Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Afrikanische Friedensaktivistinnen in Liberia

von Rita Schäfer

Seit der Verabschiedung der Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, durch den UN-Sicherheitsrat im Oktober 2000 gewinnt die Anerkennung von Friedensstifterinnen international an Bedeutung. Sowohl in der friedenspolitischen Lobbyarbeit als auch in der Forschung werden Friedensstifterinnen allerdings oft idealisiert. Vielfach gilt schon die größere Präsenz von Frauen bei Friedensverhandlungen als Beitrag zu nachhaltigem Frieden. Diese Grundannahme wird jedoch kaum überprüft und hält in der Praxis oft nicht stand, wie dieser Beitrag am Beispiel Liberia zeigt.

Schon 1985, auf der internationalen Abschlusskonferenz der Weltfrauendekade (1975-1985) in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, verlangten verschiedene afrikanische Frauenorganisationen ein Ende der Kriege auf ihrem Kontinent. Mit ihrer Forderung knüpften sie an das Motto der Weltfrauendekade an: »Frauen, Entwicklung und Frieden«. In dieser Zeit führten insbesondere im südlichen Afrika anti-koloniale Guerillagruppen gegen die dortigen Siedlerregime Unabhängigkeitskriege, die zugleich Stellvertreterkriege der Weltmächte im Kontext des Kalten Krieges waren. Dem Anliegen von Frauenrechtlerinnen aus bereits unabhängigen Staaten in West- und Ostafrika, die Gewalt zu beenden, kam damit besonderes Gewicht zu.

Wenige Jahre später mobilisierten sich – u.a. angesichts des grenzübergreifenden Krieges in Liberia und Sierra Leone – afrikanische Friedensaktivistinnen und bildeten neue Netzwerke. Internationale Bedeutung erhielt die 1994 in Dakar gegründete Federation of African Women Peace Networks, in der Aktivistinnen zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 kooperierten. Die Aktionsplattform von Peking enthielt Forderungen zum Schutz von Frauen in Kriegen und Nachkriegsgesellschaften. Hierauf bauten afrikanische Frauenrechtlerinnen auf, die an der Formulierung der UN-Resolution 1325 mitarbeiteten. Im Jahr 2000 fand in der namibischen Hauptstadt Windhoek ein internationaler Workshop zu friedenspolitischen Fragen statt, der Afrikanerinnen und Vertreter_innen der Vereinten Nationen zusammenbrachte, die dort Kernpunkte der kurz darauf verabschiedeten UN-Resolution 1325 diskutierten. Die Mitwirkung von Frauen in Friedensprozessen zählt auch zu den Zielen der Frauendekade 2010-2020 der Afrikanischen Union. Allerdings bleibt die Umsetzung eine große Herausforderung, ordnen doch Staatschefs und Warlords zur Durchsetzung ihrer militärischen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen in und nach gewaltsamen Konflikten auch weiterhin häufig geschlechtsspezifische Gewalt an.

Bürgerkrieg in Liberia 1989-2002

Liberia war die erste Republik Afrikas, sie wurde 1847 von freigelassenen Sklaven_innen vor allem aus Nordamerika gegründet. Die Americo-Liberianer_innen, die in der Haupt- und Hafenstadt Monrovia lebten, dominierten mit eigenen Patronagenetzen Politik und Wirtschaft. Sie pflegten einen kulturellen Überlegenheitsdünkel gegenüber den Ethnien im Landesinneren. In diesen kleinbäuerlichen Gesellschaften hatten alte Männer der landbesitzenden lokalen Elite das Sagen. Frauen- und Männergeheimorganisationen trugen u.a. mit kollektiven genitalen Mädchen- und Jungenbeschneidungen im Rahmen von Initiationszeremonien vielerorts zur Manifestation gesellschaftlicher Hierarchien und Geschlechterasymmetrien bei. Proteste der Landbewohner wegen der grassierenden Armut und des mangelhaften Gesundheits- und Bildungssektors wurden militärisch niedergeschlagen. 1980 putschte das Militär unter Hauptfeldwebel Samuel Doe, einem Mann aus dem Landesinneren. Er schuf dort neue Patronage- und Klientelnetzwerke; sein weit verzweigter Sicherheitsapparat terrorisierte vielerorts die Bevölkerung.

Ab Ende 1989 eroberten Kämpfer der neu gegründeten National Patriotic Front of Liberia (NPLF) unter Charles Taylor einzelne Landesteile. Über illegale Kautschuk-, Holz- und Erzgeschäfte mit französischen und chinesischen Konzernen, Verwicklung in den internationalen Drogenhandel, Geldwäsche und den Zugang zu den Diamantenminen im Nachbarland Sierra Leone finanzierte Taylor seine Kampfgruppen. Die NPLF rekrutierte desillusionierte Jugendliche. Davon waren je nach Kategorisierung des Kampfstatus zwischen zwei und zehn Prozent Frauen und Mädchen.

Gegen Taylor kämpfte die liberianische Armee, deren Oberbefehlshaber Doe bereits im September 1990 ermordet wurde. Im Lauf der Kriegsjahre formierten sich immer neue Kampfgruppen, zudem spalteten sich Milizen von Guerillaeinheiten ab und bildeten temporäre Allianzen mit flexiblen Namen. Auch in den verschiedenen Milizen wirkten Frauen und Mädchen mit; ähnlich wie bei der NPLF variieren die Angaben zu ihrem Anteil. Alle an Macht und Ressourcenkontrolle interessierten Guerillachefs ordneten sexualisierte Gewalt als Kampftaktik an. Truppen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS sollten Anfang der 1990er Jahre für ein Ende der Gewalt sorgen, trugen aber nicht zur Deeskalation bei. 1997 wurden umstrittene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten, daraus ging Taylor siegreich hervor. Unter neuen Vorzeichen wurde der Krieg noch bis 2002/2003 fortgesetzt.

Erfolgreiche Friedensaktivistinnen?

Die 2002 gegründete internationale Kontaktgruppe zu Liberia, an der ECOWAS, die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die Europäische Union beteiligt waren, bemühte sich um einen Friedensschluss. Am 18. August 2003 vereinbarten Vertreter der Konfliktparteien das Friedensabkommen von Accra. Es legte der einzurichtenden Übergangsregierung eine Generalamnestie für alle Kriegsakteure nahe und empfahl anstatt der Strafverfolgung die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Am Friedensabkommen waren Politiker, Milizchefs und einige Friedensaktivistinnen des Mano River Women’s Peace Network (MARWOPNET) beteiligt. Das war ein Zusammenschluss von Friedensaktivistinnen aus Liberia, Sierra Leone und Guinea; die Repräsentantinnen aus Monrovia waren vor allem gebildete Americo-Liberianerinnen. Während des Krieges hatten sie über vergleichsweise privilegierte Überlebensmöglichkeiten verfügt, die Liberianerinnen aus dem Landesinneren oder Flüchtlingsfrauen in den Nachbarländern nicht beanspruchen konnten.

Neben MARWOPNET bemühten sich in Accra Vertreterinnen des Women in Peace Building Network (WIPNET) um Frieden, sie waren aber nicht offiziell zu den Verhandlungen eingeladen. WIPNET war die 2002 gegründete Frauenabteilung innerhalb des 1998 von Männern gebildeten und dominierten West African Network for Peace Building (WANEP). WIPNET-Vertreterinnen, die verschiedenen Ethnien aus dem Landesinneren Liberias angehörten und aus Liberia nach Ghana geflohen waren, wollten durch informelle Gespräche mit den Warlords auf einen Friedensschluss hinwirken. Diese verweigerten aber jeglichen Dialog und unterstellten den Frauen, sie seien von Männern geschickt worden. Selbst die männlichen WANEP-Vorsitzenden hatten ihren eigenen Mitstreiterinnen wiederholt klar gemacht, sie seien nur der Frauenflügel einer übergreifenden Friedensorganisation, in der Männer das Sagen hätten. Als Reaktion kündigten WIPNET-Frauen in Liberia einen Sex-Streik gegen ihre Ehemänner und Partner an, die ebenfalls in Friedensgruppen aktiv waren.

Gleichzeitig drohten WIPNET-Demonstrantinnen in Accra, sich öffentlich zu entkleiden, was die Männlichkeit der Kriegsherren bloßgestellt hätte und einem Fluch gleichgekommen wäre. In einem Unterpunkt des Friedensvertrags verpflichteten sich die Kriegsgegner daher, den Bedürfnissen von Frauen, Kindern, Alten und Kriegsversehrten zu entsprechen. Es gab aber keine Strategie, wie Geschlechtergerechtigkeit in der Politik und Gesellschaft verwirklicht werden sollte. Außerdem hatten die Kriegsherren eine Generalamnestie durchgesetzt, so dass kein Vergewaltiger für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden konnte.

In Liberia betonten WIPNET-Aktivistinnen nach dem Friedensschluss ihre mütterliche Fähigkeit, die Kindersoldaten zur Waffenabgabe zu bewegen. Mit dieser Rollenzuweisung enthob WIPNET männliche Ex-Kombattanten und Ex-Kommandanten ihrer Verantwortung für Gewaltverbrechen. Die Problematik der Kämpferinnen, die sowohl Täterinnen als auch Opfer brutaler Gewalt waren, sowie die sozio-ökonomische Marginalisierung zahlloser vergewaltigter Zivilistinnen blieben unberücksichtigt. Damit näherten sich die WIPNET-Vertreterinnen tendenziell den neuen politischen Machthabern an, die den Status quo – also die Dominanz weniger Männer in allen Machtbereichen – wiederherstellen wollten und Frauen die moralische Erneuerung des Landes aufschulterten.

Zwar sollte die politische Repräsentanz von Frauen gefördert werden, und die Leiterinnen traditioneller Frauengeheimorganisationen sollten sich vor Wahlen nicht mehr von korrupten Politikern kaufen lassen, z.B. mit großzügigen Geschenken in Form von Reis. Dennoch äußerte sich WIPNET nicht zur genitalen Beschneidung und anderen Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt oder zur Ungleichheit in ländlichen Gesellschaften. WIPNET löste sich einige Monate nach der Verabschiedung des Friedensabkommens von Accra auf: Der Frieden war erreicht und persönliche Konflikte, die bereits zuvor geschwelt hatten, brachen nun deutlich auf.

Während der Kriegswirren hatte WIPNET die Mass Action for Peace in Monrovia organisiert – tagelange Sit-ins an wichtigen Plätzen und Straßen der Stadt, um Präsident Taylor zur Beendigung der Gewalt aufzufordern. Diese friedlichen Proteste verschafften WIPNET-Vertreterinnen wie Leymah Gbowee nach dem Krieg internationales Ansehen, 2011 wurde sie zusammen mit Ellen Johnson-Sirleaf für ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

WIPNET hatte sich in der Friedensarbeit um den interreligiösen Dialog bemüht; das Erstarken dieser Organisation von christlichen und nicht christianisierten Frauen aus dem Landesinneren war jedoch nicht konfliktfrei. So fühlten sich vor allem Leiterinnen der bereits im Februar 1994 gegründete Liberian Women’s Initiative (LWI) von den wohlhabenden, christlichen Americo-Liberianerinnen brüskiert und kamen deshalb nicht zu den WIPNET-Massenprotesten in Monrovia. Auch beteiligten sich nur wenige Frauen der moslemischen Minderheit – Händlerfamilien in Monrovia, die im Lauf der Jahrhunderte aus dem Sahelgebiet eingewandert waren – an den WIPNET-Massenprotesten. Demgegenüber hatten Juristinnen der Association of Female Lawyers of Liberia, Lehrerinnen des Forum for African Women Educationalist und Entwicklungsexpertinnen der Women’s Development Association – allesamt aus der americo-liberianischen Bildungselite Monrovias – sich in den 1990er Jahren für den Friedensprozess eingesetzt, alltagspraktische Hilfe für Gewaltopfer und Einkommens- bzw. Bildungsprogramme für Flüchtlingsfrauen in Monrovia geboten. Allerdings standen sie teilweise bestimmten Fraktionen innerhalb der verfeindeten Gruppierungen, wie der NPLF, nahe, was Spannungen zwischen den Frauen zur Folge hatte und ihre übergreifende Zusammenarbeit erschwerte. Diese multiplen Differenzen zwischen den verschiedenen Organisationen, die soziale Gegensätze in der liberianischen Gesellschaft spiegelten, begrenzten auch nach dem offiziellen Friedensschluss 2003 die Möglichkeiten von Frauen, am Aufbau geschlechtergerechter und demokratischer Strukturen mitzuwirken.

Nachkriegsentwicklungen

Die Finanzexpertin Ellen Johnson-Sirleaf wurde am 16. Januar 2006 als erste Präsidentin Liberias und als erste Staatschefin Afrikas vereidigt. Bislang ist es ihr nicht gelungen, Intransparenz und Bereicherung in staatlichen Gremien zu überwinden. Fatal ist die Vernachlässigung des Gesundheitssektors im Landesinneren. Eine unbekannte Zahl der Kinder und Erwachsenen ist HIV-positiv, erhält aber keine Medikamente. Die Misere des liberianischen Gesundheitssektors wurde bei der Ebola-Epidemie 2014 besonders deutlich.

Für mehrere zehntausend Jugendliche und junge Männer gab es nach dem Krieg kaum legale Einkommensperspektiven. Marodierende Jugendbanden sorgten vielerorts für Unruhe; die Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramme boten der Gewaltökonomie und dem Einsatz von geschlechtsspezifischer Gewalt als Machtinstrument keinen Einhalt. Der offizielle Friedensschluss brachte also nur einen relativen Frieden. Latente Konfliktpotenziale ergeben sich aus der schwierigen Versorgungslage, ethnischen Spannungen, massiver Ungleichheit in Landbesitz, Einkommen, Bildung und Berufen und daraus resultierenden Armutsproblemen.

Seit dem Kriegsende werden die Leiter_innen lokaler Männer- und Frauengeheimbünde von zahlreichen internationalen Organisationen als Friedensinstanzen hofiert, zumal sie postulieren, sie würden die soziale Ordnung wiederherstellen. Allerdings schließen die mit internationalen Fördergeldern etablierten elitären Privilegiensysteme vor allem junge, arme Männer und Frauen aus rangniedrigen Familien systematisch aus. Die Lebensrealität zahlloser Frauen und Mädchen bleibt weiterhin von Unterdrückung, Ausbeutung und ehelicher Gewalt geprägt. Viele werden zwangsverheiratet und von wieder erstarkten Geheimbundleiterinnen der genitalen Beschneidung unterzogen. Mehrfach traumatisierte und marginalisierte Frauen sind besonders von der hohen Müttersterblichkeit betroffen, denn die Gesundheitszentren sind nur rudimentär ausgestattet. Auch Polizei und Justiz sind für viele Frauen unerreichbar bzw. wegen der Korruption unbezahlbar; häufig können die Frauen nicht Lesen oder Schreiben und kennen ihre Rechte nicht.

Das Ministerium für Gender und Entwicklung, das den nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325, den nationalen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt sowie entsprechende Gesetze zum Gewaltschutz und gegen genitale Beschneidung umsetzen soll, setzt diese Vorgaben kaum um. Etliche Richter bagatellisieren sexuelle Gewalt und sprechen Angeklagte gegen Zahlung geringer Geldbeträge frei. Liberianische Rechtsexpertinnen gehen davon aus, dass ein nachhaltiger Friede nur möglich ist, wenn die geschlechtsspezifische Gewalt bestraft wird. Dazu wäre Liberia auch mit Blick auf die Ratifizierung internationaler Abkommen und Vereinbarungen der Afrikanischen Union verpflichtet. Die UN-Blauhelmpolizistinnen, die in friedenspolitischen Publikationen zu Symbolfiguren frauenfreundlicher Friedensmissionen erkoren werden, beschränken ihre Einsätze auf einige Stadtteile der Hauptstadt Monrovia, die von Gewalt geprägten Wohnviertel und die ländlichen Provinzen erreichen sie nicht.

Umso wichtiger ist eine Veränderung gewaltgeprägter Maskulinitätskonstrukte, die aus dem Krieg übernommen wurden – noch immer und trotz der traumatischen Folgen gelten Vergewaltigungen als Ausdruck von Virilität. Zwar hatte sich Johnson-Sirleaf dafür eingesetzt, den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen, doch selbst wenn die Politikerinnen geschlechtsspezifische Gewalt zum Politikum machen würden, können sich frühere Kriegsherren, die teilweise mitregieren, eigene kriminelle Klientelstrukturen fortsetzen oder neue aufbauen und dabei sexuelle Gewalt als Machtmittel einsetzen, auf ihre Immunität berufen. Straflosigkeit bleibt also auf allen Ebenen ein Strukturproblem.

Fazit

Das Fallbeispiel Liberia lässt Zweifel daran aufkommen, ob die in der UN-Resolution 1325 vorgegebene Partizipation von Frauen in Friedensprozessen ausreicht für die Gewaltüberwindung in Nachkriegsgesellschaften. Wichtig wäre die Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure_innen, um die vor und im Krieg etablierten Gewaltstrukturen zu überwinden. Dabei sollte geschlechtsspezifische Gewalt als ein Element weitreichender Gewaltmuster angegangen werden, denen nur durch umfassende Präventionsansätze und Strafverfolgung gegengesteuert werden kann.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin der Publikationen »Frauen und Kriege in Afrika. Ein Beitrag zur Gender-Forschung« (Frankfurt, 2008); »Gender and Transitional Justice« (Berlin, 2014); zusammen mit Eva Range »The political use of homophobia« (Berlin, 2014).

Ein komplexeres Bild wagen!

Ein komplexeres Bild wagen!

Ein exemplarischer Blick auf Ghana

von Julia Ruppel

In den Medien wird Afrika schnell mit Krisen, Krankheiten und Katastrophen in Verbindung gebracht. Die Berichterstattung mit ihrem einseitigen Fokus auf Ebola, Boko Haram und Konflikte im Süd-Sudan oder Mali prägt nur zu leicht das Bild in der Öffentlichkeit. Auch der Friedensforschung wurde der Vorwurf gemacht, vorwiegend den »spektakulären Kriegsereignissen« Aufmerksamkeit zu schenken, anstatt sich dem Frieden als Gegenstand empirischer Forschung zu widmen (Koppe 2006). Um zu einem differenzierten Bild zu gelangen, sollten Wissenschaft und Politik mehr Komplexität zulassen und sich mit innergesellschaftlichen Machtprozessen und der Veränderung sozialer Machtstrukturen in einzelnen Staaten Afrikas auseinandersetzen. Hier ein Versuch mit Blick auf Ghana.

Die gewalttätigen Staatszerfallprozesse in Somalia sowie der Schock des nicht verhüteten Völkermordes in Ruanda führten bei nationalen Regierungen, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen zu einem enormen Aufschwung von Projekten zur Krisenprävention. Ebenso intensivierte die Friedensforschung ihre Anstrengungen, den Präventionsgedanken und dessen politisch-operative Umsetzbarkeit konzeptionell zu klären. Die Wissenschaft konzentrierte sich dabei insbesondere auf die Erforschung der Ursachen innerstaatlicher Gewaltkonflikte.

Spätestens mit den terroristischen Anschlägen in den USA 2001 rückte auch die »fragile Staatlichkeit« in den Mittelpunkt von Wissenschaft und Politik. Derartige Staaten werden in zweierlei Hinsicht als problematisch angesehen: Erstens scheinen instabile Staaten nicht in der Lage, für die Sicherheit ihrer eigenen Bürger zu sorgen, und zweitens taugen sie nicht als »Bausteine« für die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen internationalen Systems (Boege et al. 2008, S.2). Folglich wurde »Statebuilding«, basierend auf dem westlichen Ideal eines »OECD-Staates«, zum dominanten Paradigma in Wissenschaft und Politik und dient seither als Allheilmittel zur Förderung des globalen Friedens.

Die Statebuilding-Strategie suggeriert eine gewisse Unzulänglichkeit der Staaten Afrikas, die durch externe Hilfe, insbesondere durch den Aufbau staatlicher Institutionen nach westlichem Vorbild, behoben werden könnte (Bøås und Jennings 2005, S.388). Andere Ansätze, wie der zu hybriden Staaten (z.B. Boege et al. 2008), versuchen mittlerweile zwar die Aufmerksamkeit der Forschung weg von der vermeintlichen Unzulänglichkeit und hin zu den Realitäten vor Ort zu lenken, jedoch wird weiterhin der Eindruck erweckt, dass politische Institutionen in Afrika verändert werden müssten, da sie nur bedingt dem Modell des OECD-Staats entsprächen. Somit hat die Friedensforschung mit ihrem Schwerpunkt auf Kriegsursachen und Statebuilding an der negativen öffentlichen Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents mitgewirkt.

Gegensteuern mit Erfolgsgeschichten?

Mittlerweile gibt es sowohl in der Forschung als auch in der internationalen Politik eine Gegenbewegung, die sich mit »Erfolgsgeschichten« beschäftigt. Die Weltbank widmet sich auf ihrer Seite »Yes Africa Can«1 und »Africa Can End Poverty«2 den »success stories« des dynamischen Kontinents, und auch die Europäische Union versucht ihre Afrikapolitik durch Betonung der Erfolge in ein positives Licht zu rücken.3 Staaten, die in diesem Zusammenhang immer wieder als Paradebeispiel dienen, sind u.a. Botswana, Mauritius und Ghana.

