Wüstenheuschrecken


Wüstenheuschrecken

Problemmultiplikator und Gefahr für die menschliche Sicherheit

von Inka Steenbeck

Seit Ende des Jahres 2019 gefährdet eine der schlimmsten Wüstenheuschreckeninvasionen der vergangenen Jahrzehnte die Nahrungssicherheit und die ökonomische Stabilität in Ländern und Regionen von Afrika bis Asien. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) könnten die Schwärme der zerstörerischen Insekten mehr als 65 der ärmsten Länder der Welt befallen. Die Auswirkungen sind schon heute verheerend; die Klimaveränderung ist vermutlich auch für dieses Phänomen eine der Ursachen.

Während die weltweite Covid-19-Pandemie seit Anfang des Jahres 2020 die Welt in Atem hält, kämpfen viele Länder mit einer weiteren Bedrohung. Massive Schwärme Wüstenheuschrecken befallen seit Ende des Jahres 2019 Felder und Ernten und gefährden die Lebensgrundlage zahlloser Menschen. Das geschieht überwiegend in Regionen, die aufgrund langanhaltender Dürrephasen und darauffolgender Überschwemmungen ohnehin schon mit Nahrungsknappheit konfrontiert sind.

Wüstenheuschrecken, ihre Verbreitung und Bekämpfung

Wüstenheuschreckenaufkommen sind kein neues Phänomen. Heuschreckenplagen sind bereits seit biblischen Zeiten bekannt. Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) gilt jedoch der jetzige Ausbruch in Äthiopien und Somalia als der schlimmste seit 25 Jahren, in Kenia gar als der schlimmste seit 70 Jahren. Die Wüstenheuschrecken bedrohen nicht nur die Regionen Ostafrikas. Mittlerweile haben sich die Heuschrecken von Westafrika bis nach Nepal verbreitet, einem Land, in dem seit über zwei Jahrzehnten keine Wüstenheuschrecken gesichtet wurden. Dementsprechend zeigte sich die FAO sehr besorgt über die Nahrungssicherheit in Südwestasien. In der Region hat sich das Heuschreckenaufkommen jedoch mittlerweile wieder beruhigt, lediglich in Pakistan sind noch kleine Schwärme vorhanden. Die Heuschrecken haben sich in geringen Mengen auch Richtung Westafrika ausgebreitet. Die meistbetroffenen Regionen bleiben nach wie vor der Osten und Horn von Afrika (FAO 2020a).

Auch wenn der Name Wüstenheuschrecke darauf hindeuten mag, dass diese Heuschrecken nur in der Wüste leben, benötigen sie doch starke Regenfälle und Vegetation zur Fortpflanzung, insbesondere wenn es um die Schwarmbildung geht. Wüstenheuschrecken sind im Allgemeinen Einzelgänger; in geringer Zahl stellen sie keine Bedrohung dar. Die Verwandlung von der friedlichen Solitärphase zu hungrigen und verheerenden Schwärmen mit Millionen von Heuschrecken geschieht jedoch innerhalb weniger Stunden: Finden die Einzeltiere keine Nahrung mehr, bilden sie Schwärme und wandern gemeinsam zu neuen Weideflächen.

Die Wüstenheuschrecken, die von der FAO als die zerstörerischsten Insekten der Welt kategorisiert werden, fressen an einem Tag die Menge ihres eigenen Körpergewichtes, also ungefähr zwei Gramm. Da ein Schwarm auf bis zu 80 Millionen Heuschrecken anwachsen kann, bedeutet dies, dass sie an einem einzigen Tag eine Getreidemenge fressen, mit der mehr als 35.000 Menschen ernährt werden könnten. Die Heuschrecken vernichten binnen weniger Minuten ganze Felder und ziehen dann weiter in Richtung neuer und frischer Vegetation. Bei vorteilhaften Windverhältnissen können sie bis zu 160 Kilometer am Tag zurücklegen.

Länder der Wüstenregionen, die regelmäßig Wüstenheuschrecken ausgesetzt sind, verfügen über erprobte Frühwarn- und Überwachungssysteme. Diese ermöglichen es im Falle eines erhöhten Heuschreckenaufkommens, schnell zu reagieren. Viele der derzeit betroffenen Länder, vor allem in Ostafrika, hatten jedoch jahrzehntelang keine bedeutenden Wüstenheuschreckenaufkommen und waren daher nicht auf den plötzlichen Anstieg der Insektenzahlen vorbereitet. Überdies kann in bestimmten Gebieten die Reproduktion kaum oder gar nicht bekämpft werden, z.B. in den Brutgebieten in Somalia und Jemen. Aufgrund der unsicheren politischen Situation sowie des bestehenden Sicherheitsrisikos in diesen Ländern sind Bekämpfungsmaßnahmen der Heuschrecken dort nur bedingt möglich (FAO 2020).

Expert*innen sind sich einig, dass präventive Methoden die effektivste Option sind, um die Vermehrung der Wüstenheuschrecken zu verhindern. Präventiv bedeutet, die Heuschrecken im Notfall schnell zu bekämpfen und am Migrieren zu hindern, sodass es nicht zu einer Plage kommen kann (Magor et al. 2007). Es ist von großer Bedeutung, die dafür erforderlichen Frühwarnsysteme, Fähigkeiten und Infrastrukturen in den betroffenen Ländern zu erhalten bzw. auf- und auszubauen. Bei rechtzeitiger Warnung, d.h. wenn die Heuschrecken erst in kleiner Anzahl und in wenigen Gebieten vorkommen, müssen entsprechend weniger Insektizide eingesetzt werden. Das ist kostengünstigster und weniger umweltschädlich als die Bekämpfung riesiger Schwärme (Lecoq 2001). Die Insektizide, die aktuell zur Heuschreckenbekämpfung eingesetzt werden, stellen ein Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung dar, und bei falscher Anwendung schädigen sie auch die Umwelt (Magor 2007, S. 93).

Als Einzelgänger und in geringen Mengen stellen die Wüstenheuschrecken keine Bedrohung dar. Sobald sie »gesellig« werden und Schwärme bilden, ist das Sprühen von Insektiziden sowohl aus der Luft als auch auf dem Boden die einzige effiziente Möglichkeit der Eindämmung (K. Cressman im Interview 2020). Ländern wie Kenia und Äthiopien mangelt es jedoch an Ausrüstung und technischem Fachwissen für die Bekämpfung, da ihnen die Erfahrung mit den Insekten fehlt. Darüber hinaus ist laut FAO (2020b) die Ausrüstung zur Heuschreckenbekämpfung ein »Nischenmarkt« und das internationale Angebot an Kontrollausrüstung und -produkten begrenzt. Zudem wirkt sich die weltweite Covid-19-Pandemie auf die Transportmöglichkeit für Pestizide aus (UN 2020).

Gefahr der ökonomischen Instabilität

Expert*innen errechneten, dass von der aktuellen Heuschreckeninvasion mehr als 65 Länder betroffen sein könnten (FAO 2020) – mit erheblichen Folgen für ihre Nahrungssicherheit. Es wurde befürchtet, dass die Bauern, die zwischen April und Juni dieses Jahres ihre Ernte verloren, von Ende Juni bis zur nächsten Erntesaison im Dezember 2020 keine Nahrungsvorräte mehr haben würden (FAO 2020b). Der FAO ist es jedoch gemeinsam mit Partnerorganisationen bis August 2020 gelungen, über 13 Millionen Menschen vor der Hungersnot zu bewahren. Dank der Kontroll- und Bekämpfungsmaßnahmen konnten 1,52 Millionen Tonnen Getreide vor den Wüstenheuschrecken gerettet werden – eine Menge, die knapp zehn Millionen Menschen ein Jahr lang ernähren kann (FAO 2020c).

Eine wachsende Hungersnot ist nicht die einzige Gefahr. Die destruktiven Folgen eines Wüstenheuschreckenbefalls können sich noch Jahrzehnte später auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirken (Meynard et al. 2017). Nach dem letzten großen Wüstenheuschreckenausbruch von 2003 bis 2005 in Westafrika mussten viele betroffene Haushalte ihre Ausgaben aufgrund massiver Ernteverluste reduzieren. Studien zeigten, dass Kinder, die in dieser Zeit aufwuchsen, viel seltener zur Schule gingen, da das Geld für Gesundheit und Schulbildung fehlte (Brader et al. 2006). Mädchen waren besonders stark betroffen (Baskar 2020). Familien waren gezwungen, ihr Vieh oder andere Wertgegenstände zu verkaufen. Viele Haushalte verschuldeten sich, um die Lebensmittel für ihre Familien zu finanzieren. Eine tiefgreifende Auswirkung, die beispielsweise in Dorfgemeinschaften in Burkina Faso beobachtet wurde, ist, dass viele junge Menschen oder ganze Familien die Dörfer verließen und in die Großstädte zogen, um Arbeit zu finden. Dies verschärfte die Entvölkerung der ländlichen Gebiete und die Urbanisierung, obgleich es auch in den Städten an Verdienstmöglichkeiten fehlte (Brader et al. 2006).

Wüstenheuschrecken als Multiplikator von Konflikten

Durch die Heuschreckenschwärme werden darüber hinaus vorhandene Konfliktlagen in den betroffenen Gebieten verstärkt. Eine große Besorgnis gilt aktuell den Hirtenvölkern, besonders in den nördlichen Regionen von Kenia. Die Hirtenvölker sind Nomaden, die mit ihren Herden von Weidefläche zu Weidefläche ziehen. Nomadische und halbnomadische Viehhirten überschreiten traditionell mit ihrem Vieh die Grenzen der Länder Äthiopien, Kenia, Somalia und Uganda. Daraus ergeben sich Migrationsbewegungen mit entsprechenden Herausforderungen in diesen Regionen (IOM 2020) (siehe dazu auch den Artikel von Janpeter Schilling sowie die Karte auf S. 14). Bereits aufgrund der durch den Klimawandel verstärkten Dürrephasen und der Verschiebung der Jahreszeiten waren Nomaden in den letzten Jahren zum Teil gezwungen, ihre Gebiete früher als üblich zu verlassen. Ein Anstieg von Migrationsbewegungen und ein erhöhtes Risiko von Ressourcenkonflikten zwischen Viehzüchtern und der lokalen Bevölkerung waren die Folge (IOM 2020; FAO 2020). Die Vernichtung verbliebener Grasflächen durch die Heuschrecken erhöht nun einerseits den Zwang, weiterzuziehen, und andererseits das Konfliktpotential mit der lokal ansässigen Bevölkerung, die aufgrund der Heuschrecken ohnehin um ihre Weideflächen bangt. Solche Konflikte wurden z.B. in Samburu im Norden Kenias registriert. Kenia erholt sich gerade von einer zweijährigen Dürreperiode, der schätzungsweise 40-60 % des Viehbestands zum Opfer fielen (Welthungerhilfe 2018). Bereits Ende Februar 2020 wurde berichtet, dass mehr als 70.000 Hektar Vegetation und Weideland im Osten Samburus durch Wüstenheuschrecken zerstört seien (Ondieki 2020). Expert*innen befürchten, dass diese Viehzuchtgebiete am stärksten vom Vegetationsverlust durch Heuschrecken betroffen sein werden, dies dürfte die lokalen Konflikte um Land und Ressourcen weiter zum Eskalieren bringen (Weltfriedensdienst 2018.

Heuschrecken und Klimawandel – besteht ein Zusammenhang?

Eine Heschreckenplage ist kein Phänomen, dass sich über Nacht entwickelt. Auch wenn sich das vermehrte Wüstenheuschreckenaufkommen erst Ende 2019 bemerkbar machte, liegt der Ursprung bereits zwei Jahre zurück. 2018 sorgten ungewöhnliche Wetterverhältnisse in Form vermehrter Zyklone im Indischen Ozean für Regenfälle im so genannten »Empty Corner« (Leere Ecke). Dies führte zu günstigen Bedingungen für die Reproduktion der Heuschrecken. Das betroffene Wüstengebiet, zwischen Oman, Jemen und dem Horn von Afrika gelegen, besteht lediglich aus Sanddünen, ohne Infrastruktur oder Besiedlung. Möglichkeiten zur frühzeitigen Erkennung oder Bekämpfung der Heu­schrecken gibt es hier keine. Daher konnten die Insekten dort über mehrere Generationen frei brüten. Als die Nahrung für die enorm gestiegene Menge Insekten in dem Gebiet zu knapp wurde, zogen sie weiter, um frische Nahrung zu finden. Sie entwickelten sich nun bedrohlich in Richtung Plage, von der laut FAO formal zu reden ist, wenn die Schwärme den gesamten Radius von Westafrika bis Indien befallen haben, was bis Ende dieses Jahres der Fall sein könnte (Cressman im Interview).

Über das atypisch häufige Auftreten der Zyklone hinaus trugen die klimatischen Veränderungen des Dipols im Indischen Ozean zu extrem starken Niederschlag in der Regenzeit in Ostafrika bei. Mit einer Erwärmung des Klimas um 1,5°C ist zu erwarten, dass sich solche Extremwetterereignisse verdoppeln werden (Cai et al. 2013). Die Wetterbedingungen werden dann direkt, aber auch indirekt, eine verstärkte Dynamik der Heuschreckenpopulationen bewirken und die Nahrungssicherheit in den betroffenen Ländern anhaltend gefährden (Salih et al. 2020).

Die erste Welle der Wüstenheuschrecken Ende 2019 zerstörte 70.000 ha Ackerland in Somalia und Äthiopien und 2.400 kmWeideland in Kenia (Salih et al. 2020, S. 585). Bereits im Mai 2020 zwangen die Heuschreckenschwärme mehr als 15.000 Menschen in der äthiopischen Region Wachile zur Flucht (Halake 2020). Laut Angaben der FAO sind 42 Millionen Menschen in den betroffenen Regionen ohnehin von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Trotz der Bekämpfungsmaßnahmen bleiben vor allem die Region Ost und Horn von Afrika weiter gefährdet.

Expert*innen kritisieren, dass mangelnde Vorbereitung, chronische politische Instabilität und begrenzte Kapazitäten zur Bekämpfung (Salih et al. 2020) ebenso für das Ausmaß der aktuellen Heuschreckeninvasion verantwortlich sind wie der Mangel an internationaler Hilfe (Magor 2007). Genauso gilt aber, dass dem Klimawandel und seinen Folgen durch stärkeres internationales Bewusstsein und Engagement sowie durch Weiterentwicklung der politischen Rahmenbedingungen und des Völkerrechts begegnet werden muss.

Literatur

Interview mit Mr. Keith Cressman, Senior Locust Forecasting Officer der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen. Rom, 3.7.2020 (im Rahmen der Vorbereitung der Masterarbeit).

Baskar, P. (2020): Locusts Are A Plague Of Biblical Scope In 2020. Why? And … What Are They Exactly? National Public Radio, Goats and Soda blog, June 14, 2020; npr.org.

Brader, L.; Djibo, H.; Faye, F.G.; Ghaout, S; Lazar, M.; Luzietoso, P.N.; Babah M.A. (2006): Towards a more effective response to desert locusts and their impacts on food security, livelihoods and poverty. Bericht im Rahmen des Projekts »Multilateral Evaluation of the 2003-05 Desert Locust Campaign« der Food and Agriculture Organization. Rom.

Cai, W.; Zheng, X.; Weller, E.; Collins, M.; Lengaigne, M.; Yu, W.; Yamagata, T. (2013): Projected response of the Indian Ocean Dipole to greenhouse warming. Nature Geoscience, Vol. 6, S. 999-1007.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020a): General situation during September 2020, Forecast until mid-November 2020. Desert Locust Bulletin No. 504, 5.10.2020.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020b): Desert Locust Upsurge – Progress report on the response in the Greater Horn of Africa and Yemen, January-April 2020. Rom, Mai 2020.

Food and Agriculture Organization/FAO (2020c): Desert Locust Upsurge – Progress report on the response in the Greater Horn of Africa and Yemen, May-August 2020.

Halake, S. (2020): Ethiopia Steps Up Aerial Spraying To Stop New Desert Locust Invasion. VOA News, 11.5.2020.

International Organization for Migration/IOM (2020): Regional Migratant Response Plan for the Horn of Africa and Yemen 2018-2020. Nairobi.

Lecoq, M. (2001): Recent progress in Desert and Migratory Locust management in Africa – Are preventative actions possible? Journal of Orthoptera Research, Vol. 10, S. 277-291.

Magor, J.I.; Ceccato, P.; Dobson, H.M.; Pender, J.; Ritchie, L. (2007): Preparedness to Prevent Desert Locust plagues in the Central Region – an historical review. Prepared for EMPRES Central Region Programme 2005, Revised for publication 2007. Rome: Food and Agriculture Organization of the United Nation (FAO), Desert Locust Technical Series.

Magor, J.I. (2007): Plague prevention preparedness. In: Magor, J.I. et al., op.cit., S. 81-96.

Meynard, C.N.; Gay, P.; Lecoq, M.; Foucart, A.; Piou, C.; Chapuis, M. (2017): Climate-driven geographic distribution of the desert locust during recession periods – Subspecies’ niche differentiation and relative risks under scenarios of climate change. Global Change Biology, Vol. 23, Nr. 11.

Ondieki, G. (2020): Locusts threaten to trigger conflicts in Samburu. Daily Nation,19.2.2020; nation.co.ke.

Salih, A.A.M.; Baraibar, M.; Mwangi, K.K. et al. (2020): Climate change and locust outbreak in East Africa. Nature Climate Change, Vol. 10, S. 584-585

United Nations/UN (2020): Fight against desert locust swarms goes on in East Africa ­despite coronavirus crisis measures. UN News, 9.4.2020.

Weltfriedensdienst (2018): Kenia – Gemeinsam für eine Gerechte Landverteilung. 24.6. 2018. wfd.de.

Welthungerhilfe (2018): Dürre am Horn von Afrika – Alle Jahre wieder. 24.3.2018. Projekt­update.

Inka Steenbeck studierte den Masterstudiengang Peace and Security Studies der Universität Hamburg und schrieb ihre Masterarbeit zu »Klimawandel, Migration und die Heuschreckenplage in Ostafrika«.

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit

Kunst und Kultur in der sudanesischen Revolution

von Christina Hartmann

Die im Dezember 2018 gestarteten Proteste der sudanesischen Bevölkerung gegen das seit 30 Jahren herrschende Regime von Präsident Baschir führten im April zu dessen Sturz. Am 17. August 2019 einigten sich Militär und zivile Revolutionsführer*innen schließlich auf die Einsetzung einer Übergangsregierung, bis freie Wahlen abgehalten werden. Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, wie künstlerische Widerstandsformen und Symbole der Friedfertigkeit in der Revolution genutzt wurden, den Zusammenhalt der Demonstrant*innen stärkten und letztlich eine Übergangsregierung mit
paritätischer Beteiligung der Opposition erkämpften.

