»Freiwillige« Kolonialisierung?

»Freiwillige« Kolonialisierung?

Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika

von Dolly Afoumba

Wie ist die Existenz dominanter Wirtschafts-, Kultur- und Militärinstitutionen in Westafrika nach dem Ende des formellen Kolonialismus zu verstehen? Weshalb scheint ein »freiwilliger« Kolonialismus fortzubestehen? Was genau ist darunter zu verstehen? Der Beitrag versucht sich an der Analyse der neokolonialen Herrschaftsmuster, die sich im Franc CFA, der Frankophonie und militärischen Abkommen mit ehemals kolonisierten Staaten widerspiegeln, und diskutiert kritisch deren Rolle und Einfluss.

In diesem Artikel setze ich mich mit der Idee des »freiwilligen« Kolonialismus auseinander. Was ist »freiwilliger Kolonialismus«? Wie drückt sich die Freiwilligkeit in den heutigen Beziehungen zwischen Frankreich oder auch Deutschland und ihren ehemaligen Kolonien aus? Es gilt herauszufinden, inwiefern die Institutionen oder Abkommen, die beide Seiten sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch militärisch verknüpfen, zur Aufrechterhaltung des (neo-)kolonialen Systems beitragen.

»Freiwillige Kolonisierung«?

Die Idee des Willens, beherrscht oder unterworfen werden zu wollen, wurde von Kaku Nubukpo und anderen zumindest für den frankophonen Raum popularisiert (Nubukpo et al. 2016). Der togolesische Ökonom Nubukpo ist der Ansicht, dass die Länder unter dem Franc-CFA-Regime freiwillig oder absichtlich dortgeblieben sind, da einige beschlossen hatten, die Franc-Zone zu verlassen. Er spricht daher von »freiwilliger Knechtschaft«. Ein gänzlich anderes Konzept »freiwilliger Kolonisierung« brachte US-Ökonom Paul Romer mit der Idee der »Charter Cities« ins Spiel. Die Idee war, dass neue afrikanische Städte geschaffen werden sollen, die mindestens 50 Jahre ausschließlich von westlichen Länder verwalten werden sollen. Hier würde ein Kolonialsystem freiwillig und im Vordergrund des Machtverhältnisses gesetzt werden.

Die Bezeichnung »freiwilliger Kolonialismus« hängt dabei von dem Bild ab, das man dem ehemaligen Kolonisierten zuschreibt, und wie er sich selbst sieht. Franz Fanon (2001 [1959], S. 12) schrieb schon 1959: „Der Kolonialismus kämpft, um seine Herrschaft und die menschliche und wirtschaftliche Ausbeutung zu stärken. Er kämpft auch, um das Bild, das er von den Algeriern hat, und das abgewertete Bild, das die Algerier von sich selbst hatten, identisch zu bewahren“. Dieses Zitat zeigt zu Recht, dass das Kolonialsystem von einem gewissen Minderwertigkeitskomplex genährt wird, den die Kolonisierten zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenüber den Kolonialherren haben: der Wunsch, geliebt zu werden. Die Freiwilligkeit könnte also von Menschen kommen, die ihres Selbstwertgefühls beraubt wurden. Sie glauben daher, der Dienst für ihre Herren würde ihnen mehr Selbstwertgefühl und Selbstliebe einbringen, als der eigenen Heimat zu dienen. Es scheint aber auch heute noch in der Forschung nicht klar zu sein, wie diese Freiwilligkeit zu verstehen ist. Es müsste noch mehr dazu geforscht werden, wann es gewollte und bewusste Handlungen sind und wann es sich eher um Handlungen unter Zwang handelt. Im weiteren Verlauf des Beitrags will ich dieser Idee der Freiwilligkeit auf drei Ebenen nachspüren und zu verstehen versuchen.

Wirtschaftliche Dimension: Der Fall »Franc CFA«

Mit der Idee von Kaku Nubukpo konnten die ganzen antikolonialen Proteste gegen die Währung Franc CFA in Afrika infrage gestellt werden. Die Proteste der afrikanischen Zivilgesellschaft gegen den Franc CFA begannen im Jahr 2016, genau dem Jahr der Erscheinung seines Werkes. So bot er den Medien den geeigneten und auch attraktivsten Slogan, um all diesen Bewegungen entgegenzuwirken. Es ging nicht mehr um Neo-Kolonialismus oder koloniale Kontinuität, sondern um die freiwillige Kolonisierung, an denen afrikanische Eliten profitieren. Für ihn galt es festzuhalten: „[D]ie lokalen Regierungen in Afrika sind diejenigen, die den Franc CFA wollen“ (Nubukpo 2016). Doch stimmt das?

Die Abkommen für die Gründung der kolonialen Währung Franc CFA wurden auf Initiative General De Gaulles im Jahr 1945 unterschrieben. Dies geschah in einem kolonialen Kontext, in dem Frankreich der einzige Entscheidungsträger war. Das erklärte Ziel bestand darin, Frankreich nach dem Krieg wieder die Kontrolle über seine verschiedenen Kolonien zu verschaffen. Nach einer Rezension des Buches von Soumaïla Cissé (2013) sollte diese Währung auch dazu dienen, „die Integration der ehemaligen französischen Kolonien in den internationalen Handel zu erleichtern“ (Haïdara 2016). Dies sollte durch zwei der vier Kernprinzipien des Franc CFA geschehen: die feste Parität und die freie Konvertierbarkeit des Franc CFA mit dem französischen Franc. Es ging also um die garantierte Konvertibilität der Kolonialwährung mit einer starken Währung, die auf dem internationalen Markt als solche anerkannt war. Eine Währung, die zugleich stark und stabil war und alle französischen Kolonien in sich vereinte. Alle Zutaten waren damit vorhanden, um die Kolonien davon zu überzeugen, dieses System nach der Unabhängigkeit beizubehalten. Dennoch traten 1955 mehrere Staaten wie Kambodscha, Laos und Vietnam aus dem System aus, die nordafrikanischen Länder folgten ebenfalls. Es blieben nur die französischsprachigen Länder südlich der Sahara. Sind sie denn angesichts dieses scheinbaren Altruismus Frankreichs aus reiner Freiwilligkeit geblieben?

Kako Nubukpo zufolge waren sie unter keinerlei Zwang, vielmehr stellte er die konkreten Erfahrungen einzelner Staaten in den Vordergrund. Er sagte in einem Interview, dass „die Erfahrung des Scheiterns von Guinea Conakry, das Ende der 1950er Jahre auf den Franc CFA verzichtete, den Eifer der afrikanischen Länder, die diesem Land hatten folgen wollen, abkühlte“ (Nubukpo 2016b). Er umging es jedoch, die Gründe für das Scheitern von Guinea Conakry unter der Regierung von Sékou Touré zu erklären. Frankreich nutzte vier Mittel, um die afrikanischen Staaten dazu zu zwingen, unter dem kolonialen Regime des Franc CFA zu bleiben.

Zunächst musste der Unabhängigkeitsdrang diesen Ländern durch die Sabotage der neu geschaffenen Währungen gebremst werden. So geschah es mit Guinea Conakry. Constantin Melnik erklärte, wie die französische Regierung den Wiederaufbauplan von Sékou Touré sabotierte, nachdem sein Land den Franc CFA verlassen hatte: „Der französische Geheimdienst würde Falschgeld herstellen, Guinea damit überschwemmen und so seine Wirtschaft schwächen sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärken. Die Fallschirmjäger des Service Action wurden mobilisiert. Im benachbarten Senegal wurden die sogenannten Maquisards ausgebildet, die bereit waren, alles zu tun, was der große weiße Zauberer, der Macht und Lohn verteilte, wollte. Es wurden Waffen und gefälschte Banknoten verschickt“ (Melnik 1994, S. 363).

Die Umsetzung dieses Projekts wird als »Operation Persil« bezeichnet. Dies erfahren wir in den Schriften von Maurice Robert (2014), damaliger Leiter der Afrika-Abteilung des SDECE (Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage). Diese Operation trug maßgeblich zur Schwächung der guineischen Wirtschaft bei. Heute wird Guinea missbräuchlich als Beispiel angezeigt, um jeden anderen Staat abzuschrecken, der aus dem Franc-CFA-System aussteigen möchte. Die Einführung von Falschgeld im zweiten Schritt führte zu Inflation und zu einem monetären Chaos auf dem Binnenmarkt Guineas. Der Staat war nicht mehr in der Lage, die Menge des Geldes im Land sowie die Kapitalzuflüsse und -abflüsse zu kontrollieren; die Unternehmen und die Bevölkerung wussten nicht genau, ob sie legitimes Geld oder Falschgeld in ihren Kassen hatten. Der Vertrauensverlust in die Währung führte zu weiterer Destabilisierung des Landes.

Frankreich nutzte auch die Strategie der Isolierung. Im Jahr 1965 war Guinea, wie heute beispielsweise Mali, durch Frankreich und seine Verbündeten in Westafrika isoliert. Die Elfenbeinküste, Niger, Senegal und Burkina Faso brachen ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Guinea ab (Société Générale Guinée o.J.). Zwischen der Sabotage seiner Währung, Putschversuchen (wie 1961) und wirtschaftlicher Isolation konnte die Wirtschaft Guineas keinerlei Fortschritt erzielen.

Andere Länder versuchten ebenfalls, aus diesem System auszusteigen, wie z. B. Togo unter Sylvanius Olympio im Jahr 1960. Nach dessen Ermordung 1963 stieg Togo wieder in das Franc-CFA-System ein. Mali unter Modibo Keita kann ebenso als ein Beispiel gelten. Mali wurde ebenso wie Guinea Conakry isoliert und trat am 01. Juni 1984 nach dem Sturz und Tod von Keita wieder dem Franc-CFA-System bei (Tambour 2021).

Die französische Regierung ist die oberste Instanz bei der Verwaltung des Franc CFA. Zu den Prinzipien des Franc CFA gehört auch die Fixierung der Parität. Eine solche Garantie wäre für Investoren attraktiv, da sie sich keine Sorgen um die Volatilität der Währung machen müssten. Seit seiner Einführung hat der Franc CFA jedoch mehrere Abwertungen erfahren, die einseitig von Frankreich beschlossen wurden. Dies lernen wir von der Forschung des ivorischen Ökonom Nicola Agbohou. Nach der Abwertung des Franc CFA im Jahr 1994 sagte Édouard Balladur, der damalige französische Premierminister, der Franc CFA wurde 1994 auf Betreiben Frankreichs abgewertet, weil es uns schien, dass dies die beste Formel war, um diesen Ländern (den Afrikanern) bei ihrer Entwicklung zu helfen“ (Jeune Afrique Economique 1994, zitiert von Agbohou 1999). Später erinnert er daran, dass „die Währung kein technisches, sondern ein politisches Thema ist, das die Souveränität und Unabhängigkeit der Nationen berührt“. Ein Ausbruch des französischen Ministers, der viel über die wahren Entscheidungsträger der Währungspolitik in den Ländern des Franc CFA aussagt. Mit dieser Währung besetzt Frankreich nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle Führung dieser Länder, sondern auch ihre Souveränität. Zudem wurde diese Abwertung deutlich von afrikanischen Führern verweigert. Agbohou (1999) berichtet, dass Omar Bongo, Präsident von Gabun, und Gnassingbé Eyadema, Präsident von Togo, diese Entscheidung anprangerten: „Wir wurden in denselben Korb geworfen“, bedauerte Bongo. „Frankreich […] hat […] entschieden. Die afrikanischen Stimmen zählten nicht viel“, sagte Gnassingbé. Die Stimme der westafrikanischen Zivilgesellschaften war erst recht weder gefragt noch wurde sie berücksichtigt. Ein ähnlich koloniales Verhältnis zur Währung Franc CFA wurde im Jahr 2019 sichtbar, als im französischen Parlament über »das Ende des CFA Franc« debattiert wurde. Die westafrikanischen Bevölkerungen, geschweige denn ihre Regierungen, die diese Währung benutzen, waren nicht gefragt und nicht eingeladen. Institutionell drückt sich das neokoloniale Verhältnis des Franc CFA darin aus, dass die Debatten auf den außerplanmäßigen Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der CEMAC (Central African Economic and Monetary Community) und WAEMU (West African Economic and Monetary Union) immer unter der Aufsicht des französischen Finanzministers und der Direktorin des IMF (International Monetary Fund) stattfinden.

All dies zeigt, dass es eine wahrhaft töricht wäre, im Fall des Franc CFA von freiwilliger Knechtschaft zu sprechen.

Auf kultureller Ebene: die Frankophonie

Zunächst einmal ist es schwierig, eine kulturelle Institution als kolonial zu bezeichnen. Aber die Mittel der Herrschaft sind zahlreich und die Sprache ist eine furchtbare Waffe bei der Unterwerfung von Völkern. Die Geschichte, in die sich die Gründung der Frankophonie einreiht, ist die Geschichte des Verbots der lokalen Sprachen in Behörden, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zugunsten des Französischen, das die Sprache der Zivilisation sein sollte. Kolonialgesetze und Gesetze zur Klassifizierung von »Rassen« wie der »Code de l’indigénat« in Algerien wurden in französischer Sprache verfasst. Die Schule in den französischen Kolonien und Protektoraten wurde auf Französisch abgehalten. Es wird sogar berichtet, dass während dieser ganzen Zeit Kinder, die in der Schule nicht Französisch sprachen, streng bestraft werden konnten. Afrikanische Soldaten, die während der europäischen und der Weltkriege an der Seite der französischen Armee gekämpft hatten, sangen das sogenannte »Lied der Afrikaner«, eine spezielle französische Hymne der afrikanischen Soldaten. Es ist also nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die sich auf Kosten der lokalen Kulturen durchsetzt.

Es gab eine administrative und soziopolitische Auferlegung der Sprache, die es im Sinne der Kolonialisten ermöglichen sollte, die Afrikaner*innen zu »zivilisieren«, um sie aus ihrer »Primitivität« herauszuholen. Gleichzeitig wurden die lokalen Sprachen einer Kategorisierung und Hierarchisierung unterworfen. Sie wurden als Sprachen »ohne« betrachtet, d.h. Sprachen ohne Geschichte, ohne Kulturen usw. Diese Logik der Hierarchisierung und Kategorisierung der afrikanischen Sprachen existiert heute noch. So erklärten die beiden Linguistinnen Cécile Canut und Mariem Guellouz, dass Strafen, die von Frankreich während der Kolonialzeit angewandt wurden, um Schüler*innen zu verbieten, ihre lokalen Sprachen in der Schule zu sprechen, auch heute noch angewandt werden (Canut und Guellouz 2019). Ihre Behauptungen wurden von Zeug*innen aus Burkina Faso, Senegal und Mali bestätigt. Es geht zum Beispiel darum, dass die zu bestrafende Schüler*in den ganzen Tag vom Unterricht bis nach Hause einen »verfaulten« Eselsschädel auf dem Kopf tragen musste. Zu Hause führen sogar einige Eltern diese Unterdrückung fort, indem sie als Folge dieser Strafe ihren Kindern das Sprechen der Heimatsprachen verbieten. In den Ländern des Franc CFA ist Französisch nach wie vor die offizielle Landessprache. Obwohl Französisch mittlerweile eine globale Sprache mit mehr afrikanischen Sprecher*innen als französischen Staatsbürger*innen ist, bleibt Frankreich der führende Staat in der Frankophonie selbst. Wie die Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès (2018) treffend erklärte: „Es ist nicht so, nur weil ich Französisch spreche, dass ich Ideen einbringen muss, die unbedingt Ideen der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sind. Ich kann entgegen auf Französisch Ideen einbringen, die Ideen der Mandeng-Erklärung (Erklärung der Menschenrechte in Afrika aus dem 19. Jahrhundert) sind.“ Anders gesagt, die französische Sprache muss nicht nur benutzt werden, um über die Werte und die Geschichte Frankreichs zu berichten. Frankophone Sprecher*innen müssen die Freiheit haben, auf Französisch über ihre Kultur, Werte und Geschichte zu berichten.

Es wäre daher für die Dekolonisierung der Frankophonie wichtig, dass Französisch auf die spezifischen Werte und Identitäten der Völker hört, die diese Sprache nun auch sprechen, aber nicht die gleiche kulturelle Geschichte wie die Französ*innen haben. Um dies zu erreichen, muss Französisch zu einer Sprache des geteilten Ausdrucks werden und nicht zu einer Sprache, die eine bestimmte Kultur aufzwingt. Franz Fanon sagte zu Recht: „Der Kolonialismus zwingt die Wiederholung des kulturell Identischen als ein Schicksal auf, das für seine eigene Stabilität funktional ist. Als Folge davon schließt sich die Kultur der Kolonisierten, ‚einst lebendig und offen für die Zukunft‘, erdrückt von der militärischen, wirtschaftlichen und symbolischen Unterdrückung durch den Kolonisator, erstarrt im kolonialen Status, gefangen im Korsett der Unterdrückung. Zugleich präsent und mumifiziert attestiert sie gegen ihre Mitglieder. Sie definiert sie in der Tat unwiderruflich“ (Fanon 2001 [1959], S. 41). Die afrikanischen Staaten, die sich von dieser kolonialen Bindung nach der Unabhängigkeit trennen wollten, wählten die lokalen Sprachen als erste Amtssprachen. Dies war beispielsweise in Ruanda der Fall, das Swahili zur Amtssprache erklärte. In jüngerer Zeit war diese Entsagung in Mali der Fall, das Bambara als offizielle Sprache gegen die ehemalige Amtssprache Französisch wählte. Allein diese sprechen dafür, dass die Entfernung von Französisch als erster Amtssprache in ehemaligen Kolonien in Afrika auch ein Märtyrerakt der Unabhängigkeitserklärung ist. Dies beweist, dass die Spitzenposition des Französischen auf Kosten lokaler Sprachen nicht das Ergebnis einer kreativen Aneignung der kolonialen Sprache ist, sondern vielmehr das der Dominanz Frankreichs über diese Länder darstellt.

Auf der militärischen Ebene

Auf militärischer Ebene ist die Redewendung »mit Zustimmung der Regierung« das meistgenutzte Argument der europäischen Mächte, die sich auf afrikanischem Boden niedergelassen haben. Am Beispiel Malis lässt sich zeigen, wie neokoloniale Tendenzen immer noch alltägliche Praxis vieler Staaten darstellen. Am 13. Januar 2022 verbot die neue militärische Übergangsregierung Malis sowohl französischen Truppen als auch den weiteren Kräften der europäischen Task Force Takuba den Zugang zu seinem Territorium. Noch am selben Tag beschuldigte Mali die französische Armee, seinen Luftraum verletzt zu haben (France24 2022). Am 14. Januar erklärte Frankreich wiederum, es handle legitim, da Mali 2013 und 2020 zwei Abkommen in Form von Briefwechseln unterzeichnet habe, die den Einsatz seiner Armee vor Ort rechtfertigten (Houmfa 2022). Durch diese Antwort bestätigte Frankreich, dass es mit seiner Präsenz in Mali eher ein imperialistisches Ziel als den Kampf gegen Terroristen verfolgte. Bei diesem Verbot bezog sich die malische Regierung auf das »Prinzip der Gegenseitigkeit«, und betrachtete es als Antwort auf Sanktionen Frankreichs und seiner westafrikanischen Verbündeten, die diese aufgrund des gewaltlosen Putsches im Mai 2021 verhängt hatten. Mali ist ein souveräner Staat und seine Regierung hat das Recht, sich seine Partnerländer beim Kampf gegen den Terrorismus selbst auszuwählen. Frankreich sieht die »Abkommen« aber als Beweis der freiwilligen Kolonisierung. Gemäß diesem Abkommen gelte: „Das Personal der französischen Truppe bewegt sich ohne Einschränkung auf dem Hoheitsgebiet der Republik Mali einschließlich ihres Luftraums unter Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und ohne dass es eine Begleitung durch die Kräfte der malischen Seite beantragen muss“ (zitiert nach: Accord 1901 vom 7.3.2013 und Zusatzprotokoll). Kurz gesagt geht es hierbei um eine bewusste Selbstaufgabe der eigenen Souveränität an die Armee der ehemaligen Kolonialmacht. In diesem Zusammenhang wurde Deutschland auch beschuldigt, den malischen Luftraum verletzt zu haben. Im Januar 2022 wurde ein deutsches Militärflugzeug von der malischen Regierung zurückgewiesen (Tognon 2022), doch das Land schloss sich Frankreich an und weigerte sich, die Souveränität Malis in diesen Fragen zu respektieren. Am 18. Februar 2022 forderte die Regierung Malis dann den unverzüglichen Abzug der Militäroperationen »Barkhane« und »Takuba« aus Mali. Eine Entscheidung, die Frankreich nicht mehr dazu zwang, einen Abzug in Erwägung zu ziehen, sondern zu gehen.

