Rüstungsexportkontrollatlas | 2023

Rüstungsexportkontrollatlas

mit Beiträgen von David Scheuing und Marius Pletsch, Andrea Kolling, Anna Katharina Ferl, Andreas Seifert, Luca Schiewe und Julius-Anton Bussenius, Simone Wisotzki, Jürgen Grässlin, Markus Bayer, Max Mutschler, Michael Brzoska, Anna von Gall

herausgegeben durch die Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)
in Koordination mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

erscheint als Beilage zu W&F 4/2023

Vorwort

von David Scheuing und Marius Pletsch

Deutsche Rüstungsexporte boomen – aber so ganz genau ist der Öffentlichkeit oft nicht klar, was und warum von welchem Unternehmen wohin exportiert wird. Es wird vielmehr eine emotionale und oft erstaunlich faktenfreie Diskussion im öffentlichen Raum geführt, weshalb »deutsche Tabus« fallen müssten. Dabei gibt es an der derzeitigen Praxis von Rüstungsproduktion und -export viel zu kritisieren: Mangelnde Transparenz, widersprüchliche Exportentscheidungen, undemokratische Entscheidungsverfahren und vieles mehr.

Im Kontext der Militarisierungs- und Rüstungsschübe, verstärkt durch die »Zeitenwende« und die Bestrebung, Deutschland »kriegstüchtig« zu machen, sehen wir eine dreifache Relevanz für einen Rüstungsexportkontrollatlas, den wir hiermit vorlegen.

Zum einen hatte es in den Jahren vor dem einschneidenden Ereignis des russischen Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022 doch signifikante Bewegung und Zusagen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegeben, eine umfassendere und bedeutungsvollere Rüstungsexportkontrolle möglich zu machen. Dies mündete noch im Herbst 2021 im Versprechen des Koalitionsvertrags gemeinsam mit der FDP, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auf den Weg zu bringen. Seither jedoch herrscht weitgehend Stille.

Zum zweiten hat die öffentliche Diskussion um die Lieferung von Rüstungsgütern und Waffen an dritte Staaten in den vergangenen zwei Jahren eine dramatische Verschiebung erlebt. Von einer sehr skeptischen Haltung der breiteren Öffentlichkeit hin zu einer vor allem auf die moralische Gebotenheit der Waffenlieferungen ausgerichteten Debatte, in der die Konsequenzen einer solchen Exporthaltung ebenso wie die historische Sinnhaftigkeit einer restriktiven Haltung gleichsam missachtet oder diskreditiert werden.

Zum dritten zeugten die Schritte des zuständigen Wirtschaftsministeriums im Spätsommer 2023 auch von der Bereitschaft, Exporte für bestimmte Rüstungsgüter deutlich zu vereinfachen und zu erleichtern. Die Rede ist von den neuen »Allgemeingenehmigungen«. Diese passen sich in ein schon länger erkennbares Exportgebahren ein, in dem die praktizierte »restriktive« Rüstungsexportpolitik zunehmend ausgehöhlt wird (nicht zuletzt durch Lobbydruck der Rüstungsindustrie), z.B. im Rahmen von europäischen Gemeinschaftsprojekten oder bei entsprechend gelagerten geopolitischen Interessen des Staates.

In allen diesen Dimensionen bedarf es der Erinnerung an die Bedingungen und Konsequenzen von Rüstungsproduktion und -export und einer Schärfung der Debatte um Rüstungskontrolle. Damit dies auch gelingen kann, geht der Atlas logisch in drei Schritten vor: Der erste Teil des Atlas zeigt die Bedeutung der Rüstungsproduktion für den Standort Deutschland, seine Verflechtungen, seine Finanzierungen und seine Niederlassungen. Der zweite Teil des Atlas arbeitet dann sowohl Bedingungen für die Exportargumentationen heraus, als auch die ganz konkreten Konsequenzen von Exporten.

Im dritten Teil des Atlas werden die aktuellen strukturellen Bedingungen für Rüstungskontrolle, deren Veränderungs- und Optimierungsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten für Aktions- und Widerstandsformen aufgebracht.

In den vergangenen 30 Jahren sind in Deutschland vielfach kleinere Rüstungsatlanten erschienen. Die zahlreichen Publikationen unter diesem Titel sind bislang ausschließlich regional orientiert gewesen (u.a. Thüringen, Hessen, Bodensee, Nordrhein-Wesfalen, Hamburg). Dem gegenüber stehen globale Atlanten, die allerdings schon vor vielen Jahren erschienen sind und keinen spezifischen Fokus auf die Verwicklung deutscher Unternehmen, Standorte und Exporte aufweisen.

Der vorliegende Atlas soll diese Lücke zu füllen beginnen und als Grundlage für informierte Gespräche dienen. Wir danken daher unseren Autor*innen, die jeweils mit ihren Beiträgen versucht haben, eine solche Einordnung zu ermöglichen. Nicht zuletzt gilt unser Dank der Heinrich-Böll-Stiftung, durch deren Förderung dieser Atlas überhaupt erst möglich werden konnte.

Eine gewinnbringende Lektüre wünschen,

Marius Pletsch und David Scheuing

1) RÜSTUNG: Definition, Finanzierung, Produktion

Aufrüstung und Kriegswirtschaft als Konsequenz der so genannten „Zeitenwende“?

von Andrea Kolling

Was ist Rüstung? „Alles was schießt und knallt“, so kategorisierte Anfang der 1990er Jahre ein Ministerialbeamter bei einem Gespräch im zuständigen Wirtschaftsministerium das Kriegsgerät salopp. Cyberwar und europäische Weltraumrüstung lagen noch in der Zukunft und der Zusammenbruch der Sowjetunion war gerade erst geschehen. Zur gleichen Zeit wurde über eine Friedensdividende debattiert und die Rüstungsindustrie gab sich verschämt kleinlaut und bangte um ihre Pfründe.

Heute jedoch wird ungeniert über modernstes Kriegsgerät geredet, dessen Wirkmächtigkeit und Sinnhaftigkeit betont und die Notwendigkeit einer so genannten »nachhaltigen«, d.h. im Klartext einer langfristigen und umfassenden waffentechnischen Unterstützung für Staaten nahegelegt – auch jenseits der Ukraine, ob mit oder ohne offizielle NATO-Mitgliedschaft.

Rüstung als Gewaltmittel

Weit gefasst bedeutet sich »zu rüsten«, sich gegen feindliche äußere Bestrebungen unter Sicherung des eigenen Territoriums und der Bevölkerung zur Wehr setzen zu können. Das bedeutet, militärische Maßnahmen und Mittel zur Vorbereitung einer kriegerischen Handlung, sei es Angriff oder Verteidigung, bereitzuhalten, zu produzieren und zu warten. Dazu existieren in Deutschland, wie in allen Staaten mit entsprechenden industriellen Produktionsmöglichkeiten, Regeln und Gesetze, die den Rahmen einer Rüstungsproduktion von privaten oder staatlichen Unternehmen bestimmen. Im Gegensatz zu Frankreich sind es in Deutschland private Unternehmen mit einem unterschiedlichen und schwankenden Anteil an Rüstungsproduktion. Zu den Top-Ten bezogen auf das Umsatzvolumen zählen in Deutschland Airbus, Rheinmetall, Thyssen-Krupp. Unübersichtlich ist die Zahl und Auftragslage mittelständischer Rüstungshersteller und Zulieferer (→ vgl. Seifert).

Ganz eng verstanden beinhaltet Rüstung ausschließlich die Rüstungsgüter, die im Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) erwähnt werden: Raketen aller Art, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber mit integriertem Waffensystem zur Zielerfassung, Feuerleitsysteme, integrierte elektronische Kampfmittel, Kampfführungssysteme, Kriegsschiffe, Unterseeboote, kleine Wasserfahrzeuge mit Angriffswaffen, jegliche Minenkampfboote: Minenleger, -räumboote, -jagdboote, Landungsboote, -schiffe, Munitionstransporter, Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, gepanzerte kampfunterstützende Fahrzeuge, Türme für Kampfpanzer, Maschinengewehre und Pistolen, voll- und halbautomatische Gewehre, Kanonen, Haubitzen, Mörser jeder Art, rückstoßarme, ungelenkte, tragbare leichte Panzerabwehrwaffen, Minenleg-/Wurfsysteme, Torpedos, Minen und Bomben aller Art, Handgranaten, Sprengladungen, Vollmantelweichkerngeschosse, Gewehrgranaten, Geschosse, Gefechtsköpfe, Zünder, Zielsuchköpfe, Submunition, Dispenser zur systematischen Verteilung von Submunition, auch besondere Laserwaffen. Also alles was fliegt, fährt und schwimmt, gepanzert ist und „schießt und knallt“. Die Liste umfasst den engen Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Von der Liste ausgenommen sind Kriegswaffen, auf deren Herstellung die Bundesrepublik verzichtet hat: Atomwaffen, biologische und chemische Waffen.

Problematisch wird es bei der Frage nach in einem weiteren Sinne verstandenen Rüstungsgütern, bis hin zu dem Bereich der Dual-Use Güter, die sowohl eine zivile als auch eine militärische Verwendung finden können (→ siehe Ferl). Hier lässt der Gesetzgeber auch im Interesse der Industrie bewusst eine breite Grauzone und Spielraum.

Abb 1: Waffengattungen

Wie ist die Herstellung von Gewaltmitteln erlaubt?

In der Bundesrepublik Deutschland steht über allem das Grundgesetz Artikel 26: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Dazu der Abs. 2: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Die im Grundgesetz vorgesehene nähere Regelung sollen zwei Gesetze gewährleisten: das Kriegswaffenkontrollgesetz als das wesentliche Ausführungsgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz für den Export. Zwei gesetzliche Grundlagen plus Regularien, die klar definieren sollen, in welchem Handlungsfeld es den Produzenten erlaubt ist zu handeln.

Für Kriegswaffen muss ein Unternehmen eine Produktionserlaubnis beantragen. Dies kann mit einer Voranfrage geschehen – telefonisch, heute auch per Mail/SMS. Positiv beschiedene Voranfragen könnten zwar nachträglich von der Rüstungsindustrie eingeklagt werden, was sie aber aus eigenem Interesse nicht tun werden, da sie sonst befürchten würden beim nächsten Mal eher bei Aufträgen nicht berücksichtigt zu werden. Voranfragen werden auch nicht im jährlichen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Über die Gespräche, ob eine Genehmigung in Aussicht gestellt werden könnte oder wie das gewünschte Gut gestaltet sein müsste, so dass eine Produktion für ein Unternehmen bzw. ein Export genehmigt werden könnte, oder warum es chancenlos bleiben wird, erfährt die Öffentlichkeit nichts. Im Dunkeln lässt sich gut munkeln, sagt der Volksmund. Doch wird die immer wieder von Parteien in der Oppositionsrolle propagierte und von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen seit Jahrzehnten geforderte »bessere Transparenz« umgesetzt? Nach wie vor gibt es mehr Wirrwarr als Klarheit, zahlreiche Regelungslücken und eine nebulöse Rüstungspolitik mit vielen Fragezeichen.

Das KWKG von 1961 beinhaltet ein grundsätzliches Verbot mit Genehmigungsvorbehalt. Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) lässt sich dahingegen so lesen, dass der Export von genehmigungspflichtigen Gütern grundsätzlich befürwortet werden kann, aber unter Genehmigungsvorbehalt steht. Dort heißt es: Handlungen können beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten und gemäß dem Grundgesetz eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten, aber auch EU-Projekte zu gewährleisten und zugleich EU-Ratsbeschlüsse über wirtschaftliche Sanktionen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umzusetzen, ebenso UN-Embargos. Zugleich soll aber in die Freiheit der Wirtschaft möglichst wenig eingegriffen werden. Ein Spagat und große Verantwortung in der Abwägung zwischen kapitalistischen, unternehmerischen Exportinteressen und möglicherweise todbringendem Gerät. Gegen einen Export spräche es beispielsweise, wenn bekannt werden sollte, dass der zugesicherte Endverbleib bei einem Empfänger nicht gewährleistet sein könnte (→ siehe Grässlin). Ausführende Behörde ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. Es gilt die Einzelfallprüfung. Als genehmigungspflichtige Güter gelten Waren, die in einer umfangreichen, differenzierten Liste des KWKG und AWG gelistet sind. Schiffsmotoren als Solche sind zivil, keine gelisteten Güter, auch wenn sie später in Schiffe einer ausländischen Marine eingebaut werden. Gelistet sind Komponenten, Bauteile sowie ihre technische Unterstützungsleistung, dafür sind Genehmigungen notwendig. Ebenso für sogenannte Dual-Use-Güter, also Waren, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können. Über die EU-Dual-Use-Verordnung werden diese Exporte innerhalb und außerhalb der EU kontrolliert. Die Federführung bei Exportgenehmigungen liegt im Wirtschaftsministerium. Grundsätzlich greift der EU-Gründungsvertrag von 1957 und der Nationalstaat kann darüber allein bestimmen, welches und wie viel Rüstungsmaterial gewollt ist. Es ist der Kernbereich nationaler Souveränität.

Dem Gesetz nachgeordnet sind Richtlinien als politische Willenserklärung der Bundesregierung, die allerdings nicht rechtlich verbindlich sind. Die ersten Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wurden 1971 formuliert und dreimal überarbeitet: 1982, 2000 unter der ersten Rot-Grünen Bundesregierung und zuletzt 2019 unter Angela Merkels Führung. Sie bedeuten Orientierung für eine Genehmigungspolitik, die laut eigenem Bekunden restriktiv zu gestalten ist, doch ist Restriktivität in der Rüstungsexportpolitik mehr Label als Praxis. Allein die Länderliste, in welche nicht geliefert werden soll, wurde in den letzten 30 Jahren Zug um Zug verringert und der Export insbesondere in so genannte Drittstaaten, d.h. Länder außerhalb von EU und NATO, ausgeweitet. Nach den Grundsätzen sollten die Lieferungen an Drittstaaten nur Ausnahmen sein (→ siehe Bayer und Mutschler). Die deutschen Regelungen gelten zwar als die strengsten der Welt, doch Papier ist geduldig. Anfang 2018 heißt es noch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD „keine Rüstungsexporte in Krisenregionen“ mehr und den Export von Kleinwaffen in so genannte Drittstaaten „grundsätzlich“ nicht mehr genehmigen zu wollen sowie Anträge für Technologieexporte in Drittstaaten künftig stärker zu prüfen, wenn damit ausländische Rüstungsproduktionen aufgebaut werden können.

„Zeitenwende“ bedeutet Aufrüstungsjahrzehnte

Der epochale Bruch mit dem 24.2.2022, der Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen geopolitischen Machtverschiebungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Rüstungsentscheidungen, sowohl was den Export und die Beschaffungen für die Bundeswehr betrifft, als auch monetär über das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr und das 2%-NATO-Ziel hinaus. Ein Schub in Quantität und Qualität. Zwar wird noch in der jetzt veröffentlichten »Nationalen Sicherheitsstrategie« der Bundesregierung die „restriktive Rüstungsexportpolitik“ betont, zugleich heißt es, die Bundesregierung werde die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung neu fassen und das Strategiepapier der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie aktualisieren. Konterkariert wird die restriktive Linie, indem es heißt: „die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen“, sowie eine Stärkung der „sicherheits- und verteidigungsindustriellen Basis befördern“ – dies bei gleichzeitigem Schutz von nationalen und europäischen Schlüsseltechnologien. Bei Beschaffungen soll primär auf europäische Lösungen gesetzt werden – eine bemerkenswerte Verschiebung vom nationalstaatlichen Interesse in Richtung europäischer Union. Zugleich schimmert ein Führungsanspruch in der neuen nationalen Sicherheitsstrategie durch, z.B. als logistische Drehscheibe in Europa mit dem Ausbau militärischer Mobilität. Große Ambitionen der »Fortschrittskoalition« der Ampel-Regierung.

Gleichzeitig zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie gibt das grün geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zum
1. September 2023 neue Regularien zur vereinfachten und schnelleren Lieferung von Rüstungsgütern für Bündnis- und neue Wertepartner heraus. Verkauft wird dies als ein Fortschritt an Effizienz und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, dabei soll die Einzelfallprüfung bei ausgewählten EU- und NATO-Partnern sowie Wertepartnern entfallen (→ siehe Brzoska). Sie werden als Allgemeinverfügung gebündelt, so laut Pressemitteilung von BMWK und BAFA vom 25.7.23. Eine zielgenaue Kontrolle soll vorrangig durch eine vertiefte Einzelfallprüfung bei den sonstigen Drittländern geschehen. Umgesetzt wird eine EU-Dual-Use-Verordnung von 2021 für eine Reihe von Ländern. Im Hinblick auf die neuen Wertepartner bedeutet das, dass keine Einzelanträge mehr gestellt werden müssen.

Als neue Wertepartner werden u.a. die Republik Korea, Singapur, Chile, Uruguay und Argentinien genannt. Die politische Steuerung durch derartige Festlegungen tritt sichtbar heraus: Warum wird beispielsweise nicht Brasilien aufgeführt? Wegen der nicht gelieferten Gepard-Panzer-Munition für die Ukraine? Oder weil Brasilien gerade eine Autoproduktion mit chinesischer Hilfe aufbaut, anstatt auf deutsche VW-Produktion zu setzen? Oder weil Brasilien BRICS-Gründungsmitglied ist? Der kleine Staat Singapur erhält zukünftig noch mehr und einfacher gelistete Güter. Wozu eigentlich? Auch wenn es sich um sogenannte Dual-Use-Güter handelt, eine transparente Rüstungsexportpolitik sieht anders aus.

Über eine weitreichende Verfügung wird Rüstungsexportpolitik gemacht und wo bleibt das im Koalitionsvertrag angekündigte Rüstungsexportkontrollgesetz? Die aktuelle Bestimmung gilt nur bis zum März 2024 und dann wird sie in ein Gesetz überführt oder stillschweigend verlängert. Die neue Allgemeinverfügung zeigt, wohin die Reise geht: in Richtung Priorität auf europäischer Ebene verbunden mit einer stärkeren Liberalisierung nicht nur im Dual-Use-Bereich. Die Positionen innerhalb der Regierung scheinen sich da wenig zu unterscheiden. Exportinteressen gehen verstärkt in Richtung Lateinamerika und Indopazifik. Welche genaue Linie verfolgt die Ampel bezüglich der Rüstungsproduktion, der EU und mit dem Export in Länder außerhalb und innerhalb von NATO, EU, einzelnen Wertepartnern und Drittländern. Wie werden Lieferungen im Einzelnen begründet? In Spannungsgebiete, Krisenregionen? Wurde im Bundessicherheitsrat (→ siehe Infokasten nebenan) als oberstem Entscheidungsgremium darüber gesprochen und sich parteiübergreifend verständigt?

Ob ein angekündigter »Nationaler Sicherheitsrat« im Hinblick auf Transparenz und informierte öffentliche Debatten zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik da Abhilfe schaffen würde, darf bezweifelt werden. Eine umfassende Transparenz, inklusive differenzierter Begründungen, ist erforderlich, wenn die Einbeziehung von Zivilgesellschaft hinter blumigen Worten nicht völlig zur Farce werden soll. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf umfassende Informationen, zumindest nach Rüstungsbeschlüssen der Regierung.

Der Bundessicherheitsrat

Der Bundessicherheitsrat (BSR) ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, ein geheimtagender interministerieller Ausschuss. Die Genehmigung von Rüstungsexporten zählt zu seinen Kernaufgaben, dazu die Koordinierung deutscher Sicherheitspolitik und ihre strategische Ausrichtung. Er tagt in unregelmäßigen Abständen, jedoch wird weder eine Tagesordnung bekannt gegeben, noch über den Zeitpunkt informiert. „Die Protokolle befinden sich als geheime Verschlusssache in der Registratur des Bundeskanzleramts“ heißt es in einer Information der wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages. Ständige Mitglieder sind die Bundesministerinnen bzw. Bundesminister des Auswärtigen, der Finanzen, des Innern, der Justiz, für Wirtschaft, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Chef des Bundeskanzleramts. Der Kanzler führt den Vorsitz und verfügt über die Richtlinienkompetenz. Er kann bei einem Patt entscheiden. Regelmäßiger Teilnehmer ist der Generalinspekteur der Bundeswehr in beratender Funktion. Andere Funktionsträger können ebenfalls zur Beratung hinzugezogen werden, z.B. die Geheimdienste.
Die ständigen Mitglieder des BSR sind verpflichtet, den Rat über geplante Maßnahmen, z.B. Beschaffungen für die Bundeswehr zu unterrichten. Wenn eine Anfrage im BAFA als problematisch eingestuft wird und es kann nicht im Umlaufverfahren zwischen den Ministerien geklärt werden, landet diese letztlich auf dem Tisch des BSR. Ein Vorbereitungsausschuss von Abteilungsleitern aus den beteiligten Ministerien erörtert, koordiniert und unterrichtet die Mitglieder des BSR. Letztlich verantwortlich ist das Gesamtkabinett. Somit sind die Beschlüsse des BSR Empfehlungen, aber seit langem entscheidet der BSR abschließend und damit faktisch bindend über Rüstungsexporte.
Im Zusammenhang mit den Rechten der Parlamentarier*innen hat das Bundesverfassungsgericht zwar der Exekutive die alleinige Verantwortung zugestanden, aber eine umfassendere Unterrichtung nach getroffenen Beschlüssen angemahnt. Eine parlamentarische Kontrolle vergleichbar mit dem parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste gibt es für den BSR nicht.

Wie und wozu genau sollen die Bundeswehr und andere Armeen in Zukunft ertüchtigt und ausgestattet werden? Welche Ziele gibt es und welche roten Linien? Mehr von allem? Worthülsen wie »Sicherheit« und »Verteidigung« sollten detailliert und rechenschaftspflichtig erläutert werden. Wie sollen Entgrenzungen im Hinblick auf zukünftige Konflikte und Kriege verhindert werden? Warum wird »Abschreckung« mit nuklearer Teilhabe manifestiert? Welche Gefechtsführungskapazitäten werden angestrebt? Dies ist umso wichtiger, da die Öffentlichkeit aktiv an diesen Entscheidungen beteiligt sein will und sollte.

Waren in den vergangenen Jahrzehnten nach verschiedenen Umfragen durchgängig 70-80% der deutschen Bevölkerung gegen Rüstungsexporte eingestellt, so hat sich das seit dem 24.2.2022 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine scheinbar auf um die 50% in der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine eingependelt. Auswirkungen solcher Befragungen auf politische Entscheidungsträger*innen sind ohnehin nicht zu erwarten, aber sie verraten etwas über das Verhältnis von breiter Öffentlichkeit und Rüstung – in Zahlen sichtbar gemacht.