Im Dezember 2018 brachen in Atbara im nördlichen Sudan Proteste aus, die sich auf mehrere Städte ausbreiteten. Zunächst eine spontane Reaktion auf gestiegene Brotpreise und Mangel an Weizen, Benzin und Bargeld, richteten sich die Proteste bald gegen das Regime des seit fast 30 Jahren herrschenden Präsidenten Umar al-Baschir. Versuche der Sicherheitskräfte, die sich mehrenden Demonstrationen mit Tränengas und scharfer Munition zu stoppen, schlugen fehl. Immer mehr Sudanes*innen schlossen sich den Demonstrationen an.

Am 6. April marschierten in der Hauptstadt Khartum mehrere Zehntausend Protestierende zum Hauptquartier der Armee und riefen die Soldaten dazu auf, sich auf die Seite der Demonstrant*innen zu stellen. Die Demonstrierenden blieben vor dem Hauptquartier, bis das Militär schließlich am 11. April Präsident Baschir entmachtete und selbst die Herrschaft übernahm. Für die nächsten zwei Monate bildete sich auf den Straßen vor dem Militärhauptquartier ein riesiges Protestcamp, mit dem die Militärführung dazu bewegt werden sollte, die Macht an eine zivile Regierung abzugeben. Nach dem Scheitern der
Verhandlungen ließ das Militär den Platz am 3. Juni gewaltsam räumen. Mehr als hundert Menschen kamen nach Angaben eines sudanesischen Ärztekomitees bei der Räumung ums Leben; weitere wurden vergewaltigt und verletzt. Für die nächsten Wochen wurde das Internet landesweit abgestellt.

Trotz des gewaltsamen Vorgehens des Regimes rief die »Sudanese Professionals Association«, ein Gewerkschaftsdachverband, der maßgeblich an der Organisation der Proteste beteiligt war, für den 30. Juni landesweit friedliche Demonstrationen aus, an denen mehrere Hunderttausend Menschen teilnahmen. Auf internationalen Druck und unter Mediation der Afrikanischen Union sowie Äthiopiens einigten sich Militär und Zivilist*innen am 17. August auf eine Übergangsregierung. Obgleich der weitere Verlauf bis zu den für 2022 vorgesehenen freien Wahlen abzuwarten bleibt, sind der Sturz von Machthaber
Baschir und die zivile Repräsentation im Übergangsrat Erfolge der Demonstrant*innen.

Ziviler Widerstand als Erfolgsmodell

Die Friedensforscherinnen Chenoweth und Stephan (2011) und ihr Team untersuchten über 200 Kampagnen für einen Regimeumbruch. Das Ergebnis: Friedliche, gewaltfreie Kampagnen waren im Untersuchungszeitraum von 1900 bis 2006 doppelt so erfolgreich wie gewaltsame Umsturzversuche. In 53 % der Fälle führten sie zu politischem Wandel. Dabei waren die gewaltfreien Revolutionen nicht nur erfolgreicher, sie waren langfristig auch stabiler als gewaltsame. Eine Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass gewaltfreie Revolutionen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine größere Anzahl Unterstützer*innen aus
breiten Teilen der Gesellschaft gewinnen. Physische und psychische Barrieren sind bei gewaltfreien Aktionen deutlich niedriger als bei gewaltsamen und erlauben so mehr Menschen eine Beteiligung.

Je größer die Anzahl von Unterstützer*innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das öffentliche Leben durch zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird und die Machthaber zum Einlenken gezwungen werden. Je größer der Bevölkerungsanteil, der an den Protesten teilnimmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich unter diesen Familienangehörige oder Freund*innen der Sicherheitskräfte und Regimevertreter*innen befinden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstrierende senkt. Dabei äußert sich Protest
nicht nur durch die Teilnahme an Demonstrationen und Streiks, sondern auch durch Stellungnahmen in sozialen Medien.

Demonstrationen, Proteste, Sit-ins und Streiks

Chenoweth und Stephan (2011) weisen in ihrer Studie darauf hin, dass für den Erfolg eines friedlichen zivilen Widerstands nicht nur eine möglichst große Mobilisierung maßgeblich ist, sondern auch eine angepasste und diversifizierte Strategie. So werden durch Demonstrationen, Sit-ins und Streiks verschiedene Teile des Staates getroffen; außerdem haben sie unterschiedliche Teilnahmeschwellen und damit ein unterschiedliches Mobilisierungspotential; sie sprechen also verschiedene Bevölkerungsschichten an.

Im Sudan wurden mehrere Formen des friedlichen zivilen Ungehorsams angewandt. Von Dezember 2018 bis Anfang April 2019 kam es hauptsächlich zu organisierten Demonstrationen in den großen Städten des Landes sowie in der Hauptstadt Khartum. Obwohl bis April mehrere Dutzend Menschen durch Sicherheitskräfte getötet wurden, blieben die Proteste friedlich. Demonstrierende, die Gebäude verwüsten oder Steine auf Sicherheitskräfte werfen wollten, wurden von den anderen Teilnehmenden zurückgehalten. Die Slogans Tasqut bas“ (Fall einfach!) und „huriya, salama, adala“ (Freiheit,
Frieden, Gerechtigkeit) wurden während der Protestmärsche als Motivationsgesänge gerufen und später von mehreren Künstler*innen musikalisch verarbeitet.1 Auch bei dem Sit-in vor dem Armeehauptquartier, das sich über eine Länge von ca. 3 Kilometer erstreckte, achteten Demonstrierende darauf, den Sicherheitskräften und dem herrschenden Militärrat keinen Anlass zu liefern, die Straßen zu räumen. Protestierende organisierten Eingangskontrollen und nahmen Eintretenden spitze Gegenstände sowie Waffen ab. So sollte Gewalt verhindert werden.

Selbst nach der gewaltsamen Auflösung des Sit-in am 3. Juni blieben die Organisator*innen der Protestbewegung bei ihrer gewaltfreien Strategie. Als Gruppen einer paramilitärischen Einheit kurze Zeit später in der Krisenregion Darfur mehrere Menschen töteten, kam in den sozialen Medien der Hashtag Wir sind alle Darfur“ auf. Durch die Gewalt in der Hauptstadt entstand eine Solidarisierung und Identifikation mit Menschen in anderen Landesteilen, die schon länger staatlicher Gewalt zum Opfer fielen. Zum ersten großen landesweiten Protestmarsch nach Auflösung des Protestcamps
am 30. Juni setzte sich der Hashtag #KeepEyesonSudan durch. Dieser rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, in Zeiten, in denen das Internet im Sudan abgeschaltet war, auf Gewalt gegen Demonstrierende zu achten.

Nachdem der Militärrat Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Emirate erhielt, prangerte die Protestbewegung die Regimegewalt an und betonte die eigene Friedfertigkeit, um sich ihrerseits Unterstützung zu sichern. Insgesamt wurde versucht, bei allen Protestformen dem Revolutionsslogan Silmiya“ (Frieden/friedlich) gerecht zu werden und das Konzept der Gewaltfreiheit mit der Identität der Bewegung zu verknüpfen.

Kunst und künstlerischer Widerstand

Kunst und Kultur begleiten gesellschaftlichen Wandel; durch die Ansprache von Emotionen kann das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Darüber hinaus können durch Kunst und Kultur die Geschehnisse in Richtung gesellschaftlichen Wandels eingeordnet werden (Lee & Lingo 2011). Kunst und Kultur sind eine Mobilisierungsstrategie, die mehr Menschen anspricht als textbasierte Aufrufe zu Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Durch Kunst sowie die Konstruktion einer gemeinsamen Identität und eines Gefühls der Zugehörigkeit kann ein positives emotionales Verhältnis zur Revolution und ihren
Zielen sowie ihren Unterstützer*innen aufgebaut werden. Diese gemeinsame Identität kann selbst auf die Sicherheitskräfte übergehen, mit der Folge, dass diese Hemmungen haben, Gewalt gegen Demonstrierende anzuwenden.

Kunst und Künstler*innen waren treibende Kräfte hinter der Revolution im Sudan. Spielte sich sich die Kunst in der Anfangsphase hauptsächlich in den sozialen Medien ab, so drang sie im Laufe des Sit-in ins Straßenbild vor. Während der Protestmärsche verbreiteten sich vor allem Symbole des friedlichen Widerstands. Neben politischen Cartoons bekannter Künstler, wie Khalid Elbeih oder Boushra, die Humor als verbindendes Element einsetzten, wurden auch Bilder neuer digitaler Künstler*innen online geteilt.

In den sozialen Medien verbreiteten sich insbesondere solche Bilder, die den sozialen Zusammenhalt der Protestgemeinschaft widerspiegeln und beispielsweise die gegenseitige Unterstützung der Demonstrant*innen zeigen. Sogar die Flagge des Sudan war Gegenstand der digitalen Kunst. Mehrere Künstler*innen animierten das Foto eines Demonstranten, der auf einem Pick-up liegend von Sicherheitskräften abtransportiert wurde und dabei weiter die sudanesische Flagge hochhielt. Der Slogan Tasqut bas“ wurde vielfach künstlerisch in den Alltag eingebaut, und entsprechende Bilder wurden in
den sozialen Netzwerken geteilt. So wurde der Slogan aus Steinen gelegt, auf Hochzeiten mit Gewürzen auf Speisen des Buffets geschrieben oder aus leeren Tränengasdosen und Patronenhülsen gestaltet, womit gleichzeitig eine friedliche Umdeutung der Gewaltinstrumente stattfand. Tränengasdosen wurden zu Blumenvasen oder Stifthaltern umfunktioniert, während aus gefeuerter Munition Ringe gebastelt wurden. Mit der Verbreitung solcher Fotos in sozialen Medien wurde die Notwendigkeit eines friedlichen Vorgehens bei den folgenden Demonstrationen beworben.

Auf dem Sit-in wurde Kunst ins öffentliche Straßenbild gebracht, wobei ebenfalls auf friedliche Symbole geachtet wurde, etwa in einer Wandmalerei, in der Projektile von Bäumen abgefangen, also im Bild unschädlich gemacht wurden. Ebenfalls wurden Zukunftsvorstellungen dargestellt. Wandgemälde bildeten viele Frauen ab sowie Angehörige ethnischer Minderheiten, insbesondere afrikanischer, die bisher unter der ethnisch arabischen Regimeführung unterdrückt wurden. Dies beförderte ein Gemeinschaftsgefühl und verstärkte das Bild eines vereinten Sudan, der sich friedlich gegen das Regime wehrt.

Neuinterpretation des Märtyrerbegriffs

Wie im »Arabischen Frühling« fand auch im Sudan eine Umdeutung des Märtyrerbegriffs statt, weg vom Religiösen hin zum Sich-opfern für den Umbruch und die Gesellschaft. Das alte Regime verlor die Deutungshoheit darüber, wer als Märtyrer angesehen wird, an die Protestbewegung. Der Märtyrer gilt nicht mehr als Held, der sich für eine Ideologie opfert, sondern als unnötiges Opfer staatlicher Gewalt (Buckner und Khatib 2014). Märtyrerportraits und ihre Geschichten werden zur weiteren Mobilisierung verwendet. Dabei ist besonders wichtig, dass die Märtyrer gewöhnliche Menschen repräsentieren.
Durch die (mehr oder weniger) zufällige Gewalt des Regimes und die Tatsache, dass auch andere Demonstrierende in der Rolle eines Märtyrers hätten enden können, wird erneut das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Die künstlerische Darstellung und das Porträtieren von Opfern der Gewalt der Sicherheitskräfte fand im Sudan im öffentlichen Raum ebenso wie in den sozialen Medien statt. Die einen tauschten in den sozialen Netzwerken ihr Profilbild gegen das Portrait eines »Märtyrers« aus; die anderen zeichneten die Gesichter von Opfern auf Wände des Sit-in-Geländes. Ein Statement wurde über die Landesgrenzen bekannt: Freund*innen und Familienangehörige von Mohamed Mattar, der während der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps am 3. Juni von einer paramilitärischen Einheit erschossen wurde, färbten ihr
Profilbild in dessen Lieblingsfarbe blau. Mehrere Millionen Nutzer*innen sozialer Medien taten es ihnen weltweit gleich (#BlueForSudan). So wurde mit einem einfachen Symbol – der Farbe blau – Solidarität und Einigkeit ausgedrückt. Die internationale Unterstützung, selbst wenn diese nicht immer politisch war, motivierte viele Mitglieder der Protestbewegung, erneut auf die Straßen zu gehen.

Eine andere Variante der Verehrung von im Protest Getöteten durch die Bewegung ist die Einbeziehung der Familien von »Märtyrern«, vor allem ihrer Mütter. Regelmäßig wurde bei Demonstrationen oder dem Sit-in gefilmt, wie die Mütter der »Märtyrer« die Menge dazu aufriefen, nicht auf die Gewalt der Sicherheitskräfte einzugehen, sondern friedlich zu bleiben. Mit dem Slogan „Die Mutter des Märtyrers ist auch meine Mutter“ solidarisierten sich die Demonstrierenden wiederum mit den Verstorbenen und stifteten ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die genannten Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegung im Sudan selbst verstand und versteht: als friedliche und gewaltfreie Bewegung, als Gegenbild zum Regime, das gestürzt werden sollte. Durch friedlichen Widerstand erreichte die sudanesische Protestbewegung mit der Einigung auf eine Übergangsregierung einen vorläufigen Teilerfolg. Ob der Sudan die These von Chenoweth und Stephan stützt, nach der ein friedlicher Widerstand längerfristig die Ziele der Protestierenden erreicht, bleibt abzuwarten.

Anmerkung

1) Beispielsweise NasJota feat. Mista D. »Tasgot Bas«, Voice of Sudan »System must fall«, Ahmed Amin »madania, huriya, salama«.

Literatur

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why Civil Resistance Works. New York: Columbia University Press.

Buckner, E.; Khatib, L. (2014): The Martyrs’ Revolution – The Role of Martyrs in the Arab Spring. British Journal of Middle Eastern Studies, Vol. 41, Nr. 4, S. 368-384.

Lee, C.W.; Long Lingo, E. (2011): The “Got Art?” paradox – Questioning the value of art in col­lective action. Poetics, Vol. 39, S. 316-335.

Christina Hartmann ist Promotionsstudentin im Fach Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?


Rohstoffe als Mittel zum Friedensaufbau?

Environmental Peacebuilding in Sierra Leone

von Nina Engwicht

Lange wurde der Zusammenhang zwischen Rohstoffvorkommen und gesellschaftlichen Konflikten vor allem darauf untersucht, ob und wie natürliche Ressourcen bewaffnete Gewalt verursachen. Derzeit rückt stärker die Fragestellung in den Vordergrund, ob natürliche Ressourcen auch als Mittel zum Friedensaufbau eingesetzt werden können. Besonders in Konfliktkontexten, in denen natürliche Ressourcen bereits als Konfliktgegenstand den Gewaltverlauf prägten, kann der Einbezug von Umwelt- und Rohstoffaspekten in den Friedens­aufbau­prozess ein zentraler Faktor für die ­langfristige Stabilität des Friedenszustands sein. Am Beispiel des Friedens- und Staatsaufbaus im sierra-leonischen Diamantensektor erläutert die Autorin, welche Herausforderungen beim »Environmental Peacebuilding« zu bewältigen sind.

Nachdem über Jahrzehnte die Auswirkungen von Ressourcenreichtum oder -knappheit die wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen Primärrohstoffen und bewaffneten Konflikten prägten, gewinnt aktuell eine neue Perspektive an Aufwind: die Analyse des Zusammenhangs zwischen natürlichen Ressourcen und Friedensprozessen, die oft unter dem Begriff »Environmental Peacebuilding« subsumiert wird (z.B. Bruch et al. 2016). Environmental Peacebuilding geht von der grundlegenden Annahme aus, dass Umweltaspekte von Krieg und Frieden – die bislang in Friedensaufbauprozessen eher stiefmütterlich behandelt wurden – keineswegs ein »weiches« Thema sind, sondern vielmehr ein Kernproblem darstellen, dessen politische Handhabung für die Zukunft konfliktbetroffener Gesellschaften entscheidend sein kann (Conca/Wallace 2012). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn natürliche Ressourcen bereits den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich beeinflussten, beispielsweise wenn die Nutzung knapper Umweltressourcen Konfliktgegenstand war oder Einnahmen aus dem Ressourcenhandel bewaffnete Gewalt finanzierten und motivierten.

Das Konzept des Environmental Peacebuilding bezieht sich auf mehrere Dimensionen der Wechselwirkung zwischen natürlichen Ressourcen und Dynamiken von Krieg und Frieden. Ebenso vielfältig wie die Umweltaspekte des Krieges sind auch die diskutierten Lösungsansätze: Wo Umweltschäden als direkte Konsequenz von Kriegshandlungen (z.B. Einsatz von chemischen Waffen oder Anti-Personen-Minen) oder infolge indirekter Kriegsauswirkungen (z.B. nicht-nachhaltige Ressourcennutzung, Abholzung oder die Verschmutzung von Gewässern) die menschliche Sicherheit gefährden, kann die Wiederherstellung überlebenswichtiger Umweltressourcen ein wichtiges Instrument des Friedensaufbaus darstellen (UNEP 2009). Wo die Zukunft umkämpfter Territorien, auf denen möglicherweise auch nach dem formalen Friedensschluss noch Streitkräfte angesiedelt sind, ungeklärt ist, können »Peace Parks« ein Mittel sein, Konflikte über Gebietsherrschaft zu entschärfen und Umweltschutz mit der Entmilitarisierung sozialer Beziehungen zu verbinden (Walters 2015). In Situationen, in denen die Eigentümerschaft, die Verteilung oder die Nutzung von natürlichen Ressourcenvorkommen umstritten sind, kann Mediation Konfliktparteien dazu verhelfen, ein nachhaltiges Ressourcenmanagement als gemeinsame Zielsetzung zu definieren, strukturelle Ungleichheiten und Ausgrenzungsprozesse in Bezug auf Ressourcenverteilung zu reduzieren und sich auf eine Strategie der friedlichen Ressourcennutzung zu einigen (Wennmann 2011; UNEP 2015).

Wenn Ressourcenkonflikte als Sach­themen – also losgelöst von ­identitären Ansprüchen – verhandelt werden können, bieten sie Konfliktparteien die Möglichkeit, anhand eines gemeinsamen Interesses kooperativ miteinander in Beziehung zu treten, und dienen in polarisierten und militarisierten Kontexten somit als Instrument für den Vertrauensaufbau. Mediation kann jedoch in der Regel nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Ressourcen-Governance sein, deren Ziel es ist, die Rohstoffvorkommen eines Landes nachhaltig, egalitär und zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen. Institutionelle Reformen in Ressourcensektoren zielen dementsprechend häufig auf die Schaffung legaler und transparenter Marktstrukturen, auf die Bekämpfung von Korruption und auf die Erhöhung von Steuereinnahmen aus dem Rohstoffexport.