Auch die Forschung ist der Frage nachgegangen, warum in einigen Ländern Afrikas keine innerstaatlichen Kriege ausbrechen und ob es dafür bestimmte Ursachen gibt. Erwähnenswert ist hier die Arbeit von Frances Stewart (2008) und ihrem Team, die sich mit dem Management von sozialökonomischen Ungleichheiten zwischen Gruppen (horizontal inequalities) auseinandersetzten. Das Ergebnis ihrer Arbeit lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn in einer Gesellschaft Erwartungssicherheit hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen System über die entscheidenden gesellschaftlichen Konfliktlinien hinweg gegeben ist, dann werden die in ihr stattfindenden Konflikte friedlich ausgetragen (Ruppel 2010). Auch Ghana wird von der Forschungsgruppe Stewards als positives Beispiel aufgegriffen, da es dort gelingt, markanten sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Gruppen durch politisch, wirtschaftlich und kulturell inklusive Politik entgegenzuwirken (Langer 2008).

Der Fokus auf Erfolgsgeschichten leistet in jedem Fall einen Beitrag dazu, ein gewisses Gegengewicht zum stereotypen Negativbild Afrikas in der Öffentlichkeit herzustellen. Allerdings erscheint der Ansatz, ein einseitiges Bild mit einer wiederum einseitigen Gegendarstellung in Balance zu bringen, nicht sehr vielversprechend. Vielmehr sollte die Friedensforschung mehr Komplexität zulassen und sich verstärkt damit beschäftigen, inwiefern Staaten des Globalen Südens einfach anders funktionieren als das erkorene Vorbild des westlichen Weber’schen Staatsmodells. Die institutionelle Schale des Nationalstaats mag den Eindruck erwecken, es bestehe eine erhebliche Kongruenz zwischen den politischen Institutionen in verschiedenen Ländern Afrikas mit denen der westlichen Industrieländer. Doch die politischen Institutionen des Globalen Südens funktionieren deutlich anders als die der Industrieländer und variieren auch untereinander (Khan 2010). Dies ist der Fall, da jeder Staat durch eine ihm spezifische interne Machtkonstellation zwischen konfligierenden sozialen Gruppen charakterisiert ist. Diese Machtkonfiguration innerhalb der Gesellschaft formt – und stützt – sowohl die formellen wie die informellen Institutionen, die gleichermaßen für die ökonomische Nutzenverteilung innerhalb dieser Gesellschaft entscheidend sind (ibid.). In Anlehnung an Khan (2010) wird diese innergesellschaftliche Machtkonfiguration im Folgenden als »Political Settlement« konzeptualisiert. Dabei gibt es Pluralität hinsichtlich der Form von Staaten, die verschiedene Konfigurationen von Staat/Gesellschaft-Komplexen repräsentieren. Um zu einem differenzierten Bild Afrikas beizutragen, macht es Sinn, die »black box« Staat zu öffnen und der Frage nach Veränderungen der gesellschaftlichen Machtkonstellationen in einzelnen Ländern nachzugehen. Hier ein Versuch mit Blick auf Ghana.

Sozialer Wandel in Ghana – was hat sich verändert?

Anfang der 1980er Jahre galt Ghana als kollabierter Staat (Rothchild 1995, S.50). Heute hingegen wird das Land als»Leuchtturm der Demokratie«4 und »West Afrikas Oase der Stabilität«5 gepriesen. Angesichts dieses drastischen Imagewandels stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls was sich in Ghana strukturell gewandelt hat.

Die politische Sphäre wird von Ghanas moderner politischer Elite dominiert. Hier stehen sich zwei dominante Blöcke gegenüber: der National Democratic Congress (NDC) und die New Patriotic Party (NPP), die beide auf Allianzen verschiedener Gesellschaftsgruppen beruhen. Da Ethnizität weiterhin die dominante Konfliktlinie in Ghanas Gesellschaft darstellt, spielt sie eine entscheidende Rolle bei der Formation von Allianzen im Wettbewerb um politische Macht. So wird die NPP oft als Partei der ethnischen Gruppe der Akan wahrgenommen, wohingegen der NDC als Vertreter der Ewe angesehen wird. Selbstverständlich teilt sich die ghanaische Gesellschaft nicht akkurat in Akan und Ewe, sondern ist bedeutend diverser und spaltet sich z.B. innerhalb der Akan wiederum in verschiedene Fraktionen auf. Entscheidend dabei ist, dass keine der gesellschaftlichen Fraktionen zahlenmäßig groß genug ist, um eine Machtübernahme durch Wahlen zu garantieren. So müssen NDC und NPP über ethnische Grenzen hinweg politische Allianzen formen und um die Stimme jedes Wählers buhlen. Die ethno-demografische Zusammensetzung verwandelt Präsidentschaftswahlen in Kopf-an-Kopf-Rennen, so dass die Wählerschaft gegenüber der politischen Elite eine relativ starke Position einnimmt.

Dem Staat als zentralem Akteur in der Wirtschaft kommt eine entscheidende Rolle bei der Akkumulation von Kapital zu. Daher sind Ghanas politische und wirtschaftliche Eliten eng miteinander verflochten. Während die politische Führungsriege von der Wirtschaftselite und Zahlungen der Diaspora zur Finanzierung ihrer kompetitiven Wahlkämpfe abhängt, ist ein Großteil des Wirtschaftssektors zur Kapitalbildung auf Aufträge des Staates angewiesen. Mittlerweile verfügen NDC und NPP durch verbündete Wirtschaftseliten über eine gewisse finanzielle Basis. Eine starke überparteiliche Mittelschicht existiert bislang nicht.

Ghanas wirtschaftliche Produktion – vor allem der Anbau von Kakao – wird in erster Linie von zahlreichen Kleinbauern gestemmt, unter denen die Akkumulation von Kapital beschränkt bleibt. Die Ausweitung der Kakaoproduktion in Kombination mit einer für Ghana günstigen internationalen Preisentwicklung ließ die Exporterlöse ansteigen, die zusammen mit den wachsenden Einnahmen aus dem Export von Bodenschätzen, wie Gold und seit 2010/11 auch Öl, Rücküberweisungen von der Diaspora sowie Direktinvestitionen aus dem Ausland in die Rohstoffindustrie zur Finanzierung des Political Settlement entscheidend beitragen. Die Finanzierung des Settlement wird durch zwei weitere Faktoren begünstigt: Erstens erreichte Ghana Ende 2010 wieder den Status eines »Landes mit mittlerem Einkommen«; dadurch stieg die Kreditwürdigkeit, was den Zugang zum internationalen Kapitalmarkt erleichtert. Und zweitens erhält die Begierde der Gebergemeinschaft nach einer »afrikanischen Erfolgsgeschichte« den Zufluss an Kapital in Form von Entwicklungshilfe aufrecht.

Indem Kapitalakkumulation vor allem durch den Zugang zum Staat erfolgt und das liberale Paradigma inzwischen hegemonialen Status in der kulturellen Sphäre des Landes erreicht hat, ist Ghanas Politik stark klientelistisch geprägt. Seit der Rückkehr zur Wahldemokratie wetteifern politische Eliten um Wähler und versuchen, diese durch die Verteilung von staatlicher Patronage im Austausch für politische Unterstützung zu mobilisieren. Insofern ist Ghanas derzeitiges Political Settlement durch kompetitive klientelistische Politik, einfache Finanzierung sowie schwache einheimische produzierende Unternehmer gekennzeichnet (Whitfield 2011).

Reflexionen zu Kontinuität und Wandel in Ghana

Auch wenn viele Ghanaer sehr stolz auf das positive Image ihres Landes sind, so beklagen doch viele von ihnen, dass »vieles so sei wie gehabt«. Es wäre jedoch irreführend zu behaupten, es habe sich nichts verändert. Auch wenn Ghana (noch) keine fundamentale Transformation durchlaufen hat, vollzogen sich doch inkrementelle strukturelle Veränderungen innerhalb der ghanaischen Gesellschaft:

1. Die Beziehung zwischen den Eliten hat sich gewandelt: Zivile Kräfte haben in der politischen Sphäre wieder den Vorrang gegenüber ihrem militärischen Pendant. Des Weiteren schließt das heutige Political Settlement zuvor ausgeschlossene Fraktionen mit ein. Neben der horizontalen Erweiterung der Eliten kam es auch zu einer vertikalen Ausdehnung, so dass die politische und wirtschaftliche Elite heute mehr Individuen umfasst als zuvor.

2. Die Beziehung zwischen den Eliten und der übrigen Bevölkerung hat sich verändert: Durch die Liberalisierung wurde Raum für die Artikulation und Partizipation der zuvor ausgegrenzten Gruppierungen geschaffen. Diese Öffnung sowie die Rückkehr zur Wahldemokratie zwangen die Eliten dazu, sich wieder gesellschaftlich in der Gesamtbevölkerung zu verankern. Dies wiederum hat die übrige Bevölkerung in ihrem Verhältnis zur Elite relativ gestärkt.

3. Die Beziehung zwischen den sozialen Gruppen hat sich gewandelt: Ghanas neues Political Settlement wird von Institutionen getragen, deren Macht von den politischen Mehrheitsverhältnissen abhängt. Somit gewannen die zahlenmäßig dominanten ländlichen Gebiete an Einfluss gegenüber den urbanen Zentren. Die urbane Bevölkerung, die durch ihre physische Nähe zum Machtzentrum und ihren Mobilisierungsvorteil lange Zeit eine Bedrohung für Regierungen darstellte, dominiert heute nicht mehr das politische System. Außerdem erhielten die ländlichen Gebiete aufgrund der Einsicht, dass den Kakaobauern eine zentrale Rolle bei der Finanzierung des Staates zukommt, ein stärkeres Gewicht im wirtschaftlichen Bereich.

Ebenso wichtig und eng mit dem Machtgewinn der ländlichen Einwohner verbunden ist die Tatsache, dass Ghanas derzeitiges Political Settlement wieder wirtschaftlich lebensfähig ist – zumindest mit den Wachstumsraten, die Ghana in den vergangenen Jahren verbuchen konnte. Ob es auch langfristig trägt, ist angesichts des wahlzyklisch wachsenden Staatsdefizits und der damit verbundenen Inflation eine offene Frage.

Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Machtdynamik in Ghana sowie deren Veränderung lässt, wie oben gezeigt, ein differenziertes Bild dieser Gesellschaft zu und ist somit ein Schritt hin zu der eingangs geforderten Komplexität in der Friedensforschung.

Anmerkungen

1) The World Bank: Yes Africa Can: Success Stories from a Dynamic Continent; web.worldbank.org/OFD841GU60.

2) The World Bank: Africa Can End Poverty: A blog about the economic challenges and opportunities facing Africa. African Successes – Listing the success stories; blogs.worldbank.org/africacan /african-successes-listing-the-success-stories.

3) Africa-EU Partnership: Success Stories; africa-eu-partnership.org.

4) United Kingdom Foreign & Commonwealth Office and Mark Simmonds MP: Announcement – Minister for Africa hails Ghana as a «beacon of democracy« following successful elections. 10 December 2012; gov.uk.

5) Afua Hirsch: Ghana – west Africa’s haven of stability has its own challenges. theguardian. com, 30 October 2013.

Literatur

Morten Bøås and Kathleen M. Jennings (2005): Insecurity and Development: The Rhetoric of the »Failed State«. In The European Journal of Development Research 17 (3), S.385-395.

Volker Boege et al. (2008): On Hybrid Political Orders and Emerging States: State Formation in the Context of »Fragility«. Berlin: Berghof Research Center, Berghof Handbook Dialogue No. 8.

Mushtaq Khan (2010): Political Settlements and the Governance of Growth Enhancing Institutions. SOAS, University of London; unpublished paper.

Karlheinz Koppe (2006): Zur Friedensforschung im 20. Jahrhundert. In: Peter Imbusch (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. 4. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag, S.17-80.

Armin Langer (2008): When Do Horizontal Inequalities Lead to Conflict? Lessons from a Comparative Study of Ghana and Côte d’Ivoire. In: Frances Stewart (ed.): Horizontal inequalities and conflict. Understanding group violence in multiethnic societies. London: Palgrave Macmillan, S.163-189.

Donald Rothchild (1995): Rawlings and Engineering of Legitimacy in Ghana. In: William Zartmann (ed.): Collapsed states. The disintegration and restoration of legitimate authority. Boulder/Colorado: Lynne Rienner, S.49-68.

Julia Ruppel (2010): Innerstaatliche Friedensursachen. Entwicklung einer Theorie zum dauerhaft friedlichen Konfliktaustrag in Sub-Sahara Afrika. Saarbrücken: VDM Verlag.

Frances Stewart (ed.) (2008): Horizontal inequalities and conflict. Understanding group violence in multiethnic societies. London: Palgrave Macmillan.

Lindsay Whitfield (2011): Competitive clientelism, easy financing and weak capitalists. The contemporary political settlement in Ghana. København: Dansk Institut for Internationale Studier.

Julia Ruppel arbeitet als Friedensforscherin und Doktorandin am Afrikazentrum (JEFCAS) der Universität Bradford in Großbritannien. Zuvor forschte sie als Marie Curie Research Fellow an der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien zum Schwerpunktthema »Electoral Politics in West Africa«.

Sudan, Südsudan und China

Sudan, Südsudan und China

Neue Auseinandersetzung um Frieden und Sicherheit in Afrika

von Daniel Large

In seinem Beitrag diskutiert Daniel Large den Wandel der chinesischen Afrikapolitik im Bereich Frieden und Sicherheit am Beispiel der Beziehungen Chinas zu Sudan und Südsudan. Zunächst werden diese Beziehungen in den Kontext ihrer zunehmenden Politisierung durch den Sudan-Südsudan-Konflikt gestellt. Anschließend werden Kernbereiche identifiziert, die für die Beziehungen zu diesen beiden Ländern bezüglich der Frage von Sicherheit und Frieden relevant sind. Schließlich mahnt der Autor mehr analytische Aufmerksamkeit an –weniger für die offiziellen Erklärungen der chinesischen Regierung, sondern für die konkreten Fakten, die bestimmen, wie sich China den Konfliktdynamiken stellt.

Die Sicherheitsfrage ist für Chinas Entwicklungszusammenarbeit in Afrika eindeutig wichtiger geworden und ist zunehmend mit der Wahrung bestehender und der Ausweitung zukünftiger chinesischer Interessen auf dem Kontinent verknüpft. Manche Aspekte dieser Entwicklung, wie die Rolle Chinas bei Peacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen oder bei Antipiraterie-Patrouillen, sind augenfällig und entsprechend bekannt. Weniger offensichtlich, aber potentiell um einiges bedeutsamer, ist der Prozess des »mainstreaming«, d.h. der durchgängigen Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten in den chinesischen Politikansätzen. So begründete das Fünfte »Forum on China Africa Cooperation« im Juli 2012 eine »Kooperative Partnerschaft für Frieden und Sicherheit« als offizielle politische Initiative, die mit einer Ausweitung von friedens- und sicherheitsbezogenen Aktivitäten Chinas in Afrika einhergeht.

Im Zuge dieser Entwicklung avancierten Sicherheits- und Friedensaspekte, die früher in den Beziehungen zwischen China und Afrika eher eine marginale Rolle spielten, zu zentraleren Themen. Dieser Prozess ist durch die lange Vorgeschichte der post-kolonialen militärischen Beziehungen ebenso geprägt wie durch erhebliche neue Risiken, mit denen chinesische Akteure vor allem in konfliktgeplagten Teilen Afrikas konfrontiert sind. Dies gilt insbesondere für Sudan und Südsudan, da der Wandel der chinesisch-afrikanischen Beziehungen in diesen beiden Ländern besonders tiefgreifend ist und China versucht, auf die neuen Gegebenheiten zu reagieren. Sudan und Südsudan zeigen beispielhaft, wie eng militärische und sicherheitsbezogene Fragen und Chinas weitreichendere polit-ökonomische Beziehungen in immer komplexeren Dynamiken miteinander verknüpft sind.

Beziehungen im Kontext

Geht es um China als Sicherheitsakteur, so muss man berücksichtigen, dass seine Beziehungen zu Sudan und Südsudan im Laufe der fast 20 Jahre, die China dort schon in der Erdölförderung aktiv ist, stark politisiert wurden. Entsprechend sind die chinesischen Interessen zunehmend anfälliger für unterschiedliche Bedrohungen. Der dramatischste Vorfall war die Ermordung von fünf chinesischen Ölarbeitern im Oktober 2008 – offensichtlich ein Versuch, chinesische Ölinteressen als politisches Druckmittel gegen die sudanesische Regierung in Khartum auszuspielen. Seither gab es zahlreiche ähnliche Vorfälle, immer vor dem Hintergrund des südsudanesischen Kampfes um Unabhängigkeit und Chinas Versuch, zunächst im Streit um die Ölindustrie zwischen Sudan und Südsudan zu vermitteln und später auf weitere damit zusammenhängende Konflikte sowohl innerhalb wie zwischen den beiden Staaten zu reagieren. Aufgrund seiner Ölinteressen geriet China durch diese Politisierung als Akteur regional und global ins Rampenlicht.

Die wachsende Verstrickung chinesischer Interessen in Sudans gewalttätiger Konfliktökonomie ergibt sich aus einer Positionsverschiebung: Verschaffte sich China zunächst auf der Grundlage seines Interesses am Öl – aber nicht nur am Öl – Zugang zum Land, so hat es sich dort inzwischen so fest etabliert, dass eine militärisch-politische Doppelstrategie zum Schutz der chinesischen Investitionen notwendig erscheint. Daher geht die chinesische Regierung über die von ihr ursprünglich präferierten strikt bilateralen Beziehungen hinaus und setzt auf vielfältigere Partnerschaften mit staatlichen und nicht-staatlichen politischen Akteuren in Sudan und Südsudan, mit regionalen Organisationen, wie der Intergovernmental Authority on Development und der Afrikanischen Union, sowie auf multilaterale Diplomatie.

Dies zeigt, dass eine binäre Nullsummen-Analyse, die China bis heute allzu oft entweder als Konflikttreiber oder als Friedensfaktor einstuft, zu kurz greift. Zielführender ist es, Chinas Umgang mit etlichen der miteinander verwobenen Konflikten in Sudan und Südsudan und sein diesbezügliches Engagement im Einzelnen aufzuschlüsseln. China ist, neben anderen Staaten, ein wichtiger externer Partner in der Region. Letztlich geht es aber weniger um Chinas Rolle per se, sondern um die Art und Weise, wie die einzelnen Akteure, die wir leichthin unter »China« subsumieren, von ganz unterschiedlichen Akteuren in beiden Teilen Sudans auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene für vielfältige politische Ziele instrumentell eingebunden, vereinnahmt und für eigene Zwecke genutzt werden.

Auf diese Gegebenheiten reagierte die chinesische Regierung vor allem mit dem Versuch, ihre politischen Beziehungen über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und die Kontakte zu den herrschenden politischen Parteien (z.B. NCP/National Congress Party oder SPLM/Sudanese People’s Liberation Movement) hinaus auszuweiten, sowie mit der Umsetzung einer umfassenderen Strategie zum Schutz ihrer eigenen Interessen. Dies ließ sich zum Beispiel beobachten, als im Januar 2012 in Südkordofan 29 chinesische Arbeiter entführt wurden. Unter anderem trafen sich damals chinesische Regierungsvertreter in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba mit Vertretern der SPLM-Nord, die sich auch noch nach der Unabhängigkeit des Südsudan an Kämpfen gegen die sudanesische Regierung beteiligten.

So verwundert es nicht, dass China nach einer eher antagonistisch geprägten Phase während des Sezessionskrieges und einem angespannten, aber pragmatischen Annäherungsprozess ab 2007 mit der Regierung des Südsudans und der herrschenden SPLM ein recht gutes Verhältnis aufbauen konnte, nachdem dieser Landesteil im Juli 2011 seine staatliche Unabhängigkeit erlangt hatte. Die chinesische Doktrin der Nichteinmischung war für die SPLM bis dahin ein Ärgernis gewesen, sie bezichtige China sogar der einseitigen Parteinahme für die Regierung in Khartum. Als unabhängiger Staat hingegen kam Südsudan die Nichteinmischungsdoktrin entgegen, weil China öffentlich keine Bedingungen stellte und sich damit positiv von den Einmischungsversuchen westlicher Geber abhob. Offensichtlich wollte die südsudanesische Regierung »beide Kühe gleichzeitig melken«, d.h. die verschiedenen Optionen wahrnehmen, die einerseits China und andererseits die übrigen ausländischen Partner boten. Allerdings wurden Beijings politische Beziehungen im Dezember 2013 schon wieder vor neue Herausforderungen gestellt: Es kam zum Bruch zwischen dem südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir und dem wenige Monate zuvor entlassenen Vizepräsidenten Riak Machar, zur Spaltung der SPLM sowie zur Remilitarisierung der Ölfelder, den wesentlichen Schlachtfeldern des neuen Bürgerkrieges.

Facettenreiche Beziehungen

Besonderes Augenmerk verdient der Umgang der chinesischen Unternehmen, allen voran CNPC (China National Petroleum Corporation), mit den regionalen Bedrohungen. Zum Teil treten hier Meinungsunterschiede zwischen verschiedenen Ressorts der chinesischen Regierung und den chinesischen Unternehmen darüber zutage, wie angemessen und wirksam auf die zunehmenden Sicherheitsbedrohungen reagiert werden soll und ob die Unternehmen eigenständige Reaktionsfähigkeiten aufbauen sollten. Ab 2008 erweiterte CNPC sein »Overseas Security Office«, nicht zuletzt deshalb, weil der Sudan das operative und symbolische Zentrum seiner überseeischen Konzernaktivitäten war. Hatte sich CNPC zuvor nur fallweise mit Sicherheitsfragen beschäftigt, begann das Unternehmen nun systematisch Lösungen auszuarbeiten, z.B. Frühwarn- und Präventionsmechanismen oder Evakuierungspläne für seine Mitarbeiter.