Um eine stabile mehrheitliche Zustimmung zu Rüstungslieferungen zu generieren, bewährt sich die »Salamitaktik«, peu à peu immer etwas mehr in Menge und Art der Mandate und Praxis der Bundeswehreinsätze. Sichtbar wird das beispielsweise auch in der Veränderung der »Out-of-Area«- Einsätze der Bundeswehr außerhalb der EU: Von der ersten Feldlazarett-Lieferung im Rahmen eines UN-Mandats nach Kambodscha 1993 über das Brunnenbauen bis zum vorläufigen Ende risikoreicher deutscher Militärambitionen beim desaströsen Abzug aus Kabul im August 2021. Die entsprechende Entwicklung der Zustimmung zu Waffenexporten in die Ukraine ist ein Musterbeispiel für diese Taktik. Hier hieß es zuerst: keine schweren Waffen, dann doch, dann hieß es: keine Panzer, dann wurden sie doch genehmigt und nun die aktuelle Diskussion über die »Taurus«-Lieferung. Was folgt dann?

Absehbare Trends der Aufrüstung

Und allenthalben wird gerüstet: Der Ukraine-Krieg gilt als der erste große Drohnenkrieg und befeuert auch hierzulande erneut Debatten um die Bewaffnung von Drohnen. Auch wenn die Drohnen nicht kriegsentscheidend sein werden, kriegstauglich sind sie schon lange. Noch ist der Abnutzungskrieg mit Mensch und Material klassisch konventionell. Mehr Verdun als Cyberwar. »Warproofed« gilt als Qualitätsausweis bei Rüstungsgütern. In der Ukraine wird die Zukunft des Krieges mit Drohnen, Smartphones, Cyberangriffen, Logistik, Überwachung, Automatisierungen und allen aktuell verfügbaren Informationstechnologien im Gefecht, getestet und verbessert. Die Zeit nach dem Krieg wird sichtbar machen, wohin sich Europa insgesamt und die Staaten rüstungstechnisch entwickeln und protegiert werden.

Erste Trends sind erkennbar: Schwere hochtechnische Präzisionswaffen sollen nach der Nationalen Sicherheitsstrategie erforscht und gefördert werden. Die Zivilklauseln an den Universitäten sind da für manch eine Politiker*in und Hochschulrektor*in ein ärgerliches Hindernis, auch für MdB Willsch (CDU) kürzlich in einer Bundestagsdebatte. Die Schieflage zwischen Zivilschutzmaßnahmen, Entwicklungszusammenarbeit und der Priorisierung von Militär wird nicht nur fortgeschrieben, sie wird erheblich zunehmen. Bedeutet das eine Entwicklung in Richtung einer Militärwirtschaft für den Industriestandort Deutschland und – als ein Gegengewicht zum »Inflation Reduction Act« der USA – ein Vielfaches mehr an europäischen und bilateralen Rüstungskooperationen? Angenehme Zukunftsaussichten für die Rüstungsproduzenten. Die Weichen werden heute gestellt. Jedoch ist nicht zu vergessen: Munition und Bomben sind Verbrauchsgüter, mit dem Blut vieler getränkt.

Schwammige Kategorien für Rüstungsgüter, wie defensiv oder offensiv, sind weniger militärisch klare Kategorien, als politisch ideologische, um Rüstungsproduktion und Exporte breit akzeptabler zu machen. Und trotzdem: Eine Lieferung von Helmen in die Ukraine wurde unisono medial lächerlich gemacht, hatte aber defensiven Charakter. Rein faktisch war es ein genehmigungspflichtiger Rüstungsexport aus Beständen der Bundeswehr, in ein nicht EU- und NATO-Land, das sich zudem im Krieg befand. Dies sollte nicht aus den Augen verloren werden, nur weil die Forderung nach Aufrüstung heute als Mehrheitsmeinung propagiert wird.

Grundsätzlich geht es um die Definition und Umsetzung von menschlicher Sicherheit, letztlich um unser aller Leben in Deutschland und Europa. Immer mehr Rüstung wird nicht zu einem friedlicheren, sicheren, wertebasierten Europa beitragen. Meine Generation, die der Nachkriegskinder mit den kriegstraumatisierten und abwesenden Vätern, wurde im Kalten Krieg der Rüstungsspiralen und Konfrontation sozialisiert. Aus unserer Erfahrung ist klar, dass der aktuelle heiße Krieg in Europa mit Entgrenzungspotential beendet werden muss, bevor sich die Rüstungsspiralen und ihre Eskalationslogik ungehemmt Bahn brechen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der postulierten Zeitenwende sollten nicht das Kriegsmaterial und Produktionskapazitäten priorisieren, sondern das friedliche Zusammenleben befördern.

Andrea Kolling ist langjähriges Mitglied in der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte, sowie im europäischen Netzwerk gegen Waffenhandel ENAAT – European Network against Arms Trade, ehemalige Vorsitzende der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, und BUKO-Kampagne: Stoppt den Rüstungsexport.

Das Problem mit der KI.

Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist

von Anna-Katharina Ferl

Staaten setzen auf Rüstung als Machtinstrumente, um ihre eigene Sicherheit zu bewahren. Oft meinen sie, dass schon ein kleiner technologischer Vorsprung eine entscheidende Rolle bei der Frage nach Sieg oder Niederlage in bewaffneten Konflikten spielt (Dickow, Hansel und Mutschler 2015). Neue Technologien spielen eine immer wichtigere Rolle in bewaffneten Konflikten, wie der Krieg gegen die Ukraine aktuell zeigt. Gleichzeitig sind diese wenig bis gar nicht reguliert und neue Initiativen bleiben oft erfolglos (Daase et al. 2023). Die stetige Entwicklung und der Einsatz neuer Militärtechnologien macht das Feld der Rüstung komplexer und bringt neue Probleme mit sich. Insbesondere Entwicklungen im digitalen Bereich können weitreichende militärische Potentiale haben, werden aber vor allem im zivilen Bereich entwickelt (sogenannte Dual-Use Technologien). Ab wann zählt eine Technologie dann als Rüstungsgut?

Ein weiterer Faktor, der die Definition von Rüstung erschwert, ist die immaterielle Natur dieser digitalen Entwicklungen. Digitale Technologien, die aus Software bestehen, können ungleich schwerer einer direkten militärischen Nutzung zugeordnet werden als beispielsweise ein Panzer. Die weitreichenden Folgen technologischer Neuerungen im Rüstungsbereich sind aber kein neues Phänomen. Bereits die Entwicklung von Feuerwaffen revolutionierte den Krieg im ausgehenden Mittelalter und leitete eine neue Zeitordnung ein (Müller und Schörnig 2006). Während des Ost-West Konflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Vielzahl neuer technologischer Entwicklungen, die ein Wettrüsten nach sich zogen. Diese zeigen, dass die Entwicklung neuer Militärtechnologien schon immer Herausforderungen und Probleme mit sich brachte.

Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen

Abb. 2: Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen im Ost-West Konflikt

Was ist also neu an den aktuellen Entwicklungen? Welche neuen Probleme werfen neue Waffen(-technologien) auf? Dies wird im Folgenden exemplarisch aufgezeigt an den Herausforderungen, die die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) in Rüstungstechnologien mit sich bringt.

Künstliche Intelligenz und digitale Waffen

Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde: Ihr wird bereits jetzt ein revolutionäres Potential zugeschrieben – und das nicht nur in unserem Alltag, sondern insbesondere auch im militärischen Bereich (Horowitz 2018). Allerdings sollten wir davon absehen, KI zu überschätzen. Aktuelle Entwicklungen im KI-Bereich sind vor allem auf eng gefasste Spezialaufgaben ausgerichtet – weit entfernt von Vorstellungen einer künstlichen Superintelligenz. Dennoch bringt der anhaltende technologische Fortschritt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die sich auch im Rüstungsbereich zeigen.

Dabei ist KI keine eigenständige Technologie wie ein Kampfflugzeug, sondern vielmehr eine Grundlagentechnologie, die bestimmte Anwendungen, auch militärische, ermöglicht. Zu den wichtigsten Anwendungsbereichen von KI zählen autonome Funktionen. Diese können autonomes Fahren im Straßenverkehr ermöglichen, z.B. autonome Taxis, wie sie in San Francisco erprobt werden. KI-gestützte Autonomie kann aber auch militärisch nutzbar gemacht werden, indem z.B. bewaffnete Drohnen nicht mehr durch einen Menschen gesteuert werden, sondern Tätigkeiten selbstständig und ohne menschliche Kontrolle ausführen können (Franke 2016).

Autonome Funktionen bergen das Risiko, die Kriegsführung zu beschleunigen und Eskalationsgefahren zu potenzieren. Außerdem gehen weitreichende völkerrechtliche und ethische Fragen mit Autonomie in Waffensystemen einher, die bisher ungelöst bleiben (Sauer 2022). Dafür ist der Erhalt menschlicher Kontrolle über KI-gesteuerte Waffensysteme, insbesondere über die kritischen Funktionen der Zielauswahl und Zielbekämpfung, entscheidend (Boulanin et al 2020). Im Fall von KI zeigt sich bereits die oben angesprochene essentielle Herausforderung neuer Technologien: sie sind oft prinzipiell doppelt nutzbar, zivil und militärisch, also »Dual-Use«. Diese bergen drei Problematiken: erstens sind Dual-Use Risiken schwerer abschätzbar als reine Rüstungsprojekte, zweitens können Dual-Use Risiken Rüstungsdynamiken antreiben, und drittens müssten bereits während der Forschung und Entwicklung diese Risiken präventiv eingedämmt werden (Riebe und Reuter 2019).

Während die Militärausgaben weltweit steigen (Bales et al. 2021), ist der militärische Anteil an Forschung und Entwicklung seit Ende des Ost-West-Konflikts rückläufig (Altmann 2007). Das bedeutet aber auch, dass vermehrt Forschung im zivilen Bereich stattfindet, die einerseits von Militärs eingekauft oder direkt in Auftrag gegeben wird. Dabei spielen multinationale Konzerne, wie Google, Amazon oder Microsoft eine entscheidende Rolle.

Ein drittes Problem in diesem Feld ist die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung neuer Technologien. Die Politik kann oft gar nicht so schnell nachziehen und Probleme erkennen und regulieren. Daher warnten erst vor Kurzem Expert*innen und namhafte Personen wie Bill Gates in einer öffentlichen Erklärung vor den Risiken von KI.1 Der aktuelle Stand der Forschung und Entwicklung bleibt allerdings oft intransparent, da sowohl im wirtschaftlichen als auch im militärischen Bereich Geheimhaltung an erster Stelle steht. Dass ein Projekt wie »Project Maven« (→ siehe Infokasten nebenan) öffentlich wird, ist eher die Ausnahme als die Regel.

Das Projekt Maven von Google und Pentagon

‚Project Maven‘ ist eines der bekanntesten und umstrittensten KI-Rüstungsprojekte im zivil-militärischen Bereich der letzten Jahre. 2017 gab das US-Verteidigungsministerium den Auftrag an Google, ein KI-Programm zu entwickeln, um Videomaterial von Drohnen effizienter nach relevanten Objekten und Zielen zu durchsuchen. Die schiere Masse an Videomaterial sollte durch die KI schneller und besser durchsucht und relevante Informationen direkt für die militärische Entscheidungsfindung bereitgestellt werden. Das Programm wurde erst 2018 publik und nach anhaltenden Protesten der Belegschaft stellte Google die gesamte Zusammenarbeit mit dem Pentagon 2019 ein. Allerdings arbeitet Google seit 2021 wieder an Projekten für das Pentagon, neben anderen großen Unternehmen, wie Amazon und Microsoft.


Peitz, Dirk (2018): Project Maven. Google wird einfach ersetzt.Zeit online, online verfügbar: https://www.zeit.de/digital/internet/2018-06/maven-militaerprojekt-google-ausstieg-ruestungsexperte-paul-scharre/komplettansicht.

Wakabayashi, Daisuke; Conger, Kate (2021): Google Wants to Work With the Pentagon Again, Despite Employee Concerns. The New York Times, online verfügbar: https://www.nytimes.com/2021/11/03/technology/google-pentagon-artificial-intelligence.html.

Möglichkeiten der Regulierung Künstlicher Intelligenz

Wie kann die Politik diesen Entwicklungen nun entgegenwirken? Welche Maßnahmen gäbe es auch auf internationaler Ebene, um KI-Technologien zu regulieren, die nicht vor Staatsgrenzen Halt machen? Rüstungskontrolle dient dazu, die negativen Effekte von Rüstungsdynamiken zu begrenzen und gegenseitige Sicherheit zu gewährleisten, um die Beziehungen zwischen Staaten zu stabilisieren. Rüstungskontrolle kann dabei entweder quantitativ bestimmte Höchstgrenzen für Waffenkategorien setzen oder qualitativ die Leistung und technologische Weiterentwicklung von Waffensystemen regulieren.

Rüstungskontrolle ist also eine politische Maßnahme, um bestimmte Rüstungsgüter zu regulieren und Rüstungsdynamiken einzudämmen. Allerdings zeigt sich hier auch, dass Rüstungskontrolle einerseits in der Regel den technologischen Entwicklungen hinterherläuft – also oftmals nicht rechtzeitig reguliert. Andererseits stellt die technische Komplexität von KI-Anwendungen die Rüstungskontrolle vor neue definitorische Herausforderungen, da es nicht mehr »nur« ausreicht, physisch z.B. Sprengköpfe zu zählen, sondern die Probleme oft in ein paar Zeilen Softwarecode stecken. Daher ist auch die Verifikation, also die Überprüfung, dass sich alle Mitglieder eines solches Übereinkommens daranhalten würden, im KI-Bereich extrem schwer bis unmöglich, wenn Softwarecode relativ leicht geändert oder versteckt werden kann.

Für »präventive Rüstungskontrolle«, die oft schon in der Phase der Entwicklung ansetzt, scheint es bei KI-Entwicklungen noch nicht zu spät – aber die Zeit läuft (Altmann 2008). Trotz des eigentlich logischen Ansatzes, Rüstung zu regulieren, ehe Staaten enorme Summen dafür ausgegeben haben, und einer Reihe solcher Bemühungen, bleiben Erfolge präventiver Rüstungskontrolle rar. Dies liegt vor allem daran, dass technische Entwicklungen bis dato ungeahnte militärische Relevanz entwickeln könnten und Staaten sich ungern Regelungen unterwerfen, ehe das Potenzial einer Technologie vollständig erkannt wurde. Auch in den aktuellen Diskussionen über Rüstungskontrolle wird eine präventive Kontrolle der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz gefordert, insbesondere solcher Funktionen, die Autonomiesteigerungen in Waffensystemen ermöglichen.

Zentrale Begriffe und Konzepte:

Rüstungskontrolle: Alle Vereinbarungen, die die Verringerung der Kriegsgefahr anstreben durch eine Reihe von Maßnahmen, die Vertrauensbildung und Transparenz stärken, aber auch die konkrete Steuerung von Rüstung und Kontrolle bestimmter Waffen einschließt.

Abrüstung: Bezeichnet solche rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen, die auf die Verringerung oder komplette Abschaffung militärischer Fähigkeiten und Rüstungsgütern abzielen.

Nichtverbreitung: Verhinderung der Verbreitung (Proliferation) bestimmter Rüstungsgüter auf immer mehr Staaten.

Verifikation: Die Überprüfung, ob die Mitgliedsstaaten einer Rüstungskontrollvereinbarung diese auch einhalten und somit Betrug zu verhindern oder aufzudecken.


Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Eine kurze Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle, https://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m7/articles/m7-01.

Schörnig, Niklas (2017): Rüstung, Rüstungskontrolle und internationale Politik. In: Sauer, Frank; Masala, Carlo (Hrsg.): Handbuch internationale Beziehungen.
Wiesbaden: Springer VS, S. 959–990.

Der Handlungsbedarf im Bereich der präventiven Rüstungskontrolle künstlicher Intelligenz ist aber nicht nur auf autonome Waffensysteme begrenzt. Militärische KI-Anwendungen zeigen sich nicht nur im klassischen Waffentypus, sondern gerade in weniger durchsichtigen Bereichen der militärischen Entscheidungsfindung (Welchen Einfluss haben Vorurteile in der KI-gestützten Zielauswahl?, vgl. Villasenor 2019) oder der Verschränkung mit Nuklearwaffen und deren Kontrolle (Baldus 2022). Allerdings sollte künstliche Intelligenz weder über- noch unterschätzt werden. Die Risiken und Potentiale müssen sorgfältig abgeschätzt werden, damit eine Regulierung möglicher problematischer Anwendungen schnell und umfassend gelingen kann. Außerdem müssen international dringend Regeln für die verantwortungsvolle Forschung und Innovation aufgestellt werden (Boulanin, Brockmann und Richards 2020).

Stop »Killer Robots«: Autonome Waffensysteme und der Versuch einer präventiven Regulierung

Seit 2014 treffen sich Staatenvertreter*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und wissenschaftliche Expert*innen im Rahmen der Waffenkonvention der Vereinten Nationen (CCW) zu einem möglichen Verbot autonomer Waffensysteme, bevor diese militärisch entwickelt und genutzt werden. Trotz der anfänglichen Fortschritte und der breiten internationalen Bereitschaft, Gespräche über die präventive Regulierung autonomer Funktionen in Waffensystemen zu führen, ist der Prozess ins Stocken geraten. Dies liegt einerseits im politischen Interesse einiger Staaten, keine Einschränkungen in der Entwicklung von Technologien hinzunehmen, die ihnen in Zukunft militärische Vorteile verschaffen könnten.

Andererseits sehen Beobachter*innen, wie Rosert und Sauer (2021), das Problem auch in einer suboptimalen Strategie der Kampagne »Stop Killer Robots«. Die Kampagne war zwar maßgeblich daran beteiligt, das Thema auf die Agenda der internationalen Staatengemeinschaft zu setzen, die Ausrichtung an früheren humanitären Rüstungskontrollmaßnahmen, wie blendende Laserwaffen und Antipersonenminen war jedoch weniger erfolgreich. Dies liegt einerseits daran, dass autonome Waffensysteme wesentlich abstraktere und komplexere Technologien sind, andererseits die völkerrechtlichen Probleme weniger eindeutig als bei vorherigen Waffengattungen sind. Auch der Begriff »Killerroboter« für autonome Waffensysteme ist eher kontraproduktiv. In der Debatte hat sich auch das Prinzip menschlicher Kontrolle über solche autonomen Systeme als zentrales Ergebnis herauskristallisiert, dass als positive Verpflichtung auf mehr Rückhalt als die Forderung eines Verbots stoßen könnte.

Viele Beobachter*innen sind insgesamt aber dennoch pessimistisch, was die Aussichten auf eine präventive Regulierung oder gar eines Verbots autonomer Waffensysteme in naher Zukunft angeht. Allerdings gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen, den Prozess auch außerhalb der CCW weiterzuführen. So haben 70 Staaten 2022 in der VN-Generalversammlung eine gemeinsame Erklärung zu autonomen Waffensystemen eingebracht. Im November 2023 wurde eine Resolution im Ersten Komitee der Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit angenommen, in der der VN-Generalsekretär aufgerufen wird, die Herausforderungen autonomer Waffensysteme zu untersuchen.


Rosert, Elvira; Sauer, Frank (2021): How (not) to stop the killer robots: A comparative analysis of humanitarian disarmament campaign strategies. Contemporary Security Policy 42 (1), 4-29.

Altmann, Jürgen; Brahms, Renke; Dahlmann, Anja; Ferl, Anna-Katharina; Küchenmeister, Thomas; Trittenbacher, Johanna; Weber, Jutta (2020): Autonome Waffensysteme – auf dem Vormarsch? Wissenschaft und Frieden W&F Dossier 90.

Anmerkung

1) Center for AI Safety (2023) Statement on AI Risk, online verfügbar: https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk.

Anna-Katharina Ferl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) und forscht zu Fragen der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz, autonomen Waffensystemen und der Kontrolle und Regulierung von Militärtechnologien. Sie ist außerdem Mitglied in PRIFs Forschungsgruppe »Emerging Disruptive Technologies« und promoviert an der Goethe Universität Frankfurt.

Deutsche Rüstungsschmieden:

Spezialisiert, vernetzt, internationale Akteure

von Andreas Seifert

Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dem von der Industrie reproduzierten Selbstbild einer leistungsfähigen, zu technologischen Spitzenleistungen fähigen Rüstungsindustrie in Deutschland und den Verzögerungen in der Beschaffung und den Mängeln an Waffensystemen – der schwarze Peter wird dabei vielleicht zu leicht dem Beschaffungswesen der Bundeswehr zugeschoben. Doch wer ist damit gemeint, wenn von »der deutschen Rüstungsindustrie« gesprochen wird, welches sind die großen und die kleinen Firmen, die dazu gezählt werden müssten?

Es gibt nur wenige systematische Erhebungen zur Rüstungsindustrie in diesem Land – das liegt unter anderem auch daran, dass sie – volkswirtschaftlich betrachtet – nicht mehr relevant ist. Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln waren in der Rüstungsindustrie 2020, also vor dem Beginn des Ukrainekrieges, rund 55.000 Menschen beschäftigt und sie erzeugte einen Umsatz von 11 Mrd. € (vgl. IDW 2022) – zum Vergleich betrug allein der Inlandsumsatz der deutschen Automobilindustrie im gleichen Jahr rund 153 Mrd. € und der Gesamtumsatz deutscher Autohersteller sogar 506 Mrd. €, bei rund 774.000 Beschäftigten (Statista 2023). 2013 veröffentlichte der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) eine Studie in der der Kernbereich der Rüstungsindustrie (also Unternehmen, die direkt in der Waffenproduktion tätig sind) gerade einmal 17.220 Beschäftigte zählt und rund 80.000 weitere im erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie zu verorten sind (Schubert et al. 2012). Erst mit sogenannten indirekten und induzierten Beschäftigungseffekten wurde diese Zahl auf 316.000 Menschen in Deutschland hochgerechnet, die von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie profitieren. Die Studie spricht von einem Produktionswert von 22,6 Mrd. € für die Branche und einem überdurchschnittlichen Wachstum im Vergleich zur Gesamtwirtschaft und einer hohen Exportquote (vgl. ebd.). Die Diskrepanz der Zahlen mag erstaunen und erklärt sich nur teilweise aus den unterschiedlichen methodischen Ansätzen. Aktuelle Statistiken erfassen nur unzureichend, welche Güter und Umsätze mit welchen Beschäftigten zusammenhängen und wo die Grenzen zwischen Sicherheit, Verteidigung oder Waffen und Rüstungsgütern verlaufen.

Der Blick in die Mitgliedsverzeichnisse der großen Lobbyvereinigungen wie dem Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT) und dem Anwenderforum für Fernmeldetechnik, Computer, Elektronik und Automatisierung (AFCEA) zeigt ein sehr viel differenzierteres Bild der Branche. Es sind Unternehmen engagiert, die in der überwiegenden Zahl auch, wenn nicht sogar mehrheitlich in zivilen Bereichen tätig sind und bei denen das »Rüstungsgeschäft« ein weiteres Betätigungsfeld unter vielen darstellt (vgl. IMI 2022). Würde man alle Beschäftigten und Umsätze pauschal der Rüstung zuschlagen, würde die Rüstung in Deutschland groß erscheinen. Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) selbst spricht mit Blick auf die kleineren Firmen von einem „Wehrtechnischen Mittelstand“ dem rund 1.350 Unternehmen in Deutschland zuzurechnen sind und sich dadurch charakterisieren, dass sie nicht mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen und einen Umsatz unter 300 Mio. € aufweisen.