Die gestiegene Aufmerksamkeit für die Rolle natürlicher Ressourcen in Friedensprozessen spiegelt sich zunehmend auch in der Praxis wieder. In seinem Fortschrittsbericht zum Friedensaufbau forderte der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Jahr 2010 die UN-Mitgliedsstaaten dazu auf, „die Frage der Zuteilung und Eigentümerschaft von natürlichen Ressourcen sowie des Zugangs zu diesen zum integralen Bestandteil von Friedensaufbaustrategien zu machen“ (A/64/866-S2010/386). Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environmental Program/UNEP) definiert Umweltimplikationen von Naturkatastrophen und bewaffneten Konflikten als eine seiner sechs Prioritäten. Verschiedene nationale und transnationale Gesetze sowie nicht-staatliche Kontrollregime sollen dabei helfen, den Handel mit »Konfliktrohstoffen« zu unterbinden. Schließlich finden Ressourcenfragen immer häufiger Eingang in Friedensschaffungs- und Friedensaufbaumissionen.

Herausforderungen einer friedensfördernden Ressourcen-Governance

Welche Herausforderung die Nutzung von Rohstoffen für den Friedensaufbau darstellt, lässt sich am Beispiel Sierra Leones illustrieren. Sierra Leone eignet sich zur Analyse des Erfolgs von Friedensaufbaumaßnahmen in Rohstoffsektoren aus zwei Gründen. Zum einen gilt der sierra-leonische Bürgerkrieg als paradigmatischer Fall eines Krieges, in dem natürliche Ressourcen den gewaltsamen Konfliktaustrag ursächlich (mit-) bedingten. Die Gewalt konnte erst infolge drastischer externer Interventionen in die Diamantenproduktion und den Diamantenhandel beendet werden. Zum anderen handelt es sich um einen der wenigen Fälle, in denen ein konfliktbetroffener Rohstoffsektor nach Kriegsende umfassend reformiert wurde. Die Reformen hatten zum Ziel, die Produktion und den Handel mit Sierra Leones Rohdiamanten zu legalisieren, Korruption und Steuerhinterziehung einzudämmen und den Ressourcenreichtum des Landes für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Die UN-Friedensaufbaumission in Sierra Leone war eine der ersten Missionen, die die Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Rohstoffproduktion in ihrem Mandat formulierte.

Auf der internationalen Ebene der Rohstoff-Governance führte die zunehmende Skandalisierung des Handels mit »Blutdiamanten« zur Entwicklung des Kimberley-Prozesses, eines globalen Regulationsmechanismus, der den Handel mit Rohdiamanten kontrollieren soll.1 Sierra Leone ist seit 2003 Mitglied des Kimberley-Prozesses. Seit 2014 erfüllt es zudem die Vorgaben der »Extractive Industries Transparency Initiative«, deren Ziel es ist, Unternehmenszahlungen an Regierungen in ressourcenproduzierenden Ländern transparent zu machen.

Auf der nationalen Ebene wurde der Diamantensektor (ebenso wie der Bergbausektor insgesamt) seit dem Ende des Bürgerkrieges umfänglich und unter intensiver Unterstützung durch internationale Organisationen reformiert. So wurde mit der National Minerals Agency eine neue Institution geschaffen, die mit der Durchsetzung der Bergbaupolitik beauftragt ist. Auf diese Weise sollen die Politikentwicklung, die nach wie vor in den Händen des Bergbauministeriums liegt, und ihre Umsetzung institutionell getrennt werden. Neben der Professionalisierung der staatlichen Bergbaupolitik soll dadurch der intransparente und informelle Vergabeprozesse von Bergbaulizenzen, die den Bergbausektor jahrzehntelang prägten, unterbunden werden. Rechtliche Reformen im Diamantensektor umfassen unter anderem die Bergbaugesetzgebung, das Arbeitsrecht und das Umweltrecht.

Auf der lokalen Ebene der Diamantenabbaugebiete soll mittels eines »Diamond Area Community Development Fund« zum einen garantiert werden, dass ein Teil der Profite aus dem Ressourcenabbau direkt an rohstoffproduzierende Gemeinden zurückfließt. Zum anderen soll ein monetäres Anreizsystem geschaffen werden, das »Chiefs« motiviert, die Ausstellung möglichst vieler legaler Schürflizenzen zu unterstützen, anstatt informelle Schürfaktivitäten auf den ihnen unterstellten Gebieten zuzulassen. Der Nutzen der sierra-leonischen Bevölkerung am industriellen Bergbau soll mittels einer »Local Content Policy« (Politik zugunsten einer größtmöglicher Wertschöpfung im eigenen Land) sowie Vereinbarungen über die soziale Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility) mit allen größeren Bergbaufirmen gesichert werden.

Es wurde also auf verschiedenen Ebenen der Rohstoff-Governance viel dafür getan, den sierra-leonischen Diamantensektor so zu reformieren, dass die Gewinne aus dem Edelsteinabbau der Bevölkerung zugute kommen. Dementsprechend wird der sierra-leonische Diamantensektor häufig als Erfolgsfall für Governance-Reformen in konfliktgeprägten Ressourcenmärkten gehandelt. Die Zahlen scheinen dieser Einschätzung Recht zu geben. So stiegen die offiziellen Diamantenexporte bereits direkt nach Einführung des ersten UN-mandatierten Zertifikationsregimes für Rohdiamanten, dem Vorläufer des Kimberley-Prozesses, von 1,2 Mio. US$ im Jahr 1999 auf über 26 Mio. US$ im Jahr 2001 (Gberie 2002). 2012 exportierte Sierra Leone über 540.000 Karat Diamanten im Wert von über 163 Mio. US$ und zählt damit zu den zehn größten Diamantenproduzenten weltweit. Aus dem starken Anstieg der legalen Exporte lässt sich schließen, dass der weitaus größte Teil sierra-leonischer Diamantenexporte heute auf legalem Wege erfolgt. Neben der weitgehenden Legalisierung des Diamantenexports wird auch die Entkopplung von Diamantenhandel und kriegerischer Gewalt als außergewöhnlicher Erfolg gewertet. So sind die maßgeblichen Akteure der sierra-leonischen »Kriegsökonomie« heute ausnahmslos von der Bildfläche des Marktgeschehens verschwunden.

Bei genauerem Hinsehen, zeigt sich jedoch, dass die Reformbemühungen auch fünfzehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges auf der lebensweltlichen Ebene der sierra-leonischen Gesellschaft kaum Veränderungen herbeigeführt haben. Nach wie vor sind die Steuereinkommen aus dem Diamantensektor sehr gering: 2012 lagen die Einnahmen aus Exportsteuern bei unter 8 Mio. US$, bei einem Exportvolumen von 163 Mio. US$ (GoSL 2012). Noch immer zählen die diamantenproduzierenden Gebiete zu den ärmsten Regionen des Landes, in denen extreme Armut, Arbeitslosigkeit und Nahrungsmittelunsicherheit den Alltag der Bevölkerung prägen. Der Klein- und Kleinstbergbau ist nach wie vor von denselben informellen und großenteils ausbeuterischen Marktstrukturen geprägt, die den Diamantenmarkt schon seit fast einem Jahrhundert kennzeichnen (Engwicht 2016).

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass vor allem der schwer zu kontrollierende Kleinbergbau besonders konfliktanfällig sei, zeugen die Entwicklungen auf dem sierra-leonischen Diamantenmarkt von den Konfliktpotentialen, die von – durch Geberorganisationen häufig favorisierten – Großprojekten ausgehen. So waren die Minen des größten Diamanten abbauenden Unternehmens Sierra Leones, Koidu Holdings/Octea, in den letzten Jahren wiederholt Schauplatz gewaltsam eskalierender Proteste, die mehrere Tote forderten. Die Demonstrationen gegen die Schürffirma sind im breiteren Kontext der Unzufriedenheit der Bewohner*innen der Schürfgebiete zu verstehen, die dem Unternehmen unter anderem autoritäres und gewaltsames Vorgehen – etwa in Bezug auf Umsiedelungen –, Rassismus gegenüber einheimischen Arbeitskräften und mangelnde Transparenz vorwerfen. Sie werden des Weiteren genährt durch das Gefühl, nicht vom Ressourcenreichtum des Landes zu profitieren. Dies verweist auf die Konfliktrisiken, die enttäuschte Erwartungen in ressourcenreichen Nachkriegsgesellschaften verursachen können, insbesondere wenn im Zuge des Friedensaufbaus Hoffnungen auf ressourcenbasierten Wohlstand geweckt wurden.

Fazit

Die Vernachlässigung von zentralen Fragen der Ressourcen-Governance, etwa der nachhaltigen und friedlichen Nutzung knapper Ressourcen, des gerechten Zugangs und des gesamtgesellschaftlichen Nutzens vom Ressourcenabbau, kann den Frieden in Postkonfliktgesellschaften gefährden. Wie sehr im Umkehrschluss gute Regierungsführung in Ressourcensektoren als Mittel zur Friedenssicherung genutzt werden kann, ist nach wie vor offen.

Sierra Leone kann einerseits als Erfolgsfall des Environmental Peacebuilding gewertet werden. Durch Interventionen in den Diamantensektor konnten kriegsökonomische Marktstrukturen abgeschafft, bewaffnete Gewalt beendet und die Rohstoffausfuhr formalisiert werden. Das sierra-leonische Beispiel zeigt jedoch zugleich, vor welch enormen Herausforderungen Postkonfliktgesellschaften stehen, die natürliche Ressourcen als Mittel zum Friedensaufbau nutzen wollen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ein vergleichsweise hohes Maß an (finanziellen, materiellen und personellen) Mitteln in die Schaffung nachhaltiger und friedensförderlicher Strukturen in Rohstoffsektoren investiert werden.

Anmerkung

1) Obwohl der Kimberley-Prozess seither u.a. für sein enges Konzept von »Konfliktdiamanten« und seine eingeschränkte Durchsetzungskraft in Kritik geraten ist, gilt er nach wie vor als eines der erfolgreichsten Instrumente im Kampf gegen den Handel mit Konfliktrohstoffen und war dementsprechend Vorbild für weitere nationale und internationale Regulationsregime, wie den amerikanischen Dodd-Frank Act und die kürzlich beschlossene EU-Verordnung zur Kontrolle des Handels mit Gold, Zinn, Coltan und Wolfram.

Literatur

Bruch, C.; Muffett, C.; Nichols, S. (eds.) (2016): Governance, Natural Resources, and Post-Conflict Peacebuilding. London: Routledge.

Conca, K.;Wallace, J. (2012): Environment and Peacebuilding in War-Torn Societies – Lessons from the UN Environment Programme’s Experience with Post-Conflict Assessment. In: Jensen, D.; Lonergan, S. (eds.), Assessing and Restoring Natural Resources in Post-Conflict Peacebuild­ing. London: Routledge, S. 63-84.

Engwicht, N. (2016): Illegale Märkte in Postkonfliktgesellschaften – Der sierra-leonische Diamantenmarkt. Frankfurt a. M.: Campus.

Gberie, L. (2002): War and Peace in Sierra Leone – Diamonds, Corruption and the Lebanese Connection. Ottawa: Diamonds and Human Security Project, Occasional Paper, Nr. 6.

Government of Sierra Leone (2012): Gold and Diamonds Exports Report 2012. Unveröffentlichter Bericht. Freetown: Government of Sierra Leone.

United Nations Environment Programme/UNEP (2009): From Conflict to Peacebuilding – The Role of Natural Resources and the Environment.

United Nations Environment Programme/UNEP (2015): Natural Resources and Conflict – A Guide for Mediation Practitioners.

United Nations General Assembly and Security Council (2010): Progress report of the Secretary-General on peacebuilding in the immediate aftermath of conflict. Dokumentnr. A/64/866-S2010/386.

Walters, J.T. (2015): A peace park in the Balkans – Cross-border cooperation and livelihood creation through coordinated environmental conservation. In: Young, H.; Goldman, L. (eds): Livelihoods, Natural Resources, and Post-ConflictPeacebuilding. London: Routledge, S. 155-166.

Wennmann, A. (2011): The Political Economy of Peacemaking. London: Routledge.

Dr. Nina Engwicht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie leitet dort, gemeinsam mit Dr. Sascha Werthes, den Arbeitsschwerpunkt »Umweltveränderungen und Ressourcen als Konfliktursache und Bedrohung der menschlichen Sicherheit«.

Hält der Frieden in Sierra Leone?

Hält der Frieden in Sierra Leone?

von Annette Schramm

Sierra Leone gilt weithin als Erfolgsfall nationaler und internationaler Peacebuilding-Bemühungen. Seit Ende des Krieges 2002 gab es keinen erneuten Gewaltausbruch, Wahlen wurden friedlich abgehalten und die Wirtschaft ist gewachsen. Dennoch weist das Bild einige Risse auf: So lassen sich in dem Land wirtschaftliche, soziale und politische Dynamiken beobachten, die Anlass zur Sorge bereiten. Es zeigt sich, dass die momentane Situation eher als negativer Frieden zu beschreiben ist. Eine Transformation struktureller Konfliktursachen hat hingegen nicht stattgefunden.

Mit der Schließung des UN Integrated Peacebuilding Office in Sierra Leone ging 2014 die letzte UN-Sicherheitsrat-Mission in Sierra Leone zu Ende. Die Beendigung der Mission wurde als großer Erfolg für die Vereinten Nationen und ihre Peacekeeping- und Peacebuilding-Strategien gewertet. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zählte Sierra Leone zu einem der erfolgreichsten Fälle von Post-Konflikt-Wiederaufbaubestrebungen weltweit (Ban Ki-moon 2014). In der Tat hat sich das Land nach dem Bürgerkrieg (1991-2002), der aufgrund der massiven Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und der Rolle von Diamanten zur Konfliktfinanzierung traurige Berühmtheit erlangte, stabilisiert. Drei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden seit 2002 weitestgehend friedlich durchgeführt, die Rebellengruppen wurden erfolgreich entwaffnet, und die Wirtschaft ist beachtlich gewachsen. Die Kriminalitätsrate in dem Land ist verhältnismäßig niedrig, und viele Sierra Leoner*innen sind stolz auf den erfolgreichen Friedensprozess. Auch aufgrund der erlebten Stigmatisierung durch die internationale Gemeinschaft während des Ebola-Ausbruchs 2014 werden viele nicht müde zu betonen, dass es in dem Land »keine Probleme« gibt. Auch von offizieller Regierungsseite werden immer wieder die Errungenschaften des Friedens hervorgehoben.

Dieses Bild des »Erfolgsfalls Sierra Leone« weist allerdings einige Risse auf. So lassen sich in dem Land einige Tendenzen beobachten, die Anlass zur Sorge bereiten.1 Zum einen ist die momentan schlechte wirtschaftliche Lage Anlass für Austeritätsmaßnahmen, die die ohnehin sehr arme Bevölkerung hart treffen. Zum anderen gibt es einen Anstieg von Gang-Gewalt. Die Situation der Jugend hat sich seit dem Krieg kaum verbessert. Darüber hinaus gibt es Befürchtungen, im Kontext der 2018 anstehenden Wahlen könnten die Spannungen und die Gewalt zunehmen. Auch wenn es momentan keine konkreten Anhaltspunkte für einen Wiederausbruch der Gewalt gibt, zeigt die aktuelle Lage gewisse Ähnlichkeit mit der Situation vor dem Bürgerkrieg. Daraus ergibt sich die Frage, wie nachhaltig der Frieden in Sierra Leone ist.

Wirtschaftskrise und Sparpolitik

Nach Ende des Bürgerkrieges 2002 gab es in Sierra Leone ein stetiges Wirtschaftswachstum, das 2013 in einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um ca. 20 % kulminierte (BTI 2016). Der anschließende Einbruch des Wachstums bis hin zu einem Schrumpfen der Wirtschaft um 21,5 % im Jahr 2015 zeigte deutlich die Anfälligkeit des Wirtschaftssystems (AfDB, OECD, UNDP 2016). Der massive Einbruch kann zum einen mit dem Ebola-Ausbruch und dem dadurch bedingten Abzug internationaler Akteure und einer damit einhergehenden regelrechten Lähmung des Landes erklärt werden. Zum anderen spielt auch der stark sinkende Weltmarktpreis für Eisen­erz eine große Rolle. Die Erschließung und der Abbau dieses Rohstoffs waren ein Hauptmotor des extremen Wachstums. Die jetzige wirtschaftliche Krise zeigt einmal mehr, wie problematisch es ist, wenn Staaten auf einzelne Rohstoffe setzen und sich in die Abhängigkeit der Weltmarktpreise begeben.

Nun vermögen die offiziellen Daten zur Wirtschaftslage die tatsächliche wirtschaftliche Situation eines Großteils der Bevölkerung nur unzureichend widerspiegeln. Viele Sierra Leoner*innen hatten auch von dem vorangegangenen Wirtschaftswachstum nicht profitiert; mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt immer noch in extremer Armut (weniger als 1,25 US$ am Tag), ein Großteil lebt von Subsistenzlandwirtschaft. Über das Leben dieser Menschen sagen die makroökonomischen Zahlen wenig aus. Allerdings bekommt die Bevölkerung die schlechte gesamtwirtschaftliche Lage sehr wohl zu spüren. So verkündete die Regierung unter Präsident Koroma im November 2016 Austeritätsmaßnahmen, um die Einnahmenausfälle an anderer Stelle einzusparen. Eine unmittelbar spürbare Konsequenz war die Aufhebung von Subventionen auf Erdöl-Produkte, die zu einem Anstieg der Benzinpreise um 60 % führte (Awoko 2016). Der Preis für eine Fahrt im Sammeltaxi, eines der Hauptverkehrsmittel in der Hauptstadt, stieg dadurch um 50 %. Ebenso werden die Lebensmittelpreise in dem Land, das ohnehin unter einer extrem schwachen Infrastruktur leidet, weiter steigen. Auch die instabile Währung mit einer hohen Inflationsrate trägt dazu bei, dass der ökonomische Druck auf die Bevölkerung weiter wächst.

Marginalisierung der Jugend

Die wirtschaftliche Situation ist für die gesamte Bevölkerung schwierig, trifft aber vor allem junge Menschen im Alter von 15 bis 35 hart. Die Arbeitslosigkeit liegt in dieser Altersgruppe schätzungsweise bei über 60 %, und auch nach dem Krieg hat die Zahl der jungen Menschen, die unter einem Dollar am Tag verdienen, weiter zugenommen (National Youth Commission 2012, S. 13). Wirtschaftlich, aber auch sozial marginalisiert, ist die Frustration bei der Jugend hoch. Es fehlt an wirtschaftlichen Möglichkeiten; außerdem haben junge Menschen das Gefühl, in der Gesellschaft nicht ernst genommen zu werden. Die Situation der Jugend zu verbessern war und ist eines der Hauptziele nationaler und internationaler Peacebuilding-Bestrebungen, galt doch die Exklusion der Jugend als eine Mitursache für den Bürgerkrieg. Arbeitslose Jugendliche sind leicht zu mobilisieren, und politische Eliten nutzen die Ausweglosigkeit der Jugend bis heute entsprechend aus. Politiker*innen locken die Jugendlichen mit vagen Versprechungen und einmaligen Geldzahlungen und setzen sie gegen ihre politischen Gegner ein. Insbesondere junge Männer erhoffen sich durch die Teilnahme an gewaltsamen Auseinandersetzungen von diesen Politiker*innen eine bessere soziale Stellung und Jobs. Vor allem vor den Wahlen 2007 und 2012 kam es so immer wieder zu inner- und zwischenparteilichen gewaltsamen Auseinandersetzungen (Enria 2015). Die sozio-ökonomischen Strukturen und Dynamiken, die dieses Zusammenspiel von Politikern und ausgegrenzten Jugendlichen ermöglichen, sind weiterhin existent.