Damit verknüpft ist ein zweiter Bereich: die vielfältigen militärischen Verbindungen zwischen China und den beiden sudanesischen Staaten. Nach der südsudanesischen Unabhängigkeit setzte China sowohl die bilateralen militärischen Beziehungen mit Sudan wie seinen Beitrag zum UN-Peacekeeping in der Region fort. In den letzten Jahren gewann die militärische Partnerschaft des Sudan mit China sogar noch an Bedeutung. Chinesische Munition und Waffen spielen etwa im Darfurkonflikt eine große Rolle – teils wurden sie absichtlich von der sudanesischen Armee weitergegeben, teils unabsichtlich. Auch durch die Eskalation des Krieges, den Khartums seit 2012 in den Bundesstaaten Südkordofan und Blauer Nil gegen die Rebellenkoalition SRF (Sudan Revolutionary Front) führt, wurde Chinas Status als wichtigster ökonomischer Partner und militärischer Verbündeter gestärkt.

Die militärischen Beziehungen zwischen China und dem Südsudan hingegen entwickelten sich erst in den letzten Jahren. Das liegt zum Teil daran, dass China Karthum in seinem Kampf gegen die SPLM unterstützt hatte und deshalb im Süden als militärischer Gegner galt. Allerdings finden (auf welchen Wegen auch immer) chinesische Waffen und Munition schon seit Jahren ihren Weg zu Truppen und Milizen der unterschiedlichen Kriegsparteien im Südteil. Insbesondere seitdem 2013 der Bürgerkrieg innerhalb Südsudans begann, haben sich die militärischen Beziehungen zwischen der südsudanesischen Regierung in Juba und China aber offensichtlich intensiviert.

Die militärischen Beziehungen lassen sich dabei nicht auf die chinesische Regierung reduzieren, die mittlerweile anscheinend größere Zurückhaltung bei Waffenverkäufen an Sudan und Südsudan walten lässt. Die offenkundige Autonomie profitorientierter chinesischer Rüstungskonzerne und der fehlende politische Willen oder die Unfähigkeit Beijings, deren Aktivitäten stärker zu regulieren, deuten darauf hin, wie schwer es Beijing fällt, eine kohärente Politik gegenüber den beiden Sudans zu entwickeln und die eigene Rhetorik der Friedensunterstützung mit anderen, den Krieg anheizenden Aktivitäten in Einklang zu bringen. Das wurde im Juli 2014 deutlich, als an die Öffentlichkeit drang, dass der chinesische Industriekonzern Norinco Waffen im Wert von 38 Mio. US$ nach Südsudan lieferte, die wohl schon vor dem Beginn des neuen Bürgerkrieges im Dezember 2013 bestellt worden waren. Südsudan hängt zwar nicht von chinesischen Waffenlieferungen ab, dennoch ist die Lieferung von Kriegswaffen an Juba durch eine chinesische Firma, während Beijing gleichzeitig als Friedensförderer und Unterstützer der UN-Peacekeeping-Mission in der Konfliktregion auftritt, ein dramatischer Beweis für die widersprüchliche Rolle Chinas.

China stellt den Vereinten Nationen seit Jahren Personal für Peacekeeping-Missionen in der Region zur Verfügung: für die UN-Mission im Sudan 2005, für die laufende UNAMID-Mission in Darfur sowie für die UN-Mission für Südsudan, die nach der Unabhängigkeit im Juli 2011 aufgestellt worden war und im Mai 2014 angesichts der verschärften Konfliktlage nochmals aufgestockt wurde. Beijing kündigte im September 2014 die Entsendung eines weiteren Bataillons für diese Mission an. Es wurde viel über den vermeintlichen Zusammenhang zwischen den chinesischen Ölinteressen und den zusätzlichen Blauhelmen spekuliert. Wesentlich interessanter ist aber, was für Personal China entsandt hat: nicht wie bis dato Ingenieure oder Sanitäter, sondern bewaffnete Infanterie. Für diese Kampftruppen ist der Südsudan – übrigens ebenso wie Mali – das Übungsgelände für eine neue Art des chinesischen UN-Peacekeeping. So gewinnt nicht nur Beijing an Reputation und die UN-Mission für Südsudan erhebliche personelle Unterstützung, sondern das chinesische Militär sammelt überdies praktische Einsatzerfahrung in einem Kriegsgebiet.

Die chinesische Regierung ist noch in einem weiteren Feld aktiv: den Verhandlungen in Addis Abeba zur Beendigung des südsudanesischen Bürgerkrieges. Hier spielen der chinesische Sondergesandte Zhong Jianhua und das chinesische Außenministerium eine zentrale Rolle. Abgesehen von seinem Part bei diesen bilateralen Verhandlungen, verfolgt China weiterhin einen multilateralen Ansatz und unterstützt die Intergovernmental Authority on Development/IGAD und die Afrikanische Union, kooperiert aber informell auch mit Akteuren wie der Troika USA, Großbritannien und Norwegen.

China engagiert sich in den Konflikten in der Region Sudan/Südsudan also auf ganz unterschiedliche Weise und wurde damit zum anerkannten Akteur.

Fazit

Der Wandel von Chinas Engagement spiegelt die veränderte Situation wider: Erzielte Beijing früher eine hohe ökonomische Rendite aus dem Sudan bei minimalen politischen Kosten, so sind die Erträge jetzt unzuverlässig und deutlich geringer bei gleichzeitig erkennbar höherem politischen Risiko. Anders als in den 1990er Jahren oder beim Umfassenden Friedensabkommen von 2005 erwartet China jetzt, in die Friedensdiplomatie einbezogen zu werden. Dabei bleibt es– angesichts der ausgeprägten Konfliktdynamiken kaum überraschend – unklar, ob China über spezielle Druckmittel verfügt oder besonders erfolgreich ist. Die sudanesischen Bürgerkriege und die turbulente politische Lage, vor allem nach der Abspaltung des Südsudan, machten das chinesische Engagement früher zu einer riskanten Investition, boten aber auch einzigartige Chancen. Die aktuelle Situation bewegt CNPC höchstens noch dazu, andernorts nach Ölprojekten zu suchen und im Südsudan die sinkenden Erträge zu verwalten.

Der Wandel im politischen Umgang Chinas mit Sicherheitsfragen in Afrika im Allgemeinen und denen in Sudan und Südsudan im Besonderen lässt sich als Teil einer frühen Ad-hoc-Einflussnahme verstehen. Dabei geht es nicht so sehr um konkrete Formen der Einflussnahme, z.B. hochrangige Diplomatie oder UN-Peacekeeping. Ausschlaggebend ist vor allem der Widerhall in den Debatten innerhalb Chinas, in denen die Vorstellungen und Normen bezüglich humanitärer Interventionen hinterfragt und revidiert werden. Die neuen Umstände von Chinas Engagement werfen die Frage auf, wie Beijing seine Außenpolitik und seine neue und dem stetigen Wandel unterworfene Rolle aufeinander abstimmen kann. Im Darfurkonflikt versuchte es Beijing 2007 mit dem in sich widersprüchlichen Ansatz »Einflussnahme ohne Einmischung«. Die Debatte darüber, ob sich das Prinzip der Nichteinmischung überholt habe, geht in China weiter. Indes sind die Erwartungen an China – und damit auch der Druck – gestiegen, nicht nur Öl zu pumpen, sondern seine politischen Sicherheits- und Friedensbeziehungen besser mit seiner wirtschaftlichen Macht in Einklang zu bringen. Vor allem aus innenpolitischen Gründen wird außerdem der Schutz chinesischer Staatsbürger dringlicher und treibt damit seinerseits Veränderungen an.

Grundsatzdebatten über die chinesische Außenpolitik, wie etwa die Auseinandersetzung um die Nichteinmischung, sind zwar wichtig, sie können jedoch nicht isoliert von Bottom-up-Faktoren gesehen werden, die wohl mehr Einfluss auf den Wandel der chinesischen Außenpolitik haben. Letztlich haben wahrscheinlich die konkreten Vor-Ort-Erfahrungen in Sudan und Südsudan den größten Einfluss auf die außenpolitische Praxis Chinas. Daher sollten sich Analysen weniger auf die offiziellen Erklärungen der chinesischen Regierung und mehr auf konkrete Fakten stützen. Diese reflektieren nämlich nicht abstrakte Überlegungen über den Weg zum Frieden, sondern basieren auf den tatsächlichen politischen Realitäten vor Ort.

Dr. Daniel Large ist Dozent an der Central European University in Budapest. Außerdem leitet er das Sudan Open Archive (sudanarchive.net) des Rift Valley Institute und gab gemeinsam mit Luke A. Patey das Buch »Sudan Looks East – China, India and the Politics of Asian Alternatives« heraus (Oxford: James Currey, 2014).

Übersetzt von Malte Lühmann.

Deutsche Afrikapolitik

Deutsche Afrikapolitik

Von Frieden keine Spur

von Katrin Dörrie

Die deutsche Afrikapolitik ist bestimmt von der eigenen Sicherheitslogik, fehlender Vision und mangelndem Verständnis für den Kontinent. Der beste Beleg dafür sind die im Mai 2014 verabschiedeten »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung«.

In den letzten Jahren sah sich die deutsche Politik immer häufiger veranlasst, sich mit dem afrikanischen Kontinent auseinanderzusetzen. Deutsche Soldaten werden zunehmend dorthin entsandt, um sich an internationalen Einsätzen zu beteiligen – sei es in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik. Auch in anderen Politikfeldern kommt man an Afrika immer weniger vorbei, etwa im wirtschaftlichen Bereich bei der Rohstoffsicherung (z.B. besitzt das westafrikanische Guinea mehr als 20% der weltweiten Reserven von Bauxit, das für die Aluminiumherstellung benötigt wird) oder innenpolitisch beim Thema Migration. Um die Politik der einzelnen Ressorts abzustimmen, verordnete sich die Bundesregierung eine Afrika-Strategie, deren erste Fassung aus dem Jahr 2011 im vergangenen Jahr durch die Afrikapolitischen Leitlinien 2014 abgelöst wurde.

Schlaglichtartig wird im Folgenden die tatsächliche deutsche Afrikapolitik den neuen Afrikapolitischen Leitlinien gegenübergestellt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf friedenspolitischen Aspekten und Fragen.

Die Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung

Die neuen Afrikapolitischen Leitlinien wurden Anfang 2014 erarbeitet, wohl in aller Eile und ohne Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Deutschland oder der betroffenen Region, und im Mai des Jahres von der Bundesregierung verabschiedet. Das Dokument, das unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellt wurde, unterscheidet sich inhaltlich nur unwesentlich vom Afrika-Konzept aus dem Jahr 2011. So sind die Schwerpunkte in etwa die selben geblieben; die Version 2014 betont lediglich wirtschaftliche Aspekte noch stärker. Das Konzept 2011 kontextualisierte die einzelnen Schwerpunkte und gab konkrete Handlungsfelder vor, was in den Leitlinien 2014 gänzlich fehlt.

In den neuen Leitlinen beschreibt die Bundesregierung Afrika als Kontinent der Chancen, auf dem jedoch wirtschaftliche und politische Fragilität und Risiken fortbestünden, die Europa immer unmittelbarer beträfen. Der eigene Anspruch, früh, schnell, entschieden und substanziell zu handeln, wird unterstrichen. Ebenso wird das Ziel betont, die Afrikapolitik umfassend, ganzheitlich und vernetzt gestalten zu wollen. Dennoch wirken die Leitlinien, auch im Vergleich zum Vorgängerkonzept, eher unbegründet und inkohärent. Das mag an der schon von anderen Regierungsdokumenten bekannten Berücksichtigung von Statements aus verschiedenen Ressorts und Arbeitsbereichen liegen: Zuständigkeiten, nicht Analyse und Kernthemen, bestimmen dieses Politikpapier. Inkohärenz und Widersprüchlichkeiten sind offensichtlich, und es gelingt nicht, die verschiedenen Politikbereiche kohärent miteinander zu verknüpfen.

Unser Engagement in Afrika

Die Afrikanische Union (AU) und die afrikanischen Regionalorganisationen sowie die meisten afrikanischen Länder haben große Fortschritte bei der Bewältigung von Herausforderungen gemacht. Dies gilt insbesondere für die Ausgestaltung einer Friedens – und Sicherheitsarchitektur für den gesamten Kontinent. Der Fortschritt ist Ergebnis von Eigenverantwortung und der Entschlossenheit, sich der Probleme anzunehmen; mitentscheidend dafür war und ist aber auch internationale Unterstützung, vor allem durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten wie Deutschland sowie durch andere Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft.

Gleichzeitig müssen wir besser auf Instabilität und Fragilität in Afrika vorbereitet sein. Angesichts der fortbestehenden Risiken und Herausforderungen und der trotz Fortschritten noch unzureichenden eigenen afrikanischen Kapazitäten und Ressourcen bleibt eine weitere Unterstützung durch die Internationale Gemeinschaft auch in absehbarer Zeit erforderlich. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen. Dabei muss das politische, sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Engagement Deutschlands in Afrika gezielt verstärkt, an die sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst und auf die einzelnen Regionen und Länder besser zugeschnitten werden. Hierdurch soll eine Stärkung der afrikanischen Staaten erreicht werden, was auch unseren Vorstellungen und Interessen entspricht.

Auszug aus den »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung«, 2014, S.5

Die Bundesregierung sieht den afrikanischen Kontintent zwar von Fortschritt gezeichnet, zugleich aber von Instabilität und Fragilität bedroht (siehe Textauszug im Kasten) und identifiziert auf dieser Basis 18 Handlungsschwerpunkte. Folgende Prioritäten stechen hervor:

  • wirtschaftliches Wachstum fördern und afrikanische Märkte für deutsche Unternehmen erschließbar machen,
  • die regionale Friedens- und Sicherheitsarchitektur fördern, Fragilität abbauen und Konflikte vermindern,
  • präventive Migrationspolitik, Fluchtursachen reduzieren und
  • verstärkte Kooperation in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Deutlich stehen die wirtschaftspolitischen Interessen im Vordergrund. Andere Bereiche sind eher nebensächlich oder dienen nur als Unterbau für wirtschaftliches Engagement.

Leitlinien folgen Sicherheitslogik

Die Afrikapolitischen Leitlinien folgen einem sicherheitslogischen Ansatz. „Wir können in einer vernetzten und globalisierten Welt, in einem Europa ohne Grenzen, Sicherheit in Deutschland nur dann gewährleisten, wenn wir auch in anderen Regionen dazu beitragen, rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitsbehörden aufzubauen“, heißt es in dem Papier. Die „Versicherheitlichung“, die in den vergangenen Jahren „zur allgemeinen Handlungsmaxime“ der Politik geworden ist (Frey und Lammers 2014), macht auch vor der Afrikapolitik der Bundesregierung keinen Halt. Friedenslogisch erarbeitete Analysen und genaue Vorstellungen darüber, wie die Friedensfähigkeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure in Afrika gestärkt werden könnte, sucht man in den Leitlinien vergeblich.

Stattdessen greift die Bundesregierung in den Leitlinien auf möglichst bequeme Erklärungen für die Krisen und Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent zurück. Ethnische Loyalitäten, das hohe Bevölkerungswachstum sowie schwache Staatlichkeit und mangelhafte Regierungsführung werden als Hauptursachen genannt. Eine kritische Analyse der historischen oder der lokalen, nationalen und internationalen politischen Dynamiken, die für die Krisen und Konflikte verantwortlich sind bzw. diese anheizen, und die Rolle Deutschlands dabei findet nicht statt. Lediglich die in den Leitlinien 2014 gegenüber der Strategie 2011 neu hinzugekommene Absicht, die Fähigkeit der Bundesregierung zur Früherkennung von Krisen zu stärken, kann als kleiner Hinweis auf eine mögliche Berücksichtigung friedenslogischer Aspekte gewertet werden. Die Verantwortung hierfür ausgerechnet an den politisch bisher nicht wirksamen Ressortkreis Zivile Krisenprävention zu übertragen, macht diesen positiven Aspekt allerdings gleich wieder zunichte.

Für Robert Kappel, Afrika-Experte beim German Institute on Global and Area Studies (GIGA), entsteht außerdem der Eindruck, dass „die Bundesregierung […] in Afrika die deutschen wirtschaftlichen Interessen zur Geltung bringen [will], wofür Gefährungspotenziale minimiert werden müssen“ (Kappel 2014, S.3). Die Sicherheit der afrikanischen Bevölkerung scheint zweitrangig. Deutsche Waffenlieferungen an afrikanische Staaten machen diese fehlende Kohärenz der deutschen Politik besonders deutlich.

In einem der umstrittensten Fälle genehmigte die Bundesregierung beispielsweise sowohl die Ausfuhr von zur Aufstandsbekämpfung geeigneten Fuchs-Panzern als auch den Bau einer Produktionsstätte für Panzer desselben Typs in Algerien (BICC 2014). Dabei handelt es sich in Algerien um ein von Korruption geprägtes Militärregime, das in den letzten Jahren mehrfach gewaltsam gegen Demonstranten und Reformbewegungen vorgegangen ist. Auch die angespannten Beziehungen Algeriens zum Nachbarland Marokko scheinen für die Bundesregierung kein Grund zur Sorge zu sein. Im Gegenteil: Gleichzeitig wird auch Marokko mit deutschen Rüstungsgütern versorgt (GKKE 2014, S.34). Die Regierung folgt dabei klar der Logik der Afrikapolitischen Leitlinien, welche die wirtschaftliche Zusammenarbeit zur allerersten Priorität machen und alle anderen Erwägungen als zweitrangig behandeln. Aus friedenspolitischer Sicht untergraben solche Rüstungsexporte aber das Ziel, Afrika zu einem friedlicheren Kontinent zu machen.

Die Bundesregierung betont in ihren Leitlinien die Einbettung der deutschen Afrikapolitik in einen EU-Rahmen sowie die Kohärenz mit dem Handeln der Vereinten Nationen. Dieses Streben nach geschlossenem Handeln mit anderen Akteuren verstärkt den Eindruck, die deutsche Regierung habe eigentlich keine eigene Vorstellung davon, wie ihre Politik in Afrika aussehen soll, weshalb sie sich lieber hinter größeren Institutionen versteckt.

In der Praxis führt dies dazu, dass Deutschland sich zu einem großen Teil den Interessen etablierterer Regionalmächte, wie etwa Frankreich im frankophonen Westafrika, unterordnet. Da Deutschland kaum relevante historisch begründete Eigeninteressen in der Region hat und auch keine klaren politischen Ziele entwickelt, werden im Krisenfall Initiativen Dritter, wie etwa Frankreichs, unreflektiert unterstützt. Beispiel Mali: Während in Deutschland noch über eine mögliche Beteiligung an einem internationalen Einsatz in Mali diskutiert wurde, intervenierte Frankreich schon militärisch und schuf damit Tatsachen. Die Bundeswehr unterstützte Frankreich anschließend u.a. logistisch und bei der Ausbildung malischer Truppen (Junk 2013). Eine eigene Position und eine Debatte über Sinn oder Unsinn einer solchen Militärmission fehlten gänzlich. Von der »Gestaltungsmacht« Deutschland, von der in Sonntagsreden über die deutsche Außenpolitik immer wieder die Rede ist, war hier nichts zu erkennen.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Wirklichkeit der deutschen Afrikapolitik bleibt oft weit hinter den Ansprüchen zurück. Dies zeigt das deutsche Engagement in der Zentralafrikanischen Republik: Obwohl Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vollmundig erklärt hatte, Deutschland könne nicht zulassen, dass der Konflikt in diesem Land die ganze Region in Flammen setze, war das darauf folgende deutsche Engagement eher mager. Gerade einmal vier Stabsoffiziere sowie ein Lazarettflugzeug, welches freilich nur für die Versorgung ausländischer Truppen eingesetzt wird, steuerte die Bundesregierung für die europäische Mission bei (Wiegold 2014). Auch der Ebola-Ausbruch in Westafrika kann als Beispiel angeführt werden. Anstatt früh, schnell, entschieden und substanziell zu reagieren, wurde nach dem Ausbruch der hochansteckenden Krankheit monatelang erst einmal gar nicht gehandelt. Die Hilfe im Kampf gegen Ebola ist inzwischen tatsächlich angelaufen, der deutsche Beitrag fiel aber erneut erheblich kleiner aus, als es die Ankündigungen der Regierung vermuten ließen (Munzinger 2014).

Zur Bewältigung der von der Bundesregierung identifizierten friedens- und sicherheitspolitischen Probleme legen die Leitlinien besonderen Wert auf die Befähigung afrikanischer Regionalorganisationen, Konflikte eigenständig zu regeln. »Ertüchtigung« ist seit 2011 die erklärte außenpolitische Strategie der Kanzlerin (siehe dazu »Politik der Ertüchtigung« von Thomas Mickan in dieser Ausgabe von W&F). Nicht thematisiert wird, dass, wenn man diesem Gedanken folgt, die Regionalorganisationen noch Jahre brauchen werden, um Konflikte eigenständig zu lösen, und dass dies der Sicherheitslogik folgend dann vorwiegend militärisch passiert. Wie Deutschland sich bis dahin in Krisen und Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent positionieren will, bleibt ungeklärt. Des Weiteren erstaunt, dass zwar der Zuschnitt der Afrikastrategie auf die doch sehr unterschiedlichen Regionen und Länder gefordert, eine konsequente Differenzierung z.B. zwischen den afrikanischen Regionalorganisationen aber nicht umgesetzt wird. So müsste die Zusammenarbeit mit der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft, die von einem sicherheitspolitisch ambitionierten und wirtschaftlich starken Südafrika dominiert wird, vollkommen anders aussehen als etwa mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft (Elischer und Erdmann 2012).

