsten des Französischen, das die Sprache der Zivilisation sein sollte. Kolonialgesetze und Gesetze zur Klassifizierung von »Rassen« wie der »Code de l’indigénat« in Algerien wurden in französischer Sprache verfasst. Die Schule in den französischen Kolonien und Protektoraten wurde auf Französisch abgehalten. Es wird sogar berichtet, dass während dieser ganzen Zeit Kinder, die in der Schule nicht Französisch sprachen, streng bestraft werden konnten. Afrikanische Soldaten, die während der europäischen und der Weltkriege an der Seite der französischen Armee gekämpft hatten, sangen das sogenannte »Lied der Afrikaner«, eine spezielle französische Hymne der afrikanischen Soldaten. Es ist also nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die sich auf Kosten der lokalen Kulturen durchsetzt.

Es gab eine administrative und soziopolitische Auferlegung der Sprache, die es im Sinne der Kolonialisten ermöglichen sollte, die Afrikaner*innen zu »zivilisieren«, um sie aus ihrer »Primitivität« herauszuholen. Gleichzeitig wurden die lokalen Sprachen einer Kategorisierung und Hierarchisierung unterworfen. Sie wurden als Sprachen »ohne« betrachtet, d.h. Sprachen ohne Geschichte, ohne Kulturen usw. Diese Logik der Hierarchisierung und Kategorisierung der afrikanischen Sprachen existiert heute noch. So erklärten die beiden Linguistinnen Cécile Canut und Mariem Guellouz, dass Strafen, die von Frankreich während der Kolonialzeit angewandt wurden, um Schüler*innen zu verbieten, ihre lokalen Sprachen in der Schule zu sprechen, auch heute noch angewandt werden (Canut und Guellouz 2019). Ihre Behauptungen wurden von Zeug*innen aus Burkina Faso, Senegal und Mali bestätigt. Es geht zum Beispiel darum, dass die zu bestrafende Schüler*in den ganzen Tag vom Unterricht bis nach Hause einen »verfaulten« Eselsschädel auf dem Kopf tragen musste. Zu Hause führen sogar einige Eltern diese Unterdrückung fort, indem sie als Folge dieser Strafe ihren Kindern das Sprechen der Heimatsprachen verbieten. In den Ländern des Franc CFA ist Französisch nach wie vor die offizielle Landessprache. Obwohl Französisch mittlerweile eine globale Sprache mit mehr afrikanischen Sprecher*innen als französischen Staatsbürger*innen ist, bleibt Frankreich der führende Staat in der Frankophonie selbst. Wie die Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès (2018) treffend erklärte: „Es ist nicht so, nur weil ich Französisch spreche, dass ich Ideen einbringen muss, die unbedingt Ideen der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sind. Ich kann entgegen auf Französisch Ideen einbringen, die Ideen der Mandeng-Erklärung (Erklärung der Menschenrechte in Afrika aus dem 19. Jahrhundert) sind.“ Anders gesagt, die französische Sprache muss nicht nur benutzt werden, um über die Werte und die Geschichte Frankreichs zu berichten. Frankophone Sprecher*innen müssen die Freiheit haben, auf Französisch über ihre Kultur, Werte und Geschichte zu berichten.

Es wäre daher für die Dekolonisierung der Frankophonie wichtig, dass Französisch auf die spezifischen Werte und Identitäten der Völker hört, die diese Sprache nun auch sprechen, aber nicht die gleiche kulturelle Geschichte wie die Französ*innen haben. Um dies zu erreichen, muss Französisch zu einer Sprache des geteilten Ausdrucks werden und nicht zu einer Sprache, die eine bestimmte Kultur aufzwingt. Franz Fanon sagte zu Recht: „Der Kolonialismus zwingt die Wiederholung des kulturell Identischen als ein Schicksal auf, das für seine eigene Stabilität funktional ist. Als Folge davon schließt sich die Kultur der Kolonisierten, ‚einst lebendig und offen für die Zukunft‘, erdrückt von der militärischen, wirtschaftlichen und symbolischen Unterdrückung durch den Kolonisator, erstarrt im kolonialen Status, gefangen im Korsett der Unterdrückung. Zugleich präsent und mumifiziert attestiert sie gegen ihre Mitglieder. Sie definiert sie in der Tat unwiderruflich“ (Fanon 2001 [1959], S. 41). Die afrikanischen Staaten, die sich von dieser kolonialen Bindung nach der Unabhängigkeit trennen wollten, wählten die lokalen Sprachen als erste Amtssprachen. Dies war beispielsweise in Ruanda der Fall, das Swahili zur Amtssprache erklärte. In jüngerer Zeit war diese Entsagung in Mali der Fall, das Bambara als offizielle Sprache gegen die ehemalige Amtssprache Französisch wählte. Allein diese sprechen dafür, dass die Entfernung von Französisch als erster Amtssprache in ehemaligen Kolonien in Afrika auch ein Märtyrerakt der Unabhängigkeitserklärung ist. Dies beweist, dass die Spitzenposition des Französischen auf Kosten lokaler Sprachen nicht das Ergebnis einer kreativen Aneignung der kolonialen Sprache ist, sondern vielmehr das der Dominanz Frankreichs über diese Länder darstellt.

Auf der militärischen Ebene

Auf militärischer Ebene ist die Redewendung »mit Zustimmung der Regierung« das meistgenutzte Argument der europäischen Mächte, die sich auf afrikanischem Boden niedergelassen haben. Am Beispiel Malis lässt sich zeigen, wie neokoloniale Tendenzen immer noch alltägliche Praxis vieler Staaten darstellen. Am 13. Januar 2022 verbot die neue militärische Übergangsregierung Malis sowohl französischen Truppen als auch den weiteren Kräften der europäischen Task Force Takuba den Zugang zu seinem Territorium. Noch am selben Tag beschuldigte Mali die französische Armee, seinen Luftraum verletzt zu haben (France24 2022). Am 14. Januar erklärte Frankreich wiederum, es handle legitim, da Mali 2013 und 2020 zwei Abkommen in Form von Briefwechseln unterzeichnet habe, die den Einsatz seiner Armee vor Ort rechtfertigten (Houmfa 2022). Durch diese Antwort bestätigte Frankreich, dass es mit seiner Präsenz in Mali eher ein imperialistisches Ziel als den Kampf gegen Terroristen verfolgte. Bei diesem Verbot bezog sich die malische Regierung auf das »Prinzip der Gegenseitigkeit«, und betrachtete es als Antwort auf Sanktionen Frankreichs und seiner westafrikanischen Verbündeten, die diese aufgrund des gewaltlosen Putsches im Mai 2021 verhängt hatten. Mali ist ein souveräner Staat und seine Regierung hat das Recht, sich seine Partnerländer beim Kampf gegen den Terrorismus selbst auszuwählen. Frankreich sieht die »Abkommen« aber als Beweis der freiwilligen Kolonisierung. Gemäß diesem Abkommen gelte: „Das Personal der französischen Truppe bewegt sich ohne Einschränkung auf dem Hoheitsgebiet der Republik Mali einschließlich ihres Luftraums unter Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und ohne dass es eine Begleitung durch die Kräfte der malischen Seite beantragen muss“ (zitiert nach: Accord 1901 vom 7.3.2013 und Zusatzprotokoll). Kurz gesagt geht es hierbei um eine bewusste Selbstaufgabe der eigenen Souveränität an die Armee der ehemaligen Kolonialmacht. In diesem Zusammenhang wurde Deutschland auch beschuldigt, den malischen Luftraum verletzt zu haben. Im Januar 2022 wurde ein deutsches Militärflugzeug von der malischen Regierung zurückgewiesen (Tognon 2022), doch das Land schloss sich Frankreich an und weigerte sich, die Souveränität Malis in diesen Fragen zu respektieren. Am 18. Februar 2022 forderte die Regierung Malis dann den unverzüglichen Abzug der Militäroperationen »Barkhane« und »Takuba« aus Mali. Eine Entscheidung, die Frankreich nicht mehr dazu zwang, einen Abzug in Erwägung zu ziehen, sondern zu gehen.

Diese Analyse zeigt, dass es auf wirtschaftlicher, kultureller und sogar militärischer Ebene nicht sinnvoll ist, von einer »freiwilligen Kolonisierung« in der Zone der westafrikanischen Frankophonie bzw. der Länder des Franc CFA zu sprechen, da diese Staaten in den meisten Fälle in kolonialen Kontinuitäten gebunden ihre Souveränität über Geldpolitik, Kultur oder Militärpolitik aufgeben. Der Fall Mali zeigt auch, dass dies Neo-Kolonisierung von einem Staatsoberhaupt gewollt werden kann, der gegen das Interesse seines Volkes zugunsten der Kolonialmacht handelt. Im Fall der Länder der Frankophonie ist es klar, dass sie in vielen Fragen immer noch unter dem Einfluss der kolonialen Ideologie ihrer Gründungszeit stehen.

Literatur

Agbohou, N. (1999): La France et l’Euro contre l’Afrique. Pour une monnaie africaine et la coopération Sud-Sud. Paris: Editions Solidarite Mondiale.

Canut, C.; Guellouz, M. (2019): Les Africains ont-ils été dépossédés de leurs langues au cours de l’histoire ? Interview bei RFI, 28.01.2019.

Cissé, S. (2013): De belles années au service de l’intégration régionale. Abidjan: Edition Eburnie.

Fanon, F. (2001[1959]): L’An V de la révolution algérienne (1959). Paris: Éditions La Découverte.

France 24 (2022): Le Mali dénonce une «violation» de son espace aérien par un avion militaire français. 13.01.2022.

Haïdara, B. (2016): Le franc CFA, véritable élément d’intégration africaine ou instrument d’une dépendance perpétuelle vis-à-vis de la France? Lamenparle, Hypotheses.org, 27.6.2016.

Houmfa, M. (2022): Violation de l’espace aérien malien: la France se dit protégée par des accords existants. Voa Afrique, 14.1.2022.

Melnik, C. (1994): Un espion dans le Ciecle. La diagonale du double (Non Fiction). Paris: Ed. Plon.

Nubukpo, K. (2016): Le Franc CFA est un outil de la servitude volontaire. Videointerview mit France24.

Nubukpo, K. et al. (Hrsg.) (2016): Sortir l’Afrique de la servitude monétaire. À qui profite le franc CFA? Paris: La Dispute.

Robert, M. (2014): Ministre de l’Afrique. Entretiens avec André Renault. Roubaix: Seuil.

Société Générale Guinée (o.J.): Histoire de la Guinée. Webseite.

Tambour (2021): 1 juillet 1962. Le 1er président Malien Modibo Keita retire de facto le Mali de la zone franc en créant le franc malien. Website, 1.7.2021.

Tognon, A. (2022): Mali. Un avion militaire allemand refoulé par le régime Goïta. La Nouvelle Tribune, 20.01.2022.

Vergès, F. (2018): Il faut décoloniser la francophonie. Interview bei France 24, 11.10.2018.

Dolly Afoumba ist Bildungsreferentin und Doktorandin im Fachbereich Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Sie schreibt regelmäßig über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts-, Militär- und Währungspolitik.

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Zwischenmenschliche Beziehungen nach dem Völkermord in Ruanda

von Amélie Faucheux

Kann eine Beziehung zwischen einer Person und den Mitgliedern der Gemeinschaft, die ihre Angehörigen vergewaltigt und ermordet haben, wiederhergestellt werden? In einer historisch einmaligen Konstellation müssen die meisten der ehemaligen Täter*innen des ruandischen Tutsi-Völkermords von 1994 und ihre Opfer wie zuvor zusammenleben. Doch wie kann eine Beziehung wiederhergestellt werden, wenn ein abgrundtiefes Ausmaß an Gräueltaten zwischen den Menschen liegt? In diesem Artikel werden drei Ansätze vorgestellt, die die Fähigkeit zur Koexistenz fördern: die Formalisierung der Wahrheit, das gemeinsame Erzählen intimer Geschichten sowie eine erfolgreiche Zusammenarbeit.

Von Anfang April bis Anfang Juli 1994 wurden zwischen 800.000 und einer Million Menschen ermordet (75 % der Tutsi-Bevölkerung Ruandas). Im direkten Nachgang hatten die meisten Überlebenden (ca. 300.000), die nur deshalb gejagt wurden, weil sie zu den »Tutsi« gehörten, körperliche Wunden, die von Macheten, Spitzhacken, Hämmern usw. stammten. Nachdem sie sich im Busch oder unter Leichen in Kirchen, Schulen oder Häusern versteckt hatten, waren sie oft ohne Dach über dem Kopf, zum Betteln gezwungen und fühlten sich furchtbar allein. Wie eine Betroffene selbst sagt: „Ich habe meinen Mann, meine Kinder und mein Vieh verloren. Ich habe niemanden mehr außer denen, die vor meinem Haus stehen und meine Töchter getötet haben.“ 1

Darüber hinaus wurden von den insgesamt sieben Millionen Einwohner*innen Ruandas vor April 1994 nach und nach fast zwei Millionen Anklagen gegen Beteiligte an den Massakern eingereicht. Für die Opfer fühlte es sich also an, als wären die Mörder*innen überall, und als der Einsatz von Macheten in der Landwirtschaft kurz nach den Massakern wieder zugelassen wurde, flammte die Angst wieder auf, gejagt zu werden. Zu dieser lebendigen Belastung kam noch ein akutes Gefühl der Ohnmacht hinzu: ohne Lebensunterhalt zu sein und zehn Jahre lang mit ansehen zu müssen, wie ihr Weideland von anderen bewirtschaftet wurde. Einige Mörder*innen hatten ihnen ihre Parzellen weggenommen, und bis zum Beginn der Verhandlungsprozesse hatte die Minderheit kaum Gehör, da es keine Unterlagen über den früheren Besitz gab und nur die Aussage der einen gegen die anderen stand. Als sich Anfang der 2000er Jahre die Einrichtung eines Gerichtsverfahrens abzeichnete und die Gefahr bestand, dass sie ihr Land zurückgeben müssten und inhaftiert werden würden, versuchten einige »Genocidaires« (»Völkermörder*innen«), wie sie genannt werden, ihre letzten Zeug*innen zu beseitigen. Das Leid der Überlebenden schien unendlich und das Trauma ist auf beiden Seiten deutlich zu spüren.