Diese Analyse zeigt, dass es auf wirtschaftlicher, kultureller und sogar militärischer Ebene nicht sinnvoll ist, von einer »freiwilligen Kolonisierung« in der Zone der westafrikanischen Frankophonie bzw. der Länder des Franc CFA zu sprechen, da diese Staaten in den meisten Fälle in kolonialen Kontinuitäten gebunden ihre Souveränität über Geldpolitik, Kultur oder Militärpolitik aufgeben. Der Fall Mali zeigt auch, dass dies Neo-Kolonisierung von einem Staatsoberhaupt gewollt werden kann, der gegen das Interesse seines Volkes zugunsten der Kolonialmacht handelt. Im Fall der Länder der Frankophonie ist es klar, dass sie in vielen Fragen immer noch unter dem Einfluss der kolonialen Ideologie ihrer Gründungszeit stehen.

Literatur

Agbohou, N. (1999): La France et l’Euro contre l’Afrique. Pour une monnaie africaine et la coopération Sud-Sud. Paris: Editions Solidarite Mondiale.

Canut, C.; Guellouz, M. (2019): Les Africains ont-ils été dépossédés de leurs langues au cours de l’histoire ? Interview bei RFI, 28.01.2019.

Cissé, S. (2013): De belles années au service de l’intégration régionale. Abidjan: Edition Eburnie.

Fanon, F. (2001[1959]): L’An V de la révolution algérienne (1959). Paris: Éditions La Découverte.

France 24 (2022): Le Mali dénonce une «violation» de son espace aérien par un avion militaire français. 13.01.2022.

Haïdara, B. (2016): Le franc CFA, véritable élément d’intégration africaine ou instrument d’une dépendance perpétuelle vis-à-vis de la France? Lamenparle, Hypotheses.org, 27.6.2016.

Houmfa, M. (2022): Violation de l’espace aérien malien: la France se dit protégée par des accords existants. Voa Afrique, 14.1.2022.

Melnik, C. (1994): Un espion dans le Ciecle. La diagonale du double (Non Fiction). Paris: Ed. Plon.

Nubukpo, K. (2016): Le Franc CFA est un outil de la servitude volontaire. Videointerview mit France24.

Nubukpo, K. et al. (Hrsg.) (2016): Sortir l’Afrique de la servitude monétaire. À qui profite le franc CFA? Paris: La Dispute.

Robert, M. (2014): Ministre de l’Afrique. Entretiens avec André Renault. Roubaix: Seuil.

Société Générale Guinée (o.J.): Histoire de la Guinée. Webseite.

Tambour (2021): 1 juillet 1962. Le 1er président Malien Modibo Keita retire de facto le Mali de la zone franc en créant le franc malien. Website, 1.7.2021.

Tognon, A. (2022): Mali. Un avion militaire allemand refoulé par le régime Goïta. La Nouvelle Tribune, 20.01.2022.

Vergès, F. (2018): Il faut décoloniser la francophonie. Interview bei France 24, 11.10.2018.

Dolly Afoumba ist Bildungsreferentin und Doktorandin im Fachbereich Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Sie schreibt regelmäßig über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts-, Militär- und Währungspolitik.

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Wie ein Stein, der Wurzeln schlägt

Zwischenmenschliche Beziehungen nach dem Völkermord in Ruanda

von Amélie Faucheux

Kann eine Beziehung zwischen einer Person und den Mitgliedern der Gemeinschaft, die ihre Angehörigen vergewaltigt und ermordet haben, wiederhergestellt werden? In einer historisch einmaligen Konstellation müssen die meisten der ehemaligen Täter*innen des ruandischen Tutsi-Völkermords von 1994 und ihre Opfer wie zuvor zusammenleben. Doch wie kann eine Beziehung wiederhergestellt werden, wenn ein abgrundtiefes Ausmaß an Gräueltaten zwischen den Menschen liegt? In diesem Artikel werden drei Ansätze vorgestellt, die die Fähigkeit zur Koexistenz fördern: die Formalisierung der Wahrheit, das gemeinsame Erzählen intimer Geschichten sowie eine erfolgreiche Zusammenarbeit.

Von Anfang April bis Anfang Juli 1994 wurden zwischen 800.000 und einer Million Menschen ermordet (75 % der Tutsi-Bevölkerung Ruandas). Im direkten Nachgang hatten die meisten Überlebenden (ca. 300.000), die nur deshalb gejagt wurden, weil sie zu den »Tutsi« gehörten, körperliche Wunden, die von Macheten, Spitzhacken, Hämmern usw. stammten. Nachdem sie sich im Busch oder unter Leichen in Kirchen, Schulen oder Häusern versteckt hatten, waren sie oft ohne Dach über dem Kopf, zum Betteln gezwungen und fühlten sich furchtbar allein. Wie eine Betroffene selbst sagt: „Ich habe meinen Mann, meine Kinder und mein Vieh verloren. Ich habe niemanden mehr außer denen, die vor meinem Haus stehen und meine Töchter getötet haben.“ 1

Darüber hinaus wurden von den insgesamt sieben Millionen Einwohner*innen Ruandas vor April 1994 nach und nach fast zwei Millionen Anklagen gegen Beteiligte an den Massakern eingereicht. Für die Opfer fühlte es sich also an, als wären die Mörder*innen überall, und als der Einsatz von Macheten in der Landwirtschaft kurz nach den Massakern wieder zugelassen wurde, flammte die Angst wieder auf, gejagt zu werden. Zu dieser lebendigen Belastung kam noch ein akutes Gefühl der Ohnmacht hinzu: ohne Lebensunterhalt zu sein und zehn Jahre lang mit ansehen zu müssen, wie ihr Weideland von anderen bewirtschaftet wurde. Einige Mörder*innen hatten ihnen ihre Parzellen weggenommen, und bis zum Beginn der Verhandlungsprozesse hatte die Minderheit kaum Gehör, da es keine Unterlagen über den früheren Besitz gab und nur die Aussage der einen gegen die anderen stand. Als sich Anfang der 2000er Jahre die Einrichtung eines Gerichtsverfahrens abzeichnete und die Gefahr bestand, dass sie ihr Land zurückgeben müssten und inhaftiert werden würden, versuchten einige »Genocidaires« (»Völkermörder*innen«), wie sie genannt werden, ihre letzten Zeug*innen zu beseitigen. Das Leid der Überlebenden schien unendlich und das Trauma ist auf beiden Seiten deutlich zu spüren.

Auch Hutu-Familien, die ebenfalls verstümmelt wurden, zählten ihre Toten. Von Ende April bis Juli 1994 flohen zwei bis drei Millionen Männer und Frauen, »Völkermörder*innen« und ihre Familien, ins benachbarte Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo); Tausende kamen im Exil in der Kivu-Region (vor allem im ersten und zweiten Kongo-Krieg, 1996-1997 und 1998-2003) oder bei den rachsüchtigen Überfällen einiger Soldaten der sich inzwischen an der Macht befindlichen Ruandischen Patriotischen Front (RPF) ums Leben, die sich für den Tod ihrer Angehörigen rächen wollten. Gleichzeitig warteten noch in den Jahren 1994-1995 mehr als hunderttausend andere mutmaßliche Mörder*innen hinter Gittern auf ihren Prozess. Zu dieser Zeit gab es weder ein Gericht noch Anwält*innen. Die Zellen waren überfüllt, die Häftlinge lebten jahrelang in Feuchtigkeit und Exkrementen. Die Fäulnis und mangelnde Pflege führten zu Krankheiten und Wundbrand. Die Haushalte der Häftlinge in den Hügeln, die der traditionellen Wirtschaftskraft ihrer Söhne und Ehemänner beraubt waren, verarmten. Viele Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, obwohl einige von ihnen noch lebten und nicht weit weg waren.

Einige Hutu geben den Überlebenden die Schuld: Die Menschen hegen oft einen Groll gegen diejenigen, die sie verletzt haben, und die Ideologie des Völkermords ist nicht verschwunden.

Unter den Scharfrichtern hatte sich Misstrauen eingeschlichen. Um zu töten, hatten sich die Männer in Banden zusammengeschlossen: Jede*r war Zeug*in, also konnte jede*r denunzieren und ist daher verdächtig. Und für alle bleibt heute die Erinnerung an die Qualen, an die Folter, an die Leichen und an die gemeinsame Not, die aus den Ruinen herrührt, zu denen das Land gemacht wurde.

Die gesamte ruandische Welt, die bis auf die Knochen erschüttert war, versuchte, wieder dorthin zurückzufinden, wo sie zuvor war, jede*r mit seinen eigenen extremen Erfahrungen, ihren Frustrationen oder dem zerbrochenen Vertrauen. Die traumatische Erinnerung an die Ereignisse belastet die Psyche der Bewohner*innen, aber sie haben keinen anderen Ort (Kervran und Mukamabano 1999). Zahlreiche Überlebende, Täter*innen und deren Angehörige versuchten daher, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Von 1994 bis zu den 2000er Jahren fand eine kontinuierliche Polarisierung der Gemeinschaft statt und niemand hatte die Hoffnung, dass die Zeit allein die Wunden heilen würde. Wie kann ein so tief zerrüttetes soziales System neu aufgebaut werden?

Die in der Geschichte noch nie dagewesene Situation zwingt den ruandischen Staat, die NGOs und die Zivilgesellschaft dazu, eine Vielzahl von Initiativen zu ergreifen, um eine in Trümmern liegende Nation wieder aufzubauen. Eine Herausforderung, die – im Rückblick – teilweise gelungen ist, so als ob etwas zunächst Unmögliches, etwas Unbewegliches, zum Leben erwacht wäre: „Ibuye ryabonye umuzi“, „wie ein Stein, der Wurzeln schlägt“.2

Legt die Wahrheit offen und werdet anerkannt

Angesichts der Größe und Demographie des Landes und des Bedarfs an Arbeitskräften für den Wiederaufbau sowie der Grenzen der Masseninhaftierung stellte sich sofort die Frage des Zusammenlebens. In dieser Hinsicht bestand die erste Aufgabe der im Juli 1994 eingesetzten Nachfolgeregierung darin, das wiederherzustellen, was das vorherige Regime am radikalsten gebrochen hatte: den Sozialpakt zum Schutz der Bürger*innen durch den Vorrang des Rechts.

Vorrangig ging es darum, der Kultur der Straflosigkeit ein Ende zu setzen, die dreißig Jahre lang die Massaker an den Tutsi legitimierte und verharmloste. Das Instrument, mit dem dies erreicht wurde, waren zum einen die frühen Prozesse gegen 9.000 des Völkermords Verdächtige vor konventionellen Gerichten (ab Dezember 1996 und über ein Jahrzehnt hinweg) und dann die Einrichtung von mehr als 12.000 Gemeinschaftsstrafgerichten (2001-2012), die sich an eine jahrhundertealte Tradition anlehnten, die die Nation an ihre Einheit erinnerte: die »Gacaca«, ein hybrides und komplexes öffentliches Tribunal, das auf Dialog basiert und an den Orten des Völkermords abgehalten wird, ohne Anwält*innen und Berufsrichter*innen, unter Einbeziehung der gesamten Gesellschaft, wobei fast jeder Erwachsene an den Prozessen teilnimmt (die heikle Verurteilung von einer Nachbar*in durch eine Nachbar*in).

Ziel dieser Gerichte war es, die Erinnerung an das Geschehen wachzuhalten, den Status der Opfer anzuerkennen und der riesigen Anzahl von Täter*innen ins Auge zu blicken sowie das Geständnis und die Vergebung im Hinblick auf alternative Sanktionen und restaurative Ziele zu fördern (Rosoux und Shyaka Mugabe 2008, S. 35; Clark 2010, S. 169-185). Durch diese Prozesse wurde deutlich: Die Hoffnung bestand darin, dass das Recht seine ursprüngliche rettende Aufgabe wieder aufnehmen würde, indem es eine erste Grundlage für die Wiederherstellung einer Gemeinschaft schaffen würde.

Erstens waren da die Auswirkungen von Gacaca auf die Wiederherstellung der Überlebenden, trotz der Zeugenaussagen, die „Narben wieder aufreißen“ (Mutarabayire-Schafer 2010, S. 145). Angesichts dieser unfassbaren Erfahrung und ihrer Aura der Unaussprechlichkeit, die die Überlebenden noch mehr in sich selbst gefangen hielt, hat der Prozess und seine öffentliche Anerkennung die Reintegration der Betroffenen in die Welt der Menschen eingeleitet. Die Tatsache, dass die an ihnen begangenen Taten sanktioniert wurden, dass sie ihre Wut und ihre Scham zum Ausdruck bringen konnten, war der Beginn eines Prozesses der emotionalen Verarbeitung.

Es eröffnete auch manchmal die Möglichkeit zu erfahren, wo Angehörige zurückgelassen wurden, und ihnen ein Begräbnis zu ermöglichen. Darin einen Sinn für das eigene Überleben zu finden, dessen Wunder und Einsamkeit Unverständnis und Schuldgefühle nähren. „Warum ich? Was muss ich tun?“

Hier begann die Arbeit der Trauer. Das Gefühl der Wiedergeburt einer Würde, die den Opfern genommen wurde, ohne das Gefühl zu haben, die Angehörigen zu verraten, ohne sie in eine Biografie einzuschreiben, die der Genozid auslöschen wollte. Es war eine Möglichkeit, ihrem Tod durch Ort und Namen den Status einer ehemals lebenden Person zu verleihen, ihnen durch Öffentlichkeit und Materialität ein Andenken zurückzugeben.

Langfristig gesehen stellen das Urteil und das Gericht eine Reflexion über die Nutzlosigkeit von Rache und das Interesse an Wiedergutmachung dar, wie dieser Mann gegenüber Eltern argumentiert, die die bevorstehende Freilassung der Mörder ihrer Angehörigen ablehnten: „Dieser Kerl hat eure Familie umgebracht und während er im Gefängnis sitzt, zahlt ihr für seine Ernährung. Warum verwendest Du dieses Geld nicht, um euren Sohn zu erziehen und für Deine Frau zu sorgen? (…) Das Wichtigste ist jetzt, die Wahrheit zu erfahren, dann schaffen wir das schon.3

Zweitens sind die Auswirkungen von Gacaca auf die Täter*innen zu sehen, trotz der schweren Justizfehler, die während der Prozesse angeprangert wurden, der informellen Ermutigung zum Schweigen unter den Hutu-Gemeinschaften, der Bestechung von Zeug*innen und anderer Abrechnungen im Zusammenhang mit einer eiligen Justiz. Gacaca war ein Weg, als das Mosaik der Massaker auftauchte, um den Rassismus offen zu dekonstruieren und die Täter*innen mit ihren Fehlern zu konfrontieren. Trotz dieser Tortur ist es für die Angeklagten ein Mittel, um ein wenig von der Menschlichkeit zurückzugewinnen, die sie sich selbst genommen haben. Es ist ein Ritus der Wiedereingliederung in das soziale Gefüge und in ihre Familien: „Da ich an der Anerkennung des Verbrechens mitgewirkt habe, habe ich mir meinen Platz wieder verdient“.4

Zudem ist dieses Gefühl von ein wenig mehr Sicherheit und zumindest Anerkennung auf Seiten der Überlebenden und die klare Konfrontation mit ihrer Verantwortung auf Seiten der Täter*innen, die beide Seiten auf einen Neubeginn der Kommunikation miteinander hoffen lassen.

Sich von den Geschichten berühren lassen

Eines der Merkmale der ruandischen Gesellschaftstherapie nach dem Völkermord war die Förderung der Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft durch gemeinsames Geschichtenerzählen. Ab dem Jahr 2000 nahmen Zehntausende Ruander*innen, zumeist Überlebende, an diesem Programm teil, zunächst in homogenen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen. Diese institutionellen Gespräche, die die gegenseitige Offenlegung förderten und gleichzeitig sensible persönliche Themen behandelten, ermöglichten es den Opfern, sich vor den Gerichtsverhandlungen gegenseitig zu unterstützen, die Isolation zu verringern und durch Einkommen schaffende Aktivitäten einen neuen Lebenssinn zu finden (Gishoma et al. 2014, S. 472).

Vor allem nach den Gerichtsverhandlungen wurden Erzählgruppen von Täter*innen, Opfern und Jugendclubs (Treffen zwischen ihren Nachkommen) gegründet. Diese zwei- bis vierstündigen, zweiwöchentlich angebotenen Räume der Abwechslung schufen einen Moment des Zuhörens und des Ausdrucks von Gefühlen, die erst nach dem Versuch der Gerechtigkeit entstehen konnten (Lordos et al. 2021, S. 111): Kommunikation in einem Raum, in dem das Risiko einer Bestrafung oder Denunziation geringer war. Ohne die Teilnehmer*innen als austauschbare Individuen zu betrachten, beruht dieser freiwillige therapeutische Ansatz auf dem Prinzip der Berücksichtigung von Motivationen und autobiografischen Berichten in gegenseitigem Respekt und Ehrlichkeit. Hierin wird einer der Schlüssel zur Überwindung von Gruppengrenzen gesehen: zu verstehen, was die anderen getan und erlitten haben, aus der Sicht eines Menschen, der seinen Platz im sozialen Ganzen wiedergefunden hat.

Es gibt das Beispiel eines Mannes, der in einer soziotherapeutischen Sitzung seine vorgetäuschte Gleichgültigkeit gegenüber den Angehörigen seiner Opfer offenbart hat: Er, der im Frühjahr 1994 getötet hatte und behauptete, jedes Jahr im April zu den Gedenkfeiern nach Uganda zu reisen, versteckte sich im Buschland. Wegen seiner Schuld, die er mit gesenktem Kopf bekennt, und wegen seiner eigenen traumatischen Erinnerung an seine Taten lebt er unter einem Busch und seine Frau kommt, um ihn zu füttern.

Ein anderes Beispiel ist Claudine, eine Tutsi-Überlebende, die in einer Gruppe hörte, wie einer ihrer Henker eine ähnliche Scham über seine Taten zugab, indem er den Stoff seines Slips sichtbar nässte. In der nächsten Sitzung erhob sie sich: „Ich lebe unter denen, die den Völkermord begangen haben. Ich sehe ihre Familien. (…) Es ist zwanzig Jahre her und ich habe keine Nacht erlebt, in der ich nicht Angst hatte, getötet zu werden, sobald das Licht ausgeht, aber als ich die Geschichte unseres Freundes (…) hörte, der bereut, wie sein Körper gezeigt hat, fühlte ich eine Erleichterung. Von dem, was ich von seiner Person auf seiner Hose sah, dachte ich plötzlich: ‚Leidet er auch?‘ Und am Abend wiederholte ich es vor mir selbst, als wollte ich mich überzeugen: ‚Auch er kann leiden.‘ Danach träumte ich davon, und im Traum ging er durch meine Tür, und er ging durch sie wie ein Mann.5

Gleicher Status und gemeinsame Ziele

Zusätzlich zu diesen Instrumenten zeigen Studien, dass kooperatives Handeln, insbesondere gemeinschaftsbasierte Lösungen mit Einkommensgenerierung, einen weiteren Schlüssel darstellen (Peredo und Chrisman 2006, S. 309; Sentama 2009, S. 37ff.; Mafeza 2013, S. 793). Wenn die gespaltene Gemeinschaft an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels teilnimmt – z. B. an der Arbeit in einer Maniok- oder Kaffeekooperative, an der Viehzucht, am Wiederaufbau von Häusern oder Straßen durch »Versöhnungsdörfer«, oder »Umuganda« (eine monatliche Pflichtaktivität, die der Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur gewidmet ist) – und wenn das Projekt erfolgreich ist (effektiv und mit gleichem Status unter den Teilnehmer*innen), indem es den Lebensunterhalt verbessert, dann festigt es die vorherigen Effekte der Gruppentherapie (Lordos et al. 2021, S. 112).

In der Tat ist die Kooperation der Moment, in dem die zusammenarbeitenden Mitglieder vertrauter miteinander sprechen können und in dem schließlich Anerkennung und Entschuldigung entstehen (Sentama 2009, S. 142). Diese auf lokaler Ebene organisierten Maßnahmen werden durch staatliche Bildungsprogramme ergänzt, die ganz ohne ethnische Bezüge auskommen (nach 1994 wurden die Bezeichnungen »Hutu«, »Tutsi« und »Twa« sofort aus den Personalausweisen gestrichen, Völkermordideologie und Divisionismus werden schonungslos verurteilt). Sie werden wiederum mit Aktivitäten kombiniert, die auf gegenseitige Hilfe abzielen: Clubs der Täter*innen, die sich organisieren, um die Felder der Überlebenden abzuernten, oder »ubusabane« (Zeremonien zum Austausch von Geschenken), Teilnahme an Solidaritätslagern oder sozialen Debatten, bei denen die Gesellschaft die Staatsbürgerschaft vor allen anderen Kriterien berücksichtigt.

