Es geht gar nicht um Mali!

Es geht gar nicht um Mali!

Eine kritische polit-ökonomische Analyse des Bundeswehreinsatzes1

von Michael Berndt

Der Bundeswehreinsatz in Mali steht immer wieder im Brennpunkt öffentlicher Debatten. Häufig geht es in diesen Debatten jedoch um Terrorbekämpfung oder Mandatsfragen. Selten werden die dem Einsatz zugrunde liegenden Interessen thematisiert. Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung sind diese Interessen jedoch als Basis militärisch gewaltsamer Politik aufzudecken, um zu einem Wandel sowohl der Interessen als auch der Politik beizutragen. Dazu kann Ekkehart Krippendorffs polit-ökonomischer Ansatz zur Analyse inter­nationaler Beziehungen herangezogen werden. Die Konsequenzen einer solchen Politik und Analyse stehen im Fokus dieses Beitrags.

Seit 2013 beteiligt sich die Bundeswehr an der UNO-Mission MINUSMA und der militärischen Ausbildungsmission der Europäischen Union EUTM in Mali. Aus Ekkehart Krippendorffs materialistischem Ansatz, dass die Staaten in ihren Handlungen objektive Interessen verfolgen, die in der Organisation der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen begründet sind, könnte man schließen, dass der Bundeswehreinsatz in Mali objektiven ökonomischen Interessen Deutschlands folgen müsste. Nur: Die Anteile Malis am deutschen Im- und Export sind verschwindend gering. Es gibt auch keinerlei Waren aus Mali, auf die die deutsche Ökonomie angewiesen wäre, und deutsche Direktinvestitionen in Mali gibt es nahezu auch keine. So erscheint der Gedanke an die Dominanz der objektiven Interessen Deutschlands beim Militäreinsatz in Mali ziemlich abwegig. Dennoch möchte ich bei Krippendorffs Herangehensweise bleiben. Ein Rückbezug auf einen Ansatz aus den 1960er und 70er Jahren wirkt vielleicht anachronistisch, denn sowohl die Friedensforschung als auch die politische Ökonomie haben sich seitdem weiterentwickelt. Allerdings – so die These – öffnet Krippendorffs Herangehen eine neue Perspektive auf die aktuelle deutsche Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik, wie sie bisher so noch nicht im Blick war.

I) Krippendorffs materialistischer kritischer Friedensforschung

Ekkehart Krippendorff geht in seinem Ansatz (vgl. Berndt 2021) davon aus, dass Militär, Krieg und Rüstung Mittel des Staates zur Ausdehnung von Märkten und Direktinvestitionen oder auch dem Erschließen von Rohstoffquellen sind – also der ständigen Reproduktion von Wachstum durch die »politischen Eliten« dient (Krippendorff 1975, S. 30). In Konkurrenz mit anderen staatlich verfassten Gesellschaften im Rahmen des kapitalistischen Weltmarktes ist Militär also ein normales Mittel.

Die Politik der Staaten basiert auf objektiven Interessen, die ihre Wurzeln in den Reproduktionsbedingungen haben. Deshalb hat eine Analyse von Außenpolitik bei der gesellschaftlichen Struktur zu beginnen und die objektiven Interessen herauszuarbeiten (Krippendorff 1963, S. 246). Diese Interessen sind objektiv vorhanden, egal wie und ob sie von den Handelnden artikuliert werden (siehe dazu z.B. auch Senghaas 1993, S. 469). Eine Nichtbeachtung der objektiven Interessen durch die Handelnden bedroht letztlich aber die konkreten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen und damit auch die politische Herrschaft. Erst wenn die objektiven Interessen herausgearbeitet sind, kann die Frage gestellt werden, warum im konkreten Fall auf militärische Mittel gesetzt wird.

II) Objektive, deutsche Interessen?

2018 betrug das BIP Deutschlands laut statistischem Bundesamt 3.386 Mrd. Euro. Dabei wurden Waren im Wert von 1.089,6 Mrd. Euro importiert und von 1.317,9 Mrd. Euro exportiert. Das zeigt, dass die bundesdeutsche Ökonomie sehr stark vom Außenhandel abhängig ist, ja dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ganz zentral vom Exportüberschuss lebt. Betrachtet man nun diesen Außenhandel genauer, hier also die wertmäßig stärksten Branchen, die zusammen für 50 % des Außenhandels verantwortlich sind, so fällt auf, dass es im Im- und Export jeweils die gleichen Branchen des produzierenden Gewerbes (56,45 % des Exports und 43,4 % des Imports) sind: Kraftwagen und Kraftwagenteile, Maschinenbau, Chemische Erzeugnisse, elektrische und optische Erzeugnisse.

Nicht nur, dass also der Außenhandel (und hiermit auch der Exportüberschuss) vom produzierenden Gewerbe bestimmt wird, das produzierende Gewerbe ist auch bezüglich der Beschäftigten (14,8 %) und des Anteils an der Bruttowertschöpfung (30,38 %) zentral. In den für den Export relevanten Branchen waren 2017 nur 1,3 % der Unternehmen in Deutschland aktiv, sie beschäftigten aber 10,7 % der Arbeitskräfte, tätigten 18,1 % des Umsatzes und trugen mit 18,1 % zur Bruttowertschöpfung bei. Gerade der Automobilindustrie kommt hier eine herausragende Rolle zu.

Betrachtet man nun die Importe und Exporte 2018 nach Herkunft bzw. Zielstaaten und gehandelten Waren, so ist feststellbar, dass die EU-Staaten die Basis des deutschen Außenhandels sind. 59,08 % der Exporte gingen in die EU und 57,18 % der Importe kamen aus der EU – dabei aus Frankreich 7,99 % der Exporte und 5,98 % der Importe und aus den Niederlanden 6,92 % der Exporte und 9,01 % der Importe.

Noch etwas ist hier feststellbar: 68,15 % des bundesdeutschen Außenhandelsüberschusses wird im Handel mit den anderen EU-Staaten erwirtschaftet, darin enthalten 17,60 % mit Frankreich, die sich nur leicht von den 21,41 % im Handel mit den USA unterscheiden. D.h. die deutsche Ökonomie ist extrem abhängig vom innereuropäischen Handel und Warenfluss und darin v.a auch von Frankreich.

Importe in die Sahelstaaten: europäische Verflechtungen

Damit richtet sich der Blick auf den Handel mit Mali bzw. den Staaten der Sahel-Region, hier den sogenannten G5-Sahel (Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger, Tschad). Betrachtet man zunächst die Exporte 2018 in die G5-Sahel, so sieht es bei Frankreich und den Niederlanden ähnlich aus wie für Deutschland. Die Werte sind, gemessen an den Gesamt­exporten, eher marginal und kommen nicht über 0,066 % (Anteil des Exports Frankreichs nach Mali am Gesamtexport Frankreichs) hinaus. Deutschlands Export nach Mali machte 2018 nur 0,008 % des gesamten deutschen Exportes aus. Nun ist zwar eine tendenzielle Steigerung sichtbar – von 0,0069 % in 2010 auf 0,012 % im Jahr 2017. Daraus einen zu sichernden Exportmarkt abzulesen, wäre aber gewagt.

Betrachtet man, welche Bedeutung die drei genannten EU-Staaten 2018 für die Importe in die G5-Sahel Staaten hatten, sehen die Zahlen schon anders aus. Hier ist festzuhalten, dass von den drei europäischen Staaten Frankreich dominiert. Der Import des Tschad wird zu knapp 12 %, Nigers zu ca. 11 %, Malis zu 10 %, Burkina Fasos zu 8 % und Mauretaniens zu 6,5 % von Waren aus Frankreich bestimmt, allerdings oft auch überholt z.B. von der VR China, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch der Elfenbeinküste. Nur für Niger war Frankreich der größte Importeur und das einzige EU-Land, das in den G5-Sahel-Staaten relevante Anteile am Import hatte, die aber im Vergleich zum gesamten französischen Außenhandel wiederum eher marginal waren.2

Französische Dominanz

Was 2018 nicht mehr auffiel, aber 2017 ins Auge sprang, war der Wert (45 %) für den Anteil Frankreichs am Export des Nigers. Davon bestanden 98 % aus radio­aktiven Chemikalien bzw. Uran, womit Niger mit einem Anteil von 32 % am Uran­import Frankreichs wichtigster Lieferant war. Und dies auch schon über die letzten Jahre. Obwohl Uran 2017 nur einen Anteil von 2,24 % am französischen Import ausmachte, ist es doch wichtig für die französischen Kernkraftwerke und Atomwaffen. Frankreich hat also gerade am Niger und seinen Uranvorkommen ein massives Interesse, auch wenn es sich an dieser Stelle seit 2017 relativiert hat. Hier ist aber festzuhalten, dass die Uran-Verbindung zwischen Niger und Frankreich noch eine Besonderheit aufweist, die die These von Frankreichs objektiven Interessen in der Region untermauert. Nicht nur, dass Frankreich Uran aus Niger importiert. Das Uran wird in Niger auch vom französischen Unternehmen Orano (früher Areva) abgebaut. Dazu kommt, dass Orano mehrheitlich im Besitz des französischen Staates ist, was das ökonomische Interesse auf die Politik durchschlagen lässt.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun noch die Direktinvestitionen Frankreichs (auch im Vergleich mit Deutschland) in der Region, wird das französische Interesse noch deutlicher: Während französische Firmen in Nord- und Subsaharaafrika (ohne Südafrika) 2016 ca. 40 Mrd. US$ investierten, dürften die deutschen Investitionen kaum die 5 Mrd. US$ Linie erreicht haben (Heinemann 2018). Eine Suche nach Unternehmen, die in Afrika in größerem Rahmen investiert haben, fördert ein ganzes Bündel an französischen Unternehmen zutage (siehe z.B.: International Finance Corporation 2018, S. 14). Deutsche Unternehmen sind hier kaum gelistet (ebd.).

Die Masse an französischen Unternehmen ergibt sich aber nicht nur daraus, dass in vielen der Staaten Französisch eine Amtssprache ist und sie (nur) früher französische Kolonien waren, sondern auch über ihre Währung, den CFA-Franc, der früher an den Franc und heute an den Euro gekoppelt ist. Damit verfügen französische Unternehmen historisch gewachsen „über ein kommerzielles Quasimonopol in der Franc-Zone“ (Mbaye 2014, S. 17).

Damit noch nicht genug: Im Rahmen der CFA-Konstruktion mussten die CFA-Staaten 50 % ihrer Währungsreserven in Frankreich – nicht etwa bei der Zentralbank, sondern beim Finanzministerium hinterlegen (Koddenbrock 2019, S. 140). Der französische Staat konnte schließlich „diese Reserven (mehrere zehn Milliarden Euro) in Schatzanweisungen investieren, die wiederum als Sicherung für Kredite dienen, mit denen er sein eigenes Haushaltsdefizit finanziert“ (Mbaye 2014, S. 18). 2019 wurde die Hinterlegungsverpflichtung für die Mitglieder des westafrikanischen CFA abgeschafft (Tull 2022, S. 2), doch behielt die französische Regierung noch diverse Kontrollmöglichkeiten (Pigeaud und Sylla 2022, S. 59f.).3

Dazu kommt abschließend noch die schwer zu quantifizierende Zahl der in der Region lebenden Französ*innen (Ehrhart 2021, S. 200) – teilweise als Angestellte der französischen Unternehmen, teilweise aber auch als Privatpersonen, z.B. Hotelbetreiber*innen –, die sich letztlich auf den Schutz durch den französischen Staat berufen können.

Während Frankreich also massive objektive ökonomische Interessen in der Region hat und diese ausbaut, gibt es kaum vergleichbare objektive Interessen Deutschlands in der Sahel-Region. Wohl aber hat Deutschland objektive Interessen an der EU und Frankreich, die sich in den Außenhandelsüberschüssen Deutschlands gegenüber der EU und Frankreich manifestieren. Für Frankreich besteht das Interesse an Deutschland, neben der Kooperation zum Funktionieren der EU, gerade auch darin, dass Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse gegenüber Frankreich kompensiert. Sollte der Mali-Einsatz der Bundeswehr also Teil dieser Kompensation sein, dann ist festzuhalten, dass es für Deutschland bei dem Einsatz nicht um Mali oder die Lage im Sahel geht.

III) Die Bundeswehr als Mittel deutscher Außenpolitik

Bleibt die Frage, warum diesem Interesse gerade mit dem physischen Gewaltinstrument der deutschen Politik, der Bundeswehr, gefolgt wird und nicht anders. Diese Frage stellt sich auch allein ökonomisch: Der Bundeswehreinsatz in Mali kostete allein im Jahr 2018 satte 286 Mio. Euro (Deutsche Welle 2019), während die Bundesrepublik in den drei Jahren zwischen 2015 und 2017 nur 131 Mio. Euro an staatlichen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit mit Mali aufgewendet hat (Kane und Köpp 2020).

Hier lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Die Mär, dass die Bundeswehr damals nur den Zweck hatte, die Bundesrepublik im NATO-Bündniskontext zu verteidigen, konnte schon insofern relativiert werden, dass das Einbringen der Bundeswehr in internationale Kooperationen immer dem Ziel diente, den bundesdeutschen Einfluss sowohl auf die konkrete Form der (Bündnis-)Verteidigung als auch auf außenpolitische Fragen zu vergrößern (Berndt 1997, S. 135ff). In diesem Kontext ist die bundesdeutsche Strategie zu verstehen, in Kooperation mit Frankreich schon ab den 1980er Jahren dem europäischen Integrationsprozess eine militärische Komponente zu geben (ebd.). Das »Glück« bei dieser Strategie im Ost-West-Konflikt bestand darin, dass Kampfeinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen waren, zu groß war auch das Misstrauen der europäischen Partner, gerade auch Frankreichs – noch bis zur Vereinigung 1990 (siehe: Ruf 2020, S. 28f.). Davon ausgenommen war natürlich der Fall, wenn es zu einem heißen Krieg zwischen NATO und WVO gekommen wäre, aber der blieb aus. Diese Strategie wurde auch nach dem Ost-West-Konflikt (siehe: Berndt 1997) und auch unter Rot-Grün (siehe: Berndt 2001) fortgesetzt. Jedoch wurde es fortan immer schwieriger, das Ziel zu verfolgen, über militärische Beteiligung außenpolitischen Einfluss im Interesse der deutschen Ökonomie zu erhalten, sich dabei aber aus Kampfeinsätzen herauszuhalten. Erst recht, wenn man diese prinzipiell auch gar nicht (mehr) ablehnte, ja gar die Bundeswehr (bei allen Mängeln) zu diesem Zweck umbaute. Unter diesen Bedingungen wurde es schließlich auch zunehmend schwieriger, sich entsprechenden Anliegen von Verbündeten – und für den Fall Malis konkret gesprochen 2013 eben dem Anliegen Frankreichs – zu widersetzen.

Gerade im Kontext der Europäischen Union waren es ja immer wieder die bundesdeutschen und die französischen Regierungen (egal welcher Couleur), die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht nur eine Stärkung der Rolle der EU in der Welt forderten, sondern diese Stärkung auch dezidiert mit einem Ausbau der eigenständigen militärischen Fähigkeiten der EU verbanden.4 Neben den Vorhaben im Kontext der EU (siehe: Aust 2019) sind auch noch die deutsch-französischen »Sonderbeziehungen« zu berücksichtigen. Ein Ausdruck davon manifestierte sich u.a. zum 56. Jubiläum des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages von 1963 – der auch schon eine verstärkte militärische Kooperation anvisierte – am 22.1.2019 im sogenannten »Aachener Vertrag«. Es ist durchaus beachtenswert, dass in diesem Dokument „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ direkt in Verbindung mit Verteidigung und der Rolle Europas gebracht werden (Art. 3) und Afrika zu einem gemeinsamen Interessensgebiet erklärt wird (Art.7). Sind die Interessen Deutschlands in Afrika aber eher unklar, liegen die französischen auf der Hand.

Das Problem für die französischen Regierungen stellt sich jedoch dergestalt dar, dass das französische Militär nicht fähig ist, in größerem Umfang Militäreinsätze durchzuführen (siehe auch: Kempin 2017, S. 264). Dies zeigt sich unter anderem am Libyen-Krieg 2011/12. Hier drängten zwar die britische und die französische Regierung auf ein militärisches Eingreifen und sie waren die ersten, die militärisch aktiv wurden (Lindström und Zetterlund 2012, S. 17ff.), doch zu Ende führen konnten sie dies nur unter Mithilfe der USA. Ähnlich sieht es im Sahel aus: Die französische Regierung braucht die Unterstützung anderer EU-Mitglieder und vor allem Deutschlands, um seine Interessen durchzusetzen.

IV) Die Lage in Mali bzw. in der Sahel Region

Die Lage in Mali im Konkreten und in der gesamten Sahel-Region allgemein ist 2022, also zehn Jahre nach Beginn der französischen Intervention, weit schwieriger als noch 2012. Nicht nur der Rückhalt für die französischen und westlichen Truppen im Sahel schwindet zunehmend (Sembdner 2020).

Auf der einen Seite zeigt die bisherige militärische Strategie kaum Wirkung und weder »Frieden« noch »Entwicklung« sind in Sicht. Dazu kommen in Mali und zuletzt in Burkina Faso die Putsche, die Aussetzung der Demokratie und die Präsenz russischer Ausbilder und Angehöriger der russischen (Söldner-)Gruppe Wagner in Mali (Dörries 2022) und evtl. perspektivisch auch in Burkina Faso (Perras 2022). Auf der anderen Seite steht das Drängen Frankreichs, auch in Richtung Bundesrepublik (Szymanski 2020), sich verstärkt an militärischen Aktionen zu beteiligen (siehe auch Reuß 2021). Die deutsche Bekundung, dass die Entwicklung in der Sahel-Region im deutschen Interesse sei (Kramp-Karrenbauer 2019), macht es – neben den ökonomischen Interessen des fortgesetzten Außenhandels mit Frankreich – für die Bundesrepublik immer schwieriger, sich zurückzuziehen bzw. umzuschwenken.

Die französische – und in diesem Sinne auch die europäische – Strategie im Sahel ist aber in allen Punkten gescheitert (siehe auch Leymarie 2021): Terrorismusbekämpfung, Frieden, Demokratie, Entwicklung, Fluchtursachenbekämpfung, Stabilität – in allen Bereichen sind keine Fortschritte oder Erfolge zu vermelden. Anstatt sich, wie Frau Kramp-Karrenbauer (2019) vorschlug, verstärkt militärisch zu engagieren, wäre ein grundsätzlicher Wandel der französischen, europäischen und deutsche Strategie notwendig (siehe dazu: Kinzel 2020). Das Problem: Frankreich setzt aufgrund seiner objektiven Interessen in der Region auf militärische Terrorismusbekämpfung, in Kooperation mit durchaus kritikwürdigen Regimen. Und Deutschland beteiligt sich daran, vor dem Hintergrund seiner objektiven Interessen an seiner Außenhandelsstruktur mit Frankreich und der EU.

V) Fazit

Auf der Basis des Krippendorff’schen Ansatzes konnte aufgezeigt werden, dass gerade die objektiven Interessen Deutschlands an einer funktionierenden EU als zentraler Region für den bundesdeutschen Export(-überschuss) und das chronische französische Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland zentrale „übergeordnete Gründe (Wiedemann 2018, S. 9) für die Entscheidung für den Mali/Sahel-Einsatz der Bundeswehr gewesen sein dürften. Nun ist anvisiert, dass die Bundeswehr bis 2024 aus Mali abzieht. Die EUTM Truppen sind auch schon abgezogen, allerdings nur nach Niger. Auch dort ist Frankreich nach seinem Abzug aus Mali militärisch weiter im Sahel präsent (Krüger 2022).

Nun treffen die Thesen aus Krippendorffs Ansatz aus den 1970er Jahren auf neue Verhältnisse, die von europäischer Integration, Globalisierung und Liberalisierung geprägt sind. Hier bedarf es einer Aktualisierung. Es gibt zwar immer noch, wie am Beispiel Frankreichs sichtbar, objektive Interessen an bestimmten Regionen, die nicht zum Kreis der westlichen Industriestaaten zählen. Es gibt aber auch dominante objektive Interessen, wie im Fall Deutschlands, die sich genau auf die Haupthandelspartner in der Welt der westlichen Industriestaaten richten. Hier kommt nun das Gefüge mittelbarer objektiver Interessen zum Einsatz.

Objektives Interesse Deutschlands (und auch Frankreichs und der Niederlande) ist es, den verflochtenen Welt- und EU-Markt als Export- wie als Importmarkt zu erhalten, was bei der Durchsetzung zur Folge haben kann, Militär einzusetzen und sich damit an Kriegen zu beteiligen, wo selbst nur mittelbare objektive Interessen vorhanden sind. Ein solches Modell vermittelter objektiver Interessen kann helfen, heutige Bündniseinsätze der Bundeswehr v.a. im Rahmen westlicher Allianzen zu entschlüsseln.

Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung ist die Rolle von Militär als gewaltsamem Mittel der Außenpolitik zu thematisieren. Während für Frankreich hier nahezu die klassische Annahme (mit Militär objektive Interessen durchzusetzen) adäquat erscheint, trifft dies im Sahel so für Deutschland nicht zu. Wie aber die Diskussion der bundesdeutschen militärpolitischen Strategie gezeigt hat, benutzten alle Bundesregierungen die Bundeswehr als eine »Karte« unter anderen, um sowohl ihren Anspruch an Mitsprache als auch ihre Bereitschaft zur Kooperation (weit über den militärischen Bereich hinaus) zu signalisieren, letztlich auf der Basis der mittelbaren objektiven Interessen.

In der verflochtenen europäischen und globalen Ökonomie und auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wird Militär – wenn man ihm nicht fundamentalkritisch gegenüber steht (Berndt 2013) – zu einem multifunktionalen Instrument der Wahrung dieser objektiven Interessen.

Wenn nun mit diesem Herangehen herausgearbeitet werden konnte, dass Deutschlands objektive Interessen, auch wenn sie nicht auf das Einsatzgebiet gerichtet sind, dazu führen, dass Bundesregierungen die Bundeswehr in Kampfeinsätze schickt, dann wäre es für eine deutsche Friedenspolitik an der Zeit, an der Struktur der objektiven Interessen und den Reproduktionsbedingungen anzusetzen. Tragen diese doch nicht nur dazu bei, sich in »Sachzwänge« zu manövrieren, in denen Militär und das Leben von Soldat*innen »Spieleinsätze« sind in einem Spiel aus dem man nicht mehr – ohne politischen Schaden – herauszukommen scheint. Mit der besonderen Basis der bundesdeutschen Reproduktionsbedingungen, der gesamtökonomischen Dominanz der Automobilindustrie, tritt hier noch ein massives Problem zutage: Gerade der verbrennungsmotorbasierte Individualverkehr und seine Reproduktionsbedingungen sind für einen Großteil der ökologischen Pro­bleme mit verantwortlich, die im Sahel zu den sozialen und politischen Problemen führen, die als Gründe angeführt werden, um dort wiederum europäisches Militär einzusetzen (siehe vertiefter: Berndt 2023).

Anmerkungen

1) Dies ist eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung meines Beitrages zur DVPW-Tagung »Von Wertschöpfungsketten und Sicherheitsapparaten: Zur Beziehung von Ökonomie und Gewalt in den deutschsprachigen Internationalen Beziehungen«.

2) Aber: Frankreich, das insgesamt immer Handelsdefizite erwirtschaftete, konnte zumindest gegenüber den G5-Sahel einen Überschuss geltend machen.

3) Zur neokolonialen Abhängigkeit der CFA-Staaten siehe auch Afoumba 2022 (W&F 2/2022).

4) Die britischen Regierungen (egal welcher Couleur) standen diesem Ansinnen immer skeptisch gegenüber. Mit dem Ausgang des Brexit-Referendums hat sich die Möglichkeit der britischen Regierungen erledigt, hier bremsend zu wirken.

Literatur

Afoumba, D. (2022): »Freiwillige« Kolonialisierung? Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika. W&F 2/2022, S. 38-41.