In einer der vielen Aufstellungen zu den größten Rüstungsunternehmen Deutschlands wurden vom Portal »Technik und Wirtschaft für die Deutsche Industrie – Produktion« 2018 genannt:

Abb. 3: Die 10 größten deutschen Rüstungsunternehmen

Die Aufstellung in der Abb. 3 suggeriert eine Klarheit, die sich bei genauerem Besehen auflöst, da die Verbindungen zwischen den Unternehmen nicht sichtbar sind. Auch die Dynamik der Branche hat in den Jahren seit 2019 zugenommen. Sie zeigt die großen Firmen, wie sie in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte eine Rolle spielen – allen voran die Platzhirsche Airbus und Rheinmetall. Im internationalen Vergleich sind die großen deutschen Unternehmen eher klein. Das Stockholmer Friedenforschungsinstitut SIPRI veröffentlicht jährlich eine Liste der 100 größten Unternehmen im Bereich Waffenproduktion und militärischer Services – Lockheed Martin aus den USA führt diese Liste an: mit über 60 Mrd. US$ Umsatz – also einem mehrfachen der gesamten Branche in Deutschland. Dieser Liste nach findet sich das erste deutsche Unternehmen auf Platz 31(Abb. 4). Als trans-europäisch werden weitere Unternehmen gelistet, die in Deutschland substanziell produzieren (Abb.5).

Abb. 4 „Deutsche Unternehmen“ nach SIPRI

Abb. 5 Trans-Europäische Unternehmen“ nach SIPRI

Der Blick auf die Umsätze und Beschäftigtenzahlen allein blendet aber andere Aspekte aus, die zur Bewertung der Unternehmen wesentlich sind. Der Aktivist Jürgen Grässlin spricht mit Blick auf den Handfeuerwaffenproduzenten Heckler & Koch aus Oberndorf nicht ohne Begründung von dem „tödlichsten Unternehmen“ Deutschlands (Grässlin 2013). Tatsächlich sind nicht wenige auch der kleinen Unternehmen Spezialisten, ggf. sogar Weltmarktführer für bestimmte Bauteile, die in Waffensystemen weltweit ihren Einsatz finden – sie sind so gesehen »wesentliche Akteure« auch wenn ihr Umsatz (oder ihr Umsatz im Rüstungsbereich) vergleichsweise gering ausfällt. Hier ist es wichtig in den Blick zu nehmen, dass Großwaffensysteme wie Panzer, Kampfflugzeuge oder Kampfschiffe nicht von einem einzigen Unternehmen gebaut werden, sondern sich aus Baugruppen und Teilen unterschiedlicher Hersteller zusammensetzen. Unternehmen bilden daher Konsortien, um solche Aufträge überhaupt bearbeiten zu können.

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

Zehn ausgewählte Standorte deutscher Rüstungsschmieden

Abb. 6: Ausgewählte Standorte Baden-Württemberg und Bayern

1) Airbus

Airbus ist nach BAE-Systems (GB) und Leonardo (IT) der drittgrößte europäische Luft- und Raumfahrtkonzern und erwirtschaftete 2021 18% seiner Umsätze mit Wehrtechnik. Der Konzern gilt als Trans-Europäisch und hat sein Hauptquartier in den Niederlanden und Werke und Niederlassungen in nahezu allen europäischen Ländern und darüber hinaus. In den beiden Divisionen Airbus Helicopters und Airbus Defence&Space wird der Großteil der militärischen Geschäfte abgewickelt – Airbus unterhält Standorte an vielen deutschen Städten. Airbus ist unter anderem in der Produktion des Eurofighter Typhoon, dem Transportflugzeug A 400 M, dem Tank-Transportflugzeug MRTT (auf der Basis des
A 330) und dem Kampfhubschrauber Tiger aktiv. Darüber hinaus produziert Airbus in seiner Tochterfirma NH-Industries (zusammen mit dem Leonardo-Konzern) den Transporthubschrauber NH90. Airbus ist über seine Beteiligung an MBDA auch direkt an der Produktion von Lenkwaffen beteiligt. Der Konzern wird einer der Hauptauftragnehmer des FCAS (Future Combat Air Systems) sein. Alle Produkte des Konzerns sind von vornherein auf einen Export in Länder außerhalb Europas konzipiert – die Struktur als trans-europäisches Unternehmen gibt dabei Möglichkeiten, ggf. national vorhandene politische Widerstände oder Exportbeschränkungen zu umgehen.

2) Hensoldt Germany

Die erst 2017 gegründete Firma ist ein Konglomerat aus einstmals unabhängiger Unternehmen, die hier über verschiedene Wege (vor allem aus dem Firmenbestand des Airbuskonzerns) zusammengefasst wurden. Das Unternehmen ist ein Sensorspezialist, der plattformunabhängig verschiedenste Waffenhersteller beliefert. Mit Hensoldt ist ein deutscher Anbieter entstanden, der das breite Feld spezieller militärischer Elektronik anbietet – er ist in diesem Punkt vergleichbar mit anderen Technologie- und Rüstungskonzernen wie Thales oder Leonardo (der 2021 ein Anteilspaket von 25,1% an Hensoldt erworben hat). Weiterer Eigentümer ist der deutsche Staat, der in der Pandemie 2020 ein Aktienpaket im Wert von 450 Mio. € erworben hat. Im SIPRI- Ranking ist Hensoldt von 2020 auf 2021 von Platz 79 auf 69 vorgerückt. In jüngerer Zeit ist die Belieferung türkischer Drohnenhersteller mit Sensoren negativ aufgefallen.

3) Heckler & Koch

Der Umsatz von Schusswaffenherstellern wie Heckler & Koch fällt im Vergleich zu Schiffsbauern nahezu gering aus – die tödliche Wirkung ihrer Waffen jedoch ist eine wesentlich höhere. Das Unternehmen knüpfte nach 1955 nahezu bruchlos an die deutsche Waffenbauertradition an und fertigt bis heute immer neue Handfeuerwaffen. Die Standardgewehre der Bundeswehr G3 (1959-1997) und G36 (1997-) sind weltweit im Einsatz und werden auch im Ausland in Lizenz gefertigt. Exportiert wurden also nicht nur die Gewehre an sich, sondern auch komplette Waffenfabriken. Neben Heckler & Koch stehen auch die Firmen Carl Walther, SIG Sauer und Haenel für deutsche Kleinwaffenproduktion und ihren internationalen Einsatz.

4) Diehl-Defense

Diehl steht, wie auch Rheinmetall, auf einem zivilen und einem militärischem Bein – 870 Mio. US$ der knapp 3,7 Mrd. US$ Gesamtumsatz von Diehl 2021 entfielen auf die Defense Sparte mit Hauptsitz in Überlingen am Bodensee. Diehl hat einen Fokus auf Lenkflugkörper und fertigt an verschiedenen Standorten Komponenten und entwickelt Technologien hierzu – die teilweise auch in Lenkflugkörperserien anderer Hersteller verbaut werden. Diehl ist in einer Reihe von Kooperationen aktiv, wie mit MBDA, Elbit, Thales oder Rheinmetall. Von Diehl stammt die IRIS-T, die als Luft-Luft und Boden-Luft-Lenkflugkörper in verschiedenen Streitkräften eingesetzt wird und im Kontext des Ukrainekriegs bekannter geworden ist.

5) Northrop Grumman LITEF

Die Trägheitsnavigationssysteme und Sensoren der Freiburger Firma LITEF sind Bestandteil von Waffensystemen und Verkehrsflugzeugen und -hubschraubern weltweit – auch andere Maschinen werden mit ihnen bestückt. Es ist einer der »hidden champions« mit Sitz in Deutschland, der, obwohl er den Namen des viertgrößten Waffenproduzenten der Welt trägt, explizit Technik verkauft, die nicht den US-Regulatorien unterliegt und damit unabhängig von einer Genehmigung durch die USA-Behörden verkauft/exportiert werden kann (ITAR-frei).

Abb. 7: Ausgewählte Standorte Niedersachsen, NRW, Hessen und Bayern

6) Naval Vessels Lürssen – ThyssenKrupp Marine Systems

Die Umsätze in der Marineindustrie sind gigantisch – Kriegsschiffe kosten viel Geld, dass in der Regel erst fließt, wenn ein Schiff an der Kaimauer festmacht, weshalb Schiffsbauer schnell in den oberen Rängen von SIPRI ankommen, aber ebenso schnell wieder verschwinden können. Das kapitalintensive Geschäft wird nicht selten von Korruption begleitet – die technologische Komplexität und die langen Beschaffungszyklen lassen die Projekte schnell zu Millionengräbern gedeihen. Von der einstmals großen und erfolgreichen Marineindustrie in Deutschland ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die »Reste« wurden und werden immer wieder mal verkauft oder umfirmiert, wobei jedes neue Unternehmen für sich reklamiert, in der großen Tradition des Marineschiffbaus in Deutschland zu stehen. Die hier genannten Unternehmen NVL und TKMS bilden zusammen die Spitze davon. Die U-Boote aus Deutschland kosten rund 400 Mio. € das Stück und sind vor allem Exportschlager.

7) Rheinmetall

Der Düsseldorfer Mischkonzern rangierte 2021 mit einem Umsatz von fast 4,45 Mrd. US$ im Rüstungsgeschäft auf Platz 31 der weltweit größten Rüstungsunternehmen und ist damit Deutschlands größte Rüstungsschmiede. Neben der im Vordergrund stehenden Produktion schwerer Waffensysteme wie Leopard 2, Lynx, Marder, Puma etc. bietet der Konzern auch kleinere Waffensysteme an, die als Ergänzung oder zusätzliche Ausrüstung zu haben sind. Durch Zukäufe in den vergangen 20 Jahren ist Rheinmetall zu einem »Vollanbieter« des militärischen Bedarfs geworden, der von Patronen über Granaten und Drohnen bishin zu Feldlagern alles im Programm hat. Der Konzern ist international breit vernetzt und betreibt Fabriken auch in Ländern, die keinen oder anderen Exportbeschränkungen unterliegen. Der Konzern ist einer der exponiertesten Lobbyisten für eine Aufweichung von Exportbeschränkungen und der Erhöhung von Rüstungsbeschaffungen.

8) KMW-Nexter (KNDS) – Krauss-Maffei Wegmann

Der »europäische Champion« unter den Panzerbauern besteht aus dem größten französische Panzerbauer (im Besitz des französischen Staates) und dem größten deutschen Panzerbauer (im Besitz der Familie Bode/Wegmann) und hat seinen Sitz in den Niederlanden … und ist hierzulande kaum als Firma bekannt. Hier kennt man KMW als deutsches Unternehmen, das an der Produktion von Leopard-Panzern, Panzerhaubitzen und weiteren gepanzerten Fahrzeugen beteiligt ist. Die Fusion mit Nexter sollte nicht nur technologische Synergien, sondern auch gemeinsame Produktions- und Exportkapazitäten schaffen – denn, anders als das landläufige Bild, ist Panzerproduktion in Europa nach 1990 mehr Manufaktur, denn Industrie.

9) Dynamit Nobel Defence

Versteckt im Siegerland auf der Grenze zwischen NRW und Hessen befinden sich die Produktionsanlagen von Dynamit Nobel Defence (DND) – es ist ein historischer Standort: Produktionsstätten von Munition und Sprengstoff wurden weitab größerer Siedlungen gebaut. DND fertigt Schulterwaffen für die Bundeswehr und andere Armeen. Als »Panzerfaust« bekannt sind diese Schulterwaffen kleine Flugkörper, die von Soldaten am Boden abgefeuert werden können. Darüber hinaus baut DND reaktive, explodierende Schutzpanzerungen für gepanzerte Fahrzeuge. DND ist in einer Kooperation mit General Dynamics Ordnance and Tactical Systems auch auf dem US-Markt mit seinen Produkten vertreten. Das Unternehmen gehört zum israelischen Rüstungskonzern Rafael Advanced Defence Systems – einem der Schwergewichte im internationalen Waffenhandel: es rangiert auf Platz 45 bei SIPRI.

10) MBDA Deutschland

Mit nationalen Gesellschaften in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien ist die MBDA heute einer der größten Anbieter von Lenkflugkörpern weltweit – und der deutsche Ableger ist technologisch gesehen ein wesentlicher Baustein in diesem Konstrukt. Das Unternehmen beliefert 90 Armeen rund um den Globus und ist in Deutschland an drei Standorten mit Produktion und Entwicklung vertreten. MBDA ist auf vielfache Weise mit anderen Unternehmen verbunden und ist im Besitz von Airbus (37,5%), BAE Systems (37,5%) und dem Leonardo-Konzern (25%). Mit dem Tochterunternehmen Bayern-Chemie ist das Unternehmen auch in der Raumfahrt und bei Hyperschallflugkörpern aktiv, mit TDW (Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme mbH) werden Gefechtsköpfe und anderer Komponenten für die Lenkwaffen von MBDA und die anderer Hersteller wie Raytheon, Lockheed Martin, Saab und Kongsberg Defence & Aerospace entwickelt.

Wer finanziert die deutsche Rüstungsindustrie – und wie?

Ein Überblick von Facing Finance e.V.

von Julius-Anton Bussenius und Luca Schiewe

Ohne Bankkredite, ohne Exportkredite, ohne Versicherungen von Rückversicherern, ohne Risikenübernahme von Investmentbanken, ohne Investitionen von Fonds und ohne Anleihenverkäufe an der Börse ist es auch für deutsche Rüstungskonzerne schwer, auf den (internationalen) Markt zu gelangen und sich dort zu halten. Doch über welche Strukturen und Wege erhalten deutsche Rüstungsunternehmen konkret Gelder?

Die Umschreibung »deutsche Rüstungsindustrie« kann unterschiedlich weit gefasst werden und bedarf einer Spezifizierung (→ vgl. Seifert). Nach der Mitgliederliste des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) umfasst die »deutsche Rüstungsindustrie« aktuell 221 Mitgliedsunternehmen, von denen 187 namentlich genannt werden. Nach Angaben des BDSV betätigen sich seine Mitgliedsunternehmen in Deutschland auf dem Gebiet der Ausrüstung von Organen der Landesverteidigung und inneren Sicherheit in der Wehr-, oder Sicherheitstechnik mit industriellen oder digitalen Wertschöpfungsketten. Die Mitgliedschaft ist unabhängig von der Unternehmensgröße und bietet damit eine gute Annäherung an ein breites Verständnis der deutschen Rüstungsindustrie.

Finanzierungswege der Rüstungsindustrie

Die deutsche Rüstungsindustrie ist bezüglich Eigentümerstruktur, Ort des Unternehmenssitzes, Mitarbeiter*innenzahl und Jahresumsatz sehr heterogen. Je nach Unternehmensstruktur nutzen deutsche Rüstungsfirmen auch sehr unterschiedliche Finanzierungswege. Um einen Überblick zu bekommen, lohnt es sich, die Unternehmen zunächst anhand der zentralen Faktoren Eigentümerstruktur und Ort des Unternehmenssitzes zu kategorisieren (vgl. Abb. 8 und 9). Unter den BDSV-Mitgliedsunternehmen haben 129 ihren Hauptsitz in Deutschland, während 58 ihren Hauptsitz im Ausland haben oder deutsche Tochterunternehmen von ausländischen Konzernen sind. Bezüglich der Eigentümerstruktur befinden sich 95 Unternehmen in privatem Besitz, meist mittelständische Familienunternehmen, die eher kleinere Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze aufweisen; Sechs gehören Finanzinvestoren, die das Ziel verfolgen, diese Unternehmen profitabler zu machen und anschließend weiterzuverkaufen oder an die Börse zu bringen; 28 sind Tochterfirmen von Konzerngruppen in Privathand oder Staatshand, meist Großkonzerne; Neun sind börsennotiert und in der Regel charakterisiert durch große Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze; und 41 sind Tochterunternehmen oder Joint Ventures von börsennotierten Konzernen, die meisten davon mit Sitz im Ausland. Zu acht Unternehmen konnten keine Informationen zur Unternehmensstruktur gefunden werden.

Abb. 8: Sitz der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Die Unternehmensstruktur beeinflusst, auf welche Weise sich eine Rüstungsfirma finanziert. Für alle Firmen gilt, dass sie ihre Operationen und Investitionen teilweise selbst über einbehaltene Gewinne finanzieren. Daneben lassen sich für jede Unternehmensstruktur verschiedene Finanzierungswege erkennen.

Erstens: Unternehmen in privatem Besitz finanzieren sich hauptsächlich über Kredite deutscher Banken. Dabei handelt es sich in der Regel um konventionelle Banken und nicht um Nachhaltigkeitsbanken. Der Fair Finance Guide Deutschland zeigt, welche deutschen Banken die Rüstungsindustrie finanzieren und welche nicht.

Zweitens: Unternehmen, die Teil einer Konzerngruppe sind, finanzieren sich in der Regel über ihren Mutterkonzern. Einige deutsche BDSV-Mitgliedsfirmen gehören zu großen und internationalen Konzernen, meist Rüstungskonzernen, und finanzieren sich über diese. Ein paar dieser ausländischen Mutterkonzerne sind in Staats- oder Privathand, aber die meisten sind börsennotiert: Airbus, Atos, BAE Systems, Bruker, CAE, Capgemini, Caterpillar, CGI, Chart Industries, Cohort, Dassault Aviation, Elbit Systems, Engie, Frequentis, General Atomics, General Dynamics, Huber+Suhner, IBM, Kennametal, Leonardo, Melrose Industries, Moog, Northrop Grumman, Oerlikon, Palantir, QinetiQ, Rolls-Royce, RTX, Saab, Safran, Solvay und Thales.

Abb. 9: Eigentümerstruktur der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Drittens: Unternehmen, die an der Börse gelistet sind, finanzieren sich häufig über Konsortialkredite (große Kredite, die von mehreren nationalen und internationalen Banken gemeinsam vergeben werden) oder direkt über die Ausgabe neuer Aktien und Anleihen am Kapitalmarkt. Wenn eine deutsche Rüstungsfirma eine Anleihe ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Fremdkapital am Finanzmarkt auf. Wenn sie neue Aktien ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Eigenkapital am Finanzmarkt auf. Dabei übernehmen ein paar ausgewählte Investmentbanken die neuen Aktien und verkaufen sie dann an Anleger*innen, insbesondere Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds. Wenn diese Anleger*innen neu ausgegebene Aktien oder Anleihen eines deutschen Rüstungsunternehmens kaufen (Primärmarkt), dann finanzieren sie dieses Unternehmen. Wenn dahingegen alte Aktien eines Rüstungsunternehmens zwischen Investor*innen gehandelt werden (Sekundärmarkt), erhält dieses Unternehmen dabei kein Geld. Trotzdem unterstützen auch Käufer*innen von Rüstungsaktien am Sekundärmarkt indirekt die jeweiligen Rüstungsfirmen, da sie zu einer höheren Nachfrage beitragen, die den Aktienpreis stützt und die Firma von einem höheren Aktienpreis finanziell profitiert. Das ist z.B. der Fall, wenn die Firma neue Aktien ausgibt und dabei dann einen höheren Preis erzielen kann.

Viertens: Ein paar deutsche Rüstungsfirmen wurden von Finanzinvestoren, meist Private Equity Fonds, aufgekauft und werden von diesen teilweise finanziert. Zu diesen Finanzinvestoren zählen aktuell Capital Management Partners, Mimir Group, Perusa Partners, Rantum Capital, Star Capital Partnership LLP, Triton Capital Partners und bald auch KKR.

Investoren und Kreditgeber der deutschen Rüstungsindustrie

Im Folgenden wird analysiert, wer die börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen finanziert. Die größten Aktionäre der deutschen Rüstungsindustrie können unterschieden werden zwischen strategischen Anteilseignern (Staaten, Partnerkonzerne, Stiftungen, Gründerfamilien) und Investoren, die mit ihren Aktieninvestments in erster Linie Gewinne erzielen wollen. Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 der deutsche Staat (mit Aktienbeteiligungen in Höhe von 12,95 Mrd. US$); der französische Staat (12,44 Mrd. US$); der Autokonzern Mercedes Benz (8,71 Mrd. US$); der spanische Staat (4,68 Mrd. US$); die Luxemburger Finanzholding CDE (2,38 Mrd. US$); der chinesische Autokonzern BAIC (1,62 Mrd. US$); der Staatsfonds Kuwaits (1,24 Mrd. US$); der Sicherheitstechnologie-Konzern Giesecke+Devrient (1,04 Mrd. US$); die Krupp-Stiftung (0,98 Mrd. US$); der italienische Rüstungskonzern Leonardo (0,62 Mrd. US$); die Software AG Stiftung (0,6 Mrd. US$); und die Fuchs-Familienstiftung (0,56 Mrd. US$).

Abb. 10: Größte Investoren börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Die größten Investoren der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 die US-amerikanische Investmentgesellschaft Capital Group (12,67 Mrd. US$); der weltweit größte Vermögensverwalter Blackrock (9,52 Mrd. US$); der weltweit zweitgrößte Vermögensverwalter Vanguard (4,04 Mrd. US$); der britische Hedge-fond TCI (2,55 Mrd. US$); der weltweit drittgrößte Vermögensverwalter Fidelity (2,16 Mrd. US$); Europas größter Fondsanbieter Amundi (2,07 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Wellington (1,79 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (1,41 Mrd. US$); das Fondshaus der Deutschen Bank, die DWS (1,23 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Invesco (1,22 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Harris Associates (1,21 Mrd. US$); und das Fondshaus der deutschen Sparkassen, die Deka (1,07 Mrd. US$). Es zeigt sich, dass die wichtigsten Investoren der börsennotierten deutschen Rüstungsfirmen die großen US-amerikanischen Finanzinstitute sind, die die globalen Kapitalmärkte dominieren. Dahinter kommen Finanzinstitute aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich.

Wenn wir die Konsortialkredite betrachten, die die börsennotierten BDSV-Mitglieder seit dem Jahr 2020 erhalten haben, sehen wir, dass die größten Kreditgeber allesamt Großbanken sind: Die größte französische Bank BNP Paribas (4 Mrd. US$); die zweitgrößte italienische Bank Unicredit (3,97 Mrd. US$); die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan (3,71 Mrd. US$); die zweitgrößte französische Bank Crédit Agricole (3,60 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (3,51 Mrd. US$); die französische Bank Société Générale (3,39 Mrd. US$); die Investmentbank der französischen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis (3,33 Mrd. US$); die größte spanische Bank Santander (3,33 Mrd. US$); die größte deutsche Privatbank Deutsche Bank (1,70 Mrd. US$); die zweitgrößte spanische Bank BBVA (1,42 Mrd. US$); die zweitgrößte britische Bank Barclays (1,32 Mrd. US$); die US-Bank Citi; die größte kanadische Bank RBC; die japanischen Banken Mizuho und Sumitomo (alle 1,26 Mrd. US$); und die zweitgrößte deutsche Privatbank Commerzbank (0,59 Mrd. US$).