Indem sie sich auf eine nicht verwandte aber wechselseitige Angelegenheit konzentrieren, sind Überlebende, Täter*innen und ihre Nachkommen durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten und die Verbesserung ihrer Zukunftsaussichten besser in der Lage, die wesentlichen Unterscheidungen neu zu konfigurieren und gegenseitige Missverständnisse zu korrigieren. Viele haben in der Tat argumentiert: „Wie kann ich akzeptieren, wieder mit ‘ihnen’ zusammenleben zu müssen, wenn ‘sie’ mein Haus niedergebrannt haben und ich mir das Studium meiner Kinder nicht mehr leisten kann?“ (siehe auch Mafeza 2013, S. 795). Auch wenn dies nicht im Fokus der Regierung stand6, zeigen die Erfahrungen vor Ort, dass die traumatische Identität von Überlebenden und Täter*innen allmählich abnahm, wenn Ruander*innen die Möglichkeit erhielten, ihre Identität in der Nachbarschaft durch kooperative und wirtschaftliche Rollen neu zu definieren, und wenn sich die Lebens- und sozioökonomischen Bedingungen verbesserten (Lordos et al. 2021, S. 112).

Nichts kann rein weiß sein

Dennoch kann nach solchen Ereignissen, auch wenn die meisten Überlebenden und Täter*innen jetzt nebeneinander leben können, niemand sagen, dass der Völkermord »hinter ihnen liegt«. Auch wenn die meisten akzeptieren, nebeneinander zu leben, gibt es einige, die weiterhin polarisierte Gedanken hegen, vor allem, wenn sie einen anderen Bezug zur ruandischen Geschichte haben. Viele, wenn nicht alle Überlebenden behalten ihre Ängste und Befürchtungen: „Nta byera ngo“ („Nichts ist rein weiß“), sagen sie, „wir denken jeden Tag an den Völkermord, aber wir können arbeiten und leben.“ 7 In einer Gesellschaft, in der direkte Kontakte zwischen den Gruppen unumgänglich waren, war eine solche Kontaktpflicht der Schlüssel zur Wiederherstellung der sozialen Bindungen. In der Tat besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den Beziehungen zwischen Überlebenden und Täter*innen, die in Ruanda leben, und denjenigen, die im Ausland leben. In Frankreich und Belgien bleibt ohne diese – durch den politischen und demografischen Kontext erzwungenen – Bemühungen eine stärkere Polarisierung bestehen. Aus der Perspektive der Friedensförderung bedeutet dies, dass je enger und intensiver der Kontakt ist, mit institutioneller Unterstützung und gleichem Respekt zwischen den Parteien, umso weniger Vorurteile bestehen und desto harmonischer ist die Interaktion (Sentama 2009, S. 35-42; Mafeza 2013, S. 795).

Wie nachgeschoben und leise fügt Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, eine letzte Überlegung hinzu: „Aber es gibt etwas, das oft nicht bedacht wird: die Erfahrung der Stimmlosen. Wenn das aktuelle Zusammenleben auf Initiativen von Staaten, religiösen Institutionen, der Zivilgesellschaft, manchmal auch auf Gesten von Henkern zurückzuführen ist, so ist es vielleicht zunächst eine Tatsache, die wir den Überlebenden und ihrem Leben vor 1994 verdanken. Wir hatten keine Stimme, also haben wir keinen Lärm gemacht. Seit der Unabhängigkeit haben die ruandischen Tutsi im Stillen gekämpft. Nach dem Völkermord haben sie weitergemacht. Dies ist einer der Gründe für die traumatischen Krisen während der Gedenkfeiern: Sie bilden den schmalen Zeitrahmen, in dem wir uns erlauben, uns zu äußern. Für den Rest der Tage gilt: Die Demut im Leben zuvor erlaubt die Bescheidenheit im Leben danach“.8

Danksagung

Dieser Artikel konnte dank der Unterstützung von Valérie Rosoux, der wohlwollenden Lektüre von Louis-Philippe Moreira und der geduldigen Gespräche mit Valens Kabarari, Narcisse Nzamurambaho und Innocent Ruzigana entstehen.

Anmerkungen

1) Während meiner Feldaufenthalte zwischen 2014 und 2019 habe ich solche Aussagen von vielen Überlebenden gehört.

2) Innocent Ruzigana, Guide an der Ntarama Gedenkstätte, in einer Email, 1.12.2021.

3) Ayad, C. (2004): Dix ans après, vivre avec ses bourreaux. Journal Libération, 6.04.2004.

4) Madeleine M., wegen Beteiligung am Genozid verurteilt, Nyarugenge Gefängnis, Kigali, Rwanda, 8.3.2016.

5) Täter-Opfer Support Gruppe, Mushubati, Ruanda, März 2019.

6) Um dennoch den Bedürftigsten zu helfen, richtete die Regierung den Unterstützungsfonds für Überlebende des Genozids (FARG) ein.

7) Narcisse Nzamurambaho, Überlebender, Telefonat, Bugesera, Ruanda, 4.12.2021.

8) Ebd.

Literatur

Clark, P. (2010): The Gacaca courts, post genocide justice and reconciliation in Rwanda: Justice without lawyers. Cambridge, New York: Cambridge University Press.

Gishoma, D. et al. (2014): Supportive-expressive group therapy for people experiencing collective traumatic crisis during the genocide commemoration period in Rwanda: impact and implications. Journal of Social and Political Psychology 2 (1), S. 469-488.

Kervran, P.; Mukamabano, M. (1999): Cinq ans après le génocide des Tutsis au Rwanda. Episode 2: Le temps des assassins. LSD, La série documentaire. France Culture (Radio). 54 min, erste Ausstrahlung im Sommer 1999.

Lordos, A. et al. (2021): Societal healing in Rwanda: toward a multisystemic framework for mental health, social cohesion, and sustainable livelihoods among survivors and perpetrators of the genocide against the Tutsi. Health Human Rights Journal 23 (1), S. 105-118.

Mafeza, F. (2013): Restoring relationship between former genocide perpetrators and survivors of genocide against Tutsi in Rwanda through reconciliation villages. International Journal of Development and Sustainability 2(2), S. 787-798.

Mutarabayire-Schafer, A. (2010): Du traumatisme du génocide à la violence de la réconciliation: Gestalt-thérapie et soutien psychologique des rescapés du génocide au Rwanda. Cahiers de Gestalt-thérapie 26, S. 143-162.

Peredo, A.M; Chrisman, J.J. (2006): Toward a theory of community-based enterprise. Academy of management Review 31(2), S. 309-328.

Rosoux, V.; Shyaka Mugabe, A. (2008): Le cas des gacaca au Rwanda: jusqu‘où négocier la réconciliation? Négociations 9(1), S. 29-40.

Sentama, E. (2009): Peacebuilding in post-genocide Rwanda. The role of cooperatives in the restoration of interpersonal Relationships. University of Gothenburg, Dissertation.

Amélie Faucheux, promovierte Soziologin und Juristin für Menschenrechte, forscht über den Akt des Tötens bei extremer Massen­gewalt und die Nachwirkungen des Völkermords in Ruanda. Sie lehrt in Paris.

Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Hussak.

Digitalisierung für friedliche Entwicklung nutzen

Digitalisierung für friedliche Entwicklung nutzen

Potsdamer Frühjahrsgespräche 2021, sef :, online, 10.-12. Mai 2021

von Ingo Nordmann

Die Digitalisierung in Afrika läuft auf Hochtouren. Online-Tools können Menschen zusammenbringen und dazu beitragen, Gewalt zu verhindern. Die Teilnahme an demokratischen Prozessen wird einfacher und inklusiver. Soziale Bewegungen vernetzen sich zunehmend online und bewirken Veränderungen in ländlichen und städtischen Regionen. Gleichzeitig verbreiten sich Hassparolen im Internet in noch nie dagewesener Geschwindigkeit, autoritäre Regierungen nutzen neue Technologien, um ihre Bürger*innen zu kontrollieren, und ex­tre­mis­tische Gruppen rekrutieren Mitglieder online. Diese vielfältigen Auswirkungen der Digitalisierung auf friedliche Entwicklung in Afrika standen im Mittelpunkt der Potsdamer Frühjahrsgespräche 2021. Die Konferenz wurde von der Stiftung Entwicklung und Frieden (sef 🙂 in Kooperation mit der GIZ durchgeführt.

Von Online-Hass zu Gewalt auf der Straße

Nanjala Nyabola, Forscherin und Autorin aus Nairobi, erläuterte am Beispiel des aktuellen Konflikts in Äthiopien, wie Hass im Internet häufig in reale Gewalt auf der Straße umschlägt. Auch Online-Medien können zur Ausbreitung von Gewalt beitragen, wenn Nachrichten über Tötungen geteilt werden und daraufhin gezielte Vergeltungsmorde stattfinden. Die Reichweite und Geschwindigkeit dieser sich gegenseitig anheizenden Kommunikationsprozesse sei laut Nyabola weit höher als vor der Existenz des Internets und sozialer Medien.

Organisationen der afrikanischen Zivilgesellschaften haben innovative Methoden entwickelt, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. So bietet beispielsweise die #defyhatenow-Kampagne im Südsudan und anderen Ländern datengestützte Lösungen zur Bekämpfung von Hassparolen und Fehlinformationen im Internet. Wie Programmdirektor Nelson J. Kwaje erklärte, hat die Kampagne auch dazu beigetragen, gefährliche Mythen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie zu entlarven. Das Unternehmen Tuwindi aus Mali bietet Nutzer*innen Apps an, mit denen sie online verbreitete Informationen auf ihre Richtigkeit überprüfen können, um so die Gefahr von Falschmeldungen zu reduzieren. CEO Tidiani Togola stellte außerdem eine App vor, die vor Wahlen verlässliche politische Informationen online zur Verfügung stellt, damit die Nutzer*innen fundierte Entscheidungen treffen können. Ein weiteres Beispiel ist das Humanitarian OpenStreetMap Team (HOT), das Online-Kartenmaterial nutzt, um schnell und präzise auf Naturkatastrophen oder Gewaltausbrüche in verschiedenen Ländern reagieren zu können.

Macht und Verantwortung von Technologieunternehmen

Dr. Nicole Stremlau (Universitäten Oxford und Johannesburg) ergänzte, dass Technologieunternehmen der Gewalt im Internet in Afrika viel weniger Aufmerksamkeit schenken, als in anderen Teilen der Welt. So würde viel Hassrede in lokalen Sprachen geschrieben, die Unternehmen nicht ausreichend beachten. Ihnen fehlten Sprachkompetenzen für ein effektives Community-Management und die automatisierten Blockier-Algorithmen funktionierten in diesen Sprachen nicht. Folglich könnten Hassparolen in Afrika oft nicht einmal effizient gemeldet, geschweige denn sanktioniert oder verhindert werden. Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass viele dieser Sprachen, wie Amharisch, Hausa und Somali, von mehreren zehn Millionen Menschen gesprochen werden.

Ebenso kritisch äußerte sich Stremlau über die wachsende Macht europäischer Unternehmen wie Vodafone und Orange in Afrika. Im Gegensatz zu größeren europäischen Ländern, die vielleicht über politische Strukturen verfügen, um den Einfluss von Big Tech-Unternehmen auf ihren heimischen Märkten einzuschränken, könnten viele kleine afrikanische Länder dies nicht leisten. Hier sei eine verstärkte internationale Zusammenarbeit erforderlich, um die weitreichende Macht dieser ausländischen Unternehmen in Schach zu halten.

Stremlau forderte darüber hinaus ein stärkeres Engagement der Afrikanischen Union (AU). Eine vielversprechende Gelegenheit für Zusammenarbeit zwischen der AU und der Europäischen Union könnte es sein, die bereits entwickelten Strategien zum Umgang mit Hass und Gewalt im Internet auszutauschen. Als Vertreter der Europäischen Kommission bestätigte Marc Fiedrich, dass die beiden Kontinente vor ähnlichen Herausforderungen im Kampf gegen Gewalt im Internet stünden und verwies auf regelmäßige Dialoge zwischen EU und AU zur wirkungsvollen Regulierung sozialer Medien. Er fügte hinzu, dass Afrika jedoch nicht einfach Europa kopieren sollte, da auch Europa immer noch nach Antworten in diesem schnelllebigen Bereich suche.

Regulieren, ohne Meinungsfreiheit einzuschränken

Wenn Regierungen zur Intervention bei digitalen Konflikten aufgefordert werden, kann ein Dilemma entstehen : Wie kann die Kommunikation im Internet reguliert werden, ohne demokratische Errungenschaften wie die Meinungsfreiheit zu gefährden ? Nanjala Nyabola warnte davor, dass Regierungen die Macht, die man ihnen zur Regulierung der Online-Kommunikation gäbe, in erster Linie gegen Kritiker*innen des Staates einsetzen könnten, um unliebsame Aktivist*innen zum Schweigen zu bringen. Dr. Julia Leininger vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) bestätigte, dass digitale Werkzeuge es
„Autokraten erlauben könnten, noch autokratischer zu werden“, durch verbesserte Datensammlungen und Überwachungstechnologien. Als besorgnis­erregendes Beispiel nannte sie den Fall, in dem die chinesische Regierung Gesichtserkennungssoftware an die autoritäre Regierung von Simbabwe verkaufte, die diese zur Überwachung der Menschen in der Hauptstadt Harare einsetzte. Im Gegenzug stellte die Regierung die so erfassten Daten dem chinesischen Softwareunternehmen zur Verfügung, das sie zur Verbesserung seiner Algorithmen und Softwarefunktionen nutzte.

Julia Leininger warnte ferner, dass bei einer zunehmenden Digitalisierung von Wahlen, Manipulationen und Wahlfälschungen einfacher werden könnten. Technologie­unternehmen, die digitale Wahlmanagement-Tools bereitstellen, könnten leicht von Politiker*innen beeinflusst werden, vor allem wenn Regierungen große Anteile der Unternehmen besitzen. Dies würde Politiker*innen besonders anfällig für Korruption machen. Seitens der Zivilgesellschaft gibt es Versuche, solch negatives Verhalten zu unterbinden, beispielsweise durch das Monitoring des Handelns von Politiker*innen. So beobachtet etwa die Organisation Odekro die Aktivitäten ghanaischer Parlamentsabgeordneter und macht die Daten online zugänglich. Auf diese Weise können digitale Werkzeuge auch zu mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht in der Regierungsführung beitragen.

Afrikas Jugend Perspektiven bieten

Wenn Afrika florieren soll, muss seine junge Bevölkerung Aussicht auf ein ausreichendes und stabiles Einkommen haben. Mit einer De-facto-Arbeitslosenquote von rund 20 % und einer extrem hohen Erwerbsarmutsquote von 40 % im Schnitt des gesamten Kontinents, ist dieses Ziel noch in weiter Ferne. Das macht junge Menschen anfälliger für den Einfluss gewalttätiger Gruppen. Wie Nelson Kwaje feststellte,
„suchen sich kriminelle Organisationen genau die Menschen als Zielgruppe aus, die historische Ungerechtigkeiten, Ausgrenzung, Identitätskrisen und wirtschaftliche Probleme erlebt haben“. Junge Menschen, die sich extremistischen Gruppen anschließen, seien daher oft Täter*innen und Opfer zugleich.

Abdihakim Ainte, Mitbegründer des iRise Hub in Mogadischu, kennt diese Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung. Seine Organisation versucht, jungen Unternehmer*innen in Somalia Geschäftsmöglichkeiten zu bieten. Er bestätigte, dass gewalttätige Gruppen junge Menschen, die meist aus stark benachteiligten Familien in ländlichen Regionen stammen, „sowohl benutzen als auch für ihre Ziele missbrauchen“. Dem versuche iRise durch gezieltes Empowerment und die Schaffung wirtschaftlicher Möglichkeiten entgegenzuwirken.

Im Verlauf der dreitägigen Konferenz wurde deutlich, dass es eines Bewusstseinswandels bedarf, die digitale Welt langfristig zu gestalten. Wie Nanjala Nyabola in ihren abschließenden Bemerkungen feststellte, müssten Herausforderungen des digitalen Raums mit Entschlossenheit und Ausdauer angegangen werden, um sie auf die gleiche Weise zu gestalten, wie Offline-Medien über einen langen Zeitraum gestaltet worden seien. Weder eine „Nichteinmischungs-Mentalität, die viele Regierungen in der Vergangenheit an den Tag gelegt haben, noch ein naives „Technologie-utopisches Vertrauen“ (Stremlau), bei dem darauf gesetzt wird, dass digitale Innovationen auf magische Weise Probleme lösen werden, sind geeignet, die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen zu bewältigen. Die Digitalisierung ist weder Afrikas Untergang (oder der Untergang der Menschheit), noch seine Rettung. Sie ist das, was aus ihr gemacht wird – und das liegt in der politischen Verantwortung.

Mehr Informationen zur Konferenzreihe sind verfügbar unter : sef-bonn.org

Ingo Nordmann

Eskalation in Südafrika

Eskalation in Südafrika

von Jürgen Nieth

Johannes Dieterich spricht im Tagesspiegel (19.07.21, S. 5 ) von den „schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte des vor 27 Jahren demokratisierten Staates.“ Christian Pusch (NZZ 26.07.21, S. 2) bilanziert: „337 Tote, über 3.000 geplünderte Geschäfte.“ Die FAZ (23.07.21, S. 21) geht von Schäden „bis zu drei Milliarden Euro“ aus und spricht von „150.000 Arbeitsplätzen“, die gefährdet seien. Von einer gezielten Zerstörung der „Infrastruktur des Staates“ spricht Bernd Dörries in der SZ (20.07.21, S. 6):
„Mobilfunkmasten wurden angegriffen, Anlagen zur Wasseraufbereitung, Krankenhäuser, mindestens 30 Schulen.“ Laut Claudia Bröll sprach „Präsident Ramaphosa […] von einem ‚versuchten Aufstand‘, die Thabo-Mbeki-Stiftung von ‚konterrevolutionären Aktivitäten‘. (FAZ 22.07.21, S. 8)

Staatliche Zurückhaltung

Laut NZZ (s.o) haben „die Sicherheitskräfte […] bei den jüngsten Unruhen nur zögerlich eingegriffen“, denn die Regierung „habe ein weiteres Blutbad unbedingt verhindern wollen“. Die Polizei sei aber auch mangelhaft ausgerüstet gewesen und die Zahl der Polizist*innen stagniere seit Jahren, trotz steigender Bevölkerungszahl. Für Bernd Dörries (SZ 16.07.21, S. 9) ist Südafrika „ein Land, in dem kaum jemand noch damit rechnet, dass die Polizei kommt, wenn man sie ruft. Sicherheit ist Privatsache geworden.

In der Zeit (22.07.21, S. 9) hält Andrea Böhm fest: „Weil die Polizei machtlos war, schickte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa schließlich die Armee. […]. Eine höchst umstrittene Maßnahme, denn die Militärpräsenz erinnert an das Kriegsrecht aus Apartheid-Zeiten.

Zuma als Anstifter?

Betroffen von den Unruhen war vor allem die Heimatprovinz Jacob Zumas und zeitlich fielen die Proteste mit dessen Haftantritt zusammen: Der ehemalige Präsident des Landes war von einem Gericht wegen Missachtung der Justiz zu 15 Monaten Haft“ verurteilt worden. Vor der Ablösung Zumas als Präsident hatten
„Journalisten und Whistleblower ein gigantisches Korruptionsnetzwerk aufgedeckt – mittendrin Zuma […]. Staatliche Firmen waren systematisch geplündert, Steuergelder veruntreut, Wirtschaftsverträge manipuliert, Kritiker in der Regierung kaltgestellt worden […]. [Es] soll dem Staat so ein Schaden von bis zu 100 Milliarden Dollar entstanden sein.“ (Zeit, s.o.). So ist es für manche Beobachter*innen verwunderlich, dass
„Zuma überhaupt noch so viele Anhänger hat, nach all den desaströsen Jahren […]: Er hat sich gerne als Mann der kleinen Leute gegeben, hat getanzt und gesungen und gewitzelt, er gilt als volksnah und hat das Volk doch gleichzeitig bestohlen.“ (Bernd Dörries, SZ 16.07.21, S. 9) Hinzufügen muss man hier, dass Zuma zusammen mit Nelson Mandela auf Robben Island inhaftiert war und sicher auch aufgrund dessen im ANC nach wie vor großen Einfluss hat.

Bei den Auseinandersetzungen steht auch die Einheit des ANC, der ältesten Befreiungsbewegung Afrikas, auf der Tagesordnung. Schließlich gehen alle vorliegenden Zeitungsberichte davon aus, dass Zuma und sein Netzwerk die Unruhen orchestriert haben. Lutz van Dijk verweist in der taz (16.07.21, S. 10) auf ein „Video, das Zumas Tochter postete, in dem auf ein Wahlplakat Ramaphosas geschossen wird.“ Die FAZ (14.07.21, S. 5) zitiert die Zuma-Tochter Duduzile:
„Ramaphosa, wir geben dir drei Tage, um Zuma freizulassen. Das Land wird sonst niederbrennen, ich verspreche es.