Aust, B. (2019): Der Europäische Verteidigungsfonds. Ein Rüstungsbudget für die „Militärunion“. W&F 1/2019, S. 43-45.

Berndt, M. (1997): Deutsche Militärpolitik in der „neuen Weltunordnung“. Zwischen nationalen Interessen und globalen Entwicklungen (Agenda Resultate: 5); Münster: Agenda Verlag.

Berndt, M. (2001): Wer mitreden will, muß mitschießen können. Teil II: die „rot“-“grüne“ Variante. antimilitarismus information 31(12), S. 65-67.

Berndt, M. (2013): Militärkritik muss Fundamentalkritik sein, um kritisch zu bleiben. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 31(3), S. 157-162.

Berndt, M. (2021): Der polit-ökonomische Ansatz der Kritischen Friedensforschung von Ekkehart Krippendorff. Die Friedens-Warte 94(1-2), S. 30-44.

Berndt, M. (2023): Objektive Interessen in der deutschen Außenpolitik. Eine kritische Analyse. Wiesbaden: Springer (im Druck).

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Dörries, B. (2022): Wagner in Timbuktu, in Süddeutsche Zeitung, 8.1., S. 6.

Ehrhart, H.-G. (2021): Frankreichs Politik im westlichen Sahel. In: Heß, J.; Lutz, K.-H. (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte: Mali und westlicher Sahel. Leiden u.a.: Brill, Schöningh, S. 199-207.

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International Finance Corporation (2018): Trends in FDI and cross-border investments in compact with Africa countries – Interim Monitoring Report. Washington, DC.

Kane, M.; Köpp, D. (2020): Mali: Keita freigelassen, G5 fordern zivile Übergangsregierung. Deutsche Welle, 27.8.2020.

Kempin, R. (2017): Frankreichs Weltpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bürger & Staat 67(4), S. 260-265.

Kinzel, W. (2020): Mali, der Terror im Sahel und Covid-19. Das neue Bundeswehr-Mandat für die Beteiligung an MINUSMA. SWP-Aktuell 27/2020. Berlin.

Koddenbrock, K. (2019): Geld, Weltmarkt und monetäre Dependenz: Was uns die Franc CFA Zone über kapitalistisches Geld sagt. PROKLA 49(1), S. 137-156.

Kramp-Karrenbauer, A. (2019): „Die Sicherheit in der Sahelzone ist Teil unserer Sicherheit“ (Interview). Süddeutsche Zeitung, 7.11.2019, S. 2.

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Krüger, P.-A. (2022): Dann eben Niger. Süddeutsche Zeitung, 24.11.2022, S. 6.

Lindström, M.; Zetterlund, K. (2012): Setting the stage for the military intervention in Libya. Decisions made and their implications for the EU and NATO. Försvarsdepartementet/ Verteidigungsministerium Schweden. Report: FOI-R–3498–SE; o.O.: Oktober 2012.

Mbaye, S. (2014): Währung ohne Zukunft. Die westafrikanische Franc-Zone ist eine Fehlkonstruktion. Le Monde Diplomatique 20(11), S. 17-18.

Perras, A. (2022): Meuterei in Ouagadougou. Süddeutsche Zeitung, 25.1.2022, S. 7.

Pigeaud, F.; Sylla, N. S. (2022): Der CFA-Franc. Aus Politik und Zeitgeschichte 72(18-19), 2.5.2022, S. 57-62.

Reuß, A. (2021): Kampf um die Wüste. Süddeutsche Zeitung, 18.2.2021, S. 7.

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Sembdner, I. (2020): Mali geht eigenen Weg. junge welt, 14.2.2020, S. 6.

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Szymanski, M. (2020): Angebot mit Haken. Süddeutsche Zeitung, 8.4.2020, S. 5.

Tull, D. M. (2022): Frankreichs Afrikapolitik unter Präsident Macron. Zwischen Reformen, Public Diplomacy und unfreiwilliger politischer Zäsur. SWP-Aktuell 62/2022. Berlin.

Wiedemann, Ch. (2018): Viel Militär, weniger Sicherheit. Mali – fünf Jahre nach Beginn der Intervention. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.

Dr. habil. Michael Berndt ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Oberstudienrat an einer nordhessischen Schule. Er ist Mitglied im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK.

Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Wirtschaftlicher Zwang für politische Ziele

Boykotte und Sanktionen als Instrumente der internationalen Politik

von Julia Grauvogel und Christian von Soest

Westliche Staaten – allen voran die USA und EU-Mitgliedsländer – haben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine Sanktionen in ungekannter Härte gegen ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats verhängt. Die Zwangsmaßnahmen haben die Diskussion über die Wirkung von Sanktionen als Instrumente des Konflikt- und Kriegsmanagements neu belebt. Oft verbinden Politiker*innen und die Öffentlichkeit jedoch übersteigerte Erwartungen mit Sanktionen: Sie sind nur eines von mehreren außenpolitischen Instrumenten, das immer im Zusammenspiel mit Diplomatie sowie unter Umständen militärischer Gewalt wirkt.

Sanktionen werden von internationalen Organisationen, Regional­organisationen oder Staaten gegen andere Staaten, Terrorgruppen oder Einzelpersonen verhängt. Artikel 41 der UN-Charta sieht explizit vor, dass der UN-Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen verhängen kann, wenn eine Gefahr für Frieden und Sicherheit in der Welt besteht. Dies macht deutlich, weshalb UN-Sanktionen im Fall des Angriffs der Vetomacht Russland von vornherein unrealistisch waren, schließlich kann das ständige Mitglied im Sicherheitsrat jede Resolution blockieren. Gemäß der UN-Charta können Regionalorganisationen ebenfalls Sanktionen aussprechen. Für die EU sind eigenständige »restriktive Maßnahmen« ein zentrales Mittel ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Äußerst aktiv bei der Sanktionsanwendung ist zudem die Afrikanische Union, die als Reaktion auf Staatsstreiche zahlreiche Sanktionen gegen betroffene Mitgliedsstaaten (und die Putschisten selbst) erlassen hat.

Bei weitem am häufigsten greifen die USA zu Sanktionen und verhängen diese regelmäßig auch ohne UN-Mandat. Jedoch wenden andere Staaten, unter anderem Russland und zunehmend auch China, ebenfalls unilaterale Sanktionen an. Da der UN-Sicherheitsrat wie im Kalten Krieg mehr und mehr blockiert ist, steht zu erwarten, dass die Nutzung von unilateralen Beschränkungen weiter anwachsen wird. Zahlreiche Staaten, vor allem im Globalen Süden, lehnen Sanktionen ohne UN-Mandat jedoch grundsätzlich ab.

Trends in der Anwendung von Sanktionen

Hinter dem Begriff der Sanktionen verbergen sich unterschiedliche Maßnahmen, die im Einzelfall spezifisch kombiniert werden. Wir können genauer die in Tabelle 1 aufgelisteten Sanktionsformen unterscheiden (siehe S. 26).

1.

Umfassende Handelsembargos,

2.

Sektoralsanktionen

a. Import- und Exportbeschränkungen,

b. Investitionsbeschränkungen,

c. Stopp von Waffenlieferungen und militärischer Zusammenarbeit,

3.

Finanzkontrollen und Unterbrechung des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt,

4.

Aussetzen von Entwicklungshilfe,

5.

Individual-Sanktionen gegen einzelne Personen und Organisationen (»schwarze Listen«), vor allem durch Einreiseverbote und das Einfrieren von deren Vermögen,

6.

Diplomatie-Sanktionen (Ausweisung von Diplomat*innen oder Abbruch der diplomatischen Beziehungen).

Tabelle 1: Formen von Sanktionen

Die Auslöser von Sanktionen reichen von Menschenrechtsverletzungen, der Unterstützung von Terrorgruppen, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zur Beteiligung an Kriegen wie im Fall der russischen Invasion in die Ukraine. Der von Sanktionen ausgehende Zwang soll damit zur Friedensförderung beitragen.

Von 1990 bis 2015 wurden 59 % der UN-Sanktionen in Reaktion auf einen bewaffneten Konflikt, 14 % zur Bekämpfung von Terrorismus, 11 % wegen der Weiterverbreitung von Atomwaffen und 10 % zur Förderung der Demokratie verhängt (Biersteker, Eckert und Tourinho 2016, S. 25). Verschiedene Sanktionierende, in der Forschung oft als Sanktionssender bezeichnet, setzen dabei auf unterschiedliche Mittel. Während im Fall der Vereinten Nationen nahezu jedes Sanktionsregime Waffenembargos umfasst, setzen die EU und die USA oft auf ein breiteres Spektrum an Individual- und Sektoralsanktionen.

In der Vergangenheit sollten Sanktionen ganze Volkswirtschaften oder Gesellschaften wie das Apartheidregime in Südafrika isolieren. Heutzutage zielen die Maßnahmen in der Regel nicht darauf, die gesamte Bevölkerung zu treffen. Zunehmend verhängen die USA, die EU und die Vereinten Nationen Beschränkungen direkt gegen verantwortliche Personen, Terrorgruppen oder Unternehmen (von Soest 2019). So umfasst die »Specially Designated Nationals and Blocked Persons«-Liste des amerikanischen Finanzministeriums über 1900 engbedruckte Seiten mit sanktionierten Personen und Organisationen. Zudem ist die Unterbrechung von Finanzströmen und des Zugangs zum internationalen Finanzmarkt in der globalisierten Weltwirtschaft immer bedeutender geworden. Finanzsanktionen, wie der Ausschluss aus dem internationalen Banken-Kommunikationssystem SWIFT, wirken heute als schnellstes und schärfstes Sanktionsschwert.

Aus zwei Gründen sind die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland damit außergewöhnlich: Erstens nehmen Sanktionierende in der Regel kleinere und weniger mächtige Staaten in den Blick. Dadurch halten sie die eigenen wirtschaftlichen und politischen Kosten niedrig und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenseite einlenkt (von Soest und Wahman 2015). Zweitens sind die gegen Russland verhängten Wirtschafts-, Finanz-, Technologie- und Individualsanktionen äußerst umfassend. So setzen sie sogar die Devisenreserven der russischen Zentralbank im westlichen Ausland fest und unterbinden Technologie-Exporte ins Land fast vollständig. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nähern sich damit traditionellen Embargos und Boykotten an; jedoch gibt es bedeutende Ausnahmen, zum Beispiel für landwirtschaftliche und medizinische Güter.

Erfolgsbedingungen von Sanktionen

Die Wirksamkeit von internationalen Sanktionen ist in der Forschung bis heute umstritten. Eine wegweisende Studie stellte fest, dass auferlegte Wirtschaftssanktionen in ungefähr einem Drittel der Fälle zu einer Politikänderung beitragen (Hufbauer et al. 2007). Das heißt umgekehrt, dass die Zwangsmaßnahmen in mindestens zwei von drei Fällen scheitern. Zudem verbergen sich hinter diesen Durchschnittswerten große Unterschiede. Wie wir später zeigen, sind die Erfolgsaussichten, ein Einlenken der russischen Führung zu erzwingen, bedeutend geringer.

Als Mittel der Friedensförderung wirken Sanktionen nur bedingt, sie tragen nicht automatisch zur friedlichen Beilegung innerstaatlicher Gewaltkonflikte bei: Die Androhung von Wirtschaftssanktionen kann die Intensität eines Konfliktes sogar erhöhen, da die beteiligten Parteien oft versuchen, ihre Position zu verbessern, bevor Sanktionen die Kampfhandlungen erschweren. Auch wenn Sanktionen die Kräfteverhältnisse einseitig zugunsten einer Bürgerkriegspartei verschieben, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass sich die bewaffnete Auseinandersetzung verschärft (Hultman und Peksen 2017). Andererseits können Sanktionen die Konfliktdauer verringern, wenn sie den Nachschub mit Waffen und finanziellen Mitteln effektiv unterbinden. Dies gilt vor allem für Sanktionen von multilateralen Organisationen wie der UN. Außerdem sind Sanktionen ungeeignet, Kriege sofort zu stoppen, da sie weniger schnell wirken als militärische Gewalt.

Jedoch sollten bei der Bewertung von Sanktionen neben dem »coercing« (also dem Erzwingen einer Verhaltensänderung) noch zwei weitere wichtige Funktionen in den Blick genommen werden: Sie schränken auch den Handlungsspielraum des Gegenübers ein (»constraining«). So unterbinden die westlichen Technologiesanktionen den Nachschub mit Mikrochips, die dringend in der russischen Wirtschaft und auch in der Rüstungsindustrie gebraucht werden. Und schließlich senden Sanktionen kostspielige Signale an Sanktionsziele wie die russische Regierung, an mögliche Nachahmer*innen sowie an die eigene Bevölkerung (»signaling«). Sanktionen wirken damit nicht nur als direkte Zwangsinstrumente, sondern bekräftigen auch fundamentale Normen des Völkerrechts wie die nationalstaatliche Souveränität und die Unverletzbarkeit der Grenzen. Selbst wenn die Aussichten auf einen Politikwechsel gering sind, können Sanktionen damit eine wichtige Funktion erfüllen. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass Sanktionen mittlerweile als Instrument derart fest etabliert sind, dass ihre Nicht-Anwendung einen eklatanten Bruch des Völkerrechts fast schon legitimieren würde.

Doch wann tragen diese verschiedenen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen dazu bei, politische Ziele zu erreichen? Die Forschung zu internationalen Sanktionen hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Erfolgsbedingungen identifiziert (vgl. zusammenfassend Peksen 2019). Allerdings können die Sanktionssender viele dieser Faktoren nicht aktiv beeinflussen. So zeigen Studien, dass Sanktionen eher wirken, wenn sie gegen ein demokratisches Land verhängt werden. Dort funktioniert die Übersetzung von ökonomischem Druck in politische Verhaltensänderung besser, da die Bevölkerung ihre Regierung für die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionierung zur Rechenschaft ziehen kann, zum Beispiel indem sie die Machthabenden abwählt. Außerdem sind Sanktionen erfolgreicher, wenn sie begrenzte Ziele verfolgen – also beispielsweise die internationale Untersuchung einer bestimmten Menschenrechtsverletzung statt eines umfassenden Regimewandels – und wenn sie sich gegen wichtige Handelspartner und/oder politische Verbündete richten. Mit Russland sanktioniert die EU einen wichtigen Handelspartner. Schätzungen zufolge kosten die Maßnahmen ihre Mitgliedsstaaten mehrere Milliarden Euro jährlich.

Zahlreichen Studien haben einen generellen statistischen Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und deren Erfolg bestätigt – es gibt aber auch Ausnahmen. So zeigen wir in unserer Forschung zu regimekritischen Protesten in sanktionierten Staaten, dass bereits die Androh­ung von Sanktionen die Bereitschaft der Bevölkerung, gegen autoritäre Herrscher auf die Straße zu gehen, signifikant erhöht (Grauvogel, Licht und von Soest 2017). Es geht den Menschen also nicht nur um die möglichen ökonomischen Kosten der Sanktionen. Vielmehr empfinden sie diese – vor allem wenn sie auf Demokratisierung und den Schutz von Menschenrechten abzielen – als Zeichen der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Bezogen auf die jüngsten Sanktionen gegen Russland ist also nicht nur wichtig, ob die Zwangsmaßnahmen, aber auch der freiwillige Rückzug zahlreicher internationaler Unternehmen wie McDonalds oder IKEA, die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung verschlechtert und so letztlich ihre Unzufriedenheit mit der Regierung verstärkt. Vielmehr ist zentral, wie glaubwürdig das Signal der Unterstützung von Regimekritiker*innen ist, was nicht zuletzt von der Bereitschaft der Sanktionssender abhängt, eigene wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen.

Der Westen sanktioniert also oftmals Staaten, bei denen die Annahme, mehr wirtschaftlicher Druck müsse zwangsläufig zu besseren politischen Ergebnissen führen, durch die autoritäre Natur der sanktionierten Regime ausgehebelt wird. Der Friedensforscher Johan Galtung hatte diese Annahme schon 1967 als „naive Theorie“ bezeichnet (Galtung 1967). Vielmehr können Sanktionen in Autokratien sogar eine Wagenburgmentalität befeuern (Grauvogel und von Soest 2014). So versucht Putin, die westlichen Sanktionen als Angriff auf das gesamte Volk zu diskreditieren und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Russland zu stärken. Allerdings sind offizielle Umfragen über die Zustimmung zu Putin mit Blick auf mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit im Land mit Vorsicht zu genießen. Zu den nicht-intendierten Konsequenzen umfassender Sanktionen gehören neben der eben beschriebenen möglichen Legitimierung autoritärer Herrschender auch ihre humanitären Folgen.

Einem umfassenden Verständnis folgend können Sanktionen somit auch als eine Gewaltform betrachtet werden, die mit ökonomischen Mitteln wirkt (Gordon 1999). Seit Ende der 1990er Jahre wurden Sanktionen zunehmend zielgerichteter gegen verantwortliche Personen, Organisationen und bestimmte Wirtschaftsbereiche verhängt. Neuerdings ist hingegen wieder, wie im Fall der westlichen Sanktionen gegen Russland, eine Ausweitung der Maßnahmen festzustellen (siehe oben). Diese gehen trotz humanitärer Ausnahmen eher zulasten breiter Bevölkerungsgruppen. Die bestehenden Sanktionen gegen Afghanistan unterstreichen, welche gravierenden Schäden umfassende Finanzbeschränkungen anrichten können: Neben mangelndem politischem Willen der Taliban behindern dort derzeit auch Sanktionen Nothilfe gegen den Hunger, weil Hilfsorganisationen nicht unbeschränkt Güter einführen und Gelder transferieren können. Angesichts dieses und anderer Fälle wie Iran, Syrien und Venezuela, wo Sanktionen mit den sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie zusammentrafen, ist die politische und wissenschaftliche Diskussion (Moret 2021) über die humanitären Auswirkungen von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen (und mögliche Auswege) wieder intensiver geworden. Dies zeigte sich nicht zuletzt am Aufruf des UN-Generalsekretärs António Guterres, humanitäre Ausnahmen bestehender Sanktionsregime in der Pandemie deutlich auszuweiten.

Das Wechselspiel zwischen wirtschaftlichem Druck und politischem Erfolg von Sanktionen ist also komplexer, als der statistische Zusammenhang zwischen dem Umfang der Maßnahmen und ihrer Effektivität auf den ersten Blick vermuten lässt. Dies zeigt sich auch daran, wie Sanktionen und Boykotte im zeitlichen Verlauf wirken: Viele Maßnahmen entfalten erst mittelfristig ihre volle Wirkung. So treffen beispielsweise Exportbeschränkungen für Technologien die zivile Luftfahrt in Russland mit längerem Fortbestehen stärker, da Verschleißteile von Flugzeugen nicht ersetzt werden können. Sanktionen sind daher – anders als die öffentliche Debatte zu den Zwangsmaßnahmen gegen Russland oft nahelegt – unabhängig von ihrer Schärfe ungeeignet, Kriege oder andere Konflikte sofort zu stoppen. Gleichzeitig können sich sanktionierte Regime wirtschaftlich anpassen. In Russland haben lokale Alternativen westliche Konsumgüter wie Burger von McDonalds oder Möbel von IKEA teilweise abgelöst. Sie können aber auf die Schnelle keine Hochtechnologie ersetzen. Zudem schränken die westlichen Finanzsanktionen die international vernetzte russische Wirtschaft extrem ein.

Trotz dieser differenzierten Befunde wird der mittel- und langfristige Effekt von Sanktionen – und vor allem ihre mögliche Beendigung – zu Beginn der Sanktionierung bisher häufig nicht ausreichend mitgedacht (Attia, Grauvogel und von Soest 2020). Wenn wirtschaftliche Kosten nicht nur das sanktionierte Land, sondern auch die Sanktionssender treffen, kann die Unterstützung der dortigen Bevölkerung für die Maßnahmen nachlassen. Eine Aufhebung von wirtschaftlich kostspieligen, aber politisch wenig erfolgreichen Sanktionen kann dabei jedoch das problematische Signal senden, dass ein eklatanter Bruch des Völkerrechts nur so lange sanktioniert wird, wie es für die eigene Bevölkerung und Wirtschaft nicht zu teuer wird – und so die Glaubwürdigkeit des Instrumentes untergraben. Andererseits werden wirtschaftlich ineffektive Maßnahmen aus einer politischen Logik heraus oft beibehalten, wenn wichtige Ziele noch nicht erreicht sind. Unsere Forschung zeigt, dass klar formulierte politische Ziele – also beispielsweise die Abhaltung verfassungsgemäßer Wahlen statt vager Forderungen nach mehr Demokratie – die Erfolgswahrscheinlichkeit von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen erhöht und ihre Dauer reduziert. Außerdem tragen Überprüfungsklauseln dazu bei, die politische Zweckmäßigkeit von Sanktionen regelmäßig zu evaluieren. Die EU-Sanktionen gegen Russland müssen, wie auch andere Sanktionsregimes, regelmäßig verlängert werden, ansonsten würden sie auslaufen. In der Regel geschieht dies im halbjährlichen oder jährlichen Abstand.

Ein wichtiges Instrument – aber kein Allheilmittel

Sanktionen und Boykotte sind ein außenpolitisches Instrument neben anderen. Daher gilt es, keine unrealistischen Erwartungen damit zu verbinden – nicht zuletzt, weil Sanktionssender wichtige Erfolgsfaktoren wie die politische Verfasstheit des sanktionierten Staates und den Umfang der verfolgten Ziele kaum beeinflussen können. Die Art der Maßnahmen liegt hingegen in der Hand der Sanktionierenden. Forderungen nach weitergehenden Sanktionen gegen Russland sind dabei von der Forschung gedeckt, die zeigt, dass umfassendere Maßnahmen in der Regel erfolgreicher sind. Allerdings dürfen dabei mögliche humanitäre Folgen umfassender Sanktionen sowie die Versuche autoritärer Regime, externen Druck zu nutzen, um sich innenpolitisch zu legitimieren, nicht aus dem Blick geraten.

Literatur

Attia, H.; Grauvogel, J.; von Soest, C. (2020): The termination of international sanctions: Explaining target compliance and sender capitulation. European Economic Review, 129, Artikel 103565.

Biersteker, T. J.; Eckert, S. E.; Tourinho, M. (2016): Targeted sanctions: The impacts and effectiveness of United Nations action. Cambridge: Cambridge University Press.

Galtung, J. (1967). On the effects of international economic sanctions: With examples from the case of Rhodesia. World Politics 19(3), S. 378-416.

Gordon, J. (1999): A peaceful, silent, deadly Remedy: The ethics of economic sanctions. Ethics & International Affairs 13(1), S. 123–142.

Grauvogel, J.; Licht, A. A.; von Soest, C. (2017): Sanctions and signals: How international sanction threats trigger domestic protest in targeted regimes. International Studies Quarterly, 61(1), S. 86-97.

Grauvogel, J.; von Soest, C. (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes. European Journal of Political Research, 53(4), S. 635-653.

Hufbauer, G. C.; Schott, J. J.; Elliott, K. A.; Oegg, B. (2007): Economic sanctions reconsidered. Washington, DC: Peterson Institute of International Economics.

Hultman, L.; Peksen, D. (2017): Successful or counterproductive coercion? The effect of international sanctions on conflict intensity. Journal of Conflict Resolution, 61(6), S. 1315–1339.

Moret, E. (2021): The role of sanctions in Afghanistan’s humanitarian crisis. IPI Global Observatory. 9.11.2021.

Peksen, D. (2019): When do imposed economic sanctions work? A critical review of the sanctions effectiveness literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

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von Soest, C.; Wahman, M. (2015): Not all dictators are equal: Coups, fraudulent elections, and the selective targeting of democratic sanctions. Journal of Peace Research, 52(1), S. 17-31.

Dr. Julia Grauvogel ist Senior Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Sprecherin des Forschungsteams »Interventionen und Sicherheit«. Sie leitet das Forschungsprojekt »Die Beendigung von Sanktionen in Krisenzeiten: die Rolle externer Schocks«, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.
Dr. Christian von Soest ist Lead Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Leiter des Forschungsschwerpunkts »Frieden und Sicherheit«. Er arbeitet zu Legitimationsstrategien und zur Wirkung von internationalen Sanktionen in autoritären Regimen.