Ebenso stellt sich die Frage, warum auf fragile Staatlichkeit pauschal mit den Allheilrezepten Sicherheitssektorreform, Aufbau von Rechtstaatlichkeit und Schaffung von Zukunftsperspektiven für die junge Bevölkerung reagiert werden soll. Die Leitlinien erwähnen, dass Deutschland die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft Afrikas ebenso als Partner im Blick haben sollte wie die Regierungen und die regionalen Organisationen, es wird sogar betont, dass die unzureichende Partizipation zivilgesellschaftlicher Organisationen (z.B. besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen) ein wesentlicher Konfliktfaktor sei. Hieraus folgt aber nicht, dass dieser Anspruch auch bei der Entwicklung und Umsetzung eigener politischer Leitlinien Geltung hat. Stattdessen verweist das Papier recht vage auf die Notwendigkeit eines abgestimmten Handelns mit deutschen (nicht etwa afrikanischen!) zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Fehlendes Verständnis

Ein Grund für die vielen Unzulänglichkeiten der deutschen Afrikapolitik und somit auch der Afrikapolitischen Leitlinien scheint eine mangelnde institutionelle Afrikakompetenz zu sein. Es bleibt offen, ob die Bundesregierung mit folgendem Satz in den Afrikapolitischen Leitlinien eine Ist- oder eine Soll-Feststellung meint: „Die Erfolgsaussichten unseres Handelns erhöhen sich, wenn wir aufgrund langjährigen und breiten Engagements über gute Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse, langfristig aufgebautes Vertrauen und eine gute Vernetzung im staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich verfügen.“ (S.16) Das bleibt, sofern es ernst gemeint ist, vorläufig Zukunftsmusik. So konnte z.B. der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günther Nooke, bei seinem Amtsantritt keinerlei Regionalkenntnisse vorweisen, auch fehlt den Leitlinien eine Operationalisierung oder Hinweise auf Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Ziels. Selbst in den großen deutschen außenpolitischen Think-Tanks mangelt es an fachlicher Kompetenz. So beschäftigt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) keinen einzigen Experten, der zu Afrika südlich der Sahara arbeitet. Die Stiftung Wissenschaft und Politik – neben der DGAP der wichtigste außenpolitische Beratungspartner der Bundesregierung – listet zumindest einige ExpertInnen auf, fasst in ihrer Arbeit allerdings Afrika mit dem Nahen und Mittleren Osten in einer Abteilung zusammen. In der deutsche Wissenschaftslandschaft hingegen gibt es, obwohl in den letzten Jahren die regionalwissenschaftlichen Lehr- und Forschungskapazitäten stark abgebaut wurden, eine ausgewiesene Afrikaexpertise, beispielsweise bei GIGA in Hamburg. Auch haben die großen Entwicklungsorganisationen, wie Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst und Misereor, oder auch kleinere Friedensorganisationen, wie der Weltfriedensdienst, ausgewiesene Fachleute. Dies bedeutet leider nicht, dass ihre Kompetenz für die politische Beratung nachgefragt wird, und erst recht nicht, dass über ihre Partnerorganisationen die Betroffenen selbst, die VertreterInnen der afrikanischen Zivilgesellschaft, ein Wort bei der Gestaltung ihrer Zukunft mitzureden haben.

Fazit

Die deutsche Afrikapolitik ist wenig kohärent und wegweisend und hält selten das, was sie verspricht. Insbesondere in friedenspolitischer Hinsicht enttäuscht sie durch eine Versicherheitlichung der Debatte, wenig tatsächliches Engagement und eine Unterordnung der sicherheits- und friedenspolitischen Überlegungen unter kurzfristige wirtschaftliche Interessen. Dies spiegelt sich in den aktuellen Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung wider. Sie lassen viele grundsätzliche Fragen offen und eignen sich kaum für die Handlungsorientierung im täglichen Politikbetrieb. Mögliche »Standort«-Vorteile Deutschlands, wie die nur kurze Kolonialgeschichte oder der jahrzehntelange Status als »soft power«, werden nicht genutzt, um eigene friedenspolitische Akzente zu setzen. Es besteht also viel Raum für eine tatsächliche Ergebnisorientierung der deutschen Afrikapolitik.

Literatur

BICC (2014): Informationsdienst Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte. Länderportrait Algerien.

Deutsche Bundesregierung (2011): Deutschland und Afrika – Konzept der Bundesregierung.

Deutsche Bundesregierung (2014): Afrikapolitische Leitlinien der Bundesregierung.

Sebastian Elischer und Gero Erdmann: Regionalorganisationen in Afrika – eine Bilanz. GIGA Fokus Afrika 3/2012.

Ulrich Frey und Christiane Lammers (2014): Einführung. In: dies. et al.: Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung. Wissenschaft und Frieden, Dossier 75, Mai 2014.

Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) (2014): Rüstungsexportbericht 2014 der GKKE

Julian Junk: Eine »Gestaltungsmacht« stolpert hinterher – Die deutsche Bundesregierung und die Krise in Mali. sicherheitspolitik-blog.de, 7. März 2013..

Robert Kappel: Die neue Afrikastrategie: ein notwendiger Diskurs. GIGA Fokus Afrika 6/2014.

Paul Munzinger: Bundeswehr – Ebola-Hilfe der Regierung ist ein leeres Versprechen. ZEIT ONLINE, 3. Oktober 2014.

Thomas Wiegold: Abgerechnet wird später. Krautreporter, 15. Bezember 2014.

Katrin Dörrie hat Geographische Entwicklungsforschung Afrikas sowie African Peace and Conflict Studies in Bayreuth und Bradford (UK) studiert, ist als freie Autorin und Analystin für Afrikapolitik tätig und betreibt den Blog afrikapolitik.de.

Politik der Ertüchtigung

Politik der Ertüchtigung

Hilfe zur (militärischen) Selbsthilfe?

von Thomas Mickan

In den letzten Jahren wird zur Rechtfertigung von Interventionen immer häufiger auf das Konzept der »Schutzverantwortung« verwiesen. Der nachfolgende Artikel beschäftigt sich mit einem in der kritischen Auseinandersetzung häufig übergangenen Bestandteil dieser Schutzverantwortung: dem Aufbau militärischer Strukturen, der durch Deutschland und andere Ländern immer stärker betriebenen wird, insbesondere in Afrika und den dortigen Regionalorganisationen.1

Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) ist im wissenschaftlichen, aber vor allem im politischen Mainstream angekommen. So griff etwa der Koalitionsvertrag der CDU/SPD vom Herbst 2013 als auch Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Forderung nach Übernahme von mehr internationaler Verantwortung das R2P-Konzept auf. Zusätzlich wird die Debatte um die R2P mittlerweile so intensiv geführt, dass sich die Argumente der Befürwortenden und der Ablehnenden verfestigt haben. Erstere stellen die neue Qualität heraus, mit der nun auf Massenverbrechen reagiert werden könne und müsse; Letztere unterstreichen die Missbrauchsgefahr – wie etwa in Libyen – und die damit einhergehenden Legitimationsversuche für militärische Interventionen.2 Den Kritiker_innen wird dabei vorgeworfen, sie würden die Interventionsmöglichkeiten und deren Missbrauch überbetonen und dafür die Prävention, deren Erfolge leider nur schwer zu belegen seien, ausblenden.3 Diesen Vorbehalten wird wiederum mit zahlreichen Argumenten begegnet: dass etwa mit R2P der Souveränitätsverfall und somit das Schutzrecht schwacher Staaten aufgelöst werde,4 dass sich kolonial-paternalistische Vorstellungen als Recht zur Bestrafung manifestierten5 oder dass die R2P auf moralinsauren Argumenten basiere, die politische Lösungsoptionen verunmöglichten und anderswo benötigte Ressourcen binde, ohne Nutzen zu bringen.6

Wenig Aufmerksamkeit schenken dabei in der Regel beide Seiten der zweiten Säule zur Umsetzung der Schutzverantwortung, »Internationaler Beistand und Kapazitätsaufbau«. Weil gerade die Ertüchtigung, legitimiert über die R2P, aber zunehmend an Bedeutung gewinnt, setzt sich dieser Artikel kritisch mit diesem Aspekt des Gesamtkonzeptes auseinander.

Zuerst soll hierfür auf die USA geblickt werden, in denen Ertüchtigung eine lange politische Tradition besitzt und die damit eine Art Vorbildfunktion einnehmen, wobei sich die Begründungszusammenhänge für eine globale Aufrüstung immer wieder ändern. Danach soll auf die Entwicklung rund um Ertüchtigung bei den Vereinten Nationen (UN), schließlich auch auf den deutschen (vermittelt auch über den europäischen) Trend zur militärischen Ertüchtigung eingegangen werden.7 Besonders drastisch zeigt sich die Politik der Ertüchtigung bei den afrikanischen Regionalorganisationen, diese werden daher in den folgenden Ausführungen als Beispiele herangezogen.

Ertüchtigung durch die USA

Weltweite militärische und polizeiliche Ertüchtigung durch die USA hat eine lange Tradition. Im Kalten Krieg wurde die Ertüchtigung in der Regel mit dem Kampf gegen kommunistische oder von kommunistischen Ländern unterstützte Gruppen begründet. Die geheime CIA-Operation Cyclone zur milliardenschweren Ertüchtigung der Mudschaheddin für ihren Kampf gegen die Sowjetarmee in Afghanistan ab 1979 ist eines der bestbelegten Beispiele für das Scheitern einer Ertüchtigungsstrategie. Ertüchtigt wurde auch Mitte der 1960iger Jahre in Ruanda, als dort die aufstrebende »Hutu Power«und im benachbarten Burundi die »Tutsi Power« polizeilich wie militärisch ausgerüstet wurden.8

Doch mit dem Ende des Kalten Krieges änderte sich die Bedrohungswahrnehmung, und neben der Bekämpfung des internationalen Terrorismus wurde eine weitere, positiv konnotierte Begründung gefunden, um die militärische wie polizeiliche Ertüchtigung zu rechtfertigen: Peacekeeping, besonders in Afrika und in Süd-/Osteuropa. Eines der wichtigsten diesbezüglichen Ausbildungsprogramme ist die Global Peace Operations Initiative (GPOI).9 In zwei Programmphasen von 2005 bis 2009 und 2010 bis 2014 bildeten die USA im Rahmen dieser Initiative nach eigenen Angaben weltweit 272.747 ausländische Militärangehörige aus 69 Ländern aus und förderten 52 Trainingscenter sowie die Hauptquartiere der Afrikanischen Union (AU), der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) und der Zentralafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEEAC).10

GPOI wird von den USA als einer ihrer wichtigsten Beiträge bezeichnet, um der Schutzverantwortung für Zivilist_innen nachzukommen und die Vereinten Nationen sowie die genannten Regionalorganisationen bei dieser Aufgabe zu unterstützen. GPOI wird ab 2015 nahtlos fortgesetzt, wobei in der dritten Programmphase weitere 245.000 Soldat_innen ausgebildet werden sollen.11 Neben GPOI und mehreren bilateralen Ertüchtigungsvorhaben in Afrika (etwa in Mali oder dem Kongo) existieren zahlreiche weitere Militärprogramme der USA, die eine globale Ertüchtigung vorantreiben sollen, darunter die 2014 auf den Weg gebracht »A-Prep«-Initiative. Ähnlich wie die NATO soll mit A-Prep, der African Peacekeeping Rapid Response Partnership (APRRP) der USA, auch die AU eine schnelle Eingreiftruppe erhalten. Diese soll aus Teilen der Streitkräfte Äthiopiens, Ghanas, des Senegals, Tansanias, Ugandas und Ruandas gebildet werden. Die Kosten des fünfjährigen Programms belaufen sich auf rund 500 Mio. US$.12

Neben Peacekeeping, Terrorismusabwehr und Grenzkontrollen ist die Stärkung von Regionalorganisationen in Afrika ein stetiger Fixpunkt und Begründungszusammenhang dieser Programme. Dass über die Ertüchtigung auch Absatzmärkte für US-Rüstungsfirmen (etwa im teilprivatisierten Peacekeeping-Training oder als Türöffner für nationale Rüstungsdeals)13 geschaffen werden, wird dabei gern übersehen. Ertüchtigung ist in der US-Strategie aber vor allem ein Teil des angestrebten »leichten Fußabdrucks« zur Vermeidung hoher (eigener) finanzieller und personeller Kosten: „eine Kombination von geheimdienstlichen Aktivitäten, Drohneneinsätzen und Spezialoperationen mit der Ausbildung sowie Ausrüstung von Sicherheitsakteuren in Drittstaaten“.14

Ertüchtigung und die Vereinten Nationen

Jene Ertüchtigungspolitik der USA, aber auch Deutschlands und der EU, findet ihren Widerhall in UN-Konzepten und vice versa, namentlich der R2P sowie der Ende 2013 lancierten Initiative »Rights Up Front« ([Menschen-] Rechte voran).15 Wie bereits eingangs beschrieben, ist die militärische wie polizeiliche Ertüchtigung eine der Säulen bei der Umsetzung der R2P. Sie stellt wahrscheinlich die eigentliche Hauptneuerung der R2P dar, denn mit ihr wird – quasi von den Vereinten Nationen abgesegnet – eine weltweite Aufrüstungsdynamik legitimiert, die durchaus als vermeintliche „Responsibility to Arm“ 16 beschrieben werden kann. Besonders deutlich wird dies im jüngsten R2P-Umsetzungsbericht des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon.17 Mitgedacht werden bei der R2P immer auch militärische Kapazitäten, wenn gefordert wird, Staaten hätten ihre Strukturen so auszubauen, dass sie der R2P gerecht werden können, und sollten hierbei gegebenenfalls auch von externen Akteur_innen unterstützt werden.

Die Initiative »Rights Up Front« ist nun die neue Sau, die seit über einem Jahr durchs diskursive Dorf getrieben wird, obwohl sie auf den ersten Blick nichts substantiell Neues beinhaltet.18 Zweifellos ist die Idee, menschenrechtliche Standards verstärkt bei den Vereinten Nationen selbst und bei all ihren Aktivitäten zu berücksichtigen, wie es bei »Rights Up Front« gefordert wird, unterstützenswert. Die Gefahr der schwammig formulierten Ideen und Konzepte liegt jedoch darin, dass selbst ernannte »Norm-Entrepreneurs« sie jeweils im Sinne ihrer eigenen militärischen Interventionsstrategien interpretieren können und diese durch häufige Wiederholung schließlich wirkmächtig werden. Ban Ki-moon sieht etwa in »Rights Up Front« die Möglichkeit, Prävention und Intervention miteinander zu verbinden und die Mitgliedsstaaten insbesondere appellativ an ihre Schutzversprechungen zu binden.19 Als positives Beispiel für eine Umsetzung von »Rights Up Front« nennt er Aktivitäten der Europäische Union, die ihre Frühwarnsysteme für Konflikte verbessert habe, um früher und entschiedener „Beistand zu leisten“.

Ertüchtigung durch die EU und Deutschland

Aus dem französischen Programm »RECAMP« (Reinforcement of Africa’s Capacity to Maintain Peace) sind die zwei »Amani Africa«-Zyklen der EU zur Ertüchtigung der afrikanischen Regionalorganisationen hervorgegangen.20 Der erste Zyklus erstreckte sich von 2008 bis 2011; Höhepunkt dieser Phase war eine gemeinsame Übung in Addis Abeba im Jahr 2010. Im » Amani Africa II Cycle« von 2011-2015 sollen die African Standby Forces (ASF), also eine Interventionstruppe unter dem Kommando der Afrikanischen Union (AU) bzw. subregionaler AU-Strukturen, einsatzfähig gemacht werden.21 Im Frühjahr 2015 soll die afrikanische Interventionstruppe voll einsatzbereit sein; das Erreichen des Ziels wird im März 2015 bei einer gemeinsamen Übung in Harare überprüft.22 Über ihre mit Entwicklungshilfegeldern bestückte African Peace Facility (APF) finanziert die Europäische Union »Amani Africa« zum großen Teil und bestimmt auch die Agenda des Programms entscheidend mit. Dafür wurden seit 2004 über 1,1 Mrd. Euro aufgewendet,23 zwischen 2014-2016 sollen zusätzlich mindestens noch einmal 750 Mio. Euro aus dem 11. Europäischen Entwicklungsfond (EEF) dazukommen (gegebenenfalls mit konditionierten weiteren 150 Mio. Euro aus dem EEF).24 Für die ASF ist ein Kontingent von 25.000 schnell interventionsfähigen Soldat_innen die Zielgröße. Allein bei AMISOM, der African Union Mission in Somalia, die seit 2007 läuft, sollen bereits weit mehr als 3.000 afrikanische Soldat_innen gestorben sein.25 Eine Konsequenz der Ertüchtigung ist also auch ein hoher Blutzoll der Ertüchtigten.

Ungeachtet dessen hat die EU eine neue Ertüchtigungsinitiative auf den Weg gebracht, die »Enable and Enhance Initiative« (E2I). Genauer gesagt hat die deutsche Bundesregierung diesen Vorstoß unternommen, um weitere Ertüchtigung zu rechtfertigen und voranzutreiben.26 Die prominente deutsche Rolle ist kaum verwunderlich: Schon Ende 2011 wurde das gesamte Konzept (später als »Merkel-Doktrin« bezeichnet) in einer Rede der Bundeskanzlerin prominent beworben: „Wir müssen die Staaten, die bereit sind, sich zu engagieren, auch dazu befähigen. Ich sage ausdrücklich: Das schließt auch den Export von Waffen mit ein – dies selbstverständlich nur nach klaren und weithin anerkannten Prinzipien.“ 27

Auch wenn es sich bei E2I bisher eher noch um „papierene Luftschlösser“ handelt, liegt das Ziel auf der Hand: „Explizit als eine kostengünstige, anforderungsarme Alternative zum gescheiterten Staatsaufbau konzipiert, stehen Ausstattungs- und Ausbildungsunterstützung im Vordergrund.“ 28 Außerdem zeigt sich bereits, dass Politiker_innen wie Angela Merkel sich zunehmend auf genau solche Konzepte wie E2I beziehen, um ihre Politik der Ertüchtigung, z.B. in Mali oder Somalia, zu rechtfertigen.29

In dasselbe Horn stoßen auch der letzte Umsetzungsbericht des deutschen Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« sowie die »Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung«30, an einigen Stellen sogar der aktuelle Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung.31 E2I, aber auch das Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierung für ausländische Streitkräfte (AH-P), soll über Ertüchtigungsmaßnahmen sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich insbesondere die afrikanischen Regionalorganisationen befähigen, selbst militärisch aktiv zu werden. In den »Afrikapolitischen Leitlinien« wird dabei für die zukünftige Politik kein Blatt vor dem Mund genommen: „Vorrangiges Ziel des sicherheitspolitischen Engagements Deutschlands ist die Stärkung afrikanischer Eigenverantwortung durch die Ertüchtigung afrikanischer Partner […].“ 32

Die Bundesregierung setzt damit – im Einklang mit der EU, den Vereinten Nationen und der NATO – den Trend zur Aufrüstung von Truppen in »Partnerländern« weiter fort. Ertüchtigung und Kapazitätsaufbau wurden zum Königsweg erkoren, um dem eigenen Anspruch nach Übernahme von mehr internationaler Verantwortung gerecht zu werden und vermeintliche Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Standen die militärischen Ausstattungs- und Ausbildungsmissionen Deutschlands bisher eher im Schatten der großen Bundeswehreinsätze und wurden (wie in Mali) verschleiert33 oder (wie in Ruanda zwischen 1976-1994) gar verheimlicht,34 ändert sich dies zunehmend.

Die Probleme einer Politik der Ertüchtigung sind evident: Auf längere Sicht wird sie nicht zur Verringerung von Gewalt beigetragen (und hat dies bislang auch nicht getan), vielmehr wird sie zukünftige Kriege, Menschenrechtsverletzungen und Genozide fördern. Sie steht damit konträr zu den mit der R2P formulierten hehren Zielen. Die Hoffnung, dass die aktuellen Ertüchtigungsmissionen der Bundeswehr in Afghanistan und im Irak zu einem langfristigen Frieden beitragen, dürfte sich deswegen leider rasch zerschlagen, was erste Berichte über die Proliferation der in den Nordirak gelieferten Waffen bereits nahelegen.35 Ertüchtigung bedeutet in letzter Konsequenz eben Aufrüstung für die nächsten Kriege.

Anmerkungen

1) Bei der Benennung der Säulen in den nachfolgenden Ausführungen beziehe ich mich auf das Drei-Säulen-Modell zur Implementierung der Schutzverantwortung (Säule eins: Die Schutzverantwortungen des Staates; Säule zwei: Internationaler Beistand und Kapazitätsaufbau; Säule drei: Frühzeitige und entschiedene Antwort) aus dem folgenden UN-Dokument: United Nations General Assembly: Implementing the responsibility to protect. Report of the Secretary-General. 12 January 2009, Document A/63/677. Diese drei Säulen sind nicht zu verwechseln mit den drei im ICISS-Bericht identifizierten Aufgaben (prevent, react, rebuild); siehe dazu ICISS (2001): The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty. Ottawa.

2) U.a. Lou Pingeot und Wolfgang Obenland (2014): In whose name? A critical view on the Responsibility to Protect Rosa Luxemburg Stiftung New York Office and Global Policy Forum New York/Bonn. Deutsch siehe dazu dies.: In wessen Namen? Ein kritischer Blick auf die »Schutzverantwortung«. W&F-Dossier 76, August 2014.