Auch Hutu-Familien, die ebenfalls verstümmelt wurden, zählten ihre Toten. Von Ende April bis Juli 1994 flohen zwei bis drei Millionen Männer und Frauen, »Völkermörder*innen« und ihre Familien, ins benachbarte Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo); Tausende kamen im Exil in der Kivu-Region (vor allem im ersten und zweiten Kongo-Krieg, 1996-1997 und 1998-2003) oder bei den rachsüchtigen Überfällen einiger Soldaten der sich inzwischen an der Macht befindlichen Ruandischen Patriotischen Front (RPF) ums Leben, die sich für den Tod ihrer Angehörigen rächen wollten. Gleichzeitig warteten noch in den Jahren 1994-1995 mehr als hunderttausend andere mutmaßliche Mörder*innen hinter Gittern auf ihren Prozess. Zu dieser Zeit gab es weder ein Gericht noch Anwält*innen. Die Zellen waren überfüllt, die Häftlinge lebten jahrelang in Feuchtigkeit und Exkrementen. Die Fäulnis und mangelnde Pflege führten zu Krankheiten und Wundbrand. Die Haushalte der Häftlinge in den Hügeln, die der traditionellen Wirtschaftskraft ihrer Söhne und Ehemänner beraubt waren, verarmten. Viele Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, obwohl einige von ihnen noch lebten und nicht weit weg waren.

Einige Hutu geben den Überlebenden die Schuld: Die Menschen hegen oft einen Groll gegen diejenigen, die sie verletzt haben, und die Ideologie des Völkermords ist nicht verschwunden.

Unter den Scharfrichtern hatte sich Misstrauen eingeschlichen. Um zu töten, hatten sich die Männer in Banden zusammengeschlossen: Jede*r war Zeug*in, also konnte jede*r denunzieren und ist daher verdächtig. Und für alle bleibt heute die Erinnerung an die Qualen, an die Folter, an die Leichen und an die gemeinsame Not, die aus den Ruinen herrührt, zu denen das Land gemacht wurde.

Die gesamte ruandische Welt, die bis auf die Knochen erschüttert war, versuchte, wieder dorthin zurückzufinden, wo sie zuvor war, jede*r mit seinen eigenen extremen Erfahrungen, ihren Frustrationen oder dem zerbrochenen Vertrauen. Die traumatische Erinnerung an die Ereignisse belastet die Psyche der Bewohner*innen, aber sie haben keinen anderen Ort (Kervran und Mukamabano 1999). Zahlreiche Überlebende, Täter*innen und deren Angehörige versuchten daher, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Von 1994 bis zu den 2000er Jahren fand eine kontinuierliche Polarisierung der Gemeinschaft statt und niemand hatte die Hoffnung, dass die Zeit allein die Wunden heilen würde. Wie kann ein so tief zerrüttetes soziales System neu aufgebaut werden?

Die in der Geschichte noch nie dagewesene Situation zwingt den ruandischen Staat, die NGOs und die Zivilgesellschaft dazu, eine Vielzahl von Initiativen zu ergreifen, um eine in Trümmern liegende Nation wieder aufzubauen. Eine Herausforderung, die – im Rückblick – teilweise gelungen ist, so als ob etwas zunächst Unmögliches, etwas Unbewegliches, zum Leben erwacht wäre: „Ibuye ryabonye umuzi“, „wie ein Stein, der Wurzeln schlägt“.2

Legt die Wahrheit offen und werdet anerkannt

Angesichts der Größe und Demographie des Landes und des Bedarfs an Arbeitskräften für den Wiederaufbau sowie der Grenzen der Masseninhaftierung stellte sich sofort die Frage des Zusammenlebens. In dieser Hinsicht bestand die erste Aufgabe der im Juli 1994 eingesetzten Nachfolgeregierung darin, das wiederherzustellen, was das vorherige Regime am radikalsten gebrochen hatte: den Sozialpakt zum Schutz der Bürger*innen durch den Vorrang des Rechts.

Vorrangig ging es darum, der Kultur der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, die dreißig Jahre lang die Massaker an den Tutsi legitimierte und verharmloste. Das Instrument, mit dem dies erreicht wurde, waren zum einen die frühen Prozesse gegen 9.000 des Völkermords Verdächtige vor konventionellen Gerichten (ab Dezember 1996 und über ein Jahrzehnt hinweg) und dann die Einrichtung von mehr als 12.000 Gemeinschaftsstrafgerichten (2001-2012), die sich an eine jahrhundertealte Tradition anlehnten, die die Nation an ihre Einheit erinnerte: die »Gacaca«, ein hybrides und komplexes öffentliches Tribunal, das auf Dialog basiert und an den Orten des Völkermords abgehalten wird, ohne Anwält*innen und Berufsrichter*innen, unter Einbeziehung der gesamten Gesellschaft, wobei fast jeder Erwachsene an den Prozessen teilnimmt (die heikle Verurteilung von einer Nachbar*in durch eine Nachbar*in).

Ziel dieser Gerichte war es, die Erinnerung an das Geschehen wachzuhalten, den Status der Opfer anzuerkennen und der riesigen Anzahl von Täter*innen ins Auge zu blicken sowie das Geständnis und die Vergebung im Hinblick auf alternative Sanktionen und restaurative Ziele zu fördern (Rosoux und Shyaka Mugabe 2008, S. 35; Clark 2010, S. 169-185). Durch diese Prozesse wurde deutlich: Die Hoffnung bestand darin, dass das Recht seine ursprüngliche rettende Aufgabe wieder aufnehmen würde, indem es eine erste Grundlage für die Wiederherstellung einer Gemeinschaft schaffen würde.

Erstens waren da die Auswirkungen von Gacaca auf die Wiederherstellung der Überlebenden, trotz der Zeugenaussagen, die „Narben wieder aufreißen“ (Mutarabayire-Schafer 2010, S. 145). Angesichts dieser unfassbaren Erfahrung und ihrer Aura der Unaussprechlichkeit, die die Überlebenden noch mehr in sich selbst gefangen hielt, hat der Prozess und seine öffentliche Anerkennung die Reintegration der Betroffenen in die Welt der Menschen eingeleitet. Die Tatsache, dass die an ihnen begangenen Taten sanktioniert wurden, dass sie ihre Wut und ihre Scham zum Ausdruck bringen konnten, war der Beginn eines Prozesses der emotionalen Verarbeitung.

Es eröffnete auch manchmal die Möglichkeit zu erfahren, wo Angehörige zurückgelassen wurden, und ihnen ein Begräbnis zu ermöglichen. Darin einen Sinn für das eigene Überleben zu finden, dessen Wunder und Einsamkeit Unverständnis und Schuldgefühle nähren. „Warum ich? Was muss ich tun?“

Hier begann die Arbeit der Trauer. Das Gefühl der Wiedergeburt einer Würde, die den Opfern genommen wurde, ohne das Gefühl zu haben, die Angehörigen zu verraten, ohne sie in eine Biografie einzuschreiben, die der Genozid auslöschen wollte. Es war eine Möglichkeit, ihrem Tod durch Ort und Namen den Status einer ehemals lebenden Person zu verleihen, ihnen durch Öffentlichkeit und Materialität ein Andenken zurückzugeben.

Langfristig gesehen stellen das Urteil und das Gericht eine Reflexion über die Nutzlosigkeit von Rache und das Interesse an Wiedergutmachung dar, wie dieser Mann gegenüber Eltern argumentiert, die die bevorstehende Freilassung der Mörder ihrer Angehörigen ablehnten: „Dieser Kerl hat eure Familie umgebracht und während er im Gefängnis sitzt, zahlt ihr für seine Ernährung. Warum verwendest Du dieses Geld nicht, um euren Sohn zu erziehen und für Deine Frau zu sorgen? (…) Das Wichtigste ist jetzt, die Wahrheit zu erfahren, dann schaffen wir das schon.3

Zweitens sind die Auswirkungen von Gacaca auf die Täter*innen zu sehen, trotz der schweren Justizfehler, die während der Prozesse angeprangert wurden, der informellen Ermutigung zum Schweigen unter den Hutu-Gemeinschaften, der Bestechung von Zeug*innen und anderer Abrechnungen im Zusammenhang mit einer eiligen Justiz. Gacaca war ein Weg, als das Mosaik der Massaker auftauchte, um den Rassismus offen zu dekonstruieren und die Täter*innen mit ihren Fehlern zu konfrontieren. Trotz dieser Tortur ist es für die Angeklagten ein Mittel, um ein wenig von der Menschlichkeit zurückzugewinnen, die sie sich selbst genommen haben. Es ist ein Ritus der Wiedereingliederung in das soziale Gefüge und in ihre Familien: „Da ich an der Anerkennung des Verbrechens mitgewirkt habe, habe ich mir meinen Platz wieder verdient“.4

Zudem ist dieses Gefühl von ein wenig mehr Sicherheit und zumindest Anerkennung auf Seiten der Überlebenden und die klare Konfrontation mit ihrer Verantwortung auf Seiten der Täter*innen, die beide Seiten auf einen Neubeginn der Kommunikation miteinander hoffen lassen.

Sich von den Geschichten berühren lassen

Eines der Merkmale der ruandischen Gesellschaftstherapie nach dem Völkermord war die Förderung der Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft durch gemeinsames Geschichtenerzählen. Ab dem Jahr 2000 nahmen Zehntausende Ruander*innen, zumeist Überlebende, an diesem Programm teil, zunächst in homogenen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen. Diese institutionellen Gespräche, die die gegenseitige Offenlegung förderten und gleichzeitig sensible persönliche Themen behandelten, ermöglichten es den Opfern, sich vor den Gerichtsverhandlungen gegenseitig zu unterstützen, die Isolation zu verringern und durch Einkommen schaffende Aktivitäten einen neuen Lebenssinn zu finden (Gishoma et al. 2014, S. 472).

Vor allem nach den Gerichtsverhandlungen wurden Erzählgruppen von Täter*innen, Opfern und Jugendclubs (Treffen zwischen ihren Nachkommen) gegründet. Diese zwei- bis vierstündigen, zweiwöchentlich angebotenen Räume der Abwechslung schufen einen Moment des Zuhörens und des Ausdrucks von Gefühlen, die erst nach dem Versuch der Gerechtigkeit entstehen konnten (Lordos et al. 2021, S. 111): Kommunikation in einem Raum, in dem das Risiko einer Bestrafung oder Denunziation geringer war. Ohne die Teilnehmer*innen als austauschbare Individuen zu betrachten, beruht dieser freiwillige therapeutische Ansatz auf dem Prinzip der Berücksichtigung von Motivationen und autobiografischen Berichten in gegenseitigem Respekt und Ehrlichkeit. Hierin wird einer der Schlüssel zur Überwindung von Gruppengrenzen gesehen: zu verstehen, was die anderen getan und erlitten haben, aus der Sicht eines Menschen, der seinen Platz im sozialen Ganzen wiedergefunden hat.

Es gibt das Beispiel eines Mannes, der in einer soziotherapeutischen Sitzung seine vorgetäuschte Gleichgültigkeit gegenüber den Angehörigen seiner Opfer offenbart hat: Er, der im Frühjahr 1994 getötet hatte und behauptete, jedes Jahr im April zu den Gedenkfeiern nach Uganda zu reisen, versteckte sich im Buschland. Wegen seiner Schuld, die er mit gesenktem Kopf bekennt, und wegen seiner eigenen traumatischen Erinnerung an seine Taten lebt er unter einem Busch und seine Frau kommt, um ihn zu füttern.