Ein Anstieg von Gewalttaten in Freetown, aber auch anderen Städten in Sierra Leone, gibt Anlass zur Sorge in dem an sich sehr sicheren Land. Bislang wurde Sierra Leone als fast schon überraschend gewaltfrei bewertet, ein Zustand, der nun in Gefahr ist. In vielen Fällen wird die Gewalt auf Jugend-Gangs, zum Teil verknüpft mit rivalisierenden Rappern, zurückgeführt – ein neues Phänomen in Freetown. Momentan gibt es keine klare Strategie gegen den Gewaltanstieg. Als Reaktion wird in der Politik darüber diskutiert, die Todesstrafe, die seit 1998 ausgesetzt ist, wieder anzuwenden. Auch wenn die zukünftige Entwicklung von Gang-Gewalt noch nicht abgeschätzt werden kann, zeigt sie doch das Gewaltpotential, das mobilisiert werden kann.

Politische Polarisierung und Wahlen 2018

Die politische Landschaft in Sierra Leone zeichnet sich durch eine lang bestehende Polarisierung aus. Die beiden zentralen Parteien, die regierende APC (All People’s Congress) und die oppositionelle SLPP (Sierra Leone People’s Party) sind entlang ethnoregionaler Linien organisiert. Während die APC ihre Wählerschaft aus dem Norden des Landes bezieht, findet sich die Anhängerschaft der SLPP im Süden. In vielen Wahldistrikten ist so bereits vor der Wahl klar, welche Partei gewinnen wird. In der Folge sind Distrikte wie zum Beispiel Freetown oder Kono, in denen der Sieger nicht bereits vor der Wahl feststeht, besonders umstritten und anfällig für die Eskalation von Gewalt. Generell ist der Tonfall vieler Politiker*innen konfrontantiv. Politische Auseinandersetzungen und Medienberichte sind durchzogen von persönlichen Anfeindungen und Vorwürfen, die häufig inhaltliche Debatten überschatten.

Auch wenn die Parteien im Normalfall nicht direkt zu Gewalt aufrufen, kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Gewalt zwischen den Anhängern der beiden großen Parteien, die sich, wie bereits beschrieben, die Ausweglosigkeit junger Männer zu Nutze machen. Zwar verliefen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2012 friedlich, doch einigten sich die politischen Parteien im Vorfeld der Wahlen erst mit Mediationsbemühungen der Vereinten Nationen auf ein Abkommen, in dem sich die Partien auf Gewaltverzicht verpflichteten (BTI 2016). Mitte 2016 kam es im Vorfeld von Nachwahlen wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der APC und SLPP. Solche Vorfälle schüren die Befürchtungen, die 2018 anstehenden Wahlen könnten von massiver Gewalt begleitet werden (Sheriff 2016). Was dies insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden wirtschaftlichen Krise und steigender Gewalttaten bedeutet, wird sich zeigen müssen. Die Wahlen sind bereits jetzt das großes Thema in der Gesellschaft.

Wie nachhaltig ist der negative Frieden in Sierra Leone?

Die beschriebenen wirtschaftlichen, so­zialen und politischen Tendenzen sind besorgniserregend, vor allem, weil sie stark an die Situation vor dem Bürgerkrieg erinnern. Nach Meinung vieler Expert*innen, aber auch dem Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone, war das politische Missmanagement der Eliten mit einem damit einhergehenden Ausschluss der Jugend eine der Grundursachen für den Krieg. Ein Großteil der Bevölkerung hatte kaum eine Möglichkeit, aus der extremen Armut zu entkommen; zugleich waren die Möglichkeiten politischer Partizipation stark eingeschränkt. Vor allem die Jugend äußerte ihre Frustration in den 1970er und 1980er Jahren in Protesten, die von der Ein-Parteien Regierung der APC unterdrückt wurden. Eine schwere Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren trug weiter dazu bei, dass sich junge Männer leicht mobilisieren ließen (Truth and Reconciliation Commission 2004; Keen 2005).

Insbesondere die politischen Strukturen haben sich seit dem Bürgerkrieg aber kaum verändert. Die politischen Eliten sind weitestgehend gleich geblieben; noch immer scheint Gewalt zumindest indirekt als Mittel eine Rolle zu spielen. Nur für wenige Jugendliche hat sich die soziale und ökonomische Situation verbessert. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Wirtschaftskrise, wie anfällig das Land für ökonomische Schocks ist.

Momentan ist die Situation in Sierra Leone friedlich. Es gibt keine konkreten Anzeichen dafür, dass eine Gruppe oder außenstehende Akteure das gesellschaftliche Klima ausnutzen wollen und einen erneuten Bürgerkrieg anstreben. Allerdings lässt sich die Lage wohl eher als negativer Frieden, im Sinne einer Abwesenheit physischer Gewalt, beschreiben. Eine Transformation struktureller Konfliktursachen hat bisher nur in einem unzureichenden Maße stattgefunden. Das Bild des »Erfolgsfalls Sierra Leone«, das so gerne von nationalen sowie internationalen Akteuren heraufbeschworen wird, birgt dabei die Gefahr, eben diese Strukturen zu übersehen.

So bedarf der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Sierra Leone noch eines langen und ehrlichen Engagements nationaler Eliten, zivilgesellschaftlicher Organisationen, aber auch internationaler Partner. Die Wahlen 2018 stellen dafür die nächste Bewährungsprobe dar.

Anmerkung

1) Diese Befürchtungen wurden unter anderem von Sierra Leonischen Wissenschaftler*innen während der 26. Konferenz der International Peace Research Association (IPRA) in Freetown im November 2016 geäußert. Die Autorin war als Teilnehmerin vor Ort und hat darüber hinaus Interviews geführt. Der vorliegende Artikel spiegelt Beobachtungen und Gespräche während ihres Aufenthalts wider.

Literatur

AfDB, OECD, UNDP (2016): African Economic Outlook 2016.

Awoko (2016): Sierra Leone News: Government stops fuel subsidy … Price increases by 60 percent. 14. November 2016; awoko.org.

Ban Ki Moon (2014): Transcript of the Secretary-General’s remarks at Joint Press Conference with President of Sierra Leone, 5 March 2014; un.org.

Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 – Sierra Leone Country Report. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Enria, L. (2015): Love and Betrayal – The Political Economy of Youth Violence in Post-War Sierra Leone. Journal of Modern African Studies, 53 (4), S. 637-660.

Keen, D. (2005): Conflict and Collusion in Sierra Leone. New York: Palgrave.

National Youth Commission (2012): Sierra Leone Status of the Youth Report 2012; Published by the National Youth Commission and the Ministry of Youth Employm ent and Sports.

Sheriff, A.-B. (2016): Bye-Election Violence – The Paradox of »Peaceful« Sierra Leone. Concord Times, July 8, 2016.

Truth and Reconciliation Commission (2004): Witness to Truth. Report of the Sierra Leone Truth and Reconciliation Commission.

Annette Schramm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Bedrohte Ordnungen« (SFB 923) an der Universität Tübingen und promoviert zu Land- und Agrarpolitik in Post-Konfliktstaaten, insbesondere Sierra Leone.

Mali – ein zweites Afghanistan?

Mali – ein zweites Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 27. Januar 2017 hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen die erneute Ausweitung des Mali-Einsatzes der Bundeswehr beschlossen. „Bereits im vergangenen Jahr war die Personalobergrenze von 150 auf 650 Soldaten erhöht worden.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9) Zukünftig sollen 1.000 Bundeswehrangehörige an der »Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma)« teilnehmen, was „die Mali-Mission demnächst zum aktuell größten Auslandseinsatz der Bundeswehr machen wird“ (FAZ, 27.1.17, S. 8). Dabei wird auch der Aktionsradius der deutschen Soldaten größer. Vier Transporthubschrauber des Typs NH90 sollen vor allem zur Rettung Verwundeter eingesetzt werden, vier Kampfhubschrauber des Typs Tiger die Einsätze absichern. Zusätzlich sind künftig mehr Drohnen vor Ort, um Transport- und Einsatzwege zu sichern. Außer dem Blauhelmkontingent „ist die Bundeswehr noch mit 129 Männern und Frauen an der EU-Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte in Koulikoro im Süden des Landes beteiligt“ (Spiegel, 21.1.17, S. 32).

Der gefährlichste Einsatz

Über 100 UN-Soldaten wurden in den letzten drei Jahren in Mali getötet. Dass der Einsatz in Mali der gefährlichste UN-Einsatz ist, darin scheinen die wichtigsten deutschen Tageszeitungen übereinzustimmen: Für SZ und taz ist er der „gefährlichste der Welt“ (27.1.17, jeweils S. 6), das ND spricht vom bisher „gefährlichste[n] Militäreinsatz der UNO“ (12.1.17, S. 6), und die FAZ stellt fest: „Längst ist nicht mehr Afghanistan, sondern Mali der gefährlichste Einsatzort für deutsche Soldaten.“ (20.12.16, S. 4) »Die Welt« hatte bereits vor einem Jahr als Headline „Bundeswehr zieht in ein neues Afghanistan“. Sie zitierte Soldaten, denen zufolge der Einsatz „einen aussagekräftigen Namen bekommen hat: »Afghanistan 2.0«. (Welt, 29.1.16, S. 7)

Trotz einer großen internationalen Militärpräsenz mit 13.000 Soldaten und Polizisten aus 53 Ländern im Rahmen des UN-Einsatzes, „dazu mehrere Tausend französische Soldaten, die mit ihrer Militäroperation Barkhane Islamisten in Mali und dem gesamten Sahel bekämpfen […], ist die Lage heute ungleich komplizierter, teils sogar schlimmer als 2012, schreibt Isabell Pfaff (SZ, 27.1.17, S. 6). Auch für den deutschen Kontingentführer Oberstleutnant Michael Hoppstädter hat sich „die Sicherheitslage wieder verschlechtert, die Zahl von Anschlägen, Attentaten und Opfern nimmt zu. Zudem wird die politische Lage immer komplexer, die Zahl bewaffneter Gruppen steigt. Ständig ändern sich deren Zugehörigkeiten und Loyalitäten.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Rückblick

Der Norden Malis war im „Frühjahr 2012 in die Hände von Dschihadistengruppen und mit ihnen verbündeten Tuareg-Rebellen gefallen. Französische Streitkräfte starteten Anfang 2013 eine Offensive und drängten die Angreifer zurück. Dass Paris Truppen schickte, hat nicht so sehr mit der kolonialen Vergangenheit und daraus angeblich resultierenden besonderen Verpflichtungen zu tun. Es geht vielmehr um die wirtschaftliche Zukunft Frankreichs, denn wenn die Region in einem Terrorbrand untergeht, dann wird es kritisch mit dem Zugang zum »französischen« Uran im Niger. Ohne Uran keine Atomenergie, ohne Strom wäre die Grande Nation rasch am Ende.“ (René Heilig in ND, 2.8.16, S. 2)

Dass der Aufstand im Norden aber überhaupt erfolgreich sein konnte, hatte auch mit französischer Politik zu tun, nämlich mit dem von Sarkozy gepusch­ten Krieg gegen Libyen. „Die Aufständischen waren besser ausgerüstet. Der Zusammenbruch Libyens hatte sie – und zahllose andere bewaffnete Gruppen der Region – mit neuen Waffen aus Gaddafis Lagern versorgt.“ (Isabell Pfaff in SZ, 27.1.17, S. 6)

Einsatzziele

Die SZ (27.1.17, S. 6) zitiert den französischen Afrika-Analysten Denis Tull vom Pariser Institut für strategische Forschung: „Zwar könne die UN-Mission keinen seriösen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage im Norden leisten – ‚dafür ist das Land zu groß und der Konflikt zu kompliziert. Aber : Eine zentrale Aufgabe der Minusma sei es, bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu helfen – und das steht […] an erster Stelle.“ Es ist ein Friedensabkommen, das die malische Regierung im Juni 2015 mit den Tuareg-Rebellen geschlossen hat und über das Beobachter bereits ein Jahr später sagten, es sei „vom Inhalt des Papiers […] bislang sehr wenig umgesetzt worden“ (SZ, 21.6.16, S. 7).

»Der Spiegel« zitiert aus der Begründung der Regierung für das neue Bundeswehrmandat (21.1.17, S. 32): „Die Stabilisierung Malis ist ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region.“ Es gehe darum, „Mali in eine friedliche Zukunft führen zu helfen und die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung zu beseitigen“.

Den letzten Satz greift auch René Heilig (ND, 12.1.17, S. 6) auf. Für ihn verfolgt die Bundesregierung mit der Ausweitung des Einsatzes vier Ziele. „Erstens übernimmt Deutschland Verantwortung in der Welt. Zweitens bekommt man Lob, weil man sich für eine stärkere Autorität der UNO einsetzt. Man zeigt sich – drittens – solidarisch mit Frankreich, das per Blitzeinsatz seiner Truppen die Rebellen stoppte und den Zerfall Malis aufschob […] nicht uneigennützig […]. Für Deutschland ist aber der vierte Punkt wichtig: Fluchtursachen eindämmen. Mali ist ein Vorposten des EU-Grenzwalls.“

Der bereits oben zitierte Oberstleutnant der Bundeswehr Hoppstädter hält den Mali-Einsatz für sinnvoll, mit einem großen »Aber«: „Militärisch wird man eine solche Krise in keinem Staat jemals lösen können […] dazu gehört noch viel mehr, zum Beispiel der zivile Aufbau und die Ausbildung junger Menschen.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Das Autorenteam des »Spiegel« ist da skeptischer: „[…] es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn sich die großen Erwartungen, die sich vor allem die Deutschen machen, erfüllen würden. Mali bleibt ein hoffnungsloser Fall, solange die Malier ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen. Von außen lässt sich ein Land nicht reformieren.“ (21.1.17, S. 35)

Zitierte Zeitungen: Das Parlament, Der Spiegel, Die Welt, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – tageszeitung.

Soziale Konflikte in Ägypten

Soziale Konflikte in Ägypten

Schnittstellen zwischen Land und Stadt

von Sascha Radl

Im Artikel wird dargelegt, wie wirtschaftliche Strukturanpassungen in Ägypten seit Mitte der 1970er Jahre die abhängigen Klassen der Städte und des Umlands zunehmend marginalisieren und Hauptursache für deren Unzufriedenheit und die anhaltenden Unruhen sind. Beispielhaft soll dies an informellen Siedlungen im Großraum Kairo und der Situation in Oberägypten erläutert werden. Dabei interpretiert der Autor beide Räume, Stadt und Land, nicht als voneinander getrennt, sondern vielmehr als symbiotisch, und zeigt ihre diesbezüglichen Schnittstellen auf.

Ägyptens Aufstand 2010/11 bewies der Weltöffentlichkeit, welche enorme Unzufriedenheit die Politik der seit 1981 andauernden Diktatur Husni Mubaraks mit sich brachte. In ihren Hintergrundanalysen konzentriert sich die Mehrheit der WissenschaftlerInnen und JournalistInnen allerdings auf die urbane Mittelklasse und greift insbesondere die Sichtweise ägyptischer Studierender oder UniversitätsabsolventInnen auf. Das führt zum Ausschluss der Perspektiven Subalterner, vor allem die der IndustriearbeiterInnen, Gelegenheitsbeschäftigten und Fellahin.1 Werden diese Gruppen mitberücksichtigt, so waren die Proteste auf dem Tahrir-Platz 2010/11 nur ein – wenngleich sehr heftiger – Aufstand von vielen, welche ihre Ursachen hauptsächlich in der neoliberalen Transformation der ägyptischen Ökonomie und damit des urbanen wie auch ländlichen Raumes haben.

Polit-ökonomischer Kontext

Ein erster Schritt der ägyptischen Neoliberalisierung lässt sich mit der Infitah-Politik (arab. Öffnung) des damaligen Präsidenten Anwar al-Sadat auf das Jahr 1975 zurückdatieren. Langfristig nahm al-Sadat damit Abschied vom staatszentrierten Entwicklungsmodell seines Vorgängers Gamal Abdel Nasser; damit einher ging die Umorientierung weg von der Bewegung Blockfreier Staaten und dem Panarabismus, hin zu einer starken Anlehnung an die USA. Für das Akkumulationsregime2 bedeutete die neue Strategie vor allem eine herausragende Rolle des sich im Aufbau befindenden Privatsektors, unterstützt durch die Zulassung ausländischer Investitionen und die Übernahme »westlicher« Technologien, beispielsweise im Ölsektor.

In der Folge vertieften die nun wichtiger werdenden neuen Wirtschaftseliten ihre Allianz mit den Eliten des Machtapparats al-Sadats bzw. seiner Nachfolger Husni Mubarak und später Abdel Fatah el-Sisi. So etablierte sich der bis heute existente »Crony Capitalism« (vgl. El-Sayed El-Naggar 2009, S.35-36), der sich neben der engen, teilweise auch nepotistischen3 Verzahnung durch eine neoliberale Wirtschaftsausrichtung auszeichnet. 1976 wurden erste Strukturanpassungsmaßnahmen umgesetzt, aufgrund des Ölpreisverfalls und der gestiegenen Staatsverschuldung gefolgt von einer weiteren Reformwelle Mitte der 1980er Jahre (vgl. Beinin 2009, S.70-72). 1991 unterschrieb Mubaraks Regierung den ersten »Letter of Intent«, um sich Finanzmittel des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu sichern. Der 2004 neu angetretene Premierminister Ahmad Nazif intensivierte die Umsetzung der von den internationalen Finanzinstitutionen geforderten Strukturanpassungsprogramme, gleiches gilt für die Kabinette el-Sisis ab 2013/14.

In Summe waren und sind die Reformen ausgerichtet auf die für den Neoliberalismus weltweit typische Unterordnung „jegliche[r] Institutionen und gesellschaftliche[r] Handlungen“ unter die „Werte des Marktes“ (Brown 2003, S.39-40, vgl. Harvey 2005, S.2). Im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme steht die Annahme, dass Staatshaushalte der Austerität verpflichtet sind, d.h. Sozialausgaben gekürzt und öffentliche Betriebe, einfache Dienstleistungen oder Ressourcen privatisiert werden müssen. Derweil sollen Deregulierung, die Liberalisierung des Handels, Exportorientierung, Währungsabwertungen, starke Eigentumsrechte und Steuerreformen zum Wirtschaftswachstum beitragen (vgl. Roy-Mukherjee 2015, S.144).