Strukturelle Ursachen

Für Savious Kwinika (taz 15.07,21, S. 10) war allerdings „Zumas Verhaftung […] nur der Funke, der das Pulverfass explodieren ließ“. Denn eigentlich weise die Plünderungswelle auf etwas anderes hin: „Wie Junge und Alte in diesen kalten Winternächten ihr Leben riskierten, um Diebesgut zu greifen, machte deutlich, welches Ausmaß Hunger, Elend und Ruhelosigkeit mittlerweile unter weiten Teilen der Bevölkerung haben.“ Aus Kapstadt berichtet Christian Selz für nd (17.07.21, S. 7):
„Die Kluft zwischen Arm und Reich ist seit dem Ende der Apartheid nicht kleiner, sondern sogar noch größer geworden […]. Die extreme Armut, während man gleichzeitig das Luxusleben der Oberschicht vor Augen hat, führt zu Wut und einer enorm hohen Kriminalitätsrate, seit Jahrzehnten […]. Die Arbeitslosenquote ist seit [… Ramaphosas] Amtsantritt im Februar 2018 weiter gestiegen […]. Die Corona-Pandemie […hat] die Situation noch einmal verschärft. Etwa drei Millionen Menschen verloren im ersten Lockdown vor einem Jahr ihre Arbeit, erholt hat sich Südafrika davon bis heute nicht.“ Zu den Plünderer*innen zählten allerdings nicht nur Arme. Die BZ (14.07.21, S. 4) berichtet von
„Menschen, die mit Mittelklassewagen vorfuhren und Kühlschränke, Betten, Kleider, Schuhe und selbst Möbel wegschafften.

Ausblick

Die Plünderungen sind beendet, die Aufräumarbeiten haben begonnen. Laut Bernd Dörries (SZ 20.07.21, S. 6) scheint mittlerweile „auch unter vielen Plünderern Katerstimmung zu herrschen. Das Ausmaß der Gewalt war für viele Südafrikaner schockierend und abschreckend.“ Die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des ANC sind für ihn aber nicht entschieden: „Zumas Leute sitzen teilweise immer noch in den Behörden und der Regierung und haben den Kampf noch nicht aufgegeben.“ Der ANC ist laut Claudia Bröll (s.o.)
„tief gespalten in einen angeblich reformwilligen Flügel und die alte Zuma-Garde […]. Zusätzlich kommt der populistischen Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) das Chaos zugute […]. Schon lange wird darüber spekuliert, dass EFF-Gründer Julius Malema sich mit dem radikalen Flügel des ANC zusammenschließen und so die Macht im ANC übernehmen könnte.

Um das zu verhindern, bleibt für Ramaphosa laut Andrea Böhm (s.o.) nur folgende Option: „Cyril Ramaphosa hatte bei Amtsantritt einen Kampf gegen die Armut angekündigt. In den Townships glaubt ihm das keiner mehr […]. Dass er nun […] die Einführung eines Grundeinkommens untersuchen lassen will, halten Kritiker für zu wenig […]. Die Leute müssen Verbesserungen jetzt sofort sehen und schmecken können.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – tageszeitung, Zeit – Die Zeit

Europas Hinterhof?


Europas Hinterhof?

»Ertüchtigung« und Militarisierung der Sahel-Region

von Christoph Marischka

Die EU betreibt die systematische Militarisierung der Sahel-Region. Bereits die ersten eigenständigen Schritte einer militärisch gestützten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgten auf dem afrikanischen Kontinent – 2003 in der DR Kongo. Aktuell ist die EU mit diversen Missionen in der erweiterten Sahel-Region aktiv. Das sind die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Somalia und Mali, die Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP) in Somalia, die EUCAP-SAHEL-Missionen ebenfalls in Mali und dem benachbarten Niger sowie eine Mission zur militärischen Beratung in der Zentralafrikanischen Republik. Eine weitere Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen ist von Tunesien aus aktiv.

Die deutlich erkennbare Fokussierung der Europäischen Sicherheitspolitik auf den afrikanischen Kontinent lässt sich neben der relativen geografischen Nähe auch auf andere Gründe zurückführen. Zum einen sind hier die Einflussgebiete der international führenden Mächte nicht so klar abgesteckt und zugleich hart umkämpft, wie etwa im Mittleren Osten oder dem Kaukasus.

Zum anderen entsprechen viele postkoloniale afrikanische Staaten ziemlich exakt dem Szenario, welches die EU in ihrer 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie unter dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« als Rahmenbedingung für eigenständiges militärisches Handeln entworfen hat. Auch hier stehen nicht geopolitische Konkurrenten und die möglicherweise notwendige »Verteidigung« gegen einen etwa gleichwertigen militärischen Gegner im Mittelpunkt, sondern sogenannte »scheiternde Staatlichkeit«, unter der nicht nur die jeweils ansässige ­Bevölkerung zu leiden hätte, sondern die auch die Grundlage für verschiedene Bedrohungen wie Terrorismus, Kriminalität, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und – oft in einem Atemzug damit genannt – (illegale) Migration bildet, die hier ihren Ausgang nähmen und auch Europa beträfen.

Zuletzt zeigt auch die räumliche Verteilung europäischer Missionen auf dem Kontinent, dass dabei ein Fokus auf den ehemaligen französischen Kolonien liegt. Viele der frühen EU-Missionen wären nicht nur ohne die postkoloniale französische Militärpräsenz und Infrastruktur, sondern auch ohne die damit verbundenen diplomatischen Kontakte und entsprechenden außenpolitischen Wissensbestände kaum denkbar gewesen. Vergleichbare Strukturen bildeten sich in der Europäischen Verwaltung erst ab 1999 ansatzweise und weitgehend ad hoc und wurden erst ab 2010 mit der Einrichtung des »Europäischen Auswärtigen Dienstes« (EEAS) zunehmend systematisiert aufgebaut, z.B. durch Abteilungen mit regionalen Schwerpunkten.

Nachträglich könnte man durchaus mutmaßen, dass zumindest die frühen EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent weniger den im jeweiligen Mandat festgelegten (humanitären) Zielen im Einsatzland dienten, sondern dem neuen außenpolitischen Akteur EU nicht nur eine gewisse Sichtbarkeit, sondern v.a. auch Erfahrungswerte liefern sollten.

Hinterhof-Politik

Die aktuelle Konzentration europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sahel-Region allerdings erscheint weniger experimentell als viel mehr strategisch. Seit etwa 2005 formieren sich im entstehenden diplomatischen Apparat der EU Personengruppen und Strukturen, die in den Beziehungen zu den Staaten Mauretanien, Mali und Niger vonseiten der EU einen länderübergreifenden Ansatz propagieren. Problematisiert werden dabei von diesen Staaten ausgehende Bedrohungen wie Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und zunehmend auch Terrorismus. Befördert wurde diese Tendenz durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und andere EU-Programme, die »illegale Migration« weit jenseits der eigenen Außengrenzen in den Herkunfts- und Transitstaaten untersuchten, problematisierten und als »Ströme« konzipierten, die es bereits hier aufzuhalten gelte. In der Konsequenz wurde die Region politisch als »Hinterhof Europas« verstanden, vom damaligen deutschen Entwicklungsminister Dirk Niebel gar ganz Afrika als Europas »Vorgarten« bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erfuhr die Region zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Problematisierung auch eine wachsende Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer ökonomischen Potentiale. Beispielhaft dafür ist die 2009 v.a. mit deutschem Kapital gegründete Desertec Industrial Initiative (Dii) GmbH, welche die Versorgung europäischer Energiemärkte mit »Wüstenstrom« aus der Sahara propagierte und vorantrieb.

Kurz nachdem der EEAS Ende 2010 seine Arbeit aufgenommen hatte, veröffentlichte er im März 2011 mit der »Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel« seine erste Regionalstrategie überhaupt. Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, […] bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“ (EEAS 2011, S. 4). Die Strategie basierte u.a. auf vier Fact-Finding Missionen, welche die EU bereits zwischen Juli 2009 und Juli 2010 in Mauretanien, Mali, Niger und Algerien durchgeführt hatte und die in den drei erstgenannten Staaten „mangelnde operationale und strategische Kapazitäten“ im gesamten Sicherheitssektor offenbart hätten, woraus u.a. eine ungenügende „Kontrolle des Territoriums“, Rechtsdurchsetzung und ein ineffizientes Grenzmanagement resultieren würden (Ebd., S. 3). Die Bemühungen der EU fokussieren sich seitdem darauf, diese Kapazitäten aufzubauen.

Zwischen der Veröffentlichung der Sahel-Strategie und ihrer Umsetzung in den Missionen EUCAP Sahel Niger (Aug. 2013), EUTM Mali (März 2013) und EUCAP Sahel Mali (April 2014) lagen allerdings zwei – miteinander in Verbindung stehende – Ereignisse, welche die Lage in der Region grundsätzlich veränderten: Mit der NATO-Intervention »Unified Protector« wurde Libyen als Regionalmacht ausgeschaltet, das Land in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg gestürzt und eine große Zahl von Waffen und Kämpfer*innen mobilisiert. Der darauf folgende Aufstand im Norden Malis, der einen Putsch im Süden des Landes auslöste, führte Anfang 2013 zu einer massiven französischen Militär­intervention und zur Stationierung von über 10.000 Soldat*innen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten, die zunächst unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU-Mission AFISMA), bald aber unter UN-Führung (MINUSMA) standen, was auch eine umfangreiche deutsche Beteiligung (bis zu 1.100 Kräfte) ermöglichte.

»Ertüchtigung« in der Sahel-Region

MINUSMA bildet seitdem die militärische Grundlage für eine Vielzahl von Ausbildungs- und Ausrüstungsinitiativen. Im Rahmen der EUTM-Mission wurden bislang laut EU-Außenbeauftragtem Borrell „90 % der malischen Armee“ (EEAS 2020) fortgebildet, deren Gesamtumfang auf knapp 20.000 Soldat*innen geschätzt wird. Das EUTM-Mandat wurde schrittweise auf die Nachbarstaaten ausgeweitet, damit auch weitere Angehörige der »Force Conjointe du G5 Sahel« ausgebildet werden können – gemeinsame Eingreifkräfte der Armeen Mauretaniens, Malis, Nigers, Burkina Fasos und des Tschad, für deren Aufbau Deutschland und Frankreich im Februar 2018 mehr als 400 Mio. € mobilisiert hatten1 und die vor allem in den Grenzregionen aktiv sind. Ende Mai 2020 wurde auch die Ausbildung nigrischer Soldaten durch Kampfschwimmer*innen der Bundeswehr – zuvor ohne Mandat als »Operation Gazelle« durchgeführt – in das deutsche Mandat der EUTM aufgenommen. Neben den deutschen Kampfschwimmer*innen und einem deutsch-französischen Logistikdrehkreuz in Niamey sind im Niger auch geschätzte 800 US-Soldat*innen, überwiegend Spezialkräfte, und die französische Operation »Barkhane« aktiv. Sie führen gemeinsame Anti-Terror-Operationen mit lokalen Einheiten durch, die ebenfalls häufig als Ausbildungsunterstützung dargestellt werden. Wie viele andere Staaten liefert Deutschland im Rahmen seiner »Ertüchtigungsinitiative« militärisches Material – von gepanzerten Fahrzeugen bis zu Helmen und Schutzwesten – nach Mali und Niger und baut vor Ort militärische Infrastruktur, Werkstätten und Munitionsdepots auf. Im Rahmen der EUCAP-Missionen in beiden Staaten werden darüber hinaus Grenzschutz-, Gendarmerie- und Polizeikräfte aufgebaut. Zuletzt wurden zudem immer wieder Gerüchte kolportiert, dass auch Russland zunehmend in Mali aktiv sei und u.a. zwei Kampfhubschrauber geliefert hätte (Muvunyi 2020), was wiederum in der EU als Argument dafür genannt wird, die eigenen Anstrengungen zu intensivieren.

Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser internationalen Aufrüstung ist es kein Wunder, dass sowohl bei der Niederschlagung der Proteste gegen den ehemaligen malischen Präsidenten Keïta als auch bei dessen Sturz durch das Militär am 18. August 2020 jeweils von der EU ausgebildete »Sicherheitskräfte« beteiligt waren. Auch die Tatsache, dass nur einen Monat zuvor der malischen Armee in jener Basis, von welcher der Putsch ausgegangen war, im Beisein des deutschen Botschafters feierlich Fahrzeuge und Ausrüstung übergeben wurde, verdeutlicht eher die Alltäglichkeit solcher Zeremonien als irgendeine heimliche Komplizenschaft. Beispielhaft für den völligen Kontrollverlust im Zuge der militärisch gestützten »Stabilisierung« sind sie allemal.

Fragilitäts-Dilemma

Die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) spricht im Hinblick auf die Region von einer »Counter-Terrorism Governance« die sich dort als neue Staatsräson etabliert habe, aber nur „in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz“ funktioniere. Darin zeige sich das sogenannte »Fragilitäts-Dilemma«: „Je mehr Militär dort hingeschickt wird, je mehr das Sahel-Militär aufgerüstet wird, desto schwächer werden dort die Staaten [und andere gesellschaftliche Machtstrukturen], desto abhängiger werden [sie] von der EU und den USA“ (FFM 2020). Das lässt sich auch rein monetär abbilden: Die Kosten einer flächendeckenden militärisch-polizeilichen Präsenz, wie sie v.a. den EU-Strateg*innen vorschwebt, würde die Gesamthaushalte der betreffenden Staaten um ein Vielfaches übersteigen. Die von außen zuströmenden Mittel entwickeln und versorgen vor Ort (und in Paris, Brüssel, Calw, …) korrupte, militaristische Strukturen, die keinerlei Interesse an einer Lösung und Demilitarisierung der Konflikte haben. Der Krieg ernährt sich selbst und hält die Sahel-­Region im Status eines unruhigen Hinterhofs. Höchste Zeit, diese »Ertüchtigung« zu beenden.

Anmerkung

1) Die Gelder stammten von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien.

Literatur

EEAS (2011): Strategy for Security and Development in the Sahel.

EEAS (2020): Informal meeting of EU Defence Ministers: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the press conference. Berlin, 26.8.2020.

Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) (2020): Aufstandsbekämpfung im Sahel. Beitrag der FFM zum Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 21.11.2020, nachzuhören unter: https://www.wueste-welle.de/mp3/77954_Panel4_FFM-MP3.mp3.

Muvunyi, F.; Cascais, A. (2020): Putsch in Mali – Welche Rolle spielt Russland? Deutsche Welle, 28.8.2020.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und arbeitet dort zu den Schwerpunkten der EU-Afrikapolitik und der Technologiepolitik.

Rekolonisierung des Sahel


Rekolonisierung des Sahel

Kapitalistische Akkumulation und westliche Militärinterventionen

von Dolly Katiutia Alima Afoumba

Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (»poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann (vgl. Chtatou 2019). Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich mich mit einer Form der kolonialen Kontinuität beschäftigen, der westlichen Militärpräsenz in der Sahelzone und der im gleichen Zuge verstärkten Investition ausländischer Firmen eben dort. Mit Blick auf die Sicherheitslage im Sahel haben wir es mit einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu tun: Westliche Staaten begründen ihr militärisches Engagement im Sahel damit, einer bestehenden Unsicherheit Einhalt gebieten zu wollen. Die neokolonialen Tendenzen der Militärpräsenz ausländischer Staaten auf dem afrikanischen Kontinent werden von terroristischen Gruppen wiederum als Argument genutzt, um ihre Handlungen zu legitimieren und Rekruten aus der Bevölkerung zu gewinnen. Es ist zu beachten, dass terroristische Gruppen in der Sahelzone auch deshalb so stark gewachsen sind, weil sie auf das Versagen der lokalen Regierungen hinweisen, die Sicherheit der Bevölkerung nicht gewährleisten zu können. In der ausländischen Militärpräsenz auf ihrem Boden sehen sie einen Beweis für die erzwungene Rekolonisierung des Gebiets. Dies lässt sich am Beispiel von Boko Haram (»Westliche Bildung ist eine Sünde«) oder der »Bewegung für die Einheit und Dschihad in Westafrika« (MUJAO) sehen, bekannt für ihren antiwestlichen Radikalismus: „Dies materialisierte sich in ihren unablässigen Feindseligkeiten gegen die Westler mit der beispiellosen Verun­glimpfung ihrer kulturellen und zivilisatorischen Werte“ (Sarambe 2018, S. 57).

Zum Verständnis dessen, was in der aktuellen Krise in der Sahelzone wirklich auf dem Spiel steht, sollte man sich folgendes Zitat von Kwame Nkrumah aus seiner Rede vor dem Plenum der OUA am 24. Mai 1963 vor Augen halten: „Dies ist der große Plan der imperialistischen Interessen, die den Kolonialismus und Neokolonialismus stärken, und wir werden uns selbst auf die grausamste Weise täuschen, wenn wir ihre individuellen Handlungen als getrennt und nicht miteinander verbunden betrachten.“ (Nkrumah 1963) Wie Chems Eddine Chitour genauer ergänzte: Die westliche Welt und selbst die Schwellenländer haben keine Bedenken, die alten Länder wieder zu kolonisieren.“ (Chitour 2013) Die starke ausländische Militärpräsenz in der Sahelzone und die gehäufte Ansiedlung von Firmen sprechen eine deutliche Sprache.

Ursachen und alternative Lösungen

Die Staaten in der Sahelregion haben ihren Teil der Verantwortung für den Anstieg der Unsicherheit zu tragen, insbesondere durch die Verbreitung von Waffen als Folge von Bürgerkriegen und Militärputschen. In Mali zum Beispiel haben terroristische und widerständige Gruppen vom Militärputsch gegen Präsident Touré 2012 profitiert, um den Norden des Landes zu besetzen (Sarambe 2018, S. 62). Die politische Instabilität und die dadurch resultierende Militarisierung des Sahel förderte die Verbreitung von terroristischen Gruppen wie Ansar Dine, MUJAO und Al Mourabitoun.

Häufige Dürren und Nahrungsmittelkrisen, staatliche Korruption und Diktatur tragen zur Unsicherheit in der Region erschwerend bei. Wie Achille Mbembe es zusammenfasste, haben diese Länder auch immer noch Schwierigkeiten, „die Kunst der Politik von der Kunst des Kriegs zu trennen“ (Mbembe 2011). Ihre Systeme sind stark durch militärisch-autokratische Parteien beeinflusst.

Trotz dieser Probleme ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Staaten der Region insofern von westlichen Akteuren unterscheiden, als sie versucht haben, die Sicherheitskrisen auch auf diplomatischen Wegen zu lösen. Allerdings torpedieren westliche Mächte diese Wege immer wieder und halten die Staaten des Sahel so in militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Am Beispiel Nigers lässt sich dies gut illustrieren: Im Jahr 2016 beschloss die Regierung Nigers, ihren militärischen Kampf gegen »Boko Haram« zu verändern und den »Reumütigen« unter ihren Kämpfern »die Hand entgegenzustrecken«, indem sie ihnen Amnestie anbot (vgl. Abba 2017). Ein Jahr später, im März 2017, öffnete das Land auch den rechtlichen Weg der Terrorismusbekämpfung, indem es fast 1.200 ehemalige Rebellen vor Gericht stellte. Die militärische Lösung wird gerne damit gerechtfertigt, dass „man mit Terroristen nicht verhandeln kann“. Allerdings, durch regelmäßige Entführungen und Geiselnahmen zeigen die Rebellengruppen eher, dass ein Dialog nicht ausgeschlossen wird. Auf diese Entführungen folgen denn auch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, um die Freilassung von inhaftierten Rebellen zu fordern. Hier lässt das Vorgehen westlicher Mächte die Anstrengungen lokaler Regierungen wirkungslos werden, denn „viele europäische, südamerikanische und asiatische Regierungen zahlen Millionen Euro für die Befreiung ihrer Bürger. Bestimmte Mächte, wie Frankreich betreiben Lobbyarbeit bei den Sahelstaaten, um die Freilassung ihrer Bürger im Austausch gegen inhaftierte Terroristen zu erreichen“ (Sarambe 2018, S. 69). So kommt es oft zu drastisch ungleichen Verhältnissen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Freilassung von 200 verdächtigten Terroristen in Mali im Austausch für die Befreiung von vier westlichen Geiseln (vgl. DW 2020).

Ein großer Teil der Refinanzierung und Verstärkung von Terrorgruppen stammt daher aus der Leichtigkeit, mit der einige Staaten in der Lage sind, Millionen für die Freilassung ihrer Geiseln zu zahlen und auch aus dieser Art von unverhältnismäßigem Gefangenenaustausch. Die Verhandlungsbereitschaft allerdings zeigt, dass es durchaus möglich ist, dialogorientierte Mechanismen zur Lösung der Sicherheitskrise im Sahel zu entwickeln. Der vom Westen favorisierte militärische Ansatz kann nicht die einzige Lösung sein, er verfestigt viel eher den Teufelskreis der Unsicherheit im Sahel.

Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt. Insbesondere die USA und Großbritannien scheinen die Initiative abzulehnen, da sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderten, die Finanzierung dieser Armee abzulehnen. Dies bringt die herablassende Haltung der Vormundschaft der westlichen Mächte gut zum Ausdruck, die es vorziehen, afrikanische Regierungen durch ihre Finanzen und ihre eigenen Armeen zu kontrollieren. Das führt uns zu der Frage, welche Interessen der Westen im Sahel verfolgt.

Ausländische Militärpräsenz in der Sahelregion

Der westliche Interventionismus, auch wenn er offiziell mit dem Schutz der Menschen(rechte) legitimiert wird, wird dennoch von Zielen der geopolitischen Einflussnahme und der »Sicherung« von Rohstoffen geleitet. Das gilt auch für die militärische Präsenz ausländischer Mächte in der Sahelzone.