3) Winfried Nachtwei: Überfällig oder nur verdächtig?, ZFD Magazin 11/2014, S.4.

4) Noam Chomsky (2011): A New Generation Draws the Line – Humanitarian Intervention and the »Responsibility to Protect« Today. Boulder/Colorado: Paradigm Books, updated and expanded edition.

5) Mahmood Mamdani (2010): Blinde Retter. Hamburg: Edition Nautilus. Philip Cunliffe (2011): A Dangerous Duty: Power, Paternalism and the Global »Duty of Care«. In: ders. (ed.): Critical Perspectives on the Responsibility to Protect. London – Interrogating Theory and Practice. Abingdon: Routledge.

6) Didier Fassin (2010): Heart of Humaneness – The Moral Economy of Humanitarian Interventions. In: ders. and Marielle Pandolfi (eds.): Contemporary States of Emergency – The Politics of Military and Humanitarian Interventions. New York: Zone Books, S.269-294. Peter Rudolf (2013): Schutzverantwortung und humanitäre Intervention – Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studien2013/S 03.

7) Auf die AU-NATO-Ertüchtigungspolitik kann hier nicht eingegangen werden; siehe dazu: Brooke A. Smith-Windsor (ed.) (2013): AU-NATO Collaboration – Implications and Propects. Rom: NATO-Defense College, S.209ff.

8) Jeremy Kuzmarov (2012): Modernizing Repression. Amherst: University of Massachusetts Press, S.181f.

9) Vgl.: Thomas Mickan (2011): Die UN und der neue Militarismus. Von Krieg und UN-Frieden: Peacekeeping, Regionalisierung und die Rüstungsindustrie. IMI-Broschüre, Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, S.30f.

10) U.S. Department of State: Global Peace Operations Initiative; state.gov.

11) U.S. Department of State (2014): Fiscal Year 2015 Congressional Budget Justification – Department of State, Foreign Operations, and Related Programs. S.114.

12) Eugene Kwibuka: Rwanda: Can U.S. Peacekeeping Fund End Africa’s Endemic Wars? Allafrica.com, 8.8.2014.

13) Vgl. Mickan (2011), op.cit., S.36f.

14) Marco Overhaus: 2014 Quadrennial Defense Review – Entwicklungstrends US-amerikanischer Verteidigungspolitik und Konsequenzen für die Nato. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 2014/A 12, S.3.

15) »Human Rights Up Front« Initiative; un.org/sg/rightsupfront.

16) Thomas Mickan: Responsibility to Arm. junge welt, 24.11.2012, S.2.

17) United Nations (2014): Fulfilling our collective responsibility: international assistance and the responsibility to protect. Report of the Secretary-General [to the General Assembly and the Security Council]. 11 July 2014, Document A/68/947-S/2014/449.

18) Gerrit Kurtz: Massenverbrechen verhindern: Neuer Aktionsplan verharrt im Altbekannten. Vereinte Nationen 2/2014, S.65.

19) United Nations (2014), op.cit., S.18.

20) Vgl. Mickan (2011), op.cit., S.31. »Amani Africa« heißt »Friede in Africa« auf Kisuaheli.

21) European Union External Action (EEAS) Security and Defense/CSDP: Amani Africa II Cycle; eeas.europe.eu.

22) African Union Commission (2014): Strategic Headquarters Training Session of the AMANI AFRICA II Field Training Exercise Opens in Harare. 4.11.2014.

23) European Union External Action (EEAS) Security and Defense/CSDP: EU support to African capabilities; eeas.europe.eu.

24) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage »Aktuelle Situation in der Zentralafrikanischen Republik« der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 18/1383 vom 9.5.2014, S.10.

25) Annette Leijenaar (2014): Africa Can Solve Its Own Problems With Proper Planning and Full Implementation of the African Standby Force. Pretoria, Institute for Security Studies, 21 January 214; issafrica.org.

26) Claudia Major, Christian Mölling, Judith Vorrath (2014): Bewaffnen + Befähigen = Befrieden? Für Stabilisierung ist mehr nötig als Ausbildung und Gerät. SWP-Aktuell 2014/A 74, S.2.

27) Thorsten Knuf (2012): Die Merkel-Doktrin. Frankfurter Rundschau, 1.8.2012.

28) Steffen Eckhard und Philipp Rotmann (2014): Ungenutztes Potenzial: für eine politische Strategie beim Einsatz von Polizei in den Friedenseinsätzen der EU. In: Friedensgutachten 2014. Münster: LIT Verlag, S.122.

29) Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande anlässlich des EU-Afrika-Gipfels. 2.4.2014; bundeskanzlerin.de.

30) Siehe dazu »Deutsche Afrikapolitik. Von Frieden keine Spur« von Katrin Dörrie in dieser Ausgabe von W&F.

31) Auswärtiges Amt (2014): Vierter Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. S.50. Afrikapolitische Leitlinien der Bundesregierung. 21. Mai 2014, S.15. Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbericht 2013). 26. März 2014, S.38.

32) Afrikapolitische Leitlinien, op.cit., S.15.

33) Christoph Marischka (2013): US-AfriCom und KSK seit Jahren in Mali aktiv. Telepolis, 1.7.2013.

34) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage »Krisenprävention und Konfliktbearbeitung 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda« der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 18/1361 vom 7.5.2014, S.17.

35) Marc Thörner, Markus Zeidler, Philipp Jahn: Krieg gegen den IS – Wo Deutschlands Waffen wirklich landen. Monitor, 15.1.2015.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler und Beirat der Informationsstelle Militarisierung.

Afrika im Fokus

Afrika im Fokus

von Marek Voigt

Afrika schafft es nur in die Nachrichten, wenn Konflikte besonders gewaltförmig eskalieren. Das Massaker der Extremistentruppe Boko Haram an mehreren hundert Menschen rund um die nordnigerianische Stadt Baga bekam zunächst in Europa wenig Öffentlichkeit, weil der Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo am selben Tag die Nachrichten dominierte (siehe dazu die Presseschau). Nun wird über eine Eingreiftruppe der Afrikanischen Union und deren mögliche Unterstützung durch EU-Staaten diskutiert. Das bekannte Muster wiederholt sich: Jahrelang wurde der Konflikt ignoriert, bis er sich zu einer Größenordnung zugespitzt hat, die nicht mehr ignoriert werden kann und »die Weltgemeinschaft« auf den Plan ruft. Der medialen Erregung folgt eine eilige militärische Antwort, das Thema ist aber bald wieder vergessen, wenn es nicht zu einer noch stärkeren Eskalation der Gewalt kommt. Für die Ursachen der Konflikte interessiert man sich nicht.

Abgesehen von Kriegen und Katastrophen kommt Afrika in unserer Öffentlichkeit nur als der Ort vor, woher die Flüchtlinge kommen, die man in Europa nicht haben will.

W&F schaut im Schwerpunkt dieser Ausgabe genauer auf einige der Konflikte und Probleme, die den Kriegen in Afrika zugrunde liegen, die Katastrophen wie die Ebola-Epidemie so verheerend machen und die die Migrationsbewegungen in Afrika antreiben.

Dabei blicken wir durchaus selbstkritisch auf unsere eigene Wahrnehmung von Afrika. Susan Arndt diskutiert in ihrem Beitrag, ausgehend von der Kritik an der Bebilderung einer früheren Ausgabe von »Wissenschaft und Frieden«, die Frage, wie sich jahrhundertelang gewachsener Rassismus noch heute in Klischees über Afrika und Afrikaner äußert.

Gravierende Auswirkungen auf die Konflikte in Afrika hat das Handeln externer Akteure. Die deutsche Bundesregierung hat sich 2014 »Afrikapolitische Leitlinien« gegeben. Katrin Dörrie zeigt auf, dass es der Bundesregierung vor allem um den Zugriff der deutschen Wirtschaft auf die Märkte Afrikas geht. Mit Blick auf die Konfliktursachen attestiert sie der Bundesregierung geringe Kenntnis und wenig Interesse, weswegen die Leitlinien vor allem militärische Beiträge zur Reaktion auf Krisen behandeln.

Frankreich spielt in den Teilen Afrikas, die früher französische Kolonien waren, noch immer eine bedeutende Rolle. Bernhard Schmid schildert, wie die einstige Kolonialmacht genau an den Konflikten, zu deren Einhegung sie jetzt – etwa in Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik – militärisch interveniert, politisch und wirtschaftlich beteiligt war. Doch neben den alten Kolonialmächten drängen in Afrika andere Akteure auf die ökonomische, politische und militärische Bühne, allen voran China. Wie sich die Rolle der Volksrepublik von der Verfolgung rein wirtschaftlicher Interessen hin zu einem heute durchaus widersprüchlichen sicherheitspolitischen Akteur verschoben hat, zeigt Daniel Large am Beispiel der Beziehungen Chinas zum Sudan und Südsudan.

Die Nutzung der enormen natürlichen Ressourcen Afrikas kann auch zwischen afrikanischen Staaten sowohl Quelle von Konflikt als auch Ausgangspunkt von Kooperation sein, wie Michael Link und Jürgen Scheffran am Beispiel eines Nilstaudammprojekts in Äthiopien zeigen.

Mit der Politik der militärischen Ertüchtigung beschäftigt sich Thomas Mickan. Er stellt am Beispiel der afrikanischen Regionalorganisationen und ihrer Mitglieder dar, wie USA und Deutschland, EU und NATO, aber auch die Vereinten Nationen Aufrüstungs- und Ausbildungsprogramme als kostengünstige Alternative zu aufwändigen Statebuilding-Programmen betreiben.

Die in der UN-Resolution 1325 vorgegebene Partizipation von Frauen in Friedensprozessen allein reiche nicht aus für die Gewaltüberwindung in Nachkriegsgesellschaften, argumentiert Rita Schäfer in ihrem Beitrag über afrikanische Friedensaktivistinnen in Liberia. Aus ihrer Sicht war, trotz der internationalen Anerkennung für die Erfolge des Friedensprozesses in Liberia, die Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteurinnen gegen die vor und im Krieg etablierten Gewaltstrukturen nicht intensiv genug, was viele der heutigen Probleme und Konflikte in dem Land gefördert habe.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der afrikanischen Diskussion um Landgrabbing (Anne Hennings und Annette Schramm), werfen am Beispiel Ghanas einen Blick auf die innergesellschaftlichen Friedens- statt Kriegsursachen (Julia Ruppel) und stellen ein erfolgreiches Projekt für Kompetenzaufbau in Konfliktbearbeitung und Mediation in Namibia vor (Angela Mickley).

Es war der Anspruch der Redaktion in der Planung dieser Ausgabe, nicht nur über Afrikanerinnen und Afrikaner zu reden, sondern Akteure aus Afrika selbst sprechen zu lassen. Das ist der Redaktion nicht gelungen. Dies verweist auf die Aufgabe von Friedensforschung und Friedensbewegung, Kontakte und Netzwerke zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zu Aktivistinnen und Aktivisten dieses Kontinents zu knüpfen.

Ihr Marek Voigt

Jugendliche und Homophobie

Jugendliche und Homophobie

Hassgewalt in Südafrika

von Rita Schäfer

Hassgewalt gegen Homosexuelle in Südafrika, die in (Gruppen-) Vergewaltigungen und der Ermordung von Lesben durch jugendliche Täter gipfelt, ist Ausdruck verbreiteter homophober Einstellungen, Besitz ergreifender Sexualitätskonzepte, martialischer Männlichkeit und vielschichtiger Gewaltstrukturen. Diese Gewaltmuster wurden vor und während der Apartheid etabliert; trotz Gesetzesreformen wurden sie bis heute nicht revidiert.

Südafrika wird von westeuropäischen und US-amerikanischen Friedens- und Konfliktforscher/-innen gern als Erfolgsmodell gepriesen. Das bezieht sich auf den Übergang vom repressiven Apartheidregime (1948-1994) zur Demokratie mit staatsbürgerlichen Rechten für alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe und Herkunft. Das gilt auch für die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die politisch motivierte Gewaltverbrechen aus der Zeit zwischen 1960 und 1994 aufdecken sollte und als Vorbild für die Einrichtung ähnlicher Kommissionen nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent galt.

Diese reduktionistische Idealisierung der Transformationsansätze kritisieren etliche südafrikanische Wissenschaftler/-innen, denn sie verstellt den Blick auf grundlegende und geschlechtsspezifische Gewaltmuster. So nehmen außen stehende Forschende (Gruppen-) Vergewaltigungen und die anschließende Ermordung von Lesben – zwischen 1998 und 2008 mindestens 33 Morde, 2012 erneut 15 Morde – kaum wahr bzw. kategorisieren sie als verstörende Einzelfälle pathologischer Täter.

Angesichts der Fokussierung auf »wichtigere« Themen wie Terrorismus und religiöse, ethnische oder politisch motivierte Gewalt herrscht von Seiten deutscher Friedens- und Konfliktforscher/-innen auch weitgehend Ignoranz gegenüber anderen Gewaltformen in Südafrika, wo jährlich zwischen 64.000 und 70.000 Sexualstraftaten polizeilich registriert werden; in den meisten Jahren war über die Hälfte der Opfer minderjährig.1 Über 20% der Bevölkerung sind HIV-positiv, in manchen verarmten und von Gewalt geprägten Provinzen beträgt die HIV-Rate junger Frauen und Mädchen 34-38%. Viele wurden gewaltsam infiziert, denn sogar bei Partnerschaften zwischen Jugendlichen sind die ersten sexuellen Kontakte der Mädchen häufig unfreiwillig. Auch die dokumentierten 15.000 Morde pro Jahr, deren Opfer oft junge Männer in Bandenkriegen sind, über 200.000 schwere Körperverletzungen und zahlreiche tödliche xenophobe Gewaltübergriffe auf Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern rütteln nicht am hiesigen Konstrukt des Erfolgsmodells Südafrika.2

Mangelnde Aufarbeitung geschlechtsspezifischer Gewalt

Um so wichtiger ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Hintergründen der homophoben Gewalt. In ihr bündeln sich wie in einem Brennglas etablierte Gewaltstrukturen, die während der öffentlichen Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission ausgeblendet wurden, zumal diese medial und religiös inszenierten Gegenüberstellungen individueller Opfer und Täter vorrangig auf das »nation building« ausgerichtet waren. Der Systemcharakter der Apartheid sowie die Auswirkungen der Rassentrennungs- und Homelandpolitik, der Landenteignungen und Zwangsumsiedlungen von mindestens 3,5 Millionen Menschen, der Passgesetze, der umfassenden Reglementierungen des Arbeitens und Wohnens sowie des Ehe- und Familienlebens fielen nicht unter das Mandat der Kommission (Marx 2007).

Dennoch hatten namhafte Politologinnen und Juristinnen wie Sheila Meintjes und Beth Goldblatt bereits während der Planung der öffentlichen Anhörungen gefordert, zumindest die geschlechtsspezifischen Strukturen der politisch motivierten Gewalt aufzuarbeiten, um die Fortsetzung der Gewaltmuster zu verhindern (Meintjes 2009). Der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu als Kommissionsvorsitzender beschränkte sich jedoch darauf, in drei Großstädten je eine Anhörung für Frauen anzuberaumen. Während dieser Veranstaltungen fielen einzelne Kommissionsmitglieder dadurch negativ auf, dass sie mit Suggestivfragen verbreitete Geschlechterstereotypen bestätigten. Gleichzeitig ignorierten sie politisch motivierte sexualisierte Gewalt an Männern und Jungen sowie homophobe Gewalt. Dabei hatten Folterungen an den Genitalien verhafteter politischer Aktivisten/-innen sowie die Androhung von Vergewaltigungen zu den verbreiteten Ermittlungsmethoden der zumeist sexistischen und rassistischen Polizisten gezählt (Schäfer 2008).

Zwischen 1960 und 1990 wurden 100.000 Menschen inhaftiert – viele ohne Anklage; mindestens 20.000 wurden gefoltert. Zahllose Opfer wagten es nicht, nach ihrer Entlassung über die erlittenen Qualen zu sprechen. Sie fürchteten, als Verräter/-innen verdächtigt zu werden, die nur überlebt hatten, weil sie Nachbarn oder Verwandte denunziert hätten. Sogar bei Inhaftierungen aufgrund von Passvergehen, denen etwa 500.000 Menschen pro Jahr zum Opfer fielen, und der Inhaftierung mehrerer tausend Kinder und Jugendlicher kam sexuelle Folter zum Einsatz. Auch im Zivilrecht waren Körperstrafen an jungen schwarzen Männern verbreitet. In manchen Jahren wurden bis zu 40.000 Auspeitschungen als Strafe etwa für Ungehorsam gegenüber Weißen angeordnet. Diese oftmals sadistische und sexistische Strafmethode ging auf die zwischen 1658 und 1834 praktizierte Sklaverei und darauf aufbauende koloniale Gesetze zurück. Unter anderen Vorzeichen bestätigte sie gewaltsam die Hierarchien zwischen älteren weißen und jungen schwarzen Männern (Marx 2012). Ergänzt wurden diese durch Besitz ergreifendes Sexualverhalten weißer Farmer gegenüber jungen schwarzen Arbeiterinnen, was wiederum deren Ehemänner demütigte.

Das Kolonial- und Apartheidsystem basierte auf Gewalt. Sie war im weit verzweigten staatlichen Kontrollapparat institutionalisiert, was die Militarisierung der gesamten Gesellschaft zur Folge hatte. So kooperierte die Sicherheitspolizei mit kriminellen Banden: Seit dem Schüleraufstand 1976 in Soweto gegen die rassistische Bildungspolitik, als die Polizei mindestens 575 Kinder und Jugendliche erschoss, belästigten Jugendbanden politisch aktive Schüler sowie deren Schwestern und Freundinnen (Marx 2002). Sie erhielten von der Polizei Unterstützung, um den Kampfgeist der jungen Regimegegner/-innen durch sexualisierte Gewalt als Einschüchterungsstrategie zu brechen.

Geschlechtsspezifische Gewalt diente auch in der weißen Gesellschaft als Machtmittel, beispielsweise in Form ehelicher und familiärer Gewalt, sowie zur Demütigung junger Männer, etwa bei Initiationsriten an privaten Jungenschulen, die zahlreiche Weiße besuchten. Im Militärdienst, der für junge Weiße verpflichtend war, sorgte sexualisierte Gewalt an Rekruten für den Erhalt institutionalisierter Hierarchien zwischen Männern. Viele nahmen die traumatischen Übergriffe, bei denen sie wie untergebene Frauen behandelt wurden, als homosexuelle Gewalt wahr und reagierten mit verstärkter Homophobie. Gleichzeitig galten homosexuelle Rekruten als Bedrohung der martialischen Männlichkeit im Militär und wurden mit Elektroschocks und Hormonen traktiert, um ihre sexuelle Orientierung zu ändern. Einige wurden unfreiwilligen Geschlechtsumwandlungen unterzogen.

Während der Apartheid war Homosexualität auf Druck christlicher Missionare offiziell verboten. Dennoch duldeten Betreiber von Gold- und Kohleminen sexuelle Kontakte zwischen schwarzen Männern, so genannte »mine marriages«, um die Arbeiter von Prostituierten fernzuhalten, die als Verbreiterinnen von Syphilis galten. Junge Wanderarbeiter mussten sich in die Rolle unterwürfiger Frauen begeben, für ältere Arbeiter kochen, waschen und sexuell zu Diensten sein. Dafür wurden sie von den Älteren vor der Auspeitschung durch weiße Vorarbeiter geschützt und erhielten etwas Geld. Das konnten sie für die Brautpreiszahlung sparen, die bei der späteren Eheschließung vom jeweiligen Brautvater verlangt wurde (Range/Schäfer 2013). Folglich mussten junge Minenarbeiter zwei gegensätzliche sexuelle Sozialisationen bewältigen: eine öffentlich tabuisierte, unfreiwillige als »junge Ehefrau« in einer »mine marriage«und eine kulturell geforderte als Bräutigam in einer heterosexuellen Ehe.

Innerhalb des politischen Widerstands, wie im African National Congress (ANC), wurden diese Strukturen nicht diskutiert, vielmehr herrschten homophobe Einstellungen vor. Gleichzeitig grenzten sich weiße Homosexuelle von der Problemsituation schwarzer Menschen ab, obwohl sie ungeachtet der Strafgesetze teilweise junge schwarze Partner hatten. Erst die internationale Kritik an der mangelnden Solidarität weißer Homosexueller mit den mehrfach diskriminierten und oftmals inhaftierten schwarzen Schwulen setzte Diskussionen in Gang. Regimekritische Homosexuelle, die ins Exil geflohen waren, verlangten vom ANC, die Rechte von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in die neue südafrikanische Verfassung aufzunehmen. Auf juristischem Wege erreichten sie 2006 die Legalisierung homosexueller Partnerschaften und Ehen. Diesen rechtlichen Veränderungen folgten jedoch keine politische Reformen oder staatliche Informationsprogramme mit dem Ziel eines Einstellungswandels in der Gesellschaft, etwa an Schulen. Vielmehr wird hier bis heute entgegen der auf Geschlechtergleichheit abzielenden Bildungsvorgaben Sexismus erlernt und verbreitet, der den Nährboden für geschlechtsspezifische Gewalt bietet.