Mikrokredite

Mikrokredite

Kontroversen, empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen

von Sophia Cramer

Sozial und ökologisch nachhaltige Geldanlagen werden immer beliebter, seit Jahren steigen die Investitionsvolumina. Die deutsche Bundesregierung beabsichtigt mit der gezielten Kanalisierung von Finanzinvestitionen die Lösung gesellschaftlicher Probleme, seit August 2022 müssen Anlageberatungen Kleinanleger*innen zu ihren Nachhaltigkeitspräferenzen befragen. Investitionen in Mikrofinanzorganisationen (MFO), die Mikrokredite bereitstellen, sind ein Beispiel für »soziales Investment«. An empirischen Beispielen geht der Beitrag der Frage nach, welchen Nutzen sie haben und welche Risiken mit ihnen verbunden sind.

Mikrokreditprogramme1 erlangten in den 1990er-Jahre als Mittel zur Bekämpfung weltweiter Armut Prominenz, wurden 2006 mit der stellvertretenden Auszeichnung von Muhammad Yunus und der Grameenbank mit dem Friedensnobelpreis geehrt und verbreiten sich – auch mithilfe der Gelder öffentlicher und privater Investoren – seitdem rasant (Abb. 1). Der Nutzen von Mikrokrediten wird kontrovers diskutiert. Befürworter*innen stellen ihr transformatives Potential heraus: Menschen erhielten durch Kleinkredite Investitionsmittel für unternehmerische Tätigkeiten, Bildung, Gesundheit oder Energie, die ihnen die Chance eröffneten, sich aus eigener Kraft aus ihrer wirtschaftlichen Misere zu befreien (Yunus 2004). Frauen profitierten dabei besonders (Hansen et al. 2019). Der unabhängige UN-Experte für Auslandsschulden kritisiert aber 2020 in einem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat: „Es hat sich jedoch gezeigt, dass Mikrokredite in vielen Fällen das Gegenteil von dem bewirken, das beabsichtigt war, einschließlich […] der Entstehung einer ‚Armutsfalle‘. […] Zwar konnten einige kurzfristige Vorteile festgestellt werden, doch wurden sie auch mit einer Schuldenspirale in Verbindung gebracht, die zu Verarmung, dem Zusammenbruch von Familien und sogar Selbstmord führte” (UNOHCHR 2020, Abs. 32).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019. URL: https://datacatalog.worldbank.org/dataset/mix-market

Wie lassen sich diese diskrepanten Einschätzungen erklären?

Armutsreduzierung und Empowerment

Es gibt viele Studien, die sich mit der Frage nach der Wirkung von Mikrokrediten auf die sozioökonomische Situation der Kund*innen beschäftigen, sie erzeugen aber ein ambivalentes Bild. Eine systematische Metastudie kommt zu dem Schluss, dass aufgrund methodologischer Mängel keine gesicherte Aussage gemacht werden könne (Duvendack et al. 2011). Problematisch sei dieser Befund einer weiteren Metastudie zufolge, weil vor allem die Studien von geringerer methodischer und konzeptueller Qualität zu positiven Einschätzungen kämen und dadurch falsche Schlussfolgerungen nahelegten (Duvendack und Mader 2019).

Eine Ausnahme sind randomisierte, kontrollierte Studien (kurz: RCT). Sechs RCTs, die in Bosnien und Herzegowina, Äthiopien, Indien, Mexiko, Mongolei und Marokko durchgeführt wurden (Banerjee et al. 2015a), untersuchen die sozioökonomischen Effekte von Mikrokrediten auf Neukund*innen (d.h. neue selbstständige Tätigkeit, Einnahmen und Ausgaben in Mikrounternehmen sowie Haushaltskonsum von Verbrauchs- und langlebigen Gütern). Keine der Studien beobachtete wesentliche Einkommensverbesserungen der Mikrounternehmen und Haushalte. Die Studie zu Indien stellt fest, dass die wenigen neugegründeten Unternehmen noch kleiner und weniger profitabel sind als der Durchschnitt der Mikrounternehmen in der Region, von denen die große Mehrheit bereits klein und unrentabel ist“ (Banerjee et al. 2015b, S. 45). Nur bei den profitabelsten 15 Prozent der Mikrounternehmen beobachteten die Autor*innen steigende Profite. Auch der durchschnittliche Konsum der Haushalte stieg nicht, aber es veränderten sich die Prioritäten: Ausgaben für Gebrauchsgüter wie Kühlschränke, Motorräder, Gold, Kleidung oder Fernseher stiegen, während jene für vermeidbare Güter (z.B. Tabak, Alkohol, Feiern) zurückgingen.

Diese Ergebnisse stehen im Kontrast zum Legitimierungsnarrativ für Mikrokredite: alle Menschen seien Unternehmer*innen mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Die Innovationskraft von einkommensarmen Menschen, die keinen Zugang zu formalen Bankdienstleistungen haben, könne durch Mikrokredite freigesetzt werden. Trotz hoher Zinsen – weltweit durchschnittlich ca. 20 Prozent Portfolioerträge, in Mexiko sogar 74,7 Prozent (Cramer 2021) – seien kreditfinanzierte Investitionserträge in Mikrounternehmen überdurchschnittlich hoch und verbesserten damit ihre Einkommenslage (Rosenberg 2002).

Die ökonomischen Realitäten sehen anders aus. Viele Mikrokreditempfänger*innen sind informelle Kleinunternehmer*innen, die einfache Handels- und Dienstleistungsunternehmen wie Gemischtwarenläden oder kleine Restaurants betreiben, die sich in städtischen Gebieten besonders konzentrieren. Bateman und Chang (2012) erklären mit Verweis auf das begrenzte Potenzial lokaler Märkte, dass Mikrokredite künstlich die Anzahl der Mikrounternehmen erhöhten. Dies führe zu einem »Hyperwettbewerb« zwischen Mikrounternehmen des gleichen Typs und abnehmenden Erträgen für jedes einzelne Unternehmen. Investitionen in MFO zementierten deshalb ein weltweit verbreitetes System informeller Kleinwirtschaft, das wenig Wachstumspotenzial für Jobs und stabile Einkommen böte.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im ländlichen Raum, ein priorisierter Bereich im Mikrofinanzsektor. Auch Programme für Ernährungssicherheit wie die »Allianz für eine grüne Revolution« (AGRA) oder die »Sonderinitiative EINEWELT ohne Hunger im südlichen Afrika« der deutschen Bundesregierung fördern für die Finanzierung von Agrar­inputs den Zugang zu Mikrokrediten (AGRA 2019; BMZ 2019). Eine Studie über die AGRA-Initiative beobachtete in Sambia und Tansania aber, dass einige Kleinbäuer*innen in eine Schuldenfalle rutschten (RLS et al. 2020). Misra (2019) zeigt in einer Untersuchung in Bangladesch, dass Landwirtschaft insbesondere für den Eigenbedarf betrieben wird. Mikrokreditfinanzierte Investitionen werden also nicht primär für die Kommerzialisierung von Produkten getätigt und tragen deshalb wenig zur Einnahmensteigerung bei. Zudem berücksichtigen die Kreditprodukte und Rückzahlungskonditionen bangladeschischer MFO nicht die typischen Merkmale landwirtschaftlicher Produktion: den jahreszeitlichen Agrarzyklus, die besondere Anfälligkeit für Wetterphänomene und die Schwankungen von Absatzpreisen.2 In der Folge werden Mikrokredite vor allem kompensatorisch genutzt: Aufnahme eines zweiten Kredits zur Tilgung eines laufenden Kredits bis zur Ernte und/oder für den Erwerb von Nahrungsmitteln, nachdem der Ratenzahlungsdruck die Bäuer*innen zur Veräußerung der Ernte gezwungen hat.

Eine weitere Erklärung für die ernüchternden Befunde der Wirkungsforschung ist die Mikrokreditverwendung. Nach MFO-Angaben ist der Anteil der Mikrokredite, der für Konsumzwecke vergeben wird, fast ebenso groß ist wie jener, der für Kleinunternehmen bestimmt ist (Abb. 2).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019

Viele Akteur*innen gehen davon aus, dass Frauen von Mikrokrediten besonders profitierten. Der Zugang zu Krediten könne ihnen helfen, durch ein eigenes Einkommen unabhängiger zu werden und/oder durch die Verfügung und Entscheidung über finanzielle Ressourcen ihre Verhandlungsposition im Haushalt zu verbessern (Hansen et al. 2019). Die Forschungslage hierzu ist jedoch widersprüchlich. Vaessen et al. (2014) fanden in ihrer Metaanalyse keine belastbaren Belege für einen Effekt von Mikrokrediten auf die Kontrolle der Haushaltsausgaben durch Frauen. Eine Metaauswertung qualitativer Studien in Südasien (Peters et al. 2016) ermittelte, dass Mikrokredite für einige Frauen Mobilitätsgewinne, zusätzliche Kenntnisse, soziale Fähigkeiten und ein erhöhtes Selbstwertgefühl bedeuteten. Die Treffen in Kreditgruppen förderten die Solidarität unter den Frauen und ihre wechselseitige Unterstützung.3 Diese Effekte seien vor allem in MFO beobachtbar, die nicht-finanzielle Angebote wie Schulungen anbieten. Ursächlich sind demnach also nicht die Mikrokredite, sondern ihre Begleitfaktoren. Andere Studien zeigen: Weil viele MFO Frauen als Kund*innen bevorzugen, werden diese häufig von ihren Partnern vorgeschickt. Sie können dann für die Kreditrückzahlung verantwortlich sein, ohne zugleich die Kontrolle über ihre Verwendung sowie die Haushaltsausgaben zu haben, was für sie Überschuldungsrisiken birgt. Andere qualitative Studien zeigen eine Zunahme an Konflikten und häuslicher Gewalt (Hansen et al. 2019). Die Philosophin und Feministin Silvia Federici geht so weit, Mikrokredite als bestes Beispiel dafür [zu bezeichnen], wie Schulden heute von internationalen Finanzagenturen genutzt werden, um Frauen in eine Position der größeren Ausbeutung und Unterordnung zu verorten und damit gleichzeitig Formen gemeinschaftlicher Solidarität [zu] zerstören“ (Federici 2021, S. 29).

Überschuldungsrisiken und -krisen

Der RCT-Befund, dass Mikrofinanzkund*innen den Konsum vermeidbarer Güter einschränken, legt nahe, dass sie »den Gürtel enger schnallen«, um mit ihrem Einkommen abzüglich Ratenzahlungen über die Runden zu kommen. Dieser Aufwand – nicht der Zahlungsausfall – ist ein definierendes Merkmal von Überschuldung: „[E]r/sie kämpft ständig mit der Einhaltung der Rückzahlungsfristen und muss strukturell unangemessen hohe Opfer im Zusammenhang mit seinen/ihren Darlehensverpflichtungen bringen“ (Schicks 2013, S. 100S). Überschuldung ist deshalb oft ein unsichtbares Phänomen. Druck und Drohungen durch das MFO-Personal und Scham durch öffentliche Bloßstellung (bspw. Ali 2014) können Gründe dafür sein, dass Kreditnehmer*innen alles tun, um ihre Raten pünktlich zu zahlen. Das kann zusätzliche Armutsrisiken hervorrufen: durch den Verzicht auf Mahlzeiten, Verkauf von Wertgegenständen oder einen Rückgang in der Bildung, da die Kinder aus der Schule genommen werden, um zu arbeiten (Guérin et al. 2018). Die manchmal geäußerte Einschätzung, dass „[d]ie hohen Rückzahlungsquoten von durchschnittlich 98 Prozent […] eindrucksvoll [zeigen], dass es den allermeisten Endkreditnehmer:innen gelingt, ihr unternehmerisches Potenzial zu entfalten“ (Invest in Vision o.J.), ist deshalb nicht haltbar.

Die Risiken für Überschuldung und zunehmende Armut bestehen überall. Sie sind dort besonders hoch, wo – auch ermöglicht durch die Konzentration der Gelder privater und staatlicher Investoren – viele MFO in übersättigten Märkten um Kund*innen konkurrieren, aktuell z.B. in Kambodscha (MIMOSA 2020), bis vor kurzem beliebt bei internationalen Impactinvestoren.4 2020 hatte etwa ein Viertel der Bevölkerung (2,8 Mio. Kund*innen) ausstehende Mikrokredite von ca. 11,8 Mrd. US$. Ihre Höhe betrug durchschnittlich 4.280 US$ (LICADHO 2021). Das ist gegenüber 2017, als der durchschnittliche Kredit noch bei 2.368 US$ lag, fast eine Verdopplung (Bliss 2022, S. 52), die durch die Vergabe immer höherer Kredite – z.B. durch Auslösung eines aktuell laufenden Kredites mit einem höheren Neukredit – zustande kommt. Laut einer unveröffentlichten Studie von Microfinance Centre und Good Return verwendet die Hälfte der befragten Schuldner*innen mehr als 50 Prozent ihres monatlichen Netto-Haushaltseinkommen für den Schuldendienst, bei 28 Prozent übersteigt der Schuldendienst das Haushaltseinkommen (zit. in Pfeifer 2022). Trotzdem lag die Rate überfälliger Kredite 2020 bei nur 1,69 Prozent (Credit Bureau Cambodia 2020). Verschiedene Studien zeigen aber, dass das nur aufgrund der oben genannten Selbsteinschränkungen möglich ist (Bliss 2022, S. 58f.). Dazu kommt, dass viele Kreditnehmer*innen mit Rückzahlungsschwierigkeiten aus Sorge um den Verlust des Landes – in Kambodscha sind Mikrokredite häufig mit Landtiteln besichert (Pfeifer 2022) – und unter dem Druck von MFO-Personal einen Teil ihres Landesbesitzes verkaufen, um ihren Kredit zurückzahlen zu können (Bliss 2022, S. 98). Da Landbesitz vor allem in ländlichen Gebieten eine wichtige Voraussetzung für Ernährungssicherheit ist, wirkt sich dies unmittelbar auf die Kreditnehmer*innen aus.

Kambodscha ist ein gut dokumentiertes Beispiel für eine Überschuldungskrise, wie es sie mit ähnlichen Charakteristika (Wachstumsdynamik, leichtfertige Kreditvergabe) auch in der Vergangenheit gab, z.B. zwischen 2008 und 2010 in Pakistan, Indien, Nicaragua, Bosnien-Herzegowina und Marokko (Chen et al. 2010; Mader 2013). Sie unterscheiden sich von Kambodscha dadurch, dass sie schließlich zum massenhaften Rückzahlungseinbruch führten.

Aktuell sind wiederholte Proteste ein Indiz für überschuldungsinduzierte Probleme auch in anderen Ländern. Im indischen Bundesstaat Assam (Ne Now News 2019) und in Sri Lanka (Wedagedara 2021) gingen Frauenkollektive auf die Straße gegen den enormen Druck durch Mehrfachverschuldung, hohe Zinsen, harsche Eintreibungspraktiken der MFO und wiederholte Suizide. In Sri Lanka griffen Massenproteste im April 2022 die Forderungen der Frauenkollektive auf (medico 2022). In Ecuador forderte das indigene Bündnis »CONAIE« während eines nationalen Generalstreiks im Juni 2022 u.a. ein Schuldenmoratorium und einen Schuldenerlass für Kleinproduzent*innen in ländlichen Regionen (Álvarez 2022). In einem allgemeinen Sinn skandalisiert die feministische Bewegung »Ni Una Menos« in Argentinien ausbeuterische Verhältnisse durch die Verschuldung von Frauen. Auch diese Länder sind bei internationalen Investoren sehr beliebt und weisen – bei zahlreichen Unterschieden in den Bereitstellungsformen von Mikrokrediten und Rechtsformen der MFO – eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Mikrokrediten auf.

Systemische Ursachen der zyklischen Krisen

Wiederholt ähnliche Krisendynamiken deuten darauf hin, dass ihre Ursachen systemisch bedingt sind. Sie sind – so meine These – in der globalen Refinanzierungsarchitektur des kommerziellen Mikrofinanzsektors angelegt. Ein wichtiges Finanzierungsinstrument für MFO sind – neben Spareinlagen (im Fall v.a. von Banken) – Kredite und Equity-Beteiligungen von Investor*innen. Daten des CGAPs Funder Survey zufolge belaufen sie sich 2020 auf 58 Mrd. US$, von denen der größere Anteil (44 Mrd. US$) aus öffentlichen Quellen stammt, z.B. von nationalen und multilateralen Entwicklungsbanken. Diese steigen jährlich, seit 2011 um insgesamt 144 Prozent (Abb. 3).

Quelle: Nach Tolzmann, M. 2022: CGAP Funder Survey 2020: Trends in International Funding for Financial Inclusion. Focus Note. Washington: CGAP, S. 2

Diese Refinanzierung bedeutet für MFO, dass sie ihren Geldgeber*innen überzeugend ihren Erfolg demonstrieren müssen, was sie symbolisch mit positiven Kennziffern zu ihrem Kreditportfoliowachstum, zu den Rückzahlungen ihrer Kund*innen und zur Rentabilität tun (Cramer 2014; bspw. Ranking in REDCAMIF 2022). In MFO löst das drei strukturelle Sachzwänge aus, die die oben genannten Überschuldungsrisiken bedingen.

Erstens brauchen sie genügend Einkommen, um ihre operativen Kosten und Zinszahlungen an ihre Geldgeber*innen decken zu können. Letztere lagen 2017 weltweit bei durchschnittlich 9,5 Prozent (Symbiotics 2018, S. 20). Die operativen Kosten der MFO sind wegen der kleinen Kreditbeträge und der aufwendigen Kund*innenevaluation hoch (Pronafim et al. 2017). Diese Kosten gekoppelt mit dem Wunsch nach Profit übersetzen sich in hohe Jahreszinsen, die die Haupteinnahmequelle von MFO darstellen.

Zweitens müssen MFO – um gegenüber ihren Investoren rückzahlungsfähig zu sein – ihre stete Zahlungsfähigkeit sicherstellen, die sich aus der pünktlichen Rückzahlung der Mikrokreditraten ergibt. Das lässt ihnen wenig Spielraum für flexible Zahlungsmodalitäten, die die Situation ihrer Kund*innen berücksichtigt. Diese ist bei Menschen mit niedrigem Einkommen häufig von Unsicherheit oder plötzlichen Notlagen (z.B. Krankheitsfall, Dürre, etc.) geprägt. Stattdessen konzentrieren sich viele MFO auf die Veranlassung pünktlicher Ratenzahlung. Wie oben beschrieben üben (manche) MFO dabei erheblichen Druck aus. Das garantiert hohe Rückzahlungsraten, selbst wenn sich hinter ihnen eine Überschuldungssituation verbirgt.

Drittens bedingt der erforderliche Nachweis eines wachsenden Kreditportfolios in MFO einen steten Wachstumsdruck. Dieser steht einer sorgfältigen Kund*innenauswahl unter dem Gesichtspunkt der potenziellen wohlfahrtssteigenden Effekte entgegen. Insbesondere in Märkten mit hoher MFO-Dichte ist die Nachfrage gegebenenfalls gedeckt. Um dennoch Wachstum zu generieren und in der Konkurrenz mit anderen zu überleben, »verkaufen« einige MFO eher Mikrokredite, als auf eine Nachfrage zu reagieren, senken möglicherweise ihre Ansprüche an die Kreditwürdigkeit ihrer Kund*innen und riskieren damit deren Überschuldung (Guérin et al. 2018).

Und nun? Der Zielgruppe zuhören

Statistische Aussagen, denen zufolge ein Teil der Mikrokreditnehmer*innen profitiere, verführen manche dazu, ihr Engagement – ob als Anleger*in, Investmentfonds oder Mitarbeiter*in eines Ministeriums – in diesem Bereich zu begründen. Wenig sichtbar sind in diesen statistischen Aussagen diejenigen, auf die diese Befunde nicht zutreffen. Sie sollten jedoch gehört werden und der Maßstab der Debatte über das Für und Wider des kommerziell refinanzierten Mikrofinanzsektors sein. Die NGO »LICADHO«, die mit ihren Studien auf die Überschuldungsproblematik in Kambodscha aufmerksam gemacht hat, empfiehlt beispielsweise, die Kreditbesicherung mit Landtiteln zu stoppen (LICADHO und STT 2019). Die Erfahrungen dort warnen vor der Übertragung dieser Kreditbesicherungspraxis auf andere Länder, etwa im Agrarsektor. Das »Collective of Women Victimised by Microfinance Debts« aus Sri Lanka fordert mit Blick auf die spezifisch genderorientierte Begründung für Mikrokredite, „die Frauen zu befähigen, einen Kreditmechanismus zu entwickeln, der ihnen gehört und von ihnen kontrolliert wird und bei dem das soziale Wohlergehen im Mittelpunkt steht“ (Wedagedara 2021). Dies können z.B. informelle Spar- und Kreditgruppen sein, die sich zusammenschließen, um gemeinsam zu sparen und sich bei Bedarf aus den kollektiven Ersparnissen Kredite auszahlen (Karlan et al. 2017). Der Refinanzierungsmechanismus für Mikrokredite ist dabei lokal und beruht nicht auf der oben genannten globalen Refinanzierungskette, sodass strukturelle Sachzwänge wie hohe Zinsen, unflexible Rückzahlungsbedingungen und Anreize zur leichtfertigen Kreditvergabe nicht vorliegen. Es geht also nicht um die pauschale Verurteilung von Mikrokrediten, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen sie die mit ihnen verbundenen Versprechungen auch tatsächlich einlösen können.

Anmerkungen

1) Mikrokredite werden von MFO in durchschnittlicher Höhe zwischen 400 (Südasien) und 2.000 US$ (Lateinamerika) für Menschen mit erschwertem Zugang zu Banken vergeben. Sie sind eine Komponente weiterer Mikrofinanzdienstleistungen wie Sparprodukte oder Versicherungen. Faktisch konzentrieren sich viele MFO auf die Vergabe von Mikrokrediten (MixMarket (2018): Global Outreach and Financial Performance Benchmark Report 2017-2018.).

2) Vgl. ähnlich die Einschätzung einer Evaluation von Programmen zu Agrarfinanzierung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ 2017).

3) Mikrokredite werden als Gruppen- oder zu einem größeren und zunehmenden Anteil als Individualkredite vergeben. Im Fall der Gruppenkredite haften die Gruppenmitglieder wechselseitig füreinander (Ahlin und Suandi 2019).

4) Ausländische Investitionen in den kambodschanischen Mikrofinanzsektor belaufen sich 2018 auf ca. eine Milliarde US$ (Cramer 2021) und stammen u.a. von deutschen Gebern wie der KfW, ihrer Tochtergesellschaft DEG oder der »Microfinance Enhancement Facility«. Zu den privaten Investoren aus Deutschland gehören u.a. die deutschen Ableger von Oikocredit und der Triodos Bank, Invest in Vision und der GLS Alternative Investment Mikrofinanzfonds (Pfeifer 2022).

Literatur

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Sophia Cramer ist Soziologin und forscht seit zehn Jahren zu Mikrofinanz, u.a. im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Luzern.

Eine Epoche der Ambivalenz

Eine Epoche der Ambivalenz

Von der Zangenkrise zum »Kampf der Sozialismen«

von Klaus Dörre

Der Beitrag argumentiert, dass wir in einer Epoche der Ambivalenz leben, in der einfache Wahrheiten vielleicht populär sein mögen, aber nicht realitätstauglich sind. Auch die Friedensbewegungen und die politische Linke müssen sich einer Widersprüchlichkeit stellen, die nicht im Selbstlauf zu einer positiven Synthese drängt. Die Suche nach Auswegen aus der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise wird umso dringlicher.