Angesichts der Schwierigkeiten der westlichen Staaten, im Nahen Osten im Wettlauf um Rohstoffe mithalten zu können, kann die ausländische Militärpräsenz im Sahel als Ausweichbewegung des Westens hin zu »neuen Ressourcenquellen« gesehen werden. Laut Mahdi Taje, besteht das Ziel der ausländischen Mächte in der Sahelzone darin, „sich innerhalb dieses strategischen Korridors zu positionieren, um ihre Versorgung mit […] energetischen und mineralischen Stoffen zu sichern; in Richtung des Golfs von Guinea für Amerika, der Sahara und des Mittelmeers für Europa und schließlich des Roten Meeres für Asien.“ (Algeria-Watch 2012). Ein Bericht des US-Rats für Auslandsbeziehungen aus dem Jahr 2005 weist bereits auf die Chance hin, die Afrika zukünftig für die Energieversorgung des Landes darstellen wird: „Bis zum Ende des Jahrzehnts (2000) wird Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich eine ebenso wichtige Quelle für US-Energieimporte werden wie der Nahe Osten. In Westafrika gäbe es etwa 60 Milliarden Barrel an nachgewiesenen Ölreserven.“ (Fodé 2010) Im Jahr 2013, dem Jahr der Militäroperation »Serval« in Mali, legte der französische Senat dann auch einen Bericht vor, der von der Arbeitsgruppe „Frankreichs Präsenz in einem begehrten Afrika“ erstellt wurde. In ihrem Bericht forderte sie „einen sicheren Zugang zu Energie- und Bergbauressourcen zu gewährleisten“ (Rigouste 2017).

Die Sahelzone bietet dafür enorme Kapazitäten. Sie ist ein Glücksfall für die Goldindustrie, die die Goldvorkommen in Burkina Faso und vor allem in Mali (die drittgrößte Reserve Afrikas) ausgiebig nutzen kann. Mit neu entdeckten Ölvorkommen im Tschad und in Mauretanien (z.B. im Taoudéni-Becken) bietet der Sahel zudem einen großen Spielraum bei der Extraktion von Gasvorkommen und Öl. Ebenso bestehen enorme Kapazitäten in Bezug auf Uran, Diamanten, Phosphat, Bauxit, Plutonium, Mangan und Kobalt. All diese natürlichen Ressourcen machen die Region zu einem Ort der Begierde.

Frankreichs Interessen im Sahel

Nachdem die französischen Militärinterventionen der frühen 2000er Jahre in Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste, in Zentralafrika und in Libyen, enorme Kritik auf sich gezogen hatten, erklärte das Land, es wolle mit seiner Vergangenheit in Afrika und vor allem mit seinem Ruf als Neokolonisator brechen. François Hollande sagte im Oktober 2012 in Dakar vor dem Nationalrat Senegals, er wolle „rompre avec la Françafrique“ („mit der Idee von Françafrique brechen“).

Die Ankündigung des französischen Präsidenten im Januar 2013, militärisch im Kampf gegen den Terrorismus in Mali zu intervenieren, wurde daher von der Öffentlichkeit mit großer Überraschung und Kritik aufgenommen. Diese Intervention wurde deswegen als imperialistisch bezeichnet, weil es sich nicht um einen indirekten Eingriff handelte (z.B. Versorgung malischer bzw. sahelischer Truppen mit Kampflogistik), sondern vielmehr direkt Tatsachen schaffte mit der Entsendung französischer Truppen vor Ort. Dies nachdem Hollande nicht einmal ein halbes Jahr zuvor versprochen hatte, dass „es niemals französische Truppen vor Ort geben würde“.

Ein weiteres kompromittierendes Moment ist die Tatsache, dass Frankreich nicht auf die Zustimmung der Vereinten Nationen wartete, um zunächst die Militärmission »Serval« (2013) und dann »Barkhane« (2014) zu entsenden. Laut der malischen Aktivistin Amina Traoré nutze Frankreich den Anti-Terror-Kampf aus, um sich an dem Land zu rächen, nachdem die französische Armee am 20. Januar 1961 vom damaligen Präsident Modibo Keita vertrieben wurde (Tchangari 2017, S. 21). Die Aktivistin prangert eine exzessive Ausweitung der militärischen Präsenz des ehemaligen Kolonisators in dem Gebiet an.

Laut Michel Galy war die französische Intervention in Mali „geopolitischer Natur: Es geht darum, dass Frankreich einen Einflussbereich in Afrika aufrechterhält, auch wenn dies bedeutet, Staaten unter Vormundschaft zu stellen und illegitime Regierungen zu unterstützen“ (Galy 2013, S. 89). Es ist daher nicht überraschend, dass seit der Operation »Serval« die französischen Militäraktionen in andere Länder der Sahelzone (Niger, Burkina Faso) ausgeweitet wurden.

Der französische Präsident Macron sagte gar zu, dass „die Operation Barkhane erst an dem Tag enden wird, an dem es keine islamistischen Terroristen mehr in der Region geben wird“ (Granvaud 2017). Laurent Bigot, ehemaliger Diplomat, wird mit der Antwort zitiert, dass man: „mit einer solchen Ankündigung (…) einen 100-Jahres-Pachtvertrag für Barkhane“ unterschreibe (ebd.). Seit der Stationierung französischer Truppen setzen aber weiterhin terroristische Gruppen die sicherheitspolitische Agenda und sind noch einflussreicher als zuvor.

Die US-amerikanischen Interessen im Sahel

Die Stationierung amerikanischer Soldat*innen in der Sahelzone folgt ebenso der Logik des Schutzes strategischer Interessen: Sicherung des Zugriffs auf Energieressourcen und der Kampf gegen terroristische Gruppen. Der Einsatz der USA kombiniert finanzielle Hilfe, fokussiert auf die Sicherheitsprogramme afrikanischer Länder, mit der militärischen Präsenz vor Ort. Dazu zählen eine Militärbasis in Ouagadougou, Burkina Faso; Trainingslager für ausländische Söldner in Libyen; je eine Basis für Überwachungsdrohnen im nördlichen und südlichen Afrika in Niamey, Niger; sowie im erweiterten Sinne Militärflugzeuge, Mitglieder der US Navy Special Forces, AFRICOM und sogar CIA-Geheimdienstler in Europa, die jederzeit bereit sind, in der Sahelzone zu intervenieren.

Es ist nur ein scheinbares Paradox, wie sich die US-Regierung verhält mit ihrem militärischen und finanziellen Einsatz für den Anti-Terror-Kampf und dem gleichzeitigen Veto im UN-Sicherheitsrat gegen die Gründung einer unabhängigen afrikanischen Armee, die die Führung im Kampf gegen Terrorismus im Sahel hätte übernehmen sollen. Denn in diesem scheinbaren Paradox steckt der Wunsch, diese Länder unter westlicher Vormundschaft zu halten und ihnen eine externe militärische Präsenz und finanzielle Hilfe aufzuzwingen. Darin liegt der neokoloniale Aspekt der amerikanischen Militärpräsenz in der Sahelzone.

Neokolonialismus im Sahel: Rohstoffsicherung und Firmenexpansionen

Wie im Nahen Osten scheint der Krieg seit der militärischen Stationierung des Westens in der Sahelzone endlos zu werden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Hypermilitarisierung der Region von der Ansiedlung multinationaler Firmen begleitet wird.

Wie in der Kolonialzeit ist die Eroberung von Land nicht nur von der Suche nach Rohstoffen motiviert, sondern auch von der Suche nach neuen Märkten. Die Länder des Sahel bieten nicht nur Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres Naturreichtums, sondern auch menschlicher (Arbeitskraft) und finanzieller (Markt) Ressourcen. Wie Nkrumah es voraussagte, sind die kolonialen Mechanismen unverändert geblieben.

An einigen exemplarischen Beispielen im Falle von Frankreich lässt sich das verdeutlichen: Frankreich hat beispielsweise den zweithöchsten Uranverbrauch der Welt, aber seit einigen Jahren gar keine eigene Produktion mehr im Lande. Allerdings kann Frankreich dank seines Unternehmens »Areva« (heute: »Orano«) seit 2012 seine Position als zweitgrößter Uranproduzent der Welt halten (vgl. World Nuclear Association 2020). Das französische Unternehmen sieht sich einer starken ausländischen Konkurrenz gegenüber (Kazatomprom, Kasachstan; Cameco, Kanada) und unternimmt daher große Anstrengungen, um Märkte zu besetzen oder sein Interesse zu schützen.

Der französische Konzern fördert vor allem Uranabbau in den Arlit-Minen in Niger. So wundert es nicht, dass der Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und seiner Energieversorgung eine der Motivationen für die militärische Intervention des Landes in der Sahelzone war. General Vincent Desportes gab dies auch offen zu: „Wenn Frankreich am 11. Januar 2013 (in Mali) keine Verpflichtung eingegangen wäre, hätten die größten Risiken […] für die sehr wichtigen Uranvorkommen in Niger bestanden“ (Chitour 2018). Trotz seines Urans bleibt der Niger am Ende der Rangliste der ärmsten Länder der Welt. Es handelt sich also um einen Reichtum, der nicht der Staatskasse zugutekommt, sondern den Firmen, die ihn ausbeuten.

Frankreich ist durch das Unternehmen »Total« auch an der Erdölförderung und der Förderung der Solarenergie in Mauretanien und Burkina Faso beteiligt. Im Jahr 2012 hatte »Total« angekündigt, „zwei Genehmigungen zur Erdölförderung mit den mauretanischen Behörden im Becken von Taoudéni unterzeichnet zu haben“ (Algeria-Watch 2012). Nicht wenige Analyst*innen sehen auch in diesem Engagement einen weiteren Grund für die französischen Interventionen der letzten Jahre.

Auch die Konsument*innen haben französische Konzerne im Blick, wie beispielsweise der Telekommunikationsanbieter »Orange«, der 2017 schon 110 Millionen Kund*innen in Afrika gegenüber 6,4 Millionen im Jahr 2004 vorweisen konnte (Piot 2017) oder erst kürzlich die Supermarktkette »Carrefour«, die sich allmählich in Ländern niederlässt, in denen eine entstehende Mittelschicht und eine beschleunigte Urbanisierung genügend potenzielle Kund*innen versprechen.

Die gehäufte Ansiedlung ausländischer Firmen auf afrikanischem Boden wird nicht immer wohlwollend betrachtet, weil sie keinen Platz für lokale Firmen lassen, die ebenfalls in diese Sektoren einsteigen möchten. Die multinationalen Konzerne dagegen profitieren von den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die Frankreich den afrikanischen Ländern aufgezwungen hat, und von der Verwendung der Kolonialwährung, dem Franc-CFA.

In der Tat gewähren die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den multinationalen Konzernen eine Steuerbefreiung von fast 80 %; so können sie mit viel Freiheit in den westafrikanischen Markt expandieren, während die Einheimischen gezwungen sind, Steuern an den Staat zu zahlen und wegen Franc-CFA Beschränkungen kaum Subventionen von den Banken erhalten, um ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die externalisierte Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Imperialismus lässt sich am Beispiel von »Orano« in Niger gut illustrieren, denn diese ruft in der afrikanischen Öffentlichkeit viel Kritik hervor. Im Gespräch mit Matteo Maillard (2018) porträtiert die Regisseurin eines Films über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Uranminen Nigers, Amina Weira, eine übermächtige »Orano«, gegen die aus Angst vor Repressionen nichts gesagt werden darf. Im Interview erzählt sie vom vergifteten Trinkwasser, den Häusern, die mit der Erde aus den Minen gebaut wurden, der verseuchten Nahrung und dem sterbenden Vieh. Sie schildert die unerträglichen Arbeitsbedingungen, das Schicksal der Mitarbeiter, die an den Folgen der Radioaktivität erkranken und sterben, das Leid der durch die Verschmutzung der Fabrik kontaminierten Frauen, die keine Kinder bekommen können oder Kinder mit Missbildungen haben. Sie spricht auch über den politischen Einfluss des staatlich geschützten Konzerns, der ohne Rücksicht auf internationale Gesundheitsforderungen produziert. Neben Amina Weira beklagen auch einige Nichtregierungsorganisationen wie »Aghir In‘man« und die »Kommission für unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität« (CRIIRAD), dass die lokale Bevölkerung in den Uranabbaugebieten den schädlichen Auswirkungen der Radioaktivität ausgesetzt ist.

Diese Beispiele verdeutlichen eindrücklich, warum die Stationierung ausländischer Firmen und die westliche Militärpräsenz in der Sahelregion Misstrauen bei der Bevölkerung und den Rebellengruppen erzeugt, die darin die Rekolonisierung der Region sehen. Angesichts dieses imperialistischen Raubzugs können wir nur für ein vereintes Afrika eintreten, denn, wie Nkrumah weiter sagte, „der Kampf gegen den Kolonialismus endet nicht, wenn die nationale Unabhängigkeit erreicht ist. Diese Unabhängigkeit ist nur das Vorspiel zu einem neuen und komplexeren Kampf … für die Rückgewinnung des Rechts, unsere wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten selbst zu regeln, frei von den überwältigenden und demütigenden Fesseln neokolonialer Herrschaft und Intervention“ (Nkrumah 1963).

Literatur

Abba, S. (2017): Niger: La victoire sur Boko Haram ne sera pas que militaire. LeMonde, 16.04.2017.

Algeria-Watch (2012): Instabilité dans la région du Sahel. Les ressources minières et énergétique attisent les convoitises. 30.04.2012.

Chitour, Ch. E. (2013): Les huit plaies de l‘Afrique. Cinquante ans d‘errance. L‘Expression, 11.06.2013.

Chitour, Ch. E. (2018): Grande bouffe du Sommet de l’Afrique: Un coup d’épée dans l’eau. Mondialisation.ca, 23.11.2018.

Chtatou, M. (2019): Sahel, poudrière internationale. Article 19.ma, 02.12.2019.

Deutsche Welle (DW) (2020): Mali. 4 hostages released in ‚prisoner swap‘. 08.10.2020.

Fondé, D.R. (2010): Otages, Areva, Total, Africom: Les enjeux cachés d’une occupation militaire du Sahel. Mondialisation.ca, 15.12.2010.

Galy, M. (2013): Pourquoi la France est-elle intervenue au Mali? In: (Ders.) (Hrsg.): La Guerre au Mali. Comprendre la crise au Sahel et au Sahara. Enjeux et Zones d’Ombre. Paris: La Découverte, S. 76-90.

Granvaud, R. (2017): Barkhane.Chronique d’un naufrage annoncé. Survie, Billets d‘Afrique No. 268, 05.06.2017.

Maillard, M. (2018): Niger. „A Arlit, les gens boivent de l’eau contaminée par la radioactivité“ Le Monde Afrique, 26.02.2018.

Mbembe, A. (2011): „En Côte d’Ivoire, c’est une démocratie sans éthique qui se construit“, Interview mit Sabine Cessou, Slate Afrique, 22.06.2011.

Nkrumah, K. (1963): Speech at the inaugural ceremony of the OAU Conference in Addis Ababa, Ethiopia, »We must unite now or perish«, 24.05.1963.

Piot, O. (2017): Les entreprises françaises défiées dans leur pré carré. Le monde diplomatique, April 2017, S. 22f.

Rigouste. M. (2017): Que fait l’armée française au Sahel? OrientXXI, 13.10.2017.

Sarambe, L. A. (2018): Les Mécanismes De Lutte Contre Le Terrorisme En Afrique De L’ouest: Quel Impact? Masterarbeit an der Universität von Ottawa.

Tchangari, M. (2017): Sahel. Aux origines de la crise sécuritaire. Conflits armés, crise de la démocratie et convoitises extérieures, Niamey.

World Nuclear Association (2020): World Uranium Mining Production. www.world-nuclear.org, Dezember 2020.

Dolly Katiutia Alima Afoumba hat einen Master in Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Als Aktivistin und Journalistin gibt sie Workshops und schreibt über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik.

Brennpunkt Nordwestkenia

Brennpunkt Nordwestkenia

Zwischen Klimawandel, Konflikten, Öl und Wind

von Janpeter Schilling

Häufigere Dürren, unzuverlässiger Regen und Gewaltkonflikte um Vieh, Land und Wasser plagen die Hirtenvölker im Nordwesten Kenias. Vor einigen Jahren wurden nun erhebliche Ölreserven in der Region gefunden, und es wurde der größte Windpark Afrikas gebaut. Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Bevölkerung?

Der Nordwesten Kenias ist eine trockene, dünn besiedelte Region. Die Menschen in den Counties (vergleichbar mit deutschen Bundesländern) Turkana und Marsabit leben überwiegend von ihren Herden aus Ziegen, Schafen, Kühen und Kamelen, mit denen sie auf der Suche nach Wasser und Weideflächen im Norden Kenias und in den Grenzregionen der Nachbarländer Uganda, Südsudan und Äthiopien umherziehen (Abb. 1). Am Turkanasee, einem der größten Salzseen der Welt, betreiben einige Gemeinschaften Fischfang. Landwirtschaft spielt aufgrund des trockenen Klimas so gut wie keine Rolle.

Die größte Herausforderung für die Menschen, besonders in Turkana, sind Gewaltkonflikte zwischen Hirtenvölkern. In bewaffneten Überfällen stehlen sich verschiedene Gruppen, besonders die Turkana, Pokot, Samburu und Rendille, gegenseitig ihr Vieh und kämpfen um die Kontrolle von Wasserstellen und Weideflächen. Die Konflikte kosten jedes Jahr mehrere hundert Menschen das Leben und führen zu Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung (Schilling et al. 2012).

Die zweite große Herausforderung für die Menschen in Nordwestkenia ist der Klimawandel. Er führt durch einen Anstieg der Temperaturen zu einem erhöhten Dürrerisiko und zu veränderten Niederschlagsmustern. Üblicherweise fällt der meiste Niederschlag während der »langen Regenzeit« zwischen März und Mai sowie in der »kurzen Regenzeit« zwischen Oktober und Dezember. In den letzten Jahrzehnten löst sich dieses Muster zunehmend auf, und Dürren treten in geringeren Abständen auf. Für die nomadischen Viehhalter wird es daher schwieriger zu wissen, wann und wo Wasser und Weideflächen verfügbar sind (Schilling et al. 2014). Die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Klima-Konflikt-Zange.

Seit Kenia 1963 die Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich erlangte, interessierte sich die Zentralregierung in Nairobi kaum für den Norden des Landes und dessen Probleme. Jahrzehnte der politischen und ökonomischen Marginalisierung führten dazu, dass der Norden der ärmste Teil des Landes wurde und sich nur eine sehr schwache Wirtschafts-, Bildungs- und Transport­infrastruktur entwickelte. Seit 2012 hat sich das Interesse der Zentralregierung an Turkana schlagartig erhöht. Der Grund: Es wurden signifikante Ölvorkommen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt waren außerdem die Pläne für einen Windpark am Turkanasee in Marsabit bereits weiter fortgeschritten; Anfang 2017 wurden die letzten der insgesamt 365 Turbinen aufgestellt (Schilling et al. 2018).

Bieten Erdöl und Windenergie für die lokale Bevölkerung einen Ausweg aus der Klima-Konflikt-Zange, oder verschlechtert die Ausbeutung der Ressourcen gar die Situation? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach. Dazu werden zunächst die Auswirkungen der Ölexploration und des Windparks diskutiert, bevor eine abschließende Bewertung erfolgt.

Die Auswirkungen von Öl auf die lokale Bevölkerung

Die Bevölkerung, die in Turkana in der Nähe der Erdölexploration lebt, profitiert von dieser insbesondere durch Beschäftigungsmöglichkeiten, einer (zumindest kurzfristig) höheren Wasserverfügbarkeit, neuen Straßen und Schulgebäuden sowie einer verbesserten Sicherheitslage in der Nähe der Ölanlagen, der Stimulation der lokalen Wirtschaft und den Einnahmen aus der Ölförderung. Allerdings sind all diese Vorteile im Umfang und zeitlich sehr begrenzt (Schilling et al. 2018). In einer Region, in der formale Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten kaum vorhanden sind, ist es für die lokale Bevölkerung besonders wichtig, auf diesem Weg vom Öl zu profitieren. Das sehr geringe Bildungsniveau in Turkana ermöglicht der lokalen Bevölkerung jedoch nur Zugang zu sehr einfachen Jobs, deren Verfügbarkeit sich zudem meist auf die frühe Phase der Ölerschließung beschränkt. Zu dieser Zeit werden vor allem Arbeitskräfte gebraucht, die Büsche für die infrastrukturelle Erschließung entfernen, und weitere Arbeiter, die aufpassen, dass es nicht zu Unfällen zwischen Fahrzeugen und Personen oder Vieh kommt. Später werden dann nur noch Sicherheitskräfte benötigt, die jedoch überwiegend nicht aus Turkana kommen.