Ein anderes Beispiel ist Claudine, eine Tutsi-Überlebende, die in einer Gruppe hörte, wie einer ihrer Henker eine ähnliche Scham über seine Taten zugab, indem er den Stoff seines Slips sichtbar nässte. In der nächsten Sitzung erhob sie sich: „Ich lebe unter denen, die den Völkermord begangen haben. Ich sehe ihre Familien. (…) Es ist zwanzig Jahre her und ich habe keine Nacht erlebt, in der ich nicht Angst hatte, getötet zu werden, sobald das Licht ausgeht, aber als ich die Geschichte unseres Freundes (…) hörte, der bereut, wie sein Körper gezeigt hat, fühlte ich eine Erleichterung. Von dem, was ich von seiner Person auf seiner Hose sah, dachte ich plötzlich: ‚Leidet er auch?‘ Und am Abend wiederholte ich es vor mir selbst, als wollte ich mich überzeugen: ‚Auch er kann leiden.‘ Danach träumte ich davon, und im Traum ging er durch meine Tür, und er ging durch sie wie ein Mann.5

Gleicher Status und gemeinsame Ziele

Zusätzlich zu diesen Instrumenten zeigen Studien, dass kooperatives Handeln, insbesondere gemeinschaftsbasierte Lösungen mit Einkommensgenerierung, einen weiteren Schlüssel darstellen (Peredo und Chrisman 2006, S. 309; Sentama 2009, S. 37ff.; Mafeza 2013, S. 793). Wenn die gespaltene Gemeinschaft an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels teilnimmt – z. B. an der Arbeit in einer Maniok- oder Kaffeekooperative, an der Viehzucht, am Wiederaufbau von Häusern oder Straßen durch »Versöhnungsdörfer«, oder »Umuganda« (eine monatliche Pflichtaktivität, die der Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur gewidmet ist) – und wenn das Projekt erfolgreich ist (effektiv und mit gleichem Status unter den Teilnehmer*innen), indem es den Lebensunterhalt verbessert, dann festigt es die vorherigen Effekte der Gruppentherapie (Lordos et al. 2021, S. 112).

In der Tat ist die Kooperation der Moment, in dem die zusammenarbeitenden Mitglieder vertrauter miteinander sprechen können und in dem schließlich Anerkennung und Entschuldigung entstehen (Sentama 2009, S. 142). Diese auf lokaler Ebene organisierten Maßnahmen werden durch staatliche Bildungsprogramme ergänzt, die ganz ohne ethnische Bezüge auskommen (nach 1994 wurden die Bezeichnungen »Hutu«, »Tutsi« und »Twa« sofort aus den Personalausweisen gestrichen, Völkermordideologie und Divisionismus werden schonungslos verurteilt). Sie werden wiederum mit Aktivitäten kombiniert, die auf gegenseitige Hilfe abzielen: Clubs der Täter*innen, die sich organisieren, um die Felder der Überlebenden abzuernten, oder »ubusabane« (Zeremonien zum Austausch von Geschenken), Teilnahme an Solidaritätslagern oder sozialen Debatten, bei denen die Gesellschaft die Staatsbürgerschaft vor allen anderen Kriterien berücksichtigt.

Indem sie sich auf eine nicht verwandte aber wechselseitige Angelegenheit konzentrieren, sind Überlebende, Täter*innen und ihre Nachkommen durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten und die Verbesserung ihrer Zukunftsaussichten besser in der Lage, die wesentlichen Unterscheidungen neu zu konfigurieren und gegenseitige Missverständnisse zu korrigieren. Viele haben in der Tat argumentiert: „Wie kann ich akzeptieren, wieder mit ‘ihnen’ zusammenleben zu müssen, wenn ‘sie’ mein Haus niedergebrannt haben und ich mir das Studium meiner Kinder nicht mehr leisten kann?“ (siehe auch Mafeza 2013, S. 795). Auch wenn dies nicht im Fokus der Regierung stand6, zeigen die Erfahrungen vor Ort, dass die traumatische Identität von Überlebenden und Täter*innen allmählich abnahm, wenn Ruander*innen die Möglichkeit erhielten, ihre Identität in der Nachbarschaft durch kooperative und wirtschaftliche Rollen neu zu definieren, und wenn sich die Lebens- und sozioökonomischen Bedingungen verbesserten (Lordos et al. 2021, S. 112).

Nichts kann rein weiß sein

Dennoch kann nach solchen Ereignissen, auch wenn die meisten Überlebenden und Täter*innen jetzt nebeneinander leben können, niemand sagen, dass der Völkermord »hinter ihnen liegt«. Auch wenn die meisten akzeptieren, nebeneinander zu leben, gibt es einige, die weiterhin polarisierte Gedanken hegen, vor allem, wenn sie einen anderen Bezug zur ruandischen Geschichte haben. Viele, wenn nicht alle Überlebenden behalten ihre Ängste und Befürchtungen: „Nta byera ngo“ („Nichts ist rein weiß“), sagen sie, „wir denken jeden Tag an den Völkermord, aber wir können arbeiten und leben.“ 7 In einer Gesellschaft, in der direkte Kontakte zwischen den Gruppen unumgänglich waren, war eine solche Kontaktpflicht der Schlüssel zur Wiederherstellung der sozialen Bindungen. In der Tat besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den Beziehungen zwischen Überlebenden und Täter*innen, die in Ruanda leben, und denjenigen, die im Ausland leben. In Frankreich und Belgien bleibt ohne diese – durch den politischen und demografischen Kontext erzwungenen – Bemühungen eine stärkere Polarisierung bestehen. Aus der Perspektive der Friedensförderung bedeutet dies, dass je enger und intensiver der Kontakt ist, mit institutioneller Unterstützung und gleichem Respekt zwischen den Parteien, umso weniger Vorurteile bestehen und desto harmonischer ist die Interaktion (Sentama 2009, S. 35-42; Mafeza 2013, S. 795).

Wie nachgeschoben und leise fügt Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, eine letzte Überlegung hinzu: „Aber es gibt etwas, das oft nicht bedacht wird: die Erfahrung der Stimmlosen. Wenn das aktuelle Zusammenleben auf Initiativen von Staaten, religiösen Institutionen, der Zivilgesellschaft, manchmal auch auf Gesten von Henkern zurückzuführen ist, so ist es vielleicht zunächst eine Tatsache, die wir den Überlebenden und ihrem Leben vor 1994 verdanken. Wir hatten keine Stimme, also haben wir keinen Lärm gemacht. Seit der Unabhängigkeit haben die ruandischen Tutsi im Stillen gekämpft. Nach dem Völkermord haben sie weitergemacht. Dies ist einer der Gründe für die traumatischen Krisen während der Gedenkfeiern: Sie bilden den schmalen Zeitrahmen, in dem wir uns erlauben, uns zu äußern. Für den Rest der Tage gilt: Die Demut im Leben zuvor erlaubt die Bescheidenheit im Leben danach“.8

Danksagung

Dieser Artikel konnte dank der Unterstützung von Valérie Rosoux, der wohlwollenden Lektüre von Louis-Philippe Moreira und der geduldigen Gespräche mit Valens Kabarari, Narcisse Nzamurambaho und Innocent Ruzigana entstehen.

Anmerkungen

1) Während meiner Feldaufenthalte zwischen 2014 und 2019 habe ich solche Aussagen von vielen Überlebenden gehört.

2) Innocent Ruzigana, Guide an der Ntarama Gedenkstätte, in einer Email, 1.12.2021.

3) Ayad, C. (2004): Dix ans après, vivre avec ses bourreaux. Journal Libération, 6.04.2004.

4) Madeleine M., wegen Beteiligung am Genozid verurteilt, Nyarugenge Gefängnis, Kigali, Rwanda, 8.3.2016.

5) Täter-Opfer Support Gruppe, Mushubati, Ruanda, März 2019.

6) Um dennoch den Bedürftigsten zu helfen, richtete die Regierung den Unterstützungsfonds für Überlebende des Genozids (FARG) ein.

7) Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, Telefonat, Bugesera, Ruanda, 4.12.2021.

8) Ebd.

Literatur

Clark, P. (2010): The Gacaca courts, post genocide justice and reconciliation in Rwanda: Justice without lawyers. Cambridge, New York: Cambridge University Press.

Gishoma, D. et al. (2014): Supportive-expressive group therapy for people experiencing collective traumatic crisis during the genocide commemoration period in Rwanda: impact and implications. Journal of Social and Political Psychology 2 (1), S. 469-488.

Kervran, P.; Mukamabano, M. (1999): Cinq ans après le génocide des Tutsis au Rwanda. Episode 2: Le temps des assassins. LSD, La série documentaire. France Culture (Radio). 54 min, erste Ausstrahlung im Sommer 1999.

Lordos, A. et al. (2021): Societal healing in Rwanda: toward a multisystemic framework for mental health, social cohesion, and sustainable livelihoods among survivors and perpetrators of the genocide against the Tutsi. Health Human Rights Journal 23 (1), S. 105-118.

Mafeza, F. (2013): Restoring relationship between former genocide perpetrators and survivors of genocide against Tutsi in Rwanda through reconciliation villages. International Journal of Development and Sustainability 2(2), S. 787-798.

Mutarabayire-Schafer, A. (2010): Du traumatisme du génocide à la violence de la réconciliation: Gestalt-thérapie et soutien psychologique des rescapés du génocide au Rwanda. Cahiers de Gestalt-thérapie 26, S. 143-162.

Peredo, A.M; Chrisman, J.J. (2006): Toward a theory of community-based enterprise. Academy of management Review 31(2), S. 309-328.

Rosoux, V.; Shyaka Mugabe, A. (2008): Le cas des gacaca au Rwanda: jusqu‘où négocier la réconciliation? Négociations 9(1), S. 29-40.

Sentama, E. (2009): Peacebuilding in post-genocide Rwanda. The role of cooperatives in the restoration of interpersonal Relationships. University of Gothenburg, Dissertation.

Amélie Faucheux, promovierte Soziologin und Juristin für Menschenrechte, forscht über den Akt des Tötens bei extremer Massen­gewalt und die Nachwirkungen des Völkermords in Ruanda. Sie lehrt in Paris.

Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Hussak.

Digitalisierung für friedliche Entwicklung nutzen

Digitalisierung für friedliche Entwicklung nutzen

Potsdamer Frühjahrsgespräche 2021, sef :, online, 10.-12. Mai 2021

von Ingo Nordmann

Die Digitalisierung in Afrika läuft auf Hochtouren. Online-Tools können Menschen zusammenbringen und dazu beitragen, Gewalt zu verhindern. Die Teilnahme an demokratischen Prozessen wird einfacher und inklusiver. Soziale Bewegungen vernetzen sich zunehmend online und bewirken Veränderungen in ländlichen und städtischen Regionen. Gleichzeitig verbreiten sich Hassparolen im Internet in noch nie dagewesener Geschwindigkeit, autoritäre Regierungen nutzen neue Technologien, um ihre Bürger*innen zu kontrollieren, und ex­tre­mis­tische Gruppen rekrutieren Mitglieder online. Diese vielfältigen Auswirkungen der Digitalisierung auf friedliche Entwicklung in Afrika standen im Mittelpunkt der Potsdamer Frühjahrsgespräche 2021. Die Konferenz wurde von der Stiftung Entwicklung und Frieden (sef 🙂 in Kooperation mit der GIZ durchgeführt.

Von Online-Hass zu Gewalt auf der Straße

Nanjala Nyabola, Forscherin und Autorin aus Nairobi, erläuterte am Beispiel des aktuellen Konflikts in Äthiopien, wie Hass im Internet häufig in reale Gewalt auf der Straße umschlägt. Auch Online-Medien können zur Ausbreitung von Gewalt beitragen, wenn Nachrichten über Tötungen geteilt werden und daraufhin gezielte Vergeltungsmorde stattfinden. Die Reichweite und Geschwindigkeit dieser sich gegenseitig anheizenden Kommunikationsprozesse sei laut Nyabola weit höher als vor der Existenz des Internets und sozialer Medien.

Organisationen der afrikanischen Zivilgesellschaften haben innovative Methoden entwickelt, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. So bietet beispielsweise die #defyhatenow-Kampagne im Südsudan und anderen Ländern datengestützte Lösungen zur Bekämpfung von Hassparolen und Fehlinformationen im Internet. Wie Programmdirektor Nelson J. Kwaje erklärte, hat die Kampagne auch dazu beigetragen, gefährliche Mythen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie zu entlarven. Das Unternehmen Tuwindi aus Mali bietet Nutzer*innen Apps an, mit denen sie online verbreitete Informationen auf ihre Richtigkeit überprüfen können, um so die Gefahr von Falschmeldungen zu reduzieren. CEO Tidiani Togola stellte außerdem eine App vor, die vor Wahlen verlässliche politische Informationen online zur Verfügung stellt, damit die Nutzer*innen fundierte Entscheidungen treffen können. Ein weiteres Beispiel ist das Humanitarian OpenStreetMap Team (HOT), das Online-Kartenmaterial nutzt, um schnell und präzise auf Naturkatastrophen oder Gewaltausbrüche in verschiedenen Ländern reagieren zu können.

Macht und Verantwortung von Technologieunternehmen

Dr. Nicole Stremlau (Universitäten Oxford und Johannesburg) ergänzte, dass Technologieunternehmen der Gewalt im Internet in Afrika viel weniger Aufmerksamkeit schenken, als in anderen Teilen der Welt. So würde viel Hassrede in lokalen Sprachen geschrieben, die Unternehmen nicht ausreichend beachten. Ihnen fehlten Sprachkompetenzen für ein effektives Community-Management und die automatisierten Blockier-Algorithmen funktionierten in diesen Sprachen nicht. Folglich könnten Hassparolen in Afrika oft nicht einmal effizient gemeldet, geschweige denn sanktioniert oder verhindert werden. Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass viele dieser Sprachen, wie Amharisch, Hausa und Somali, von mehreren zehn Millionen Menschen gesprochen werden.