Subventionen auf Grundnahrungsmittel oder Elektrizität und ähnliche Maßnahmen, die vor allem den Subalternen nützen, können innerhalb des Neoliberalismus als rein „technische Fragen“ entpolitisiert werden (el Mahdi 2012, S.113). In diesem Sinne herrscht über Reformen, welche auf Wirtschaftswachstum (und dabei zumeist gegen untere Klassen) gerichtet sind, ein gewisser Konsens innerhalb der übrigen Gesellschaft. Nicht zuletzt aufgrund der Austeritätsvorgaben sind die Subalternen also nicht länger Teil des nasseristischen, herrschaftsstabilisierenden Klassenkompromisses. Die wachsende Unzufriedenheit äußert sich in Protesten und Auseinandersetzungen mit der Regierung.

Nachfolgend werden die Auswirkungen der Strukturanpassungsprogramme auf erstens die Fellahin in Oberägypten und zweitens die Gelegenheitsbeschäftigten und ähnlich Geringverdienende in den urbanen informellen Siedlungen am Beispiel Ezbet Khairallahs aufgezeigt. Wegen der relativ gut erfassten Situation der industriellen ArbeiterInnen (u.a. Alexander and Bassiouny 2014, Beinin 2015) sind jene hier nicht berücksichtigt.

Oberägypten: Landnahme und Armut

Das ländliche Ägypten gilt bei den meisten ÄgypterInnen als unmodern und ärmlich. Dies trifft insbesondere auf Oberägypten (arab. said masr), das Gebiet südlich von Kairo, zu. Die Mehrheit der dort lebenden Menschen identifiziert sich als Saidi (d.h. aus Oberägypten stammend) und grenzt sich damit klar von den Städten der Mittelmeerküste oder des Großraums Kairo (Greater Cairo Region) ab. Im Jahr 2006 lagen die urbanen relativen Armutsraten Oberägyptens bei 18,6% und die ländlichen bei 39,1%. In Unterägypten (arab. masr al-sofla) standen diese bei verhältnismäßig geringen 9% urban und 16,7% ländlich (vgl. World Bank 2007, S.10). Parallel dazu lagen 1996 95% der ärmsten Dörfer in den südlichen Provinzen Minya, Sohag, Asyut und Beni Suef sowie zum Teil in Fayoum und Quena – eine Situation, welche sich bis zur nächsten Datenerhebung im Jahr 2006 kaum veränderte (vgl. ebd., S.25-26).

Die für einen Großteil der Fellahin spürbarsten Strukturanpassungen sind jene, welche auf eine möglichst umfassende, kapitalistische Verwertung der landwirtschaftlichen Ressourcen abzielen. Dabei spielt die modernisierte Agrarindustrie eine Hauptrolle, da große Farmen aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel einen guten Zugang zu Fachwissen haben sowie über ausgezeichnete Marketing-Kanäle und internationale AbnehmerInnen verfügen. Sie können tief liegende Wasserressourcen erschließen und selbstständig Landgewinnung betreiben.

Die modernisierten Großfarmen tragen über die Anpflanzung teurer Produkte erheblich zu einer verbesserten Handelsbilanz des Staates bei. Nach Auffassung der Weltbank soll sich die Agrarpolitik jeweils auf Erzeugnisse spezialisieren, die international besonders »wettbewerbsfähig« sind, d.h. auf jene mit möglichst geringen Input-Kosten bei hohen Verkaufspreisen. Durch die positive Handelsbilanz kann der betroffene Staat dann Grundnahrungsmittel wie Weizen importieren, ohne der Wirtschaft zu »schaden« (vgl. Ayeb 2012a, S.5-6).

Vorausgesetzt, dass die neoliberale Strategie tatsächlich versucht, eine Form von Nahrungsmittelsicherheit zu erreichen, wurde das Scheitern jener Politik spätestens ab 2007/08 offensichtlich. U.a. Nahrungsmittelspekulationen lösten eine weltweite Preissteigerung von Weizen aus (vgl. Bass 2011, S.30), wodurch auch die ägyptische Regierung große Schwierigkeiten hatte, die Bevölkerung zu ernähren: Die Farmen produzierten nur noch unzureichende Mengen Weizen, und der Staat verfügte lediglich über geringe finanzielle Rücklagen für den Import. Schon vorher, zwischen 2000 und 2005, stieg die Zahl der unterernährten Kinder unter fünf Jahren im nicht-urbanen Oberägypten von 6,8% auf 7,8% (vgl. Weltbank 2007, S.14). Die Umstellung der Landwirtschaft auf teure Exportprodukte führt also bei internationalen Preisanstiegen zu erheblichen Versorgungsengpässen.

Aber auch langfristig scheint sich eine steigende Zahl von im ländlichen Raum lebenden Menschen nicht mehr ausreichend versorgen zu können – unabhängig von globalen Krisen. Die Erklärung liegt in der zunehmenden Verarmung der Fellahin. Denn gerade sie sind ein wichtiger Faktor bei der Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Weizen (vgl. Ireton 2013), werden aber seit den 1980er Jahren ganz im Sinne der modernisierten Agrarindustrie und den ländlichen GroßgrundbesitzerInnen strukturell verdrängt. Mit Gesetz 96/1992 schuf Mubarak die Grundlage zur Expansion der Großfarmen und damit für die langfristige Landumverteilung: Bis 1997 sollten Pacht- und Halbpachtlandwirtschaft sowie Bodenmärkte liberalisiert werden. Schon vorher stiegen die Pachtpreise erheblich an; ab Oktober 1997 liefen die zuvor gültigen Verträge aus, und anstatt auf Lebenszeit durften die Folgeverträge nur noch für eine Dauer von bis zu fünf Jahren abgeschlossen werden. Oftmals wurden die neuen Verträge aber nur informell vereinbart und wiesen Laufzeiten von einer Saison oder sogar nur einer Ernte auf (vgl. Ayeb 2012b, S.80-81).

Infolge der veränderten Gesetzgebung verringerte sich alleine zwischen den Jahren 1990 und 2000 die Zahl der mittelgroßen Farmen (zwei bis fünf Feddan)4 um 9,2%, während die der kleinsten (unter ein Feddan) um 34,1% und die der größten (mehr als zehn Feddan) um 17,3% anstieg. Habib Ayeb spricht diesbezüglich einerseits von einer „Fragmentierung“ der kleineren Farmen, anderseits von einer „Neuanordnung landwirtschaftlich nutzbaren Landes, vor allem zum Vorteil der Zehn-Feddan-Farmkategorie“ (ebd., S.84). Durch die Zerstückelung, fehlende Planungssicherheit und extrem steigende Gebühren konnten viele Fellahin ihre Familien nicht mehr ausreichend ernähren oder sich Grundlegendes, wie die Schulbildung, leisten. Somit waren zwischen 1992 und 1997 45% der Fellahin gezwungen, das vormals gepachtete Land armutsbedingt zu verlassen (vgl. ebd., S.82-85).

Ezbet Khairallah: Marginalisierung in den informellen Siedlungen

Im Zuge der neoliberalen Neuordnung der ländlichen Regionen zogen also immer mehr Menschen in die urbanen Gebiete am Nil, am Suezkanal, an der Mittelmeerküste und im Großraum Kairo. Gizas Bevölkerung wuchs von 1986 bis 1996 um 29,18% und von 1996 bis 2006 noch einmal um 31,23%. In der gleichen Zeit galten für das restliche Ägypten Raten von nur knapp 23% (vgl. Statoids 2015).

Ein großer Teil der BinnenmigrantInnen aus Oberägypten lebt in den sich seit den 1950er Jahren ausdehnenden informellen Siedlungen (arab. Ashawiyyat) des Großraums Kairo. Die dortigen Verhältnisse sind eng verknüpft mit der Neoliberalisierung des urbanen Raums. Ein Beispiel unter vielen ist das Kairoer Viertel Ezbet Khairallah, welches unweit des Nils an der Ring Road südlich von Fustat liegt. Durch die seit Sadats Reformen ansteigenden Mieten im Zentrum Kairos bauten insbesondere ab den 1970er Jahren neu ankommende MigrantInnen aus ländlichen Gebieten Gebäude auf dem wüstenartigen Plateau am Rande der Hauptstadt. Die Menschen besetzten also ungenutztes Land und bauten ihre Häuser mit geringen statischen Kenntnissen und ohne größere Planung; später wurden die einzelnen Gebäude oft mehrstöckig erweitert.

1972 und 1974 vergab Sadat das in absehbarer Zeit zentrumsnahe und damit teure Land an die Maadi Company for Development and Reconstruction, welche das Gelände für neue Bauprojekte nutzen wollte. 1999 urteilte der zuständige Gerichtshof, dass die informellen BewohnerInnen ein Vorkaufrecht besäßen und die Regierung dies nicht übergehen dürfe, die Umsetzung des Urteils blieb allerdings bisher aus (vgl. Tadamun 2013, S.6). Stattdessen vernachlässigt der Staat das Gebiet, wodurch es an Infrastruktur wie asphaltierten Straßen, einer ausreichenden Strom-, Wasser und Gesundheitsversorgung oder nahe gelegenen Schulen mangelt. Gute Arbeitsgelegenheiten sind schwer zu erreichen, da das Viertel keinen Anschluss an die Hauptstraßen besitzt (vgl. ebd., S.11-13). Ein großer Teil der EinwohnerInnen arbeitet also gezwungenermaßen in den kleineren Werkstätten, Kiosken und ähnlichem vor Ort oder in nahe gelegenen Fabriken (vgl. ebd., S.8).

Zwar existieren keine genauen Statistiken zur Verteilung der Erwerbstätigkeiten in Ezbet Khairallah, die Politikwissenschaftlerin Diane Singerman erhob aber Daten in einer informellen Siedlung in Misr al-Qadima. Die meisten der knapp 300 befragten Frauen und Männer gingen gleichzeitig zwei oder drei Jobs nach. Der Erstberuf lag bei 26% der Männer im öffentlichen Sektor und bei weiteren 27% in kleineren Familienunternehmen. Bei den Frauen arbeiteten zwar ebenfalls 18% im öffentlichen Sektor, 39% aber vornehmlich als Hausfrau, was neben den Tätigkeiten im Haushalt oftmals auch die Aufzucht von Nutztieren und ähnliches einschließt. Für den Zweitberuf der Männer stach mit 60% klar die Bedeutung der generellen Privatwirtschaft, darunter vor allem Selbstständigkeit und eine Beschäftigung in Familienunternehmen, heraus. Insgesamt überwogen Arbeitstätigkeiten als Fachkräfte, Industrie- und WerkstattarbeiterInnen, (Klein-) Transporteure, VerkäuferInnen und Hausfrauen. 38% der Ersteinnahmequellen waren informell, 87% der zweiten und 71% der dritten (vgl. Singerman 1995, S.181-198).

Obwohl die untersuchte informelle Siedlung im Vergleich zu Ezbet Khairallah älter, weniger exkludiert und wahrscheinlich im Durchschnitt wohlhabender ist, lassen sich die Hauptaussagen übertragen: Es dominieren die unteren Klassen und Berufe, welche mit geringen Qualifikationen verbunden sind. Der seit Sadats Infitah-Politik schrumpfende öffentliche Sektor reicht genauso wenig als alleinige Einkommensquelle aus wie die erreichbaren Tätigkeiten im Privatsektor. Zusammengenommen lässt die Ausdehnung der informellen Siedlungen also Rückschlüsse auf die Folgen der Strukturanpassungsprogramme zu: Der liberalisierte Wohnungsmarkt, die Kürzung von Sozialausgaben, der Abbau des öffentlichen Sektors, der ausbleibende Aufbau von Arbeitsalternativen sowie Währungsabwertungen, die wiederum zu Lohnsenkungen führten, ließen den Menschen keine andere Möglichkeit, als in der verhältnismäßig billigen, aber prekären Informalität zu leben. Als Folge davon genießen sie auch keinen ausreichenden juristischen Schutz vor Übergriffen von Seiten des Vermieters/der Vermieterin, des Staates oder der Unternehmen.

Seit den 1990er Jahren stellen die internationalen Finanzinstitutionen, die Regierung und diverse Medien informelle Siedlungen zudem verstärkt als Sicherheitsrisiko oder sogar als Hort der Kriminalität und des Terrorismus dar. So wird auch Ezbet Khairallah als »unsicher« für die dort lebende Bevölkerung klassifiziert. Dies geschieht zu einer Zeit, in der der Großraum Kairo komplett nach neoliberalen Maßstäben umgestaltet werden soll. Ein erster Schritt war das mittlerweile mehrmals umbenannte Projekt »Cairo 2050«, welches einen Bevölkerungstransfer aus den zentrumsnahen informellen Siedlungen in die Wüstensiedlungen am heutigen Stadtrand vorsieht, die Errichtung von Finanz- und Tourismuszentren, wie den Bau groß angelegter Park- und Wohnanlagen für die einkommensstarken Klassen in vormals informell bewohnten Gebieten. In diesem Kontext soll die Bevölkerung Ezbet Khairallahs in die in der Wüste liegenden Randbezirke verlagert werden und dort vor allem in der exportorientierten, gering entlohnten Industrie Arbeit finden (vgl. GOPP 2009, S.48-58, ausführliche Analyse vgl. Radl 2015).

Zusammenfassung und Ausblick

Die neoliberale Strukturanpassung zwingt also die verarmten Fellahin, in die urbanen Gebiete zu migrieren. Hier ist ein Großteil von ihnen nicht fähig, mit den über Lohnsenkungen verringerten Einkommen die aufgrund der Liberalisierung gestiegenen Mieten formeller Wohnungen zu bezahlen. Der an Austeritätsvorgaben gebundene Staat investiert immer weniger Geld in Sozialprogramme. Als Ergebnis eignen sich die Subalternen selbstständig Land an, bauen dort informelle Häuser und kommen durch ebenso informelle Jobs für ihre Familien auf. Doch auch der alternative Wohnraum ist nun aufgrund von neuen Investitionen in den Bausektor und damit einhergehender Enteignung bedroht.

Vor diesem Hintergrund protestierten ab Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Fellahin gegen die Neoliberalisierungspolitik der Regierung Mubarak. Die Demonstrationen blieben erfolglos und setzten sich in islamistischen Aufstandswellen, welche gerade in verarmten, ländlichen Regionen und informellen Siedlungen Rückhalt fanden, fort. Die 2000er Jahre waren erneut von Protesten der Subalternen durchzogen und mündeten schließlich, verstärkt durch Bewegungen der unzufriedenen Mittelklasse, 2010/11 auf dem Tahrir. Doch bisher wurden weder unter Mohammed Mursi noch unter el-Sisi grundlegende Probleme angegangen, stattdessen verschlimmert sich die Lage durch neue neoliberale Reformprogramme immer weiter. Die nächsten Aufstände sind abzusehen.

Anmerkungen

1) Fellahin (sing. mask. Fellah) ist die arabische Selbstbezeichnung von Klein- bzw. Mittelbauern und -bäuerinnen sowie von ErntehelferInnen.

2) Ein Akkumulationsregime bezeichnet die „in einem bestimmten historischen Zeitraum (relativ) stabile[n] sozioökonomische[n] und politisch-institutionelle[n] Strukturen, innerhalb derer sich die Akkumulation, also der ökonomische Wachstumsprozess, vollzieht“ (Overbeek 2008, S.172).

3) Beispielhaft stehen hierfür die Brüder Ahmed Heikal (Investmentgesellschaft Citadel Capital bzw. heute Qalaa Holdings) und Hassan Heikal (Investmentbank EFG-Hermes; wahrscheinlich Berater der ägyptischen Regierung) sowie ihr Vater Mohamed Hassanein Heikal (ehemaliger Chefredakteur der Staatszeitung al-Ahram; enge Beziehungen zu el-Sisi).

4) Ein Feddan entspricht umgerechnet 0,42 Hektar.

Literatur

Anne Alexander and Mostafa Bassiouny (2014): Bread, Freedom, Social Justice – Workers & the Egyptian Revolution. London: Zed Books.

Habib Ayeb (2012a): Agricultural Policies in Tunisia, Egypt, and Morocco – Between Food Dependency and Social Marginalization. In: Maria Cristina Paciello et al. (eds.): Reversing the Vicious Circle in North Africa’s Political Economy, Confronting Rural, Urban, and Youth-Related Challenges. Washington, D.C.: The German Marshall Fund of the United States, S.1-11.

Habib Ayeb (2012b): The marginalization of the small peasantry – Egypt and Tunisia. In: Ray Bush and Habib Ayeb (eds.): Marginality and Exclusion in Egypt. Kairo: The American University in Cairo Press.

Hans-Heinrich Bass (2011): Finanzmärkte als Hungerverursacher. Bonn: Welthungerhilfe.

Joel Beinin (2015): Workers and Thieves – Labor Movements and Popular Uprisings in Tunisia and Egypt. Stanford: Stanford University Press.

Joel Beinin (2009): Workers’ struggles under »socialism« and neoliberalism. In: Rabab El-Mahdi and Philip Marfleet (eds.): Egypt – Moment of Change. Kairo: The American University in Cairo Press, S.68-86.

Wendy Brown (2003): Neo-liberalism and the End of Liberal Democracy. Theory and Event, Vol. 7, No. 1.

Rabab El Mahdi (2012): Against marginalization – workers, youth and class in the 25 January revolution. In: Ray Bush and Habib Ayeb: Marginality and Exclusion in Egypt. Kairo: The American University in Cairo Press, S.133-147.

Ahmad El-Sayed El-Naggar (2009): Economic policy – from state control to decay and corruption. In: Rabab El-Mahdi and Philip Marfleet (eds.): Egypt – Moment of Change. Kairo: The American University in Cairo Press, S.34-50.

GOPP/The General Organization for Physical Planning (GOPP) at the [Egyptian] Ministry of Housing and Urban Development (2009): Vision of Cairo 2050. Within a national vision of Egypt. Cairo Future Vision 2050. Präsentation; eg.undp.org.

Francois Ireton (2013): A Half-Century of Wheat Farming in Egypt – Self-Sufficiency, Marketable Surplus, and Farm Size. In: Habib Ayeb and Reem Saad (eds.): Agrarian Transformation in the Arab World – Persistent and Emerging Challenges. Kairo: The American University in Cairo Press, S.5-32.

Henk Overbeek (2008): Rivalität und ungleiche Entwicklung – Einführung in die internationale Politik aus der Sicht der Internationalen Politischen Ökonomie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Sascha Radl (2015): Abdel Fattah el-Sisis neoliberale Visionen. INAMO 83/23, S.36-46.

Shamoa Roy-Mukherjee (2015): Connecting the Dots – The Washington Consensus and the »Arab Spring«. Journal of Balkan and Near Eastern Studies, 17(2), S.141-158.

Diane Singerman (1995): Avenues of Participation – Family, Politics, and Networks in Urban Quarters of Cairo. Princeton/Chichester: Princeton University Press.

Statoids (2015): Governorates of Egypt: statoids. com/ueg.html.

Tadamun – The Cairo Urban Solidarity Initiative (2013): ‘IzbitKhayrallah. In: Tadamun (eds.): Know Your City. ‘Izbit Khayrallah – Mit ‘Uqba – ‘Izbit Al-Haggana. Kairo: Tadamun, S.4-17.