Nach entsprechenden Forderungen der lokalen Bevölkerung ließ die operierende Ölfirma Tullow an einigen Hauptstraßen Tanks errichten, die regelmäßig von der Firma gefüllt werden und so zusätzliche Wasserstellen für die lokale Bevölkerung und ihre Herden bieten. Allerdings schaffen die Wasserstellen eine Abhängigkeit von der Firma, die die Befüllung der Tanks jederzeit stoppen kann. Mittel- bis langfristig ist davon auszugehen, dass sich die Wasserverfügbarkeit für die lokale Bevölkerung verschlechtern wird, da für die Ölförderung erhebliche Mengen an Wasser benötigt werden. Tullow hat selbst bestätigt, dass zur Förderung von einem Fass Öl die drei- bis vierfache Menge an Wasser gebraucht wird (Mbugua 2017). Das Ölvorkommen in Turkana wird auf 560 Millionen Fass geschätzt. Ab 2022 sollen bis zu 100.000 Fass pro Tag gefördert werden (Akwiri 2019). Tullow und die lokale Bevölkerung konkurrieren damit um die selbe Ressource, jedoch mit sehr ungleichen Mitteln.

Die geplante Ölförderung verbessert die bestehende, überwiegend marode Straßeninfrastruktur, jedoch werden nur jene Straßen aus- bzw. neu gebaut, die zu den Ölförderanlagen führen. Der Nutzen für die lokale Bevölkerung ist daher begrenzt. Der Bau von einigen neuen Schulgebäuden wurde durch Tullow finanziert, ebenso die Anschaffung von Schulbüchern. In der direkten Umgebung der Ölförderung verbesserte sich zudem die Sicherheitslage, da Tullow eigene Sicherheitskräfte beschäftigt und Viehdiebstähle dadurch zurückgegangen sind. Allerdings beschäftigte Tullow zumindest zu Beginn auch Sicherheitskräfte aus der Region, die dann in ihren Dörfern nicht mehr zum Schutz zur Verfügung standen (Schilling et al. 2018). Seit die Ölexploration im Jahr 2012 begann, kommen viel mehr Menschen in die Region. Dies führte zu einem Anstieg an Übernachtungsmöglichkeiten, einfachen Restaurants und Bars. Diese Entwicklung ist besonders in der Kleinstadt Lokichar zu beobachten, die zu einer Boomtown und zum Zentrum der Ölförderung wurde (Abb. 1). Von den staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung profitieren die lokalen Gemeinden kaum. Lediglich 5 % der Einnahmen sind für sie vorgesehen, während 20 % an die County-Regierung und 75 % an die Zentralregierung gehen (Akwiri 2019).

Den Vorteilen aus der Ölexploration und -förderung stehen erhebliche negative Auswirkungen entgegen. Die Diskrepanz zwischen der Erwartung der lokalen Bevölkerung, einen (dauerhaften) Job bei Tullow zu erhalten, und dem tatsächlichen Beschäftigungsangebot führte zu anhaltenden Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und Tullow. Diese zeigen sich in Straßenblocken und vereinzelten Angriffen auf Ölförderungseinrichtungen. Da die lokale Bevölkerung keine Landrechte besitzt, wurde sie für das zur Ölförderung eingezäunte und damit verlorene Land nicht entschädigt. Auch wenn die geplante Ölpipeline überwiegend unter der Erdoberfläche verlaufen soll, darf aufgrund der erheblich höheren Kosten bezweifelt werden, dass dies tatsächlich realisiert wird. Eine oberirdisch verlaufende Pipeline würde aber die Migrationsrouten der Viehhalter und ihrer Herden beinträchtigen. Ohnehin ist zu befürchten, dass ohne strenge Umweltauflagen und deren Einhaltung die Ölförderung zu einer erheblichen Verschmutzung von (Grund-) Wasservorkommen und (Weide-) Land führen wird (Schilling et al. 2018). Dies wird sich jedoch erst zeigen, wenn die Ölproduktion in einigen Jahren voll angelaufen ist. Dann wird auch der bereits erwähnte Effekt auf die Wasserverfügbarkeit zum Tragen kommen.

Die Auswirkungen des Windparks auf die lokale Bevölkerung

Die Region, in der der Windpark errichtet wurde, ist sehr dünn besiedelt. Sarima, ein Dorf mit etwa 2.000 Einwohner*innen, musste um zwei Kilometer verlegt werden, um dem Windpark und dessen Zufahrtsstraßen Platz zu machen (Schilling and Werland, im Erscheinen). Im Vergleich zu der Ölexploration fallen sowohl die Vorteile als auch die Nachteile für die Bevölkerung von Sarima und der gut zwei Autostunden entfernten Siedlung Loiyangalani geringer aus (Schilling et al. 2018). Der Beschäftigungseffekt beschränkte sich fast ausschließlich auf die Bauphase des Parks, die im März 2017 endete. Auch hier standen einfache Tätigkeiten im Vordergrund, wie die Entfernung von Büschen. Seit der Fertigstellung des Windparks werden nur noch sehr wenige Mitglieder der Gemeinde von Sarima beschäftigt, insbesondere als Wachleute oder zur Versorgung des Camps des Windkraftbetreibers Lake Turkana Wind Power (LTWP).

Da die Anlieferung der Windkraftanlagen aus Süden erfolgte, verbesserte sich die Anbindung von Sarima an Loiyangalani nicht, wohl aber die Erreichbarkeit von South Horr, einer südlich gelegenen Kleinstadt. Dies führte unter anderem zu einem schnelleren Busverkehr zwischen South Horr und Sarima. Die Wasserversorgung verbesserte sich für Sarima nur vorübergehend. LTWP bohrte einen Brunnen im Dorf und installierte eine Entsalzungsanlage, die jedoch nach kurzer Zeit nicht mehr funktionierte, sodass die Dorfgemeinschaft seitdem das unbehandelte Wasser konsumiert. Anders als bei der Ölförderung sind für die Produktion von Windkraft keine größeren Wassermengen nötig, da es sich bei der Kühlung der Turbinen um einen geschlossenen Kreislauf handelt. Inwieweit der Schattenwurf und die Geräusch­emissionen die Bevölkerung von Sarima beeinträchtigen, ist bisher nicht untersucht. Allgemein haben Studien negative Gesundheitsfolgen von Windkraftanlagen, z.B. Stress, nachgewiesen (siehe Freiberg et al. 2019 für einen Überblick). In Sarima sind diese besonders wahrscheinlich, da der Windpark aufgrund fehlender gesetzlicher Mindestabstände direkt an das Dorf angrenzt (Abb. 2).

Der Windpark hat eine Gesamtkapazität von 310 Megawatt; damit ist er der größte auf dem afrikanischen Kontinent. Seit Oktober 2018 ist der Windpark an das Stromnetz Kenias angeschlossen, 1,5 Jahre nach seiner Fertigstellung. Allerdings gehört sowohl die Bevölkerung von Sarima als auch die von Loiyangalani weiterhin zu dem Viertel der kenianischen Bevölkerung, das über keinen Stromanschluss verfügt (Schilling and Werland, im Erscheinen).

Lösungsperspektiven

Auf der einen Seite bewaffnete Konflikte, auf der anderen der Klimawandel – die Bevölkerung im Nordwesten Kenias steckt in der Zange. Die erheblichen Erdölvorkommen und der größte Windpark Afrikas bieten keinen Ausweg. Im Gegenteil, die kaum regulierte Erdölförderung bedroht die Wasser- und Landressourcen und damit die Lebensgrundlage der Hirtenvölker. Öl könnte für sie zur Sackgasse werden. Am Turkanasee wiederum wird klimafreundlicher Strom für das nationale Stromnetz produziert, während die direkten Nachbarn des Windparks weiter im Dunkeln sitzen. Gerechte Entwicklung sieht anders aus.

Was also müsste passieren, damit Öl und Wind der lokalen Bevölkerung eine positive Perspektive bieten? Zunächst müsste die Zentralregierung in Nairobi die Ölvorkommen und den Windpark als Chance verstehen, die lange Geschichte der Vernachlässigung und Marginalisierung des Nordwestens hinter sich zu lassen, massiv in die Wirtschafts-, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur der Region zu investieren und gleichzeitig die Lebensform der Hirtenvölker anzuerkennen und zu stärken. Sowohl die Einnahmen aus der Ölproduktion als auch die neuen Strukturen im Rahmen des kenianischen Dezentralisierungsprozesses bieten die Chance, erhebliche Investitionen vor Ort zu tätigen, anstatt Öl als Bereicherungsinstrument für die Zentralregierung zu verstehen. Da sich die negativen Effekte der Ölförderung und der Windenergiegewinnung auf der lokalen Ebene entfalten, muss dies auch für die Vorteile gelten. Der Großteil der Öleinnahmen sollte daher der lokalen Bevölkerung zugesprochen werden. Sarima und Loiyangalani müssen umgehend an das Stromnetz Kenias angeschlossen werden. Aufgrund der Nähe zum Windpark wäre dies nach Einschätzungen von Ingenieuren kostengünstig und einfach machbar (Schilling and Werland, im Erscheinen). Dies würde zudem sehr wahrscheinlich die Akzeptanz des Windparks in der Bevölkerung erhöhen.

Darüber hinaus muss die lokale Bevölkerung vor den negativen Umweltauswirkungen der Ölförderung und der Windkraftanlagen geschützt werden. Hierzu bedarf es einer strengeren (Umwelt-) Gesetzgebung, die aktuell verschleppt wird, und deren konsequenten Anwendung und Kontrolle. Die bisherigen Governance-Strukturen und das insgesamt hohe Korruptionsniveau in Kenia geben jedoch wenig Hoffnung, dass die hier formulierten Vorschläge bei der kenianischen Zentralregierung auf offene Ohren stoßen. Es ist daher wichtig, auch andere Akteure in den Blick zu nehmen. Tullow und LTWP haben zwar Recht, wenn sie anführen, dass der Bau von Straßen und Schulen nicht ihre, sondern die Aufgabe des Staats ist. Dennoch sind die Unternehmen für negative (Umwelt-) Auswirkungen verantwortlich, und sie müssen daher alles dafür tun, diese Auswirkungen und falsche Erwartungen in der lokalen Bevölkerung zu vermeiden.

Die lokalen Gemeinschaften sind aufgrund ihres geringeren Bildungsniveaus und der kaum vorhandenen Finanzmittel in einer schwachen Position. Bisher reagieren sie auf die Ungerechtigkeit vor allem mit dem Einsatz von Gewalt, meist in Form von Straßensperren. Unterstützt von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), könnten sie sich auch auf anderen Wegen für ihre Interessen einsetzen. Zum Beispiel könnten NGOs als Vermittler im Konflikt auftreten, helfen, kooperative (Netzwerk-) Strukturen aufzubauen, und die verschiedenen Parteien, insbesondere Vertreter der Unternehmen, der lokalen Gemeinschaften und der Regierung, an einen Tisch bringen und für regelmäßigen Austausch sorgen. Eine Studie aus Südkenia zeigt, dass solche Ansätze Konflikte um Ressourcen entschärfen können (siehe Ngaruiya and Scheffran 2016). In Turkana und Marsabit fehlen solche Initiativen bislang, obwohl gerade in Turkana viele internationale Entwicklungs- und Peacebuilding-Organisationen vertreten sind.

Letztlich müssen der Jugend der beteiligten Konfliktparteien attraktive Einkommensalternativen zu bewaffneten Überfällen und Straßenblockaden gegeben werden, wenn der Nordwesten Kenias eine echte Chance auf eine friedliche Entwicklung haben soll. Gelingt dies nicht, wird besonders in Turkana das Öl weiter Gewaltkonflikte anheizen.

Literatur

Akwiri, J. (2019): Kenya’s First Crude Oil Export Sparks Demands Over Revenue Sharing. reuters.com, 26.8.2019.

Freiberg, A.; Schefter, C.; Girbig, M.; Murta, V.C.; Seidler, A. (2019): Health Effects of Wind Turbines on Humans in Residential Settings – Results of a Scoping Review. Environmental Research, Vol. 169, Nr., S. 446-463.

Mbugua, S. (2017): Oil-rich yet on Edge in Turkana. The New Humanitarian, 6.11.2017.

Ngaruiya, G.W.; Scheffran, J. (2016): Actors and Networks in Resource Conflict Resolution Under Climate Change in Rural Kenya. Earth System Dynamics, Vol. 7, Nr. 2, S. 441-452.

Schilling, J.; Opiyo, F.; Scheffran, J. (2012): Raid­ing Pastoral Livelihoods – Motives and Effects of Violent Conflict in North-western Kenya. Pastoralism, Vol.. 2, Nr. 25, S. 1-16.

Schilling, J.; Akuno, M.; Scheffran, J.; Weinzierl, T. (2014): On Raids and Relations – Climate Change, Pastoral Conflict and Adaptation in Northwestern Kenya. In: Bob, U.; Bronkhorst, S. (eds.): Conflict-sensitive Adaptation to Climate Change in Africa. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, S. 241-268.

Schilling, J.; Locham, R.; Scheffran, J. (2018): A Local to Global Perspective on Oil and Wind Exploitation, Resource Governance and Conflict in Northern Kenya. Conflict, Security & Development, Vol. 18, Nr. 6, S. 571-600.

Schilling, J.; Werland, L. (im Erscheinen): Interaction between Wind Energy, Climate Vulner­ability and Violent Conflict in Northern Kenya. In: Brzoska, M.; Scheffran, J. (eds.): Climate Change, Security Risks, and Violent Conflicts. Hamburg: Universität Hamburg, S. 65-79.

Dr. Janpeter Schilling ist Klaus-Töpfer-Stiftungsjuniorprofessor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau und wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

Wüstenheuschrecken


Wüstenheuschrecken

Problemmultiplikator und Gefahr für die menschliche Sicherheit

von Inka Steenbeck

Seit Ende des Jahres 2019 gefährdet eine der schlimmsten Wüstenheuschreckeninvasionen der vergangenen Jahrzehnte die Nahrungssicherheit und die ökonomische Stabilität in Ländern und Regionen von Afrika bis Asien. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) könnten die Schwärme der zerstörerischen Insekten mehr als 65 der ärmsten Länder der Welt befallen. Die Auswirkungen sind schon heute verheerend; die Klimaveränderung ist vermutlich auch für dieses Phänomen eine der Ursachen.

Während die weltweite Covid-19-Pandemie seit Anfang des Jahres 2020 die Welt in Atem hält, kämpfen viele Länder mit einer weiteren Bedrohung. Massive Schwärme Wüstenheuschrecken befallen seit Ende des Jahres 2019 Felder und Ernten und gefährden die Lebensgrundlage zahlloser Menschen. Das geschieht überwiegend in Regionen, die aufgrund langanhaltender Dürrephasen und darauffolgender Überschwemmungen ohnehin schon mit Nahrungsknappheit konfrontiert sind.

Wüstenheuschrecken, ihre Verbreitung und Bekämpfung

Wüstenheuschreckenaufkommen sind kein neues Phänomen. Heuschreckenplagen sind bereits seit biblischen Zeiten bekannt. Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) gilt jedoch der jetzige Ausbruch in Äthiopien und Somalia als der schlimmste seit 25 Jahren, in Kenia gar als der schlimmste seit 70 Jahren. Die Wüstenheuschrecken bedrohen nicht nur die Regionen Ostafrikas. Mittlerweile haben sich die Heuschrecken von Westafrika bis nach Nepal verbreitet, einem Land, in dem seit über zwei Jahrzehnten keine Wüstenheuschrecken gesichtet wurden. Dementsprechend zeigte sich die FAO sehr besorgt über die Nahrungssicherheit in Südwestasien. In der Region hat sich das Heuschreckenaufkommen jedoch mittlerweile wieder beruhigt, lediglich in Pakistan sind noch kleine Schwärme vorhanden. Die Heuschrecken haben sich in geringen Mengen auch Richtung Westafrika ausgebreitet. Die meistbetroffenen Regionen bleiben nach wie vor der Osten und Horn von Afrika (FAO 2020a).

Auch wenn der Name Wüstenheuschrecke darauf hindeuten mag, dass diese Heuschrecken nur in der Wüste leben, benötigen sie doch starke Regenfälle und Vegetation zur Fortpflanzung, insbesondere wenn es um die Schwarmbildung geht. Wüstenheuschrecken sind im Allgemeinen Einzelgänger; in geringer Zahl stellen sie keine Bedrohung dar. Die Verwandlung von der friedlichen Solitärphase zu hungrigen und verheerenden Schwärmen mit Millionen von Heuschrecken geschieht jedoch innerhalb weniger Stunden: Finden die Einzeltiere keine Nahrung mehr, bilden sie Schwärme und wandern gemeinsam zu neuen Weideflächen.

Die Wüstenheuschrecken, die von der FAO als die zerstörerischsten Insekten der Welt kategorisiert werden, fressen an einem Tag die Menge ihres eigenen Körpergewichtes, also ungefähr zwei Gramm. Da ein Schwarm auf bis zu 80 Millionen Heuschrecken anwachsen kann, bedeutet dies, dass sie an einem einzigen Tag eine Getreidemenge fressen, mit der mehr als 35.000 Menschen ernährt werden könnten. Die Heuschrecken vernichten binnen weniger Minuten ganze Felder und ziehen dann weiter in Richtung neuer und frischer Vegetation. Bei vorteilhaften Windverhältnissen können sie bis zu 160 Kilometer am Tag zurücklegen.

Länder der Wüstenregionen, die regelmäßig Wüstenheuschrecken ausgesetzt sind, verfügen über erprobte Frühwarn- und Überwachungssysteme. Diese ermöglichen es im Falle eines erhöhten Heuschreckenaufkommens, schnell zu reagieren. Viele der derzeit betroffenen Länder, vor allem in Ostafrika, hatten jedoch jahrzehntelang keine bedeutenden Wüstenheuschreckenaufkommen und waren daher nicht auf den plötzlichen Anstieg der Insektenzahlen vorbereitet. Überdies kann in bestimmten Gebieten die Reproduktion kaum oder gar nicht bekämpft werden, z.B. in den Brutgebieten in Somalia und Jemen. Aufgrund der unsicheren politischen Situation sowie des bestehenden Sicherheitsrisikos in diesen Ländern sind Bekämpfungsmaßnahmen der Heuschrecken dort nur bedingt möglich (FAO 2020).

Expert*innen sind sich einig, dass präventive Methoden die effektivste Option sind, um die Vermehrung der Wüstenheuschrecken zu verhindern. Präventiv bedeutet, die Heuschrecken im Notfall schnell zu bekämpfen und am Migrieren zu hindern, sodass es nicht zu einer Plage kommen kann (Magor et al. 2007). Es ist von großer Bedeutung, die dafür erforderlichen Frühwarnsysteme, Fähigkeiten und Infrastrukturen in den betroffenen Ländern zu erhalten bzw. auf- und auszubauen. Bei rechtzeitiger Warnung, d.h. wenn die Heuschrecken erst in kleiner Anzahl und in wenigen Gebieten vorkommen, müssen entsprechend weniger Insektizide eingesetzt werden. Das ist kostengünstigster und weniger umweltschädlich als die Bekämpfung riesiger Schwärme (Lecoq 2001). Die Insektizide, die aktuell zur Heuschreckenbekämpfung eingesetzt werden, stellen ein Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung dar, und bei falscher Anwendung schädigen sie auch die Umwelt (Magor 2007, S. 93).

Als Einzelgänger und in geringen Mengen stellen die Wüstenheuschrecken keine Bedrohung dar. Sobald sie »gesellig« werden und Schwärme bilden, ist das Sprühen von Insektiziden sowohl aus der Luft als auch auf dem Boden die einzige effiziente Möglichkeit der Eindämmung (K. Cressman im Interview 2020). Ländern wie Kenia und Äthiopien mangelt es jedoch an Ausrüstung und technischem Fachwissen für die Bekämpfung, da ihnen die Erfahrung mit den Insekten fehlt. Darüber hinaus ist laut FAO (2020b) die Ausrüstung zur Heuschreckenbekämpfung ein »Nischenmarkt« und das internationale Angebot an Kontrollausrüstung und -produkten begrenzt. Zudem wirkt sich die weltweite Covid-19-Pandemie auf die Transportmöglichkeit für Pestizide aus (UN 2020).

Gefahr der ökonomischen Instabilität

Expert*innen errechneten, dass von der aktuellen Heuschreckeninvasion mehr als 65 Länder betroffen sein könnten (FAO 2020) – mit erheblichen Folgen für ihre Nahrungssicherheit. Es wurde befürchtet, dass die Bauern, die zwischen April und Juni dieses Jahres ihre Ernte verloren, von Ende Juni bis zur nächsten Erntesaison im Dezember 2020 keine Nahrungsvorräte mehr haben würden (FAO 2020b). Der FAO ist es jedoch gemeinsam mit Partnerorganisationen bis August 2020 gelungen, über 13 Millionen Menschen vor der Hungersnot zu bewahren. Dank der Kontroll- und Bekämpfungsmaßnahmen konnten 1,52 Millionen Tonnen Getreide vor den Wüstenheuschrecken gerettet werden – eine Menge, die knapp zehn Millionen Menschen ein Jahr lang ernähren kann (FAO 2020c).