Was der Schriftsteller Peter Weiss in den 1970ern während einer Phase gesellschaftlichen Aufbruchs in seinen Notizbüchern notierte, trifft – freilich unter völlig anderen Vorzeichen – auch für die Gegenwart zu: „Die Epoche der Ambivalenz und der Kontroversen. Es war unmöglich, eine absolut richtige, zutreffende Ansicht zu haben, man kam der Wahrheit am nächsten, wenn man den bestehenden Zwiespalt in die Analyse des Sachverhalts einbezog. Monolithische Haltungen von vornherein zum Mißglücken verurteilt, und wenn sie mit Gewalt aufrecht erhalten werden, zeigen sie desto deutlicher das Atavistische ihres Charakters“ (Weiss 1981, S. 177). Auch heute leben wir in einer Epoche von Widersprüchen, die allerdings nicht zu einer positiven Synthese drängen und denen einfaches Denken keineswegs gerecht werden kann. Handelt es sich tatsächlich um eine Zeitenwende, um einen Kampf zwischen Autokratien und demokratischen Gesellschaften, wie es Robert Kagan (2008), Mitbegründer eines neokonservativen Think Tanks, und mit ihm inzwischen viele andere behaupteten? Ich plädiere für eine andere, eine alternative Sicht der Dinge. Wir befinden uns, so meine These, inmitten einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Ende der »billigen Dinge«, das Ende von billiger Natur, billiger Energie, billiger Sorgeleistungen und auch billiger Arbeit einleitet. Diese Metakrise prägt die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts und treibt zu einer neuen Weltordnung – ein Übergang, der von Naturkatastrophen, Kriegen und Massenaufständen begleitet sein wird. Diese konfliktreiche Periode zwingt progressive soziale Bewegungen, Gewerkschaften und die verblieben Organisationen der politischen Linken zu einer strategischen Neuausrichtung, die mit einer realistischen Betrachtung der Lage beginnen muss. Nachfolgend beschränke ich mich auf vier Überlegungen.

1) Von der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise…

Beginnen wir mit der Krisendiagnose. Bei einer Krise handelt es sich ihrer allgemeinsten Definition nach um einen überwindbaren Zustand. Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-Quo-Bedingungen ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Mit dem Status Quo sind in diesem Zusammenhang hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensive Produktions- und Lebensweisen sowie ein beständig steigender Energieverbrauch auf fossiler Grundlage gemeint. Der Zangengriff von ökonomischen und ökologischen Verwerfungen markiert Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen, die in ihren Wechselwirkungen eben keine Krise wie jede andere sind. Alle sozialen Felder und gesellschaftlichen Teilsysteme werden von den Auswirkungen eines instrumentellen Verhältnisses zur Natur durchdrungen. Mit der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ist eine Bezeichnung gewählt, die eine klare Hierarchie der Krisenursachen benennt. Es handelt sich um eine Metakrise, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit den Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän (Crutzen 2019), einleitet.

Der Begriff des Anthropozän besagt, dass die Menschheit zur einflussreichsten Kraft auf dem Planeten geworden ist. Sie hat es selbst in der Hand, nachhaltige Beziehungen zur Natur zu schaffen und ihr instrumentelles Verhältnis zu Naturressourcen und nichtmenschlichen Lebewesen zu überwinden. Ob wir die Artenvielfalt erhalten, die Überhitzung des Planeten stoppen, den Verbrauch endlicher Ressourcen einschränken, Hunger und Massenelend überwinden, den Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen decken, eine fortschreitende Abholzung der Wälder und die nachfolgende Versteppung beenden und dem Anthropozän eine lange Dauer verleihen, hängt in erster Linie vom praktischen Tun in menschengemachten Gesellschaften ab.

Nun existiert die Menschheit allerdings nur als nach Nationen, Klassen, Geschlechtern, Alter, Machtressourcen etc. differenziertes Kollektiv. Hinzu kommt, dass die Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen in der Gegenwart in erster Linie von kapitalistischen Ökonomien ausgehen. Deshalb halten Sozialwissenschaftler wie Jason Moore die Bezeichnung Kapitalozän für angemessener (Moore 2015, S. 169ff.). In dieser Präzisierung ist auch angelegt, dass die expansive Bewegungsform kapitalistischer Gesellschaften auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen an unüberwindbare Grenzen stößt (Dixson-Decléve et al. 2022). Graduelle Prozesse wie die Erderhitzung oder auch der steigende Ressourcen- und Energieverbrauch können den Planeten auf dramatische Weise verändern und für Menschen zumindest in Teilen unbewohnbar machen. So ist der Meeresspiegel seit Beginn des 20. Jahrhunderts um ca. 20 cm gestiegen. Das Eis an den Polen schmilzt rascher als erwartet. Schon 2014 erreichte der westantarktische Eisschild wahrscheinlich einen Kipppunkt, der das gesamte Ökosystem destabilisiert und den Zerfall des Eisschilds beschleunigt. Das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht zunächst kleinere Inseln und tiefer gelegene Küstenregionen (IPCC 2022); das macht das Graduelle des Klimawandels aus. Er wirkt zunächst unsichtbar und sozialgeographisch differenziert: Deshalb wird er über längere Zeiträume hinweg vor allem ein »Schicksal« der anderen sein; während Millionen Menschen in küstennahe Regionen des Globalen Südens das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bereits bis zum Halse steht, lässt es sich in den reichen Staaten des Nordens auch für die Angehörigen subalterner Klassen noch immer einigermaßen gut leben. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beginnt sich allerdings mit zunehmender Geschwindigkeit zu ändern.

2) … zum »Würgehalsband-Effekt«

Das hängt mit einer Dynamik zusammen, die der US-amerikanische Ökonom James Galbraith (Galbraith 2016, S. 121-151) als »Würgehalsband-Effekt« bezeichnet hat. Danach sind energie- und ressourcenintensive Ökonomien, wollen sie rentabel sein, auf ein stabiles Umfeld angewiesen. Die Preise für Rohstoffe, Öl, Energie etc. müssen einigermaßen berechenbar bleiben, weil Investitionen, die sich allenfalls langfristig amortisieren, ansonsten zu risikoreich wären. In unsicheren Zeiten machen hohe Fixkosten für Gas und Öl, aber auch für seltene Erden oder Weizen und andere Nahrungsmittel hingegen eine besondere Verwundbarkeit dieser auf billigen Naturstoffen und hohem Ressourcenverbrauch basierenden Wirtschaftsweise aus. Wie das Würgehalsband bei einem Hund verhindert wirtschaftliche und politische Instabilität nicht unbedingt jegliches Wirtschaftswachstum, doch die Preise für Energie und darüber vermittelt auch für viele andere Güter steigen rasch an, um, von spekulativen Manövern beeinflusst, zeitweilig wieder zu fallen. Zugleich gibt es Krisengewinner, die, wie etwa die Öl- und Rüstungskonzerne, genau in diesen Zeiten hohe zusätzliche Gewinne abschöpfen. Insgesamt beeinträchtigt das Auf und Ab der Konjunktur und des Wachstums jedoch die Profitabilität und Leistungsfähigkeit vieler Unternehmen, ihre Investitionsbereitschaft sinkt und Verteilungskämpfe – nicht nur zwischen Klassen(-fraktionen), sondern auch innerhalb der Staatsapparate – gewinnen an Intensität (Galbraith und Dörre 2018).

Genau das ist in der Gegenwart der Fall. Die Verteuerung der »billigen Dinge« hatte bereits vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt. Dies hat eine Vielzahl an Ursachen – Streiks in den sozialen Dienstleistungsbetrieben, öffentlichkeitswirksame Interventionen von Klimabewegungen und Gewerkschaften, Hungerrevolten, Aufwendungen für Katastrophenschutz und vieles andere mehr. Der Ukraine-Krieg und die Inflation haben diese Tendenz dramatisch forciert. Diese Entwicklung ist mit Marktmechanismen offenkundig nicht mehr zu korrigieren. Das Hauptproblem marktverträglicher Instrumente besteht darin, dass sie in ihren Auswirkungen »sozial blind« sind. Die kleinen Geldbörsen werden letztendlich immer weitaus stärker belastet als die großen Einkommen. Nehmen wir die Bundesrepublik als Beispiel: In Deutschland hat die untere Hälfte der Lohnabhängigen gemessen am steigenden Volkseinkommen seit der Jahrtausendwende kontinuierlich an frei verfügbarem Einkommen verloren. Steigen die Preise für Heizung, Strom, Mobilität, Mieten und Nahrungsmittel, wird dieser frei verfügbare Einkommensanteil immer geringer. Selbst für Durchschnittsverdiener*innen mit einem realen Nettolohn von monatlich 1.578 Euro (vgl. DGB 2021, S. 25) wird es dann schwer, ohne staatliche Hilfe über die Runden zu kommen.

Diese Entwicklung ist äußerst konfliktträchtig. Zielsicher ist die radikale Rechte dabei, den Würgehalsband-Effekt politisch auszunutzen. Der jüngste französische Präsidentschaftswahlkampf bietet dafür Anschauungsunterricht. Bereits im ersten Wahlgang zeichnete sich ein »neuer Klassenkampf« ab: Während sich hinter Emmanuel Macron vor allem die bessergestellte Wähler*innenschaft aus den großen Städten versammelte, votierten die weniger Betuchten in den Vorstädten für den Linken Jean-Luc Mélenchon, auf dem Lande aber für die rechtsradikale Marine Le Pen, die sich nur deshalb als gemäßigt geben konnte, weil mit Éric Zemmour ein noch weiter rechts stehender Kandidat um Stimmen konkurrierte. Sage und schreibe 67 Prozent der Arbeiter*innen votierten für die rechtsradikale Kandidatin (Wiegel und Záboji 2022). Zielsicher hatte sich Le Pen die Auswirkungen des »Würgehalsband-Effekts« zunutze gemacht und steigende Preise für Energie, Heizung, Nahrungsmittel und Mobilität zum Wahlkampfthema Nummer eins gemacht. Das konnte ihr gelingen, weil in Frankreich – darin zahlreichen westeuropäischen Gesellschaften ähnlich – klassenspezifische Ungleichheiten zunehmen, während die ausgleichende Kraft organisierter Arbeitsbeziehungen in Gestalt von Tarifverträgen, betrieblicher Mitbestimmung und gewerkschaftlichen Organisationsgraden seit langem rückläufig ist. Mittlerweile befindet sich Le Pen in »bester« Gesellschaft. Im schwedischen Volksheím haben die rechtsradikalen Schwedendemokraten die Wahlen gewonnen. In Italien schickt sich die verharmlosend als »Postfaschistin« bezeichnete Giorgia Meloni an, neue Regierungschefin zu werden. In Polen und Ungarn sitzen rechte Autokraten fest in ihren Regierungssesseln, während die trumpistischen Republikaner in den USA bereit zu sein scheinen, jegliche Reformmehrheit zu blockieren. Tatsächlich ist die Gefahr eines neuen Autoritarismus, ja eines neuen Faschismus riesengroß (vgl. Frankenberg und Heitmeyer 2022). Die aktuelle Schwäche sozialer Bewegungen und die Zersplitterung der Linken trägt dazu maßgeblich bei.

3) Nachhaltigkeit als Abwesenheit von Gewaltsamkeit

Das ließe sich ändern, wenn die politische Linke endlich damit beginnen würde, Streitigkeiten zurückzustellen und grassierendes Sektierertum zu überwinden, um sich zumindest in Grundfragen zu verständigen. Dabei ist zu bedenken, dass es in einer »Epoche der Ambivalenz« nicht die eine, ewig gültige Wahrheit geben kann. Inhaltliche Differenzen gehören ausgetragen; jede der streitenden Parteien sollte sich aber darüber bewusst sein, dass sie irren könnte. Dies vorausgesetzt, halte ich drei Themenkomplexe für zentral.

Die Rückkehr des intervenierenden Staates

Schon weil (1) radikal progressive gesellschaftliche Veränderungen derzeit völlig unwahrscheinlich erscheinen, kommt jede Spielart zukunftstauglicher progressiver Politik nicht umhin, Einfluss auf das aktuell dominante Krisenmanagement auszuüben. Auf europäischer wie auch auf nationalstaatlicher Ebene zeichnet sich ab, was als wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel über die Covid-19-Pandemie und den Ukraine-Krieg hinaus Bestand haben wird: Heute ist der intervenierende Staat zurück. Er wirkt als Ressourcenbeschaffer, Planer und Finanzier von Infrastruktur, Garant von Eigentumsrechten gegenüber der Konkurrenz aus Übersee, Seuchen-Manager und – im besten Falle – als Beschleuniger sozial-ökologischer Innovation. Nicht ob, sondern wie Staats­interventionen aussehen, ist zumindest in den alten kapitalistischen Zentren zu einer entscheidenden Frage für die Überlebensfähigkeit des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems geworden. Das Grundproblem, vor dem der neue Staatsinterventionismus steht, resultiert aus der Aufgabe, überschüssiges Kapital in die richtigen Felder zu lenken, um sozial und ökologisch nachhaltig wirken zu können. Einerseits ist der Kapitalbedarf in wichtigen wirtschaftlichen Sektoren und Branchen gewaltig, andererseits werden überfällige Investitionen in soziale und ökologische Nachhaltigkeit kurzfristig kaum Gewinne abwerfen. Sie sind deshalb für private Unternehmen wenig attraktiv und können ohne Umverteilung von den Reichsten zu den weniger Begüterten nicht sozialverträglich finanziert werden. Entscheidend ist deshalb nicht, dass der Staat interveniert, sondern wie er Einfluss ausübt. Hier grassiert jedoch industrie- und wirtschaftspolitische Fantasielosigkeit. Staatsbeamt*innen, die über Jahrzehnte hinweg gelernt haben, dass die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, können gar nicht kreativ handeln, wenn sie nicht durch Druck aus der demokratischen Zivilgesellschaft dazu gezwungen werden.

Politikgestaltung entlang der SDGs

Für die Beurteilung von Staatsaktivitäten gibt es (2) einen großartigen Maßstab, auf den sich die Staatengemeinschaft zu großen Teilen geeinigt hat – die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, bekannt als »Sustainable Development Goals« (SDGs). Diese Ziele sind hervorragend geeignet, auch solche Nachhaltigkeitspolitiken normativ zu begründen, die eine Überwindung des Wachstumskapitalismus anvisieren. In ihrer Kombination und Gleichrangigkeit können universelle Nachhaltigkeitsziele eine subversive Kraft entfalten, weil sie den kapitalistischen Expansionismus in all seinen Spielarten mit der Aufforderung zu Rechtfertigungen (Boltanski und Thevenot 1991) konfrontieren, die eine rasche Verringerung von Emissionen, Ressourcen- und Energieverbrauch anmahnen und die gerechte Verteilung eines Wohlstands einklagen, der auch künftigen Generationen noch zur Verfügung steht. Die SDGs kennen nur noch eine Welt, die sich entweder gemeinsam und solidarisch entwickelt oder eine Ära des globalen Niedergangs einleitet. Vor allem reduzieren sie Nachhaltigkeit nicht auf ihre ökologische Dimension. Ziel eins fordert die weltweite Überwindung aller Ausprägungen von Armut, Ziel zehn die Verringerung sozialer Ungleichheit – beides Orientierungen, die soziale Nachhaltigkeit anvisieren. Diese Ziele werden unauflöslich mit ökologischer Nachhaltigkeit zusammengebracht und zusammengedacht. So verlangt Ziel sieben die Sicherung des Zugangs zu nachhaltig produzierter Energie für alle, Ziel 13 fordert die wirksame Bekämpfung des Klimawandels und Ziel 14 klagt die schonende Nutzung der Meere und Ozeane ein, um nur drei besonders markante Koordinaten zu nennen. Wichtig ist jedoch, dass es keine hierarchische Rangfolge der Ziele gibt. Wenn-dann- oder Zuerst-danach-Beziehungen zwischen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit werden ausgeschlossen. Es gibt keine Ziele erster und zweiter Klasse, sondern ein Koordinatensystem, in das alle Kriterien für Nachhaltigkeit gemeinsam eingehen. Deshalb eignen sich die SDGs als zentrale Inhalte einer neuen, weltweiten Rechtfertigungsordnung, die normative Maßstäbe für jedes Gemeinwesen setzt. Mithilfe einer an den SDGs ausgerichteten Rechtfertigungsordnung wird es möglich, alles im Sinne von Nachhaltigkeit Erreichte am Nötigen und Wünschbaren zu messen. Jeder Kompromiss, jede Bewährungsprobe eignet sich als Ausgangspunkt neuer Kritik durch gesellschaftliche Akteure. Werden Ziele nicht oder nur ungenügend umgesetzt, besteht je nach Perspektive die Gefahr oder Chance einer weitreichenden Delegitimierung des Handelns herrschender Klassen und dominanter Eliten. Die SDGs sind konfliktträchtig, weil sie zumindest diskursiv wirken. Statt Fundamentalkritik zu üben, macht es daher für progressive gesellschaftliche Akteure, die sich der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution bewusst sind, Sinn, sich an Definitionskämpfen zu beteiligen, in denen darüber entschieden wird, welche Richtung der gesellschaftliche Wandel einschlägt und auf welche Weise der Staat interveniert. Statt sich in inhaltsleeren »Nachhaltigkeits«-Diskussionen zu verlieren, kann sich die politische Linke dabei an einem Nachhaltigkeitsbegriff orientieren, wie ihn der zu Unrecht fast vergessene Sozialwissenschaftler Kai Tjaden bereits zu Jahrtausendwende vorgeschlagen hat (Tjaden 2002). Er versteht Nachhaltigkeit als den Gegenbegriff zur Gewaltsamkeit. Gewaltsamkeit meint für ihn weit mehr als die Ausübung von physischem Zwang und militärischem Konflikt. Gewaltsamkeit bezieht sich nach Tjaden auch auf den strukturellen Zwang, den soziale Ungleichheiten ausüben; sie findet sich in Geschlechterverhältnissen ebenso wie in Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen und Nationen und sie findet ihren Ausdruck auch in der menschlichen Dominanz über die außermenschliche Natur und ihre Lebewesen.

Überwindung der Gewaltsamkeit fokussieren

Nachhaltigkeit bedeutet demnach (3) die Überwindung von Gewaltsamkeit. Sie beinhaltet zwingend „den Verzicht auf kriegerische Mittel der Politik“ (Tjaden 2002, S. 16). Damit ist zugleich gesagt: Politiken, die den Anteil des Rüstungsetats am BIP auf zwei Prozent und mehr festlegen wollen, können nicht nachhaltig sein; sie sind das Gegenteil – Ausweis ökologischer und sozialer Gegenrevolution. In einer »Epoche der Ambivalenz« mag vieles strittig sein, jedes Argument trifft auf gehaltvolle Gegenargumente. Nehmen wir den Ukraine-Krieg. Sicherlich war die Westausdehnung der NATO falsch und ein Verstoß gegen mündliche Abmachungen, die seinerzeit mit Michael Gorbatschows Regierung getroffen wurden; die Rechtfertigung für einen Angriffskrieg ist damit aber nicht gegeben. Selbstverständlich kann man dennoch gegen eine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sein – doch hieße dies, dass sich das Land mit leichten Waffen zu verteidigen hätte. Selbstverständlich kann man Sanktionen in Frage stellen – doch welche Mittel gäbe es dann, dem Aggressor etwas entgegenzusetzen? Welche Widerstandsformen stünden einer Bevölkerung zur Verfügung, die ein umfassendes Konzept ziviler Verteidigung niemals eingeübt hat? Und ja, auch die Ukraine ist, so wie alle postsowjetischen Gesellschaften, ein Oligarchenkapitalismus und damit alles andere als eine »Vorzeigedemokratie«. Erst jüngst hat ein Gesetz elementare soziale und gewerkschaftliche Rechte de facto außer Kraft gesetzt (Röthig und Yarmolyuk-Kröck 2021; ÖGB 2021). Doch das sind Konflikte, die innerhalb der Ukraine, innerhalb der russischen Föderation ausgetragen werden müssen. Kriege rechtfertigen sie nicht. Trotz kontroverser Beurteilungen der Lage gibt es einen gemeinsamen Nenner, der nicht kleingeredet werden darf: allen progressiven Kräfte bleibt nur, mit allen verfügbaren friedlichen Mitteln darauf hinzuwirken, dass es zu einem sofortigen Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen kommt. Einen »Siegfrieden«, gleich für welche Partei, kann es nicht geben. Die Waffen müssen schweigen, so rasch wie möglich. Alles andere bedeutet den Bruch mit Nachhaltigkeitszielen und läuft auf einen – zumindest latenten – Exterminismus hinaus.1

4) »Kampf der Sozialismen«?

Ziele sind das eine, Wege zur Zielerreichung etwas völlig anderes. Mit dem Ökonomen Thomas Piketty (2022) sei hinzugefügt, dass nichts dagegen spricht, sich den nötigen Wandel friedlich vorzustellen. Historisch betrachtet waren es allerdings stets Naturkatastrophen, große Krisen und Kriege, die revolutionäre Veränderungen mit sich brachten. Schon deshalb wäre es fatal, würden die progressiven gesellschaftlichen Kräfte die Systemfrage der radikalen Rechten überlassen. Heute geht es, um das Motiv Walter Benjamins (Benjamin 1982) aufzugreifen, bei der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen vor allem um die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation infrage stellt. In Zukunft werden wir deshalb möglicherweise, so jedenfalls Thomas Pikettys Prognose, den Übergang von einem »Krieg der Kapitalismen« zum »Kampf der Sozialismen« erleben (Piketty 2022, S. 256ff.). Dem berühmten französischen Ökonomen schwebt dabei die Auseinandersetzung eines demokratisch-ökologischen, partizipativen und kulturell diversen Sozialismus mit autoritär-diktatorischen Staatssozialismen vor, wie ihn beispielsweise die kommunistische Partei Chinas zu realisieren beansprucht.

Ganz gleich wie man zu solchen Prognosen steht: Sollen, ja dürfen »wir« im wissenschaftlichen Diskurs wie im politischen Alltag hinter einen Ökonomen zurückfallen, der vom Liberalen zum überzeugten Sozialisten geworden ist? Ich hielte das für fatal und habe mich deshalb mit meiner »Utopie des Sozialismus« (Dörre 2022) selbst klar positioniert. Das vor allem, weil es innerhalb der Grenzen, die die profitgetriebene kapitalistische Marktexpansion setzt, zwar politischen Handlungsspielräume, letztendlich aber keinen nachhaltigen Ausweg aus der Zangenkrise gibt. Trotz der tristen Lage, in welcher sich die gesellschaftliche wie auch die politische Linke derzeit in vielen Ländern befindet, sind intellektuelle Suchbewegungen, die sich um Begriffe wie den des »Ökosozialismus« (Arruzza et al. 2019, S. 63), der »Gemeinwohlökonomie« (Werneke und Zanker 2022) oder den eines »radikalen Humanismus« (Mason 2019) ranken, alles andere als trivial. Zeugen sie doch von einem intellektuellen Prozess, der die Hegemonie der ratlos wirkenden kapitalistischen Eliten in Frage stellt. Historisch betrachtet wäre es nicht das erste Mal, dass radikaler Wandel sich auf diese Weise Bahn bricht (Wallerstein 2014). Politisch entscheidend ist jedoch immer der nächste Schritt – und der ist gegenwärtig leicht zu bestimmen: Er muss auf der Straße stattfinden. Wir benötigen Massenproteste für die Besteuerung von Übergewinnen und Rüstungsprofiteuren; Einsatz der Mittel zur Deckelung von Strom- und Gaspreisen und ein Sondervermögen für ein radikales, rasch wirkendes Klimapaket!

Anmerkung

1) Exterminismus – eine Wortschöpfung des Historikers E. P. Thompson aus der Zeit des Kalten Krieges, eskalierender Blockkonfrontation und wechselseitiger Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen –bezeichnet diejenigen Mechanismen von Volkswirtschaften, politischen Ordnungen und Ideologien, die als Schubkraft in eine Richtung wirken, deren Resultat die Auslöschung großer Menschenmassen sein muss (Albrecht 1997, Spalten 1188-1192).

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Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der FSU Jena und forscht u.a. zu Kapitalismus und Nachhaltigkeit.