The World Bank (2007): Arab Republic of Egypt -Poverty Assessment Update. Volume I, Main Report.

Sascha Radl studiert Politik der MENA-Region am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) der Universität Marburg und arbeitete für Tadamun – The Cairo Urban Solidarity Initiative.

Friedensnobelpreis

Friedensnobelpreis

von Jürgen Nieth

Das norwegische Komitee für den Friedensnobelpreis hat diesen 2015 an das tunesische »Quartett des nationalen Dialogs« verliehen. Das Bündnis aus dem Gewerkschaftsverband UDTT, der Menschenrechtsliga LTGH, der Anwaltskammer ONAT und dem Arbeitgeberverband UTICA war 2013 gebildet worden, als – so das Nobelpreiskomitee – „der Demokratisierungsprozess in Folge politischer Morde und der Ausbreitung sozialer Unruhen vor der Gefahr eines Zusammenbruchs stand.“ Das Quartett habe sich in dieser Situation „mit großer moralischer Autorität als Vermittler und Motor der friedlichen demokratischen Entwicklung in Tunesien“ engagiert (JW 10.10.15).

Eine Auszeichnung, die weitgehend positiv aufgenommen wurde: „Gute Nachricht für ein gebeuteltes Land“ (FAZ 10.10.15, S.2), „Tunesien als Vorbild“ (SZ 10.10.15, S.4), „Leuchtturm des arabischen Frühlings“ (ND 10.10.15, S.7), „Tunesiens Leuchtturm“ (NZZ 10.10.15, S.3), „Hohe Symbolik, hohe Hypothek“ (DIE WELT 10.10.15, S.8), „Ein Licht im arabischen Winter“ (Handelsblatt online 09.10.15).

Eine große Überraschung

In diesem Jahr waren 205 Einzelpersonen und 68 Organisationen für den Friedensnobelpreis nominiert. Die Preisvergabe an das tunesische Quartett wird in den Medien als große Überraschung gewertet, „da die Organisation im Vorfeld […] kaum zu den Favoriten gehört hatte. Am häufigsten war die Rede von Angela Merkel für ihre Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt und ihre Führungsarbeit bei der europäischen Flüchtlingskrise sowie von Papst Franziskus gewesen.“ (NZZ 10.10.15, S.3) Laut der WELT avancierte Merkel sogar „zur Topfavoritin bei den Buchmachern“ (10.10.15, S.8). Sie wurde es nicht, und so blieb uns nicht nur der BILD-Aufmacher »Wir sind Friedensnobelpreisträger« erspart, ein Teil der Medien nutzte die Verleihung der „weltweit wichtigsten politischen Auszeichnung“ (ND 10.10.15, S.7) auch zu einem kritischen Rückblick auf die bisherige Praxis der Preisvergabe.

Nobels Vermächtnis und die Realität

Der 1896 verstorbene schwedische Dynamit-Erfinder und Industrielle beauftragte das norwegische Parlament damit, „jährlich bis zu drei Persönlichkeiten oder Organisationen für ihre Verdienste um die Menschlichkeit zu ehren. Konkret sollte ausgezeichnet werden, wer »am besten für die Verbrüderung der Völker gewirkt hat, für die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und Verbreitung von Friedenskongressen« […] Und es war die Friedenskämpferin Bertha von Suttner, mit der ihn (Nobel) tiefe Freundschaft verband, die ihn ermunterte, einen Teil seines Reichtums auch an Friedensbewegungen zu spenden.“ (ND 10.10.15, S.7)

Silke Bigalke sieht in dem Vermächtnis eine „spärliche Anleitung für eine so große Frage. Kein Wunder also, dass der Friedensnobelpreis der umstrittenste unter den Nobelpreisen ist.“ (SZ 10.10.15, S.2) DIE WELT registriert, dass die „Auszeichnungen von US-Präsident Barack Obama nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt (2008) sowie die Entscheidung, der Europäischen Union vor drei Jahren den Friedensnobelpreis zuzusprechen“ als umstritten gelten (10.10.15, S.8). Für Bigalke (s.o.) war der erste ausgezeichnete US-Präsident Theodore Roosevelt aber noch viel umstrittener als Obama. „Als die Norweger ihn 1906 als ersten Staatsmann überhaupt auszeichneten, beschrieb die New York Times Roosevelt als »kriegerischsten Bürger dieser Vereinigten Staaten«. Schwedische Journalisten vermuteten, dass sich Alfred Nobel im Grabe umdrehen würde.“ Als »Nobel War Prize« bezeichnete die New York Times 1973 gar die Vergabe des Friedensnobelpreises an den Sicherheitsberater des US Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, und den „Nordvietnamesen Le Duc Tho für den Waffenstillstand in Vietnam […] Le Duc Tho lehnte den Preis mit der Begründung ab, in seinem Land herrsche noch kein Frieden. Kissinger dagegen nahm an.“ (Bigalke, s.o.)

Preisvergabe zu spät

„Es ist auch ein Preis für den »arabischen Frühling«, der in Tunesien begann, Diktaturen zu Fall brachte – aber vielerorts in einem Winter aus Terror, Reaktion und Konflikt erstarrt ist. So gesehen kommt die Vergabe zu spät. Und wenn nun oft die Rede davon ist, mit der Ehrung werde ein Zeichen für friedliche Konfliktlösung gesetzt, wird auch die Überfrachtung mit Erwartungen kenntlich.“ (Tom Strohschneider in ND 10.10.15, S.1) Ähnlich sieht das Torsten Riecke: „Nicht zu früh, sondern fast schon zu spät kommt der Preis für das Quartett des nationalen Dialogs in Tunesien. Vom Arabischen Frühling […] ist nicht mehr viel übrig geblieben.“ (Handelsblatt online 09.10.15)

DIE WELT zitiert den Nordafrika-Experten Ilyas Saliba vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, nach dem zu befürchten ist, dass die Regierung „die gerade erkämpften Menschenrechte und freiheitlichen Rechte wieder beschneidet“ (10.10.15, S.8). Für Anna Antonakis, Doktorandin der Stiftung Wissenschaft und Politik, ist es „gefährlich, wenn der Preis nun darüber hinwegtäuscht, dass die Ziele der Proteste noch lange nicht erreicht sind“. Für sie fährt die aktuelle tunesische Regierung einen „Kurs der Stabilität und Sicherheit. Auf den ersten Blick scheint das wünschenswert. Allerdings werden für diese neue Agenda all jene unterdrückt, die sich von der Revolution der Jahre 2010 und 2011 mehr erhofft haben als nur eine Rückkehr zum Status quo […] Deshalb mache ich mir Sorgen, dass der Nobelpreis von den Revolutionären als Hohn empfunden wird. Sie fühlen sich durch die Entscheidung von Oslo wohl nicht repräsentiert.“ (ZEIT ONLINE 09.10.15) Und die FAZ zitiert den Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis, Joachim Paul, dass sich in Tunesien ein »Reformstau« gebildet habe. Die Verfassung sehe Reformen des Sicherheitssektors, der Wirtschaft und der Verwaltung vor, die jedoch gar nicht oder nur schleppend vorangekommen seien. „Viele haben das Gefühl, dass die alten Eliten ihre Pfründe ins neue Regime gerettet haben, während die ländliche Bevölkerung trotz Parlament und Wahlen vom Kuchen nichts abbekam.“ (FAZ 10.10.15, S.2)

Zitierte Presseorgane: DIE WELT, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Handelsblatt online, junge Welt (JW), neues deutschland (ND), Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), ZEIT ONLINE.

Jürgen Nieth

Frieden in weiter Ferne?

Frieden in weiter Ferne?

Die DR Kongo nach dem Rahmenabkommen von Addis Abeba

von Gesine Ames

Die Demokratische Republik (DR) Kongo gilt immer noch als einer der größten Krisenherde weltweit. Seit 1996 forderten Konflikte und Kriege hier mehr als fünf Millionen Opfer. Durch die Vielzahl der beteiligten in- und ausländischen Akteure, die kaum noch übersehbare Zersplitterung der Rebellengruppen, die Komplexität der wirtschaftlichen Interessenlagen und die Instrumentalisierung ethnischer Zugehörigkeiten stellt die Schaffung eines nachhaltigen Friedens in der Region eine enorme Herausforderung dar. Dies alles geschieht in einem politisch dysfunktionalen Umfeld, in dem staatliche Akteure kaum präsent sind und Sicherheitsstrukturen beinahe komplett fehlen bzw. unkontrolliert und eigennützig agieren. Dieser Artikel diskutiert den erneuten Versuch, mit einem überregionalen Rahmenabkommen Frieden und Stabilität in der Region zu verankern.

Diplomatische Versuche, die Konflikte in der DR Kongo zu lösen und damit regional auf breiter Basis abgesicherte Friedenslösungen zu erreichen sowie wirtschaftliche Entwicklung und gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten zu ermöglichen, mündeten in die Friedensverhandlungen von Nairobi 2008 und Goma 2009. Zwar kam es durch diese Ansätze zu einer temporären Befriedung einzelner Milizgruppen, dies brachte jedoch keine nachhaltige, stabilisierende Wirkung für die DR Kongo und die weitere Region.

In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba schlossen am 24. Januar 2013 elf Staatspräsidenten der in der »Konferenz der Staaten der Region der Großen Seen Afrikas« (ICGLR) vertretenen Regierungen1 das »Peace, Security and Cooperation Framework« ab. Da neben der ICGLR die Vereinten Nationen (VN), die Afrikanische Union und die »Gemeinschaft für die Entwicklung der Region des Südlichen Afrikas« Unterzeichner des Abkommens sind, wird auch von der »11+4-Gruppierung« gesprochen. Den Anstoß für ein erneutes Friedensabkommen gaben die militärischen Übergriffe der Rebellengruppe M23 im Osten der DR Kongo und deren logistische, finanzielle und militärische Unterstützung durch Anrainerstaaten.2

Das Rahmenabkommen besteht aus vier grundlegenden Vereinbarungen: Erstens die gegenseitige Respektierung der nationalen Souveränität und die militärische Nichteinmischung in Angelegenheiten der Nachbarstaaten. Zweitens Unterstützung für die Bemühungen der DR Kongo, ihren nationalen Sicherheitssektor, die Justiz, die Regierungsstruktur sowie die Wirtschaft und insbesondere den Rohstoffsektor neu zu ordnen. Drittens eine Verstärkung der VN-Blauhelmmission MONUSCO bei der Beratung der kongolesischen Regierung und der militärischen Bekämpfung von Milizen, die in der DR Kongo operieren, durch eine »Neutral International Force« (NIF). Viertens die Entsendung eines Sondergesandten des Sicherheitsrates, der das Engagement der Geberstaaten und der VN gegenüber der DR Kongo vertreten und koordinieren soll.

Zur Umsetzung dieser Vereinbarungen baut das Abkommen auf zwei Säulen auf: Die erste ist eine Reform der staatlichen Institutionen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass ein Zusammenhang zwischen der anhaltenden Krise, den immer neu aufflammenden Konflikten und dem schwachen kongolesischen Staat besteht. Die zweite Säule zielt darauf ab, die internationale Einmischung in der DR Kongo zu beenden. Mehr als zwei Jahre nach Abschluss dieses Abkommens ist es an der Zeit, zu eruieren, inwieweit es umgesetzt wurde und ob in der Region eine nachhaltige Wirkung zu verzeichnen ist.

Die Vereinten Nationen stellen sich neu auf

Im März 2013 ernannte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die ehemalige irische Staatspräsidentin Mary Robinson zur Sondergesandten für die Region der Großen Seen. Ihr oblag es, durch diplomatische Bemühungen langfristig für Frieden und Sicherheit in der Region, besonders in der DR Kongo, zu sorgen.

Zusammen mit der Spitze der MONUSCO sowie dem US-Sondergesandten für die Große-Seen-Region sollte die VN-Sondergesandte bzw. ihr Nachfolger Said Djinnit bei der Umsetzung des Rahmenabkommens unterstützend wirken. Sie stießen eine neue, kohärentere Zusammenarbeit bezüglich der Region der Großen Seen an und machten innerhalb der internationalen Gemeinschaft auf wichtige Themen der Friedenssicherung, wie eine Reform der Sicherheitsstruktur, die Demobilisierung der Milizen und die Durchführung und Unterstützung der anstehenden Wahlen aufmerksam. Dieses Engagement eröffnete neue Möglichkeiten, Bewegung in den eingefahrenen Friedensprozess zu bringen. Zudem schlug die internationale Gemeinschaft einen neuen Weg im Umgang mit den Nachbarländern der DR Kongo ein. Besonders den Staaten Ruanda und Uganda wurde verdeutlicht, dass deren Interventionen im Osten der DR Kongo stärker wahrgenommen und geächtet werden als bisher.

Seit dem Jahr 1999 ist die Blauhelmmission MONUSCO (vormals MONUC) im Land stationiert. Sie ist mit über 19.000 Soldaten, ca. 500 Militärbeobachtern, 1.400 Polizisten und 4.500 zivilen Angestellten die größte Blauhelmmission weltweit. Die unmittelbarste Konsequenz des Abkommens war die Einsetzung der Eingreiftruppe NIF, welche sich aus malawischen, südafrikanischen und tansanischen Soldaten zusammensetzt. Ausgestattet mit einem robusten Mandat sollte diese 3.000 Mann starke Truppe als Teil der MONUSCO die Miliz M23 wie auch andere Rebellengruppen, die im Osten des Landes ihr Unwesen treiben, bekämpfen und entwaffnen. Damit gaben die VN ihr Prinzip der Neutralität auf, und die MONUSCO besitzt nun das Mandat, auch ohne Zustimmung der kongolesischen Regierung gegen Milizgruppen vorzugehen.

Militärische und politische Verwicklungen im Osten der DR Kongo

Innerhalb kurzer Zeit besiegte die kongolesische Armee mit Unterstützung der MONUSCO/NIF im November 2013 die sehr gut organisierte und militärisch bestens ausgestattete Rebellenmiliz M23. Damit gelang der kongolesischen Regierung ein entscheidender Schritt bei der Bekämpfung illegal operierender Milizgruppen. Aufgrund der Militäroperation ergaben sich zudem ca. 4.000 Mitglieder anderer Rebellengruppen.

Die Kapitulation der M23 ist ein wichtiges Ziel des Rahmenabkommens. Sie ist nicht allein auf den militärischen Einsatz der kongolesischen Armee und der MONUSCO/NIF zurückzuführen, sondern vielmehr auf den diplomatischen Druck, der auf die involvierten Anrainerstaaten – insbesondere Ruanda – ausgeübt wurde. Nur so konnten nach einigen diplomatischen Hürden letztlich auch die Kampala-Gespräche3 zwischen den M23 und der kongolesischen Regierung zu einem Ende gebracht werden. Militärisch gesehen konnte die DR Kongo in Kooperation mit ihren Alliierten Stärke demonstrieren. Gleichzeitig zeigte gerade der zähe Verlauf der Kampala-Gespräche, dass politisch-diplomatische Lösungen weiterhin eine schwierige Aufgabe darstellen.

Nach der Kapitulation der M23 steht die MONUSCO in der Pflicht, für die weitere Umsetzung des Rahmenabkommens zu sorgen und die Entwaffnung und Demobilisierung weiterer Rebellengruppen, wie der Hutu-Miliz FDLR, den diversen Mai-Mai-Milizen oder der aus Uganda stammenden ADF-Nalu-Miliz, voranzutreiben. Seit Januar 2014 führt die MONUSCO zwar gemeinsam mit der kongolesischen Armee eine Offensive gegen die ADF-Nalu durch, wodurch wichtige Operationsbasen der Miliz zerstört und diese insgesamt geschwächt wurde. Allerdings ist es ihnen nicht gelungen, die ADF-Nalu dauerhaft zu besiegen. Dies macht deutlich, dass rein militärische Aktionen hier wenig Erfolg versprechend sind. Als Vergeltung für die Angriffe rächte sich die Miliz im Oktober und November 2014 mit brutalen Übergriffen auf die Bevölkerung im Nord-Kivu. Die Angreifer stehen im Verdacht, teils in Kooperation mit einzelnen kongolesischen Soldaten gehandelt zu haben. Während die Übergriffe weiter anhalten, zeigte die kongolesische Regierung bislang keine Bereitschaft, diesen Vorwürfen nachzugehen und sich für funktionierende Strukturen und eine konsequente juristische Aufarbeitung in den eigenen Reihen zu engagieren.

Ein weiteres Problem und regionales Politikum ist der Umgang mit der Hutu-Miliz FDLR. Die kongolesische Regierung ließ im Februar 2015 verlauten, dass sie an einer gemeinsamen Offensive mit der MONUSCO gegen die FDLR kein Interesse mehr habe, sondern eigenständig gegen diese vorgehen will. Die Militäroperation läuft mittlerweile ohne deutliche Erfolge. Wie die weitere Kooperation der kongolesischen Armee mit der MONUSCO aussehen und wie diese die Militäroperation gegen die FDLR weiterführen wird, bleibt unklar. Für Ruanda bedeutet dies einen Affront, der als Argument genutzt werden könnte, um zur Sicherung eigener Interessen im Osten der DR Kongo neue Milizen zu unterstützen.

Insgesamt scheint die in den Jahren 2013 und 2014 gelobte Allianz der kongolesischen Regierung mit der MONUSCO zu bröckeln. Anfang des Jahres 2015 machte die kongolesische Regierung deutlich, dass sie sich von der MONUSCO nicht länger in internen Angelegenheiten beraten lässt, und zeigte der Mission so ihre klaren Grenzen auf. Zum Eklat führte schließlich die Benennung zweier kongolesischer Generäle, die wegen Kriegsverbrechen auf der Sanktionsliste der MONUSCO stehen, zu Leitern der Offensive gegen die FDLR. Da die MONUSCO nicht mit Generälen kooperieren darf, die in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind die diplomatischen Beziehungen seitdem eingefroren. Insgesamt blieben nach der Niederschlagung der M23 weitere Erfolge aus. Für die Umsetzung des Rahmenabkommens bedeutet dies einen Rückschlag.

Weitere Herausforderungen an das Rahmenabkommen stellt der ungeklärte Umgang mit den ehemaligen Anführern der M23, die zurzeit in ihren Zufluchtsländern Ruanda und Uganda abwarten. Bislang zeigten die Regierungen beider Länder keine Bereitschaft, die mutmaßliche Verantwortung der M23-Anführer für Verbrechen in der DR Kongo zu untersuchen.

Derartige Untersuchungen sieht das Abkommen aber ausdrücklich vor: Die Länder der Großen-Seen-Region dürfen Personen, denen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord angelastet werden oder die unter Sanktionen der VN fallen, weder Aufenthalt noch Schutz anbieten. Zudem müssen sie die Rechtsprechung durch juristische Zusammenarbeit in der Region ermöglichen. Neben ihren Anführern befinden sich rund 1.600 ehemalige M23-Kämpfer in den Nachbarländern der DR Kongo. Die kongolesische Regierung sagte ihnen zu, unter einem Amnestiegesetz in das Zivilleben integriert zu werden. Zusätzlich stellte sie ein ambitioniertes Demobilisierungsprogramm für ehemalige Kämpfer auf. Erfüllt wurden diese Versprechungen bislang aber nicht, und die Unzufriedenheit unter den ehemaligen Milizionären nimmt zu. Die Gefahr der erneuten Bildung einer Rebellengruppe durch ehemalige M23-Kämpfer besteht daher weiterhin und ist gegenwärtig hoch brisant.