Eine wachsende Hungersnot ist nicht die einzige Gefahr. Die destruktiven Folgen eines Wüstenheuschreckenbefalls können sich noch Jahrzehnte später auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirken (Meynard et al. 2017). Nach dem letzten großen Wüstenheuschreckenausbruch von 2003 bis 2005 in Westafrika mussten viele betroffene Haushalte ihre Ausgaben aufgrund massiver Ernteverluste reduzieren. Studien zeigten, dass Kinder, die in dieser Zeit aufwuchsen, viel seltener zur Schule gingen, da das Geld für Gesundheit und Schulbildung fehlte (Brader et al. 2006). Mädchen waren besonders stark betroffen (Baskar 2020). Familien waren gezwungen, ihr Vieh oder andere Wertgegenstände zu verkaufen. Viele Haushalte verschuldeten sich, um die Lebensmittel für ihre Familien zu finanzieren. Eine tiefgreifende Auswirkung, die beispielsweise in Dorfgemeinschaften in Burkina Faso beobachtet wurde, ist, dass viele junge Menschen oder ganze Familien die Dörfer verließen und in die Großstädte zogen, um Arbeit zu finden. Dies verschärfte die Entvölkerung der ländlichen Gebiete und die Urbanisierung, obgleich es auch in den Städten an Verdienstmöglichkeiten fehlte (Brader et al. 2006).

Wüstenheuschrecken als Multiplikator von Konflikten

Durch die Heuschreckenschwärme werden darüber hinaus vorhandene Konfliktlagen in den betroffenen Gebieten verstärkt. Eine große Besorgnis gilt aktuell den Hirtenvölkern, besonders in den nördlichen Regionen von Kenia. Die Hirtenvölker sind Nomaden, die mit ihren Herden von Weidefläche zu Weidefläche ziehen. Nomadische und halbnomadische Viehhirten überschreiten traditionell mit ihrem Vieh die Grenzen der Länder Äthiopien, Kenia, Somalia und Uganda. Daraus ergeben sich Migrationsbewegungen mit entsprechenden Herausforderungen in diesen Regionen (IOM 2020) (siehe dazu auch den Artikel von Janpeter Schilling sowie die Karte auf S. 14). Bereits aufgrund der durch den Klimawandel verstärkten Dürrephasen und der Verschiebung der Jahreszeiten waren Nomaden in den letzten Jahren zum Teil gezwungen, ihre Gebiete früher als üblich zu verlassen. Ein Anstieg von Migrationsbewegungen und ein erhöhtes Risiko von Ressourcenkonflikten zwischen Viehzüchtern und der lokalen Bevölkerung waren die Folge (IOM 2020; FAO 2020). Die Vernichtung verbliebener Grasflächen durch die Heuschrecken erhöht nun einerseits den Zwang, weiterzuziehen, und andererseits das Konfliktpotential mit der lokal ansässigen Bevölkerung, die aufgrund der Heuschrecken ohnehin um ihre Weideflächen bangt. Solche Konflikte wurden z.B. in Samburu im Norden Kenias registriert. Kenia erholt sich gerade von einer zweijährigen Dürreperiode, der schätzungsweise 40-60 % des Viehbestands zum Opfer fielen (Welthungerhilfe 2018). Bereits Ende Februar 2020 wurde berichtet, dass mehr als 70.000 Hektar Vegetation und Weideland im Osten Samburus durch Wüstenheuschrecken zerstört seien (Ondieki 2020). Expert*innen befürchten, dass diese Viehzuchtgebiete am stärksten vom Vegetationsverlust durch Heuschrecken betroffen sein werden, dies dürfte die lokalen Konflikte um Land und Ressourcen weiter zum Eskalieren bringen (Weltfriedensdienst 2018.

Heuschrecken und Klimawandel – besteht ein Zusammenhang?

Eine Heschreckenplage ist kein Phänomen, dass sich über Nacht entwickelt. Auch wenn sich das vermehrte Wüstenheuschreckenaufkommen erst Ende 2019 bemerkbar machte, liegt der Ursprung bereits zwei Jahre zurück. 2018 sorgten ungewöhnliche Wetterverhältnisse in Form vermehrter Zyklone im Indischen Ozean für Regenfälle im so genannten »Empty Corner« (Leere Ecke). Dies führte zu günstigen Bedingungen für die Reproduktion der Heuschrecken. Das betroffene Wüstengebiet, zwischen Oman, Jemen und dem Horn von Afrika gelegen, besteht lediglich aus Sanddünen, ohne Infrastruktur oder Besiedlung. Möglichkeiten zur frühzeitigen Erkennung oder Bekämpfung der Heu­schrecken gibt es hier keine. Daher konnten die Insekten dort über mehrere Generationen frei brüten. Als die Nahrung für die enorm gestiegene Menge Insekten in dem Gebiet zu knapp wurde, zogen sie weiter, um frische Nahrung zu finden. Sie entwickelten sich nun bedrohlich in Richtung Plage, von der laut FAO formal zu reden ist, wenn die Schwärme den gesamten Radius von Westafrika bis Indien befallen haben, was bis Ende dieses Jahres der Fall sein könnte (Cressman im Interview).

Über das atypisch häufige Auftreten der Zyklone hinaus trugen die klimatischen Veränderungen des Dipols im Indischen Ozean zu extrem starken Niederschlag in der Regenzeit in Ostafrika bei. Mit einer Erwärmung des Klimas um 1,5°C ist zu erwarten, dass sich solche Extremwetterereignisse verdoppeln werden (Cai et al. 2013). Die Wetterbedingungen werden dann direkt, aber auch indirekt, eine verstärkte Dynamik der Heuschreckenpopulationen bewirken und die Nahrungssicherheit in den betroffenen Ländern anhaltend gefährden (Salih et al. 2020).

Die erste Welle der Wüstenheuschrecken Ende 2019 zerstörte 70.000 ha Ackerland in Somalia und Äthiopien und 2.400 kmWeideland in Kenia (Salih et al. 2020, S. 585). Bereits im Mai 2020 zwangen die Heuschreckenschwärme mehr als 15.000 Menschen in der äthiopischen Region Wachile zur Flucht (Halake 2020). Laut Angaben der FAO sind 42 Millionen Menschen in den betroffenen Regionen ohnehin von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Trotz der Bekämpfungsmaßnahmen bleiben vor allem die Region Ost und Horn von Afrika weiter gefährdet.

Expert*innen kritisieren, dass mangelnde Vorbereitung, chronische politische Instabilität und begrenzte Kapazitäten zur Bekämpfung (Salih et al. 2020) ebenso für das Ausmaß der aktuellen Heuschreckeninvasion verantwortlich sind wie der Mangel an internationaler Hilfe (Magor 2007). Genauso gilt aber, dass dem Klimawandel und seinen Folgen durch stärkeres internationales Bewusstsein und Engagement sowie durch Weiterentwicklung der politischen Rahmenbedingungen und des Völkerrechts begegnet werden muss.

Literatur

Interview mit Mr. Keith Cressman, Senior Locust Forecasting Officer der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen. Rom, 3.7.2020 (im Rahmen der Vorbereitung der Masterarbeit).

Baskar, P. (2020): Locusts Are A Plague Of Biblical Scope In 2020. Why? And … What Are They Exactly? National Public Radio, Goats and Soda blog, June 14, 2020; npr.org.

Brader, L.; Djibo, H.; Faye, F.G.; Ghaout, S; Lazar, M.; Luzietoso, P.N.; Babah M.A. (2006): Towards a more effective response to desert locusts and their impacts on food security, livelihoods and poverty. Bericht im Rahmen des Projekts »Multilateral Evaluation of the 2003-05 Desert Locust Campaign« der Food and Agriculture Organization. Rom.

Cai, W.; Zheng, X.; Weller, E.; Collins, M.; Lengaigne, M.; Yu, W.; Yamagata, T. (2013): Projected response of the Indian Ocean Dipole to greenhouse warming. Nature Geoscience, Vol. 6, S. 999-1007.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020a): General situation during September 2020, Forecast until mid-November 2020. Desert Locust Bulletin No. 504, 5.10.2020.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020b): Desert Locust Upsurge – Progress report on the response in the Greater Horn of Africa and Yemen, January-April 2020. Rom, Mai 2020.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020c): Desert Locust Upsurge – Progress report on the response in the Greater Horn of Africa and Yemen, May-August 2020.

Halake, S. (2020): Ethiopia Steps Up Aerial Spraying To Stop New Desert Locust Invasion. VOA News, 11.5.2020.

International Organization for Migration/IOM (2020): Regional Migratant Response Plan for the Horn of Africa and Yemen 2018-2020. Nairobi.

Lecoq, M. (2001): Recent progress in Desert and Migratory Locust management in Africa – Are preventative actions possible? Journal of Orthoptera Research, Vol. 10, S. 277-291.

Magor, J.I.; Ceccato, P.; Dobson, H.M.; Pender, J.; Ritchie, L. (2007): Preparedness to Prevent Desert Locust plagues in the Central Region – an historical review. Prepared for EMPRES Central Region Programme 2005, Revised for publication 2007. Rome: Food and Agriculture Organization of the United Nation (FAO), Desert Locust Technical Series.

Magor, J.I. (2007): Plague prevention preparedness. In: Magor, J.I. et al., op.cit., S. 81-96.

Meynard, C.N.; Gay, P.; Lecoq, M.; Foucart, A.; Piou, C.; Chapuis, M. (2017): Climate-driven geographic distribution of the desert locust during recession periods – Subspecies’ niche differentiation and relative risks under scenarios of climate change. Global Change Biology, Vol. 23, Nr. 11.

Ondieki, G. (2020): Locusts threaten to trigger conflicts in Samburu. Daily Nation,19.2.2020; nation.co.ke.

Salih, A.A.M.; Baraibar, M.; Mwangi, K.K. et al. (2020): Climate change and locust outbreak in East Africa. Nature Climate Change, Vol. 10, S. 584-585

United Nations/UN (2020): Fight against desert locust swarms goes on in East Africa ­despite coronavirus crisis measures. UN News, 9.4.2020.

Weltfriedensdienst (2018): Kenia – Gemeinsam für eine Gerechte Landverteilung. 24.6. 2018. wfd.de.

Welthungerhilfe (2018): Dürre am Horn von Afrika – Alle Jahre wieder. 24.3.2018. Projekt­update.

Inka Steenbeck studierte den Masterstudiengang Peace and Security Studies der Universität Hamburg und schrieb ihre Masterarbeit zu »Klimawandel, Migration und die Heuschreckenplage in Ostafrika«.

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Kunst und Kultur in der sudanesischen Revolution

von Christina Hartmann

Die im Dezember 2018 gestarteten Proteste der sudanesischen Bevölkerung gegen das seit 30 Jahren herrschende Regime von Präsident Baschir führten im April zu dessen Sturz. Am 17. August 2019 einigten sich Militär und zivile Revolutionsführer*innen schließlich auf die Einsetzung einer Übergangsregierung, bis freie Wahlen abgehalten werden. Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, wie künstlerische Widerstandsformen und Symbole der Friedfertigkeit in der Revolution genutzt wurden, den Zusammenhalt der Demonstrant*innen stärkten und letztlich eine Übergangsregierung mit
paritätischer Beteiligung der Opposition erkämpften.

Im Dezember 2018 brachen in Atbara im nördlichen Sudan Proteste aus, die sich auf mehrere Städte ausbreiteten. Zunächst eine spontane Reaktion auf gestiegene Brotpreise und Mangel an Weizen, Benzin und Bargeld, richteten sich die Proteste bald gegen das Regime des seit fast 30 Jahren herrschenden Präsidenten Umar al-Baschir. Versuche der Sicherheitskräfte, die sich mehrenden Demonstrationen mit Tränengas und scharfer Munition zu stoppen, schlugen fehl. Immer mehr Sudanes*innen schlossen sich den Demonstrationen an.

Am 6. April marschierten in der Hauptstadt Khartum mehrere Zehntausend Protestierende zum Hauptquartier der Armee und riefen die Soldaten dazu auf, sich auf die Seite der Demonstrant*innen zu stellen. Die Demonstrierenden blieben vor dem Hauptquartier, bis das Militär schließlich am 11. April Präsident Baschir entmachtete und selbst die Herrschaft übernahm. Für die nächsten zwei Monate bildete sich auf den Straßen vor dem Militärhauptquartier ein riesiges Protestcamp, mit dem die Militärführung dazu bewegt werden sollte, die Macht an eine zivile Regierung abzugeben. Nach dem Scheitern der
Verhandlungen ließ das Militär den Platz am 3. Juni gewaltsam räumen. Mehr als hundert Menschen kamen nach Angaben eines sudanesischen Ärztekomitees bei der Räumung ums Leben; weitere wurden vergewaltigt und verletzt. Für die nächsten Wochen wurde das Internet landesweit abgestellt.

Trotz des gewaltsamen Vorgehens des Regimes rief die »Sudanese Professionals Association«, ein Gewerkschaftsdachverband, der maßgeblich an der Organisation der Proteste beteiligt war, für den 30. Juni landesweit friedliche Demonstrationen aus, an denen mehrere Hunderttausend Menschen teilnahmen. Auf internationalen Druck und unter Mediation der Afrikanischen Union sowie Äthiopiens einigten sich Militär und Zivilist*innen am 17. August auf eine Übergangsregierung. Obgleich der weitere Verlauf bis zu den für 2022 vorgesehenen freien Wahlen abzuwarten bleibt, sind der Sturz von Machthaber
Baschir und die zivile Repräsentation im Übergangsrat Erfolge der Demonstrant*innen.

Ziviler Widerstand als Erfolgsmodell

Die Friedensforscherinnen Chenoweth und Stephan (2011) und ihr Team untersuchten über 200 Kampagnen für einen Regimeumbruch. Das Ergebnis: Friedliche, gewaltfreie Kampagnen waren im Untersuchungszeitraum von 1900 bis 2006 doppelt so erfolgreich wie gewaltsame Umsturzversuche. In 53 % der Fälle führten sie zu politischem Wandel. Dabei waren die gewaltfreien Revolutionen nicht nur erfolgreicher, sie waren langfristig auch stabiler als gewaltsame. Eine Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass gewaltfreie Revolutionen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine größere Anzahl Unterstützer*innen aus
breiten Teilen der Gesellschaft gewinnen. Physische und psychische Barrieren sind bei gewaltfreien Aktionen deutlich niedriger als bei gewaltsamen und erlauben so mehr Menschen eine Beteiligung.

Je größer die Anzahl von Unterstützer*innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das öffentliche Leben durch zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird und die Machthaber zum Einlenken gezwungen werden. Je größer der Bevölkerungsanteil, der an den Protesten teilnimmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich unter diesen Familienangehörige oder Freund*innen der Sicherheitskräfte und Regimevertreter*innen befinden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstrierende senkt. Dabei äußert sich Protest
nicht nur durch die Teilnahme an Demonstrationen und Streiks, sondern auch durch Stellungnahmen in sozialen Medien.

Demonstrationen, Proteste, Sit-ins und Streiks

Chenoweth und Stephan (2011) weisen in ihrer Studie darauf hin, dass für den Erfolg eines friedlichen zivilen Widerstands nicht nur eine möglichst große Mobilisierung maßgeblich ist, sondern auch eine angepasste und diversifizierte Strategie. So werden durch Demonstrationen, Sit-ins und Streiks verschiedene Teile des Staates getroffen; außerdem haben sie unterschiedliche Teilnahmeschwellen und damit ein unterschiedliches Mobilisierungspotential; sie sprechen also verschiedene Bevölkerungsschichten an.

Im Sudan wurden mehrere Formen des friedlichen zivilen Ungehorsams angewandt. Von Dezember 2018 bis Anfang April 2019 kam es hauptsächlich zu organisierten Demonstrationen in den großen Städten des Landes sowie in der Hauptstadt Khartum. Obwohl bis April mehrere Dutzend Menschen durch Sicherheitskräfte getötet wurden, blieben die Proteste friedlich. Demonstrierende, die Gebäude verwüsten oder Steine auf Sicherheitskräfte werfen wollten, wurden von den anderen Teilnehmenden zurückgehalten. Die Slogans Tasqut bas“ (Fall einfach!) und „huriya, salama, adala“ (Freiheit,
Frieden, Gerechtigkeit) wurden während der Protestmärsche als Motivationsgesänge gerufen und später von mehreren Künstler*innen musikalisch verarbeitet.1 Auch bei dem Sit-in vor dem Armeehauptquartier, das sich über eine Länge von ca. 3 Kilometer erstreckte, achteten Demonstrierende darauf, den Sicherheitskräften und dem herrschenden Militärrat keinen Anlass zu liefern, die Straßen zu räumen. Protestierende organisierten Eingangskontrollen und nahmen Eintretenden spitze Gegenstände sowie Waffen ab. So sollte Gewalt verhindert werden.

Selbst nach der gewaltsamen Auflösung des Sit-in am 3. Juni blieben die Organisator*innen der Protestbewegung bei ihrer gewaltfreien Strategie. Als Gruppen einer paramilitärischen Einheit kurze Zeit später in der Krisenregion Darfur mehrere Menschen töteten, kam in den sozialen Medien der Hashtag Wir sind alle Darfur“ auf. Durch die Gewalt in der Hauptstadt entstand eine Solidarisierung und Identifikation mit Menschen in anderen Landesteilen, die schon länger staatlicher Gewalt zum Opfer fielen. Zum ersten großen landesweiten Protestmarsch nach Auflösung des Protestcamps
am 30. Juni setzte sich der Hashtag #KeepEyesonSudan durch. Dieser rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, in Zeiten, in denen das Internet im Sudan abgeschaltet war, auf Gewalt gegen Demonstrierende zu achten.

Nachdem der Militärrat Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Emirate erhielt, prangerte die Protestbewegung die Regimegewalt an und betonte die eigene Friedfertigkeit, um sich ihrerseits Unterstützung zu sichern. Insgesamt wurde versucht, bei allen Protestformen dem Revolutionsslogan Silmiya“ (Frieden/friedlich) gerecht zu werden und das Konzept der Gewaltfreiheit mit der Identität der Bewegung zu verknüpfen.

Kunst und künstlerischer Widerstand

Kunst und Kultur begleiten gesellschaftlichen Wandel; durch die Ansprache von Emotionen kann das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Darüber hinaus können durch Kunst und Kultur die Geschehnisse in Richtung gesellschaftlichen Wandels eingeordnet werden (Lee & Lingo 2011). Kunst und Kultur sind eine Mobilisierungsstrategie, die mehr Menschen anspricht als textbasierte Aufrufe zu Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Durch Kunst sowie die Konstruktion einer gemeinsamen Identität und eines Gefühls der Zugehörigkeit kann ein positives emotionales Verhältnis zur Revolution und ihren
Zielen sowie ihren Unterstützer*innen aufgebaut werden. Diese gemeinsame Identität kann selbst auf die Sicherheitskräfte übergehen, mit der Folge, dass diese Hemmungen haben, Gewalt gegen Demonstrierende anzuwenden.

Kunst und Künstler*innen waren treibende Kräfte hinter der Revolution im Sudan. Spielte sich sich die Kunst in der Anfangsphase hauptsächlich in den sozialen Medien ab, so drang sie im Laufe des Sit-in ins Straßenbild vor. Während der Protestmärsche verbreiteten sich vor allem Symbole des friedlichen Widerstands. Neben politischen Cartoons bekannter Künstler, wie Khalid Elbeih oder Boushra, die Humor als verbindendes Element einsetzten, wurden auch Bilder neuer digitaler Künstler*innen online geteilt.

In den sozialen Medien verbreiteten sich insbesondere solche Bilder, die den sozialen Zusammenhalt der Protestgemeinschaft widerspiegeln und beispielsweise die gegenseitige Unterstützung der Demonstrant*innen zeigen. Sogar die Flagge des Sudan war Gegenstand der digitalen Kunst. Mehrere Künstler*innen animierten das Foto eines Demonstranten, der auf einem Pick-up liegend von Sicherheitskräften abtransportiert wurde und dabei weiter die sudanesische Flagge hochhielt. Der Slogan Tasqut bas“ wurde vielfach künstlerisch in den Alltag eingebaut, und entsprechende Bilder wurden in
den sozialen Netzwerken geteilt. So wurde der Slogan aus Steinen gelegt, auf Hochzeiten mit Gewürzen auf Speisen des Buffets geschrieben oder aus leeren Tränengasdosen und Patronenhülsen gestaltet, womit gleichzeitig eine friedliche Umdeutung der Gewaltinstrumente stattfand. Tränengasdosen wurden zu Blumenvasen oder Stifthaltern umfunktioniert, während aus gefeuerter Munition Ringe gebastelt wurden. Mit der Verbreitung solcher Fotos in sozialen Medien wurde die Notwendigkeit eines friedlichen Vorgehens bei den folgenden Demonstrationen beworben.