Opfer und Täter

Am 4.2.2006 wurden Zoliswa Nkonyana, am 7.7.2007 Sizakele Sigasa und Salome Masooa und am 28.4.2008 Eudy Simelane, Mittelfeldspielerin in der südafrikanischen Frauenfußballnationalmannschaft Bafana-Bafana, ermordet. Einige jugendliche Täter wurden nach jahrlangen Prozessen zu vergleichsweise milden Strafen verurteilt, andere entkamen mit Hilfe des korrupten Gefängnispersonals aus der Untersuchungshaft. Nur im Mordfall von Zoliswa Nkonyana ging der Richter von homophober Hassgewalt als Tatmotiv aus. Der Lobbyarbeit von Homosexuellenorganisationen war es zu verdanken, dass den Beschuldigten überhaupt der Prozess gemacht wurde. Mitarbeiterinnen dieser Organisationen schätzen, dass landesweit jährlich etwa 500 junge lesbische Frauen und Mädchen vergewaltigt werden. Dennoch sehen Politiker/-innen weiterhin keinen Handlungsbedarf und schrecken nicht vor homophoben Äußerungen zurück.

Diese politischen Signale bewerten etliche Täter als Bestätigung; wie ihre Opfer wohnen sie in verarmten, infrastrukturell desaströsen und von kriminellen Banden beherrschten Townships. Zur Legitimation ihrer häufig kollektiven Gewaltakte geben diese vor, im Sinne patriarchaler Geschlechterhierarchien Ordnung wiederherzustellen, Lesben von ihrer Homosexualität zu »heilen« und sie davon abzuhalten, andere junge Frauen und Mädchen »zu verführen«. Dabei beziehen sie sich auf verbreitete Besitz ergreifende Sexualitäts- und Maskulinitätsvorstellungen. Gleichzeitig verurteilen sie die staatliche Frauenförderpolitik als Verrat und fühlen sich mit hoher Arbeitslosigkeit, Drogenproblemen und familiärer Gewalt perspektivlos allein gelassen.

Die Polizei registriert bei Vergewaltigungsfällen nicht die Geschlechtsidentität/-orientierung, offizielle Statistiken dokumentieren also keine homophobe Hassgewalt. Viele Polizisten unterstellen Vergewaltigten, für die Übergriffe selbst verantwortlich zu sein. Zudem beschuldigen die Staatsdiener deren Familien, bei der Erziehung versagt zu haben. Vielerorts werden trotz anders lautender Vorschriften Ermittlungen mit der Begründung abgelehnt, dass man wichtigere Fälle wie Raubmord aufzuklären habe. Diese Straflosigkeit leistet weiteren Gewaltakten Vorschub (HRW 2011; Anguita 2012).

Eigentlich sollten die neue Verfassung von 1996 und umfassende Gesetzesreformen zum Schutz von Frauen-, Kinder- und Homosexuellenrechten einen Neubeginn markieren. Darauf bauen politische Leitlinien zur Geschlechtergleichheit auf. Allerdings wurde bei diesen Reformen die Problemlage junger Männer ignoriert, die zuvor das rassistische Apartheidregime bekämpft hatten und in einer auf martialischer Männlichkeit basierenden Gewaltkultur sozialisiert worden waren. Bildung und berufliche Perspektiven wurden ihnen vorenthalten, und viele mussten unter gewalttätigen Vätern leiden – Probleme, die aus der repressiven Apartheidpolitik resultierten. Die aus dem Anti-Apartheidkampf hervorgegangene ANC-Regierung setzte ab 1999 auf eine einseitige neo-liberale Wirtschaftspolitik und vernachlässigte den Bildungs- und Gesundheitssektor sowie den Infrastrukturausbau und die Jugendförderung.

Seit der politischen Wende 1994 wachsen sozial marginalisierte Jugendliche damit auf, dass Lehrer und andere Staatsdiener homophobe Einstellungen verbreiten und dass sexuelle Gewalt ein Machtmittel ist, um den eigenen Status zu erhöhen. Tagtäglich erleben Schüler, dass Lehrer, die häufig HIV-positiv sind, Schülerinnen mit Drohungen und Geld zu sexuellen Kontakten zwingen. Dieses erpresserische Sexualverhalten, das zumeist nicht strafrechtlich und nur in Ausnahmefällen disziplinarisch verfolgt wird, hat Vorbildfunktion: Es schlägt sich in sexualisierter Gewalt durch Schüler nieder. Währenddessen sehen Jugendliche, die oft wegen fehlender finanzieller Mittel keine Sekundarschule besuchen, wie kriminelle Banden sich mit Waffengewalt Geld, Macht und die Kontrolle über Mädchen verschaffen. Selbst Jungen, die eine staatliche Sekundarschule besuchen, müssen damit rechnen, wegen ihrer miserablen Ausbildung keinen Arbeitsplatz zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt etwa 50%, 2012 bestanden 25% aller Sekundarschüler/-innen nicht das Abschlussexamen.

Um so wichtiger ist die Informationsarbeit von Homosexuellenorganisationen an Schulen, Jugendzentren und über Radiosender, die Jugendliche erreichen. Im Idealfall können sie zur Überwindung homophober Meinungen und Gewalt sowie zur Toleranz gegenüber Homosexuellen beitragen.

Literatur:

Anguita, Luis Abolafia (2012): Tackling corrective rape in South Africa: The engagement between the LGBT CSOs and the NHRIs (CGE and SAHRC) and its role. The International Journal of Human Rights, 16:3, S.489-516.

Human Rights Watch (2011): »We’ll show you you’re a woman«. Violence and discrimination against black lesbians and transgender men in South Africa. New York: Human Rights Watch Publications.

Marx, Christoph (Hrsg.) (2003): Jugend und Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Münster: Lit-Verlag, Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, Band 12.

Marx, Christoph (Hrsg.) (2007): Bilder nach dem Sturm. Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Münster: LIT Verlag.

Marx, Christoph (2012): Südafrika – Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Meintjes, Sheila (2009): »Gendered truth?« Legacies of the South African Truth and Reconciliation Commission. African Journal on Conflict Resolution, vol. 9, no. 2, S.101-112.

Range, Eva und Schäfer, Rita (2013): Wie mit Homophobie Politik gemacht wird. Menschenrechte und Verfolgung von LSBTI-Aktivist_innen in Afrika. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Schäfer, Rita (2008): Im Schatten der Apartheid. Münster: Lit-Verlag.

Anmerkungen

1) David Smith: South Africa – Teenage lesbian is latest victim of »corrective rape« in South Africa. The Guardian, 9 May 2011.

2) South African Police Service – Crime Research and Statistics: Total sexual offences in RSA for April to March 2004/2005 to 2011/2012. www.saps.gov.za.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin des Buches »Frauen und Kriege in Afrika« (2008); frauen-und-kriege-afrika.de.

Schürt Uranbergbau Konflikte in Afrika?

Schürt Uranbergbau Konflikte in Afrika?

von Janina Laurent und Kerstin Rother

Systematische Studien über den Zusammenhang von Konflikten und Rohstoffen belegen, dass rohstoffreiche Staaten unter spezifischen Voraussetzungen ein signifikant höheres Konfliktrisiko aufweisen (vgl. u.a. Ross 2004; Le Billon 2001). Die Staaten des subsaharischen Afrika werden aufgrund des Ressourcenreichtums sowie häufiger innerstaatlicher Konflikte oft in diesem Kontext genannt. Der Fokus liegt meist auf strategisch bedeutsamen Rohstoffen wie Diamanten und Erdöl. Eine Forschungslücke besteht bei der möglichen Beeinflussung von Konflikten durch Uranvorkommen.

Uran ist ein Rohstoff mit hoher strategischer Relevanz. Uranerz wurde insbesondere während des Kalten Krieges zur Herstellung nuklearer Waffen in großem Umfang abgebaut und aufbereitet. Heute dient aufbereitetes Uran vorwiegend der kommerziellen Energiegewinnung. Derzeit sind weltweit 436 Reaktoren in Betrieb, und 67 weitere Reaktoren befinden sich im Bau (vgl. IAEA 2013).

Inwiefern ist aber ein Zusammenhang zwischen Uranbergbau und Konflikten in Afrika festzustellen? Langfristige Umweltschäden sowie eine ungerechte Verteilung der Profite aus dem Uranexport – letzteres ein möglicher Hinweis auf die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen – können Konflikte auslösen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Mechanismen zu identifizieren, die diese Konflikte beeinflussen. In einem weiteren Schritt können dann Maßnahmen und Instrumente zur Konfliktprävention erarbeitet werden.

Ein Projekt des Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) der Universität Hamburg und des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) im Jahr 2012 untersuchte den Zusammenhang von Konflikten und Uranbergbau im Zeitraum 1946-2010. Eine raum-zeitliche Analyse von Uranbergbau, Ethnizität und bewaffneten Konflikten im subsaharischen Afrika ergab, dass in vier Ländern (Südafrika, Demokratische Republik Kongo, Namibia und Niger) die genannten Faktoren sowohl zeitlich als auch räumlich relevant sind (hierzu auch Basedau/Koos 2012).

Uranbergbau in der Republik Namibia

In Namibia wird Uranerz seit den 1950er Jahren in der Erongo-Region abgebaut, zunächst unter südafrikanischer Führung, nach der Unabhängigkeit im Jahre 1990 mit Einverständnis der namibischen Machthaber. Spezifische Gesetze, die auf die besonderen Gefahren des Uranbergbaus eingehen, wurden erst 20 Jahre später eingeführt. Mit der »Rössing Mine« der Rio Tinto Zinc Corporation befindet sich in Namibia der größte Urantagebau der Welt, wobei die Republik mit etwa 3.258 Tonnen Uranoxid im Jahr 2012 an fünfter Stelle der uranexportierenden Staaten steht und das Exportpotential weiter ausbaut. Durch die neun produzierenden Uranerzminen gehören die Bergbauunternehmen zu den größten Arbeitgebern im Westen Namibias und stellen somit die Lebensgrundlage für viele Menschen dar. Die Probleme, die Uranbergbau mit sich bringt, werden in Namibia bis dato wenig diskutiert. Dabei entstehen durch den Uranbergbau sowohl Umweltprobleme als auch Spannungen in der Bevölkerung. Ethnische Minderheiten, die in der Umgebung der Minen leben, werden bei der Entscheidungsfindung der Regierung übergangen, was ein Konfliktpotential zur Folge hat.

Namibia wird seit Jahrhunderten von Volksgruppen bewohnt, die bereits vor Ankunft der weißen Siedler Konflikte um Land, Wasser und Vieh austrugen. Diese Konflikte wurden durch die Kolonialmächte und die südafrikanische Verwaltung im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt. Ein Zusammenhang zwischen Ethnizität und Konflikten war also schon damals erkennbar. Auch die Unterdrückung bestimmter Volksgruppen durch andere – in Namibia sind unter anderem San, Himba und Topnaar-Nama betroffen – existierte schon vor dem Uranbergbau (vgl. Dierks 2003).

Die bisherigen gewaltsam ausgetragenen Konflikte in Namibia hängen jedoch nicht mit dem Uranbergbau zusammen. Auch der Kampf um die Unabhängigkeit Namibias zwischen 1960 und 1989 wurde weder durch Uranbergbau finanziert noch wegen diesem geführt. Diese Erkenntnis bedeutet aber keineswegs, dass es keine Konflikte um den Uranbergbau in Namibia gibt, sondern lediglich, dass diese unter der Gewaltschwelle liegen. Ein solcher Konflikt liegt zwischen den Topnaar-Nama, der Regierung und den Bergbaugesellschaften in der Erongo-Region vor. Die Topnaar-Nama beanspruchen das Gebiet um den Kuiseb-Fluss, welches sie schon seit Jahrhunderten besiedeln. Die Regierung erkennt weder den Anspruch auf das Land noch die Führer der Topnaar-Nama an. Die Entwicklungs- und Verteilungsungleichgewichte zu Lasten der Topnaar-Nama werden durch den Uranbergbau verschärft, was den bestehenden Konflikt zwischen den Topnaar-Nama und der Regierung verstärken könnte (vgl. Suchanek).

Der Reichtum, der durch Uranbergbau generiert wird, aber weder transparent verteilt wird noch in der Region verbleibt, trägt dazu bei, dass die Regierung sich vom Volk isoliert und die Korruption in Namibia steigt. Dabei spielt eine Rolle, dass Namibia zwar reich an Bodenschätzen ist, jedoch keine ausdifferenzierte Wirtschaft mit ausgeprägtem Binnenhandel besitzt. Die Tendenz wird durch die unzureichende Gesetzgebung bezüglich des Uranbergbaus und den Mangel an Transparenz bei der Entscheidungsfindung sowie die undurchsichtige Vergabe von Bergbaulizenzen durch die zuständigen Behörden verstärkt. Auch die Nichtbeachtung der namibischen Naturschutzgesetze lassen eine Fehlentwicklung erkennen.

Der Uranbergbau generiert in Namibia einerseits Arbeitsplätze und Steuereinahmen. Andererseits haben die Uranerzminen langfristige negative Folgen für die Umwelt und die Bevölkerung sowie die Entwicklung einer gefestigten Demokratie. Die Folgen für die Umwelt sind kaum abschätzbar, und ein Beweis des Zusammenhangs zwischen Radioaktivität und Krankheiten, die oft erst nach Jahren auftreten, ist schwer zu erbringen. Zudem entzieht der Uranbergbau den Ökosystemen und der ansässigen Bevölkerung das ohnehin schon knappe Wasser. Die betroffenen Arbeiter und Anwohner, Farmer und Topnaar-Nama, finden kein Gehör bei den Bergbaukonzernen und der namibischen Regierung. Da bei der Bevölkerung und vielen namibischen Nichtregierungsorganisationen große Wissenslücken bestehen, was durch eine unzureichende Informationspolitik seitens der Bergbaukonzerne und der namibischen Regierung verschlimmert wird, besteht vor Ort kaum die Möglichkeit, gegen die Fehlentwicklungen vorzugehen.

Die negativen Folgen des Uranbergbaus treffen in Namibia auf Entwicklungs- und Verteilungsungleichgewichte sowie auf die Diskriminierung bestimmter Volksgruppen und eine noch unzureichend gefestigte Demokratie. Dieses Zusammentreffen kann das allgemeine Konfliktrisiko erhöhen sowie vorhandene Konflikte verschärfen.

Uranbergbau in der Demokratischen Republik Kongo

Die Demokratische Republik Kongo (DR Kongo) zählt zu den ärmsten und politisch instabilsten Regionen der Welt. In den Medien wird das Land meist in Verbindung mit Gewaltkonflikten, Menschenrechtsverletzungen und der Ausbeutung von Bodenschätzen genannt. Insbesondere der in der Region des »Kupfergürtels« – eine der größten Lagerstätten wertvoller Bodenschätze – gelegene Osten wird von Rebellen und anderen nicht-staatlichen Akteuren umkämpft. Kinshasa, die Hauptstadt der DR Kongo, befindet sich rund 1.500 Kilometer vom Kupfergürtel entfernt im Westen des Staates und ist über den Landweg nahezu unerreichbar. Staatliche Kontrollen sind dadurch nicht ausreichend gewährleistet, und kurzfristige Einsätze bei einer Konflikteskalation werden erschwert. Umfangreiche Uranerzvorkommen befinden sich hauptsächlich in der Region Katanga, darunter die wohl bekannteste Uranerz-Lagerstätte überhaupt: Die »Shinkolobwe-Kasolo Mine« lieferte das Uran, das zum Bau der ersten Atombomben der USA verwendet wurde.

Uran – das Gold der belgischen Kolonie

Uranbergbau hat in der DR Kongo eine lange Tradition. Die rohstoffreiche Region Katanga im Südosten des Landes zog im frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Bergbauunternehmen an. 1906 wurde unter belgischer Kolonialherrschaft die Bergbaugesellschaft »Union Minière du Haut Katanga« (UMHK) gegründet. Besonders profitabel waren die Uranerz-Lagerstätten in Katanga, die seit den 1920er Jahren ausgebeuetet wurden. In der »Shinkolobwe-Kasolo Mine« förderten die Belgier bis 1957 jährlich bis zu 2.500 Tonnen uranhaltigen Gesteins und blieben von 1925 bis 1961 der weltweit wichtigste Lieferant von Uranerz. Der kontinuierliche Eintrag von radioaktiven Substanzen führte in der Umgebung zu einer erheblichen Strahlenbelastung. In der Regel war davon ein Areal von mehreren Kilometern Durchmesser betroffen, bei der »Shinkolobwe-Kasolo Mine« sogar ein Gebiet von rund 300 Hektar. Gefahr ging insbesondere von radioaktivem Staub aus, sowie von Abwässern, die das Grundwasser verseuchten. Unzufriedenheit in der Gesellschaft verbreitete sich durch die fehlende Möglichkeit, die Lebensbedingungen zu verbessern.

Ab 1950 setzte sich das Luba-Volk verstärkt für mehr Machtteilhabe in dem südöstlich gelegenen Distrikt Haut-Katanga ein. Die »Shinkolobwe-Kasolo Mine« befand sich innerhalb des Siedlungsgebietes der Luba. Politische Teilhabebestrebungen seitens dieser Ethnie, aber auch anderer, neu gebildeter »Stammesparteien«, führten dazu, dass die politische Situation in Katanga insbesondere ab 1959 als konfliktreich galt. Das Ziel, die ressourcenreiche Provinz als eigenständigen Staat zu deklarieren und die Kontrolle über die Rohstoffe zu erlangen, spielte dabei eine zentrale Rolle. Zu den neuen Interessenparteien gehörte auch die Partei CONAKAT (Conféderation des Associations du Katanga) des Kongolesen Moïse Kapenda Tschombé. Tschombé, ein hohes Mitglied der Luba-Ethnie, kooperierte mit dem belgischen Unternehmen UMHK, das wiederum im Auftrag Belgiens agierte. Als Kongo 1960 seine Unabhängigkeit bekannt gab, wurden die Sezessionsbestrebungen seitens der CONAKAT konkret. Die Situation eskalierte 1960, als Tschombé Katanga zum unabhängigen Staat erklärte und sich damit gegen die Zentralregierung stellte. Der Staat verlor dadurch wichtige Einnahmen aus dem Minengeschäft (vgl. Kacza 1990). Belgische Armeetruppen kämpften gegen das kongolesische Militär um die Region. Durch den bewaffneten Konflikt kam zum Ende des Jahres 1961 der offiziell geführte Uranbergbau in der DR Kongo zum Erliegen, der Sezessionskrieg fand 1963 ein Ende. Die Provinz Katanga gehörte nun erneut zum administrativen Bereich der kongolesischen Zentralregierung.

Von Konflikten geprägt, entstanden in der Region jedoch weiterhin Aufstände und Volksgruppenkämpfe. Die Akteure hatten überwiegend ein Interesse: Sie wollten die Kontrolle über Provinzen und die damit einhergehende Macht über die Bodenschätze erlangen. Ein offizieller Uranbergbau wurde im Kongo nicht wieder aufgenommen, jedoch etablierte sich ein informeller Rohstoffabbau durch Individualschürfer (artisanal mining). Er steht der industriellen Gewinnung mineralischer Bodenschätze gegenüber, die durch den Einsatz moderner Maschinen und strukturierter Arbeitsprozesse sowohl ökonomisch als auch ökologisch überlegen ist. Der informelle Rohstoffabbau im Osten der DR Kongo gilt aktuell als politisches, wirtschaftliches sowie soziales Problem.1

Welches Fazit kann aus den Fallbeispielen gezogen werden?

In vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara ist die Gesetzgebung bezüglich der Gewinnung von Bodenschätzen lückenhaft und undifferenziert. Zum Umgang mit radioaktiven Materialien gibt es anders als in Europa, wo der Umgang mit Uran vom Bergbau bis zur Entsorgung reguliert ist, keine standardisierten Regelungsverfahren. Für ausländische Investoren ist die Möglichkeit des freien Zugangs zu Schürf- und Exportoptionen in Afrika interessant, da Steuerausgaben, Investitionskapital und Umweltauflagen meist gering ausfallen (vgl. Fatal Transactions 2008). Von dieser Politik sind in erster Linie die ansässige Bevölkerung und die Minenarbeiter betroffen, die aufgrund der geringen Distanz zwischen Siedlungsgebiet und Uranerzmine mit einer möglichen Landenteignung und mit den negativen Einflüssen auf Gesundheit und Umwelt konfrontiert sind. Zudem ist die Subsistenzwirtschaft nach radioaktiven Umwelteinträgen und aufgrund des Mangels an Wasser, das in großen Mengen für den Bergbau abgezweigt wird, nur noch begrenzt möglich und mit gesundheitlichen Gefahren verbunden.

Die Einzelfallstudie über den Uranbergbau in Namibia zeigt, dass Uranerz ein Konfliktpotential birgt, welches besonders zum Tragen kommt, wenn Uranbergbau auf unterdrückte Minderheiten und eine ungleiche Ressourcenverteilung trifft. In Namibia wäre beispielsweise eine striktere Gesetzeslage bezüglich des Uranbergbaus und deren Einhaltung durch die Behörden sowie die Partizipation der betroffenen Volksgruppen ein möglicher Ansatz, um das Konfliktpotential zu mindern.

Eine eindeutige Aussage darüber, dass Uranbergbau zu innerstaatlichen Konflikten in der DR Kongo führt, ist wissenschaftlich nicht ausreichend belegbar. Die Konflikte sind vielschichtig, insbesondere ist die Verbindung zum Rohstoff Uran schwer herzustellen. Dennoch zeigen die historischen Ereignisse in der DR Kongo, dass der Sezessionskonflikt (1960-1963) auf das Interesse an den Rohstoffen der Region zurückzuführen ist. Regionen im rohstoffreichen Osten werden heute von bewaffneten Gruppen regiert. Die Folge sind die illegale Ausbeutung der Minen unter unzureichenden Arbeitsbedingungen sowie Schmuggel und Korruption. Offizielle Beweise für den informellen Abbau von Uran liegen nicht vor, internationale Nichtregierungsorganisationen bestätigen aber, dass Uran in Katanga illegal geschürft wird (vgl. u.a. ÖNZ 2011). Eine Revitalisierung des Uranbergbaus in der DR Kongo könnte demnach mit Risiken verbunden sein, die nur schwer abschätzbar sind. Deshalb ist es notwendig, weitere Forschungen in diesem Gebiet anzustellen, um mögliche Verbesserungsvorschläge im Umgang mit dem Uranabbau in Afrika zu entwickeln.