Die unproduktive Last der Gewalt

Die unproduktive Last der Gewalt

Wirtschaftswissenschaft für den Frieden

von Raul Caruso

Der Bereich der Wirtschaftswissenschaften hat in der etablierten Friedens- und Konfliktforschung bisher keine große Rolle gespielt. Der eher reduzierte Fokus auf die auf Freiwilligkeit beruhenden Austauschbedingungen und auf rationale Akteure hat die Wirtschaftstheorie als wichtiges Feld der Konflikttheorie und -erklärung verkommen lassen. Der folgende Artikel zeigt den Weg zu einer friedensorientierten Ökonomik in drei Teilbereichen auf: bei der Rüstungskontrolle, den Militärausgaben und im forcierten Börsenabgang von Waffenproduzenten.

In den letzten Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftler*innen mit den wirtschaftlichen Aspekten von Gewalt in ihren verschiedenen Formen befasst. Bei der Betrachtung von Gewalt, Konflikten und Frieden fühlen sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen unwohl, da dieser Bereich seit vielen Jahren nicht mehr zu den Hauptgebieten der Wirtschaftsforschung gehört. Ein entscheidender theoretischer Aspekt, der Ökonom*innen davon abgehalten hat, sich mit Konflikten zu beschäftigen, liegt in ihrer Vorstellung von menschlichen Interaktionen begründet. In der Tat haben sich die Hardliner unter den Ökonom*innen bisher immer als Wissenschaftler*innen gesehen, die sich ausschließlich auf den »auf Freiwilligkeit beruhenden Austausch« konzentrieren. In Wirklichkeit erschöpft der freiwillige Austausch jedoch nicht die Komplexität der realen Wirtschaft. Viele menschliche Interaktionen sind nicht freiwillig und nicht durch die Existenz von Märkten und Preisen gekennzeichnet.

Leider gibt es in der Realität eine Vielzahl schlimmer Verhaltensweisen wie Zwang, Aneignung, Gewalt und Erpressung, die ihrem Wesen nach trotzdem wirtschaftlich sind. Wie jede andere wirtschaftliche Aktivität sind sie mit der Nutzung knapper Ressourcen verbunden und führen letztendlich zu einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen Einzelpersonen und Organisationen. Diese Verhaltensweisen sind zwar wirtschaftlich, aber unproduktiv in dem Sinne, dass sie keinen nennenswerten Mehrwert für die Wirtschaft erbringen. Sie führen zu einer Verzerrung der Ressourcenallokation in den verschiedenen Sektoren und zerstören – im schlimmsten Fall eines bewaffneten Konflikts – sowohl Human- als auch Sachkapital. Kurz gesagt, sie sind schädlich für die gesellschaftliche Entwicklung.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Vorwort von North et al. (2009, S. xvii) zu zitieren: „Das Fehlen einer praktikablen integrierten Theorie von Wirtschaft und Politik spiegelt den Mangel an systematischem Denken über das zentrale Problem der Gewalt in menschlichen Gesellschaften wider. Die Art und Weise, wie Gesellschaften mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch Gewalt umgehen, formt und beschränkt die Formen, die menschliche Interaktion annehmen kann […]“.

Das Fehlen systematischer Untersuchungen zu den verschiedenen Aspekten und Quellen kollektiver oder individueller Gewalt hat dazu geführt, dass Ökonom*innen die Auswirkungen der unproduktiven Belastung durch tatsächliche oder potenzielle Konflikte sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene unterschätzt haben.

In jüngster Zeit versuchen nun einige Wirtschaftswissenschaftler*innen, diese Lücke zu schließen. Insbesondere Wissenschaftler*innen der »Friedensökonomie« wollen darüber hinausgehen und auch wirtschaftspolitische Maßnahmen konzipieren, um die wirtschaftlichen Wurzeln der Gewalt zu beseitigen und so langfristig friedliche Szenarien zu ermöglichen. Im Folgenden stelle ich einige zentrale Themen vor, die sowohl von Wissenschaftler*innen als auch von politischen Entscheidungsträger*innen als wichtig erachtet werden sollten: (1) Abschreckung, Wettrüsten und Rüstungskontrolle; (2) die Belastung durch Militärausgaben; (3) das (De-)Listing, also der freiwillige oder forcierte Rückzug von Waffenproduzenten von der Börse.

Abschreckung, Rüstungswett­läufe und Rüstungskontrolle

Wenn politische Entscheidungsträger*innen und Analyst*innen militärische Fragen ansprechen, erwähnen sie häufig das Konzept der Abschreckung. Es war das wichtigste Sicherheitskonzept des Kalten Krieges und scheint gemessen an den eskalierenden Reaktionen im Zuge des russischen Krieges in der Ukraine immer noch aktuell zu sein. Abschreckung in ihrer einfachsten Form basiert auf der Anschaffung von Waffen, von denen erwartet wird, dass sie Feinde von Aggressionen abhalten. Angesichts des Ergebnisses des Kalten Krieges – nämlich, dass es nicht zu einem Atomkrieg kam – sind die politischen Entscheidungsträger*innen immer noch bereit, ihre Militärausgaben zu erhöhen, um das zu erreichen, was Thomas Schelling in »The Strategy of Conflict« (1960) treffend als „glaubwürdige Bedrohung“ definiert hat.

Abschreckung darf jedoch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die wünschenswerte Folge eines Abschreckungssystems sollte vor allem Stabilität sein. Tatsächlich ist die Abschreckung selbst nicht nützlich, wenn sie nicht stabil ist. Allerdings ist die Abschreckung nur unter bestimmten Bedingungen stabil, die in der Geschichte nicht oft vorgekommen sind.

Greif (2007) beispielsweise erläutert die Folgen eines Abschreckungsgleichgewichts, das im mittelalterlichen Genua zwischen rivalisierenden Clans hergestellt wurde. Dieses Gleichgewicht war vom Wunsch gekennzeichnet, gegenseitige Abschreckung zu erreichen. Die Clans verstärkten kontinuierlich ihre militärische Stärke. Langfristig wurde dieses Gleichgewicht jedoch instabil und in Genua brachen soziale Unruhen aus. Die Erhöhung der Militärausgaben führt nämlich häufig nicht zu einer wirksamen Abschreckung, sondern zu einem »Wettrüsten«, das per definitionem eine instabile Situation darstellt. Aus diesem Grund hatte Schelling in »Strategy and Arms Control« (1961 zusammen mit M.H. Halperin verfasst) auch die Möglichkeit der Rüstungskontrolle vertieft.

In diesem Buch wiesen Schelling und Halperin darauf hin, dass Fortschritte in der Rüstungstechnologie notwendigerweise Vereinbarungen zwischen rivalisierenden Ländern über die Begrenzung der Arsenale erfordern. Die Vereinbarungen selbst müssen Glaubwürdigkeit besitzen und sind daher nicht veränderbar, es sei denn, es gäbe einen Informationsaustausch und eine kontinuierliche Kommunikation zwischen den Rivalen. Kurzum, ein Rüstungskontrollsystem hätte laut Schelling und Halperin größere Auswirkungen auf die Sicherheit in einem bestimmten Staat als eine bedingungslose und einseitige Aufrüstung. Letztere wäre nicht sinnvoll, um das Ziel der Stabilität zu erreichen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine Erhöhung der Militärausgaben bei fehlenden Kontrollvereinbarungen – paradoxerweise – die Glaubwürdigkeit der Bedrohung verringern dürfte. Wenn nämlich eine Regierung ihre Militärausgaben erhöht, würden die rivalisierenden Länder mit einer Erhöhung ihrer Militärausgaben reagieren. Ohne Rüstungskontrollabkommen und gegenseitige Kommunikation ist die abschreckende Wirkung der Bedrohung also weniger glaubwürdig und ein Konflikt wahrscheinlicher. Einfacher ausgedrückt: Mehr Waffen könnten die Unsicherheit erhöhen und nicht umgekehrt. Abschreckung kann illusorisch sein.

Im Gegensatz dazu könnte ein Rüstungskontrollsystem, insbesondere wenn es mit der Zustimmung und dem Engagement der wichtigsten Länder der Welt aufgebaut wird, wirklich glaubwürdig sein und zu einer höheren Stabilität führen. Wir müssen daher den Gedanken bekräftigen, dass der Ausgangspunkt jeder stabilen Weltordnung nur ein glaubwürdiges System der Rüstungskontrolle sein kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass der Ende 2014 in Kraft getretene »Vertrag über den Waffenhandel« (»Arms Trade Treaty«, ATT) sich bisher nicht als wirksam erwiesen hat. Die größten Waffenexporteure (USA und Russland) sind nämlich keine Vertragsparteien. Es ist allgemein bekannt, dass Großmächte die Entscheidungen anderer Akteure beeinflussen und gestalten. Somit wäre der ATT, auch wenn er in Kraft ist, erst dann wirklich wirksam, wenn die Großmächte Mitglieder würden. Dies hat konkrete negative Auswirkungen auf die Sicherheit und den Frieden in der Welt, denn die Verfügbarkeit von Waffen macht bewaffnete Konflikte wahrscheinlicher und untergräbt somit die Friedenskonsolidierung.

Die unproduktive Last der Gewalt

Wie bereits erwähnt, führt tatsächliche und potenzielle Gewaltanwendung zu einer Fehlallokation knapper Ressourcen und damit zu einer schweren Belastung der wirtschaftlichen Entwicklung. Gesellschaftliche Systeme, die von Bedrohung und bewaffneten Konflikten geprägt sind – auch wenn sie nicht zwangsläufig in einem Krieg münden –, tätigen hohe Investitionen in Waffensysteme und militärische Ausrüstung. Dies bläht den Anteil der Investitionen in unproduktive Aktivitäten dieser Gesellschaft auf und kann in der Tat zu einem lang anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang führen.

Um dies zu verstehen, können wir auf das klassische Argument der Umlenkung von Ressourcen zurückgreifen. Das besagt, dass in diesem Fall Militärausgaben Ressourcen binden, die andernfalls für produktivere Zwecke eingesetzt werden könnten – sie verdrängen also zivile Investitionen und die Produktion von zivilen Gütern. Es war Paul Samuelson (1970, S. 18), der erstmals produktive und unproduktive Aktivitäten als »Butter« bzw. »Kanonen« bezeichnete. Bei dieser Begriffsschöpfung hatte Samuelson die Erfahrungen des nationalsozialistischen Deutschlands vor Augen, wo sich die Regierung für die Erhöhung der Militärausgaben (»Kanonen«) auf Kosten der zivilen Produktion (»Butter«) eingesetzt hatte. Das Gleichgewicht zwischen »Butter« und »Kanonen« muss bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik jedoch berücksichtigt werden. Das zugrundeliegende Konzept lässt sich leicht zusammenfassen: Es gibt wirtschaftliche Aktivitäten, die zwar individuelle Gewinne abwerfen können, die aber nicht von Natur aus produktiv sind und daher nicht zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft beitragen.

In einer allgemeinen Betrachtung dieses Konzepts erläutert Baumol (1990), wie historische Entwicklungsmuster verschiedener Gesellschaften in hohem Maße vom Gleichgewicht zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten und von den Belohnungen für diese Tätigkeiten abhingen. Interessanterweise erwähnt der Autor das Frühmittelalter als eine historische Periode, in der der Erwerb und die Sicherung von Reichtum im Wesentlichen durch militärische Aktivitäten gesteuert wurde. Die wirtschaftliche Entwicklung und das menschliche Wohlergehen wurden dadurch untergraben. Er merkt insbesondere an, dass Innovationen in der Kriegsführung nicht mehr zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen könnten als Innovationen, die im verarbeitenden Gewerbe entwickelt würden. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten Studien über die Auswirkungen von Militärausgaben auf das Wirtschaftswachstum zeigen, dass sie sich als nachteilig erweisen. Eine Untersuchung von Dunne und Tian (2013) zeigt, dass die meisten Studien die negativen Auswirkungen von Militärausgaben auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft bestätigen.

Da Militärausgaben die Entwicklung untergraben, muss es ein Gegengewicht geben, das stattdessen produktive Aktivitäten aktiviert. In meinem Dafürhalten ist es vernünftig, die öffentlichen Investitionen in die Bildung als diesen Faktor zu wählen – im Lichte ihrer unbestrittenen langfristig positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Mein normativer Vorschlag besteht darin, das Verhältnis der öffentlichen Bildungsinvestitionen zu den Militärausgaben als relevante Variable für eine friedliche Wirtschaftspolitik zu betrachten. Das Argument wird in Caruso (2017) und Balestra und Caruso (2022) vertieft.

Kurz gesagt, wenn ein solches Verhältnis als politische Zielvariable in der Wirtschaftspolitik betrachtet würde, würden die Entscheidungsträger*innen berücksichtigen, dass für jeden Euro, der für das Militär ausgegeben wird, ein Vielfaches in die Bildung investiert werden muss, um den negativen Auswirkungen der Militärausgaben entgegenzuwirken. Dies wäre heutzutage besonders dringlich, da die Militärausgaben in den letzten Jahren weltweit gestiegen sind (siehe SIPRI 2022, Kap. 8).

Forcierte Börsenabgänge von Rüstungsunternehmen

Entscheidend für eine vertiefte Debatte über Militärausgaben ist natürlich auch die Betrachtung der Strukturierung und der Governance der Rüstungsindustrie. Die vielleicht wichtigste Frage dabei ist die Börsennotierung von Waffenfirmen. Bei börsennotierten Unternehmen ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Führungsebene der Rüstungsindustrie auf private Anreize reagiert und nicht nur auf Sicherheitsbelange der Staaten. Es ist insbesondere erwähnenswert, dass neben privaten Unternehmen auch staatliche Rüstungsunternehmen an der Börse notiert sind. Dies hat einen erheblichen Einfluss auf Sicherheit und Frieden.

Im Allgemeinen hat die Börsennotierung eines Unternehmens erheblichen Einfluss auf die Maßnahmen der Unternehmensleitung. Die Börsennotierung von Waffenherstellern kann sogar einen Anreiz für das Management darstellen, die Produktion trotz gegenläufiger Sicherheits- und Friedensbedenken zu maximieren. Es ist natürlich bekannt, dass private Anreize für das Management börsennotierter Unternehmen relevant werden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn es zu einer Trennung zwischen Eigentum und Management kommt. Im Allgemeinen folgen Manager*innen dem Anreiz, ihre Gewinne sehr kurzfristig zu steigern. Aus diesem Grund fragen sich Wirtschaftswissenschaftler*innen und Expert*innen, welches die optimalen Mechanismen sein könnten, um diese Unternehmen wirksam zu binden und Marktanreize zu vermeiden und so in diesen Fällen die von den Hauptaktionär*innen vorgegebene Stoßrichtung auf Profitmaximierung zu überwinden. Denn bei Waffenfirmen kann eine solche Maximierungshaltung ernsthafte Probleme hervorrufen. In der Tat kann sie sich sehr kritisch auf die internationalen Beziehungen auswirken, da die Manager*innen möglicherweise vor dem Hintergrund ihrer Einnahmenmaximierung Sicherheitsbelangen weniger Aufmerksamkeit schenken. Ein weiteres wichtiges Thema für börsennotierte Unternehmen ist der Einfluss von Kleinaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Aktionären. Obwohl diese nicht an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, können sie diese in einigen Fällen dennoch beeinflussen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Börsennotierung von Rüstungsunternehmen äußerst problematisch ist, auch wenn ihnen durch nationale Sicherheitsanforderungen und außenpolitische Erfordernisse erhebliche Grenzen gesetzt sind. Diese Beschränkungen sollten die Aktivitäten des Managements und auch die der Minderheitsaktionär*innen erheblich einschränken. Zur Vereinfachung des Konzepts lässt sich nicht ausschließen, dass das Management von Waffenherstellern durch private Anreize im Zusammenhang mit ihren eigenen Vergütungssystemen oder durch den Einfluss von Minderheitsaktionär*innen, insbesondere von institutionellen Anlegern, beeinflusst werden könnte. In der Praxis könnten diese Aspekte Verhaltensweisen und Entscheidungen fördern, die darauf abzielen, die kurzfristigen wirtschaftlich-finanziellen Ergebnisse zu maximieren, was zu einem höheren Absatzniveau führen muss. Dies wird letztendlich zu einem positiven Trend bei den Waffenverkäufen auf globaler Ebene führen und somit eine Bedrohung für Sicherheit und Frieden darstellen.

Angesichts der Verschärfung vieler Konflikte wäre es vernünftig, forcierte Börsenabgänge der Waffenproduzenten zu erwägen. Wenn sich die Regierungen für diese spezifische Maßnahme entscheiden, würden sie die privaten Anreize zur Maximierung von Waffenverkäufen drastisch verringern. Durch dieses »Delisting« würden auch die bereits bestehenden Beschränkungen restriktiver Rüstungsproduktion und -verkäufe wirksamer werden. Es ist vielleicht einfacher, diese Lösung für staatliche Unternehmen in Europa in Betracht zu ziehen, auch wenn eine weltweite Debatte darüber erforderlich ist. Ein Delisting auf globaler Ebene würde es den Staaten ermöglichen, effektiver dem Frieden näherzukommen.

Hin zu einer Friedensökonomie

Hier wurden aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht einige zentrale Punkte vorgestellt, die bei der Anwendung einer ökonomischen Sichtweise auf Gewalt, Konflikt und Frieden zu berücksichtigen sind. Der Ausgangspunkt für jede*n Friedensökonom*in muss zwangsläufig die Frage der Militärausgaben sein, die einerseits bewaffnete Konflikte auslösen können und andererseits langfristig negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben und zu gesellschaftlich unerwünschten Folgen führen.

Das diesem Artikel zugrunde liegende Konzept besagt, dass für die Schaffung der wirtschaftlichen Säulen eines friedlichen Szenarios die Regeln für die Ökonomie von Gewalt, Sicherheit und Frieden entscheidend sind, nämlich die Regeln für die Waffenproduktion und den Waffenhandel.

Die Beachtung dieser »Spielregeln« erinnert an eine Definition der Friedensökonomie, die von Brauer und Caruso (2013, S. 151) vorgeschlagen wurde: „Die Friedensökonomie befasst sich mit der ökonomischen Untersuchung und Gestaltung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Institutionen, ihrer Wechselbeziehungen und ihrer Politiken, um jede Art von latenter oder tatsächlicher Gewalt oder anderen destruktiven Konflikten innerhalb und zwischen Gesellschaften zu verhindern, zu mildern oder zu lösen […]“.

Literatur

Baumol, W.J. (1990): Entrepreneurship: Productive, unproductive, and destructive. The Journal of Political Economy 98(5), S. 893-921.

Balestra, A.; Caruso, R. (2022): Should education and military expenditures be combined for government economic policy? The Economics of Peace and Security Journal 17(1), S. 37-54.

Brauer, J.; Caruso, R. (2013): Economists and Peacebuilding. In: Mac Ginty, R. (Hrsg.): Handbook of Peacebuilding. London: Routledge, S. 147-158.

Caruso, R. (2017): Peace economics and peaceful economic policies. The Economics of Peace and Security Journal 12(2), S. 16-20.

Dunne, J.P.; Tian, N. (2013): Military expenditure and economic growth: A survey. The Economics of Peace and Security Journal 8(1), S. 5-11.

Greif, A. (2007): Institutions and the path to the modern economy. Lessons from medieval trade. New York: Cambridge University Press.

North, D.C.; Wallis, J.J.; Weingast, B.R. (2009): Violence and social orders. A conceptual framework for interpreting recorded human istory. Cambridge: Cambridge University Press.

Samuelson, P.A. (1970): Economics. New York: McGraw-Hill.

Schelling, T.C. (1960): The strategy of conflict. Cambridge: Harvard University Press.

Schelling, T.C.; Halperin, M.H. (1961): Strategy and arms control. New York: Twentieth Century Fund.

Sipri (2022): SIPRI Yearbook 2022. Oxford: Oxford University Press.

Raul Caruso ist ordentlicher Professor für Wirtschaftspolitik an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand (Italien). Dort hat er den Lehrstuhl für Friedensökonomie inne. Außerdem ist er Direktor des »European Center of Peace Science, Integration and Cooperation« (CESPIC) an der Katholischen Universität in Tirana (Albanien). Er ist Chefredakteur von »Peace Economics, Peace Science and Public Policy« und war von 2009 bis 2019 Geschäftsführer des »Network of European Peace Scientists«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing und Melanie Hussak.

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt

Fünf Thesen und ein Überblick

von Kai Koddenbrock

Im Kapitalismus sind Krieg und Gewalt nie weit. Sie sind sogar konstitutiver Teil unseres Zusammenlebens und betreffen sowohl autoritäre Staaten wie auch demokratisch organisierte. Gewalt ist dabei im Kapitalismus vielgestaltig und durchdringt fast alle Lebensbereiche – vom Lohnverhältnis bis zur Kriegswirtschaft. Wie sich die ökonomische Friedens- und Konfliktforschung dieser Realität in Deutschland jetzt erneut widmet und gewidmet hat und welche Zukunft wir vor uns haben, diskutiert dieser Text in fünf Thesen.

Zum ersten Mal seit den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre ist 2022 der Krieg wieder so nah an Deutschland herangerückt, dass seine Brutalität und das Leid, das er schafft, auch in deutschen Wohnzimmern vorstellbar werden. Bis dahin hatte sich die deutsche Regierung zwar an vielfältigen Militärmissionen von Afghanistan bis Mali beteiligt. Sie hatte sich auch mit den Konsequenzen der Kriege in Syrien und Libyen durch eine kurzzeitig liberale Migrationspolitik aber vor allem tödliche Abschottungspolitik im Mittelmeer und in der Türkei auseinandergesetzt. Unmittelbar bedrohlich wurden diese Kriege jedoch für die meisten Menschen in Deutschland nicht. Nun »steht« Russland vor den Toren der Europäischen Union, Gasrohre in der Ostsee explodieren und die deutsche Regierung vollzieht vorläufig eine Abkehr von ihrer Verflechtungspolitik mit Russland, die der deutschen Industrie und den Wähler*innen über Jahrzehnte billiges Gas garantiert hatte. Die Zeit gemütlicher Exportweltmeisterschaften unter dem US-amerikanischen Atomschutzschirm scheint zunächst vorbei und wirft grundsätzliche politische und analytische Fragen nach dem Zusammenhang von Kapitalismus, Gewalt und Krieg auf.

Vergessene Ursprünge

Dieser Zusammenhang wurde zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Banner der Imperialismustheorien diskutiert, die die Großmächte, vertreten durch Finanzkapital und Regierung, in expansivem Wettbewerb um »ökonomisches Territorium« sahen, sei dies nun in der Nachbarschaft oder auf weiter entfernten – noch kolonisierten – Kontinenten (Luxemburg 1913). Bis in die frühen 1990er Jahre existierten in Deutschland Analysen, die aus einer grundsätzlich marxistischen Perspektive der Kritik der Politischen Ökonomie ökonomische und politische Zwänge und Machtbeziehungen systematisch in den Blick nahmen, so z.B. in den Arbeiten von Krippendorf (1987), Ziebura (1984) oder Mahnkopf und Altvater (1996). Im neoliberalen Deutschland von 1990 bis heute wurden diese Arbeiten, die sich für den globalen Kapitalismus interessierten, weitgehend vergessen und nur noch an wenigen Stellen universitär verfolgt.1 Stattdessen brach sich in diesen Jahre eine politiknahe, policy-Analyse Bahn, die sich eher für das Management von Konflikten, die Analyse der UN-Institutionen, ihrer Normen und der »multi-level governance« interessierte (Daase 1996; Risse 2000; Deitelhoff 2006; Zimmermann 2017). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Schlichte dar (z.B. 2005) und jüngst auch diejenigen Scherrers (2021). Aber der Umschwung beginnt bereits. Think Tanks und Wissenschaft beginnen sich stärker für Wirtschaft zu interessieren, so zum Beispiel sichtbar am neuen Geoökonomie-Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik oder die sich auch für wirtschaftliche Interdependenzen interessierende »49Security«-Blogreihe des Global Public Policy Institutes, die vom Auswärtigen Amt finanziert ist. Zudem beginnen auch Ökonom*innen sich für Geopolitik zu interessieren, so z.B das Deutsche Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Die Ökonomie wird so schnell wieder mitgedacht, wie sie einst vergessen und verdrängt wurde.