Auf dem Sit-in wurde Kunst ins öffentliche Straßenbild gebracht, wobei ebenfalls auf friedliche Symbole geachtet wurde, etwa in einer Wandmalerei, in der Projektile von Bäumen abgefangen, also im Bild unschädlich gemacht wurden. Ebenfalls wurden Zukunftsvorstellungen dargestellt. Wandgemälde bildeten viele Frauen ab sowie Angehörige ethnischer Minderheiten, insbesondere afrikanischer, die bisher unter der ethnisch arabischen Regimeführung unterdrückt wurden. Dies beförderte ein Gemeinschaftsgefühl und verstärkte das Bild eines vereinten Sudan, der sich friedlich gegen das Regime wehrt.

Neuinterpretation des Märtyrerbegriffs

Wie im »Arabischen Frühling« fand auch im Sudan eine Umdeutung des Märtyrerbegriffs statt, weg vom Religiösen hin zum Sich-opfern für den Umbruch und die Gesellschaft. Das alte Regime verlor die Deutungshoheit darüber, wer als Märtyrer angesehen wird, an die Protestbewegung. Der Märtyrer gilt nicht mehr als Held, der sich für eine Ideologie opfert, sondern als unnötiges Opfer staatlicher Gewalt (Buckner und Khatib 2014). Märtyrerportraits und ihre Geschichten werden zur weiteren Mobilisierung verwendet. Dabei ist besonders wichtig, dass die Märtyrer gewöhnliche Menschen repräsentieren.
Durch die (mehr oder weniger) zufällige Gewalt des Regimes und die Tatsache, dass auch andere Demonstrierende in der Rolle eines Märtyrers hätten enden können, wird erneut das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Die künstlerische Darstellung und das Porträtieren von Opfern der Gewalt der Sicherheitskräfte fand im Sudan im öffentlichen Raum ebenso wie in den sozialen Medien statt. Die einen tauschten in den sozialen Netzwerken ihr Profilbild gegen das Portrait eines »Märtyrers« aus; die anderen zeichneten die Gesichter von Opfern auf Wände des Sit-in-Geländes. Ein Statement wurde über die Landesgrenzen bekannt: Freund*innen und Familienangehörige von Mohamed Mattar, der während der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps am 3. Juni von einer paramilitärischen Einheit erschossen wurde, färbten ihr
Profilbild in dessen Lieblingsfarbe blau. Mehrere Millionen Nutzer*innen sozialer Medien taten es ihnen weltweit gleich (#BlueForSudan). So wurde mit einem einfachen Symbol – der Farbe blau – Solidarität und Einigkeit ausgedrückt. Die internationale Unterstützung, selbst wenn diese nicht immer politisch war, motivierte viele Mitglieder der Protestbewegung, erneut auf die Straßen zu gehen.

Eine andere Variante der Verehrung von im Protest Getöteten durch die Bewegung ist die Einbeziehung der Familien von »Märtyrern«, vor allem ihrer Mütter. Regelmäßig wurde bei Demonstrationen oder dem Sit-in gefilmt, wie die Mütter der »Märtyrer« die Menge dazu aufriefen, nicht auf die Gewalt der Sicherheitskräfte einzugehen, sondern friedlich zu bleiben. Mit dem Slogan „Die Mutter des Märtyrers ist auch meine Mutter“ solidarisierten sich die Demonstrierenden wiederum mit den Verstorbenen und stifteten ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die genannten Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegung im Sudan selbst verstand und versteht: als friedliche und gewaltfreie Bewegung, als Gegenbild zum Regime, das gestürzt werden sollte. Durch friedlichen Widerstand erreichte die sudanesische Protestbewegung mit der Einigung auf eine Übergangsregierung einen vorläufigen Teilerfolg. Ob der Sudan die These von Chenoweth und Stephan stützt, nach der ein friedlicher Widerstand längerfristig die Ziele der Protestierenden erreicht, bleibt abzuwarten.

Anmerkung

1) Beispielsweise NasJota feat. Mista D. »Tasgot Bas«, Voice of Sudan »System must fall«, Ahmed Amin »madania, huriya, salama«.

Literatur

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why Civil Resistance Works. New York: Columbia University Press.

Buckner, E.; Khatib, L. (2014): The Martyrs’ Revolution – The Role of Martyrs in the Arab Spring. British Journal of Middle Eastern Studies, Vol. 41, Nr. 4, S. 368-384.

Lee, C.W.; Long Lingo, E. (2011): The “Got Art?” paradox – Questioning the value of art in col­lective action. Poetics, Vol. 39, S. 316-335.

Christina Hartmann ist Promotionsstudentin im Fach Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?


Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?

Environmental Peacebuilding in Sierra Leone

von Nina Engwicht

Lange wurde der Zusammenhang zwischen Rohstoffvorkommen und gesellschaftlichen Konflikten vor allem darauf untersucht, ob und wie natürliche Ressourcen bewaffnete Gewalt verursachen. Derzeit rückt stärker die Fragestellung in den Vordergrund, ob natürliche Ressourcen auch als Mittel zum Friedensaufbau eingesetzt werden können. Besonders in Konfliktkontexten, in denen natürliche Ressourcen bereits als Konfliktgegenstand den Gewaltverlauf prägten, kann der Einbezug von Umwelt- und Rohstoffaspekten in den Friedens­aufbau­prozess ein zentraler Faktor für die ­langfristige Stabilität des Friedenszustands sein. Am Beispiel des Friedens- und Staatsaufbaus im sierra-leonischen Diamantensektor erläutert die Autorin, welche Herausforderungen beim »Environmental Peacebuilding« zu bewältigen sind.

Nachdem über Jahrzehnte die Auswirkungen von Ressourcenreichtum oder -knappheit die wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen Primärrohstoffen und bewaffneten Konflikten prägten, gewinnt aktuell eine neue Perspektive an Aufwind: die Analyse des Zusammenhangs zwischen natürlichen Ressourcen und Friedensprozessen, die oft unter dem Begriff »Environmental Peacebuilding« subsumiert wird (z.B. Bruch et al. 2016). Environmental Peacebuilding geht von der grundlegenden Annahme aus, dass Umweltaspekte von Krieg und Frieden – die bislang in Friedensaufbauprozessen eher stiefmütterlich behandelt wurden – keineswegs ein »weiches« Thema sind, sondern vielmehr ein Kernproblem darstellen, dessen politische Handhabung für die Zukunft konfliktbetroffener Gesellschaften entscheidend sein kann (Conca/Wallace 2012). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn natürliche Ressourcen bereits den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich beeinflussten, beispielsweise wenn die Nutzung knapper Umweltressourcen Konfliktgegenstand war oder Einnahmen aus dem Ressourcenhandel bewaffnete Gewalt finanzierten und motivierten.

Das Konzept des Environmental Peacebuilding bezieht sich auf mehrere Dimensionen der Wechselwirkung zwischen natürlichen Ressourcen und Dynamiken von Krieg und Frieden. Ebenso vielfältig wie die Umweltaspekte des Krieges sind auch die diskutierten Lösungsansätze: Wo Umweltschäden als direkte Konsequenz von Kriegshandlungen (z.B. Einsatz von chemischen Waffen oder Anti-Personen-Minen) oder infolge indirekter Kriegsauswirkungen (z.B. nicht-nachhaltige Ressourcennutzung, Abholzung oder die Verschmutzung von Gewässern) die menschliche Sicherheit gefährden, kann die Wiederherstellung überlebenswichtiger Umweltressourcen ein wichtiges Instrument des Friedensaufbaus darstellen (UNEP 2009). Wo die Zukunft umkämpfter Territorien, auf denen möglicherweise auch nach dem formalen Friedensschluss noch Streitkräfte angesiedelt sind, ungeklärt ist, können »Peace Parks« ein Mittel sein, Konflikte über Gebietsherrschaft zu entschärfen und Umweltschutz mit der Entmilitarisierung sozialer Beziehungen zu verbinden (Walters 2015). In Situationen, in denen die Eigentümerschaft, die Verteilung oder die Nutzung von natürlichen Ressourcenvorkommen umstritten sind, kann Mediation Konfliktparteien dazu verhelfen, ein nachhaltiges Ressourcenmanagement als gemeinsame Zielsetzung zu definieren, strukturelle Ungleichheiten und Ausgrenzungsprozesse in Bezug auf Ressourcenverteilung zu reduzieren und sich auf eine Strategie der friedlichen Ressourcennutzung zu einigen (Wennmann 2011; UNEP 2015).

Wenn Ressourcenkonflikte als Sach­themen – also losgelöst von ­identitären Ansprüchen – verhandelt werden können, bieten sie Konfliktparteien die Möglichkeit, anhand eines gemeinsamen Interesses kooperativ miteinander in Beziehung zu treten, und dienen in polarisierten und militarisierten Kontexten somit als Instrument für den Vertrauensaufbau. Mediation kann jedoch in der Regel nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Ressourcen-Governance sein, deren Ziel es ist, die Rohstoffvorkommen eines Landes nachhaltig, egalitär und zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen. Institutionelle Reformen in Ressourcensektoren zielen dementsprechend häufig auf die Schaffung legaler und transparenter Marktstrukturen, auf die Bekämpfung von Korruption und auf die Erhöhung von Steuereinnahmen aus dem Rohstoffexport.

Die gestiegene Aufmerksamkeit für die Rolle natürlicher Ressourcen in Friedensprozessen spiegelt sich zunehmend auch in der Praxis wieder. In seinem Fortschrittsbericht zum Friedensaufbau forderte der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Jahr 2010 die UN-Mitgliedsstaaten dazu auf, „die Frage der Zuteilung und Eigentümerschaft von natürlichen Ressourcen sowie des Zugangs zu diesen zum integralen Bestandteil von Friedensaufbaustrategien zu machen“ (A/64/866-S2010/386). Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environmental Program/UNEP) definiert Umweltimplikationen von Naturkatastrophen und bewaffneten Konflikten als eine seiner sechs Prioritäten. Verschiedene nationale und transnationale Gesetze sowie nicht-staatliche Kontrollregime sollen dabei helfen, den Handel mit »Konfliktrohstoffen« zu unterbinden. Schließlich finden Ressourcenfragen immer häufiger Eingang in Friedensschaffungs- und Friedensaufbaumissionen.

Herausforderungen einer friedensfördernden Ressourcen-Governance

Welche Herausforderung die Nutzung von Rohstoffen für den Friedensaufbau darstellt, lässt sich am Beispiel Sierra Leones illustrieren. Sierra Leone eignet sich zur Analyse des Erfolgs von Friedensaufbaumaßnahmen in Rohstoffsektoren aus zwei Gründen. Zum einen gilt der sierra-leonische Bürgerkrieg als paradigmatischer Fall eines Krieges, in dem natürliche Ressourcen den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich (mit-) bedingten. Die Gewalt konnte erst infolge drastischer externer Interventionen in die Diamantenproduktion und den Diamantenhandel beendet werden. Zum anderen handelt es sich um einen der wenigen Fälle, in denen ein konfliktbetroffener Rohstoffsektor nach Kriegsende umfassend reformiert wurde. Die Reformen hatten zum Ziel, die Produktion und den Handel mit Sierra Leones Rohdiamanten zu legalisieren, Korruption und Steuerhinterziehung einzudämmen und den Ressourcenreichtum des Landes für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Die UN-Friedensaufbaumission in Sierra Leone war eine der ersten Missionen, die die Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Rohstoffproduktion in ihrem Mandat formulierte.

Auf der internationalen Ebene der Rohstoff-Governance führte die zunehmende Skandalisierung des Handels mit »Blutdiamanten« zur Entwicklung des Kimberley-Prozesses, eines globalen Regulationsmechanismus, der den Handel mit Rohdiamanten kontrollieren soll.1 Sierra Leone ist seit 2003 Mitglied des Kimberley-Prozesses. Seit 2014 erfüllt es zudem die Vorgaben der »Extractive Industries Transparency Initiative«, deren Ziel es ist, Unternehmenszahlungen an Regierungen in ressourcenproduzierenden Ländern transparent zu machen.

Auf der nationalen Ebene wurde der Diamantensektor (ebenso wie der Bergbausektor insgesamt) seit dem Ende des Bürgerkrieges umfänglich und unter intensiver Unterstützung durch internationale Organisationen reformiert. So wurde mit der National Minerals Agency eine neue Institution geschaffen, die mit der Durchsetzung der Bergbaupolitik beauftragt ist. Auf diese Weise sollen die Politikentwicklung, die nach wie vor in den Händen des Bergbauministeriums liegt, und ihre Umsetzung institutionell getrennt werden. Neben der Professionalisierung der staatlichen Bergbaupolitik soll dadurch der intransparente und informelle Vergabeprozesse von Bergbaulizenzen, die den Bergbausektor jahrzehntelang prägten, unterbunden werden. Rechtliche Reformen im Diamantensektor umfassen unter anderem die Bergbaugesetzgebung, das Arbeitsrecht und das Umweltrecht.

Auf der lokalen Ebene der Diamantenabbaugebiete soll mittels eines »Diamond Area Community Development Fund« zum einen garantiert werden, dass ein Teil der Profite aus dem Ressourcenabbau direkt an rohstoffproduzierende Gemeinden zurückfließt. Zum anderen soll ein monetäres Anreizsystem geschaffen werden, das »Chiefs« motiviert, die Ausstellung möglichst vieler legaler Schürflizenzen zu unterstützen, anstatt informelle Schürfaktivitäten auf den ihnen unterstellten Gebieten zuzulassen. Der Nutzen der sierra-leonischen Bevölkerung am industriellen Bergbau soll mittels einer »Local Content Policy« (Politik zugunsten einer größtmöglicher Wertschöpfung im eigenen Land) sowie Vereinbarungen über die soziale Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility) mit allen größeren Bergbaufirmen gesichert werden.

Es wurde also auf verschiedenen Ebenen der Rohstoff-Governance viel dafür getan, den sierra-leonischen Diamantensektor so zu reformieren, dass die Gewinne aus dem Edelsteinabbau der Bevölkerung zugute kommen. Dementsprechend wird der sierra-leonische Diamantensektor häufig als Erfolgsfall für Governance-Reformen in konfliktgeprägten Ressourcenmärkten gehandelt. Die Zahlen scheinen dieser Einschätzung Recht zu geben. So stiegen die offiziellen Diamantenexporte bereits direkt nach Einführung des ersten UN-mandatierten Zertifikationsregimes für Rohdiamanten, dem Vorläufer des Kimberley-Prozesses, von 1,2 Mio. US$ im Jahr 1999 auf über 26 Mio. US$ im Jahr 2001 (Gberie 2002). 2012 exportierte Sierra Leone über 540.000 Karat Diamanten im Wert von über 163 Mio. US$ und zählt damit zu den zehn größten Diamantenproduzenten weltweit. Aus dem starken Anstieg der legalen Exporte lässt sich schließen, dass der weitaus größte Teil sierra-leonischer Diamantenexporte heute auf legalem Wege erfolgt. Neben der weitgehenden Legalisierung des Diamantenexports wird auch die Entkopplung von Diamantenhandel und kriegerischer Gewalt als außergewöhnlicher Erfolg gewertet. So sind die maßgeblichen Akteure der sierra-leonischen »Kriegsökonomie« heute ausnahmslos von der Bildfläche des Marktgeschehens verschwunden.

Bei genauerem Hinsehen, zeigt sich jedoch, dass die Reformbemühungen auch fünfzehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges auf der lebensweltlichen Ebene der sierra-leonischen Gesellschaft kaum Veränderungen herbeigeführt haben. Nach wie vor sind die Steuereinkommen aus dem Diamantensektor sehr gering: 2012 lagen die Einnahmen aus Exportsteuern bei unter 8 Mio. US$, bei einem Exportvolumen von 163 Mio. US$ (GoSL 2012). Noch immer zählen die diamantenproduzierenden Gebiete zu den ärmsten Regionen des Landes, in denen extreme Armut, Arbeitslosigkeit und Nahrungsmittelunsicherheit den Alltag der Bevölkerung prägen. Der Klein- und Kleinstbergbau ist nach wie vor von denselben informellen und großenteils ausbeuterischen Marktstrukturen geprägt, die den Diamantenmarkt schon seit fast einem Jahrhundert kennzeichnen (Engwicht 2016).

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass vor allem der schwer zu kontrollierende Kleinbergbau besonders konfliktanfällig sei, zeugen die Entwicklungen auf dem sierra-leonischen Diamantenmarkt von den Konfliktpotentialen, die von – durch Geberorganisationen häufig favorisierten – Großprojekten ausgehen. So waren die Minen des größten Diamanten abbauenden Unternehmens Sierra Leones, Koidu Holdings/Octea, in den letzten Jahren wiederholt Schauplatz gewaltsam eskalierender Proteste, die mehrere Tote forderten. Die Demonstrationen gegen die Schürffirma sind im breiteren Kontext der Unzufriedenheit der Bewohner*innen der Schürfgebiete zu verstehen, die dem Unternehmen unter anderem autoritäres und gewaltsames Vorgehen – etwa in Bezug auf Umsiedelungen –, Rassismus gegenüber einheimischen Arbeitskräften und mangelnde Transparenz vorwerfen. Sie werden des Weiteren genährt durch das Gefühl, nicht vom Ressourcenreichtum des Landes zu profitieren. Dies verweist auf die Konfliktrisiken, die enttäuschte Erwartungen in ressourcenreichen Nachkriegsgesellschaften verursachen können, insbesondere wenn im Zuge des Friedensaufbaus Hoffnungen auf ressourcenbasierten Wohlstand geweckt wurden.

Fazit

Die Vernachlässigung von zentralen Fragen der Ressourcen-Governance, etwa der nachhaltigen und friedlichen Nutzung knapper Ressourcen, des gerechten Zugangs und des gesamtgesellschaftlichen Nutzens vom Ressourcenabbau, kann den Frieden in Postkonfliktgesellschaften gefährden. Wie sehr im Umkehrschluss gute Regierungsführung in Ressourcensektoren als Mittel zur Friedenssicherung genutzt werden kann, ist nach wie vor offen.

Sierra Leone kann einerseits als Erfolgsfall des Environmental Peacebuilding gewertet werden. Durch Interventionen in den Diamantensektor konnten kriegsökonomische Marktstrukturen abgeschafft, bewaffnete Gewalt beendet und die Rohstoffausfuhr formalisiert werden. Das sierra-leonische Beispiel zeigt jedoch zugleich, vor welch enormen Herausforderungen Postkonfliktgesellschaften stehen, die natürliche Ressourcen als Mittel zum Friedensaufbau nutzen wollen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ein vergleichsweise hohes Maß an (finanziellen, materiellen und personellen) Mitteln in die Schaffung nachhaltiger und friedensförderlicher Strukturen in Rohstoffsektoren investiert werden.

Anmerkung

1) Obwohl der Kimberley-Prozess seither u.a. für sein enges Konzept von »Konfliktdiamanten« und seine eingeschränkte Durchsetzungskraft in Kritik geraten ist, gilt er nach wie vor als eines der erfolgreichsten Instrumente im Kampf gegen den Handel mit Konfliktrohstoffen und war dementsprechend Vorbild für weitere nationale und internationale Regulationsregime, wie den amerikanischen Dodd-Frank Act und die kürzlich beschlossene EU-Verordnung zur Kontrolle des Handels mit Gold, Zinn, Coltan und Wolfram.

Literatur

Bruch, C.; Muffett, C.; Nichols, S. (eds.) (2016): Governance, Natural Resources, and Post-Conflict Peacebuilding. London: Routledge.

Conca, K.;Wallace, J. (2012): Environment and Peacebuilding in War-Torn Societies – Lessons from the UN Environment Programme’s Experience with Post-Conflict Assessment. In: Jensen, D.; Lonergan, S. (eds.), Assessing and Restoring Natural Resources in Post-Conflict Peacebuild­ing. London: Routledge, S. 63-84.

Engwicht, N. (2016): Illegale Märkte in Postkonfliktgesellschaften – Der sierra-leonische Diamantenmarkt. Frankfurt a. M.: Campus.

Gberie, L. (2002): War and Peace in Sierra Leone – Diamonds, Corruption and the Lebanese Connection. Ottawa: Diamonds and Human Security Project, Occasional Paper, Nr. 6.

Government of Sierra Leone (2012): Gold and Diamonds Exports Report 2012. Unveröffentlichter Bericht. Freetown: Government of Sierra Leone.

United Nations Environment Programme/UNEP (2009): From Conflict to Peacebuilding – The Role of Natural Resources and the Environment.

United Nations Environment Programme/UNEP (2015): Natural Resources and Conflict – A Guide for Mediation Practitioners.

United Nations General Assembly and Security Council (2010): Progress report of the Secretary-General on peacebuilding in the immediate aftermath of conflict. Dokumentnr. A/64/866-S2010/386.

Walters, J.T. (2015): A peace park in the Balkans – Cross-border cooperation and livelihood creation through coordinated environmental conservation. In: Young, H.; Goldman, L. (eds): Livelihoods, Natural Resources, and Post-ConflictPeacebuilding. London: Routledge, S. 155-166.

Wennmann, A. (2011): The Political Economy of Peacemaking. London: Routledge.

Dr. Nina Engwicht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie leitet dort, gemeinsam mit Dr. Sascha Werthes, den Arbeitsschwerpunkt »Umweltveränderungen und Ressourcen als Konfliktursache und Bedrohung der menschlichen Sicherheit«.