Literatur

Basedau, Matthias; Koos, Carlo (2012): Does Uranium Mining Increase Civil Conflict Risk? Evidence from a Spatiotemporal Analysis of Africa from 1945 to 2010. Hamburg: German Institute of Global and Area Studies, GIGA Working Papers 205/2012.

Dierks, Klaus (2003): Chronologie der Namibischen Geschichte. Von der vorgeschichtlichen Zeit zum unabhängigen Namibia 2000. 2. Auflage, Windhoek.

Fatal Transactions (2008): Mining Regulation in Africa.

International Atomic Energy Agency (2013): Power Reactor Information System. Nuclear Power Reactors in Operation.

Kacza, Thomas (1990): Die Kongo-Krise 1960-1965. Pfaffenweiler: Centaurus-Vertragsgesellschaft.

Koning, Ruben (2011): Conflict Minerals in the Democratic Republic of the Congo Aligning Trade and Security Interventions. In: SIPRI Policy Paper 27/2011.

Le Billon, Philippe (2001): The political ecology of war: Natural resources and armed conflicts. International Political Geography 20, S.561-584.

Ökomenisches Netz Zentralafrika (2011): Uranium Mining in the DR Congo. A Radiant Business for European Companies? Juni 2011.

Ross, Michael L. (2004): What do we know about natural resources and civil war? Journal of peace research vol. 41(3), S.337–356.

Suchanek, Norbert (2010): Namibia. Ureinwohner kämpfen gegen Uran-Bergbau. naturvoelker.org.

Anmerkung

1) Der Fokus liegt insbesondere auf dem Abbau der Rohstoffe Kassiterit (tin ore), Koltan (colombite–tantalite) und Wolframit (tungsten ore) (vgl. Koning 2011).

Janina Marie Laurent studierte an der Universität Hamburg Geographie (B.Sc.) und absolviert gegenwärtig ihren »Master of Peace and Security Studies« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg. Kerstin Rother studierte an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg Politikwissenschaften (M.A.) und erwarb am IFSH den »Master of Peace and Security Studies (M.P.S.). Gegenwärtig arbeitet sie als freie Journalistin in Hamburg.

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Grenzen: Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Südsudan und Sudan

von Julia Kramer

Am 9. Juli 2011 wurde der aktuell jüngste Staat der Welt geboren: die Republik Südsudan. Voraus gingen zwei jahrzehntelange Bürgerkriege, ein »Umfassendes Friedensabkommen« 2005, Wahlen 2010 und das Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan am 9. Januar 2011. Mit überwältigender Mehrheit von 98,83% entschieden sich die Südsudanes_innen für die Unabhängigkeit. Eine neue Grenze sollte einen Schlussstrich unter die blutige Geschichte setzen. Dieser Artikel untersucht, ob die Ziehung neuer Grenzen zwischen Sudan und Südsudan wirklich zur Lösung von Konflikten verhilft oder vielmehr diese nur verschiebt bzw. Anlass zu weiteren Konflikten ist.

Bei Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens«1 zwischen der Regierung in Khartum und der damaligen Rebellengruppe und jetzigen südsudanesischen Regierungspartei SPLM/A2 im Jahr 2005 war keineswegs klar, dass der Süden die Unabhängigkeit wählen würde. Zwar gab es innerhalb der SPLM/A spätestens seit 1991 mit dem zeitweilig abtrünnigen Dr. Riek Machar, einem Nuer, einen starken Vertreter für die Unabhängigkeit. Der Führer der SPLM/A, Dr. John Garang, der ethnischen Gruppe der Dinka angehörend, hingegen war ein Verfechter der Vision eines »neuen Sudan«, der Befreiung aller Marginalisierten im Süden wie im Norden. Er wurde mit Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« Vizepräsident des Sudan. Das Abkommen sah vor, dass beide Konfliktparteien die Einheit des Landes attraktiv machen sollten („Making Unity Attractive“), und nur im Fall, dass dies nicht gelänge, sollten die Südsudanes_innen sechs Jahre später die Unabhängigkeitsoption haben.

Neue Grenze: Historisches Korrektiv, Teilbefreiung oder machtpolitisches Kalkül?

Dass am 9.1.2011 die Unabhängigkeit gewählt wurde, liegt hauptsächlich in drei Faktoren begründet: Zum einen starb Dr. John Garang, der charismatische Visionär des »New Sudan«, wenige Monate nach Inkrafttreten des »Umfassenden Friedensabkommens« bei einem ungeklärten Hubschrauberabsturz. Trotz Ausschreitungen in Khartum hielt das Friedensabkommen, doch mit Garang, so sagen viele, starb auch die Einheit des Sudan, und in der SPLM/A wurde von nun an auf Unabhängigkeit Kurs gehalten. Dennoch spielt das Mausoleum von Dr. John Garang im »nation building« des neuen Staates Südsudan eine wichtige identitätsstiftende Rolle.

Der zweite und wahrscheinlich wichtigere Faktor ist die mangelnde Aufarbeitung historischer Entwicklungen und tief sitzender Traumata, die teils sogar weit vor den Bürgerkriegen gegen die Zentralregierung in Khartum begründet liegen.

Tausende von Jahren war das subsaharische »Hinterland« eine Quelle für Sklaven, zunächst für die ägyptischen Pharaonen, dann für den arabischen Markt. Die nilotischen Ethnien der Dinka, Nuer und anderer wurden immer weiter Richtung Süden verdrängt. Auch während der Kolonialzeit wurde der Südsudan vom britisch-ägyptischen Kondominium vernachlässigt: Der heutige Südsudan wurde geographisch zwischen vier Kirchen zur Mission aufgeteilt, mehr geschah kaum. Die etwa zwei Millionen Todesopfer und mehrere Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge während der beiden Bürgerkriege seit 1955 gingen ebenfalls hauptsächlich zu Lasten der Südsudanes_innen. Auch heute noch sind dort die akuten Auswirkungen des Krieges drastisch spürbar, z.B. anhand der fehlenden Infrastruktur oder der Verbreitung von Landminen.

Die sechs Jahre des Friedensabkommens wurde jedoch kaum genutzt, um die tiefen Wunden zu heilen; erst im Kontext des Referendums schienen viele Nordsudanes_innen »aufzuwachen« und die Diskrepanz zwischen ihrer oftmals paternalistisch-rassistischen Haltung und der Realität der Südsudanes_innen zu erkennen. Die »Jihad«-Propaganda während des Krieges und die mangelnde Interaktion zwischen Süd- und Nordsudanes_innen haben eine frühere Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen und Identitätsfragen sicherlich mit verhindert, zumal nicht wenige Angehörige arabischer Ethnien im Nordsudan zwar ihrerseits von Seiten hellhäutigerer Araber Rassismen erfahren, selbst aber noch oft das Wort »Sklave« in Bezug auf »afrikanische«, sprich dunkelhäutigere, Südsudanes_innen in den Mund nehmen.

Angesichts der unmittelbaren Kriegserfahrung, der historischen Diskrepanz und der anhaltenden Rassismuserfahrung ist das fehlende Vertrauen der Südsudanes_innen in eine gemeinsame Lösung unter einer nordsudanesisch geprägten Regierung nicht überraschend.

Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sich der Nordsudan faktisch kaum am »Aufbau Süd« beteiligte und damit die Einheit wenig attraktiv machte. Ob es bereits ein Kalkül war, dass man nicht in einen Landesteil investieren wollte, der ohnehin unabhängig würde, bleibt dahingestellt. Aufbauarbeiten im Süden wurde jedenfalls hauptsächlich von internationalen Akteuren vorangebracht.

Die Südsudanes_innen konnten ihr Schicksal im Referendum selbst entscheiden, es gab aber sowohl von Seiten des Westens wie von Seiten der sudanesischen Regierung unter Omar Al Bashir ein eigenes Interesse an einer Unabhängigkeit des Südsudan. Bashir bekam vom Westen für den Fall einer friedlichen Ablösung des Südsudan in Aussicht gestellt, dass das Land seinen Status als »Schurkenstaat« verlieren würde. Außerdem dürfte angesichts der Einsicht, dass er den Süden wohl nicht halten könne, der arabisch-muslimischen Regierung ein vordergründig monolithischer Staat zur Machtkonsolidierung eher dienlich erschienen sein.

Interessen des Westens

Immer wieder3 wird die Rolle der US-Regierung und bestimmter Think-Tanks als Wegbereiter der Unabhängigkeit betont, die vordergründig den Konflikt im Sudan als einen hauptsächlich religiösen Konflikt zwischen Christen und Muslimen dargestellt hätten.

Der Westen hoffte mit einem unabhängigen Südsudan Zugriff auf das dort geförderte Öl zu erhalten, denn Bashir verkaufte das Öl vorwiegend an malaysische und chinesische Firmen. Südsudan, so die Hoffnung, würde dem Westen zugewandter sein und eine geostrategische Bastion sowohl im »Kampf gegen den Terror« als auch im Wettlauf um die afrikanischen Ressourcen zwischen China und den USA sein. So gab es bereits 2010 Gerüchte, dass die USA die bislang in Stuttgart beheimatete militärische Kommandozentrale AFRICOM ggf. nach Südsudan übersiedeln wollten. Auch Israel unterstützte die Neugründung des Südsudan und flog z.T. heimliche Angriffe auf Strukturen im Sudan, die der Unterstützung der Hamas verdächtigt wurden.4

Entsprechend der Eigeninteressen war und ist die Sudanpolitik westlicher Staaten wenig konsistent. Während Bashir aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Genozids in Darfur geächtet ist und nicht als Gesprächspartner in Frage kommt, wird mit ihm als vermeintlichem »Stabilitätsfaktor« im »Kampf gegen den Terror« gleichwohl eng kooperiert oder im Falle von Deutschland wirtschaftlich angebandelt, zuletzt beim »Germany Sudan and South Sudan Business Day« im Januar 2013 im Auswärtigen Amt in Berlin.

Die durch die UN-Missionen auf eine beträchtliche Zahl angewachsene »international crowd« ist, je mehr sie verdient, i.d.R. umso weiter von der sudanesischen bzw. südsudanesischen Realität entfernt und wird somit auch von der jeweiligen Bevölkerung eher als Problem denn als Lösungsfaktor angesehen. Preissteigerungen z.B. im Immobilienbereich, ein Brain-drain hin zu internationalen Akteuren wie den Vereinten Nationen usw. verstärken diese Dynamik noch.

Die Hoffnung auf die uneingeschränkte West-Nähe Südsudans bekam einen Dämpfer, als der frisch gebackene Staat ebenfalls einen Öl-deal mit China abschloss. Weiterhin wird jedoch über den möglichen Bau einer Ölpipeline zur kenianischen Küste spekuliert. Diese »Lamu-Pipeline« würde ggf. mit Beteiligung der deutsch-österreichischen Firma ILF Consulting Engineers Ltd. gebaut und ist, da sie durch ein Naturschutzgebiet führen würde, u.a. wegen ihrer ökologischen Auswirkungen umstritten. Auch weitere Bodenschätze wie Uran und Kupfer könnten u.U. im Südsudan abgebaut werden. Wie ein Großteil Afrikas ist Südsudan ebenfalls massiv von »Landgrabbing« – nicht nur durch westliche Akteure – betroffen, wobei die Instabilität und die ungeklärten Landrechte auf verschiedenen Ebenen den »Grabbern« zugute kommen.

Grenzziehung und Ressourcen: Stolpersteine für den Frieden zwischen den Nachbarn

Ist durch die neue Grenze nun Frieden zwischen Süd und Nord? Bei weitem nicht. Zwischenstaatliche Konflikte entzünden sich genau an den Themen, die im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht abschließend geklärt wurden:

  • der Verbleib des Bundesstaats Abyei,
  • die genaue Grenzziehung,
  • die Kosten für den Transport südsudanesischen Erdöls durch die nordsudanesische Pipeline.

Für den Bundesstaat Abyei, ein erdölreicher und fruchtbarer Landstrich zwischen Nord und Süd, war im »Umfassenden Friedensabkommen« ein separates Referendum vorgesehen, in dem dessen Bewohner_innen entscheiden sollten, ob sie zu Sudan oder zu Südsudan gehören wollen. Dieses Referendum fand nie statt, weil sich die beiden Seiten nicht darauf einigen konnten, wer als Bewohner_in Abyeis wahlberechtigt wäre. Sowohl südsudanesisch zugeordnete Dinka als auch nordsudanesisch zugeordnete Messeriya leben dort – über weite Strecken durchaus friedlich –, oftmals nomadisch oder halbnomadisch. Am Zankapfel Abyei entzündete sich folglich auch bereits im Mai 2011, zwei Monate vor der Unabhängigkeit Südsudans, ein weiterer bewaffneter Konflikt zwischen der sudanesischen Armee und der Sudanese People’s Liberation Army (SPLA).5 Die sudanesische Armee marschierte damals für ca. zwölf Monate in Abyei ein und vertrieb zeitweilig zehntausende Menschen.

Die Grenzziehung ist an verschiedenen Stellen darüber hinaus umstritten. An mehreren Hotspots kam es seit der Unabhängigkeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, so zum Beispiel in Süddarfur oder um das Ölfeld »Heglig«, das bei den Südsudanes_innen die Bezeichnung »Pan Thau« trägt. Im April 2012 besetzte die SPLA das Ölfeld für zehn Tage. Der Konflikt um Heglig/Pan Thau war einer der bisherigen Höhepunkte der Eskalation zwischen den beiden Staaten.

Zuvor war der Streit um den Transport des von Südsudan geförderten Erdöls durch die Pipelines, die durch den Nordsudan verlaufen, soweit eskaliert, dass Südsudan die Ölförderung fast vollkommen einstellte und damit den nördlichen Nachbarn Sudan wie sich selbst in eine schwere ökonomische Krise stürzte. Mangels Einigung über den Preis, den Südsudan für die Nutzung der Pipelines durch den Sudan zahlen sollte, hatte Sudan kurzerhand Schiffsladungen mit Öl im Wert von bis zu 815 Millionen Dollar im Hafen von Port Sudan konfisziert. Der Konflikt zeigt, wie interdependent die beiden Regierungen nach wie vor sind.

Während der Westen rasch auf eine Lösung pochte, spekulierte Südsudan wohl auf eine raschere Destabilisierung des Regimes in Khartum. Letzteres wiederum geriet durch den Akt Südsudans aufgrund des Verlusts der Öleinnahmen und des Wegfalls von Einkommen durch die Pipeline bei gleichbleibend immensen Militär- und Sicherheitsausgaben tatsächlich in eine Wirtschaftskrise und versuchte, diese für kriegstreiberische Propaganda zu nutzen. Dank der Bewusstseinsbildung und Mobilisierungskampagnen sozialer Bewegungen wie der Jugendbewegung Girifna (»Wir haben es satt«, girifna.com) kam es im Sommer 2012 zu massiven Protesten, den so genannten »Sudan Revolts«, in allen großen Städten Sudans. Diese hatten zwar die wirtschaftliche Krise mit als Auslöser und Thema, legten diese aber nicht dem Südsudan, sondern der eigenen Regierung zur Last –und verhinderten damit vielleicht einen neuen vollen Krieg, wenn sie auch ihr Ziel eines Regimewechsels bislang nicht erreichten.

Die zähen Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Staaten in Addis Abeba führten im September 2012 zur Unterzeichnung von Abkommen u.a. zum Thema Sicherheit, die am 12. März 2013 mit der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert wurden. Diese regelt u.a. den Abzug beider Armeen aus einer 14 Meilen breiten demilitarisierten Zone an der gemeinsamen Grenze sowie die Wiederaufnahme der Ölförderung und der Ölbeförderung durch die sudanesischen Pipelines.

Am 26. März 2013 bestätigte die U.N. Interim Security Force for Abyei (UNISFA), dass beide Seiten als ersten Schritt ihre Streitkräfte aus Abyei zurückgezogen hätten; der Rückzug entlang der gesamten Grenze soll bis 5.April folgen.

Grenze als Spiegelachse: Verschiebung der Probleme in zwei Entitäten?

Inwieweit diese Abkommen nachhaltig sind, ist fraglich, auch wenn es gute Gründe für beide Seiten gäbe, Stabilität anzustreben. Doch die neue Grenze rückt gleichermaßen innenpolitische Konfliktfelder in den Fokus, die nicht nur die Regierungen der beiden Länder belasten, sondern auch mit dem jeweiligen Nachbarland zumindest potentiell verwoben sind:

So beschuldigen sich die Regierungen beider Länder, im jeweils eigenen Land bewaffnete oppositionelle Gruppen zu unterstützen: Von Südsudan wird die Regierung in Khartum verdächtigt, u.a. abtrünnige SPLM/A-Generäle zu unterstützen, wohingegen der Norden dem Südsudan vorwirft, Rebellen der SPLM/A-Nord zu unterstützen.

Die SPLM/A-Nord ist ein wichtiger Faktor, um die Bedeutung der neuen Grenze zu ermessen: Große Landstriche im heutigen Sudan kämpften während des Krieges auf Seiten der SPLA, insbesondere im heutigen südlichen Sudan, in den Nuba-Bergen Südkordofans und in Blue Nile State. Im Rahmen des »Umfassenden Friedensabkommens« fand in diesen beiden Bundesstaaten daher eine »Volkskonsultation« statt, die als Umfrage aber ohne jegliche Umsetzungsverbindlichkeit verblieb. Als die sudanesische Regierung im Juni 2011 kurz vor der südsudanesischen Unabhängigkeit die Entwaffnung der SPLA im Nordsudan befahl, entschloss sich die Führung der inzwischen unter dem Namen SPLM/A-Nord bekannten Restmenge, wieder zu den Waffen zu greifen.

Bis heute sind Teile von Südkordofan und Blue Nile State unter Kontrolle der SPLM/A-Nord, und die sudanesische Luftwaffe geht u.a. mit Bombern massiv gegen die Rebellen sowie gegen die Zivilgesellschaft in der Region vor. Hunderttausende verstecken sich daher weitab von jeglicher humanitärer Hilfe in Berghöhlen oder sind in den benachbarten Südsudan geflohen. Da die Flüchtlingscamps sich z.T. in unmittelbarer Grenznähe befinden,6 wo die sudanesische Armee Rebellen vermutet, fliegt die Armee auch Angriffe gegen südsudanesisches Territorium. Der frühere Krieg gegen die eigenen Bürger_innen geht nun also im heutigen südlichen Sudan weiter; der Hauptauslöser für die Konflikte, die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, bleibt bestehen, und die Art des Konfliktaustrags zieht die Zivilgesellschaft weiterhin massiv in Mitleidenschaft.

Während sich der jahrzehntelange Konflikt zwischen der fundamentalistisch-diktatorischen Militärregierung einerseits und der marginalisierten Peripherie andererseits im aktuellen Konflikt in Südkordofan und Blue Nile State widerspiegelt und fortsetzt, lassen sich im Südsudan Spiegelungen des autoritären Systems im Norden wiederfinden: So hat der junge Staat mit Korruption, Menschenrechtsverletzungen und inter-ethnischen, oft machtpolitisch gefärbten Konflikten zu kämpfen. Sowohl zwischen einzelnen Ethnien, wie den Nuer und Murle, in deren Konflikt es im Januar 2012 zu einem Massaker mit ca. 3.000 Toten kam, als auch zwischen den nilotischen Dinka, Nuer und Shilluk, die im Norden des Südsudan beheimatet sind und viele Machtpositionen innehaben, einerseits und den ethnischen Gruppen im »Greater Equatoria«, dem südlichen Südsudan, andererseits. Menschenrechtsorganisationen beobachten mit Sorge u.a. die Entwicklungen bezüglich Presse- und Meinungsfreiheit und im Rechts- und Vollzugssystem. Wie so oft, ist die Transformation einer autoritär geführten Rebellengruppe hin zu einer demokratischen Regierungspartei ein steiniger Weg. Die Herausforderungen in einem verarmten Nachkriegsland wie Südsudan sind immens, und eine politische Opposition gegen eine als »Befreiungsbewegung« legitimierte Regierung ist nur schwer aufzubauen. Bereits vor dem Unabhängigkeitsreferendum des Südsudan, im Herbst 2010, drückte ein Bewohner des ländlichen Südsudan die Stimmungslage so aus: „Wir hoffen darauf, Menschenrechte, Sicherheit vor Krieg und Hunger und Demokratie verwirklichen zu können. Aber wir haben auch Angst, dass diese Hoffnung enttäuscht wird.“

Die Vergessenen: Pastoralisten, Binnenflüchtlinge und die Zivilgesellschaft des Sudan

Drei Gruppen sind besonders von der Grenzziehung betroffen: Die nomadischen und halbnomadischen Pastoralisten, die oft seit Jahrzehnten im Nordsudan lebenden Binnenflüchtlinge und die um die Chance auf einen »neuen Sudan« gebrachten Bürger_innen des (Nord-) Sudan.