Ebenso kritisch äußerte sich Stremlau über die wachsende Macht europäischer Unternehmen wie Vodafone und Orange in Afrika. Im Gegensatz zu größeren europäischen Ländern, die vielleicht über politische Strukturen verfügen, um den Einfluss von Big Tech-Unternehmen auf ihren heimischen Märkten einzuschränken, könnten viele kleine afrikanische Länder dies nicht leisten. Hier sei eine verstärkte internationale Zusammenarbeit erforderlich, um die weitreichende Macht dieser ausländischen Unternehmen in Schach zu halten.

Stremlau forderte darüber hinaus ein stärkeres Engagement der Afrikanischen Union (AU). Eine vielversprechende Gelegenheit für Zusammenarbeit zwischen der AU und der Europäischen Union könnte es sein, die bereits entwickelten Strategien zum Umgang mit Hass und Gewalt im Internet auszutauschen. Als Vertreter der Europäischen Kommission bestätigte Marc Fiedrich, dass die beiden Kontinente vor ähnlichen Herausforderungen im Kampf gegen Gewalt im Internet stünden und verwies auf regelmäßige Dialoge zwischen EU und AU zur wirkungsvollen Regulierung sozialer Medien. Er fügte hinzu, dass Afrika jedoch nicht einfach Europa kopieren sollte, da auch Europa immer noch nach Antworten in diesem schnelllebigen Bereich suche.

Regulieren, ohne Meinungsfreiheit einzuschränken

Wenn Regierungen zur Intervention bei digitalen Konflikten aufgefordert werden, kann ein Dilemma entstehen : Wie kann die Kommunikation im Internet reguliert werden, ohne demokratische Errungenschaften wie die Meinungsfreiheit zu gefährden ? Nanjala Nyabola warnte davor, dass Regierungen die Macht, die man ihnen zur Regulierung der Online-Kommunikation gäbe, in erster Linie gegen Kritiker*innen des Staates einsetzen könnten, um unliebsame Aktivist*innen zum Schweigen zu bringen. Dr. Julia Leininger vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) bestätigte, dass digitale Werkzeuge es
„Autokraten erlauben könnten, noch autokratischer zu werden“, durch verbesserte Datensammlungen und Überwachungstechnologien. Als besorgnis­erregendes Beispiel nannte sie den Fall, in dem die chinesische Regierung Gesichtserkennungssoftware an die autoritäre Regierung von Simbabwe verkaufte, die diese zur Überwachung der Menschen in der Hauptstadt Harare einsetzte. Im Gegenzug stellte die Regierung die so erfassten Daten dem chinesischen Softwareunternehmen zur Verfügung, das sie zur Verbesserung seiner Algorithmen und Softwarefunktionen nutzte.

Julia Leininger warnte ferner, dass bei einer zunehmenden Digitalisierung von Wahlen, Manipulationen und Wahlfälschungen einfacher werden könnten. Technologie­unternehmen, die digitale Wahlmanagement-Tools bereitstellen, könnten leicht von Politiker*innen beeinflusst werden, vor allem wenn Regierungen große Anteile der Unternehmen besitzen. Dies würde Politiker*innen besonders anfällig für Korruption machen. Seitens der Zivilgesellschaft gibt es Versuche, solch negatives Verhalten zu unterbinden, beispielsweise durch das Monitoring des Handelns von Politiker*innen. So beobachtet etwa die Organisation Odekro die Aktivitäten ghanaischer Parlamentsabgeordneter und macht die Daten online zugänglich. Auf diese Weise können digitale Werkzeuge auch zu mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht in der Regierungsführung beitragen.

Afrikas Jugend Perspektiven bieten

Wenn Afrika florieren soll, muss seine junge Bevölkerung Aussicht auf ein ausreichendes und stabiles Einkommen haben. Mit einer De-facto-Arbeitslosenquote von rund 20 % und einer extrem hohen Erwerbsarmutsquote von 40 % im Schnitt des gesamten Kontinents, ist dieses Ziel noch in weiter Ferne. Das macht junge Menschen anfälliger für den Einfluss gewalttätiger Gruppen. Wie Nelson Kwaje feststellte,
„suchen sich kriminelle Organisationen genau die Menschen als Zielgruppe aus, die historische Ungerechtigkeiten, Ausgrenzung, Identitätskrisen und wirtschaftliche Probleme erlebt haben“. Junge Menschen, die sich extremistischen Gruppen anschließen, seien daher oft Täter*innen und Opfer zugleich.

Abdihakim Ainte, Mitbegründer des iRise Hub in Mogadischu, kennt diese Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung. Seine Organisation versucht, jungen Unternehmer*innen in Somalia Geschäftsmöglichkeiten zu bieten. Er bestätigte, dass gewalttätige Gruppen junge Menschen, die meist aus stark benachteiligten Familien in ländlichen Regionen stammen, „sowohl benutzen als auch für ihre Ziele missbrauchen“. Dem versuche iRise durch gezieltes Empowerment und die Schaffung wirtschaftlicher Möglichkeiten entgegenzuwirken.

Im Verlauf der dreitägigen Konferenz wurde deutlich, dass es eines Bewusstseinswandels bedarf, die digitale Welt langfristig zu gestalten. Wie Nanjala Nyabola in ihren abschließenden Bemerkungen feststellte, müssten Herausforderungen des digitalen Raums mit Entschlossenheit und Ausdauer angegangen werden, um sie auf die gleiche Weise zu gestalten, wie Offline-Medien über einen langen Zeitraum gestaltet worden seien. Weder eine „Nichteinmischungs-Mentalität, die viele Regierungen in der Vergangenheit an den Tag gelegt haben, noch ein naives „Technologie-utopisches Vertrauen“ (Stremlau), bei dem darauf gesetzt wird, dass digitale Innovationen auf magische Weise Probleme lösen werden, sind geeignet, die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen zu bewältigen. Die Digitalisierung ist weder Afrikas Untergang (oder der Untergang der Menschheit), noch seine Rettung. Sie ist das, was aus ihr gemacht wird – und das liegt in der politischen Verantwortung.

Mehr Informationen zur Konferenzreihe sind verfügbar unter : sef-bonn.org

Ingo Nordmann

Eskalation in Südafrika

Eskalation in Südafrika

von Jürgen Nieth

Johannes Dieterich spricht im Tagesspiegel (19.07.21, S. 5 ) von den „schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte des vor 27 Jahren demokratisierten Staates.“ Christian Pusch (NZZ 26.07.21, S. 2) bilanziert: „337 Tote, über 3.000 geplünderte Geschäfte.“ Die FAZ (23.07.21, S. 21) geht von Schäden „bis zu drei Milliarden Euro“ aus und spricht von „150.000 Arbeitsplätzen“, die gefährdet seien. Von einer gezielten Zerstörung der „Infrastruktur des Staates“ spricht Bernd Dörries in der SZ (20.07.21, S. 6):
„Mobilfunkmasten wurden angegriffen, Anlagen zur Wasseraufbereitung, Krankenhäuser, mindestens 30 Schulen.“ Laut Claudia Bröll sprach „Präsident Ramaphosa […] von einem ‚versuchten Aufstand‘, die Thabo-Mbeki-Stiftung von ‚konterrevolutionären Aktivitäten‘. (FAZ 22.07.21, S. 8)

Staatliche Zurückhaltung

Laut NZZ (s.o) haben „die Sicherheitskräfte […] bei den jüngsten Unruhen nur zögerlich eingegriffen“, denn die Regierung „habe ein weiteres Blutbad unbedingt verhindern wollen“. Die Polizei sei aber auch mangelhaft ausgerüstet gewesen und die Zahl der Polizist*innen stagniere seit Jahren, trotz steigender Bevölkerungszahl. Für Bernd Dörries (SZ 16.07.21, S. 9) ist Südafrika „ein Land, in dem kaum jemand noch damit rechnet, dass die Polizei kommt, wenn man sie ruft. Sicherheit ist Privatsache geworden.

In der Zeit (22.07.21, S. 9) hält Andrea Böhm fest: „Weil die Polizei machtlos war, schickte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa schließlich die Armee. […]. Eine höchst umstrittene Maßnahme, denn die Militärpräsenz erinnert an das Kriegsrecht aus Apartheid-Zeiten.

Zuma als Anstifter?

Betroffen von den Unruhen war vor allem die Heimatprovinz Jacob Zumas und zeitlich fielen die Proteste mit dessen Haftantritt zusammen: Der ehemalige Präsident des Landes war von einem Gericht wegen Missachtung der Justiz zu 15 Monaten Haft“ verurteilt worden. Vor der Ablösung Zumas als Präsident hatten
„Journalisten und Whistleblower ein gigantisches Korruptionsnetzwerk aufgedeckt – mittendrin Zuma […]. Staatliche Firmen waren systematisch geplündert, Steuergelder veruntreut, Wirtschaftsverträge manipuliert, Kritiker in der Regierung kaltgestellt worden […]. [Es] soll dem Staat so ein Schaden von bis zu 100 Milliarden Dollar entstanden sein.“ (Zeit, s.o.). So ist es für manche Beobachter*innen verwunderlich, dass
„Zuma überhaupt noch so viele Anhänger hat, nach all den desaströsen Jahren […]: Er hat sich gerne als Mann der kleinen Leute gegeben, hat getanzt und gesungen und gewitzelt, er gilt als volksnah und hat das Volk doch gleichzeitig bestohlen.“ (Bernd Dörries, SZ 16.07.21, S. 9) Hinzufügen muss man hier, dass Zuma zusammen mit Nelson Mandela auf Robben Island inhaftiert war und sicher auch aufgrund dessen im ANC nach wie vor großen Einfluss hat.

Bei den Auseinandersetzungen steht auch die Einheit des ANC, der ältesten Befreiungsbewegung Afrikas, auf der Tagesordnung. Schließlich gehen alle vorliegenden Zeitungsberichte davon aus, dass Zuma und sein Netzwerk die Unruhen orchestriert haben. Lutz van Dijk verweist in der taz (16.07.21, S. 10) auf ein „Video, das Zumas Tochter postete, in dem auf ein Wahlplakat Ramaphosas geschossen wird.“ Die FAZ (14.07.21, S. 5) zitiert die Zuma-Tochter Duduzile:
„Ramaphosa, wir geben dir drei Tage, um Zuma freizulassen. Das Land wird sonst niederbrennen, ich verspreche es.

Strukturelle Ursachen

Für Savious Kwinika (taz 15.07,21, S. 10) war allerdings „Zumas Verhaftung […] nur der Funke, der das Pulverfass explodieren ließ“. Denn eigentlich weise die Plünderungswelle auf etwas anderes hin: „Wie Junge und Alte in diesen kalten Winternächten ihr Leben riskierten, um Diebesgut zu greifen, machte deutlich, welches Ausmaß Hunger, Elend und Ruhelosigkeit mittlerweile unter weiten Teilen der Bevölkerung haben.“ Aus Kapstadt berichtet Christian Selz für nd (17.07.21, S. 7):
„Die Kluft zwischen Arm und Reich ist seit dem Ende der Apartheid nicht kleiner, sondern sogar noch größer geworden […]. Die extreme Armut, während man gleichzeitig das Luxusleben der Oberschicht vor Augen hat, führt zu Wut und einer enorm hohen Kriminalitätsrate, seit Jahrzehnten […]. Die Arbeitslosenquote ist seit [… Ramaphosas] Amtsantritt im Februar 2018 weiter gestiegen […]. Die Corona-Pandemie […hat] die Situation noch einmal verschärft. Etwa drei Millionen Menschen verloren im ersten Lockdown vor einem Jahr ihre Arbeit, erholt hat sich Südafrika davon bis heute nicht.“ Zu den Plünderer*innen zählten allerdings nicht nur Arme. Die BZ (14.07.21, S. 4) berichtet von
„Menschen, die mit Mittelklassewagen vorfuhren und Kühlschränke, Betten, Kleider, Schuhe und selbst Möbel wegschafften.

Ausblick

Die Plünderungen sind beendet, die Aufräumarbeiten haben begonnen. Laut Bernd Dörries (SZ 20.07.21, S. 6) scheint mittlerweile „auch unter vielen Plünderern Katerstimmung zu herrschen. Das Ausmaß der Gewalt war für viele Südafrikaner schockierend und abschreckend.“ Die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des ANC sind für ihn aber nicht entschieden: „Zumas Leute sitzen teilweise immer noch in den Behörden und der Regierung und haben den Kampf noch nicht aufgegeben.“ Der ANC ist laut Claudia Bröll (s.o.)
„tief gespalten in einen angeblich reformwilligen Flügel und die alte Zuma-Garde […]. Zusätzlich kommt der populistischen Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) das Chaos zugute […]. Schon lange wird darüber spekuliert, dass EFF-Gründer Julius Malema sich mit dem radikalen Flügel des ANC zusammenschließen und so die Macht im ANC übernehmen könnte.

Um das zu verhindern, bleibt für Ramaphosa laut Andrea Böhm (s.o.) nur folgende Option: „Cyril Ramaphosa hatte bei Amtsantritt einen Kampf gegen die Armut angekündigt. In den Townships glaubt ihm das keiner mehr […]. Dass er nun […] die Einführung eines Grundeinkommens untersuchen lassen will, halten Kritiker für zu wenig […]. Die Leute müssen Verbesserungen jetzt sofort sehen und schmecken können.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – tageszeitung, Zeit – Die Zeit

Europas Hinterhof?


Europas Hinterhof?