Grundbegriffe und theoretische Ansätze

Um den Boden zum Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt zu bereiten, zunächst einige Begriffsklärungen: Der Gewaltbegriff in dieser Forschung reicht von struktureller (klassisch bei Galtung 1969) bis physischer Gewalt (Koloma-Beck und Schlichte 2020). Der Begriff des Konfliktes erstreckt sich dabei von Auseinandersetzungen um Interessen verschiedenster Art bis zum Klassenkampf oder dem zwischenstaatlichen Krieg (Bonacker 2005).

Wirtschaft und Ökonomie werden im Deutschen weitgehend synonym gebraucht. Wie Mitchell schön gezeigt hat, wird die nationale »Wirtschaft« jedoch zunächst diskursiv hergestellt und existiert nicht einfach so (Mitchell 1998). Der Begriff politische Ökonomie transportiert bereits, dass jede Ökonomie auch politisch hergestellt und stabilisiert wird. Je nach theoretischer und politischer Couleur spielt der Kapitalismusbegriff dabei eine unterstützende Rolle, indem vom globalen Kapitalismus und nationalen Kapitalismen gesprochen wird (May et al. 2023).

Während in Deutschland lange der Begriff »Marktwirtschaft« präferiert wurde und Kapitalismus eher als linker Kampfbegriff erschien (Koddenbrock 2017), haben Finanz-, Covid-19- und Energiekrise ein für alle Mal deutlich gemacht, dass Kapitalismus existiert und auch so genannt und bearbeitet werden muss. Kapitalismus ist mehr als Markt und Wirtschaft, denn der Begriff umfasst unsere Weltgesellschaft, das Privateigentum, die internationale Arbeitsteilung und damit auch die (sich verändernde) Trennung in Zentren und Peripherien (Amin 1974; Brand und Wissen 2017). Er umfasst auch die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital sowie die globale und nationale Interaktion durch Geld und Währungen mit unterschiedlicher Verbreitung, die als Kapital nach Verwertung und Vermehrung strebt. Dabei zeigt ältere und jüngere Forschung immer wieder, dass der Kapitalismus intersektional zu fassen ist (Buckel 2012), denn Rassismus (Robinson 1983; Loick und Thompson 2022), Patriarchat (bell hooks 2022; Federici 2004) und die Zerstörung der »Natur« (Moore 2015; Mies 1986) sind ihm inhärent. Die Klimakrise muss folglich als ein Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftens und seines Wachstumsimperativs betrachtet werden (Schmelzer und Vetter 2021).

Aus dieser kurzen Begriffsdiskussion lässt sich bereits erkennen, dass das Forschungsfeld zum Zusammenhang von Ökonomie und (kriegerischer) Gewalt riesig ist. Aus einer Perspektive der kritischen Politischen Ökonomie daher im Folgenden ein paar Thesen zu ihrem Zusammenhang. Wichtig ist für jede Beschäftigung mit Kapitalismus und Gewalt (Gerstenberger 2016; Siegelberg 1994), dass sowohl die nationalen, internationalen und globalen Ebenen in ihren Verflechtungen mitgedacht werden müssen und das Akteurshandeln in diesen Strukturen verortet und analysiert wird (Cox 1981; Schmalz 2018).

Fünf Thesen zum Zusammenhang

1. Kapitalismus und Gewalt sind immer eng verbunden.

Dass der Aufstieg des Kapitalismus in den aktuellen Zentren des Weltsystems maßgeblich durch die Gewalt der Sklaverei und des Kolonialismus ermöglicht wurde, ist mittlerweile Stand der Forschung (vgl. für viele Williams 1944; Rodney 1972; Galeano 2009; Mies 1986; Beckert 2014; Andrews 2021). Diese Gewalt betrifft nicht nur den »stummen Zwang« der Verhältnisse (Mau 2021) oder institutionalisierte Herrschaft, sondern auch ganz direkte körperliche Gewaltausübung (Gerstenberger 2016). Eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten muss also diesen unterschiedlichen Formen der Gewaltausübung im Prozess der Verwertung des Kapitals Aufmerksamkeit schenken. Die Literatur über globale Wertschöpfungsketten bietet dafür hilfreiche Anknüpfungspunkte, da sie sich auch für die »Drecksarbeit« am Ende der Wertschöpfungsketten interessiert (Marlsev, Staritz und Raj-Reichert 2022; Milberg und Winkler 2013).

2. Ökonomie und Politik sind im Kapitalismus notwendigerweise verflochten.

Staatliches Handeln, und damit auch Wirtschaftssanktionen oder aktive Kriegsführung, beruhen immer auf einer relativen Autonomie des Politischen (Poulantzas 1978; Hirsch 2005) in Beziehung zu seinen ökonomischen Strukturbedingungen. Das heißt aber auch, dass die genaue Beziehung zwischen diesen ökonomischen Bedingungen, sowohl im Inland als auch global, und den Aktivitäten der Regierungen analysiert werden muss und nicht einfach vernachlässigt oder strukturdeterministisch abgelesen werden kann. Übertragen auf die derzeitige Kriegseskalation in Europa bedeutet dies: Ob und wie sehr der deutsche Schwenk hin zu höheren Militärausgaben also von der Notwendigkeit, das eigene Exportmodell mittelfristig abzusichern, mitbestimmt wurde oder vor allem eine spontane, quasi-moralische Reaktion auf einen überraschend entstandenen Krieg war, ist genau zu untersuchen und nicht einfach vorauszusetzen (Koddenbrock und Mertens 2022). Gleichzeitig wird durch die verschränkte Analyse global-nationaler Strukturen und Akteure die semi-periphere Stellung Russlands im globalen Kapitalismus sichtbar. Es zeigt sich dann auch die Tatsache, dass die russische Regierung zumindest eine gewisse Unterstützung bestimmter Kapitalfraktionen haben muss und gleichzeitig von einer expansiven Ideologie getrieben ist.

3. Es gibt unterschiedlich abstrakte »Flughöhen« in der Analyse der Kriegsursachen und ihrer Beziehung zu Kapitalismus.

Während die Kriegsführung zu Zeiten Machiavellis oder von Clausewitz’ noch als ein natürliches Instrument der Politik verstanden wurde, haben die beiden Weltkriege in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen zu einer normativen Orientierung an der Verhinderung des Krieges durch Kooperation beigetragen (Deitelhoff und Zürn 2016). Aber die fundamentale Konflikthaftigkeit der internationalen Ordnung haben sowohl Anhänger*innen der Theorieschule des Realismus wie auch Marxist*innen nie vergessen (Koddenbrock 2022). Realist*innen gehen davon aus, dass Staaten immer (auch militärisch) an ihrem Machterhalt interessiert sind. Marxist*innen analysieren, dass die inhärente Logik des Kapitals, sich immer neue und weitere Verwertungsmöglichkeiten zu suchen, notwendigerweise zu Kriegen führen muss, wenn sich diese Expansion nicht mehr auf friedliche Weise herstellen lässt. Auf dieser Abstraktionsebene trägt die kapitalistische Art und Weise, unsere Weltordnung zu organisieren, immer bereits zu ihrer Kriegsförmigkeit und Konflikthaftigkeit bei.

Aufgrund der relativen Autonomie des Politischen sind Kriege und Konflikte jedoch nicht schematisch vorauszusagen, sondern hängen von den Interessen und Motivationen konkreter Akteure ab. Diese akteursbezogenen bzw. institutionellen Forschungsperspektiven zielen auf die konkreten Kriegs- und Konfliktursachen jenseits der inhärenten Gewaltförmigkeit des globalen Kapitalismus. Hierzu gab es anders als beim grundlegenderen Zusammenhang von Kapitalismus und Gewaltförmigkeit eine durchgehende Debatte in der Konfliktforschung. Aufgrund zahlreicher innerstaatlicher Konflikte, z.B. auf dem afrikanischen Kontinent nach dem vorläufigen Ende des Ost-West-Konfliktes, wurde hier die »Gier und Leid«-Debatte (»greed and grievances«) populär, die den Ausbruch solcher Konflikte entweder mit dem Blick auf die Kosten-Nutzen-Maximierung politischer Gewaltakteure (Rebell*innen u.a.) analysierte oder mit Blick auf die (nicht nur) polit-ökonomischen Leiden, die Akteure zu einem Gewaltakt treiben, wie z.B. Fragen territorialer, identitärer oder sozialer Deprivation (siehe v.a. Collier und Hoeffler 2004). Mit dem Abebben vieler dieser langandauernden und gleichwohl weniger intensiven Konflikte ist es ruhiger um diese Debatte geworden. Nun hat sich hingegen ein neues Interesse für die Kriegsbeendigung ergeben, die gerade auch für die Frage danach, wie lange der Krieg in der Ukraine wohl noch dauern wird, relevant ist (Schreiber 2022).

4. Krieg und gewaltförmige Konfliktführung sind kein Monopol autoritärer Staaten, sondern globales Phänomen und Machtmittel.

In Deutschland hat die Friedens- und Konfliktforschung viel Zeit und Ressourcen in die Erforschung des »demokratischen Friedens« gesteckt (Geis und Wagner 2006). Unter diesem Begriff wurde debattiert, ob Demokratien inhärent friedlicher seien und deshalb weniger Krieg führten. Auf den offensichtlichen Einwand hin, dass die USA, Frankreich, und andere formal demokratische Staaten in diverse Kriege seit 1945 verwickelt waren, wurde dieser Forschungsstrang in Richtung der These weiterentwickelt, dass Demokratien keinen Krieg gegen andere Demokratien führen. Das ist empirisch einigermaßen belegt, lenkt aber primär vom zuerst genannten Befund ab, dass der sogenannte Westen ebenso Krieg führt. Die Beispiele dafür reichen von der Ermordung gewählter Regierungschefs wie Patrice Lumumba und Thomas Sankara über die Ermordung Muammar Gaddafis oder Saddam Husseins, von CIA-Operationen in Lateinamerika oder Indonesien zur Unterstützung autoritärer Regime (Bevins 2020) bis hin zu direkten Kriegen wie dem Vietnamkrieg oder der indirekten Beteiligung am Krieg im Jemen. Eine abgewogene, globale Sicht auf das Konfliktgeschehen kommt nicht umhin, den wichtigen Anteil des Westens am globalen Kriegsgeschehen zu nennen. Die vielen hundert US-Militärbasen auf der ganzen Welt sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Gewalt(-beteiligung). Dies ist aus einer historisch und polit-ökonomisch informierten Perspektive auch nicht überraschend, denn alle kapitalistischen Staaten befinden sich in Konkurrenz zueinander, die nur phasenweise über Normen und Institutionen befriedet wird. Auch Demokratien und der sogenannte Westen können es sich nicht leisten, ihre Weltmarktposition nur mit netten Worten und luftigen Idealen abzusichern.

5. Die Klimakrise und neue Formen der imperialen Konkurrenz (zwischen USA, Russland, China und der EU) werden die Wahrscheinlichkeit gewaltförmiger Konflikte weltweit erhöhen.

30 Jahre eindeutiger US-Hegemonie stehen heute in Frage und der Krieg in der Ukraine ist nur der erste Krieg in einer Reihe von weiteren militärischen Konflikten, die mit der neu anbrechenden Weltordnung einhergehen könnten. Wirtschaftliche Unsicherheit führt zu instabilen Regierungen oder der vermeintlichen Notwendigkeit massiver Repression interner Widersprüche, die wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, über den Kampf mit äußeren Feinden von diesen Problemen abzulenken. Der Aufstieg offen rechtsradikaler Parteien und Personen in Europa, den USA aber auch z.B. in Indien ist dafür Beleg. Ein zunehmend krisenhafter Kapitalismus mit immer weiter wachsender Ungleichheit, Dürren und Überflutungen wird definitiv die Stabilität der US-Hegemonie nicht wiederherstellen, sondern zu neuen, eher instabilen Allianzen zwischen den Kontinenten führen, da alle Staaten immer verzweifelter um die notwendigen Ressourcen für die Klimaanpassung kämpfen werden. Formen der globalen Kooperation wie das »Pariser Klimaabkommen« von 2015 oder die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (»Sustainable Development Goals«) werden in zunehmend offenem Gegensatz zu den wachsenden Konflikten stehen.

Die Aussichten sind nicht gut. Der Titel dieses Heftes zu »Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten« drückt die Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch zurückhaltend aus. Kapitalismus, Krieg und Gewalt waren historisch immer wieder symbiotisch verbunden. Phasen relativen Friedens waren zumeist regional und zeitlich begrenzt. Der Weg aus dem Kapitalismus muss heute ernsthaft in Betracht gezogen werden, denn die Krisen nehmen überhand (vgl. Dörre in dieser Ausgabe, S. 14-18). Wie und durch welche Allianzen wir diese Wege suchen könnten, das könnte ein Beitrag einer »friedens-politischen Ökonomie« sein.

Anmerkung

1) Der Neo-Gramscianismus war in Deutschland das letzte Refugium der kritischen politischen Ökonomie (bspw. Bieling 2011), bevor die Finanzkrise in den Jahren nach 2007 einer neuen und wachsenden Generation der politischen Ökonomie den Boden bereitete.

Literatur

Amin, S. (1974): Accumulation on a world scale: A critique of the theory of underdevelopment. New York: Monthly Review Press.

Altvater, E.; Mahnkopf, B. (1996): Die Grenzen der Globalisierung: Ökologie, Wirtschaft, Weltgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Andrews, K. (2021): The new age of empire. How racism and colonialism still rule the world. London: Penguin.

Beckert, S. (2014): King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München: C.H. Beck.

bell hooks (2022): Männer, Männlichkeit und Liebe. Der Wille zur Veränderung. München: Elisabeth Sandmann Verlag.

Bevins, V. (2020): The Jakarta method. Washington’s anticommunist crusade and the mass murder program that shaped our world. New York: Public Affairs.

Bieling, H-J. (2011): Internationale Politische Ökonomie – Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Bonacker, T. (2005): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Brand, U.; Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: Oekom.

Buckel, S. (2012): Managing Migration – Eine intersektionale Kapitalismusanalyse am Beispiel der Europäischen Migrationspolitik. Berliner Journal für Soziologie 22(1), S. 79-100.

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Kai Koddenbrock ist Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Bayreuth und ab Sommer 2023 Professor für Politische Ökonomie am Bard College Berlin. Er leitet mit Benjamin Braun das Forschungsnetzwerk »Politics of money« (politicsofmoney.org).

Sicherheit in unsicheren Zeiten

Sicherheit in unsicheren Zeiten

von Thomas Würdinger

Unsicherheit und Verunsicherung mögen subjektive Empfindungen sein, oftmals relativ zum sozialen Status. Sie sind aber auch kollektive Perzeption. Als solche können sie enorme Sprengkraft für das soziale Gefüge und das demokratische Miteinander entfalten. Vor allem in unsicheren Zeiten von sozial-ökologischer Transformation, Klimawandel, Corona und Ukraine-Krieg. Dieses Stakkato deutet darauf hin, worauf Sicherheit – oder genauer: die »Herstellung« von Sicherheit – in globalen Zusammenhängen nicht reduziert werden kann: militärische Schlagkraft.

Der Krieg Russlands gegen die Ukra­ine unterminiert die ohnehin fragile Ernährungssicherheit im Globalen Süden. Hierzulande hängen soziale Sicherheit und Energieversorgungssicherheit eng zusammen. Stufe 3 des »Notfallplan Gas« dräut über den Köpfen von Verbraucher*innen und Industriebetrieben. Bange Blicke richten sich auf die Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline. Zahlreiche Branchen sorgen sich um unsichere Lieferketten, ausbleibende Energielieferungen und fehlende Rohstoffe. Die Inflation steigt rasant, das dicke Ende droht vielen Menschen mit der noch ausstehenden Nebenkostenabrechnung. Bereits heute können sich zu viele Menschen elementare Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten. Unausgegorene Tankrabatte helfen da nicht weiter. Die IG Metall fordert deshalb eine Übergewinnsteuer für Krisengewinne, einen Gaspreisdeckel und eine sozial gerechte Entlastung aller Haushalte.

Deutlich wird daran zugleich die Notwendigkeit, politischem Handeln ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zugrunde zu legen. Sicherheits- und Friedenspolitik muss die komplexen Wechselverhältnisse verschiedener Risiken adressieren können. Herausforderungen in der Energie- und Rohstoffversorgung müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie globale Handelsbeziehungen und Lieferketten, die Auswirkungen des Klimawandels ebenso wie das Diktum sozialer Sicherheit. Das wirft mehr Fragen als Antworten auf. Welches Verhältnis zu Russland, aber auch zu China und anderen nicht gerade lupenreinen Demokraten wollen und können wir künftig pflegen? Auf welchen internationalen Institutionen, Organisationen und Normen kann eine wiederzubelebende Architektur für kooperativen Frieden und Sicherheit ruhen? Wie positionieren sich Deutschland und die Europäische Union im Gefüge geopolitischer Spannungen? Das zu erfragen und miteinander auszuhandeln mag denjenigen zuwider sein, die in unsicheren Zeiten auf Eindeutigkeit und den durchgreifenden Mut der Eliten setzen oder Führung bestellen.

Die friedenspolitische Debatte und ihre Protagonist*innen täten mit Blick auf die skizzierten Wechselverhältnisse jedoch gut daran, Selbstvergewisserung statt Besserwisserei zu üben. So sehr diese Einsicht wie ein wohlfeiles Mantra anmuten mag: Es braucht Diskurs – wider simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik. Es geht um mehr als um die unsägliche Frage nach »Sieg« oder »Niederlage«, es gibt zahlreiche Schattierungen zwischen einer Beschränkung auf zivilen Ungehorsam und der Lieferung schwerer Waffen. Unsicherheit, Unschärfe, Widersprüche, sie werden die politische Debatte weiter prägen. Umso wichtiger ist der produktive und wertschätzende Austausch unterschiedlicher Positionen und Argumente. Diese kommunikative Auseinandersetzung um Sicherheit sollte zur Entscheidung(-sfindung) gehören, gerade in unsicheren Zeiten. Entscheidungsunsicherheit sollte opportun sein. Sie ist nachvollziehbar – muss allerdings auch kommuniziert werden. Es ist ein Plädoyer für eine diskursive Zeitenwende.

Klar sind für den schreibenden Gewerkschafter hingegen die Haltung und wesentliche Leitplanken in der sicherheits- und friedenspolitischen Debatte: Grundsätze wie die Achtung von Menschenrechten, das Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz, die Wahrung demokratischer Grundrechte und das Ziel sozialer Gerechtigkeit sind nicht verhandelbar. Eine dauerhafte Steigerung des Etats für Rüstung und Verteidigung auf ein willkürlich erscheinendes Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Gewerkschaften ab. Zudem gilt: Wer ein Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg bringen kann, der sollte vor einem Sondervermögen für den sozialen Frieden nicht zurückschrecken. Wer in der aktuellen Gemengelage weiteren Entlastungen vorschnell eine Absage erteilt oder über 600 Mio. Euro für den sozialen Arbeitsmarkt kürzt, um weiterhin dem goldenen Kalb der Schuldenbremse zu frönen, braucht sich über Gegenwind nicht beschweren. So wird in unsicheren Zeiten jedenfalls keine Sicherheit vermittelt.

Thomas Würdinger ist Ressortleiter Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall. In dieser Funktion ist er Mitglied des Arbeitsausschusses »Abrüsten statt Aufrüsten«.

Zementierte Ungleichheit

Zementierte Ungleichheit

Entwicklungshilfe, Kapitalismus und andere neokoloniale Abhängigkeiten

von Jasper A. Kiepe

Dieses Essay fasst Gedanken zur zementierten Ungleichheit in den neokolonialen Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden zusammen, versucht ein kurzes, aber differenziertes Bild auf das System globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle und die sogenannte »Entwicklungszusammenarbeit« zu werfen und stellt die Frage, wer im postkolonialen Diskurs sprechen darf und wer gehört wird. Wie und von wem können Regierungen und Kreditgeber zur Rechenschaft gezogen werden und wie kann dies helfen, neokoloniale Verhältnisse zu verändern?

Neokolonialismus verstehe ich im Sinne von Kwame Nkrumahs Definition und nach Mark Langan als die Fortsetzung externer Kontrolle, insbesondere über Länder Afrikas, durch neue und subtilere Methoden (nach Langan 2018, S. 4; vgl. auch Weber in dieser Ausgabe, S. 28). Nkrumah warnt vor den potenziell regressiven Auswirkungen von unregulierten Formen der Hilfe, des Handels und ausländischer Direktinvestitionen auf die Armutsbekämpfung und das Wohlergehen in den afrikanischen Ländern. Langan stellt fest, dass dies nicht Korruption, Nepotismus oder Verstöße gegen die Menschenrechte von lokalen Eliten ausschließt. Im Gegenteil, wir müssen Fälle von schlechter Regierungsführung feststellen und kontextualisieren, um zu beleuchten, wie externe Geberorganisationen und Unternehmen solche Handlungen oft ermöglichen (und fördern), um lukrative wirtschaftliche Vereinbarungen zu erhalten. Nkrumah unterscheidet zwei Formen neokolonialer Intervention – bi- und multilaterale »Spenden« oder »Entwicklungshilfe« auf der einen und wirtschaftliche Investitionen auf der anderen Seite –, wobei ich mich in diesem Beitrag vor allem auf die sogenannte institutionelle Unterstützung durch supranationale Organisationen beziehe. So kommen die Systeme globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle in den Blick.

Entwicklung und Abhängigkeit in Theorie und Praxis

Internationale Organisationen der Finanz- und Geldpolitik, wie der Internationale Währungsfonds (IMF), sowie diverse kleinere und mittlere Entwicklungsbanken (u.a. KfW, EIB, EBRD) haben über Jahrzehnte hinweg Kredite an die Länder des Globalen Südens vergeben. Die schiere Summe lässt sich am Beispiel des IMF für einen Einjahreszeitraum gut illustrieren: Zwischen 2019 und 2020 flossen hier mehr als 165 Mrd. US$ an 83 Länder (IMF 2020, S. 28). Die Kreditvergaben der anderen Institutionen kommen hier noch ergänzend hinzu. Die Art der Kreditvergabe unterscheidet sich auch maßgeblich. Während beispielsweise die Weltbank vor allem spezifische Projekte finanziert, unterstützt der IMF Staaten direkt, die dann die lokale Kreditvergabe selbst verwalten und gestalten.

Spätestens seit dem Prozess der Paris-Declaration für Hilfsgelder und deren Vergabe (OECD 2005) werden diese Gelder beinahe ausschließlich an die jeweiligen nationalen Regierungen gegeben. Dies wurde entschieden, um dem Wortlaut nach einerseits Effizienz der Maßnahmen durch lokale Teilhabe zu erhöhen, und andererseits um rechtsstaatliche Rechenschaftsmechanismen, Transparenz und Kontrolle in den jeweiligen Ländern zu stärken. In der Praxis bedeutet dies, dass Kredite vergeben werden, um Regierungen bei einem Reformprozess, bei der Umsetzung nationaler Entwicklungspläne oder bei der Entwicklung von Infrastruktur zu unterstützen, für die die jeweilige Regierung anderweitig kein Budget zur Verfügung hätte.

Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Abhängigkeiten, die die »zementierte Ungleichheit« verdeutlichen. Diese beinhalten allem voran die Abhängigkeit mancher Staaten von Fördergeldern und Krediten und den daraus resultierenden Einfluss der Förderinstitutionen auf Regierungsführung und »Policy« (Langan 2015). Dieser Einfluss gibt Spendenorganisationen und Ländern eine enorme Hebelkraft auf die Exekutive eines souveränen Staates, die fundamentale Kontrollfunktionen außer Kraft setzen kann (siehe z. B. Oxfam 2021). Hierzu können Veruntreuung und Korruption kommen – oft auf der Seite der Empfängerstaaten –, die nur schwer zu verfolgen sind. Organisationen wie der IMF haben sich in den letzten Jahren angestrengt, Veruntreuung von Geldern vorzubeugen und dies wird zunehmend von unabhängigen Organisationen verfolgt (Transparency International 2018).