Hinzu kommen weitere Banken, die sich mit Summen unterhalb der Milliardenmarke an diesen Konsortialkrediten beteiligt haben. Das sind unter anderem die deutsche staatliche Förderbank KfW; die Kreissparkasse Biberach; die Kreissparkasse Ostalb; die Stadtsparkasse Düsseldorf; die Landesbank Baden-Württemberg; die Landesbank Hessen-Thüringen; die Bayerische Landesbank; das Zentralinstitut der deutschen Volks- und Genossenschaftsbanken, die DZ Bank; die größte chinesische Bank Industrial & Commercial Bank of China; die US-Investmentbank Goldman Sachs; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; die größte holländische Bank ING; die größte schwedische Bank SEB; die britische Bank Standard Chartered; die größte Singapurer Bank DBS; die französische Genossenschaftsbank Crédit Mutuel; die australische Bank ANZ; die größte Schweizer Bank UBS; und die kürzlich untergegangene Credit Suisse.

Wer finanziert kontroverse Waffen?

Im Finanzsektor werden Rüstungsunternehmen häufig danach unterschieden, ob sie kontroverse Waffen entwickeln, produzieren und verkaufen oder dies nicht tun. Bei kontroversen Waffen handelt es sich um Kampfmittel, deren Einsatz umstritten ist und die meist in internationalen Verträgen von einer Vielzahl an Staaten geächtet werden. Dazu werden meist Streumunition, Nuklearwaffen, Anti-Personen-Minen, biologische Waffen, chemische Waffen, Waffen mit weißem Phosphor und abgereichertes Uran gezählt. Insgesamt sechs BDSV-Mitgliedsfirmen sind Teil von ausländischen, börsennotierten Rüstungsunternehmen, die an der Herstellung kontroverser Waffen beteiligt sind. Folglich finanzieren sich die deutschen Rüstungsfirmen, die Teil eines Herstellers kontroverser Waffen sind, über diese ausländischen Mutterkonzerne: Airbus, General Dynamics, Northrop Grumman, Safran, Thales, Elbit Systems. Weitere sieben ausländische Rüstungskonzerne, die nicht Mitglieder des BDSV sind, produzieren kontroverse Waffen und haben Niederlassungen oder Produktionsstätten in Deutschland. Diese deutschen Produktionsstätten finanzieren sich ebenfalls über die ausländischen Konzerne, zu denen sie gehören: Boeing, Fluor, Honeywell International, Jacobs Engineering, Leonardo, Dassault Aviation, Rolls-Royce.

Abb. 11: Größte strategische Anteilseigner börsennotierter BDSV-Mitgliedsfirmen

Wer liefert Waffen an kriegführende Staaten?

In der Datenbank exitarms.org, einem Projekt von Facing Finance e.V., unterscheiden wir zwischen Unternehmen, die Waffen an kriegführende Staaten liefern und Unternehmen, die das nicht tun. Aus diesen Daten geht hervor, dass zwischen 2016 und 2021 insgesamt 48 Unternehmen mit Sitz in Deutschland an Rüstungsexporten in Kriegsgebiete beteiligt waren. Zudem haben im selben Zeitraum 65 Unternehmen – teilweise mit Hauptsitz im Ausland – aus Deutschland heraus Waffen in Kriegsgebiete geliefert. Wenn wir von diesen Rüstungsexporteuren diejenigen betrachten, die börsennotiert sind, sehen wir, dass einige der größten Anteilseigner auch bereits unter den größten Aktionären der BDSV-Mitgliedsfirmen waren: Die Investoren Amundi, Blackrock, Capital Group, DWS, Fidelity, Harris Associates, Invesco, TCI, Vanguard und Wellington sowie die strategischen Anteilseigner BAIC, Kuwaits Staatsfonds und der französische Staat.

Abb. 12: Größte Kreditgeber von Konsortialkrediten für börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Daneben gibt es ein paar neue Großaktionäre: Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten Firmen, die Waffen in Kriegsgebiete exportiert haben, sind das Land Niedersachsen; die Holding der Milliardärsfamilie Porsche-Piëch; der Staatsfonds Katars; der Autokonzern Volkswagen; der italienische Staat; die französische Milliardärsfamilie Dassault; die Holding des israelischen Milliardärs Federmann; und der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus. Die größten Investoren sind der norwegische Staatsfonds sowie – allesamt mit Sitz in den USA – der Vermögensverwalter Artisan Partners; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; der Vermögensverwalter Columbia Threadneedle; der Fondsanbieter DFA; der Vermögensverwalter Geode; die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan; der Vermögensverwalter Longview Asset Management; die Finanzberatungsfirma Managed Account Advisors; der Vermögensverwalter MFS; die Investmentbank Morgan Stanley; der Pensionsfonds Newport; die Investmentgesellschaft Sanders Capital; der Versicherungskonzern State Farm; die Großbank State Street; und der Vermögensverwalter T. Rowe Price.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich deutsche Rüstungsfirmen hauptsächlich über folgende Wege finanzieren: selbst einbehaltene Gewinne; Kredite lokaler, nationaler und internationaler Banken; die Investitionen ihrer Mutterkonzerne, häufig ausländische, börsennotierte Rüstungskonzerne, sowie die Finanzierung über den Verkauf neuer Aktien und Anleihen an den Kapitalmärkten, meist an Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds.

Julius-Anton Bussenius studiert Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Praktikant bei der Nichtregierungsorganisation Facing Finance e.V.

Luca Schiewe hat einen finanzwissenschaftlichen Background, ist bei Facing Finance e.V. für Engagement- und Divestmentstrategien zu Rüstungsexporteuren zuständig und koordiniert die ExitArms-Datenbank.

Rüstung findet nebenan statt:

Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

von Andreas Seifert

Der Blick auf die aktuelle Karte mit Rüstungsstandorten in Deutschland offenbart einige Schwerpunkte und auch Leerstellen, vor allem aber eine breite Verteilung über ganz Deutschland. Es sind heute viele kleine, oftmals sogar unscheinbare Standorte: die ganz großen Zentren, wie es sie noch in den 1970er Jahren gab, sind weniger und kleiner geworden. Um die Dynamik dahinter zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte.

Die Höhepunkte der Rüstungsindustrie in Deutschland lagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in der Hochphase des Kalten Krieges in den 1970er Jahren. Bereits Ende der 1970er Jahre, vor allem aber in den 1980er Jahren begann ihr relatives und absolutes Gewicht zu sinken. Von rund 400.000 Beschäftigten in diesem Bereich in den 1980ern, fiel die Zahl nach 1991 immer weiter ab und betrug je nach Zählmethode und Ansatz Anfang der 2000er Jahre nur noch rund 60.000 bis 90.000 Beschäftigte. Bundesländer wie beispielsweise Bremen versuchten, diesen Strukturwandel mit einer staatlich geförderten »Konversion« zu flankieren, die negativen Effekte abzufedern, anderswo wurde auf Fusionen gesetzt und wieder andere Unternehmen stellten Teile ihrer Produktion auf zivile Güter um.

Neben dieser allgemeinen Reduktion der schieren Anzahl von Beschäftigten beeinflusste auch die technologische Entwicklung und die geografische Lage den Zuschnitt der Industrie. Sind einzelne Standorte, wie Schönebeck südlich von Magdeburg seit 1832, schon immer und auch heute noch Standorte von Rüstung, so verschwanden doch andere von der Karte und es traten neue hinzu.

Grob formuliert trug die Abkehr von der Schwerindustrie (Stahlbau, Panzer) zur Leichtindustrie (z.B. im Flugzeugbau, Drohnen), aber auch die verstärkte Nutzung von Elektronik bzw. digitalen Technologien wesentlich zur Veränderung geografischer Schwerpunkte in der Rüstung bei. Trotz allem lassen sich geografische Kontinuitäten ortsbezogen beobachten und werden sich mit der rüstungsbezogenen »Zeitenwende« weiter vertiefen.

Nach 1989 wurde im Osten Deutschlands kaum etwas von der dort vorhandenen Rüstungsindustrie fortgeführt – z.B. Suhl mit der Firma Haenel. Jedoch sehen heute Unternehmen wie z.B. Rheinmetall durchaus eine Chance, in den östlichen Bundesländern erneut Rüstung anzusiedeln. Sie folgen hier einem Standortauswahlprinzip, das die Rüstungsindustrie schon immer verfolgte: besonders gefährliche Produktionen, z.B. Sprengstoffe, werden in eher dünner besiedelten, strukturarmen Regionen angesiedelt. Beispiele wie Burbach, Aschau am Inn, Schrobenhausen oder auch Oberndorf am Neckar sind Beispiele hierfür auch im deutschen Westen – selbst kleinere Firmen können so regional gesehen eine große Bedeutung für Arbeitsplätze, Sozialräume und Standortattraktivität erlangen.

Große Cluster in Deutschland, die ihre Kontinuität bis heute bewahrt haben, sind beispielsweise:

Abb. 13: Cluster 2 | Bremen-Hamburg-Kiel

(1) Die Bodenseeregion, die ausgehend von der mit den Zeppelinen verbundenen Rüstungsindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts über den Flugzeug- und Motorenbau bis heute einen produktionstechnisch hoch relevanten Cluster bildet. Mit Diehl in Überlingen (früher einmal Bodensee Geräte Technik), über MTU Friedrichshafen (heute Rolls Royce) bis hin zu Hensoldt (vor kurzem noch Airbus) sind große Namen aus der Rüstungsindustrie direkt am See vertreten. Diese Firmen produzieren neben Motoren – heute mehr Schiffs- als Flugzeugmotoren – auch Getriebe für Panzerfahrzeuge, Sensoren und Lenkwaffen. Aber auch für die digitale Steuerung von Panzern und ganzen Schiffssystemen gibt es Anbieter.

(2) Ein anderer Cluster mit einer hohen Kontinuität ist der Bremen-Hamburg-Kiel Cluster. Dieser war einmal Hauptstandort der Marinerüstung in Deutschland. Heute spielt die Marinerüstung immer noch eine Rolle, aber sie ist deutlich kleiner und wird flankiert von Sensorik, Luft- und Raumfahrt. Mit Kiel, wo nicht nur die Produktion von U-Booten ihre Heimat gefunden hat, bilden Hamburg und Bremen eine Gruppe, die das gesamte Drumherum um die komplexer gewordenen maritimen Systeme entwickelt und produziert. Bremen ist heute einer der Schwerpunktstandorte nicht nur der Raumfahrt an sich, sondern auch ihrer militärischen Nutzung – große Firmen wie OHB entwickeln und bauen Satelliten fürs Militär. Schätzungen zufolge sind heute mit rund 8.000 Arbeitsplätzen in diesem Cluster wieder ähnlich viele Menschen in der Rüstung beschäftigt, wie zuletzt in den 1980er Jahren.

(3) Der zweite süddeutsche Cluster liegt um München. Panzer werden heute vor allem in Kassel und München gebaut. Mit dem Großraum München ist der größte Rüstungscluster benannt, den Deutschland aufzuweisen hat. Dabei ist es nicht einmal der Panzerbauer KMW, der hier hervorsticht, auch Rheinmetall und Rhode & Schwarz sind vertreten und alles was im Bereich militärischer Luftfahrt Rang und Namen hat: MTU Aeroengines, Europrop, Airbus und Hensoldt. Ebenfalls in München ist auch ein Teil der Forschung und Entwicklung für die Bereiche Luftfahrt und Militär anzutreffen – nirgendwo in Deutschland gibt es eine höhere Massierung.

(4) Rund um die Behördenstandorte Berlin (Regierung), Bonn (BMVg) und Koblenz (Beschaffungsamt) häufen sich die Verbindungs- und Lobbybüros der Rüstungsindustrie. Rund um Bonn herum hat sich zudem der wichtiger gewordene Bereich der Digitalindustrie angesiedelt. Diese formt einen eigenen Cluster, der sich in den letzten Jahren nahezu unbemerkt und abseits der auf schweres Gerät fixierten medialen

Rüstungsdebatten entwickelt hat. Kern der Entwicklung ist hier der AFCEA-Verband, der Militär, Behörden und Politiker*innen mit der Industrie zusammenbringt: kein scheinbar ziviler Technologiekonzern, der nicht vertreten ist. In Bonn sind die Übergänge zwischen dem Cyberkommando der Bundeswehr, dem BSI und anderen zivilen Akteuren fließend – eine jährliche Rüstungsmesse für den digitalen Kampf ist das Sahnehäubchen.

Abb. 14: Ausgewählte Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

2) EXPORT: Struktur, Empfänger, Konsequenzen

Mehr oder weniger Sicherheit?

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten aus der sicherheitspolitischen Perspektive

von Simone Wisotzki

Deutsche Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter geraten immer wieder in die Schlagzeilen, wenn sie etwa in Konfliktregionen gelangen. Meist fehlt es von politischer Seite an Begründungen, weshalb in die Regionen oder in das jeweilige Land geliefert worden ist (→ vgl. Kolling). Allerdings finden sich auch in strategischen Dokumenten, wie Weißbüchern oder außenpolitischen Strategiepapieren selten konkrete Hinweise darauf, dass Rüstungsexporte als Teil des außen- und sicherheitspolitischen Selbstverständnisses angesehen werden. Zu finden sind solche Argumente vor allem bei Vertreter*innen von strategischen Sicherheitsstudien, bei Bundestagsabgeordneten oder natürlich auch bei Industrievertreter*innen. Wie lauten diese Argumente?

Prinzipiell lassen sich verschiedene Argumentationsstränge der Befürworter*innen einer außen- und sicherheitspolitisch verstandenen Strategie identifizieren. Wichtig sind dabei vor allem drei Debatten: 1. Die regionale Stabilität und Sicherheit; 2. Ertüchtigung von Drittstaaten; 3. Bündnispolitische Argumente. Die Debatten um die Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für die Ukraine sind inzwischen so umfangreich, dass sie einen eigenen Beitrag wert sein sollten (GKKE 2022). Das Folgeargument der zunehmenden weltweiten Militarisierung und Aufrüstung in Folge der »Zeitenwende« leitet diesen Beitrag jedoch zentral an. Das führt gerade auch im Hinblick auf die bündnispolitischen Argumente zu eigenen, neuen Entwicklungen, speziell bei der Intensivierung von europäischen Rüstungskooperationen. Die weltweite sicherheitspolitische Krise hat nicht nur Folgen für die deutsche Rüstungsexportpolitik, sondern zeigte sich schon lange vor dem neuerlichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Ganz deutlich wurde sie auch schon in den vorangegangenen Jahren im Hinblick auf die multilaterale bzw. strategische nukleare und die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wisotzki und Kühn 2021).

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten

Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter sind keine Handelsware wie jede andere. Eigentlich ist allen klar, dass der Umgang, die Genehmigung, der Transfer und der Export einer ganz besonderen Sorgfaltspflicht bedürfen. Dennoch gelangen solche Waffen, die Munition oder auch die Spionagesoftware in die Hände von kriegführenden Staaten, von nicht-staatlichen Akteuren oder auch von menschenrechtsverachtenden Diktaturen, sind damit also oftmals konfliktverschärfend wirksam. Auf der anderen Seite steht das in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (VN) verbriefte Recht auf Selbstverteidigung, über das alle Staaten im Falle eines Angriffs auf ihr Territorium verfügen. Gemäß dem kollektiven Recht auf Selbstverteidigung können andere Staaten das angegriffene Land mit Waffen und Munition unterstützen. In jedem Fall müssen nach Artikel 51 Absatz 2 der VN-Charta alle Maßnahmen der Selbstverteidigung gegenüber dem Sicherheitsrat angezeigt werden. In den Verhandlungen zum internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) haben nahezu alle Staaten darauf gedrungen, dass mit dem Recht auf Selbstverteidigung auch das Recht eines jeden Staates zur Herstellung, zum Import, zum Transfer und zum Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern verbunden ist. Eine solche Formulierung findet sich deshalb auch in der Präambel des ATT.

Der ATT betont wiederum, dass Waffen und Rüstungsgüter zwar Frieden und Sicherheit garantieren können, andererseits aber auch genau diesen beiden Zielen abträglich sein können – dies unterstreicht einmal mehr die Ambivalenz, die mit der Problematik von Rüstungsexporten verbunden ist.

Rüstungsproduzierende Staaten haben unterschiedliche Gründe, weshalb sie auf den Export von Rüstungsgütern nicht verzichten wollen. Ganz oben stehen außenpolitische und sicherheits- und verteidigungspolitische Argumente, aber auch wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Gründe werden oftmals genannt. Dabei findet sich in den Politischen Grundsätzen in Artikel III.2 der Hinweis, dass beschäftigungspolitische Gründe keine ausschlaggebende Rolle bei der Genehmigungsentscheidung von Rüstungsexporten an Drittstaaten spielen dürfen.

Sicherheitspolitische Begründungen für Rüstungsexporte

Alle Bundesregierungen haben sich stets zur »restriktiven« deutschen Rüstungsexportpolitik bekannt. Dennoch finden sich mannigfaltige Beispiele und Belege dafür, dass Kriegswaffen, sonstige Rüstungsgüter aber beispielsweise auch Dual-Use-Güter in Kriegs- und Krisengebiete gelangt sind (Wisotzki 2020; → siehe auch Grässlin). Selten werden Genehmigungen öffentlich begründet, doch häufig finden sich Hinweise darauf, dass Politiker*innen sicherheits- und verteidigungspolitische Überlegungen zugrunde legen, um ihre Positionierungen zu rechtfertigen (beispielsweise in den Debatten des Bundestages; vgl. Wisotzki 2021).

Abb. 15: Deutsche Rüstungsexporte weltweit

Datenquelle: BICC/ruestungsexport.info; Bezugsjahr 2021

Rüstungsexporte als Beitrag zu regionaler Stabilität und Sicherheit

Als häufiges sicherheitspolitisches Argument ist zu vernehmen, dass Rüstungsexporte zu regionaler Stabilität und Sicherheit beitragen. Aus Sicht der Befürworter*innen von Rüstungsexporten sind es vor allem zwei Regionen in der Welt, in der deutsche Sicherheits- und Stabilitätsinteressen zum Tragen kommen – die Region rund um den Persischen Golf sowie die regionale Stabilität Ostasiens, insbesondere auch rund um das Südchinesische Meer. So sollen „Rüstungsexporte als Instrument im Rahmen einer interessengeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik auch dann in Frage kommen, wenn nicht alle Aspekte (Menschenrechte, mangelnde Kontrolle über den Verbleib und die Verwendung der Waffen, etc.) dabei in idealtypischer Weise berücksichtigt werden“ (Schilling 2015, S. 33). Die Stabilität der Region des Nahen und Mittleren Ostens (MENA) sowie die Ostasiens müsse als Teil deutscher Sicherheitsinteressen verstanden und diese Staaten beim »Aufbau ihrer Verteidigungskapazität« unterstützt werden.

EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, haben an alle Konfliktparteien rund um das Südchinesische Meer Kriegswaffen, Rüstungsgüter und Technologien geliefert – vor allem auch Kriegsschiffe im maritimen Sektor (Duchâtel und Bromley 2017, S. 7). Daneben gibt es in der Region Asiens eine ganze Reihe weiterer ungeklärter Territorialkonflikte und ungelöster Konflikte. Selbst wenn eine gewisse strategische Stabilität durch Aufrüstung angenommen werden könnte, so dokumentieren zahlreiche Zwischenfälle auf See das hohe Risiko einer gewalthaften Eskalation (Abb et al. 2021, S. 34ff.; Boemcken und Grebe 2013).

Die Gefahr von Rüstungswettläufen durch Rüstungsexporte für spezifische Regionen sollte nicht unterschätzt werden. Blickt man auf die MENA-Region, so verdeutlichen die jährlichen Zahlen des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) die beträchtliche Aufrüstung und die Rüstungswettläufe gerade in dieser Region. So ist Saudi-Arabien direkt hinter Indien der zweitgrößte Rüstungsimporteur, Katar nimmt Platz 3 ein. Unter den Top-20 der größten Rüstungsimporteure (gemittelt über die Jahre 2018-2022) liegt Ägypten auf Platz 6 und die Vereinigten Arabischen Emirate auf Platz 11. In der Region Ostasien liegt Südkorea auf Platz 7 und Japan auf Platz 9 der weltweit größten Rüstungsexporteure. 41 Prozent der weltweiten Waffenimporte verfielen auf die Regionen Asien und Ozeanien, dicht gefolgt von den MENA-Staaten mit 31 Prozent (vgl. Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Aufrüstung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Konfliktgeschehens in beiden Regionen und unterstreicht einmal mehr den Zusammenhang zwischen Konfliktgeschehen und Rüstungswettläufen (vgl. Barakat et al. 2021). Wissenschaftler*innen sehen einen Wandel zu einer proaktiveren und militarisierten Außenpolitik arabischer Empfängerstaaten deutscher Rüstungsexporte. Die gelieferten Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgüter kämen tatsächlich auch in den Kriegen in der Region zum Einsatz oder würden an beteiligte Konfliktakteur*innen weitergegeben (vgl. Hüllinghorst und Roll 2020). Das Argument der regionalen Stabilität wird oftmals auch mit der Möglichkeit der Einflussnahme durch Rüstungsexporte verknüpft, um in diesen Ländern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu realisieren (vgl. Durm 2021). Eine Studie zeigt anhand der britischen Exportpolitik, dass diese Vorstellung von Einflussnahme im Fall Saudi-Arabiens illusorisch sei, das Königreich vielmehr umgekehrt Einfluss auf die britische Politik nehme (vgl. Van Rij und Wilkinson 2018).

Rüstungsexporte zur Ertüchtigung und Stabilisierung von Drittstaaten

Demokratien scheuen oftmals davor zurück, eigene Soldat*innen in entfernte Konfliktregionen zu entsenden. Grund dafür ist die öffentliche Meinung, die sich schnell gegen solche Einsätze wendet, sobald die eigenen Soldat*innen Opfer von Kämpfen vor Ort werden – dies dokumentieren wissenschaftliche Untersuchungen (Geis et al. 2013). Als Ausweg aus dem Dilemma hat sich die sogenannte »Ertüchtigungspolitik« für fragile Staaten entwickelt: Militär und Polizei werden ausgebildet und mit Waffen ausgestattet. In Deutschland entbrannte darum eine Debatte in Folge der »Merkel-Doktrin« ab 2011, in der es auch darum ging, zu begründen, dass Rüstungsexporte künftig Teil des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentenkastens werden sollten (Bundesregierung 2012).