»Ertüchtigung« und Militarisierung der Sahel-Region

von Christoph Marischka

Die EU betreibt die systematische Militarisierung der Sahel-Region. Bereits die ersten eigenständigen Schritte einer militärisch gestützten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgten auf dem afrikanischen Kontinent – 2003 in der DR Kongo. Aktuell ist die EU mit diversen Missionen in der erweiterten Sahel-Region aktiv. Das sind die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Somalia und Mali, die Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP) in Somalia, die EUCAP-SAHEL-Missionen ebenfalls in Mali und dem benachbarten Niger sowie eine Mission zur militärischen Beratung in der Zentralafrikanischen Republik. Eine weitere Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen ist von Tunesien aus aktiv.

Die deutlich erkennbare Fokussierung der Europäischen Sicherheitspolitik auf den afrikanischen Kontinent lässt sich neben der relativen geografischen Nähe auch auf andere Gründe zurückführen. Zum einen sind hier die Einflussgebiete der international führenden Mächte nicht so klar abgesteckt und zugleich hart umkämpft, wie etwa im Mittleren Osten oder dem Kaukasus.

Zum anderen entsprechen viele postkoloniale afrikanische Staaten ziemlich exakt dem Szenario, welches die EU in ihrer 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie unter dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« als Rahmenbedingung für eigenständiges militärisches Handeln entworfen hat. Auch hier stehen nicht geopolitische Konkurrenten und die möglicherweise notwendige »Verteidigung« gegen einen etwa gleichwertigen militärischen Gegner im Mittelpunkt, sondern sogenannte »scheiternde Staatlichkeit«, unter der nicht nur die jeweils ansässige ­Bevölkerung zu leiden hätte, sondern die auch die Grundlage für verschiedene Bedrohungen wie Terrorismus, Kriminalität, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und – oft in einem Atemzug damit genannt – (illegale) Migration bildet, die hier ihren Ausgang nähmen und auch Europa beträfen.

Zuletzt zeigt auch die räumliche Verteilung europäischer Missionen auf dem Kontinent, dass dabei ein Fokus auf den ehemaligen französischen Kolonien liegt. Viele der frühen EU-Missionen wären nicht nur ohne die postkoloniale französische Militärpräsenz und Infrastruktur, sondern auch ohne die damit verbundenen diplomatischen Kontakte und entsprechenden außenpolitischen Wissensbestände kaum denkbar gewesen. Vergleichbare Strukturen bildeten sich in der Europäischen Verwaltung erst ab 1999 ansatzweise und weitgehend ad hoc und wurden erst ab 2010 mit der Einrichtung des »Europäischen Auswärtigen Dienstes« (EEAS) zunehmend systematisiert aufgebaut, z.B. durch Abteilungen mit regionalen Schwerpunkten.

Nachträglich könnte man durchaus mutmaßen, dass zumindest die frühen EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent weniger den im jeweiligen Mandat festgelegten (humanitären) Zielen im Einsatzland dienten, sondern dem neuen außenpolitischen Akteur EU nicht nur eine gewisse Sichtbarkeit, sondern v.a. auch Erfahrungswerte liefern sollten.

Hinterhof-Politik

Die aktuelle Konzentration europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sahel-Region allerdings erscheint weniger experimentell als viel mehr strategisch. Seit etwa 2005 formieren sich im entstehenden diplomatischen Apparat der EU Personengruppen und Strukturen, die in den Beziehungen zu den Staaten Mauretanien, Mali und Niger vonseiten der EU einen länderübergreifenden Ansatz propagieren. Problematisiert werden dabei von diesen Staaten ausgehende Bedrohungen wie Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und zunehmend auch Terrorismus. Befördert wurde diese Tendenz durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und andere EU-Programme, die »illegale Migration« weit jenseits der eigenen Außengrenzen in den Herkunfts- und Transitstaaten untersuchten, problematisierten und als »Ströme« konzipierten, die es bereits hier aufzuhalten gelte. In der Konsequenz wurde die Region politisch als »Hinterhof Europas« verstanden, vom damaligen deutschen Entwicklungsminister Dirk Niebel gar ganz Afrika als Europas »Vorgarten« bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erfuhr die Region zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Problematisierung auch eine wachsende Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer ökonomischen Potentiale. Beispielhaft dafür ist die 2009 v.a. mit deutschem Kapital gegründete Desertec Industrial Initiative (Dii) GmbH, welche die Versorgung europäischer Energiemärkte mit »Wüstenstrom« aus der Sahara propagierte und vorantrieb.

Kurz nachdem der EEAS Ende 2010 seine Arbeit aufgenommen hatte, veröffentlichte er im März 2011 mit der »Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel« seine erste Regionalstrategie überhaupt. Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, […] bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“ (EEAS 2011, S. 4). Die Strategie basierte u.a. auf vier Fact-Finding Missionen, welche die EU bereits zwischen Juli 2009 und Juli 2010 in Mauretanien, Mali, Niger und Algerien durchgeführt hatte und die in den drei erstgenannten Staaten „mangelnde operationale und strategische Kapazitäten“ im gesamten Sicherheitssektor offenbart hätten, woraus u.a. eine ungenügende „Kontrolle des Territoriums“, Rechtsdurchsetzung und ein ineffizientes Grenzmanagement resultieren würden (Ebd., S. 3). Die Bemühungen der EU fokussieren sich seitdem darauf, diese Kapazitäten aufzubauen.

Zwischen der Veröffentlichung der Sahel-Strategie und ihrer Umsetzung in den Missionen EUCAP Sahel Niger (Aug. 2013), EUTM Mali (März 2013) und EUCAP Sahel Mali (April 2014) lagen allerdings zwei – miteinander in Verbindung stehende – Ereignisse, welche die Lage in der Region grundsätzlich veränderten: Mit der NATO-Intervention »Unified Protector« wurde Libyen als Regionalmacht ausgeschaltet, das Land in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg gestürzt und eine große Zahl von Waffen und Kämpfer*innen mobilisiert. Der darauf folgende Aufstand im Norden Malis, der einen Putsch im Süden des Landes auslöste, führte Anfang 2013 zu einer massiven französischen Militär­intervention und zur Stationierung von über 10.000 Soldat*innen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten, die zunächst unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU-Mission AFISMA), bald aber unter UN-Führung (MINUSMA) standen, was auch eine umfangreiche deutsche Beteiligung (bis zu 1.100 Kräfte) ermöglichte.

»Ertüchtigung« in der Sahel-Region

MINUSMA bildet seitdem die militärische Grundlage für eine Vielzahl von Ausbildungs- und Ausrüstungsinitiativen. Im Rahmen der EUTM-Mission wurden bislang laut EU-Außenbeauftragtem Borrell „90 % der malischen Armee“ (EEAS 2020) fortgebildet, deren Gesamtumfang auf knapp 20.000 Soldat*innen geschätzt wird. Das EUTM-Mandat wurde schrittweise auf die Nachbarstaaten ausgeweitet, damit auch weitere Angehörige der »Force Conjointe du G5 Sahel« ausgebildet werden können – gemeinsame Eingreifkräfte der Armeen Mauretaniens, Malis, Nigers, Burkina Fasos und des Tschad, für deren Aufbau Deutschland und Frankreich im Februar 2018 mehr als 400 Mio. € mobilisiert hatten1 und die vor allem in den Grenzregionen aktiv sind. Ende Mai 2020 wurde auch die Ausbildung nigrischer Soldaten durch Kampfschwimmer*innen der Bundeswehr – zuvor ohne Mandat als »Operation Gazelle« durchgeführt – in das deutsche Mandat der EUTM aufgenommen. Neben den deutschen Kampfschwimmer*innen und einem deutsch-französischen Logistikdrehkreuz in Niamey sind im Niger auch geschätzte 800 US-Soldat*innen, überwiegend Spezialkräfte, und die französische Operation »Barkhane« aktiv. Sie führen gemeinsame Anti-Terror-Operationen mit lokalen Einheiten durch, die ebenfalls häufig als Ausbildungsunterstützung dargestellt werden. Wie viele andere Staaten liefert Deutschland im Rahmen seiner »Ertüchtigungsinitiative« militärisches Material – von gepanzerten Fahrzeugen bis zu Helmen und Schutzwesten – nach Mali und Niger und baut vor Ort militärische Infrastruktur, Werkstätten und Munitionsdepots auf. Im Rahmen der EUCAP-Missionen in beiden Staaten werden darüber hinaus Grenzschutz-, Gendarmerie- und Polizeikräfte aufgebaut. Zuletzt wurden zudem immer wieder Gerüchte kolportiert, dass auch Russland zunehmend in Mali aktiv sei und u.a. zwei Kampfhubschrauber geliefert hätte (Muvunyi 2020), was wiederum in der EU als Argument dafür genannt wird, die eigenen Anstrengungen zu intensivieren.

Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser internationalen Aufrüstung ist es kein Wunder, dass sowohl bei der Niederschlagung der Proteste gegen den ehemaligen malischen Präsidenten Keïta als auch bei dessen Sturz durch das Militär am 18. August 2020 jeweils von der EU ausgebildete »Sicherheitskräfte« beteiligt waren. Auch die Tatsache, dass nur einen Monat zuvor der malischen Armee in jener Basis, von welcher der Putsch ausgegangen war, im Beisein des deutschen Botschafters feierlich Fahrzeuge und Ausrüstung übergeben wurde, verdeutlicht eher die Alltäglichkeit solcher Zeremonien als irgendeine heimliche Komplizenschaft. Beispielhaft für den völligen Kontrollverlust im Zuge der militärisch gestützten »Stabilisierung« sind sie allemal.

Fragilitäts-Dilemma

Die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) spricht im Hinblick auf die Region von einer »Counter-Terrorism Governance« die sich dort als neue Staatsräson etabliert habe, aber nur „in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz“ funktioniere. Darin zeige sich das sogenannte »Fragilitäts-Dilemma«: „Je mehr Militär dort hingeschickt wird, je mehr das Sahel-Militär aufgerüstet wird, desto schwächer werden dort die Staaten [und andere gesellschaftliche Machtstrukturen], desto abhängiger werden [sie] von der EU und den USA“ (FFM 2020). Das lässt sich auch rein monetär abbilden: Die Kosten einer flächendeckenden militärisch-polizeilichen Präsenz, wie sie v.a. den EU-Strateg*innen vorschwebt, würde die Gesamthaushalte der betreffenden Staaten um ein Vielfaches übersteigen. Die von außen zuströmenden Mittel entwickeln und versorgen vor Ort (und in Paris, Brüssel, Calw, …) korrupte, militaristische Strukturen, die keinerlei Interesse an einer Lösung und Demilitarisierung der Konflikte haben. Der Krieg ernährt sich selbst und hält die Sahel-­Region im Status eines unruhigen Hinterhofs. Höchste Zeit, diese »Ertüchtigung« zu beenden.

Anmerkung

1) Die Gelder stammten von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien.

Literatur

EEAS (2011): Strategy for Security and Development in the Sahel.

EEAS (2020): Informal meeting of EU Defence Ministers: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the press conference. Berlin, 26.8.2020.

Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) (2020): Aufstandsbekämpfung im Sahel. Beitrag der FFM zum Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 21.11.2020, nachzuhören unter: https://www.wueste-welle.de/mp3/77954_Panel4_FFM-MP3.mp3.

Muvunyi, F.; Cascais, A. (2020): Putsch in Mali – Welche Rolle spielt Russland? Deutsche Welle, 28.8.2020.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und arbeitet dort zu den Schwerpunkten der EU-Afrikapolitik und der Technologiepolitik.

Rekolonisierung des Sahel


Rekolonisierung des Sahel

Kapitalistische Akkumulation und westliche Militärinterventionen

von Dolly Katiutia Alima Afoumba

Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (»poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann (vgl. Chtatou 2019). Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich mich mit einer Form der kolonialen Kontinuität beschäftigen, der westlichen Militärpräsenz in der Sahelzone und der im gleichen Zuge verstärkten Investition ausländischer Firmen eben dort. Mit Blick auf die Sicherheitslage im Sahel haben wir es mit einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu tun: Westliche Staaten begründen ihr militärisches Engagement im Sahel damit, einer bestehenden Unsicherheit Einhalt gebieten zu wollen. Die neokolonialen Tendenzen der Militärpräsenz ausländischer Staaten auf dem afrikanischen Kontinent werden von terroristischen Gruppen wiederum als Argument genutzt, um ihre Handlungen zu legitimieren und Rekruten aus der Bevölkerung zu gewinnen. Es ist zu beachten, dass terroristische Gruppen in der Sahelzone auch deshalb so stark gewachsen sind, weil sie auf das Versagen der lokalen Regierungen hinweisen, die Sicherheit der Bevölkerung nicht gewährleisten zu können. In der ausländischen Militärpräsenz auf ihrem Boden sehen sie einen Beweis für die erzwungene Rekolonisierung des Gebiets. Dies lässt sich am Beispiel von Boko Haram (»Westliche Bildung ist eine Sünde«) oder der »Bewegung für die Einheit und Dschihad in Westafrika« (MUJAO) sehen, bekannt für ihren antiwestlichen Radikalismus: „Dies materialisierte sich in ihren unablässigen Feindseligkeiten gegen die Westler mit der beispiellosen Verun­glimpfung ihrer kulturellen und zivilisatorischen Werte“ (Sarambe 2018, S. 57).