Im pastoral geprägten Afrika sind Grenzen traditionell weniger durch einen Strich auf einer Landkarte oder in der Landschaft geprägt, sondern durch Nutzungsrechte verschiedener sozialer Gruppen im Jahreslauf. Neben den saisonalen Routen der Rinderhirten kann dies so weit gehen, dass die einzelnen ethnischen Gruppen nur unterschiedliche Wildpflanzen ernten und nutzen dürfen. Traditionell wandern »nordsudanesisch« identifizierte Rinderhirten, z.B. Gruppen der arabisch konnotierten Baggara, zu bestimmten Zeiten ihrer jährlichen Wanderrouten in heute »südsudanesische« Gebiete, z.B. der Dinka, und umgekehrt. Sofern die vereinbarten Zollzahlungen geleistet wurden, gab es hier bislang keine außergewöhnlichen Probleme. Zeugen berichten, dass vor der Unabhängigkeit sogar christlich-animistische Dinka-Älteste als Konfliktvermittler in darfurische Binnenflüchtlingscamps geholt wurden. Wird die Grenze zwischen Sudan und Südsudan undurchlässig, untergräbt das den Lebensunterhalt dieser Hirtengruppen. Dieses Problem wird noch durch die fortschreitende Desertifikation in der Sahel-Zone und den dadurch wachsenden Bevölkerungsdruck verstärkt.

Eine weitere Gruppe, deren Belange im »Umfassenden Friedensabkommen« nicht ausreichend geklärt wurde, ist die der Personen im jeweils »anderen« Teil des Landes. Die größte Gruppe von ihnen, die ehemaligen südsudanesischen Binnenflüchtlinge im Nordsudan, waren teilweise schon vor Jahrzehnten vor dem anhaltenden Bürgerkrieg in den Norden geflohen und hatten sich dort meist in den Außengebieten der Städte bzw. ausgeschriebenen Binnenflüchtlingscamps angesiedelt. Ihre Kinder sprechen nordsudanesisches Arabisch und kaum Englisch. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum verschärfte sich die Rhetorik rapide, und Anfeindungen im öffentlichen Leben nahmen zu. Das Recht auf einen sudanesischen Pass war für Angehörige südsudanesischer Ethnien nicht vorgesehen, und von hochrangigen Politikern wurde gedroht, dass sie keine öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäuser etc. mehr nützen dürften, sondern in »ihr eigenes Land« gehen sollen – selbst wenn sie im Nordsudan geboren wurden; maßgeblich gilt hier die ethnische Zugehörigkeit. Hunderttausende kehrten daraufhin in eine ungewisse Zukunft im Südsudan »zurück«, wo sie oft ebenfalls Diskriminierung erfahren. Sie werden teils als Verräter angesehen, da sie im Norden gelebt haben, und haben große Schwierigkeiten, im verarmten Südsudan Land oder Arbeit zu finden.

Als »Bauernopfer« der Unabhängigkeit des Südsudan kann auch die nordsudanesische Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Bereits bei den Wahlen im April 2010 wurde deutlich, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, über die Unregelmäßigkeiten durch das Bashir-Regime hinwegzusehen und Bashir im Amt zu bestätigen, um den Unabhängigkeitsprozess des Südsudan nicht zu gefährden. Besonders für die gerade erwachende Demokratiebewegung, die begonnen hatte, die Angststarre der Gesellschaft zu brechen, war dies ein herber Schlag. Durch die Unabhängigkeit des Südens fühlte man sich mit einem diktatorischen Regime, welches auch unmittelbar wieder an Schärfe zulegte, »allein gelassen«.

2013 wurde beispielsweise die Hand- und Fußamputation als Strafe für Diebe zum ersten Mal seit 2001 wieder durchgeführt. Im Juni und Juli 2012 verhafteten die berüchtigten NISS (National Intelligence and Security Services) bis zu 2.000 Menschen im Zusammenhang mit den erwähnten »Sudan Revolts« und hielt sie meist ohne Anklage unter extremen Bedingungen wochenlang gefangen, bis die Proteste zunächst abebbten. Die Repression zivilgesellschaftlicher Aktivist_innen, insbesondere von Nicht-Arabern mit Herkunft aus den Konfliktgebieten, ist weiterhin massiv. Die internationale Gemeinschaft nimmt diese zivilen, unbewaffneten Proteste – trotz der anzunehmenden Wachsamkeit durch den »Arabischen Frühling« und der Exponiertheit Bashirs durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof – bis heute kaum zur Kenntnis. Aktuelle Medienberichte, Bashir würde alle politischen Häftlinge freilassen, dürfen als vordergründiges Kalkül gewertet werden; bislang (4.4.2013) jedenfalls sind nur wenige Freilassungen zu verzeichnen.

Die internationale Ignoranz mag gepaart mit der Verzweiflung auch ausschlaggebend gewesen sein, dass Vertreter_innen von sozialen Bewegungen sich in Kampala, Uganda, mit bewaffneten Akteuren wie der SPLM/A-Nord und darfurischen, teils fundamentalistischen Rebellengruppen und Oppositionsparteien zusammen auf eine »New Dawn Charta« (Charta der neuen Morgendämmerung) geeinigt haben. Die Charta fordert den Sturz des Regimes von Bashirs Nationaler Kongresspartei7 – jeweils mit den Durchsetzungsmitteln der einzelnen Gruppen, also entweder durch den gewaltfreien oder eben den bewaffneten Kampf.

Eine tief greifende Versöhnung wird unter dem Regime der Bashir-Partei weder mit dem Südsudan noch mit der eigenen Bevölkerung zu machen sein. Es ist zu hoffen, dass ein Wandel auch ohne eine langfristige, gewaltsame Auseinandersetzung wie in Syrien möglich sein wird, hat doch die sudanesische Bevölkerung bereits zwei Mal, 1964 und 1985, Militärdiktaturen gewaltfrei gestürzt. Eine massive Militärintervention wie in Libyen ist aufgrund des geringen internationalen Interesses unwahrscheinlich, aber auch nicht wünschenswert. Die nächsten Anwärter auf Unabhängigkeit und eine neue Grenze warten ansonsten schon in Darfur.

Konfliktlöser oder Konfliktursache?

Der »Nationalstaat« ist ein Konstrukt, das in Afrika meist koloniales Relikt ist und insbesondere in multiethnischen Staaten mit teilweise nomadischer Lebensweise nur bedingt funktioniert, wenn nicht gar eine eigenständige Konfliktursache ist. Weder die lokalen und regionalen politischen Eliten noch die involvierten internationalen Akteure suchen aktuell jedoch aktiv nach dem Kontext angemesseneren systemischen Lösungen. Wenn Grenzen zum Schutz von Menschengruppen notwendig erscheinen, so wären m.E. konsequente rechtliche Grenzen in Form von Menschenrechten den physischen Grenzen vorzuziehen. Die neue Grenze zwischen Sudan und Südsudan ist durch die Entscheidung der Südsudanes_innen jedoch ein historischer Fakt, auf dessen Grundlage nun ein gerechter Friede innerhalb und zwischen den beiden Ländern gefunden werden muss. Nach einem möglichen politischen Wandel in der Republik Sudan könnte eine neue Situation geschaffen sein, die eine intensive und nachhaltige Versöhnungsarbeit und Aufarbeitung der Vergangenheit zwischen beiden Ländern ermöglicht.

Geschichte des Sudan und Südsudan

Seit ca. 8000 v.Chr. Nomadische und halb-nomadische Lebensformen, Siedlungen am Nil
800 v.Chr. –
400 n.Chr.
Nubisches Königreich Kusch, Nordsudan/Ägypten. Beginn des Sklavenhandels von Süd nach Nord, lebendig für Jahrtausende.
11.-18. Jhd. Nach einer kurzen Ära der Christianisierung langsame Verbreitung des und Koexistenz mit dem Islam im Nordsudan.
1821-1885 Türkisch-ägyptische Besatzung, hauptsächlich im Norden. Beginn der britischen Mission im Süden.
1899-1955 Anglo-ägyptische Kolonialherrschaft. Südsudan wird vernachlässigt und christlich missioniert.
1955 Beginn des ersten Bürgerkriegs »Anya Nya 1 + 2« im Südsudan gegen Khartum.
1.1.1956 Unabhängigkeit von der Kolonialmacht. Präsidentschaft von Al Azhari.
1958 Putsch von General Abboud.
1964 Gewaltfreie »Oktoberrevolution« führt zu demokratischen, aber instabilen Regierungen.
25.5. 1969 Putsch von Oberst Nimeiri. Zunächst sozialistische, später islamistische Ausrichtung und Allianz mit verschiedenen Seiten des »Kalten Krieges«.
1972 Addis-Ababa-Abkommen beendet den Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd für zehn Jahre.
1978 Öl wird entdeckt in Bentiu, heutiger Südsudan. Größere Exporte seit 1999.
1983 Bürgerkrieg zwischen SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) und Regierung in Khartum entzündet sich an Nimeiris Islamisierungspolitik. Im Krieg und damit verbundenen Hungersnöten sterben ca. zwei Millionen Menschen.
März-Mai 1985 Absetzung Nimeiris durch gewaltfreien Volksaufstand; freie Wahl von Saddig El Mahdi.
30.6.1989 Putsch von Oberst Al Bashir, der mit der NCP (National Congress Party) eine militärisch-religiöse Diktatur führt.
2003 Beginn des Darfur-Konfliktes um Machtbeteiligung/Autonomie, zwischen SLA (Sudanese Liberation Army) und JEM (Justice and Equality Movement) u.a. gegen die sudanesische Armee und Janjaweed-Milizen.
9.1.2005 Abschluss des »Umfassenden Friedensabkommens« zwischen der SPLM/A und der NCP-Regierung.
2005 Unruhen nach Tod von Vizepräsident John Garang (SPLM/A) bei Hubschrauberabsturz. Beginn der UN-Mission im Sudan (UNMIS) und 2007 von UNAMID (Mission der UN und der Afrikanischen Union in Darfur).
4.3.2009 Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir u.a. wegen Kriegsverbrechen in Darfur.
April 2010 Allgemeine Wahlen: Nach Rückzug der meisten Oppositionskandidaten und Berichten von Unregelmäßigkeiten gewinnt Al Bashir mit über 68% der Stimmen. Im Süden erlangt die SPLM 93%.
9.1.2011 Die Südsudanes_innen wählen in dem im »Umfassenden Friedensabkommen« festgelegten Referendum zu über 98% die Unabhängigkeit.
30.1.2011 Parallel zum Beginn der ägyptischen Revolution organisieren sudanesische Jugendbewegungen eine erste Demonstration für einen Regimewechsel, für Menschenrechte und gegen Preissteigerungen.
Mai/Juni 2011 Gewaltsamer Konflikt bricht aus im ölreichen Abyei wegen ungeklärter Zugehörigkeit zu Nord oder Süd. Im Juni nimmt die SPLM/A-Nord den gewaltsamen Kampf in den Nuba-Bergen auf gegen die Abrüstung ihrer Kämpfer und weitere Marginalisierung. Hunderttausende fliehen in den kommenden Monaten vor der Bombardierung durch die Armee.
9.7.2011 Unabhängigkeit Südsudans. Viele Südsudanes_innen verlassen Nordsudan, auch im Kontext von verstärkter Diskriminierung.
Sept. 2011 SPLM/A-Nord und Regierungstruppen beginnen Kämpfe in Blue Nile State. Allmählich wird die ganze Grenzregion zum Südsudan Konfliktgebiet. Im November gründet SPLM/A-Nord mit JEM, SLA und anderen bewaffneten Gruppen die »Sudanesische Revolutionäre Front«. Im Dezember wird JEM-Führer Khalil mit internationaler Hilfe ermordet.
ab Dez. 2011 Eskalation des Öl- und Grenzkonflikts zwischen Nord- und Südsudan: Norden konfisziert Öl als Bezahlung für die Pipeline-Nutzung zum Roten Meer. Süden stellt Ölförderung ein. Kriegsdrohungen, Mobilisierung, Besetzung von Land und Ölfeldern von beiden Seiten folgen. Entgegen der Warnung vor einem Krieg durch 700 Offiziere seiner Armee und internationalen Warnungen an beide Seiten spricht Al Bashir am 20.4.2012 bei einer Rede von Krieg gegen den Südsudan.
Juni-August 2012 »Sudan Revolts«: Nachdem Student_innen der Khartum-Universität gegen Preissteigerungen in der Mensa protestieren, folgen in allen größeren Städten des Landes Demonstrationen, die durch massive Polizeigewalt, Massenverhaftungen und zuletzt in Darfur auch scharfe Munition eingedämmt werden. Teile der Bewegung müssen unter massivem Sicherheitsdruck das Land verlassen, dennoch gibt es weiterhin immer wieder Proteste und Aktionen.
September 2012 Sudan und Südsudan unterzeichnen in Addis Abeba Abkommen zu Sicherheit, Grenzfragen, Ölexport u.a., die am 12.3.2013 in der »Addis Implementation Matrix« konkretisiert werden.
26.3.2013 Die Vereinten Nationen bestätigen den Abzug der Truppen beider Staaten aus Abyei. Die Zugehörigkeit von Abyei bleibt ungeklärt.

Anmerkungen

1) Comprehensive Peace Agreement, CPA.

2) Sudanese People’s Liberation Movement/Army.

3) Siehe z.B. Rebecca Hamilton: Special Report: The wonks who sold Washington on South Sudan. Reuters, 11. Juli 2012.

4) Siehe z.B. Ian Black: »Israeli attack« on Sudanese arms factory offers glimpse of secret war. The Guardian, 25. Oktober 2012.

5) SPLA (Sudanese People’s Liberation Army) ist der militärische Flügel des Sudanese People’s Liberation Movement und heute die offizielle Armee des Südsudan. SPLM (Sudanese People’s Liberation Movement), der politische Flügel bzw. die Partei der Befreiungsbewegung, ist heute Regierungspartei des Südsudans. SPLM/A bezeichnet die beiden als Einheit (i.d.R vor dem Friedensabkommen). Die SPLM/A-Nord umfasst die Reste der SPLM bzw. der SPLA im Nordsudan, die auch nach der Teilung des Landes teilweise militärisch gegen die Regierung in Khartum weiterkämpft.

6) Siehe Girifna: A Photo Essay–Yida Camp: to be or not to be. 1. März 2013; girifna.com/8039.

7) National Congress Party, NCP.

Julia Kramer, Conflict Resolution M.A. der Universität Bradford, arbeitete von 2008 bis 2010 mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) im Sudan. Sie ist Ko-Autorin der Bildungsbroschüre »Gesichter der Gewaltfreiheit im Sudan« (2012), erschienen bei »act for transformation gG«, und arbeitet aktuell als Projektberaterin der ZFD-Projekte von »KURVE Wustrow, Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion«.

Ein neues Afghanistan?

Ein neues Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 11. Januar 2013 sind französische Truppen in Mali gelandet, um „die vorrückenden islamistischen Gruppierungen“ zu stoppen (Süddeutsche Zeitung/SZ, 14.01.13, S.4). Nachträglich wurde Frankreichs Intervention in Mali vom Weltsicherheitsrat am 14. Januar gebilligt und am selben Tag auf einer Sitzung der 27 EU-Außenminister begrüßt.

Zustimmung aus Berlin

Auch der deutsche Verteidigungsminister „Thomas de Maiziere lobte das Vorgehen der französischen Armee als »konsequent und richtig«“ (FAZ, 14.01.13, S.1), und die Berliner Zeitung (BZ, 18.01.2013, S.2) berichtet, dass Außenminister Westerwelle „die Mission für »unbedingt notwendig«“ hält. Die BZ (15.01.13, S.6) kommt zu der Feststellung, „unter den maßgeblichen Parteien (allen, außer »Die Linke«) herrscht Konsens darüber, dass die Intervention […] gerechtfertigt ist und Deutschland seinen Verbündeten dabei unterstützen sollte“. Inzwischen hat die Bundesregierung drei Transall-Militärtransporter bereitgestellt und „Deutschland wird sich an der Ausbildermission der EU beteiligen“ (Frankfurter Rundschau/FR 18.01.13, S.8). Einige denken aber schon weiter. So will „Unions-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff […] einen Einsatz von Bundeswehrkampftruppen nicht grundsätzlich ausschließen“. Und auch der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, sagte auf die Frage „ob er auch den Einsatz von (deutschen) Kampftruppen für denkbar halte […] »Ja«“ (BZ 15.0113, S.6).

Vor allem politische Unterstützung

Die USA haben Frankreichs Militäreinsatz „wohlwollend begrüßt, ohne dass [sie …] sich zum Eingreifen verpflichteten“ (Tagesspiegel, 16.01.13, S.19). Das sehen auch die meisten anderen Regierungen so. Kämpfen sollen an der Seite Frankreichs die malische Armee und eine Eingreiftruppe der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Neue Zürcher Zeitung/NZZ (16.01.13, S.21) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass „kein westafrikanisches Land […] über kampferprobte Truppen mit Erfahrung im Wüstenkrieg“ verfügt. Für die FAZ (18.01.13, S.3) ist die etwa 5.000 Mann starke Armee Malis „nicht einmal in der Lage, eine zuvor befreite Ortschaft zu sichern“. Hilfe können die Franzosen „bestenfalls von den tschadischen Truppen erwarten. Doch die sind weithin für ihre exzessive Brutalität bekannt, so dass man mit ihnen eigentlich nicht zusammenarbeiten möchte.“

Ausbilder für Malis Armee

Die EU hat eine Ausbildermission für die malische Armee beschlossen, an der sich auch Deutschland beteiligen will. Ein Vorhaben, dass die NZZ (16.01.13, S.21) angesichts der Schwäche der malischen Partner als „nicht mehr als ein Placebo“ bezeichnet. Das man aber auch aus anderen Gründen in Frage stellen kann: „Die Amerikaner trainierten zwar vier Spezialeinheiten mit zusammen 600 Mann für den Antiterrorkampf. Aber das war keine gute Idee, denn drei der Eliteverbände liefen inzwischen geschlossen zu den rebellierenden Tuareg über – weil die meisten der Kommandeure Tuareg sind.“ (Spiegel 4/2013, S.86)

Politische Lösung nicht gewollt?

Unmittelbar vor dem französischen Einmarsch hatte »le Monde diplomatique« (11.01.13, S.21) begrüßt, dass der UN-Sondergesandte für die Sahelzone eine Militäraktion vor September 2013 ausgeschlossen hatte. Das „bedeutet zumindest einen Etappensieg für die von Algier bevorzugte politische Lösung des Konflikts, gegenüber der militärischen Option, für die sich vor allem Frankreich stark macht“. Eine politische Lösung, die auch der Terrorismusforscher Ahmed Rashid (taz 23.01.13) für möglich hielt: „Wenn die Franzosen rechtzeitig eine Gruppe vertrauenswürdiger islamischer Vermittler zusammengestellt hätten, wären Verhandlungen mit lokalen Gruppen, vor allem mit den Tuareg, möglich gewesen. Aber es gab kein diplomatisches Bemühen. Von Anfang an war auch im UN-Sicherheitsrat nur von militärischen Optionen die Rede.“

Wirtschaftliche Interessen

Der französischen Regierung wird, so le Monde diplomatique, „zumindest unterstellt, vor allem durch ihr Interesse an der Uranförderung im Sahel motiviert“ zu sein. Ein Thema, das auch andere aufgreifen. Niger, der „drittgrößte Uran-Förderer weltweit soll nicht unter Al-Qaida-Einfluss geraten“ (Freitag, 24.01.13, S.7). „Frankreich hat wirtschaftliche Interessen in der Region.“ (SZ, 12.01.13, S.10) Dass es um ökonomische Interessen geht, bestätigt dann auch die Erklärung der 27 EU-Außenminister. Sie „spricht von einer »Bedrohung der europäischen Sicherheit«.“ Es gehe nicht nur um „die Sorge vor Terrorattacken in Europa […] Bedroht seien zusätzlich die strategischen Interessen der EU wie Sicherheit der Energieversorgung und der Kampf gegen den Menschen- und Drogenschmuggel“ (BZ, 18.01.2013, S.2).

Dass ganz anders gelagerte ökonomische Interessen konfliktverschärfend wirken können, darauf verweist Ulrich Schmid in der NZZ (22.01.13, S.4): „Es gibt kaum einen Politologen, der nicht vermutete, dass alle mit der Kaida verbündeten Islamisten der Sahelzone zu einem beträchtlichen, wenn nicht entscheidenden Teil von Saudiarabien und den Golfemiraten finanziert werden. Deutschland aber hat Saudiarabien letztes Jahr Waffen im Wert von 30 Millionen Euro geliefert. Riad ist an Kampfpanzern der Typen Boxer und Leopard interessiert. Verhandlungen über die Lieferung von ABC-Spürpanzern des Typs Dingo sind im Gange. Ist das nicht etwas seltsam?“

Ende offen

„Der unterschätzte Krieg“ (SZ 19.01.13), „Die Tore der Hölle“ (Spiegel 4/2013), „Malis Absturz ins Chaos“ (Neues Deutschland 14.01.13), „Afghanische Lektionen für Mali“ (NZZ 16.01.13), „Wüste Verhältnisse“ (Tagesspiegel 18.01.13), „Riskante Offensive in Mali“ (Welt 14.01.13). Das sind einige der Überschriften in den deutschen Medien. Optimismus sieht anders aus.

Da passt das Fazit, das Andreas Zumach in der taz zieht (17.01.13, S.3): „Terroristen und islamistische Rebellen bekämpfen […] Mit ähnlichen und teilweise noch weiterreichenden Zielsetzungen (Stabilisierung, Frieden, Wiederaufbau, Demokratie, Rechtsstaat, Menschen- und Frauenrechte) wurden fast alle Militärinterventionen und Kriege seit Ende des Ost-Westkonfliktes […] begründet […] Doch in keinen einzigen Fall wurden die proklamierten Ziele erreicht.“

Jürgen Nieth