Vom »Paradigmenwechsel« sprachen viele dann aber, als Deutschland sich 2014 entschloss, Waffen- und Ausstattungshilfe aus den Beständen der Bundeswehr zu leisten, um damit die kurdischen Peschmerga im Nordirak zu unterstützen. Hartnäckig hält sich bis heute das Narrativ, dass diese Entscheidung in einer Notlage gefällt wurde, damit die Peschmerga die von den Milizen des »Islamischen Staates« (IS) im Sindschar-Gebirge eingekesselten Jesid*innen befreien konnten. Allerdings wurden sie letztlich von PKK-nahen Milizen befreit, noch bevor die deutschen Waffenlieferungen im Nordirak angekommen waren. Diese Waffen wurden dann im Kampf gegen den IS eingesetzt und die Bundeswehr beteiligte sich an einer Ausbildungsmission im Nordirak. Doch gab es auch Berichte über die Missachtung internationaler Menschenrechtsstandards durch die Peschmerga und die kurdische Regionalregierung, so etwa die Vertreibung der arabischstämmigen Bevölkerung aus eroberten Gebieten. 2017 geriet die Mission endgültig in die Kritik, als die kurdische Regionalregierung nach einer Volksabstimmung die Autonomie gegenüber der irakischen Regionalregierung verkündete und sich beim Vormarsch auf die ölreiche Stadt Kirkuk in gewaltsamer Konfrontation mit irakischen Truppen vorfand.

Neben diesem Beispiel gibt es zahlreiche andere Fälle, die zeigen, dass eine Ertüchtigung von Polizei und Armee sowie Ausstattungshilfe und Waffenexporte nicht zur Stabilisierung von fragilen Staaten beiträgt und vielmehr Konflikte gewaltsam eskalieren lassen kann. Dies unterstreichen auch die zahlreichen Putsche und Militärregierungen in Mali oder Niger, in denen verschiedene Missionen ebenfalls Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe geleistet hatten (vgl. Eckert 2020). Auch die neuere quantitative Kriegsursachenforschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen im Hinblick auf den Zusammenhang von Aufrüstung und Kriegswahrscheinlichkeit. Studien zu Bürgerkriegen belegen, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Konflikteskalation durch konventionelle Rüstungsimporte deutlich erhöht (vgl. Pamp et al. 2018). Rüstungstransfers an nicht-staatliche Akteure erhöhen die Gefahr des gewaltsamen Konfliktaustrages und lassen die Konflikte auch im Hinblick auf Opferzahlen tödlicher werden. Schließlich führen Waffenimporte an Regierungen dazu, dass die Konflikte länger anhalten. Waffen sind das „gewaltspezifische Kapitel“, das notwendig ist, damit bewaffnete Rebellionen überhaupt stattfinden können (vgl. Collier und Hoeffler 2004).

Rüstungsexporte und Bündnisfähigkeit

Die Notwendigkeit von Rüstungsexporten – auch an Drittstaaten – wird häufig auch mit der Erwartungsverlässlichkeit vonseiten der Bündnis- und Kooperationspartner begründet. Übergeordnetes Ziel ist dabei, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit den Bündnispartnern – NATO oder EU – zu gestalten. Rüstungskooperationen haben in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und werden weiter ausgebaut. So betonten die von der Ampel-Koalition 2022 vorgelegten Eckpunkte für das künftige Rüstungsexportkontrollgesetz die Notwendigkeit einer verstärkten Rüstungskooperation innerhalb der EU-Partnerstaaten. Die gemeinsame Beschaffung soll durch das neue Programm EDIRPA realisiert werden. Ziel ist es, neue Rüstungssysteme gemeinsam herzustellen, was durchaus sinnvoll sein kann, um beispielsweise auch Kosten zu sparen (vgl. Europäisches Parlament 2023).

Was das aber auch bedeuten kann, wenn einzelne Staaten nur Teile oder Komponenten zuliefern, zeigt die de-minimis-Regel zwischen Deutschland und Frankreich, die 2019 als Teil der Aachener Verträge verhandelt wurde. Danach kann Deutschland als Komponentenzulieferer bei einem Anteil von bis zu 20 Prozent am jeweiligen Rüstungsgut so gut wie keine Einwände gegen das Exportvorhaben erheben (vgl. GKKE 2019). Tatsächlich sind auf diese Weise selbst während des deutschen Exportmoratoriums nach der Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi Rüstungsexporte durch Sammelausfuhrgenehmigungen und Re-Exportgenehmigungen über Frankreich nach Saudi-Arabien gelangt (vgl. GKKE 2022), obwohl das Land sich zu diesem Zeitpunkt im Krieg gegen die Houthi-Milizen im Jemen befand (vgl. Disclose 2021). An diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass die EU-Staaten die Regeln zum Umgang mit Rüstungsexporten, wie den internationalen Waffenhandelsvertrag ATT oder den »Gemeinsamen Standpunkt« von 2008, sehr unterschiedlich auslegen. Für europäische Rüstungskooperationen braucht es klare Governancestrukturen, die sich an den vorhandenen Instrumenten der Rüstungsexportkontrolle orientieren und diese auch einheitlich umsetzen.

Hin zu einer restriktiven Exportpolitik

Rüstungsexporte zeichnet die Ambivalenz aus, in der staatlichen Logik für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols notwendig zu sein, gleichzeitig aber eben auch Konflikte gewaltsam eskalieren zu lassen, als Instrumente zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung missbraucht zu werden und Rüstungsspiralen zwischen Staaten oder in Regionen in Gang zu setzen. Die »Zeitenwende« in Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verleiht den Befürworter*innen einer Sicherheitspolitik, in der Rüstungsexporte zum Teil des strategischen Instrumentenkastens werden, neuen Aufwind. Ein solcher Trend lässt sich schon seit längerem auch auf Ebene der Europäischen Union und hier konkret an verstärkten Initiativen gemeinsamer Rüstungskooperationen feststellen. Leider klafft zwischen dem Trend verstärkter Verteidigungskooperation und einer institutionalisierten und vor allem auch tatsächlich implementierten europäischen Rüstungsexportpolitik eine gewaltige Lücke.

Rüstungsexporte sollten prinzipiell begründungspflichtig sein und es sollte von den Verantwortlichen der Nachweis erbracht werden müssen, dass sie in ihren Entscheidungen im Sinne einer restriktiven Rüstungsexportpolitik zuallererst den Erfordernissen von Frieden, menschlicher Sicherheit, der Wahrung der Menschenrechte und der Aufrechterhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung nachkommen. Statt sich einer sicherheitspolitischen Logik zu verschreiben, die allein auf staatliche Sicherheitsinteressen und auf das Recht zur Selbstverteidigung setzt, sollte die deutsche Rüstungsexportpolitik den Blick vor allem auch auf menschliche Sicherheit und auf ein friedenspolitisches Primat richten, das auch im Grundgesetz verankert ist.

Simone Wisotzki ist Projektleiterin am Leibniz-Institut Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) und arbeitet dort zu Fragen der humanitären Rüstungskontrolle, der Rüstungsexportkontrolle und der geschlechtersensiblen Friedens- und Konfliktforschung.

Todbringende Kleinwaffen

Auswirkungen von Exporten aus Deutschland

von Jürgen Grässlin

Zu den Kleinwaffen zählen Handgranaten, Landminen, Faustfeuerwaffen (wie Pistolen und Revolver), Maschinenpistolen und allen voran Sturm-, Maschinen- und Scharfschützengewehre. Sie können von einem Menschen getragen und eingesetzt werden. Leichte Waffen umfassen u.a. schwere Maschinengewehre, tragbare Raketenwerfer, Granatwerfer, Panzerabwehrkanonen und Mörser bis zu einem Kaliber von 100mm. Um sie zu tragen und zu bedienen, müssen zwei Menschen, ein Packtier oder Fahrzeug verwendet werden. Mit Ausnahme von Granaten benötigen Klein- und Leichtwaffen (Small Arms and Light Weapons, SALW) Munition (bpb o.J.).

Kleinwaffenopfer und Kleinwaffenbesitz

Anders als gemeinhin angenommen, sterben die allermeisten Menschen in Kriegen und Bürgerkriegen nicht durch den Beschuss mit Granaten, Bomben oder anderen Geschossen, abgefeuert von Kampfpanzern, Militärhelikoptern, Kampfjets oder Kriegsschiffen. Vielmehr sind die Opferzahlen beim Beschuss mit Klein- und Leichtwaffen mit Abstand am höchsten. Sie sind die Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts. Bei ihren Recherchen kamen 2006 das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, und das Internationale Forschungszentrum für Rüstungskonversion, BICC, zu dem Ergebnis, dass in jedem Jahr bis zu 500.000 Menschen ihr Leben durch den Einsatz von SALW verlieren (Tagesspiegel 2006).

Laut Studien des Genfer Forschungsinstituts »Small Arms Survey« (SAS), das sich auf die Analyse der Produktion, des Exports und des Einsatzes von Kleinwaffen spezialisiert hat, wuchs die Zahl von Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit von 650 Mio. im Jahr 2006 auf 857 Mio. im Jahr 2017 an.

SAS schätzt, dass sich rund 85% dieser Kleinwaffen im zivilen Besitz befinden. Hinzu kommen 133 Mio. (13%) im militärischen und 23 Mio. (2%) im behördlichen Gebrauch bei Polizei und Sicherheitskräften. Es sind demnach aktuell mehr als eine Milliarde Feuerwaffen rund um den Globus im Umlauf (SAS 2020).2

Der größte Anteil ziviler Abnehmer*innen ist in den Vereinigten Staaten von Amerika mit 393 Mio. Kleinwaffen zu verzeichnen. Obwohl die USA lediglich einen Anteil von vier Prozent der Erdbevölkerung ausmachen, finden sich dort rund 40% aller Feuerwaffen (SAS 2018).

Die Staaten mit dem größten militärischen Feuerwaffenpotential sind Russland (mit 30,3 Mio. Stück), China (27,5 Mio.), Nordkorea (8,4 Mio.), die Ukraine (6,6 Mio.) und die USA (4,5 Mio.). Diese umfassen die Kategorien der modernen selbstladenden Gewehre (72%), Pistolen (13%), Maschinengewehre (6%) und andere (9%) (Karp 2018, S. 3f., S. 8).

Abb. 16: Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit

… und seine dramatischen Folgen

Diese unglaubliche Hochrüstung im zivilen, militärischen und behördlichen Bereich zeitigt weltweit dramatische Folgen, wie das aktuelle Update des SAS in der Datenbank »Global Violent Deaths« (GVD) dokumentiert. Allein 2020 starben laut GVD 531.000 Menschen durch Feuerwaffen, davon 88.000 Mädchen und Frauen. Im Jahr 2020 galt der Krieg in Afghanistan noch als der tödlichste Konflikt, in dem für diesen Zeitraum 31.000 Menschen ihr Leben durch Kleinwaffen verloren. Allein auf dem afrikanischen Kontinent starben 2020 rund 35.000 Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen, u.a. im Kongo, in Äthiopien und Nigeria sowie in der Sahelzone (Hideg und Boo 2022).

Abb. 17: Verteilung des Besitzes von Schusswaffen (insgesamt mehr als 1 Mrd.)

Der Fluch der Gewehre

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Kalaschnikow in ihren verschiedenen Versionen mit rund 70 bis 120 Millionen Exemplaren unangefochten an der Spitze im Ranking der meistproduzierten, -exportierten und -eingesetzten Gewehre. Bis heute waren und sind die in Russland entwickelten und in mehr als zehn Lizenzstätten nachgebauten Sturmgewehre die Nummer 1 auf dem Weltmarkt der Kleinwaffen (Control Arms Campaign 2006).

Mit deutlichem Abstand folgte die Heckler & Koch-»Waffenfamilie«, so die H&K-interne Bezeichnung, mit – gleichsam geschätzt – 10 bis 15 Millionen G3-Schnellfeuergewehren. Damit rangierte das im schwäbischen Oberndorf entwickelte G3-Gewehr lange Jahre auf Platz 2 im globalen Ranking. Nicht wesentlich geringer war die Verbreitung der Uzi der Israel Weapons Industries Ltd. (IWI), der M16 der Colt Defence LLC aus den USA und die FN-Gewehre der belgischen FN Herstal SA. Vielfach wurden und werden diese Gewehrtypen in europäischen, asiatischen oder amerikanischen Lizenzstätten nachgebaut (Grässlin 2014, S. 106ff.).

Die Genehmigungspraxis von Kleinwaffenexporten aus Deutschland

Besonders dramatisch hatten sich die 15 Lizenzvergaben für das G3-Gewehr an Staaten wie die Türkei, Pakistan, Mexiko oder Saudi-Arabien in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts durch die jeweiligen Bundesregierungen ausgewirkt. Nach zurückhaltenden Schätzungen des Autors verloren mehr als zwei Millionen Menschen ihr Leben durch den Einsatz der G3-Schnellfeuergewehre, weitaus mehr wurden verstümmelt und verkrüppelt. Berechnet auf die vergangenen Jahrzehnte starben somit durchschnittlich 114 Menschen am Tag durch ein G3-Gewehr (Grässlin 2013, S. 408ff.).

Die zahlreichen Kampagnen der Friedensbewegung, wie die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, zeitigen mittlerweile jedoch Wirkung (→ vgl. von Gall). Um 2007 vergab die Bundesregierung die letzte Lizenz zum Nachbau von Kleinwaffen, die für das H&K-Sturmgewehr G36 an Saudi-Arabien. In den Jahren danach errichteten H&K-Ingenieure allerdings eine komplette Produktionsanlage nahe Riad (Grässlin 2013, S. 491f.).

Seither aber hat sich bei den wechselnden Bundesregierungen die Erkenntnis durchgesetzt, welch katastrophale Folgen Kleinwaffenexporte und Lizenzvergaben, allen voran in Krisen- und Kriegsgebiete bewirken. Durch die 2015 verabschiedeten »Grundsätze der Bundesregierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung in Drittländer«, kurz Kleinwaffengrundsätze, soll aus Regierungssicht „das Risiko (…) der unkontrollierten Weiterverbreitung von Kleinwaffen noch weiter gesenkt werden“ (BMWK o.J.).

Im gleichen Jahr beschloss die Große Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) eine Pilotphase für »Post-Shipment-Kontrollen«, die inzwischen verbindlich festgeschrieben sind. Seither können deutsche Behörden nach der Ausfuhr von Rüstungsgütern im jeweiligen Empfängerland Vor-Ort-Kontrollen des Endverbleibs durchführen. Allerdings fanden seit 2017 lediglich neun solcher Überprüfungen statt, und zwar in Indien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Südkorea, Indonesien, Malaysia, Brasilien, Jordanien, Trinidad und Tobago sowie im Oman. Laut den deutschen Kontrollbehörden verliefen diese beanstandungsfrei.

Mit der »Schärfung« der »Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport« sollte im Sommer 2019 eine strengere Genehmigungspraxis für die Ausfuhr von Kriegswaffen in Drittländer (außerhalb der EU, NATO und NATO-assoziierten Staaten) erzielt werden. Nunmehr darf der Transfer von Kleinwaffen in Drittländer „grundsätzlich nicht mehr genehmigt werden“ (Bundesregierung 2019, S. 6). Das Problem Nr. 1: Politische Grundsätze sind Absichtserklärungen ohne jegliche rechtliche Verbindlichkeit. Problem Nr. 2: Auch Exporte an NATO-Staaten sind je nach Einsatz der Waffen ausgesprochen bedenklich, wie die massenhafte Verwendung dieser Waffen in Einsätzen weltweit belegt.

Die Ampelkoalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP setzte sich seit November 2021 zur Aufgabe, die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung „durch eine sorgfältige Einzelfallprüfung“ weiterzuentwickeln. Eine zahlenbasierte Pauschalbetrachtung allein auf Basis der Genehmigungswerte eines Berichtszeitraumes sei „kein tauglicher Gradmesser“ bei der Beurteilung der Frage der Restriktivität. Zukünftig bedürfe es „einer einzelfallorientierten Beurteilung von Genehmigungsentscheidungen“ (Bundesregierung 2022a, S. 8) – bezogen auf die Art des Rüstungsgutes, das jeweilige Empfängerland und den vorgesehenen Verwendungszweck der Güter.

Das Ergebnis dieser Neuorientierung ließ sich gleich im Rüstungsexportbericht 2022, dem ersten Gesamtjahr der Ampelkoalition, ablesen. Dementsprechend wurde der Gesamtwert der Genehmigungen für Kleinwaffen und Kleinwaffenteile im Jahr 2021 auf 43,9 Mio. € leicht gesteigert gegenüber den 37,6 Mio. € 2020. Rund 99% des Genehmigungswertes entfielen auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder, lediglich etwa 1% auf Drittländer. Bei den Leichtwaffen und Leichtwaffenteilen lag dieser Anteil allerdings noch bei 7% des Genehmigungswertes (Bundesregierung 2022a, S. 8, S. 10).

Was bei der Erfassung des Gesamtwertes noch halbwegs verträglich klingt, hat einen beträchtlichen Haken, auf den die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) in ihrem Jahresbericht 2022 nachdrücklich hinweist: Erwähnt werden müsse, „dass die von der Bundesregierung angegebenen Werte für die Genehmigung der Ausfuhren von Kleinwaffen weder Gewehre ohne Kriegswaffenlisten (KWL)-Nummer, noch Revolver und Pistolen sowie Jagd- und Sportwaffen einschließen“ (GKKE 2022, S. 52). Die GKKE betrachtet dementsprechend den Genehmigungswert für den Gesamtbereich der Ausfuhrliste für Handfeuerwaffen. Dieser liegt für das Jahr 2021 realiter bei immens hohen 234,14 Mio. € gegenüber 170,62 Mio. € noch im Jahr 2020. Mit erfasst in diesem Wert ist auch das entsprechende Zubehör, beispielsweise Schalldämpfer oder Zielfernrohre. Im Rüstungsexportbericht 2021 sind erstmals auch Genehmigungszahlen zu Leichtwaffen veröffentlicht. So sind 2021 Leichtwaffen in Höhe von 15,58 Mio. € (2020: 37,94 Mio. €) genehmigt worden.

Hilfreich bei der Analyse der tatsächlich erfolgten Exporte von Klein- und Leichtwaffen ist der Blick in die Information der Bundesregierung an das Waffenregister der Vereinten Nationen. Demnach wurden Kleinwaffen bzw. deren Bestandteile in eine Reihe von Drittländern exportiert. Unter anderem wurde in den Kosovo (Sturmgewehre und Leichte Maschinengewehre) und nach Jordanien (Maschinenpistolen und leichte Maschinengewehre) exportiert. Leichtwaffen erhielten Singapur (rückstoßfreie Gewehre), der Kosovo (in Handfeuerwaffen integrierte oder einzeln aufgebaute Granatwerfer) und Israel (tragbare Abschussgeräte für Panzerabwehrraketen und Raketensysteme) (GKKE 2022, S. 52ff.).

Definitionen sind von entscheidender Bedeutung

Entscheidend bei der Erfassung und Transparenz der Rüstungsexportgenehmigungen sind die jeweils zugrunde gelegten Definitionen. Hier besteht zum einen das Problem der Unterscheidung zwischen Kriegswaffen und Rüstungsgütern. Zwar ist die mittlerweile geänderte Berichtspraxis der Bundesregierung über Rüstungsexporte grundsätzlich transparenter.3 Es bleibt aber unerklärlich, weshalb sich die Bundesregierung im Rahmen der nationalstaatlichen Auskunfts- und Berichtspflicht nicht an ihren eigenen Berichten an das United Nations Office for Disarmament Affairs (UNODA) orientiert. Die Folge: Es gibt bisweilen große Abweichungen in den Berichten. Mit einer einfachen Anpassung der zugrunde gelegten Definitionen könnte die Bundesregierung die Dopplung der bestehenden Berichte einsparen. Leider scheint es jedoch keinen entsprechenden Willen in der Regierungspolitik zu geben, die unterschiedlichen Definitionen von Kriegswaffen und Rüstungsgütern anzugleichen.

Zum anderen folgt daraus, dass ohne eine Übernahme der Definition der Vereinten Nationen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter auch in Zukunft Sturmgewehre als Rüstungsgüter der Kriegswaffenkontrolle und den entsprechenden Nationalen Berichten unterliegen, während eine Faustfeuerwaffe (Pistolen und Revolver) als sonstiges Rüstungsgut lediglich in den Exportberichten der UNROCA-Datenbank der UNODA aufgeführt wird (vgl. Möhrle 2021, S. 54ff.).

Abb. 18: Unterschiedliche Definitionen

Das Ergebnis dieser Rüstungsexportpraxis ist äußerst problematisch: Noch immer erfassen die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung nur einen vergleichsweise überschaubaren Bereich der Kleinwaffen. Dies ist umso seltsamer, als dass die Bundesregierung in ihrer Genehmigungspolitik Klein- und Leichtwaffen voneinander getrennt behandelt hat, obwohl diese in der geltenden OSZE-Definition stets zusammen genannt werden.

Daher fordert die GKKE die Bundesregierung dazu auf, endlich auch die Daten zu den tatsächlichen Exporten von Rüstungsgütern zu veröffentlichen. Das Fehlen einer solchen Statistik ist ein erhebliches Transparenzdefizit. Das Bundesstatistikgesetz sollte dementsprechend verändert werden. Des Weiteren fordert die GKKE, dass neben den Genehmigungswerten für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Leichtwaffen auch die Genehmigungswerte für Gewehre ohne KWL-Nummer, Revolver und Pistolen, Jagd- und Sportwaffen sowie für die entsprechende Munition gesondert angegeben werden. Problematisch ist auch das Fehlen von Angaben zu den Transfers von gelisteten Dual-Use-Gütern, deren Risikopotential für Frieden und Sicherheit nicht unterschätzt werden sollte. Sie sind nach EU-Vorgaben ebenfalls genehmigungspflichtig.

Illegale Exporte und ihre Auswirkungen – zwei Fallstudien

In den Jahren nach 2006 bzw. nach 2009 machten die bis dato führenden deutschen Kleinwaffenproduzenten H&K und SIG Sauer durch widerrechtliche Waffengeschäfte auf sich aufmerksam. Die beiden Exportskandale, die jeweils 2021 mit der Verurteilung durch den Bundesgerichtshof ihr Ende fanden, seien hier kurz skizziert.4

Fall 1: Illegale Gewehrexporte von Heckler & Koch in Mexiko

Abb. 19: Route Mexiko (Fall H&K)

Eigene Darstellung in Anlehnung an Rosa-Luxemburg-Stiftung

Auf der Basis vertraulicher Informationen eines Whistleblowers aus dem Unternehmen Heckler & Koch erstattete der Autor für das RüstungsInformationsBüro über seinen Rechtsanwalt Holger Rothbauer im Jahr 2010 Strafanzeige. Dank der umfassenden Insiderinformationen konnte belegt werden, dass 4.702 H&K-Sturmgewehre des Typs G36 von 2006 bis 2009 widerrechtlich – d.h. unter Missachtung unterzeichneter Endverbleibserklärungen (EVE) – von Mexiko-City in vier Unruheprovinzen verbracht worden waren. Dort morden seither korrupte Sicherheitskräfte und Mitglieder der Drogenmafia mit G36. Während des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die zeitweilig auch durch das von H&K eingesetzte Wirtschafts- und Beratungsunternehmen KPMG geführt wurden, verschwanden abertausende E-Mails zum unternehmensinternen Infoaustausch zwischen den H&K-Verantwortlichen in Mexiko und der H&K-Führungsebene in Oberndorf. Im Februar 2019 sprach das Landgericht Stuttgart daraufhin zwei angeschuldigte H&K-Geschäftsführer frei. Verurteilt wurden dagegen zwei vormalige Beschäftige zu Haftstrafen auf Bewährung und das Unternehmen zu einer Geldstrafe in Höhe von 3,7 Mio. €. Erstmals in der mehr als 70-jährigen Firmengeschichte konnte dem Unternehmen illegaler Waffenhandel nachgewiesen werden. Der Bundesgerichtshof bestätigte im März 2021 das Stuttgarter Urteil in entscheidenden Punkten.