Zum Verständnis dessen, was in der aktuellen Krise in der Sahelzone wirklich auf dem Spiel steht, sollte man sich folgendes Zitat von Kwame Nkrumah aus seiner Rede vor dem Plenum der OUA am 24. Mai 1963 vor Augen halten: „Dies ist der große Plan der imperialistischen Interessen, die den Kolonialismus und Neokolonialismus stärken, und wir werden uns selbst auf die grausamste Weise täuschen, wenn wir ihre individuellen Handlungen als getrennt und nicht miteinander verbunden betrachten.“ (Nkrumah 1963) Wie Chems Eddine Chitour genauer ergänzte: Die westliche Welt und selbst die Schwellenländer haben keine Bedenken, die alten Länder wieder zu kolonisieren.“ (Chitour 2013) Die starke ausländische Militärpräsenz in der Sahelzone und die gehäufte Ansiedlung von Firmen sprechen eine deutliche Sprache.

Ursachen und alternative Lösungen

Die Staaten in der Sahelregion haben ihren Teil der Verantwortung für den Anstieg der Unsicherheit zu tragen, insbesondere durch die Verbreitung von Waffen als Folge von Bürgerkriegen und Militärputschen. In Mali zum Beispiel haben terroristische und widerständige Gruppen vom Militärputsch gegen Präsident Touré 2012 profitiert, um den Norden des Landes zu besetzen (Sarambe 2018, S. 62). Die politische Instabilität und die dadurch resultierende Militarisierung des Sahel förderte die Verbreitung von terroristischen Gruppen wie Ansar Dine, MUJAO und Al Mourabitoun.

Häufige Dürren und Nahrungsmittelkrisen, staatliche Korruption und Diktatur tragen zur Unsicherheit in der Region erschwerend bei. Wie Achille Mbembe es zusammenfasste, haben diese Länder auch immer noch Schwierigkeiten, „die Kunst der Politik von der Kunst des Kriegs zu trennen“ (Mbembe 2011). Ihre Systeme sind stark durch militärisch-autokratische Parteien beeinflusst.

Trotz dieser Probleme ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Staaten der Region insofern von westlichen Akteuren unterscheiden, als sie versucht haben, die Sicherheitskrisen auch auf diplomatischen Wegen zu lösen. Allerdings torpedieren westliche Mächte diese Wege immer wieder und halten die Staaten des Sahel so in militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Am Beispiel Nigers lässt sich dies gut illustrieren: Im Jahr 2016 beschloss die Regierung Nigers, ihren militärischen Kampf gegen »Boko Haram« zu verändern und den »Reumütigen« unter ihren Kämpfern »die Hand entgegenzustrecken«, indem sie ihnen Amnestie anbot (vgl. Abba 2017). Ein Jahr später, im März 2017, öffnete das Land auch den rechtlichen Weg der Terrorismusbekämpfung, indem es fast 1.200 ehemalige Rebellen vor Gericht stellte. Die militärische Lösung wird gerne damit gerechtfertigt, dass „man mit Terroristen nicht verhandeln kann“. Allerdings, durch regelmäßige Entführungen und Geiselnahmen zeigen die Rebellengruppen eher, dass ein Dialog nicht ausgeschlossen wird. Auf diese Entführungen folgen denn auch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, um die Freilassung von inhaftierten Rebellen zu fordern. Hier lässt das Vorgehen westlicher Mächte die Anstrengungen lokaler Regierungen wirkungslos werden, denn „viele europäische, südamerikanische und asiatische Regierungen zahlen Millionen Euro für die Befreiung ihrer Bürger. Bestimmte Mächte, wie Frankreich betreiben Lobbyarbeit bei den Sahelstaaten, um die Freilassung ihrer Bürger im Austausch gegen inhaftierte Terroristen zu erreichen“ (Sarambe 2018, S. 69). So kommt es oft zu drastisch ungleichen Verhältnissen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Freilassung von 200 verdächtigten Terroristen in Mali im Austausch für die Befreiung von vier westlichen Geiseln (vgl. DW 2020).

Ein großer Teil der Refinanzierung und Verstärkung von Terrorgruppen stammt daher aus der Leichtigkeit, mit der einige Staaten in der Lage sind, Millionen für die Freilassung ihrer Geiseln zu zahlen und auch aus dieser Art von unverhältnismäßigem Gefangenenaustausch. Die Verhandlungsbereitschaft allerdings zeigt, dass es durchaus möglich ist, dialogorientierte Mechanismen zur Lösung der Sicherheitskrise im Sahel zu entwickeln. Der vom Westen favorisierte militärische Ansatz kann nicht die einzige Lösung sein, er verfestigt viel eher den Teufelskreis der Unsicherheit im Sahel.

Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt. Insbesondere die USA und Großbritannien scheinen die Initiative abzulehnen, da sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderten, die Finanzierung dieser Armee abzulehnen. Dies bringt die herablassende Haltung der Vormundschaft der westlichen Mächte gut zum Ausdruck, die es vorziehen, afrikanische Regierungen durch ihre Finanzen und ihre eigenen Armeen zu kontrollieren. Das führt uns zu der Frage, welche Interessen der Westen im Sahel verfolgt.

Ausländische Militärpräsenz in der Sahelregion

Der westliche Interventionismus, auch wenn er offiziell mit dem Schutz der Menschen(rechte) legitimiert wird, wird dennoch von Zielen der geopolitischen Einflussnahme und der »Sicherung« von Rohstoffen geleitet. Das gilt auch für die militärische Präsenz ausländischer Mächte in der Sahelzone.

Angesichts der Schwierigkeiten der westlichen Staaten, im Nahen Osten im Wettlauf um Rohstoffe mithalten zu können, kann die ausländische Militärpräsenz im Sahel als Ausweichbewegung des Westens hin zu »neuen Ressourcenquellen« gesehen werden. Laut Mahdi Taje, besteht das Ziel der ausländischen Mächte in der Sahelzone darin, „sich innerhalb dieses strategischen Korridors zu positionieren, um ihre Versorgung mit […] energetischen und mineralischen Stoffen zu sichern; in Richtung des Golfs von Guinea für Amerika, der Sahara und des Mittelmeers für Europa und schließlich des Roten Meeres für Asien.“ (Algeria-Watch 2012). Ein Bericht des US-Rats für Auslandsbeziehungen aus dem Jahr 2005 weist bereits auf die Chance hin, die Afrika zukünftig für die Energieversorgung des Landes darstellen wird: „Bis zum Ende des Jahrzehnts (2000) wird Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich eine ebenso wichtige Quelle für US-Energieimporte werden wie der Nahe Osten. In Westafrika gäbe es etwa 60 Milliarden Barrel an nachgewiesenen Ölreserven.“ (Fodé 2010) Im Jahr 2013, dem Jahr der Militäroperation »Serval« in Mali, legte der französische Senat dann auch einen Bericht vor, der von der Arbeitsgruppe „Frankreichs Präsenz in einem begehrten Afrika“ erstellt wurde. In ihrem Bericht forderte sie „einen sicheren Zugang zu Energie- und Bergbauressourcen zu gewährleisten“ (Rigouste 2017).

Die Sahelzone bietet dafür enorme Kapazitäten. Sie ist ein Glücksfall für die Goldindustrie, die die Goldvorkommen in Burkina Faso und vor allem in Mali (die drittgrößte Reserve Afrikas) ausgiebig nutzen kann. Mit neu entdeckten Ölvorkommen im Tschad und in Mauretanien (z.B. im Taoudéni-Becken) bietet der Sahel zudem einen großen Spielraum bei der Extraktion von Gasvorkommen und Öl. Ebenso bestehen enorme Kapazitäten in Bezug auf Uran, Diamanten, Phosphat, Bauxit, Plutonium, Mangan und Kobalt. All diese natürlichen Ressourcen machen die Region zu einem Ort der Begierde.

Frankreichs Interessen im Sahel

Nachdem die französischen Militärinterventionen der frühen 2000er Jahre in Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste, in Zentralafrika und in Libyen, enorme Kritik auf sich gezogen hatten, erklärte das Land, es wolle mit seiner Vergangenheit in Afrika und vor allem mit seinem Ruf als Neokolonisator brechen. François Hollande sagte im Oktober 2012 in Dakar vor dem Nationalrat Senegals, er wolle „rompre avec la Françafrique“ („mit der Idee von Françafrique brechen“).

Die Ankündigung des französischen Präsidenten im Januar 2013, militärisch im Kampf gegen den Terrorismus in Mali zu intervenieren, wurde daher von der Öffentlichkeit mit großer Überraschung und Kritik aufgenommen. Diese Intervention wurde deswegen als imperialistisch bezeichnet, weil es sich nicht um einen indirekten Eingriff handelte (z.B. Versorgung malischer bzw. sahelischer Truppen mit Kampflogistik), sondern vielmehr direkt Tatsachen schaffte mit der Entsendung französischer Truppen vor Ort. Dies nachdem Hollande nicht einmal ein halbes Jahr zuvor versprochen hatte, dass „es niemals französische Truppen vor Ort geben würde“.

Ein weiteres kompromittierendes Moment ist die Tatsache, dass Frankreich nicht auf die Zustimmung der Vereinten Nationen wartete, um zunächst die Militärmission »Serval« (2013) und dann »Barkhane« (2014) zu entsenden. Laut der malischen Aktivistin Amina Traoré nutze Frankreich den Anti-Terror-Kampf aus, um sich an dem Land zu rächen, nachdem die französische Armee am 20. Januar 1961 vom damaligen Präsident Modibo Keita vertrieben wurde (Tchangari 2017, S. 21). Die Aktivistin prangert eine exzessive Ausweitung der militärischen Präsenz des ehemaligen Kolonisators in dem Gebiet an.

Laut Michel Galy war die französische Intervention in Mali „geopolitischer Natur: Es geht darum, dass Frankreich einen Einflussbereich in Afrika aufrechterhält, auch wenn dies bedeutet, Staaten unter Vormundschaft zu stellen und illegitime Regierungen zu unterstützen“ (Galy 2013, S. 89). Es ist daher nicht überraschend, dass seit der Operation »Serval« die französischen Militäraktionen in andere Länder der Sahelzone (Niger, Burkina Faso) ausgeweitet wurden.

Der französische Präsident Macron sagte gar zu, dass „die Operation Barkhane erst an dem Tag enden wird, an dem es keine islamistischen Terroristen mehr in der Region geben wird“ (Granvaud 2017). Laurent Bigot, ehemaliger Diplomat, wird mit der Antwort zitiert, dass man: „mit einer solchen Ankündigung (…) einen 100-Jahres-Pachtvertrag für Barkhane“ unterschreibe (ebd.). Seit der Stationierung französischer Truppen setzen aber weiterhin terroristische Gruppen die sicherheitspolitische Agenda und sind noch einflussreicher als zuvor.

Die US-amerikanischen Interessen im Sahel

Die Stationierung amerikanischer Soldat*innen in der Sahelzone folgt ebenso der Logik des Schutzes strategischer Interessen: Sicherung des Zugriffs auf Energieressourcen und der Kampf gegen terroristische Gruppen. Der Einsatz der USA kombiniert finanzielle Hilfe, fokussiert auf die Sicherheitsprogramme afrikanischer Länder, mit der militärischen Präsenz vor Ort. Dazu zählen eine Militärbasis in Ouagadougou, Burkina Faso; Trainingslager für ausländische Söldner in Libyen; je eine Basis für Überwachungsdrohnen im nördlichen und südlichen Afrika in Niamey, Niger; sowie im erweiterten Sinne Militärflugzeuge, Mitglieder der US Navy Special Forces, AFRICOM und sogar CIA-Geheimdienstler in Europa, die jederzeit bereit sind, in der Sahelzone zu intervenieren.

Es ist nur ein scheinbares Paradox, wie sich die US-Regierung verhält mit ihrem militärischen und finanziellen Einsatz für den Anti-Terror-Kampf und dem gleichzeitigen Veto im UN-Sicherheitsrat gegen die Gründung einer unabhängigen afrikanischen Armee, die die Führung im Kampf gegen Terrorismus im Sahel hätte übernehmen sollen. Denn in diesem scheinbaren Paradox steckt der Wunsch, diese Länder unter westlicher Vormundschaft zu halten und ihnen eine externe militärische Präsenz und finanzielle Hilfe aufzuzwingen. Darin liegt der neokoloniale Aspekt der amerikanischen Militärpräsenz in der Sahelzone.

Neokolonialismus im Sahel: Rohstoffsicherung und Firmenexpansionen

Wie im Nahen Osten scheint der Krieg seit der militärischen Stationierung des Westens in der Sahelzone endlos zu werden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Hypermilitarisierung der Region von der Ansiedlung multinationaler Firmen begleitet wird.

Wie in der Kolonialzeit ist die Eroberung von Land nicht nur von der Suche nach Rohstoffen motiviert, sondern auch von der Suche nach neuen Märkten. Die Länder des Sahel bieten nicht nur Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres Naturreichtums, sondern auch menschlicher (Arbeitskraft) und finanzieller (Markt) Ressourcen. Wie Nkrumah es voraussagte, sind die kolonialen Mechanismen unverändert geblieben.