Neben den genannten Milizen treiben diverse andere Gruppen im rohstoffreichen Osten der DR Kongo ihr Unwesen, und auch die Anrainerstaaten profitieren weiterhin von den rechtsfreien Räumen, die es ihnen erleichtern, ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Die Präsenz einer marodierenden und von Eigeninteressen geleiteten Armee bei gleichzeitiger Abwesenheit sonstiger staatlicher Akteure verstärkt die Krisenanfälligkeit der Region. Hier sind auch die Anrainerstaaten gefragt, sich strikt an die Souveränität der DR Kongo zu halten, ihre jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Interessen nicht auf kongolesischem Boden durchzusetzen und sich nicht in innerstaatliche Konflikte einzumischen. Dafür sind Richtlinien notwendig, die es ermöglichen, die Einhaltung zu überwachen. Besonders dieser Punkt stellt sich als sehr schwierig dar, weil die Interventionen der Nachbarländer in der DR Kongo bislang immer verdeckt stattfanden und kaum offen darüber gesprochen wurde.

Interne Reformen und die Rolle der Bevölkerung

Die Kernforderungen des Abkommens sind also längst nicht vollständig umgesetzt. Nun obliegt es dem kongolesischen Staat, sich an wichtige Vereinbarungen des Rahmenabkommens zu halten. Dazu gehören die notwendige Reform des Sicherheitssektors und der staatlichen Institutionen, der Aufbau staatlicher Strukturen in den östlichen Provinzen, die Stärkung von Versöhnung und Demokratisierung und Fortschritte im Dezentralisierungsprozess.

Insbesondere das oftmals unkontrollierte Agieren der kongolesischen Armee, die wiederholt Angriffe auf die eigene Bevölkerung ausübt, macht deutlich, dass der Sicherheitssektor dringender Reformen bedarf. Eine weitere Herausforderung sind die verbreiteten Allianzen zwischen Armeeangehörigen und einzelnen Rebellenfraktionen. Von der Schaffung einer Armee, die im Sinne des Allgemeinwohls handelt, ist die DR Kongo weit entfernt. Angefangen bei besserer Ausbildung und klaren Kommandostrukturen bis zu regelmäßiger Besoldung und sicheren Unterkünften – auch für die Familien der Soldaten – müssen Maßnahmen ergriffen werden, um der eigenen Bereicherung, grassierenden Korruption und fehlenden Motivation innerhalb der Armee entgegenzuwirken. Es erfordert nun große Anstrengungen und vor allem Willen seitens der politischen Verantwortlichen in der DR Kongo, diese Vereinbarungen in konkrete Handlungen umzuwandeln. Bislang fehlt ein Umsetzungsfahrplan mit klaren und messbaren Zielen.

Bei aller berechtigten Kritik bleibt eins festzuhalten: Das Rahmenabkommen ist ein wichtiges Referenzdokument und demonstriert eine erneute Anstrengung, um unter Beteiligung internationaler, regionaler und nationaler Verantwortlicher den langwierigen Prozess für Frieden und Sicherheit in der DR Kongo aufleben zu lassen. Bislang wurde es eher als diplomatisches Instrument genutzt, anstatt als operativer Mechanismus zu fungieren, welcher nachhaltige Erfolge erzielt. Damit es sich nicht in die Reihe der bislang wenig erfolgreichen Friedensabkommen für die Region einreiht, sind die Verhandlungspartner – an erster Stelle die kongolesischen Akteure – gefragt, ihre Verantwortung ernst zu nehmen, für die notwendigen Strukturen im Sicherheitsbereich zu sorgen und sich vor allem mit der Demobilisierung ehemaliger Milizen und der Schaffung alternativer Lebensgrundlagen für diese zu befassen. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen, um den Kreislauf der Kriegsökonomie zu durchbrechen.

Auch die Anrainerstaaten müssen sich ihrer Verantwortung stellen und ihre Eigeninteressen im Osten der DR Kongo zurückstellen, um einen nachhaltigen Friedensprozess zu ermöglichen. Dazu bedarf es der ernsthaften Gesprächsbereitschaft zwischen den jeweiligen Regierungen und der sofortigen Einstellung der Unterstützung von Stellvertretergruppierungen. Momentan liegt beides allerdings in weiter Ferne. Nichtsdestotrotz dürfen die gemeinsamen Bemühungen zur Umsetzung des Abkommens nicht vergessen werden. Daher muss vonseiten regionaler Staatenbündnisse und der Internationalen Gemeinschaft wiederholt auf die Verbindlichkeit der Umsetzung des Rahmenabkommen durch die Unterzeichnenden hingewiesen, diese eingefordert und Konsequenzen bei Nichtachtung des Vertrages gezogen werden.

Angesichts der aufgezeigten Herausforderungen und des fehlenden politischen Willens der verantwortlichen Akteure in der Region fällt die Gesamtbilanz ernüchternd aus und wird von der Sorge getragen, dass dieser Fahrplan für Frieden und Sicherheit erneut im Sande verlaufen wird.

Anmerkungen

1) Angola, Burundi, DR Kongo, Republik Kongo, Ruanda, Südafrika, Südsudan, Tansania, Uganda, Zentralafrikanische Republik.

2) Siehe Bericht der VN-Expertengruppe (Dokument S/2012/348/Add.1 des VN-Sicherheitsrates vom 27.6.2012).

3) Friedensverhandlungen, die ab Dezember 2012 zwischen der kongolesischen Regierung und den M23 unter Vermittlung des ugandischen Präsidenten Museveni in Kampala stattfanden. Da sich die Konfliktparteien nicht auf ein gemeinsames Abschlussdokument einigen konnten, endeten die sehr zäh verlaufenden Verhandlungen mit drei separaten Dokumenten.

Gesine Ames ist Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika (ÖNZ).

Wem gehört das Land?

Wem gehört das Land?

Landgrabbing aus afrikanischer Perspektive

von Anne Hennings und Annette Schramm

Die akademische Debatte um das globale Phänomen Landgrabbing erreicht in Europa und Nordamerika gerade ihren Höhepunkt. Bei uns bislang weitgehend unbeachtet bleibt die Diskussion um die Problematik im Globalen Süden. Insbesondere in Subsahara-Afrika, wo die sozialen, kulturellen und ökologischen Konsequenzen der Landnahme zunehmend sichtbar werden, findet ein reger Austausch zwischen AkademikerInnen und AktivistInnen statt. Zwar weist die innerafrikanische Debatte Parallelen zu der im Globalen Norden auf, unterscheidet sich aber in zwei Aspekten deutlich: der generellen Legitimität von Auslandsinvestitionen und der Rolle nationaler Regierungen. Durch diese Ausweitung des Themas wird deutlich, dass es bei Landgrabbing nicht nur um Landrechte geht, sondern auch um eine effektive Teilhabe am Prozess.

Seit 2007 ist weltweit geradezu ein Landrausch nach fruchtbaren Böden, Rohstoffen und Mineralien zu beobachten. Über die Hälfte der seit 2000 weltweit getätigten großflächigen Landinvestitionen fanden in afrikanischen Ländern statt (Land Matrix 2015). Häufig von den Regierungen willkommen geheißen und großzügig mit Steuerfreiheit und sonstigen ökonomischen Anreizen unterstützt, finden Investoren hier optimale Bedingungen. Neben günstigen Arbeitskräften und niedrigen Umweltstandards bzw. mangelnder Umweltkontrolle kommt den Investoren zugute, dass ihnen viele Regierungen große, offiziell ungenutzte Flächen für die kommerzielle Agrarwirtschaft oder die Ausbeute von Rohstoffen, wie Kupfer, Gold oder Uran, bieten.

Von Landgrabbing spricht man, wenn Landakquisen ohne den Konsens der betroffenen Gemeinden stattfinden, keine Kompensation gezahlt wird, Gutachten zu sozialen und ökologischen Folgen fehlen und/oder Menschenrechte verletzt werden. Von Landgrabbing sind sowohl Staaten in Ost- und Westafrika wie Länder im südlichen Afrika betroffen. Die ökologischen Konsequenzen sind oft massiv, und insbesondere Kleinbauern und Pastoralisten sind mit einer ganzen Reihe negativer Folgen konfrontiert. Die sozioökonomischen Auswirkungen sind vielfältig und äußern sich u.a. in Vertreibung, Enteignung und einem daraus resultierenden steigenden Urbanisierungsdruck auf die ohnehin am Rande ihrer Kapazität stehenden Haupt- und Regionalstädte. So findet ein Wandel gesellschaftlicher Strukturen statt, in dessen Folge auch zentrale soziale Sicherheitsmechanismen an Bedeutung verlieren. Darüber hinaus sehen sich inbesondere indigene Gruppen sowie (ethnische) Minderheiten mit dem Verlust ihrer Lebensgrundlage und ihrer kulturellen Identität konfrontiert.

Während die Regierungen neue Möglichkeiten zur Förderung von Entwicklung und wirtschaftlichem Wachstum suchen, steigt in der Bevölkerung der Widerstand gegen Bergbau, kommerzielle Landwirtschaft und Staudamm- oder Forstprojekte im Rahmen des globalen Emmissionshandels. Auf der einen Seite kommt es dabei zunehmend zu Auseinandersetzungen zwischen (staatlichen) Sicherheitskräften und der lokalen Bevölkerung, die sich teilweise auch entlang ethnischer Konfliktlinien entladen (Global Witness 2014, S.13f.). Auf der anderen Seite wächst das zivilgesellschaftliche Engagement. Transnationale Bewegungen sind traditionell in Südostasien und Lateinamerika stärker verankert, in afrikanischen Ländern nehmen lokale und nationale Proteste gegen Landgrabbing aber ebenfalls signifikant zu. Zugleich steigt in Afrika das wissenschaftliche und intellektuelle Interesse an der Debatte. Bislang wird der Landgrabbing-Diskurs jedoch von europäischen und nordamerikanischen Forschungseinrichtungen, Think-Tanks und Nichtregierungsorganisationen dominiert. Daher möchten wir in unserem Beitrag Impressionen von der ersten Afrikanischen Landgrabbing-Konferenz (Africa Conference on Land Grabs) beschreiben.

Die Konferenz brachte im Oktober 2014 WissenschaftlerInnen und AktivistInnen aus dem gesamten afrikanischen Kontinent im Midrand Conference Center von Johannesburg zusammen, um Landgrabbing im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Selbstbestimmung zu diskutieren. Wie also steht es aus afrikanischer Perspektive um die Legitimität der derzeitigen Entwicklungen? Welche Rolle spielt »Ownership« bei der Vergabe von Land und Ressourcen an internationale Investoren bzw. an die nationale Elite? Ownership wurde bisher vor allem mit Landrechten in Verbindung gebracht, die Frage geht jedoch weit über juristische Aspekte hinaus: Ownership umfasst auch die Teilhabe am Prozess der Politikgestaltung – sei es durch Partizipation oder durch Widerstand.

Wie legitim sind ausländische Investitionen in Land?

Vor diesem Hintergrund zeichneten sich auf der Konferenz zwei relevante Diskursstränge ab, um die Legitimität und um das Maß der Teilhabe.

Die Frage nach der Legitimität ausländischer Direktinvestitionen in Land und Ressourcen wurde äußerst kontrovers diskutiert. Die meisten sprachen ausländischen Investition die Legitimität nicht grundsätzlich ab, kritisierten aber scharf die Art und Weise, wie diese erfolgen, sprich: das Phänomen Landgrabbing. Andere erhoffen sich von ausländischen Investitionen und Großprojekten in afrikanischen Ländern Wirtschaftswachstum und Entwicklung. Letztere umfasst nicht nur die Infrastrukturentwicklung (in den ländlichen Gebieten), sondern auch einen umfassenden Technologie- und Wissenstransfer, von dem u.a. die Landwirtschafts- und Bergbausektoren langfristig profitieren würden. Die aktuellen Erscheinungsformen von Landakquisen weisen allerdings auf gegenteilige Entwicklungen hin.

Der zentrale Kritikpunkt an der aktuellen Situation ist die mangelnde Teilhabemöglichkeit an Entscheidungs- und Mitgestaltungsprozessen im Hinblick auf die Konditionen der Landvergabe und die Einbindung der betroffenen Bevölkerung. Dieser Kritikpunkt wird von Befürwortern und Gegnern großflächiger Land- und Ressourceninvestitionen gleichermaßen geteilt; die Gegner gehen noch einen Schritt weiter und lehnen jegliche Form der Landverpachtung an internationale Unternehmen ab, da es sich um eine neokoloniale Praxis handle. Sie sehen in der historischen Landnahme durch die Kolonialmächte eine Parallele zur aktuellen Situation, in der sich Unternehmen die niedrigen Land- und Arbeitskosten in vielen afrikanischen Ländern zur wirtschaftlichen Ausbeutung zu Nutze machen. Diese Position scheint jedoch unter afrikanischen AkademikerInnen umstritten und wird nur selten als Argument genutzt, um auf die (global-) politischen Konsequenzen von Landgrabbing aufmerksam zu machen. Im Großen und Ganzen scheinen ausländische Direktinvestitionen in Landflächen und natürliche Rohstoffe unter Berücksichtigung des lokalen Konsenses sowie des Teilhabegedankens durchaus erwünscht zu sein.

Wer ist verantwortlich?

Neben der Frage nach dem generellen Umgang mit Auslandsinvestitionen stellt sich auch die nach den relevanten Akteuren für eine zukünftige Regelung bzw. für die Verhinderung von Landgrabbing. Der Fokus der akademischen Debatte sowie der Aktivitäten der transnationalen zivilgesellschaftlichen Netzwerke, wie z.B. der International Land Coalition, liegt auf der internationalen Ebene. Vom Komitee für Ernährungssicherheit der Vereinten Nationen (Committee on World Food Security) wurden 2012 Leitlinien für verantwortungsvolle Landpolitik (Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests) verabschiedet. Dort wird den betroffenen Bevölkerungsgruppen Mitspracherecht bei der Entscheidung über Landverpachtung zugesprochen, die Einhaltung von Menschenrechten eingefordert und zur Berücksichtigung sozialer sowie ökologischer Folgen von Landinvestitionen aufgerufen. Allerdings sehen die Leitlinien weder ein generelles Gebot der Zustimmung durch lokale Gruppen noch eine Obergrenze für die Fläche und Dauer von Verträgen vor, auch sind die Leitlinien nicht bindend. Dennoch gelten sie als wichtiger Schritt in Richtung einer Verregelung transnationaler Pachtverträge und als Orientierungshilfe für Zielländer bzw. Investoren (Bernstorff 2012).

In den betroffenen Staaten scheinen die Leitlinien jedoch keine Rolle zu spielen, zumindest nicht bei der ersten Afrikanischen Landgrabbing-Konferenz: Die Leitlinien seien zwar in der Regel bekannt, wirkten sich jedoch kaum auf das Verhalten von Unternehmen und Regierungen aus, war dort zu hören. Das wirkliche Problem liege außerdem bei den nationalen Regierungen, die das eigene Land gewissermaßen »ausverkauften«. Landgrabbing wird also auf unzureichende Demokratisierung, Korruption und schlechte Regierungsführung zurückgeführt. Proteste gegen das Phänomen finden häufig im Rahmen des Kampfes für mehr Demokratie und Transparenz statt. Eine zentrale Forderung ist dabei, dass afrikanische Staaten für sich selbst effektive gesetzliche Regelungen schaffen, um Landnahmen zu verhindern oder so zu gestalten, dass die Bevölkerung nachhaltig profitiert.

In vielen afrikanischen Staaten wird die Debatte über Landgrabbing überdies vor dem Hintergrund ungeklärter Landbesitz- und -nutzungsrechte geführt. Der Umgang mit parallel existierenden Systemen – gesetzliche Eigentumsrechte einerseits, traditionell verankerte Nutzungsrechte andererseits – sowie die Aufarbeitung unrechtmäßiger Landnahmen während der Kolonial- und neueren Geschichte ist häufig ein hart umkämpftes und bei weitem nicht abgeschlossenes Thema. Immer wieder werden daher Moratorien auf großflächige Landverpachtungen gefordert, bis die Frage, wem das Land eigentlich gehört und wie man mit ausländischen Investitionen im Agrarbereich umgehen möchte, in den jeweiligen Gesellschaften geklärt ist. In diesem Kontext erscheint die »Landfrage« wesentlich vielschichtiger als die bloße Klärung von Besitzverhältnissen, denn darüber hinaus geht es um den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, um die Stellung von traditionellen Rechten in der Gesellschaft und nicht zuletzt um die Aushandlung einer »afrikanischen Identität«.

Einerseits wird also eine Verregelung auf internationaler Ebene gefordert, andererseits liegt der Fokus auf den betroffenen Gesellschaften selbst. Der Nationalstaat bleibt jedoch ein wichtiger Akteur: Im einen Fall wird auf die Wirkung internationaler Regelungen gesetzt, die auf nationaler Ebene umzusetzen sind; im anderen Fall sollen die Regierungen »von unten« zum Handeln motiviert werden. Letzteres entspricht dem Gedanken von Ownership in der Prozessgestaltung: Die betroffenen Gesellschaften sollen für sich selbst Regeln erarbeiten und entscheiden, wie sie mit Auslandsinvestitionen in Land umgehen möchten.

Landgrabbing verhindern, sozialen Frieden bewahren

Aktuelle Bestrebungen zivilgesellschaftlicher Akteure, Landgrabbing zurückzudrängen, finden im Spannungsfeld der beschriebenen Debatten statt. Die historische Landnahme während der Kolonialzeit dient immer wieder als Referenzpunkt für die aktuelle Diskussion, wobei daraus nicht automatisch die Ablehnung von Auslandsinvestitionen folgt. Vielmehr wird betont, dass »afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme« benötigt würden und Fehler der Vergangenheit vermieden werden sollten. Auf der Konferenz im Oktober wurde die Afrikanische Koalition gegen Landnahme (African Coalition Against Land Grabs) gegründet und die »Midrand Declaration« verabschiedet. In dieser wird betont, es müsse ein gemeinsamer afrikanischer Weg eingeschlagen werde, um eine »afrikanische« Lösung für das Phänomen zu finden, und zwar auf der Basis des Leitfadens zur Landpolitik der Afrikanischen Union. Adressaten der Forderungen sind in erster Linie nationale Regierungen, aber auch das Panafrikanische Parlament der Afrikanischen Union.