Gemäß Grundgesetz Artikel 26 (2) verantwortet die Bundesregierung die Rüstungsexportpolitik. Die G36-Exportgenehmigungen nach Mexiko waren ein Testfall für eine völlig neue Form des Waffenhandels mit Regierungsgenehmigung. Das Experiment der von Angela Merkel (CDU) und Franz Müntefering bzw. ab November 2007 von Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) geführten Bundesregierung sah Folgendes vor: Wie auch in Indien wurde erstmals getestet, ob ein für die Waffenlieferung verbotenes Land wie Mexiko doch partiell mit Kriegswaffen ausgerüstet werden kann. Die Endverbleibserklärungen, die der Empfänger unterzeichnen muss, sollten den Verbleib der H&K-Waffen in vermeintlich ruhigen Provinzen gewährleisten. Doch das Ergebnis war todbringend: Unzählige Menschen wurden nach der illegalen Weiterlieferung der mehr als viertausend G36-Gewehre in die vier für Lieferungen verbotenen Unruheprovinzen Chiapas, Guerrero, Jalisco und Chihuahua erschossen.

Fall 2: Illegale Pistolenexporte von SIG Sauer nach Kolumbien

Abb. 20: Route Kolumbien (Fall SIG Sauer)

Eigene Darstellung

Der in Eckernförde ansässige Kleinwaffenhersteller SIG Sauer exportierte von April 2009 bis April 2011 zehntausende Pistolen des Typs SP 2022 von Deutschland über die USA ins Bürgerkriegsland Kolumbien. SIG Sauer hatte bei den Rüstungsexport-Kontrollbehörden lediglich die Lieferung in das US-Werk in New Hampshire beantragt. Ein Genehmigungsantrag für Kolumbien wäre aufgrund der dortigen Menschenrechtslage nicht gestattet worden.

Nachdem ein Whistleblower aus dem Unternehmen der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« umfassendes Beweismaterial übergeben hatte, stellten Paul Russmann und der Autor als Kampagnensprecher erneut über den Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen verantwortliche Rüstungsmanager von SIG Sauer bei der Staatsanwaltschaft.

Wenige Tage danach intensivierte die Kieler Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG). Sie erteilte ein staatliches Rüstungsexportverbot gegenüber SIG Sauer.

Gezwungenermaßen verkündete das Unternehmen mit der Verwaltungszentrale in Emsdetten im Oktober 2014, dass in Deutschland schwerpunktmäßig nur noch Sportwaffen hergestellt werden würden. Vorerst verblieben lediglich rund 50 Arbeitsplätze in Eckernförde. Zugleich verlagerte das Management die Militärproduktion endgültig ins SIG-Sauer-Werk in New Hampshire, USA.

Am 3. April 2019 verurteilte das Landgericht Kiel Michael Lüke und Robert Lackermeier von SIG Sauer Deutschland und Ron Judah Cohen, Chief Executive Officer der SIG Sauer Inc. in den USA, wegen Verstoßes gegen das AWG zu Haftstrafen – wenn auch nur zur Bewährung. Immerhin mussten die Verurteilten Geldstrafen in Höhe von bis zu 600.000 € entrichten. Dieses Geld kam auch Menschenrechtsorganisationen zugute, die in Kolumbien Hilfsprojekte durchführen.

Von der Firmengruppe SIG Sauer Beteiligungs GmbH sollten mit dem Kieler Urteil 11,1 Mio. € eingezogen werden, was dem Gesamtumsatz des Waffendeals mit Kolumbien entsprach. Grundlage dieses Urteils war ein Rechtsparagraph, der sich hauptsächlich gegen die organisierte Kriminalität richtete. Dagegen legte SIG Sauer Revision ein. Mit Urteil vom 1. Juli 2021 bestätigte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe jedoch das Kieler Urteil weitgehend.

Die Folgen dieses widerrechtlichen Waffendeals sind bis heute todbringend: Im Empfängerland schießt die kolumbianische Nationalpolizei, die »Policia National«, mit SIG-Sauer-Pistolen. Erfahrungsgemäß zirkulieren die SP 2022 als Beutewaffen auch bei anderen Konfliktparteien. Unbekannt ist die – zweifelsohne hohe – Anzahl der bislang durch die Pistolen aus Deutschland verletzten und getöteten Menschen.

Durch Vor-Ort-Recherchen konnte das Kinderhilfswerk terre des hommes (tdh) belegen, dass SIG-Sauer-Waffen in Kolumbien immensen Schaden anrichten. Die Pistolen werden von Drogenbanden, Paramilitärs und Guerillagruppen bei Verbrechen eingesetzt und Kindersoldat*innen aufgezwungen. Auch kriminelle Polizist*innen und Militärs haben sie bei Straftaten und schweren Menschenrechtsverletzungen benutzt, berichtete Ralf Willinger von tdh.5

SIG Sauer zog Konsequenzen – wenn auch die falschen. Mit der fortgeführten und letztlich vollständig umgesetzten Auslandsverlagerung der Produktion ins US-Werk in New Hampshire entzieht sich der vormals zweitgrößte deutsche Kleinwaffenhersteller dem Zugriff der Kontrollbehörden hierzulande. Allerdings verblieb der zentrale SIG-Sauer-Firmensitz, die L&O-Holding, weiterhin in Emsdetten. Somit kommen die in den USA erwirtschafteten Gewinne der Firmenholding im Münsterland zugute (→ vgl. Bussenius und Schiewe).

Legale Exporte – dennoch tödlich: Kleinwaffenexporte an die Ukraine

Doch keineswegs sind nur illegale Rüstungsexporte mit Sorge zu betrachten. Bezogen auf die Ankündigung restriktiver Exportpolitik, gab der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für das erste Halbjahr 2022 wenig Anlass zur Entwarnung. So wurde der Genehmigungswert für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Kleinwaffenteilen von Januar bis Juni von rund 22,45 Mio. € (2021) auf 71,5 Mio. € (2022) mehr als verdreifacht. Noch drastischer war das Exportvolumen im Bereich der Lieferung von Leichtwaffen und deren Waffenteile. Vom Gesamtwert von rund 154 Mio. € betraf lediglich ein Anteil von rund 20 Mio. € EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Staaten. Dagegen gingen Leichtwaffen im Umfang von etwa 134 Mio. € in die Ukraine als einziges Drittland.

Noch exorbitanter wurde der Anteil der Munitionstransfers für Kleinwaffen im ersten Halbjahr 2022 in die Ukraine gesteigert. Hatte der Drittlandanteil 2021 noch bei knapp 264.000 € gelegen, so wurde von Januar bis Juni 2022 mit 11,9 Mio. € mehr als das Einundvierzigfache an Munitionsausfuhren genehmigt. Davon lag der Ukraine-Anteil bei Munition und deren Teile für Kleinwaffen bei knapp 11,8 Mio. €. Hinzu kamen weitere 9,6 Mio. € für die Genehmigung des Exports von Munition von Panzerabwehrwaffen an die Ukraine (Bundesregierung 2022b, S. 5, Anlagen 4, 6 und 9).

Insgesamt hat die Bundesregierung der Ukraine seit Kriegsbeginn im Februar 2022 Waffen im Volumen von rund 18 Mrd. € geliefert bzw. zugesagt. Im Übrigen verlangt sie dafür keine Bezahlung. Diese militärischen Unterstützungsleistungen sind „nicht rückerstattungspflichtig“, so die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen für Die Linke (taz 2023).

Auch wenn der Wert der SALW-Exporte vergleichsweise gering klingt, ist deren Wirkung immens. Tagtäglich sterben russische Soldaten durch Kugeln aus dem Lauf der aus Deutschland gelieferten Klein- und Leichtwaffen. Krieg ist bekanntlich gut fürs Geschäft der Rüstungsindustrie, national wie auch international. Die Perspektive des Krieges in der Ukraine ist eine ungute. In den – nach der völkerrechtswidrigen Intervention Russlands – seit eineinhalb Jahren tobenden Abnutzungsschlachten ist derzeit kein Ende absehbar. Bezogen auf den Einsatz aller Waffensysteme musste im August 2023 bilanziert werden: Nahezu 500.000 Menschen verloren im Ukraine-Russland-Krieg bislang ihr Leben oder wurden verwundet, wie die New York Times auf der Grundlage US-offizieller Aussagen meldete (Cooper et al. 2023).

Droht ein Rüstungsexportförderungsgesetz?

Die Bundesregierung plant in dieser Legislaturperiode ein »Rüstungsexportkontrollgesetz« zu verabschieden, das im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP festgeschrieben wurde. Bereits im Oktober 2022 legte das von der Partei Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundeswirtschaftsministerium Eckpunkte für das neue Kontrollgesetz vor, die weit hinter den vormals geweckten Erwartungen zurückblieben und die von uns in der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« dementsprechend scharf kritisiert wurden. Aus NGO-Kreisen wurden 30 differenzierte Änderungs- und Ergänzungsvorschläge unterbreitet. Dabei forderte die Kampagne »Aufschrei« eine real und nicht nur verbal praktizierte restriktive Rüstungsexportpolitik. Im Bereich der Kleinwaffen forderte sie weitgehende Verbote von Exporten und Lizenzvergaben, um die Beihilfe zum Morden mit deutschen Waffen in Krisen- und Kriegsgebieten zu stoppen.

Nach dem monatelangen intensiven Meinungsaustausch sollte die Vorlage für das spätere Rüstungsexportkontrollgesetz in den mitverantwortlichen Ministerien und in den Gremien der drei Ampelparteien beraten werden. Der Entscheidungsprozess zog sich unerwartet in die Länge. Währenddessen teilte das Wirtschaftsministerium zusammen mit dem ihm untergeordneten Bundesausfuhramt (BAFA) – wohlgemerkt ohne jegliche Rücksprache mit den vormals intensiv angehörten Expert*innen der Friedensbewegung und Friedensforschung – neue Allgemeingenehmigungen (AGG) zum Export von Rüstungsgütern mit (→ siehe Brzoska).

Aktion Aufschrei kritisierte die Gesetzesänderung in Wort und Tat vehement. Sie zeige „ganz deutlich, dass auch diese Bundesregierung wirtschaftliche Interessen vor Exportkontrolle, Transparenz und vor allem menschliche Sicherheit stellt“ (Aktion Aufschrei 2023). Das neue Rüstungsexportkontrollgesetz mit seinem ursprünglichen zentralen Transparenz- und Kontrollansatz droht zu einem Rüstungsexportförderungsgesetz zu verkommen. Das so dringend notwendige Verbandsklagerecht wird verweigert, desgleichen Exportverbote im Kleinwaffenbereich – trotz der immens hohen Opferzahlen.

Anmerkungen

2) Die reale Zahl ist laut SAS vermutlich noch höher. Denn von den mehr als hundert Regierungen, die dem SAS Daten liefern sollten, legten
lediglich acht ihre Informationen zum jeweiligen Kleinwaffenarsenal umfassend offen. SAS publiziert die aufwändig zu ermittelnden Daten der
Kleinwaffenanalysen in der Regel mehrere Jahre rückwirkend, in diesem Fall bezogen auf das Jahr 2017.

3) Nachdem sich die Bundesregierung bezüglich ihrer Genehmigungspraxis lange hinter dem Privileg des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung
versteckt hatte, konnten wir seitens des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) und unserer Partnerorganisationen gemeinsam mit den damaligen
Bundestagsabgordneten Jan van Aken und Hans-Christian Ströbele im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht das Informationsrecht
des Parlamentes und der Öffentlichkeit stärken. Siehe hierzu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 2014 (Az. 2 BvE 5/11).

4) Auch wenn die heutigen Fortschritte noch lange nicht ausreichend sind, so haben die Strafanzeigen gegen H&K und SIG Sauer doch viel Positives
bewirkt. Umfassende Falldarstellungen finden sich auf der Website des »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT)« (www.gn-stat.org).

5) CASE 07 des GN-STAT liefert Analysen, Antworten und Forderungen zur Problematik »Kindersoldat*innen und Waffenhandel«, vor allem dem
Handel mit Kleinwaffen. Ehemalige Kindersoldat*innen aus vielen Ländern kommen zu Wort, mit denen der Autor Ralf Willinger von terre des
hommes gesprochen hat. Er setzt sich für ein Ende der Rekrutierung von Kindersoldat*innen und den Stopp von Waffenexporten ein, siehe
https://gn-stat.org/?p=3204.

Jürgen Grässlin ist Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Aktivist der Kritischen Aktionär*innen Daimler und Heckler & Koch sowie Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) mit dem »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE« (GN-STAT). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller.

3) KONTROLLE: Herausforderungen, Verantwortlichkeiten, Reformbedarf

Status Quo der Rüstungsexportkontrolle

Etablierte Mechanismen und ihre Optimierbarkeit

von Markus Bayer und Max Mutschler

Deutschland zählt zu den führenden Rüstungsexporteuren weltweit. Nach den jüngsten Erhebungen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) liegt Deutschland für den Zeitraum von 2018 bis 2022 mit einem Anteil von 4,2% auf Platz fünf der Liste der weltweit führenden Waffenexporteure, hinter den USA, Russland, Frankreich und China (Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Genehmigung von Rüstungsexporten obliegt dabei allein der Bundesregierung. Im Jahr 2021 erteilte sie 11.197 Einzelausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter mit einem Rekordwert von 9,35 Mrd. € (der Durchschnittswert für die zehn Jahre 2012-2021 liegt bei 6,35 Mrd. €).6 Zu diesen addieren sich 2021 zusätzlich Sammelausfuhrgenehmigungen im Wert von über vier Milliarden Euro. Letztere sind Genehmigungen, die meist im Rahmen von Rüstungskooperationen mit anderen Ländern erteilt werden und bei denen die betreffenden Rüstungsgüter häufiger ein- und ausgeführt werden.

Abb. 21:Deutscher Anteil an Rüstungsexporten im internationalen Vergleich 2022

(Quelle: SIPRI 2023)

Regelwerke, Akteure und Verfahren

Das gegenwärtige System zur Rüstungsexportkontrolle in Deutschland basiert auf einer Reihe unterschiedlicher Regelwerke. Manche davon sind rechtsverbindlich, wie etwa das Kriegswaffenkontroll- oder auch das Außenwirtschaftsgesetz; andere hingegen entfalten nur eine politische Verbindlichkeit, wie etwa die »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport« (→ vgl. Kolling, Grässlin). Hinzu kommen internationale Regelwerke, wie der »Gemeinsame Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten« und der Internationale Waffenhandelsvertrag (→ vgl. Wisotzki). Diese Regularien geben verschiedene Kriterien für die deutsche Rüstungsexportkontrolle vor. So schreiben sowohl der Waffenhandelsvertrag als auch der Gemeinsame Standpunkt vor, dass bestehende Sanktionen beim Export von Waffen zu befolgen und die Beachtung der Menschenrechtssituation im Empfängerland sicherzustellen ist. Der Gemeinsame Standpunkt verpflichtet Deutschland zudem, dafür Sorge zu tragen, dass Rüstungsexporte Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region und Alliierte nicht gefährden und dass die Entwicklung des Empfängerlandes nicht negativ durch unangemessene Militärausgaben beeinflusst wird. Hierzu muss die Bundesregierung eine Risikoeinschätzung vornehmen. Sie muss etwa prüfen, ob ein »eindeutiges Risiko« besteht, dass das betreffende Rüstungsgut im Empfängerland zur internen Repression eingesetzt wird. Objektive Indikatoren für derartige Risikoabschätzungen sind nicht vorgegeben. Letztendlich obliegt es einzig und allein der Bundesregierung und der zuständigen Verwaltungsbürokratie, diese Kriterien im Hinblick auf konkrete Rüstungsgüter für das entsprechende Empfängerland zu prüfen und auf Grundlage dieser Prüfung über den Export oder die Lieferung von Rüstungsgütern zu entscheiden. Die Bundesregierung hat deshalb hier einen sehr großen Entscheidungsspielraum.

Je nach Typ des zum Export beantragten Gutes unterscheidet sich der Entscheidungs- bzw. Bewilligungsprozess: Handelt es sich bei den betreffenden Rüstungsgütern um Kriegswaffen, also zum Beispiel Panzer oder Maschinengewehre, und handelt es sich beim Empfängerland um ein Mitgliedsland der NATO bzw. der EU, entscheidet das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) überwiegend selbstständig und beantwortet auch ggf. gestellte Voranfragen. Handelt es sich um ein Empfängerland außerhalb der NATO bzw. der EU, ist das Auswärtige Amt (AA) für die Beantwortung von Voranfragen zuständig. Die Exportentscheidung fällt dann zumeist in Abstimmung zwischen AA, dem BMWK und dem Verteidigungsministerium (BMVg). Über besonders bedeutsame oder umstrittene Rüstungsexporte entscheidet der Bundessicherheitsrat (BSR) (→ siehe Infokasten, S. 8): ein geheim tagender Kabinettsausschuss unter Vorsitz des Bundeskanzlers mit Beteiligung der Ressorts Bundeskanzleramt, Auswärtiges, Verteidigung, Finanzen, Inneres, Justiz, Wirtschaft und Klimaschutz sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Bei sonstigen Rüstungsgütern, also etwa bei Panzermotoren oder Helmen, ist das dem BMWK unterstellte Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) die zuständige Genehmigungsbehörde. Auch hier können kritische Fälle an das federführende Ministerium – also das BMWK – oder den Bundessicherheitsrat zur Entscheidung weitergeleitet werden.

Abb. 22: Schematische Darstellung Rüstungsexportentscheidung

Zentrale Probleme: Mangelnde Kontrolle und Intransparenz

Wie aus der obenstehenden Beschreibung der Genehmigungsverfahren hervorgeht, ist die Bundesregierung bei Rüstungsexporten weder einer politischen Kontrolle durch das Parlament noch einer gerichtlichen Kontrolle ihrer Entscheidungen über Rüstungsexporte unterworfen. Immerhin unterrichtet die Bundesregierung seit 2015 den Bundestag über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrats und informiert dabei in der Regel über Art und Anzahl der genehmigten Rüstungsgüter, das Empfängerland, die beteiligten deutschen Unternehmen und das Gesamtvolumen des Geschäfts. Da der Bundessicherheitsrat jedoch nur in Ausnahmefällen über die Rüstungsexporte entscheidet, erfahren sowohl die Parlamentarier*innen als auch die Öffentlichkeit über den allergrößten Teil der deutschen Rüstungsexporte lediglich, was aus den Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen sowie aus den halbjährlich vorgelegten Rüstungsexportberichten der Bundesregierung hervorgeht. Die Informationen, die dort zur Verfügung gestellt werden, sind weniger detailliert als die Informationen der Unterrichtung des Bundestages über Genehmigungen des Bundessicherheitsrats. Aufgelistet nach Empfängerland informiert die Bundesregierung dort in der Regel lediglich über das Empfängerland (nicht jedoch über den tatsächlichen Endempfänger, also z.B. Armee, Polizei, Geheimdienst etc.), die Anzahl der Genehmigungen, deren finanzielles Gesamtvolumen sowie darüber, wie sich dieses auf die unterschiedlichen Positionen der sogenannten Ausfuhrliste aufschlüsselt. Bei Drittländern (Länder, die weder EU noch Nato angehören, noch der Nato gleichgestellt sind) erfolgen zwar noch weitere Angaben zur Art der Rüstungsgüter, etwa dass es sich bei 35% des genehmigten Volumens um Teile für gepanzerte Fahrzeuge handelt. Wie viel Stück von welchem Rüstungsgut bzw. Hersteller für wen genau genehmigt wurden, kann man den Berichten und auch den meisten Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen jedoch nicht entnehmen.

Für zivilgesellschaftliche Akteure und auch für die Opposition ist es schwierig, auf dieser mageren Informationsgrundlage eine Bewertung der Einzelfallentscheidungen der Bundesregierung vorzunehmen. Denn sie kennen den Einzelfall in der Regel nicht. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung ihre Entscheidungen in diesem Politikfeld nur in ganz besonderen Fällen überhaupt öffentlich begründet. Meist nur dann, wenn es sich um die Lieferung von Waffen aus Bundeswehrbeständen an direkte Kriegsparteien handelt, so wie jüngst bei der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine, oder zuvor im Jahr 2014 bei den Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga (→ vgl. Wisotzki). Bei den allermeisten kommerziellen Rüstungsexporten, die den Großteil der deutschen Rüstungsexporte ausmachen, werden Parlament und Öffentlichkeit weder über die betreffenden Rüstungsgüter noch über die Begründung der Bundesregierung für ihren Export informiert.

Angesichts dieser Intransparenz sowie des Mangels an politischer und richterlicher Kontrolle ist es wenig verwunderlich, dass die deutsche Rüstungsexportpolitik überwiegend von wirtschaftspolitischen Interessen geleitet wird (→ vgl. Wisotzki, Brzoska). Nach einer Analyse deutscher Exporte von konventionellen Großwaffensystemen zwischen 1992 und 2013 spielt dabei die Menschenrechtslage in den Empfängerländern nur eine untergeordnete Rolle. Statt klaren sicherheitspolitischen Interessen, sei die deutsche Rüstungsexportpolitik in diesen Jahren eher einer liberalen, marktorientierten Agenda gefolgt (Platte und Leuffen 2016). Eine Bestandsaufnahme der deutschen Rüstungsexportpolitik der letzten 30 Jahre kommt zu dem Schluss, dass Exporte in Drittländer, die eigentlich eine Ausnahme sein sollten, in manchen Jahren mit Genehmigungsquoten von rund 60% zur Regel geworden sind (Wisotzki 2020). Eine Tatsache, die auch in den jährlich erscheinenden Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) kritisiert wird. Zwar sind nicht alle Drittstaaten problematische Empfängerländer, viele hingegen schon. Nach Auswertung des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte an 52 Staaten genehmigt, deren Menschenrechtssituation als sehr schlecht eingestuft wird. In 30 Empfängerländern gab es interne Gewaltkonflikte. Insgesamt hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte mit einem Gesamtwert von 4,6 Mrd. € an 19 Länder genehmigt, die mindestens hinsichtlich vier der acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten als problematisch eingestuft werden können (siehe Abb. 23, linke Seite).