An einigen exemplarischen Beispielen im Falle von Frankreich lässt sich das verdeutlichen: Frankreich hat beispielsweise den zweithöchsten Uranverbrauch der Welt, aber seit einigen Jahren gar keine eigene Produktion mehr im Lande. Allerdings kann Frankreich dank seines Unternehmens »Areva« (heute: »Orano«) seit 2012 seine Position als zweitgrößter Uranproduzent der Welt halten (vgl. World Nuclear Association 2020). Das französische Unternehmen sieht sich einer starken ausländischen Konkurrenz gegenüber (Kazatomprom, Kasachstan; Cameco, Kanada) und unternimmt daher große Anstrengungen, um Märkte zu besetzen oder sein Interesse zu schützen.

Der französische Konzern fördert vor allem Uranabbau in den Arlit-Minen in Niger. So wundert es nicht, dass der Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und seiner Energieversorgung eine der Motivationen für die militärische Intervention des Landes in der Sahelzone war. General Vincent Desportes gab dies auch offen zu: „Wenn Frankreich am 11. Januar 2013 (in Mali) keine Verpflichtung eingegangen wäre, hätten die größten Risiken […] für die sehr wichtigen Uranvorkommen in Niger bestanden“ (Chitour 2018). Trotz seines Urans bleibt der Niger am Ende der Rangliste der ärmsten Länder der Welt. Es handelt sich also um einen Reichtum, der nicht der Staatskasse zugutekommt, sondern den Firmen, die ihn ausbeuten.

Frankreich ist durch das Unternehmen »Total« auch an der Erdölförderung und der Förderung der Solarenergie in Mauretanien und Burkina Faso beteiligt. Im Jahr 2012 hatte »Total« angekündigt, „zwei Genehmigungen zur Erdölförderung mit den mauretanischen Behörden im Becken von Taoudéni unterzeichnet zu haben“ (Algeria-Watch 2012). Nicht wenige Analyst*innen sehen auch in diesem Engagement einen weiteren Grund für die französischen Interventionen der letzten Jahre.

Auch die Konsument*innen haben französische Konzerne im Blick, wie beispielsweise der Telekommunikationsanbieter »Orange«, der 2017 schon 110 Millionen Kund*innen in Afrika gegenüber 6,4 Millionen im Jahr 2004 vorweisen konnte (Piot 2017) oder erst kürzlich die Supermarktkette »Carrefour«, die sich allmählich in Ländern niederlässt, in denen eine entstehende Mittelschicht und eine beschleunigte Urbanisierung genügend potenzielle Kund*innen versprechen.

Die gehäufte Ansiedlung ausländischer Firmen auf afrikanischem Boden wird nicht immer wohlwollend betrachtet, weil sie keinen Platz für lokale Firmen lassen, die ebenfalls in diese Sektoren einsteigen möchten. Die multinationalen Konzerne dagegen profitieren von den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die Frankreich den afrikanischen Ländern aufgezwungen hat, und von der Verwendung der Kolonialwährung, dem Franc-CFA.

In der Tat gewähren die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den multinationalen Konzernen eine Steuerbefreiung von fast 80 %; so können sie mit viel Freiheit in den westafrikanischen Markt expandieren, während die Einheimischen gezwungen sind, Steuern an den Staat zu zahlen und wegen Franc-CFA Beschränkungen kaum Subventionen von den Banken erhalten, um ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die externalisierte Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Imperialismus lässt sich am Beispiel von »Orano« in Niger gut illustrieren, denn diese ruft in der afrikanischen Öffentlichkeit viel Kritik hervor. Im Gespräch mit Matteo Maillard (2018) porträtiert die Regisseurin eines Films über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Uranminen Nigers, Amina Weira, eine übermächtige »Orano«, gegen die aus Angst vor Repressionen nichts gesagt werden darf. Im Interview erzählt sie vom vergifteten Trinkwasser, den Häusern, die mit der Erde aus den Minen gebaut wurden, der verseuchten Nahrung und dem sterbenden Vieh. Sie schildert die unerträglichen Arbeitsbedingungen, das Schicksal der Mitarbeiter, die an den Folgen der Radioaktivität erkranken und sterben, das Leid der durch die Verschmutzung der Fabrik kontaminierten Frauen, die keine Kinder bekommen können oder Kinder mit Missbildungen haben. Sie spricht auch über den politischen Einfluss des staatlich geschützten Konzerns, der ohne Rücksicht auf internationale Gesundheitsforderungen produziert. Neben Amina Weira beklagen auch einige Nichtregierungsorganisationen wie »Aghir In‘man« und die »Kommission für unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität« (CRIIRAD), dass die lokale Bevölkerung in den Uranabbaugebieten den schädlichen Auswirkungen der Radioaktivität ausgesetzt ist.

Diese Beispiele verdeutlichen eindrücklich, warum die Stationierung ausländischer Firmen und die westliche Militärpräsenz in der Sahelregion Misstrauen bei der Bevölkerung und den Rebellengruppen erzeugt, die darin die Rekolonisierung der Region sehen. Angesichts dieses imperialistischen Raubzugs können wir nur für ein vereintes Afrika eintreten, denn, wie Nkrumah weiter sagte, „der Kampf gegen den Kolonialismus endet nicht, wenn die nationale Unabhängigkeit erreicht ist. Diese Unabhängigkeit ist nur das Vorspiel zu einem neuen und komplexeren Kampf … für die Rückgewinnung des Rechts, unsere wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten selbst zu regeln, frei von den überwältigenden und demütigenden Fesseln neokolonialer Herrschaft und Intervention“ (Nkrumah 1963).

Literatur

Abba, S. (2017): Niger: La victoire sur Boko Haram ne sera pas que militaire. LeMonde, 16.04.2017.

Algeria-Watch (2012): Instabilité dans la région du Sahel. Les ressources minières et énergétique attisent les convoitises. 30.04.2012.

Chitour, Ch. E. (2013): Les huit plaies de l‘Afrique. Cinquante ans d‘errance. L‘Expression, 11.06.2013.

Chitour, Ch. E. (2018): Grande bouffe du Sommet de l’Afrique: Un coup d’épée dans l’eau. Mondialisation.ca, 23.11.2018.

Chtatou, M. (2019): Sahel, poudrière internationale. Article 19.ma, 02.12.2019.

Deutsche Welle (DW) (2020): Mali. 4 hostages released in ‚prisoner swap‘. 08.10.2020.

Fondé, D.R. (2010): Otages, Areva, Total, Africom: Les enjeux cachés d’une occupation militaire du Sahel. Mondialisation.ca, 15.12.2010.

Galy, M. (2013): Pourquoi la France est-elle intervenue au Mali? In: (Ders.) (Hrsg.): La Guerre au Mali. Comprendre la crise au Sahel et au Sahara. Enjeux et Zones d’Ombre. Paris: La Découverte, S. 76-90.

Granvaud, R. (2017): Barkhane.Chronique d’un naufrage annoncé. Survie, Billets d‘Afrique No. 268, 05.06.2017.

Maillard, M. (2018): Niger. „A Arlit, les gens boivent de l’eau contaminée par la radioactivité“ Le Monde Afrique, 26.02.2018.

Mbembe, A. (2011): „En Côte d’Ivoire, c’est une démocratie sans éthique qui se construit“, Interview mit Sabine Cessou, Slate Afrique, 22.06.2011.

Nkrumah, K. (1963): Speech at the inaugural ceremony of the OAU Conference in Addis Ababa, Ethiopia, »We must unite now or perish«, 24.05.1963.

Piot, O. (2017): Les entreprises françaises défiées dans leur pré carré. Le monde diplomatique, April 2017, S. 22f.

Rigouste. M. (2017): Que fait l’armée française au Sahel? OrientXXI, 13.10.2017.

Sarambe, L. A. (2018): Les Mécanismes De Lutte Contre Le Terrorisme En Afrique De L’ouest: Quel Impact? Masterarbeit an der Universität von Ottawa.

Tchangari, M. (2017): Sahel. Aux origines de la crise sécuritaire. Conflits armés, crise de la démocratie et convoitises extérieures, Niamey.

World Nuclear Association (2020): World Uranium Mining Production. www.world-nuclear.org, Dezember 2020.

Dolly Katiutia Alima Afoumba hat einen Master in Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Als Aktivistin und Journalistin gibt sie Workshops und schreibt über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik.

Brennpunkt Nordwestkenia

Brennpunkt Nordwestkenia

Zwischen Klimawandel, Konflikten, Öl und Wind

von Janpeter Schilling

Häufigere Dürren, unzuverlässiger Regen und Gewaltkonflikte um Vieh, Land und Wasser plagen die Hirtenvölker im Nordwesten Kenias. Vor einigen Jahren wurden nun erhebliche Ölreserven in der Region gefunden, und es wurde der größte Windpark Afrikas gebaut. Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Bevölkerung?

Der Nordwesten Kenias ist eine trockene, dünn besiedelte Region. Die Menschen in den Counties (vergleichbar mit deutschen Bundesländern) Turkana und Marsabit leben überwiegend von ihren Herden aus Ziegen, Schafen, Kühen und Kamelen, mit denen sie auf der Suche nach Wasser und Weideflächen im Norden Kenias und in den Grenzregionen der Nachbarländer Uganda, Südsudan und Äthiopien umherziehen (Abb. 1). Am Turkanasee, einem der größten Salzseen der Welt, betreiben einige Gemeinschaften Fischfang. Landwirtschaft spielt aufgrund des trockenen Klimas so gut wie keine Rolle.

Die größte Herausforderung für die Menschen, besonders in Turkana, sind Gewaltkonflikte zwischen Hirtenvölkern. In bewaffneten Überfällen stehlen sich verschiedene Gruppen, besonders die Turkana, Pokot, Samburu und Rendille, gegenseitig ihr Vieh und kämpfen um die Kontrolle von Wasserstellen und Weideflächen. Die Konflikte kosten jedes Jahr mehrere hundert Menschen das Leben und führen zu Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung (Schilling et al. 2012).

Die zweite große Herausforderung für die Menschen in Nordwestkenia ist der Klimawandel. Er führt durch einen Anstieg der Temperaturen zu einem erhöhten Dürrerisiko und zu veränderten Niederschlagsmustern. Üblicherweise fällt der meiste Niederschlag während der »langen Regenzeit« zwischen März und Mai sowie in der »kurzen Regenzeit« zwischen Oktober und Dezember. In den letzten Jahrzehnten löst sich dieses Muster zunehmend auf, und Dürren treten in geringeren Abständen auf. Für die nomadischen Viehhalter wird es daher schwieriger zu wissen, wann und wo Wasser und Weideflächen verfügbar sind (Schilling et al. 2014). Die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Klima-Konflikt-Zange.

Seit Kenia 1963 die Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich erlangte, interessierte sich die Zentralregierung in Nairobi kaum für den Norden des Landes und dessen Probleme. Jahrzehnte der politischen und ökonomischen Marginalisierung führten dazu, dass der Norden der ärmste Teil des Landes wurde und sich nur eine sehr schwache Wirtschafts-, Bildungs- und Transport­infrastruktur entwickelte. Seit 2012 hat sich das Interesse der Zentralregierung an Turkana schlagartig erhöht. Der Grund: Es wurden signifikante Ölvorkommen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt waren außerdem die Pläne für einen Windpark am Turkanasee in Marsabit bereits weiter fortgeschritten; Anfang 2017 wurden die letzten der insgesamt 365 Turbinen aufgestellt (Schilling et al. 2018).

Bieten Erdöl und Windenergie für die lokale Bevölkerung einen Ausweg aus der Klima-Konflikt-Zange, oder verschlechtert die Ausbeutung der Ressourcen gar die Situation? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach. Dazu werden zunächst die Auswirkungen der Ölexploration und des Windparks diskutiert, bevor eine abschließende Bewertung erfolgt.

Die Auswirkungen von Öl auf die lokale Bevölkerung

Die Bevölkerung, die in Turkana in der Nähe der Erdölexploration lebt, profitiert von dieser insbesondere durch Beschäftigungsmöglichkeiten, einer (zumindest kurzfristig) höheren Wasserverfügbarkeit, neuen Straßen und Schulgebäuden sowie einer verbesserten Sicherheitslage in der Nähe der Ölanlagen, der Stimulation der lokalen Wirtschaft und den Einnahmen aus der Ölförderung. Allerdings sind all diese Vorteile im Umfang und zeitlich sehr begrenzt (Schilling et al. 2018). In einer Region, in der formale Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten kaum vorhanden sind, ist es für die lokale Bevölkerung besonders wichtig, auf diesem Weg vom Öl zu profitieren. Das sehr geringe Bildungsniveau in Turkana ermöglicht der lokalen Bevölkerung jedoch nur Zugang zu sehr einfachen Jobs, deren Verfügbarkeit sich zudem meist auf die frühe Phase der Ölerschließung beschränkt. Zu dieser Zeit werden vor allem Arbeitskräfte gebraucht, die Büsche für die infrastrukturelle Erschließung entfernen, und weitere Arbeiter, die aufpassen, dass es nicht zu Unfällen zwischen Fahrzeugen und Personen oder Vieh kommt. Später werden dann nur noch Sicherheitskräfte benötigt, die jedoch überwiegend nicht aus Turkana kommen.