Es geht also um Ownership in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist es zentral, Fragen von Landbesitz und -verpachtung zu klären. Zum anderen muss die Teilhabe betroffener Gruppen an den Verhandlungen und an der Ausgestaltung von Auslandsinvestitionen sichergestellt werden. Diese Forderungen werden auch in den westlichen zivilgesellschaftlichen und akademischen Debatten immer wieder erhoben, die afrikanische Perspektive öffnet den Blick aber für eine weitere Dimension von Ownership: Betroffene Gesellschaften müssen für sich selbst einen Weg finden, mit Landgrabbing umzugehen und Widerstand zu leisten. Hier geht es nicht darum, die wichtige Arbeit von Anti-Landgrabbing-Initiativen auf internationaler Ebene zu unterminieren. Es ist aber zentral, dass sich – wie bereits in vielen Fällen geschehen – auf nationaler und lokaler Ebene Protest gegen Landnahme formiert, der nur durch Ownership im Sinne einer lokalen Gestaltungsmacht effektiv werden kann.

Das Thema drängt

Sollte das Problem Landgrabbing nicht gezielt angegangen werden, könnte das dramatische Folgen haben. Soziale Probleme in den betroffenen Gebieten – von weiter wachsender ökonomischer Ungleichheit über steigenden Urbanisierungsdruck bis hin zu zunehmenden Konflikten in und zwischen lokalen Gruppen – stellen die Gesellschaften vor neue Herausforderungen. Schon jetzt führen Proteste gegen Landgrabbing vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit staatlichen Sicherheitskräften. Auf der Landgrabbing-Konferenz in Johannesburg wurde eindringlich davor gewarnt, dass diese Proteste in Zukunft in gewaltsame Konflikte zwischen Bevölkerung und Regierungen umschlagen könnten, denn eine Verknappung der wichtigen Ressource Land erhöhte insgesamt das Konfliktpotential. Effektiver Protest gegen das Phänomen sowie eine veränderte Landpolitik auf nationaler wie internationaler Ebene wird deshalb als unerlässlich angesehen, um den sozialen Frieden in den betroffenen Ländern Afrikas nicht weiter zu gefährden.

Literatur

Land Matrix – The Online Public Database on Land Deals; landmatrix.org/en/get-the-detail.

Global Witness (2014): Deadly Environment – The Dramatic Rise of Killings of Environmental and Land Defenders 1.1.2002-31.12.2013. London.

Jochen von Bernstorff (2012): »Land Grabbing« und Menschenrechte: die FAO Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure. Duisburg: Institut für Entwicklung und Frieden, INEF Forschungsreihe Menschenrechte, Unternehmensverantwortung und Nachhaltige Entwicklung.

The Midrand Declaration, Made During the First Africa Land Grabs Conference, 28.-29. Oktober 2014; africalandgrabs.co.za.

Anne Hennings ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promoviert zu Auswirkungen von und Widerstand gegen Land- und Ressourceninvestitionen in Nachkriegskontexten. Annette Schramm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen und promoviert zu den Auswirkungen von Landgrabbing in Nachkriegsgesellschaften.

Konfliktfeld Wasser

Konfliktfeld Wasser

Argumente für mehr Kooperation am Nil

von P. Michael Link und Jürgen Scheffran

Die Wasserverteilung zwischen den Anrainerstaaten des Nils war in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand von Streit und Auseinandersetzungen, trotz bestehender Abkommen und einer übergeordneten Initiative zur Kooperation. Das Spannungsverhältnis gründet auf der hydro-hegemonialen Stellung Ägyptens, gegen die in den letzten Jahren der Widerstand deutlich gewachsen ist. Faktoren wie der Klimawandel, die fortschreitende wirtschaftliche Entwicklung und das anhaltende Bevölkerungswachstum können die Spannungen noch verstärken. Vor diesem Hintergrund birgt die Errichtung neuer Staudämme am Oberlauf des Nils weiteres Konfliktpotential. Um dies zu vermeiden, müssten die historischen Ansprüche Ägyptens mit der politischen Realität und den Interessen der Staaten am Oberlauf des Nils in Einklang gebracht werden.

Veränderungen der Umweltbedingungen in der Nilregion durch externe Faktoren, z.B. den Klimawandel oder große Staudammprojekte, wirken sich auf die Verfügbarkeit von Wasser und agrarisch nutzbarem Land aus. Dies wiederum hat Rückwirkung auf die landwirtschaftliche Produktivität, die Wirtschaftskraft der Anrainerstaaten und den Wohlstand der Menschen. Ob die zu erwartende Entwicklung eher zu Konflikten oder zu einer engeren regionalen Zusammenarbeit führt, hängt von politischen Konstellationen ebenso ab wie von der Verwundbarkeit und Anpassungsfähigkeit der betroffenen Länder (Link et al. 2013).

Bereits heute besteht in der Nilregion ein Spannungsverhältnis, das sich aus der historischen Asymmetrie zwischen dem dominanten Ägypten am Unterlauf des Nils und den Staaten des Oberlaufs ergibt. Die hegemoniale Vormachtstellung Ägyptens gründet auf seiner relativen wirtschaftlichen und politischen Macht, die den Diskurs über die Verteilung des Nilwassers maßgeblich geprägt hat. Dabei ist von Bedeutung, dass Ägypten in kolonialer Zeit sehr von der umfangreichen Unterstützung durch Großbritannien profitierte und anschließend von der Sowjetunion unterstützt wurde, was beim Bau des Assuan-Staudamms eine wichtige Rolle spielte.

Ungleiche Wasserverteilung

Das erste Abkommen zwischen Ägypten und Großbritannien über die Verteilung des Nilwassers aus dem Jahre 1929 sichert Ägypten die Entnahme von 48 km3 pro Jahr und dem Sudan vier km3 pro Jahr zu. Die anderen Anrainerstaaten des Nils hatten dieses Abkommen nie anerkannt, dennoch entstand dadurch der Eindruck, die zwei Staaten am Unterlauf hätten quasi ein natürliches bzw. historisches Recht auf das Nilwasser (Cascão 2009).

Im Zuge des Baus des Assuan-Staudamms und der Entstehung des im ägyptisch-sudanesischen Grenzgebiet gelegenen Stausees musste die Wasserverteilung neu geregelt werden. Das bilaterales Abkommen von 1959 gewährte Ägypten 55,5 km3 pro Jahr und dem Sudan 18,5 km3 pro Jahr. Die Verdunstungsverluste betragen rund 10 km3 pro Jahr. Damit bleibt praktisch keine Quote für die Entnahme von Wasser durch die Anrainerstaaten am Oberlauf des Nils bzw. seiner Zubringerflüsse Weißer und Blauer Nil übrig. Dies förderte ein tiefes Zerwürfnis zwischen den Staaten am Oberlauf (Äthiopien, Burundi, Demokratische Republik Kongo, Kenia, Ruanda, Tansania, Uganda, inzwischen als unabhängiger Staat auch Südsudan) und den zwei Staaten am Unterlauf. Ägypten und Sudan wollen die Gültigkeit dieses Abkommens langfristig sichern, während die übrigen Staaten eine Vereinbarung anstreben, die allen Anrainern einen gerechten Anteil am Nilwasser sichert.

Ungeachtet ihrer je eigenen politischen Ziele gründeten sämtliche Nilanrainer im Jahre 1999 die Nile Basin Initiative (NBI), die damit beauftragt wurde, langfristig ein neues Abkommen zur Wasserverteilung zu erarbeiten, das eine nachhaltige sozio-ökonomische Entwicklung der Region ermöglichen soll. Die NBI fördert Kooperationsprojekte und legte 2007 einen ersten Entwurf für ein neues Rahmenabkommen zur Wasserverteilung vor (NBI 2007), dem bereits mehrere Staaten am Oberlauf ihre Zustimmung erteilten. Ägypten und Sudan hingegen lehnen das Abkommen ab, da es ihre Einflussmöglichkeiten auf die Wasserverteilung deutlich einschränkt (Nicol und Cascão 2011). Die Staaten am Oberlauf des Nils fechten die hegemoniale Stellung Ägyptens zunehmend an und arbeiten darauf hin, ihre eigenen Interessen an der Nutzung des Nilwassers durchzusetzen.

Insbesondere der Bau großer Staudämme am Oberlauf kann weitreichende Auswirkungen auf die Wasserverfügbarkeit am Unterlauf und somit auf das Machtgefüge zwischen den Anrainern in der gesamten Region haben. Zusätzlich haben sich durch die jüngsten politischen Entwicklungen in der Region, insbesondere den Arabischen Frühling in Ägypten und die Unabhängigkeit des Südsudan, die politischen Koordinaten verschoben, was den Einigungsprozess weiter erschwert.

Der Grand-Renaissance-Staudamm in Äthiopien

Besondere Aufmerksamkeit kommt in diesem Kontext dem Grand Renaissance Dam am Blauen Nil zu. Dieses Wasserkraftwerk – mit mehr als fünf Gigawatt das größte Afrikas – wird von Äthiopien zwischen 2011 und 2015 mit geplanten Kosten von 4,8 Milliarden US$ errichtet, wobei 1,8 Milliarden US$ von chinesischen Banken finanziert werden. Neben der Wasserspeicherung und -regulierung liegt der Hauptnutzen des Staudamms in der Produktion von Strom, der über neue Übertragungsleitungen auch an Nachbarstaaten geliefert werden soll. Diese Talsperre sowie andere im Bau befindliche Wasserprojekte sind für die wirtschaftliche Entwicklung Äthiopiens und ganz Nordostafrikas von großer Bedeutung (Chen und Swain 2014). Allerdings sind die Folgen des Grand-Renaissance-Projekts nur schwer abschätzbar und gegen den erhofften Nutzen abzuwägen.

Der Grand Renaissance Dam führt zu vielschichtigen Veränderungen, die für die betroffenen ökologischen und sozialen Systeme durchaus problematisch sein können. Signifikante Veränderungen im Fließverhalten und im Wasserhaushalt eines Flusses von der Größe des Nils können zu Rückwirkungen auf das regionale Klima, die Niederschlagsverteilung und die Grundwasserspeicherung führen, die schwer bzw. nicht vorherzusehen sind (Veilleux 2013). Weitere langfristige Veränderungen sind nicht auszuschließen.

Angaben zu den möglichen Auswirkungen auf die Staaten des Unterlaufs führten in der Vergangenheit zu Differenzen zwischen Äthiopien und Ägypten, die oft eher auf politischen Erwägungen als auf wissenschaftlichen Fakten basierten (Yahia 2013). Meist wird für den entstehenden Stausee ein Speichervolumen von rund 63 km3 angegeben. Hydrologische Simulationen mit digitalen Geländemodellen zeigen jedoch, dass das Fassungsvermögen maßgeblich von der Tiefe Sees abhängen wird. Große Wassermengen von bis zu 173 km3 Wasser bei einer Stauseetiefe von maximal 180 m sind nur dann erzielbar, wenn ein zusätzlicher Hilfsdamm errichtet wird, der bei einem Wasserstand von mehr als 100 m ein Überfließen des Stausees in ein benachbartes Becken verhindert (Bastawesy 2014). Diese theoretisch maximal speicherbare Wassermenge entspricht in etwa der eineinhalbfachen Jahresdurchflussmenge des Nils. Das Wasser, das während der Aufstauung gespeichert wird, steht den Staaten am Unterlauf in dieser Phase nicht zur Verfügung, wodurch die strategischen Wasserreserven in den Reservoirs von Ägypten und dem Sudan gefährdet sind.

Vor diesem Hintergrund überrascht die strikte Ablehnung des Bauvorhabens durch Ägypten nicht. Der Nil gilt den Ägyptern nicht nur als lebenswichtige Ressource mit erheblicher wirtschaftlicher Relevanz, sondern hat aufgrund der mehrere Jahrtausende zurückreichenden Geschichte auch eine hohe symbolische Bedeutung: Der Nil ist die Lebensader Ägyptens (Gebreluel 2014) – allerdings trifft dies auch auf Äthiopien zu, dessen Hochland den Blauen Nil speist und das in der Nutzung des Nils ebenfalls einen Schlüssel sieht, um seine Unterentwicklung zu überwinden. In Ägypten wird der Bau des Staudamms auf politischer Ebene von verbalem Säbelrasseln begleitet, das bis zur Androhung militärischer Gewalt reicht (Naceur 2013). Allerdings scheint die strikte Ablehnung des Bauvorhabens zum Teil auf einer Fehleinschätzung der Risiken für die Staaten am Unterlauf des Nils zu beruhen (Whittington, Waterbury and Jeuland 2014). Während Ägypten eine Verringerung seiner Wassermenge und Auswirkungen auf den Assuan-Staudamm befürchtet (Mulat und Moges 2014), argumentiert die Regierung Äthiopiens, durch den Staudamm werde die Verfügbarkeit des Wassers im Unterlauf nicht reduziert, sondern die Regulierung der Bewässerung vielmehr erleichtert.

Es darf bezweifelt werden, dass die martialischen Drohungen Ägyptens der Sicherung seiner Wasserressourcen wirklich dienlich sind. In der Vergangenheit war Wasser selten ein Auslöser für internationale Krisen oder bewaffnete Konflikte, weder in der Nilregion noch an anderen Flussläufen (Wolf 1998). Ein Krieg um den Nil wäre für Ägypten überdies nicht finanzierbar und der Ausgang zweifelhaft (Gebreluel 2014).

Deutlich billiger und Erfolg versprechender für die betroffenen Staaten sind kooperative Lösungen. Ein grundlegender Aspekt ist dabei die Frage, wer wieviel Wasser des Nils in welchen Reservoiren speichern darf. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Mit einem Abkommen, das die Fassungsvermögen sämtlicher Reservoire in der Nilregion berücksichtigt, kann die Grundlage für eine gerechte Verteilung des Nilwassers geschaffen werden, auf deren Basis dann weiterführende Kooperation zwischen den Anrainerstaaten möglich ist (Bastawesy 2014).

Vielschichtige Interessenlagen

Neben der Umwelt werden von derartigen Großprojekten vielfältige wirtschaftliche, politische und kulturelle Interessen berührt. Dies gilt insbesondere für die Menschen, die im Zuge des Staudammbaus ihre angestammten Wohnorte verlassen müssen und sich in einem vollkommen anderen sozialen Umfeld wiederfinden (Veilleux 2013). Dies kann zu unvorhersehbaren Reaktionen führen, wenn die Anpassungsfähigkeit der betroffenen Gemeinschaften überschritten wird. Solche Unwägbarkeiten bestärken Zweifel an der Nachhaltigkeit des Grand-Renaissance-Projektes (Chen and Swain 2014) ebenso wie an der Art und Weise, in der Äthiopien das Projekt vorantreibt. In der Kritik stehen vor allem die fehlende Transparenz bei wichtigen Entscheidungen zum Bauvorhaben sowie die mangelhafte Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsrichtlinien der World Commission on Dams (2000), insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Akzeptanz des Projektes sowie die Sicherung der Lebensgrundlagen betroffener Menschen (Chen and Swain 2014).

Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Staudammbaus sind nur schwer zu prognostizieren. Bei der Planung blieben beispielsweise die Effekte möglicher Klimaänderungen in der Region bislang unberücksichtigt (Block und Strzepek 2010). Die Profite aus der Energiegewinnung sowie die Abflussmengen in den Unterlauf des Nils werden hingegen meist überschätzt. Unter Berücksichtigung des bereits zu beobachtenden veränderten Auftretens des El-Niño-Wetterphänomens, das sich maßgeblich auf die Niederschlagsverteilung in der Nilregion auswirkt, kommt es in einzelnen Szenarien sogar dazu, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Staudamms negativ ausfällt, da selbst im Falle der Vorhersagbarkeit von Dürreperioden in solchen Zeiten ein kostendeckender Betrieb nicht gewährleistet werden kann.

Trotz Unsicherheiten mehr Chance als Risiko?

Ungeachtet der Probleme zeigen Untersuchungen, dass sich der Bau des Grand Renaissance Dam sowohl für Äthiopien als auch für Ägypten und Sudan vorteilhaft auswirken kann (Veilleux 2013; Whittington et al. 2014), allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Zum einen müssen zwischen Äthiopien und den beiden Staaten des Unterlaufs Regeln für das Füllen und den Betrieb des zum Grand Renaissance Dam gehörigen Stausees vereinbart werden, die klar festlegen, wie in Dürrezeiten zu verfahren ist. Zum anderen müsste Ägypten seinen Widerstand gegen den Staudamm aufgeben und es zulassen, dass Äthiopien und der Sudan ein Abkommen über den Transfer der Wasserenergie treffen, denn nur dann ist der Staudamm langfristig finanzierbar. Der Sudan würde vom Import der Hydroenergie profitieren und hat daher ein Interesse an einer solchen Win-Win-Situation. Es wäre ein Meilenstein, sollte es Äthiopien gelingen, den Sudan und Ägypten zu einem gemeinsamen Management der Nilreservoire zu bewegen (Chen and Swain 2014).

Sobald der Grand Renaissance Dam fertig gestellt und in Betrieb genommen ist, könnte sich die langfristige Rivalität zwischen Ägypten und Äthiopien grundlegend verändern (Gebreluel 2014). Stand bislang der Disput über das Wasser des Nils zwischen diesen beiden Staaten im Mittelpunkt, wird dann mehr Kooperation in der Region wahrscheinlicher, was auch zur Stabilisierung von Staaten wie Somalia und Eritrea beitragen kann.

Langfristig wird Ägypten seine Position als Hydro-Hegemon in der Nilregion nicht aufrechterhalten können. Es wird notwendig sein, auf die anderen Anrainerstaaten zuzugehen und die bislang häufig praktizierte Blockadehaltung aufzugeben, um kooperative Lösungen zu ermöglichen, die allen Parteien nützen (Chen and Swain 2014). Ohne diesen Schwenk in der ägyptischen Wasserpolitik wird es nicht möglich sein, ein nachhaltiges und langfristig tragfähiges institutionelles Regime für das gemeinsame Wassermanagement aufzubauen. Nur mit einer gerechten Verteilung der wertvollen Ressource Wasser in der Nilregion können Frieden, internationale Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität gesichert werden.

Literatur

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P. Block and K. Strzepek (2010): Economic analysis of large-scale upstream river basin development on the Blue Nile in Ethiopia considering transient conditions, climate variability, and climate change. Journal of Water Resources Planning and Management, 136(2), S.156-166.

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P.M. Link, F. Piontek, J. Scheffran and J. Schilling (2013). On foes and flows: vulnerabilities, adaptive capacities and transboundary relations in the Nile river basin in times of climate change. L’Europe en formation(3), S.99-138.

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D. Whittington, J. Waterbury and M. Jeuland (2014): The Grand Renaissance Dam and prospects for cooperation on the Eastern Nile. Water Policy, 16(4), 595-608.

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World Commission on Dams. (2000): Dams and development: a new framework for decision-making. London: Earthscan Publications Ltd.

M. Yahia (2013): Leaked report sparks disagreement between Egypt and Ethiopia over dam. Nature Middle East. doi: 10.1038/nmiddleeast. 2013.99

Dr. P. Michael Link ist PostDoc bei der Research Group Climate Change and Security (CLISEC) am KlimaCampus Hamburg. Prof. Dr. Jürgen Scheffran leitet CLISEC und unterrichtet am Institut für Geographie der Universität Hamburg.