Abb. 23: Deutsche Rüstungsexporte 2021 an problematische Empfängerländer

Verbesserungsmöglichkeiten

Wie oben dargelegt, ist die bisherige Berichterstattung über deutsche Rüstungsexporte immer noch zu intransparent. Um dem zu begegnen, sollte die Bundesregierung sich dazu verpflichten, für jede Ausfuhrgenehmigung, die sie erteilt, darzulegen, um welche Rüstungsgüter es geht (also nicht nur die Ausfuhrlistenposition, sondern die exakte Bezeichnung und Stückzahl) und wer der vorgesehene Endempfänger ist (also nicht nur das jeweilige Land, sondern z.B. auch ob Polizei, Armee, Geheimdienst oder andere Akteure Empfänger sind). Da dies angesichts der großen Anzahl der jährlichen Einzelausfuhrgenehmigungen das bisherige Berichtsformat überfordern würde, wäre hierzu eine Online-Datenbank sinnvoll. Aber die Bundesregierung sollte nicht nur transparenter über die Rüstungsgüter und Endempfänger berichten, sondern ihre Entscheidungen für (und eventuell auch gegen) Rüstungsexporte ausführlich begründen.

Im bisherigen System der Rüstungsexportkon-trolle in Deutschland liegt die Begründungspflicht bei den Kritiker*innen von Rüstungsexporten – egal ob sie aus der Zivilgesellschaft kommen, im Bundestag oder sogar in der Regierung sitzen. Sie sind es, die zeigen müssen, dass etwa bei einem Rüstungsexport an ein autoritäres Regime ein eindeutiges Risiko besteht, dass das betreffenden Rüstungsgut z.B. im Empfängerland zur internen Repression benutzt wird. Angesichts des Informationsmangels ist dies aber faktisch oft kaum leistbar. Zumindest beim Export von Rüstungsgütern an Drittländer sollte daher die »Beweislast« von den Kritiker*innen hin zu den Befürworter*innen des jeweiligen Rüstungsexports verschoben werden. In der Praxis ließe sich eine solche Beweislastumkehr etwa dergestalt umsetzen, dass die Bundesregierung bei einer Entscheidung für einen Rüstungsexport an ein Drittland – derartige Exporte sollen ja eine Ausnahme darstellen – gegenüber dem Bundestag in öffentlicher Sitzung begründet, warum sie der Ansicht ist, dass in diesem Fall alle Kriterien für eine positive Exportentscheidung erfüllt sind und weshalb der betreffende Export im außen- und sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands ist (vgl. GKKE 2022, S. 70ff.).

Abb. 24: Weltkarte von Staaten mit Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter

Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter 2021 und Darstellung privilegierter Gruppen (Stand November 2023)

Zusätzlich zu einer Erhöhung der Transparenz und der damit einhergehenden Verbesserung der politischen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit bedarf es auch der Möglichkeit, das Regierungshandeln seitens der Zivilgesellschaft gerichtlich überprüfen zu lassen. Hierfür ist die Schaffung eines Verbandsklagerechts unerlässlich. Seit 2002 besteht in Deutschland die Möglichkeit für bestimmte gemeinwohlorientierte Verbände, bei Verletzungen von Rechten der Allgemeinheit eine Popularklage einzureichen. Etabliert wurde das sogenannte Verbandsklagerecht zuerst im Bereich des Naturschutzes, wo es im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) und dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) geregelt ist. Letzteres gibt anerkannten lokalen oder national tätigen Umweltverbänden, wie beispielsweise dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) e. V., aber auch ausländischen bzw. internationalen Verbände die Möglichkeit, einen sogenannten »Umwelt-Rechtsbehelf« einzulegen und damit zu erwirken, dass behördliche Entscheidungen richterlich auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden müssen. Dabei muss der betreffende Verband darlegen, dass die entsprechende Entscheidung gegen eine Rechtsvorschrift verstößt und überdies die in der Satzung des Verbandes bzw. Vereins dargelegten Tätigkeitsfelder tangiert. Zuständig für die Bearbeitung dieser Verfahren sind dann die Verwaltungsgerichte. Das Verbandsklagerecht ist inzwischen in Deutschland nicht nur im Bereich des Umweltschutzes, sondern auch in Bereichen anderer kollektiver Rechte, wie dem Datenschutz oder der Gleichstellung, fest verankert und nicht mehr wegzudenken. In keinem der genannten Bereiche hat es, wie von Kritiker*innen vielfach befürchtet, zu einer Überlastung der Justiz oder einer Handlungsunfähigkeit der Legislative geführt. Im Gegenteil, oft bildeten Verbandsklagen die einzige Möglichkeit, Chancengleichheit zwischen mächtigen Konzernen und Betroffenen herzustellen.

Ein Verbandsklagerecht im Bereich der Rüstungsexportkontrolle würde deutschen – in einer weiterreichenden Variante ggf. auch internationalen – anerkannten, gemeinwohlorientierten Verbänden wie Brot für die Welt und Misereor oder Amnesty International die Möglichkeit geben, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob Exportentscheidungen der Bundesregierung den festgelegten Kriterien widersprechen bzw. ob die Regierung die Kriterien in angemessener Weise geprüft und abgewogen hat. Dies bedeutet mitnichten ein Veto-Recht für zivilgesellschaftliche Akteure oder einen Eingriff in die Entscheidungshoheit von Bundesregierung und Bundessicherheitsrat, wie von den Kritiker*innen eines solchen Verbandsklagerechts behauptet wird. Es soll vielmehr die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden, indem eine Möglichkeit geschaffen wird, gerichtlich zu prüfen, ob und inwieweit sich die Regierung bei der Genehmigung von Rüstungsexporten an existierende Gesetze und Regelungen hält.

Umzusetzen sind diese und andere Verbesserungen der deutschen Rüstungsexportkontrolle am sinnvollsten in Form eines neuen Rüstungsexportkontrollgesetzes. Ein solches wird schon seit längerem von verschiedenen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen gefordert. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag für die Jahre 2021-2025 dazu verpflichtet, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auszuarbeiten. Im Herbst 2023 liegt bislang jedoch nur ein Eckpunkte-Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium dafür vor (→ vgl. Brzoska).

Anmerkung

6) Alle in diesem Beitrag verwendeten Angaben zu den deutschen Rüstungsexporten stammen, sofern nicht anders angegeben, aus den Berichten
der Bundesregierung über ihre Rüstungsexportpolitik. Die vom Bundeswirtschaftsministerium erstellten Berichte sind zugänglich unter: https://
www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/ruestungsexportkontrolle.html.

Markus Bayer ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«. Er ist zudem Mitglied der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Neben Fragen der Rüstungskontrolle interessieren ihn insbesondere friedliche Transformationsprozesse, fragen der politischen Agency, Versöhnung in postkolonialen Kontexten und Zivil-Militärische Beziehungen.

Max Mutschler ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das DFG-Projekt »Verflüchtigt sich der Krieg? Die Folgen der Proliferation moderner Militärtechnologie für die Kriegführung autokratischer Staaten und nicht-staatlicher Gewaltakteure«. Er ist Co-Vorsitzender der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Seine Forschungsinteressen liegen vor allem im Bereich Rüstung und Rüstungskontrolle. Neben der deutschen Rüstungsexportpolitik zählen dazu insbesondere die Folgen militärtechnologischer Entwicklungen auf die Kriegführung.

Möglichkeiten der Eindämmung von Waffenhandel

Strukturelle Faktoren und Spielräume eines neuen deutschen Rüstungsexportgesetzes

von Michael Brzoska

Der internationale Handel mit Rüstungsgütern wird von zwei Faktoren getrieben: der Nachfrage nach Waffen und dem Angebot von Waffen. Wie auch in anderen Märkten ist die Nachfrage nicht unabhängig vom Angebot. Anbieter betreiben aktives Marketing. Was ein Land kauft, weckt auch in Nachbarländern Bedürfnisse.

Eine Besonderheit des internationalen Waffenhandels ist die zentrale Bedeutung von Staaten, auf der Nachfrage- und insbesondere der Angebotsseite. Drei Dimensionen sind für das Verständnis von deren Handlungen besonders hervorzuheben.

Staat und Rüstungsindustrie sind eng verflochten

Nationale Rüstungsproduktion ist weit überwiegend Herstellung für die eigenen Streitkräfte, weniger als ein Viertel der globalen Rüstungsproduktion wird international gehandelt.7 Rüstungsproduzenten sind daher in der Regel wirtschaftlich stark von den Beschlüssen der Regierungen abhängig, die ihre größten Kunden sind. Gleichzeitig begründet das enge wirtschaftliche Verhältnis Staat ↔ nationale Rüstungsindustrie aber auch ein staatliches Interesse an Rüstungsexporten, zumindest insoweit Rüstungsexporte Vorteile für nationale Rüstungsbeschaffung bringen. Dies kann bestehen in Kostensenkungen durch größere Stückzahlen einzelner Waffensysteme, das Überleben nationaler Rüstungsfirmen, auch wenn keine nationalen Beschaffungsvorhaben bestehen, oder durch den Rüstungsexport als Teil gemeinsamer Waffenproduktion mit anderen Staaten.

Rahmensetzungen für Rüstungsexportkontrolle in Deutschland

Die zweite Dimension betrifft die staatliche Kon-trolle über Waffenproduktion und Rüstungshandel. Es liegt in unmittelbarem staatlichen Interesse, dass Gewaltmittel nicht für Zwecke genutzt werden können, die dieser Staat nicht billigt. In Deutschland regelt das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) Herstellung, Transport („Verbringung“) und Besitz von Kriegswaffen, als Ausführungsgesetz zum Artikel 26 des Grundgesetzes. Jede nicht für die Bundeswehr vorgesehene Herstellung und Verbringung von Kriegswaffen, sowohl innerhalb Deutschlands als auch ins Ausland, muss von der Bundesregierung genehmigt werden (→ vgl. Kolling).

Der Kreis der Kriegswaffen ist relativ begrenzt. Nicht dazu gehören Schusswaffen, die auch für nicht-militärische Zwecke verwendet werden, wie Pistolen und Jagdgewehre, deren innerstaatliche Kontrolle durch das Waffengesetz (WaffenG) erfolgt. Auch ein Großteil der weiteren Güter, die für Kriegführung wichtig sind, fallen nicht unter das KWKG. Deren Export beschränkt das Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Es enthält Genehmigungspflichten für den Export von Rüstungsgütern und auch von Gütern mit doppelter Verwendungsmöglichkeit (»Dual use«).

Über nationale Vorschriften hinaus müssen die Genehmigungsbehörden auch internationales Recht beachten. So sind Waffenembargos, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) oder der Europäische Rat verhängt, für die deutschen Genehmigungsbehörden verbindlich. Das gilt auch für den Internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) dem Deutschland beigetreten ist (→ vgl. Bayer und Mutschler, sowie Wisotzki).

Keinen rechtsverbindlichen Charakter hingegen haben die erstmals 1967 formulierten und seitdem mehrfach geänderten »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport«.8 Seit 2017 sind neben den allgemeinen auch eigene Grundsätze für den Export von Kleinwaffen formuliert und veröffentlicht worden (→ vgl. Grässlin). Die Grundsätze sind aber für Entscheidungen von Bundesregierung und nachgeordneten Behörden, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), von hoher Bedeutung. Denn in ihnen hat die Bundesregierung fixiert, wie sie in der Praxis mit Genehmigungsanträgen umgehen will. Sie stellen damit sowohl eine Art Richtlinie für diejenigen da, die in Bundesregierung und BAFA über die Masse der Anträge zu entscheiden haben, als auch, da sie zumindest seit den frühen 1970er Jahren auch öffentlich sind, eine Selbstbindung der Bundesregierung, da in der Öffentlichkeit Entscheidungen des Bundessicherheitsrat (BSR), der bei wichtigen oder kontroversen Fällen befasst wird, mit den Politischen Grundsätzen abgeglichen werden können (→ siehe Infokasten S. 8).

Ebenfalls von Bedeutung für die Exportpraxis ist der »Gemeinsame Standpunkt« der EU zum Rüstungsexport vom 8. Dezember 2008. Er enthält acht Kriterien, auf deren Beachtung sich die Mitgliedsstaaten der EU geeinigt haben. In Deutschland ist er bisher nicht unmittelbar rechtsverbindlich sondern nur Teil der Politischen Grundsätze, obwohl im Gemeinsamen Standpunkt die Aufforderung enthalten ist, ihn in nationales Recht umzusetzen.

Abb. 25:Regionale wirtschaftliche Bedeutung von Rüstungsexporten

Unterschiede in der regionalen wirtschaftlichen Bedeutung von Rüstungsexporten (Gesamtwerte Exportgenehmigungen Januar-August 2022); Quelle: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage (Drucksache 20/3354, 7.9.2022)

Rüstungsexportpolitik in der politischen Auseinandersetzung

Drittens eröffnet das enge Verhältnis Staat ↔ Rüstungsproduktion Regierungen die Möglichkeit, Waffenexporte als politisches Instrument zu nutzen (→ vgl. Wisotzki), aber für die demokratische Öffentlichkeit auch die Chance, Regierungshandeln im Sinne der eigenen politischen Vorstellungen zu beeinflussen (→ vgl. von Gall). Dabei stehen sich sowohl in Regierung wie Öffentlichkeit regelmäßig unterschiedliche Interessen gegenüber.
Rüstungsexporte sind nicht nur für Rüstungshersteller wirtschaftlich attraktiv, sie finanzieren auch Arbeitsplätze. Zudem lässt sich mit ihnen, zumindest in kleinem Maßstab, Wirtschaftspolitik betreiben. Insbesondere Abgeordnete aus Wahlkreisen mit vielen Rüstungsindustriebetrieben sind daran interessiert. Mit Rüstungsexporten lässt sich auch Außen- und Allianzpolitik betreiben. Allerdings ist gegenüber anderen Staaten oft eher die Versagung, als die Genehmigung von Rüstungsexporten ein außenpolitisches Problem, so wenn etwa Saudi Arabien die Verweigerung der Genehmigung der Lieferung von Panzern als Affront bezeichnet, oder wenn Frankreich und Großbritannien es als unfreundlichen Akt unter Verbündeten ansehen, wenn ihre Firmen Produkte aus gemeinsamen Rüstungsproduktionsvorhaben mit Deutschland, wie etwa den Eurofighter, auf Grund deutscher staatlicher Bedenken nicht überall hin exportieren dürfen, wohin es ihnen ihre eigenen Regierungen erlauben würden (→ vgl. Wisotzki).

In der Öffentlichkeit werden hingegen vor allem besonders heikle Exportgenehmigungen thematisiert, diskutiert und vor allem kritisiert. Wesentlicher Anlass für letzteres ist vor allem eine immer wieder deutlich werdende Diskrepanz zwischen allgemeiner politischer Rhetorik und Rüstungsexportpraxis.

Rüstungsexporte berühren für den politischen Diskurs zentrale Werte wie Frieden und Menschenrechte. In den politischen Grundsätzen wird dem seit Jahrzehnten Rechnung getragen, indem dort angekündigt wird, der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland von Rüstungsgütern bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beizumessen.

Ein besonderes Problem stellen Exporte im Rahmen von gemeinsamen Rüstungsvorhaben mit anderen Staaten, vor allem Frankreich und Großbritannien dar. Schon in den frühen 1990er Jahren wurden, lange nicht öffentlich verfügbare, Abkommen geschlossen, in denen die Bundesregierung weitgehend auf die Umsetzung der eigenen Grundsätze verzichtete. Sie verpflichtete sich, nur in Ausnahmefällen Weiterexporte von Waffensystemen mit deutschen Komponenten auch in problematische Staaten zu behindern. Diese Sonderbehandlung wurde mit dem Interesse an der Stärkung einer europäischen Rüstungsindustrie begründet.

Rüstungsexportpolitik in der Praxis

Den Ankündigungen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen seit den späten 1960er Jahren steht die Genehmigungspraxis gegenüber. Deutschland gehört seit den 1970er Jahren durchgängig zu den größten Rüstungsexporteuren weltweit. Immer wieder wurden Genehmigungen, insbesondere für Kriegsschiffe, damit begründet, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten wurden. Das BICC in Bonn prüft seit den frühen 2000er Jahren ob und inwieweit die Empfänger deutscher Rüstungsgüter sich an internationale Vereinbarungen zu Menschenrechten halten, und mussten regelmäßig Lieferungen an hochproblematische Länder verzeichnen.9 Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden immer wieder einzelne, einer restriktiven Rüstungsexportpolitik widersprechende Genehmigungen.10

Die öffentliche Kritik an der Genehmigungspraxis führte durchaus zu Änderungen der Rüstungsexportpolitik. Besonders wirkungsvoll war sie im Bereich von Kleinwaffen (→ vgl. Grässlin). Auch in anderen Bereichen führte öffentliche Kritik zu Änderungen in der Genehmigungspraxis. So wurden ab 2019 keine Genehmigungen, einschließlich solcher für Gemeinschaftsvorhaben mit anderen Ländern, mehr nach Saudi-Arabien erteilt. Anlass war der Mord am Regimekritiker Jamal Khashoggi. Zudem intervenierte das Land militärisch im Jemen und hatte sich dabei schwerer Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht schuldig gemacht.

Verschärfungen der Kontrolle stehen Erleichterungen für Antragsteller für Exporte von Rüstungsgütern gegenüber. So war es bis in die 1990er Jahre Praxis, den Export von gepanzerten Fahrzeugen in Länder des Nahen Ostens nicht zu erlauben. Diese Beschränkung wurde im Zuge der deutschen Unterstützung der am Golfkrieg Beteiligten 1991 aufgegeben. Inzwischen hat eine Reihe arabischer Staaten gepanzerte Fahrzeuge aus Deutschland erhalten. Auch im Bereich der Exporte für Koproduktionen wurde das Kontrollniveau gesenkt (→ vgl. Wisotzki).

Diese Beispiele machen deutlich, dass Rüstungsexportpolitik Ausdruck des Gewichtes von Interessen ist. Für eine Lockerung der Rüstungsexportpolitik stehen vor allem die Rüstungsindustrie, aber auch lokale Wirtschaftsinteressen, Politiker*innen mit Interesse an der Stärkung der deutschen Rüstungsindustrie und solche mit starkem Interesse an der Nutzung von Rüstungsexporten für Bündnis- und Außenpolitik. Ihnen gegenüber stehen vor allem eine Reihe von Fachorganisationen aus der Zivilgesellschaft, die versuchen die Öffentlichkeit auf die Probleme und Widersprüche der Rüstungsexportpolitik aufmerksam zu machen (→ vgl. von Gall), sowie Politiker*innen, die an einer stärker werteorientierten Außenpolitik interessiert sind.

In dieser Konstellation ist Transparenz ein wichtiges Instrument für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten (→ vgl. Bayer und Mutschler). Um mehr Restriktivität zu erreichen, sind kritische Organisationen vor allem auf Druck aus der Öffentlichkeit angewiesen, die mehrheitlich für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten ist (Greenpeace 2020). Der Umfang der von der Bundesregierung veröffentlichten Daten ist zwar in den letzten Jahrzehnten gewachsen, aber weiterhin bleiben zentrale Informationen der Öffentlichkeit verschlossen, etwa welche Kriterien wie abgewogen, warum Exporte genehmigt wurden, oder, um die Formulierung aus den Politischen Grundsätzen aufzunehmen, welche sicherheitspolitischen Interessen für einen Export gesprochen haben.

Auf dem Weg zu einem Rüstungsexportkontrollgesetz

Weil die Genehmigungspolitik so stark von Interessen und damit verbundenem Lobbyismus beeinflusst wird, drängen viele zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren auf ein Rüstungsexportgesetz, in dem Zurückhaltung rechtlich verbindlicher gemacht wird, wobei die Erwartungen der Organisationen von einem generellen Verbot bis hin zu einer Festschreibung des aktuellen Status quo von Politischen Grundsätzen und EU-Standpunkt reichen.11

In den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Spätherbst 2021 einigten sich die Parteien darauf, in der folgenden Legislaturperiode ein neues nationales Rüstungsexportkontrollgesetz zu verabschieden. Ziel ist eine rechtlich verbindliche Erweiterung und Schärfung der Kriterien für Entscheidungen über den Export aller Rüstungsgüter, über die Bestimmungen in KWKG, AWG und Gemeinsamem Standpunkt der EU hinaus. Der Koalitionsvertrag enthält den Satz: „Nur im begründeten Einzelfall, der öffentlich nachvollziehbar dokumentiert werden muss, kann es Ausnahmen geben“. Neben stärkerer Restriktivität wird dort auch mehr Transparenz über Entscheidungen zu Rüstungsexporten ankündigt (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021).

Federführend für die Umsetzung dieser Ankündigungen ist das von Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), das im Frühjahr 2022 in Konsultationen mit Expert*innen die Erwartungen an ein neues Rüstungsexportgesetz einholte. Im Herbst 2022 legte der zuständige Staatssekretär Sven Giegold Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor. Daran schlossen sich Fachgespräche mit Vertreter*innen aus der Indus-trie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an.12 Die Eckpunkte bauen auf den geltenden Politischen Grundsätzen und den Kleinwaffengrundsätzen auf, enthalten aber weitergehende Konkretisierungen, insbesondere zur Beurteilung der Menschenrechtslage. Zudem wird angekündigt, Defizite in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als weiteres Kriterium in das Gesetz einführen zu wollen.

Während Vertreter*innen aus der Industrie die Eckpunkte grundsätzlich als überflüssig kritisierten, begrüßten die Vertreter*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft weitgehend die Grundlinien des Papiers. Allerdings gab es auch von dieser Seite Kritik und Enttäuschung über die fehlende Bereitschaft des BMWK, weiterreichende Schritte in Richtung Begrenzung der deutschen Rüstungsexporte zu gehen. Einige Teilnehmende forderten das generelle Verbot von Rüstungsexporten während andere auf Regelungslücken etwa bei der Kontrolle international agierender Rüstungsunternehmen sowie das Fehlen effektiver politischer und rechtlicher Kontrollmöglichkeiten des Regierungshandelns hinwiesen, was sich durch ein Klagerecht für fachlich ausgewiesene zivilgesellschaftliche Verbände bei problematischen Rüstungsexportentscheidungen beheben ließe. Auch wurde die in den Eckpunkten festgehaltene Privilegierung von Exporten aus Kooperationsvorhaben kritisiert.

Die in den Fachgesprächen angekündigte Überarbeitung der Eckpunkte wurde bis zum Herbst 2023 nicht öffentlich. Auch wurde öffentlich nicht bekannt, welche Gesichtspunkte andere Ministerien im Konsultationsprozess innerhalb der Bundesregierung einbrachten.

Der Werdegang eines Rüstungsexportgesetzes steht im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In der Öffentlichkeit wurde das anfängliche Zögern der Bundesregierung bei Waffenlieferungen an die Ukraine vielfach als Ausdruck der restriktiven deutschen Rüstungsexportpolitik angesehen – und die dann folgende schrittweise Ausweitung der Lieferungen als Ausweis einer generellen Aufweichung der Restriktivität. Tatsächlich aber wären nach den bestehenden rechtlichen Vorschriften als auch nach den Politischen Grundsätzen weitgehende Exporte von Rüstungsgütern an die Ukraine möglich gewesen, die Zurückhaltung der Bundesregierung hatte vorrangig andere Gründe. Das zeigt nicht zuletzt eine ähnliche Zurückhaltung auch anderer Staaten, wie den USA und Frankreich, mit deutlich offensiverer Rüstungsexportpolitik.