Nach entsprechenden Forderungen der lokalen Bevölkerung ließ die operierende Ölfirma Tullow an einigen Hauptstraßen Tanks errichten, die regelmäßig von der Firma gefüllt werden und so zusätzliche Wasserstellen für die lokale Bevölkerung und ihre Herden bieten. Allerdings schaffen die Wasserstellen eine Abhängigkeit von der Firma, die die Befüllung der Tanks jederzeit stoppen kann. Mittel- bis langfristig ist davon auszugehen, dass sich die Wasserverfügbarkeit für die lokale Bevölkerung verschlechtern wird, da für die Ölförderung erhebliche Mengen an Wasser benötigt werden. Tullow hat selbst bestätigt, dass zur Förderung von einem Fass Öl die drei- bis vierfache Menge an Wasser gebraucht wird (Mbugua 2017). Das Ölvorkommen in Turkana wird auf 560 Millionen Fass geschätzt. Ab 2022 sollen bis zu 100.000 Fass pro Tag gefördert werden (Akwiri 2019). Tullow und die lokale Bevölkerung konkurrieren damit um die selbe Ressource, jedoch mit sehr ungleichen Mitteln.

Die geplante Ölförderung verbessert die bestehende, überwiegend marode Straßeninfrastruktur, jedoch werden nur jene Straßen aus- bzw. neu gebaut, die zu den Ölförderanlagen führen. Der Nutzen für die lokale Bevölkerung ist daher begrenzt. Der Bau von einigen neuen Schulgebäuden wurde durch Tullow finanziert, ebenso die Anschaffung von Schulbüchern. In der direkten Umgebung der Ölförderung verbesserte sich zudem die Sicherheitslage, da Tullow eigene Sicherheitskräfte beschäftigt und Viehdiebstähle dadurch zurückgegangen sind. Allerdings beschäftigte Tullow zumindest zu Beginn auch Sicherheitskräfte aus der Region, die dann in ihren Dörfern nicht mehr zum Schutz zur Verfügung standen (Schilling et al. 2018). Seit die Ölexploration im Jahr 2012 begann, kommen viel mehr Menschen in die Region. Dies führte zu einem Anstieg an Übernachtungsmöglichkeiten, einfachen Restaurants und Bars. Diese Entwicklung ist besonders in der Kleinstadt Lokichar zu beobachten, die zu einer Boomtown und zum Zentrum der Ölförderung wurde (Abb. 1). Von den staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung profitieren die lokalen Gemeinden kaum. Lediglich 5 % der Einnahmen sind für sie vorgesehen, während 20 % an die County-Regierung und 75 % an die Zentralregierung gehen (Akwiri 2019).

Den Vorteilen aus der Ölexploration und -förderung stehen erhebliche negative Auswirkungen entgegen. Die Diskrepanz zwischen der Erwartung der lokalen Bevölkerung, einen (dauerhaften) Job bei Tullow zu erhalten, und dem tatsächlichen Beschäftigungsangebot führte zu anhaltenden Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und Tullow. Diese zeigen sich in Straßenblocken und vereinzelten Angriffen auf Ölförderungseinrichtungen. Da die lokale Bevölkerung keine Landrechte besitzt, wurde sie für das zur Ölförderung eingezäunte und damit verlorene Land nicht entschädigt. Auch wenn die geplante Ölpipeline überwiegend unter der Erdoberfläche verlaufen soll, darf aufgrund der erheblich höheren Kosten bezweifelt werden, dass dies tatsächlich realisiert wird. Eine oberirdisch verlaufende Pipeline würde aber die Migrationsrouten der Viehhalter und ihrer Herden beinträchtigen. Ohnehin ist zu befürchten, dass ohne strenge Umweltauflagen und deren Einhaltung die Ölförderung zu einer erheblichen Verschmutzung von (Grund-) Wasservorkommen und (Weide-) Land führen wird (Schilling et al. 2018). Dies wird sich jedoch erst zeigen, wenn die Ölproduktion in einigen Jahren voll angelaufen ist. Dann wird auch der bereits erwähnte Effekt auf die Wasserverfügbarkeit zum Tragen kommen.

Die Auswirkungen des Windparks auf die lokale Bevölkerung

Die Region, in der der Windpark errichtet wurde, ist sehr dünn besiedelt. Sarima, ein Dorf mit etwa 2.000 Einwohner*innen, musste um zwei Kilometer verlegt werden, um dem Windpark und dessen Zufahrtsstraßen Platz zu machen (Schilling and Werland, im Erscheinen). Im Vergleich zu der Ölexploration fallen sowohl die Vorteile als auch die Nachteile für die Bevölkerung von Sarima und der gut zwei Autostunden entfernten Siedlung Loiyangalani geringer aus (Schilling et al. 2018). Der Beschäftigungseffekt beschränkte sich fast ausschließlich auf die Bauphase des Parks, die im März 2017 endete. Auch hier standen einfache Tätigkeiten im Vordergrund, wie die Entfernung von Büschen. Seit der Fertigstellung des Windparks werden nur noch sehr wenige Mitglieder der Gemeinde von Sarima beschäftigt, insbesondere als Wachleute oder zur Versorgung des Camps des Windkraftbetreibers Lake Turkana Wind Power (LTWP).

Da die Anlieferung der Windkraftanlagen aus Süden erfolgte, verbesserte sich die Anbindung von Sarima an Loiyangalani nicht, wohl aber die Erreichbarkeit von South Horr, einer südlich gelegenen Kleinstadt. Dies führte unter anderem zu einem schnelleren Busverkehr zwischen South Horr und Sarima. Die Wasserversorgung verbesserte sich für Sarima nur vorübergehend. LTWP bohrte einen Brunnen im Dorf und installierte eine Entsalzungsanlage, die jedoch nach kurzer Zeit nicht mehr funktionierte, sodass die Dorfgemeinschaft seitdem das unbehandelte Wasser konsumiert. Anders als bei der Ölförderung sind für die Produktion von Windkraft keine größeren Wassermengen nötig, da es sich bei der Kühlung der Turbinen um einen geschlossenen Kreislauf handelt. Inwieweit der Schattenwurf und die Geräusch­emissionen die Bevölkerung von Sarima beeinträchtigen, ist bisher nicht untersucht. Allgemein haben Studien negative Gesundheitsfolgen von Windkraftanlagen, z.B. Stress, nachgewiesen (siehe Freiberg et al. 2019 für einen Überblick). In Sarima sind diese besonders wahrscheinlich, da der Windpark aufgrund fehlender gesetzlicher Mindestabstände direkt an das Dorf angrenzt (Abb. 2).

Der Windpark hat eine Gesamtkapazität von 310 Megawatt; damit ist er der größte auf dem afrikanischen Kontinent. Seit Oktober 2018 ist der Windpark an das Stromnetz Kenias angeschlossen, 1,5 Jahre nach seiner Fertigstellung. Allerdings gehört sowohl die Bevölkerung von Sarima als auch die von Loiyangalani weiterhin zu dem Viertel der kenianischen Bevölkerung, das über keinen Stromanschluss verfügt (Schilling and Werland, im Erscheinen).

Lösungsperspektiven

Auf der einen Seite bewaffnete Konflikte, auf der anderen der Klimawandel – die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Zange. Die erheblichen Erdölvorkommen und der größte Windpark Afrikas bieten keinen Ausweg. Im Gegenteil, die kaum regulierte Erdölförderung bedroht die Wasser- und Landressourcen und damit die Lebensgrundlage der Hirtenvölker. Öl könnte für sie zur Sackgasse werden. Am Turkanasee wiederum wird klimafreundlicher Strom für das nationale Stromnetz produziert, während die direkten Nachbarn des Windparks weiter im Dunkeln sitzen. Gerechte Entwicklung sieht anders aus.

Was also müsste passieren, damit Öl und Wind der lokalen Bevölkerung eine positive Perspektive bieten? Zunächst müsste die Zentralregierung in Nairobi die Ölvorkommen und den Windpark als Chance verstehen, die lange Geschichte der Vernachlässigung und Marginalisierung des Nordwestens hinter sich zu lassen, massiv in die Wirtschafts-, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur der Region zu investieren und gleichzeitig die Lebensform der Hirtenvölker anzuerkennen und zu stärken. Sowohl die Einnahmen aus der Ölproduktion als auch die neuen Strukturen im Rahmen des kenianischen Dezentralisierungsprozesses bieten die Chance, erhebliche Investitionen vor Ort zu tätigen, anstatt Öl als Bereicherungsinstrument für die Zentralregierung zu verstehen. Da sich die negativen Effekte der Ölförderung und der Windenergiegewinnung auf der lokalen Ebene entfalten, muss dies auch für die Vorteile gelten. Der Großteil der Öleinnahmen sollte daher der lokalen Bevölkerung zugesprochen werden. Sarima und Loiyangalani müssen umgehend an das Stromnetz Kenias angeschlossen werden. Aufgrund der Nähe zum Windpark wäre dies nach Einschätzungen von Ingenieuren kostengünstig und einfach machbar (Schilling and Werland, im Erscheinen). Dies würde zudem sehr wahrscheinlich die Akzeptanz des Windparks in der Bevölkerung erhöhen.

Darüber hinaus muss die lokale Bevölkerung vor den negativen Umweltauswirkungen der Ölförderung und der Windkraftanlagen geschützt werden. Hierzu bedarf es einer strengeren (Umwelt-) Gesetzgebung, die aktuell verschleppt wird, und deren konsequenten Anwendung und Kontrolle. Die bisherigen Governance-Strukturen und das insgesamt hohe Korruptionsniveau in Kenia geben jedoch wenig Hoffnung, dass die hier formulierten Vorschläge bei der kenianischen Zentralregierung auf offene Ohren stoßen. Es ist daher wichtig, auch andere Akteure in den Blick zu nehmen. Tullow und LTWP haben zwar Recht, wenn sie anführen, dass der Bau von Straßen und Schulen nicht ihre, sondern die Aufgabe des Staats ist. Dennoch sind die Unternehmen für negative (Umwelt-) Auswirkungen verantwortlich, und sie müssen daher alles dafür tun, diese Auswirkungen und falsche Erwartungen in der lokalen Bevölkerung zu vermeiden.

Die lokalen Gemeinschaften sind aufgrund ihres geringeren Bildungsniveaus und der kaum vorhandenen Finanzmittel in einer schwachen Position. Bisher reagieren sie auf die Ungerechtigkeit vor allem mit dem Einsatz von Gewalt, meist in Form von Straßensperren. Unterstützt von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), könnten sie sich auch auf anderen Wegen für ihre Interessen einsetzen. Zum Beispiel könnten NGOs als Vermittler im Konflikt auftreten, helfen, kooperative (Netzwerk-) Strukturen aufzubauen, und die verschiedenen Parteien, insbesondere Vertreter der Unternehmen, der lokalen Gemeinschaften und der Regierung, an einen Tisch bringen und für regelmäßigen Austausch sorgen. Eine Studie aus Südkenia zeigt, dass solche Ansätze Konflikte um Ressourcen entschärfen können (siehe Ngaruiya and Scheffran 2016). In Turkana und Marsabit fehlen solche Initiativen bislang, obwohl gerade in Turkana viele internationale Entwicklungs- und Peacebuilding-Organisationen vertreten sind.

Letztlich müssen der Jugend der beteiligten Konfliktparteien attraktive Einkommensalternativen zu bewaffneten Überfällen und Straßenblockaden gegeben werden, wenn der Nordwesten Kenias eine echte Chance auf eine friedliche Entwicklung haben soll. Gelingt dies nicht, wird besonders in Turkana das Öl weiter Gewaltkonflikte anheizen.

Literatur

Akwiri, J. (2019): Kenya’s First Crude Oil Export Sparks Demands Over Revenue Sharing. reuters.com, 26.8.2019.

Freiberg, A.; Schefter, C.; Girbig, M.; Murta, V.C.; Seidler, A. (2019): Health Effects of Wind Turbines on Humans in Residential Settings – Results of a Scoping Review. Environmental Research, Vol. 169, Nr., S. 446-463.

Mbugua, S. (2017): Oil-rich yet on Edge in Turkana. The New Humanitarian, 6.11.2017.

Ngaruiya, G.W.; Scheffran, J. (2016): Actors and Networks in Resource Conflict Resolution Under Climate Change in Rural Kenya. Earth System Dynamics, Vol. 7, Nr. 2, S. 441-452.

Schilling, J.; Opiyo, F.; Scheffran, J. (2012): Raid­ing Pastoral Livelihoods – Motives and Effects of Violent Conflict in North-western Kenya. Pastoralism, Vol.. 2, Nr. 25, S. 1-16.

Schilling, J.; Akuno, M.; Scheffran, J.; Weinzierl, T. (2014): On Raids and Relations – Climate Change, Pastoral Conflict and Adaptation in Northwestern Kenya. In: Bob, U.; Bronkhorst, S. (eds.): Conflict-sensitive Adaptation to Climate Change in Africa. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, S. 241-268.

Schilling, J.; Locham, R.; Scheffran, J. (2018): A Local to Global Perspective on Oil and Wind Exploitation, Resource Governance and Conflict in Northern Kenya. Conflict, Security & Development, Vol. 18, Nr. 6, S. 571-600.

Schilling, J.; Werland, L. (im Erscheinen): Interaction between Wind Energy, Climate Vulner­ability and Violent Conflict in Northern Kenya. In: Brzoska, M.; Scheffran, J. (eds.): Climate Change, Security Risks, and Violent Conflicts. Hamburg: Universität Hamburg, S. 65-79.

Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-Stiftungsjuniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.