Eine Abhängigkeit eines Staates und seiner Institutionen von Investitionen ergibt sich, wenn anderweitig wenig Investitionskapital zur Verfügung steht. Hohe Staatsverschuldung ist dann eine natürliche Konsequenz dieser Wirtschaftsordnung. Nach Jahrzehnten des Kreditvergabewesens in die Staaten des Globalen Südens sind folglich wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verschuldungen gegenüber Institutionen des Globalen Nordens entstanden, deren Politik und Handeln wiederum entgegen aller anderslautenden Neutralitätsbekundungen sehr wohl von der jeweiligen politischen Agenda der Geberländer dominiert wird. „In der Zwischenzeit haben sich die Veränderungen der relativen Preise, die im Mittelpunkt der […] Strukturanpassungsprogramme stehen, ungeachtet ihrer Vorzüge als unzureichend erwiesen, um nachhaltiges Wachstum und Entwicklung zu schaffen“, schrieb der südafrikanische Politologe Rod Alence schon 2004 (Ebd., S. 163). Seitdem diese Kritiken immer lauter wurden, haben sich die internationalen Organisationen des Bretton-Woods-Systems bemüht, ihre Programme durch stärkere lokale Teilhabe zu verändern, die Unabhängigkeit der Nationalbanken zu fördern und die Nachprüfung und Nachverfolgung der Mittelverwendungen zu verbessern, um dadurch die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen (Reinsberg, Kern und Rau-Göhring 2021).

Wer spricht, wer wird gehört?

Gleichzeitig erübrigen diese Policy-Veränderungen und die Debatte über die Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit nicht einen Dialog darüber, wer am Ende des Tages profitiert, und mehr noch, wer eigentlich darüber sprechen darf (und wer nicht, siehe Spivak 1988). So hart die Kritik an Strukturanpassungsprogrammen und finanzieller Unterstützung/Kreditvergabe aus einer theoretischen Betrachtung sein kann, die oftmals in den komfortablen Hörsälen der Universitäten des Globalen Nordens angestellt wird, so darf doch gleichzeitig nicht vergessen werden, dass manche dieser strukturellen Entwicklungsprogramme zumindest kurzfristig für viele Menschen etwas zum Positiven verändern können, insbesondere im Bereich der grundlegenden Menschenrechte und der »menschlichen Sicherheit«. Dies bedeutet nicht, den negativen Konsequenzen oder strukturellen, systemischen Problemen den Rücken zuzuwenden, aber es anerkennt die Realität einer kurzfristigen Situationsverbesserung. Deshalb ist eine kritische, postkoloniale Diskussion über diese »Zusammenarbeit« wichtig – ob sie effektiv ist oder nicht und wer am Ende daran profitiert. Dies beinhaltet eine kritische Betrachtung davon, wer in diesem Verhältnis Akteur und wer Statist ist und ob derartige »Unterstützung« perspektivisch weiter existieren sollte. Nicht zuletzt stellt es die Frage danach, wie Kreditvergabe und internationale »Hilfe« effektiver, mit stärkerer Teilhabe des Globalen Südens und funktionierenden Systemen der Rechenschaft gehandhabt werden könnte.

Was in der Behandlung dieser Herausforderungen als Problem sichtbar wird, ist, wessen Stimmen in den Debatten zu Wort kommen, Gehör finden und auch zu materiellen Konsequenzen führen. Werden denn die Stimmen der Menschen des Globalen Südens gehört, die eigentlich selbst über ihre Politik, Wirtschaft und Reformen entscheiden sollten?

Es muss kritisiert werden, dass dies traditionell ein Dialog ist, der im Globalen Norden von Menschen des Globalen Nordens über den Globalen Süden, oder mit wenig Teilhabe lokaler Eliten geführt wird. Dies ist an sich schon ein neokolonialer Akt und verwerflich, weil es bedrohliche Erinnerungen an die verbrecherischen Diskurse der europäischen Kolonialmächte weckt, die die Welt erst in Kolonialmächte und Kolonien aufgeteilt haben. Auch Entwicklungszusammenarbeit wirft Fragen auf – z. B. ob wirklich »zusammengearbeitet« wird, oder ob es sich nicht vielmehr um ein einseitiges Machtverhältnis handelt.

Gleichzeitig sind die Kritiken von Akademiker*innen und Practitioners aus allen Regionen nicht immer repräsentativ. Es gilt wieder einmal das Privileg, sprechen »zu dürfen« – und dies gibt vielleicht berechtigt kritischen Geistern viel Raum, wenngleich die eigentlichen Rezipient*innen entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, die immer noch zu oft in den marginalisierten Randregionen des Globalen Südens leben, keine Stimme in diesem Diskurs haben. In Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit, die sehr vielseitig, manchmal bestimmt nicht effektiv ist, und die viele negative Folgen haben kann, wird häufig vergessen, wie schlecht es vielen Menschen immer noch geht. Dies beinhaltet, wie wenig inklusiv das kapitalistische System auf globaler und lokaler Ebene ist und wie viele Katastrophen und Konflikte es zuzüglich der systembedingten globalen ökonomischen Ungerechtigkeiten gibt. Es bleibt die Frage, wie man die Stimme der Unterrepräsentierten hörbar machen könnte – Demokratisierung und eine erhöhte diskursive Teilhabe der Durchschnittsbevölkerung wären vielleicht Antworten, und eine, die von der Entwicklungsagenda des Globalen Nordens verfolgt wird, die aber zugleich eine normative, koloniale Zuschreibung bleibt.

Hier ergibt sich ein Dilemma, weil zwar Teilhabe durch Entscheidung und Kontrolle bei den kreditbegünstigten Ländern durch demokratische Ordnung erhöht würden, sich gleichzeitig die supranationalen Geberorganisationen jedoch der Kontrolle entziehen und „Zentren politischer Entscheidungsfindung weit weg von öffentlichem Einfluss jeglicher Art“ sind (Fischer 2019, S. 566), in denen Technokrat*innen die Entscheidungen treffen. Zugespitzt könnte argumentiert werden, dass diese Abhängigkeiten kapitalistische Kontrolle über lokale Märkte begünstigen und dies würde nicht funktionieren in Ländern mit starken eigenen Kontrollinstitutionen (vgl. Goldsmith, 2002).

Dieses System bedingt, dass es für Menschen des Globalen Südens oftmals eine Zwangssituation erzeugt, bei der die Frage am Ende nur »friss oder stirb« ist – und auch dies weckt beunruhigende Erinnerungen an koloniale Gewalt. Man könnte argumentieren, dass manche Staaten des Globalen Südens noch nicht bereit sind, ohne »Hilfe« des Globalen Nordens auszukommen. Dies beinhaltet einen subversiven und zutiefst anmaßenden Gewalt­akt, der zwangsläufig in antiquierten Parolen im Sinne von „die sind nicht bereit, wir müssen ihnen helfen“ mündet. Doch die Tatsache, dass Staaten unterschiedlich weit entwickelt sind, ist schon das Ergebnis kolonialer Gewalt und Ausbeutung.

Internationale Maßstäbe und die Realität

Organisationen zwingen Gelder nicht auf, auch wenn im postkolonialen Dialog argumentiert werden könnte, dass die Länder des Globalen Südens oft eigentlich keine Wahl haben. Es sind oftmals die Regierungen, die sich – nicht zuletzt aufgrund eigener Verdienstmöglichkeiten – gerne diese Gelder nehmen. Hier ist Vorsicht geboten: Es klingt das Klischee der kleptokratischen Eliten des Globalen Südens an, das zu oft (aber nicht immer) zutrifft. Gleichzeitig sind Regierungen die Hände gebunden, weil das benötigte Kapital für existentielle Reformen zuhause oft nicht zur Verfügung steht, und weil die Regierungen aufgrund der systemisch fehlenden Kontrolle über die eigene Volkswirtschaft und über die eigenen Ressourcen häufig wenig Spielraum haben. Hier liegt das eigentliche Problem der »kolonialen Geister« – dass sich eine Welt mit wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten verselbstständigt hat, die durch das koloniale Projekt geschaffen wurde und die dem Globalen Süden eine DNA der kapitalistischen (Selbst-)Ausbeutung bis heute zwangsverordnet. Internationale Währungs- und Handels­organisationen sind hierbei nicht die Ursache einer neokolonialen Wirtschaftsordnung im Globalen Süden, sondern ein Symptom davon.

Die Frage nach dem Neokolonialismus in Bezug auf internationale Organisationen ist eigentlich keine Frage nach diesen Organisationen, sondern eine Frage nach den Prämissen unserer Welt und unseres Lebens. Am Ende des Tages ist die Feststellung, dass bestimmte Institutionen »neokolonial« sind oder neokoloniale Politik verfolgen, nicht falsch – aber die Feststellung ist weder überraschend noch direkt verurteilbar.

Insgesamt geht es nicht darum, per se die Zuwendungen abzuschaffen, sondern darum, die (kapitalistischen) Prämissen zu verändern. Es geht darum, einen kritischen Diskurs zu führen, der zwei Ziele verfolgt: zunächst Rechenschaft zu stärken, bei Geber­ländern und Organisationen, aber auch in Empfängerländern. Menschen und Systeme müssen in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, damit die eigenen Regierungen zur Rechenschaft gezogen werden können für Kredite und Reformen, und damit die Frage gestellt werden kann, ob vielleicht in der Zukunft weitere Kredite überhaupt noch nötig sind. Das zweite Ziel sollte sein, den Dialog zu stärken und Raum zu schaffen, um einem repräsentativeren Publikum des Globalen Südens die Entscheidung über seine eigene Politik zu überlassen. Dies würde auch beinhalten, bei den Entscheidungsträger*innen zu diversifizieren und dafür zu sorgen, dass der Globale Süden bei den Geldgebern hinreichend repräsentiert ist. Nur eine Veränderung dieser grundlegenden politischen Prämissen kann die zementierte Ungleichheit zu überwinden beginnen.

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Jasper A. Kiepe arbeitet zu gesamtheitlichen, postkolonialen, lokalen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Nahrungsmittel­verschwendung


Nahrungsmittel­verschwendung

Systemische Ursachen und global organisierte Unverantwortlichkeit

von Tobias Gumbert

Etwa ein Drittel der global produzierten Nahrungsmittel werden Schätzungen zufolge über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg verschwendet. Das Ausmaß verweist auf immense Distributionsprobleme im globalen Agrar-Ernährungssystem, die nicht selten lokal bestehende Konfliktkonstellationen weiter verschärfen. Die globale Gemeinschaft hat mit verstärkten Kooperationsbemühungen und dem Versuch einer besseren Zuordnung und Zuschreibung von Verantwortlichkeiten unter den beteiligten Akteuren auf die Herausforderungen reagiert. Doch wie mit systemischen Ursachen von Nahrungsmittelverschwendung umzugehen ist, bleibt ein ungelöstes Problem.

Mit zunehmender Dringlichkeit stellt sich die Frage nach der Sicherung des Nahrungsmittelangebots für künftig mehr als neun Mrd. Menschen auf dem Planeten. Die Welternährungsorganisation (FAO) hat in ihrem letzten Bericht die Zahl der Menschen, die schon heute von einem schwerwiegenden Ausmaß an Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind, auf 750 Millionen beziffert; der Trend ist negativ und soll bis zum Jahr 2030 auf 840 Millionen ansteigen (FAO 2020, S. xvi). Diese extremen Formen von Hunger und Unterernährung gefährden ein gesichertes Zusammenleben und die zukünftige Entwicklung ganzer Regionen. Bestehende Konflikte des Zugangs zu Land und sauberem Trinkwasser weltweit, u.a. als Folge großflächiger Landinvestitionen, könnten durch ein sinkendes Nahrungsmittelangebot weiter verschärft werden. Bislang beschrieb der dominante Diskurs technologische Innovationen und Produktivitätssteigerungen als die zentralen Hebel, um die globale Nahrungsmittelsituation an die sich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Doch spätestens seit die Größe des Problems der globalen »Nahrungsmittelverschwendung« vor gut einem Jahrzehnt zum ersten Mal annäherungsweise beziffert werden konnte (Gustavsson et al. 2011), ist deutlich geworden, dass die politische Adressierung von Verteilungsfragen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte – nicht nur die Verteilung von Ressourcen, sondern vor allem die Verteilung von Verantwortung.

Globale Ziele

In den letzten 10-15 Jahren ist der Problemkomplex der Nahrungsmittelverschwendung auf der globalen politischen Agenda immer wichtiger geworden. Die Studie »Global Food Losses and Food Waste« (Globale Nahrungsmittelverluste und Nahrungsmittelverschwendung) der FAO stellte den Beginn dieser Entwicklung dar: trotz schlechter Datenlage schätzte die Studie die globale Menge der jährlich nicht dem menschlichen Konsum zugeführten Nahrungsmittel auf 1,3 Mrd. Tonnen – etwa ein Drittel der globalen Erzeugung (Gustavsson et al. 2011). Seitdem hat die FAO eine Reihe verschiedener Foren zur weltweiten Reduzierung von Lebensmittelverlusten und Lebensmittelverschwendung organisiert und geleitet. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) folgte bald darauf mit eigenen Initiativen, um die Eindämmung von Lebensmittelverschwendung als Beitrag zu nachhaltigen Ernährungssystemen zu nutzen.

Diese und weitere Entwicklungen mündeten schließlich darin, dass das Thema Lebensmittelverluste und -verschwendung als spezifisches Ziel innerhalb der »Ziele für Nachhaltige Entwicklung« (SDGs) der Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Das Unterziel 12.3 benennt eine weltweite Halbierung der Lebensmittelabfälle pro Kopf im Handel und auf Konsument*innenebene bis 2030 und ist bestrebt, Lebensmittelabfälle entlang der Produktions- und Lieferkette allgemein zu verringern. Kurz nach Verabschiedung des Ziels rief das World Resources Institute die »Champions 12.3«-Koalition von Führungskräften aus Regierungen, Unternehmen sowie weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen ins Leben, deren Ziel es ist, bei allen Akteuren mehr Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung zu schaffen, das wachsende Netzwerk von Akteuren zu erweitern und sie aufzufordern, gemeinsame Politikempfehlungen und Lösungsansätze zu entwickeln.

Globales Mismanagement?

All die dazugehörigen Maßnahmen zur Verbesserung der globalen Datenbasis, der Optimierung technischer Prozesse, der Ausweitung von Kooperationsbemühungen und Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette, oder die Erinnerung an Eigeninitiative verorten das zugrunde liegende Problem beim individuellen Mismanagement der beteiligten Akteure.

Grundlegend kann demnach zwischen zwei Formen der Verschwendung unterschieden werden:

  • In den Phasen Ernte, Lagerung, Transport, Verarbeitung und Verpackung fallen »Nahrungsmittelverluste« an, die als unbeabsichtigtes Ereignis definiert und daher am besten durch technologische Lösungen (Effizienzsteigerung, verbesserte Kühlung, intelligente Verpackungen etc.) adressiert werden können.
  • »Nahrungsmittelverschwendung« wird hingegen als „das Ergebnis einer Fahrlässigkeit oder einer bewussten Entscheidung, Lebensmittel wegzuwerfen“ dargestellt (Lipinski et al. 2013, S. 4). Diese Problematik wird den Ebenen des Konsums und des Einzelhandels zugeschrieben, und könne demnach durch transparentere Informationen und Aufklärungsmaßnahmen gehandhabt werden.

Diese Problemdiagnosen basieren häufig auf der Vorstellung der Linearität von Wertschöpfungsketten. Diese lässt die Idee naheliegend erscheinen, dass Verantwortung individualisiert und unterteilt werden kann, indem Akteure innerhalb spezifischer Sektoren (Produktion, Transport, Fertigung, Verarbeitung, Einzelhandel usw.) bei den Prozessen, die sie überblicken und beeinflussen können, Verluste reduzieren können. Da die Sektoren über die gehandelten Güter wiederum linear miteinander verknüpft sind, scheint es zudem möglich, sich auf das Management von Endpunkten (Konsumebene) zu konzentrieren, um damit die gesamte Wertschöpfungskette zu beeinflussen. Diese Logiken führen zu der Annahme, dass das Agrar-Ernährungssystem durch die Summe vieler individueller, kausal wirksamer und kalkulierbarer Handlungen verantwortungsbewussten Handelns (insbesondere von den »Enden« ausgehend) transformiert werden kann (Gumbert und Fuchs 2022).

Doch neuere Studien, die einen weiteren Anstieg der globalen Nahrungsmittelverschwendung prognostizieren (Boston Consulting Group 2018) und exaktere Messmethoden anführen (UNEP 2021), legen nahe, dass die eingeschlagenen Reduktionspfade noch lange nicht ausreichen, um das Problem an der Wurzel zu packen. Mehr noch: die zu beobachtenden Ansätze scheinen nur Teile des Problems zu adressieren und die eigentlichen Gefahren zu verkennen.

Ausdruck organisierter Unverantwortlichkeit

Auf den ersten Blick erscheinen die politischen Lösungsansätze plausibel. Sie gehen davon aus, dass kein Akteur ein legitimes Interesse an Verlusten oder Verschwendung von Lebensmitteln haben könne. Daher sei es zielführend, Aufklärung zu betreiben, Best Practices zu teilen, die Koordination zu erhöhen, sprich: das Netz notwendiger Verantwortlichkeiten enger zu knüpfen (so dass hier weniger Nahrungsmittel durch das Netz fallen, um im Bild zu bleiben) und verlorene Kontrolle über die ungewollte Verschwendung von Nahrungsmitteln wiederzuerlangen.

Bereits in den 1980er Jahren wies der Soziologe Ulrich Beck darauf hin, dass genau diese Rationalität bei der politischen Bearbeitung von Umweltproblemen einem Trugschluss unterliegt (Beck 1986). Menschliche Kontrollversuche hätten – insbesondere durch ein hohes Vertrauen in das Innovationspotenzial neuer Technologien – den Effekt, dass die eigentlichen Gefahren verkannt, nur Teile des Problems adressiert, oder gänzlich neue, unerwünschte Nebeneffekte produziert würden. Diese Effekte vollzögen und akkumulierten sich sozusagen im Rücken und außerhalb des Sichtfelds der aktiv Handelnden, und könnten daher selten individuellen Akteuren zugeschrieben werden. Die Akkumulation von Plastikmüll in den Meeren ist dafür ein Paradebeispiel: während sich Recycling-Infrastrukturen seit den frühen 1990er Jahren global im Aufbau befinden, ist das Thema der Vermüllung der Meere erst seit wenigen Jahren auf der politischen Agenda und im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Trotz Koordination und Kontrolle bleibt so verantwortliches Handeln aus. Beck führt diese Dynamik nicht auf »Nichtwissen«, mangelnde Kompetenz oder fehlende Verantwortlichkeit der Akteure zurück. Er beschreibt in seinem Buch »Risikogesellschaft« (1986), wie Institutionen moderner Gesellschaften Bedrohungen zunehmend als kalkulierbare Risiken erfassen und managen, wodurch sie als standardisierte Operationen von Bürokratien institutionell eingeschrieben werden. Dadurch können Prozesse, welche vorhersehbar und unerwünscht sind, einzelnen Akteursgruppen oder Sektoren kausal zugeschrieben und die Aufgaben für die Behebung bzw. Reduzierung sogenannter „negativer Externalitäten“ übertragen werden. Die Adressierung unerwünschter, aber unvorhersehbarer Entwicklungen bleibt dabei jedoch strategisch unberücksichtigt, oder anders gesagt: gerade weil alle Akteure sich auf ihre individuellen Verantwortlichkeiten konzentrieren, entsteht Unverantwortlichkeit in den Zwischenräumen koordinierten Handelns und wird damit zu einem konstitutiven Merkmal rechtlicher, ökonomischer und politischer Strukturen.

Warum spricht Beck jedoch von organisierter Unverantwortlichkeit, wenn es scheinbar um ungewollte Nebeneffekte geht? Über Zeit werden gesellschaftliche Bearbeitungsstrategien zu einem Bestandteil der – in den Worten Becks – „sozialen Definitionsverhältnisse“, das heißt die vorherrschenden Problemdiagnosen und korrespondierenden Lösungsstrategien (hier: globale Nahrungsmittelverschwendung als Ursache von Mismanagement) werden normalisiert und dadurch legitimiert (Beck 1988, S. 100). Sie konstituieren fortan den „normalen Umgang“ mit Sachfragen und Problemlagen und es wird zunehmend schwieriger, diese Strategien zu hinterfragen. Durch diese Form der Organisation würden, so Beck, sowohl die dynamische Entwicklung von Umweltproblemen als auch deren Bedeutung und Tragweite verkannt. Mehr noch: einzelne Akteure ziehen ihren Nutzen daraus, die sozialen Definitionsverhältnisse ständig zu reproduzieren, wodurch es problematisch wird, hier nur von Nebeneffekten zu sprechen.

Becks Diagnose legt also nahe, dass eine in seinem Sinne systemische, organisierte Unverantwortlichkeit nicht nur parallel zu einer Vielzahl individuell und verantwortlich handelnder Akteure bestehen kann, sondern dadurch gerade gestützt oder sogar hervorgebracht wird. Im nächsten Abschnitt soll näher ausgeführt werden, wie diese recht abstrakten Konzepte dabei helfen können, die Gründe für das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung näher zu beleuchten.

Verschwendung als strategischer Effekt

Das Ausmaß der globalen Nahrungsmittelverschwendung ist ohne den Fokus auf seine strukturellen Treiber kaum zu verstehen. Diese Treiber sind in erster Linie Prozesse, die ursächlich nicht auf das strategische Handeln Einzelner zurückgeführt werden können und in ihrer Verbreitung globalen Charakter haben. Hier sind Prozesse anzuführen, die weltweit zu einem massiven Überangebot an Lebensmitteln führen, wie etwa die kommerzielle Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion oder den wachsenden Einfluss des Einzelhandels entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Diesen Entwicklungen zugrunde liegen wiederum Wachstumszwänge und globaler Wettbewerb, die für konstante Überproduktion sorgen, ohne dass diese der menschlichen Bedürfnisbefriedigung zukommen würde.

Dafür lassen sich viele Anhaltspunkte liefern. Das Management von Nahrungsmittelverschwendung ist mittlerweile zu einem global rasant wachsenden Markt geworden: 36,04 Mrd. US$ Umsatz verzeichnete dieser im Jahr 2020, bei einer jährlichen Wachstumsrate von 5,8 % (Fior Markets 2021). Die in diesem Markt aktiven Unternehmen sind zunehmend auf anhaltende Flüsse von Nahrungsmittelabfällen angewiesen. Das Segment der Biogasproduktion erfährt hier besonders hohe Zuwächse: obwohl Prävention von Verschwendung (z.B. auf EU-Ebene) das präferierte Politikziel ist und Energiegewinnung nur eine nachrangige Stelle in der Liste möglicher Reduktionsmaßnahmen einnimmt, bestehen in vielen EU-Staaten finanzielle Anreize für Unternehmen, Abfälle der Energiegewinnung zuzuführen (Bradshaw 2018). Technologische Pfadabhängigkeiten führen zudem dazu, dass viele Anlagen darauf angewiesen sind, energiereichere Bestandteile zusätzlich zu Abfällen zu vergären, um hochwertigeres Biogas zu produzieren, wodurch der Verbrauch an Nutzpflanzen steigt (Alexander 2016). Werden die Begriffe Nahrungsmittelverluste und -verschwendung weiter gefasst, um auch jene Nahrungsmittel zu berücksichtigen, die nicht dem menschlichen Konsum zugeführt werden und stattdessen z.B. für die Biokraftstoffproduktion genutzt werden, ist das Ausmaß des Problems noch wesentlich größer.

Cloke (2013) betrachtet als techno-­regulatorische Ursachen“ auch Technologien der Lebensmittelkonservierung wie Gefriertrocknung oder Vakuumierung, welche die Möglichkeit für sämtliche Akteure ausweiten, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, als tatsächlich benötigt werden. Auch hohe Anforderungen an Lebensmittelsicherheit veranlassen Akteure (bzw. verpflichten sie rechtlich) dazu, weitaus mehr Nahrung zu entsorgen, als tatsächlich nicht mehr genießbar ist. Gleichzeitig bestehen weiterhin entweder rechtliche Hürden für Unternehmen, übriggebliebene Nahrungsmittel an Hilfsorganisationen weiterzugeben, oder zivilgesellschaftliche Organisationen werden dadurch abgeschreckt, dass sie mit den »Resten« von Händlern auch das »Restrisiko« übernehmen und für eventuelle gesundheitliche Folgeerscheinungen haftbar gemacht werden können (Bradshaw 2018).

In diese Kategorie fallen außerdem Abfälle, die durch global agierende Supermärkte und Großhändler anfallen, etwa indem diese ihre riesige Nachfragemacht nutzen. Der Handel schützt sich vor Risiken im Zusammenhang mit Verderblichkeit und Hygienevorschriften, indem er die Verantwortung und die Kosten für Nahrungsmittelabfälle auf die Lieferant*innen und Produzent*innen verlagert; bestellte Lieferungen werden abgelehnt oder Verträge einseitig gekündigt (Gille 2013). Beispielsweise berichteten Landwirt*innen und Exporteur*innen aus Kenia, die mit europäischen Einzelhändler*innen zusammenarbeiten, dass durchschnittlich 30 Prozent der Lebensmittel auf Farmebene abgelehnt werden und 50 Prozent vor dem Export (Feedback 2015, S. 5). Gründe für die Ablehnung sind in der Regel kosmetische Vorgaben, aber ebenso Auftragsstornierungen aufgrund von Last-Minute-Lieferanpassungen, die zu finanziellen Einbußen und einer erhöhten Verschuldung der Landwirt*innen aufgrund fehlender Entschädigungen führen. Darüber hinaus verbieten diese Akteure den Erzeuger*innen in vielen Fällen vertraglich, ihre Produkte auf alternativen Märkten zu verkaufen, was zu noch größeren Mengen verschwendeter Produkte führt (Stuart 2009).

Viele weitere Prozesse könnten an dieser Stelle angeführt werden, die allesamt ein Zeugnis davon wären, dass Nahrungsmittelabfälle entstehen, obwohl sämtliche Akteure im Rahmen der vorgegebenen ökonomischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen agieren. Dieses Ausmaß ist unverantwortlich, und doch organisiert. Für Cloke ist Nahrungsmittelverschwendung in dieser Hinsicht sogar ein gewollter Kernbestandteil des unternehmensdominierten globalen Agrar-Ernährungssystems. Er bezeichnet dieses daher auch als „vastogenic system“ (Cloke 2013, S. 622), als Abfall und Verschwendung hervorbringendes und förderndes System. Verluste und Verschwendung werden nicht nur kalkuliert und eingepreist, sondern sind notwendig, um den beschleunigten Fluss von Gütern über und durch Wertschöpfungsketten anzutreiben. Solange politische Lösungsansätze diese strukturellen Treiber nicht adressieren, wird sich das Problem der globalen Nahrungsmittelverschwendung im Lichte gut sichtbarer und teilweise sogar sehr ambitionierter, individueller Reduktionsbemühungen weiter verschärfen.

Hin zu kollektiven Verantwortlichkeiten

Keine Frage, die globale Aufmerksamkeit, die das Thema der globalen Nahrungsmittelverschwendung in den letzten Jahren erfahren hat, ist wichtig und lange überfällig gewesen. Die gegenwärtig global koordinierten Reduktionsbemühungen weisen in die richtige Richtung, insbesondere, wenn sich nationale Regierungen an den Indikatoren und Lösungsvorschlägen zur Umsetzung des SDG 12.3 beteiligen. Doch der Prozess birgt die Gefahr, an sektorspezifischen Vorgaben und »zumutbaren« Richtwerten Halt zu machen. Wie also ist politisch in Zukunft zu verfahren?

Einflussreichen Akteuren, die bislang von „vastogenic systems“ profitiert haben, sollte eine größere Verantwortung für Schadensminderung zugemutet werden können, selbst wenn kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und negativen Auswirkungen hergestellt werden kann. Von Unternehmen, die eine besondere Machtposition innehaben und die die Ressourcen und Fähigkeiten zur Veränderung bestehender systemischer Rahmenbedingungen besitzen, sollte daher öffentlich eine stärkere Verpflichtung zu verantwortungsvolleren Geschäftspraktiken eingefordert werden können, insbesondere unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen von Landwirt*innen.

Relevante Governance-Initiativen müssen ökologische und soziale Fürsorge und Vorsorge beinhalten und können durch transparente und partizipative Institutionen gefördert werden. Diese sollten kollektives Handeln (ermöglicht durch wechselseitige Beobachtung, Motivation und ggf. Sanktion der beteiligten Stakeholder) statt der Zuweisung partieller Verantwortlichkeiten betonen und den Umgang mit den hier geschilderten unbeabsichtigten, unabsehbaren Folgen zu einem wichtigen, zusätzlichen Ziel erklären. Ferner sollten nicht nur wirtschaftliche Sektoren und Branchen entlang der Wertschöpfungskette zu kollektivem Handeln verschränkt, sondern ebenso räumliche und zeitliche Fernbeziehungen berücksichtigt werden (bspw. durch die Repräsentation von Produzent*innennetzwerken und Fürsprecher*innen zukünftiger Generationen). Dies könnte konkret zu stärkeren Monitoring-Instrumenten führen, etwa um Missbräuche durch transnationale Unternehmen umfassend aufzuklären oder anonyme Beschwerdeverfahren einzurichten, und so dazu beizutragen, die „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Beck 1988) nach und nach abzubauen.

Literatur

Alexander, C. (2016): When Waste Disappears, or More Waste Please! In: Mauch, C. (Hrsg.): Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste. RCC Perspectives, Transformations in Environment and Society, S. 31-39.

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Beck, U. (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Boston Consulting Group (2018): Tackling the 1.6-Billion-Ton Food Loss and Waste Crisis. The Boston Consulting Group.

Bradshaw, C. (2018): Waste Law and the Value of Food. In: Journal of Environmental Law 30(2) S. 311–331.

Cloke, J. (2013): Empires of Waste and the Food Security Meme. In: Geography Compass 7/9, S. 622-636.

FAO et al. (2020): The State of Food Security and Nutrition in the World 2020. Transforming food systems for affordable healthy diets. Rom: FAO.

Feedback (2015): Food Waste in Kenya. Uncovering Food Waste in the Horticultural Export Supply Chain. London: Feedback.

Fior Markets (2021): Global Food Waste Management Market. Business Marketing Report.

Gille, Z. (2013): From Risk to Waste: Global Food Waste Regimes. In: The Sociological Review 60(S2), S. 27-46.

Gumbert, T.; Fuchs, D. (2022): Moral Geographies of Responsibility in the Global Agrifood System. In: Hansen-Magnusson, H.; Vetterlein A. (Hrsg.): The Routledge Handbook on Responsibility in International Relations. London/New York: Routledge, S. 153-163.

Gustavsson, J. et al. (2011): Global Food Losses and Food Waste. Extent, Causes, And Prevention. Rom: Food and Agriculture Organization of the United Nations.

United Nations Environment Programme (UNEP) (2021): Food Waste Index Report 2021. Nairobi.

Tobias Gumbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der WWU Münster. Er forscht zu Fragen globaler Umweltgovernance und demokratischer Nachhaltigkeitspolitik.

Der Fluch des »Ressourcenfluchs«


Der Fluch des »Ressourcenfluchs«

Postkoloniale Bedenken zu ökonomischem Determinismus

von Jasper A. Kiepe

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, werden oft mit einem angeblichen »Ressourcenfluch« in Verbindung gebracht. Dieser Begriff ist problematisch, da er in einer rassistischen Tradition steht und vorgibt, das Problem sei im afrikanischen Boden verwurzelt. Zudem macht der Wortgebrauch die kapitalistische Ausbeutung, auf der die Ressourcenausbeutung basiert, sowie die damit verbundene koloniale und neokoloniale Gewalt unsichtbar. Der Begriff steht so einer holistischen Betrachtung von Konflikt, die auch Kritik an den Prämissen des weltweiten Marktes beinhaltet, im Weg.

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, und damit auch in Subsahara-Afrika, werden oft unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die unter dem Stichwort »Ressourcenfluch« bekannt gewordene Theorie wurde geprägt von Autor*innen wie Humphreys, Sachs und Stiglitz (2007) sowie Collier (z.B. in Bannon und Collier 2003; Collier und Hoeffler 2004). Sie besagt, in aller Kürze, dass das Vorkommen von Rohstoffen, insbesondere Mineralien und Erdöl, die Entwicklung in Ländern des Globalen Südens hemmt und Konflikte begünstigt.

Kritische Wissenschaftler*innen verweisen dagegen auf die Überbewertung wirtschaftlicher Faktoren und die mangelnde Komplexität der Theorie, die insbesondere wenig Raum für nuancierte Erklärungen multidimensionaler Konflikte lässt (Vogel und Havenith 2014). Andere Autor*innen hinterfragen die Beziehung zwischen der Hypothese des »Fluchs« und den verwendeten empirischen Daten, sowie die Übertragbarkeit der Theorie auf beliebige Staaten (Di John 2011).

Das Bild vom »Ressourcenfluch« hält sich allerdings in der journalistischen Berichterstattung und den Populärwissenschaften – z. B. im Artikel »Der Afrikanische Fluch« in der ZEIT (Berbner, Henk und Uchatius 2018). Hier werden zunächst bedeutungsschwere Fragen aufgeworfen: u.a. „Was ist geschehen, das Afrika so verlassenswert macht?“. Diese werden dann (voller Klischees) in direkten Zusammenhang mit dem Ressourcenfluch gestellt. Auch in der populären Kultur, z.B. im Theaterstück »Das Kongo-Tribunal« (2017) und spätestens seit den Hollywood-Filmen »Blood Diamond« (2006) oder »Lord of War« (2005), hat sich das Bild von den »Blutdiamanten« beim europäischen Publikum verfestigt und sogar die Terminologie des Kimberley-Prozesses, dem internationalen Abkommen über die Ausweisung der Herkunft von Diamanten, geprägt (Vogel und Havenith 2014).

Der Mythos des »Ressourcenfluchs«

Der Begriff »Ressourcenfluch« ist zwar eingängig, aber dennoch aus einer Vielzahl von Gründen problematisch, nicht zuletzt aufgrund der Sprache: »Fluch« (engl. curse) behauptet hier einen von außen zugeschriebenen, pseudo-spirituellen Determinismus, der an eine lange Tradition orientalisierender, rassistischer Außenbezeichnungen anknüpft (Mazrui 2005) und Afrika als einen dunklen, bedrohlichen Ort portraitiert, an dem selbst Reichtum zum Fluch wird.

Die vermeintliche Schicksalshaftigkeit des »Fluchs« verlegt die Verantwortung nach Afrika und macht ihn zu einem Phänomen des Globalen Südens – die Folgen kolonialer und neo-kolonialer Praktiken werden zu einem afrikanischen Problem. Dabei wird nur gelegentlich das Augenmerk auf die Rolle früherer Kolonialmächte oder ihrer Unternehmen gerichtet und dies, ohne die Problematik der damit verbundenen Ausbreitung der globalen Weltwirtschaft anzusprechen. Diese Verschiebung spiegelt eine koloniale Fantasie: dass die Gründe für Krieg, Korruption und Elend quasi im afrikanischen (oder generell tropischen) Boden liegen. Dies ist eine Reproduktion rassistischer, kolonialer Stereotype, die die Menschen Afrikas als »brutale Wilde« darstellten. Gleichzeitig untermauert diese Sicht das problematische – und widerlegte – Klischee vom verarmten, chancenlosen, homogenen Kontinent Afrika.

Ökonomische Kritik des Begriffes

Neben der sprachlichen Problematik des Begriffes, gilt es auch die ökonomische Analyse hinter dem Begriff zu kritisieren. Die gewaltsame Kolonialisierung Afrikas war vor allem ein kapitalistisches Projekt, und dieses hat tiefe Wurzeln geschlagen. Diesen Ursprüngen wird allerdings in vielen Forschungsprojekten und Literatur über die Situation Afrikas keine Aufmerksamkeit entgegengebracht und wenn, dann in einer anderen Verpackung (z.B. Armut; siehe Wiegratz 2018). Die Verantwortung für die Auswirkungen des »Ressourcenfluchs« wird »Afrika« zugeschoben.

Ein solcher Fluch muss aber dazu einladen, über Kapitalismus und Ausbeutung zu sprechen, genauer: über Neokolonialismus. Schon 1965 kritisierte der erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah (1965, S. IX), „dass das wirtschaftliche System und dadurch die Politik eines Staates von außerhalb kontrolliert sind“.

Somit müssten auch die Triebkräfte des Marktes, die Verantwortung der (nicht nur) europäischen Konsument*innen oder die Verantwortung ehemaliger Kolonialmächte in den Fokus der Analyse gestellt werden. Beispielhaft berechnete ein Bericht einiger Nichtregierungsorganisationen für das Jahr 2014 einen jährlichen Finanzzufluss von 134 Mrd. US$ nach Afrika, vor allem in Form von Krediten, Investitionen und Entwicklungshilfe, bei einem gleichzeitigen Abfluss von 192 Mrd. US$ in Form von Profiten (Health Poverty Action et al. 2014). Dies deutet auf etwas anderes als einen »Ressourcenfluch« hin.

Überdies wird Afrika immer noch als europäisches Privileg verstanden. Die zeitgenössische Sorge über die »chinesische Expansionspolitik«, die sich häufig in populären Debatten findet, ist besonders interessant, scheint sie doch oft nicht Sorge über die Selbstbestimmtheit moderner afrikanischer Staaten zu sein, sondern vielmehr Sorge in Bezug auf »europäische Interessen« in Afrika. Die problematische Rolle europäischer Unternehmen und europäischer Entwicklungshilfe, die oft Hand in Hand mit politischen Forderungen kommt, wird dagegen verharmlost. Häufig wird auch unterschlagen, dass vielerorts Menschen von chinesischen Investitionen profitieren (van Mead 2018). Es scheint sich vielmehr um eine »Gefahr-im-Osten-Rhetorik« zu handeln, die der des »Kalten Krieges« ähnelt; eines Krieges der in den oft vergessenen Stellvertreterkriegen in Angola, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Mosambik erschreckend heiß wurde (de Souza 2016).

Der Fluch der Armut: (k)ein Problem Afrikas

Die Bezeichnung »Ressourcenfluch« vernachlässigt außerdem, dass nicht die Ressourcen selbst das Problem darstellen, sondern dass in Regionen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind, Konflikte durch die Dynamik des Marktes (z. B. die Nachfrage nach wertvollen, seltenen Ressourcen) angefacht werden können.

Die Beteiligung am globalen Weltmarkt wurde Afrika in kolonialer Zeit zwangsverordnet. Moderne strukturelle Probleme resultieren aus dieser Zwangsverordnung und sind in der postkolonialen Epoche institutionell verankert in Form von internationalen Organisationen, transnationalen Handelsregimen und auch der Entwicklungshilfe. Zudem werden die Internationalen Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds seit Langem heftig kritisiert, u.a. wegen der Untergrabung demokratischer Strukturen in Förderländern oder wegen Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsbedenken bei Projekten, und das nicht nur in Subsahara-Afrika (für einen Überblick vgl. Bretton Woods Project 2019).

Der Anschluss postkolonialer Staaten Afrikas an internationale Märkte ist für diese prägend und, so schreibt der Ökonom Kenneth Amaeshi (2015), „stimmt nicht immer mit den Bedürfnissen von Menschen in Afrika überein. Es bleibt übermäßig beeinflusst und wird von Agenden außerhalb des Kontinents bestimmt – ob das nun Europa oder die neuen Weltmächte (zum Beispiel China) sind. Auch wenn die früheren Kolonialmächte sich auf dem Papier verabschiedet haben: Kapitalismus in seiner heutigen, institutionalisierten Form ist ein Exportgut der Kolonialzeit und in modernen Institutionen (politischen Systemen, Regierungen, Bildungssystemen etc.) fest verankert. Die Theorie des »Ressourcenfluchs« lässt außer Acht, dass die Prämissen für Konflikt nicht endogen sind, sondern erst durch ein kapitalistisches System erzeugt wurden.

Diese Kritik ernst zu nehmen hieße, Armut und Chancenlosigkeit als eine problematische Folge des globalen Kapitalismus zu benennen, und diese nicht als ein »Problem Afrikas« zu sehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Afrika ist nicht per se arm oder chancenlos und war es nie. Weder in einer, in Europa oft vergessenen und als ahistorisch jeder ernsthaften Analyse entzogenen, vorkolonialen Zeit noch seit Beginn des von Anfang an auf Widerstand stoßenden Kolonialismus. Auch die postkoloniale Gegenwart des 21. Jahrhunderts unterliegt der Dynamik von Jahrhunderten systematischer Ausbeutung, Gewalt und kolonialer Vernichtungspolitik, die schwer zu überkommen sind und z. B. in der Demokratischen Republik Kongo in den Tagen nach der Unabhängigkeit durch kleptokratische Eliten fortgeführt wurden (Stearns 2012, S. 338).

Die fragile Gegenwart

Nun bedarf es nicht unbedingt »­großer« Armut und Chancenlosigkeit, um Konflikte zu begünstigen. Es reicht, dass einige Menschen sehr wenig haben – es handelt sich eher um ein Klassen- und Stratifizierungsproblem mit hohem Konfliktpotential. Armut und Chancenlosigkeit sind nicht primär Ursache von bewaffnetem Konflikt, sondern zunächst Symptom des Kapitalismus.

Die Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo wird oft zitiert als Beispiel für den »Ressourcenfluch« und tatsächlich spielen ökonomische Dimensionen in den Konflikten, die die Region erschüttern, eine große Rolle: Das Land leidet in manchen Teilen unter strukturellen Ungleichheiten, Armut und dem Fehlen kritischer Infrastruktur. Hinzu kommen jedoch auch allerhand weitere Faktoren: mehrere Ebola-Epidemien (die von einigen Autor*innen auch eng mit dem Ressourcenfluch in Zusammenhang gebracht werden; Garrett 2019), Naturkatastrophen, koloniale Geister und ein eingeschränkter zivilgesellschaftlicher Raum. Klar ist, dass die Ursachen von Konflikten in dieser Region extrem komplex sind und sich häufig einer schematischen Betrachtung entziehen (vgl. Kalyvas 2003). Die Fluch-Terminologie dagegen simplifiziert komplexe Konfliktursachen, reproduziert antiquierte »Finsternis«-Metaphern und objektifiziert Menschen als »Verfluchte«, anstatt einer differenzierten Analyse struktureller Probleme – und damit auch einer differenzierten Betrachtung von Konflikt selbst Raum zu geben.

Hinzu kommt die mit dem Fluch verbundene Kurzsichtigkeit, die Menschen ihre Handlungsfähigkeit abspricht. Der Anfang einer differenzierten Betrachtung müsste sein, die DR Kongo insgesamt als fragiles, konfliktanfälliges politisches System zu verstehen, in dem »Political Space« noch verhandelt wird (Vogel et al. 2019), anstatt den Staat einfach als »verflucht« abzutun. Denn genau dieses fragile System und den politischen Handlungsraum seiner Bürger*innen zu stabilisieren ist auch ohne »Fluch« schwierig genug. Umso mehr in einem autokratisch regierten, qua Verfassung vermeintlich hochgradig zentralisierten Land, das, in den Wirren internationaler Politik gefangen, nie richtig die Chance hatte, sich von den kolonialen Zerstörungen zu erholen. Verschiedene bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und regionalen oder internationalen Allianzen tragen zur Instabilität in einer Region bei, in der eine fundamentale Infrastruktur und ein staatliches Gewaltmonopol fehlen (Vogel und Stearns 2018). Eine simplifizierte Konfliktursache (»der Kampf um Konfliktmineralien«) lädt dann schnell zu eurozentrischen, die oben genannten komplexen Zusammenhänge ignorierenden, vereinfachenden Lösungen ein, die ebenfalls zu kurz greifen: z.B. die Forderung, unspezifisch »Governance« nach europäischem Vorbild zu schaffen (Vircoulon 2011).

Fazit: Sprache und Forschung dekolonisieren

Politikwissenschaftler*innen und auch Journalist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen müssen sich von einer passiven, mystifizierenden, die Problematik verschiebenden Terminologie lösen. Stattdessen sollte, unter Einbeziehung postkolonialer Kritik und mit kritischem Blick auf die liberale Weltordnung, die Debatte um Konfliktursachen erweitert werden. Dies muss eine Kritik an den institutionellen kapitalistischen Prämissen und an der begrifflichen Verschiebung der Ursachen »nach Afrika« beinhalten. Ein kleiner, jedoch entscheidender Schritt hierzu wäre eine sensiblere Sprache, die nicht länger suggeriert, dass der Konflikt um Rohstoffe ein »afrikanischer Fluch« sei. Gleichzeitig dürfen wirtschaftliche Interpretationen bewaffneter Konflikte nicht länger eine fundamentale Kritik an der internationalen politischen Ökonomie ausblenden.

Literatur

Amaeshi, K. (2015): Why Africa needs capitalism that is aligned with its development needs. The Conversation. 20.10.2015.

Bannon, I.; Collier, P. (2003): Natural resources and conflict. What can we do. In: Bannon, I.; Collier, P. (Hrsg.): Natural Resources and Violent Conflict. Washington, D. C.: The World Bank, S. 1-16.

Berbner, B.; Henk, M.; Uchatius, W. (2018): Der afrikanische Fluch. DIE ZEIT, 20.6.2018.

Bretton Woods Project (2019): What are the main criticisms of the World Bank and the IMF? 4.6.2019.

Collier, P.; Hoeffler, A. (2004): Greed and grievance in civil war. Oxford Economic Papers, Vol. 56, Nr. 4, S. 563-595.

de Souza, A. N. (2016): Between East and West. The cold war‘s legacy in Africa. Al Jazeera. 22.2.2016.

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Garrett, L. (2019): Your cellphone is spreading Ebola. Foreign Policy, 17.4.2019.

Health Poverty Action et al. (2014): Honest Accounts? The true story of Africa’s billion dollar losses. London.

Humphreys, M.; Sachs, J.; Stiglitz, J. (Hrsg.) (2007): Escaping the Resource Curse. New York: Columbia University Press.

Kalyvas, S. (2003): The ontology of »Political Violence«. Action and identity in civil wars. Perspectives on Politics, Vol. 1, Nr. 3, S. 475-494.

Mazrui, A. (2005): The Re-Invention of Africa: Edward Said, V. Y. Mudimbe, and beyond. Research in African Literatures, Vol. 36, Nr. 3, S. 68-82.

Nkrumah, K. (1965): Neo-Colonialism. New York: International Publishers.

Stearns, J. (2012): Dancing in the glory of monsters. The collapse of the congo and the great war of Africa. New York: Public Affairs.

The Fund for Peace (2020): Fragile States Index – Measuring Fragility: Risk and Vulnerability in 178 Countries. Fragility in the World 2020. fragilestatesindex.org.

Van Mead, N. (2018): China in Africa. Win-win development, or a new colonialism? The Guardian, 31.7.2018.

Vircoulon, T. (2019): Behind the problem of ­conflict minerals in DR Congo governance. International Crisis Group, 19.4.2011.

Vogel, C.; Havenith, J. (2014): Beyond greed or grievance: understanding conflict in resource-rich states. African Arguments, 17.4.2014.

Vogel, C.; Stearns, J. (2018): Kivu’s intractable security conundrum, revisited. African Affairs, Vol. 117, Nr. 469, S. 695-707.

Vogel, C.; et al. (2019): Cliches can kill in Congo. Foreign Policy, 30.4.2019.

Wiegratz, J. (2018): The silences in academia about capitalism in Africa. africasacountry.com, 13.12.2018.

Jasper A. Kiepe hat einen Master in Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konflikte und Menschenrechte von der SOAS University of London, arbeitet bei einer humanitären Hilfsorganisation und beschäftigt sich mit gesamtheitlichen, postkolonialen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.