Abb. 26: Die neuen Allgemeingenehmigungen als Exportbeschleuniger

Trotzdem hat der russische Krieg in der Ukraine die Stimmungslage zum Rüstungsexport beeinflusst. Ein Ausdruck davon sind relevante Passagen in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Dort wird angekündigt, zwar bei einer restriktiven Grundlinie bleiben zu wollen, aber gleichzeitig „Bündnis- und Sicherheitsinteressen, die geo-strategische Lage und die Anforderungen einer verstärkten europäischen Rüstungskooperation“ berücksichtigen zu wollen (Bundesregierung 2023, S. 9). Zu einer Aufweichung der Restriktivität dürfte auch die im Juli 2023 veröffentlichte Ankündigung des BMWK, weitere Erleichterungen für Rüstungsexporte in Mitgliedsstaaten der EU und der NATO sowie ausgewählte weitere Staaten einzuführen. Über die bereits geltenden Verfahrensregelungen können nun auch für sonstige Rüstungsgüter außerhalb von Gemeinschaftsprojekten Allgemeingenehmigungen beantragt werden.

Rüstungsexportpolitik bleibt ein Feld der Auseinandersetzung widerstrebender Interessen. Es ist momentan offen, wie sich die Gewichtungen verschieben, wie stark etwa der Lobbyismus einer wachsenden Rüstungsindustrie ist. Denn rein nach wirtschaftlicher Logik wäre diese, aufgrund der durch das Sondervermögen für die Bundeswehr deutlich verbesserten Auftragslage, weniger auf Rüstungsexporte angewiesen, um gute Geschäfte zu machen. Ebenso offen ist, wie sehr in der öffentlichen Meinung die weitverbreitete Skepsis gegenüber Rüstungsexporten angesichts eines veränderten Diskurses über Militär und Rüstung für die Landes- und Bündnisverteidigung bestehen bleibt. Das dürfte auch dafür entscheidend sein, wie ein neues Rüstungsexportkontrollgesetz aussieht, ob es, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, mehr Transparenz und Restriktivität rechtlich verbindlich festschreibt oder das Vorhaben der Eindämmung des Exports von Rüstungsgütern aus Deutschland in problematische Staaten misslingt.

Anmerkungen

7) Eigene Schätzung auf der Grundlage von Angaben zu Militärausgaben und internationalem Waffenhandel in entsprechenden Datenbanken
des SIPRI.

8) Die Fassungen seit 1971 sind unter anderem zu finden unter: http://ruestungsexport-info.de/ruestung-recht/politische-grundsaetze.html und
https://www.waffenexporte.org/category/gesetze-normen/politische-grundsaetze/.

9) Die Prüfungen des BICC umfassen weitere Aspekte einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Kurzfassungen finden sich in den jährlichen Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungspolitik (GKKE).

10) In den jährlichen Exportberichten der GKKE finden sich zahlreiche Beispiele, auch bei Wisotzki 2020.

11) Dies wurde in den zahlreichen Stellungnahmen deutlich, die in mehreren Anhörungen zu diesem Vorhaben abgegeben wurden,
siehe https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Service/Gesetzesvorhaben/erarbeitung-eines-rustungsexportkontrollgesetzes.htm.

12) Die Dokumente sind auf der Homepage des BMWK verfügbar. Weitergehende Informationen zu den Konsultationen des BMWK finden sich
unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2022/10/20-3368.pdf.

Michael Brzoska ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Senior Research Associate beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und forscht zu ökonomischen Aspekten von Rüstung, Sicherheit, Krieg und Frieden.

Widerstehen – Kritisieren – Verändern

Wie Friedensaktivismus Rüstungsexportpolitik verändern kann

von Anna von Gall

Wenn man heute in Deutschland über die Friedensbewegung spricht, stößt man oft auf zwei gängige Vorurteile. Einerseits wird sie oft als naiv, idealistisch oder fernab der Realität abgestempelt. Andererseits weckt sie ein nostalgisches Gefühl: Man denkt an die Friedensbewegung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Europa entwickelte und Persönlichkeiten wie John Lennon oder Bob Dylan hervorbrachte, die mit ihrer Musik die Stimme eine ganze Generation prägten. Unter Aufrufen wie »Make Love Not War« oder »Schwerter zu Pflugscharen«, dem Slogan einer staatsunabhängigen Abrüstungsinitiative in der DDR, organisierten sich Menschen in unterschiedlichen Ländern für Frieden und gegen das konventionelle und atomare Wettrüsten des Kalten Krieges.

Doch eine aktuellere, modernere Friedensbewegung ist heute notwendiger denn je. Auch und gerade heute ist eine kritische Betrachtung der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung. Die deutsche Rüstungsexportpolitik verdeutlicht, wie effektiv eine aktive Friedensbewegung sein kann, und betont die Bedeutung des wachsamen Blicks der Zivilgesellschaft in Zeiten von Polykrisen und wachsenden Militärausgaben. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Schwerpunkte der deutschen Sicherheitspolitik in einer Weise verlagert, dass Sicherheit – in einem umfassenden Begriff definiert – dadurch nicht gesteigert, sondern geschwächt wird. Die Rüstungsausgaben steigen global, immer mehr Bereiche des Alltags werden versicherheitlicht (Energiewirtschaft u.a.), drängende friedenspolitische, entwicklungspolitische und menschenrechtliche Fragen geraten unter die Räder dieser Politik zunehmender globaler Konkurrenz.

Was können wir also dafür tun, um die Narrative der militärischen Sicherheit und den Rüstungsexportkomplex aufzubrechen, und warum braucht es dafür aktivistisches Engagement?

Aktionen und Widerstandsmöglichkeiten in Deutschland

Ein wichtiges Beispiel für aktuellen Aktivismus gegen die Narrative der militärischen Sicherheit ist das Engagement für eine restriktive Rüstungsexportkontrollpolitik. Deutsche Rüstungs- und Waffenexporte werden als legitimes Instrumentarium einer staatlichen Sicherheitspolitik verstanden, insbesondere zur Abschreckung, und als wichtiges Mittel zur Selbstverteidigung. Rüstungsexporten an staatliche Strukturen kann aber im Sinne eines umfassenden Sicherheitsverständnisses nicht per se eine stabilisierende Streitkräfteentwicklung sowie die Förderung von Stabilität und Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene zugeschrieben werden. Rüstungsexporte in Länder, in denen eine konventionelle Aufrüstung zu einem militärischen Ungleichgewicht führt und sogar noch konfliktverschärfende Wirkung auf regionaler oder globaler Ebene hat (vgl. Bundesregierung 2016, S. 40, Bundesregierung 2017, S. 88), sind mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit nicht zu vereinen. Das derzeitige Rüstungsexportregime besteht aus mehreren Regelwerken, die aber nicht verbindlich sind (→ vgl. Wisotzki; Bayer und Mutschler). Letztendlich obliegt es der Bundesregierung zu entscheiden, wann an welche Länder was geliefert wird. Aufgrund des intransparenten Entscheidungsprozesses ist nicht nachzuvollziehen, ob die Bundesregierung das in der Nationalen Sicherheitsstrategie zugrunde gelegte umfassende Sicherheitsverständnis hierfür heranziehen wird und wie diese Entscheidungen in der Vergangenheit getroffen wurden.

Der Widerstand gegen Exporte von deutschen Waffen ist in Deutschland seit den 2000er Jahren ein großer Teil des friedenspolitischen Engagements. Und das auch aus einem weiteren Grund: Deutschland gehört zu den fünf weltweit größten Waffenexporteuren der letzten zehn Jahre (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). 2011 wurde die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« ins Leben gerufen. In dieser Kampagne engagieren sich mittlerweile über einhundert Organisationen aus dem umwelt-, friedens- und entwicklungspolitischen Bereich sowie den Kirchen gegen die bisherige, weitgehend uneingeschränkte Exportpolitik mit deutschen Waffen.

Allem Protest zum Trotz boomen deutsche Waffenexporte. Die Ursache dafür sind die zahlreichen Lücken, Schlupflöcher und Ausnahmen in den gesetzlichen Regelungen für Rüstungsexporte. Zwar gibt es diverse weitere Gesetze und Selbstverpflichtungen, die den Rüstungsexport regeln sollten, doch sind sie derart unverbindlich, dass auch Lieferungen in Krisengebiete oder in Länder, in denen Menschenrechte wenig geachtet werden, möglich sind. So ist es nicht verwunderlich, dass sehr viele Kriege und Konflikte in der Welt auch mit deutschen Waffen geführt werden (→ vgl. Grässlin).

Eine Möglichkeit hiergegen vorzugehen ist die öffentlichkeitswirksame Sichtbarmachung dieser Exporte. Dafür steht das Mittel der Strafanzeige zur Verfügung. Erst kürzlich hat Greenpeace gemeinsam mit dem Anwalt Holger Rothbauer eine Strafanzeige eingereicht: Die Firma MAN Energy Solutions (MAN ES) soll Motoren und Technologie für ein Kriegsschiff an die brutale Militärjunta in Myanmar geliefert haben. Im Vordergrund der Vorwürfe stehen sogenannte Dual-Use-Güter: Produkte oder Technologien, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Wenn der Kunde dieser Güter das Militär ist, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie militärisch verwendet werden – der Export solcher Güter ist genehmigungspflichtig. Bisher bestreitet die Firma MAN ES jedoch, dass es sich bei der Lieferung der Motoren um militärisches Material oder um Dual-Use-Güter handele.13

Auch der Konflikt um die Region Karabach kann nicht ganz ohne deutsche Rüstungsgüter gedacht werden. So konnte die aserbaidschanische Führung ihre Streitkräfte mit türkischen Drohnen des Typs Bayraktar TB2, israelischen Drohnen der Typen Harop, Orbiter und SkyStriker, Raketenartilleriesystemen aus der Türkei (TRG-300) und Belarus (Polonez), aber auch mit Daimler-Militär-LKW mit israelischen CARDOM-Mörsern ausstatten, wie Greenpeace aufdeckte.14 Der Umstand, dass solche Güter dennoch in Ländern wie Myanmar oder Aserbaidschan landen, zeigt, wie groß die Lücken in der deutschen Rüstungsexportkontrolle sind.

Bis zum brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine sprach sich die Mehrheit der deutschen Wähler*innen gegen einen Export deutscher Rüstungsgüter in militärische Krisenregionen aus. Doch auch damals folgte die Politik diesem Willen bestenfalls halbherzig. Ein besonders prägnantes Beispiel ist der Krieg im Jemen. Bereits 2016 hatte ein breites europäisches Bündnis den Exportstopp von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien gefordert (ENAAT 2016). Aber erst im Oktober 2018 wurde zumindest in Deutschland ein lückenhaftes Waffenexportembargo gegen Saudi-Arabien erlassen – Anlass war die öffentliche Empörung nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi durch das saudische Königshaus in der Botschaft in Istanbul.15 Gemeinschaftsprojekte, wie der Eurofighter oder auch Dual-Use-Güter, waren nicht Teil des Embargos (→ vgl. Wisotzki und Bayer und Mutschler). Andere Kriegsparteien konnten in Deutschland weiterhin problemlos ihre Waffen bestellen:

Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gab es zum Beispiel kein Embargo und so konnte von der Bundesregierung der Kauf deutscher Rüstungsgüter an die VAE (2020: 50,1 Mio. €) genehmigt werden. Im Verlauf des Krieges (seit Beginn 2015) wurden insgesamt über 8 Mrd. € an Rüstungsexporten an die saudisch geführte Kriegskoalition genehmigt.

Die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung zu Rüstungsexporten hielt währenddessen an. Eine Umfrage im Jahr 2021 zeigte, dass 70% aller Bundesbürger*innen der Ansicht waren, dass deutsche Waffen weder an kriegführende Staaten, Krisengebiete oder in Länder außerhalb der EU geliefert werden sollten.16 Als Reaktion darauf – und als eine weitere Protest- und Widerstandsmöglichkeit – hat Greenpeace einen Gesetzesentwurf17 vorgelegt, der Rüstungsexporte aus Deutschland in Drittländer vollständig verbieten soll und Technologietransfer, Unternehmensbeteiligungen und Lizenzvergaben von Rüstungsgütern an Drittländer ausschließt. Ausgenommen waren lediglich Staaten, die von einem Angriffskrieg betroffen sind. Rüstungsexporte würden dabei auf Exporte in solche Staaten reduziert werden, die nicht in völkerrechtswidrige Kriege involviert sind, die stabile Demokratien und Rechtsstaaten sind und die die Menschenrechte achten und wahren. Diese Staaten würden auf eine vom Bundestag verabschiedete Liste aufgenommen werden, die dann EU-Staaten sowie EU-gleichgestellte Staaten umfassen würde. Diese Liste würde Klarheit schaffen: Für alle Staaten, die sich aus Deutschland mit Rüstungsgütern und Kriegsmaterial beliefern lassen wollen, sowie für die Industrie, die zweifelsfrei wüsste, welche Staaten nicht belieferbar wären. Und für die aktuelle und kommende Bundesregierungen, die gar nicht erst der Versuchung ausgesetzt wären, kurzfristige Zweckmäßigkeit über langfristig denkende und verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen. Darüber hinaus fordert Greenpeace eine starke Berichtspflicht über die Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung. Dabei sollte die Bundesregierung insbesondere dokumentieren, wenn sie Exportgenehmigungen aufgrund von rassistischen, religiösen, kulturellen oder geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen versagt.

Interventionistischer Widerstand

Nicht zuletzt die Skrupellosigkeit der Konzernführung rund um Rheinmetall-Chef Armin Pappberger führte zur Gründung der Protestgruppen rund um die Aktivist*innen von »Rheinmetall Entwaffnen«. Von einem jährlichen Protestcamp neben dem Fabrikgelände im niedersächsischen Unterlüss bis zu Blockadeaktionen bei Werken in Kassel skandalisierte die antimilitaristische Gruppe in kreativen Protestformen das Treiben des deutschen Rüstungskonzerns. Im September 2019 protestierten ebenso Greenpeace Aktivist*innen an der Fassade der Zentrale des Rüstungskonzerns in Düsseldorf. Mit der Aktion richtete sich die Friedens- und Umweltschutzorganisation auch direkt an die Exportpraxis der Bundesregierung, die jedem Rüstungsexport zustimmen muss.

Auch der Tag der Aktionärs-Hauptversammlung der Rheinmetall AG hat sich in den letzten Jahren zunehmend zum Ort öffentlichen Protests mit neuer Dynamik entwickelt (siehe ORL 2022). Aktivist*innen der Kritischen Aktionär*innen stürmten in den Jahren immer wieder die Bühne der Aktionärsversammlung und konfrontierten die Verantwortlichen – was zur zwischenzeitlichen Unterbrechung der Veranstaltung führte – oder demonstrierten vor der Lobbyzentrale von Rheinmetall in Berlin (wie hier auf einer Aktion von Greenpeace-Aktivist*innen, siehe Greenpeace 2021).

Auch international nahmen gerade im Fall der Jemen-Kriegs-Koalition die Proteste zu. Greenpeace-Aktivist*innen blockierten im spanischen Balboa einen Frachter der illegal Waffen exportieren sollte (Greenpeace Espana 2018), während in anderen Häfen (Antwerpen, Genua, Marseille) gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen das Be- und Entladen von Frachtschiffen mit Rüstungsgütern verhinderten.

Gemeinsam mit anderen Akteur*innen konnte Greenpeace Deutschland mit »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« und »urgewald« während der Koalitionsverhandlungen der Ampelregierung im Jahr 2021 derart großen Druck aufbauen, dass diese in ihrem Koalitionsvertrag die Verabschiedung eines Rüstungsexportkon-trollgesetzes vereinbart hat (vgl. Winkler 2022). Neben zahlreichen Protesten vor den Orten der Koalitionsverhandlungen, hatten im Oktober 2021 43 Organisationen einen Appell für ein Rüstungsexportkontrollgesetz und für die Fortsetzung des Embargos gegen die Jemen-Koalition an SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterzeichnet.18

Auch Studien können helfen, entsprechenden Widerstand auszudrücken: So konnte gezeigt werden, dass es Rüstungsexporte in Drittländer weder zum Überleben der Rüstungsindustrie noch für eine nachhaltige Sicherheitspolitik braucht (vgl. Zschoche 2021). Damit konnten die gängigsten Argumente der Rüstungslobby für Exporte in Drittländer entkräftet werden – und nebenbei einer faktenorientierten Debatte geholfen werden.

Nicht zuletzt auf internationaler Ebene konnte zivilgesellschaftlicher Druck Erfolge verzeichnen: So gelang es »controlarms«, einer Initiative von über 300 Nichtregierungsorganisationen, auf die Verabschiedung des »Arms Trade Treaty« (ATT) hinzuwirken – den ersten internationalen Vertrag über den internationalen Waffenhandel. Mit der »One Million Faces«-Kampagne übergaben sie 2006 eine Petition an den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, für die sich über eine Millionen Menschen aus 160 Ländern hatten fotografieren lassen. Auch hier wurde ein weiterer Meilenstein erreicht: Geschlechtsspezifische Gewalt wird im Vertragswerk zum ersten Mal als Ausschlussgrund für Waffenexporte festgeschrieben. Der ATT trat 2013 in Kraft und wurde bisher von 113 Staaten ratifiziert.

Ausblick: Wohin mit dem Protest

Derzeit gibt es global eine Vielzahl von Auseinandersetzungen und Konflikten, die auf den ersten Blick ausschließlich militärisch zu lösen sind. Die Annahme, dass sie eine weitere Aufrüstung erfordern, ist folglich nicht überraschend. Doch wird dabei oftmals vergessen, dass sich die Welt in einer Epoche von Polykrisen befindet und nachhaltiger Frieden notwendiger ist denn je. Der fehlende Zugang zu essentiellen Infrastrukturen und Versorgungssystemen, wie Trinkwasser- und Energieversorgung, zu Bildung und einem Gesundheitssystem oder einem funktionierenden Rechtsstaat, hat massive Auswirkungen auf die Menschen. Ein derartig mangelhafter Zugang nimmt ihnen jegliches Gefühl von Sicherheit und Vertrauen und erodiert somit die Basis für einen nachhaltigen Frieden.

Die nachhaltige Friedensbewegung von heute umfasst Menschen, die mit allen Mitteln ihre Demokratie, diesen Planeten und Menschenrechte verteidigen. Sie verstehen, dass wir diese Welt nicht primär mit Waffen sicherer machen können. Das zivilgesellschaftliche Engagement für eine effektive Rüstungsexportkontrolle – durch Gesetzesinitiativen, Lobbyismus, durch die Schaffung von Kontrollverträgen, Skandalisierung und durch Strafanzeigen – hat gezeigt, wie viel mit Aktivismus erreicht werden kann. Nur mit vereinten Kräften und gemeinsamem Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit können wir den vielen Krisen gleichzeitig trotzen. Dafür bedarf es auch weiterhin der Proteste und des Widerstands gegen Waffenexporte und der dauerhaften kritischen Begleitung der Versuche, Exportkontrollmaßnahmen zu verwässern und gleichzeitig immer weiterer Bereiche unseres Lebens zu versicherheitlichen.

Anmerkungen

13) Mehr zum Fall findet sich auf der Homepage von Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/frieden/deutsche-firma-liefert-technik-
kriegsschiff-myanmar.

14) Mehr zu diesem Fall bei Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/ueber-uns/leitbild/exporte-embargo.

15) Dies bildet auch den Willen der deutschen Bevölkerung ab. So gaben 2019 in einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Greenpeace 81%
der Bundesbürger*innen an, gegen Waffenexporte von Deutschland an alle am Jemen-Krieg beteiligten Länder zu sein. Auch 74% der Unionswähler*
innen sowie 82% der SPD-Wähler*innen unter den Befragten waren dagegen.

16) Zu dieser Umfrage siehe: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

17) Dieser Gesetzentwurf findet sich hier: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

18) Der offene Brief ist unter anderem dokumentiert bei der Aktion gegen den Hunger, https://www.aktiongegendenhunger.de/presse/40-organisationen-fordern-ruestungsexportstopp-jemen-kriegsparteien.

Anna von Gall ist Campaignerin bei Greenpeace Deutschland und leitet das europäische Projekt »Climate for Peace«. Sie ist Volljuristin und hat über zehn Jahre an (juristischen) Strategien gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen und an der Überwindung tief verwurzelter Geschlechterungleichheiten gearbeitet. Seit September 2019 arbeitet Anna bei Greenpeace zu den Themen Frieden und Waffenexporte, feministische Außenpolitik und menschliche Sicherheit.

Literatur

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Das Problem mit der KI. Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist | Seite 11

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Drohnenkrieg in der Ukraine

Drohnenkrieg in der Ukraine

Fakten und erste Folgenabschätzung

von Hans-Jörg Kreowski

Am 24. Februar 2022 hat Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, der den seit 2014 anhaltenden Krieg in Teilen der Ostukraine auf das ganze Land ausweitete. Zum Einsatz kommen nahezu alle verfügbaren konventionellen Waffensysteme. Von beiden Kriegsparteien werden aber mit unbemannten Luftfahrzeugen auch neuartige Systeme eingesetzt, die erst seit Kurzem zum Waffenarsenal auf dem Schlachtfeld gehören. Diese teils bewaffneten, teils unbewaffneten Drohnen spielen eine nicht zu unterschätzende, aber begrenzte Rolle in diesem Krieg, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll.

Die Geschichte der Drohnenkriegsführung ist eine kurze Geschichte. Unbemannte Waffensysteme knüpfen zwar an ferngelenkte Waffen an, deren Militärgeschichte weiter zurückreicht – die tatsächliche Entwicklung ist allerdings in den letzten 30 bis 40 Jahren geschehen. Ein bedeutender Ausgangspunkt für die Entwicklung unbemannter Waffen war die auf zehn Jahre ausgelegte Strategic Computing Initiative (SCI) der USA, in der ab 1983 mit mehreren hundert Mio. US$ Forschungskapital auf der Basis Künstlicher Intelligenz unter anderem autonome Landfahrzeuge entwickelt werden sollten. Auch wenn SCI Ende der 1980er Jahre als gescheitert galt, ging die Entwicklung von unbemannten Vehikeln und insbesondere von unbemannten Luftfahrzeugen von da an weiter, so dass neben Aufklärungsdrohnen auch Killerdrohnen am Anfang des 21. Jahrhunderts einsatzbereit waren und inzwischen viele tausend Einsätze in Afghanistan, Pakistan und mehreren anderen Kriegsschauplätzen der Welt hinter sich haben. Dem »Krieg gegen den Terror« der USA und ihrer Verbündeten sind in völkerrechtswidriger Weise vor allem auch tausende Zivilpersonen zum Opfer gefallen. Dass Kampfdrohnen mittlerweile auch in einem Krieg zwischen zwei regulären Armeen ein entscheidender Faktor sein können, hat sich spätestens 2020 im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gezeigt. Hier konnten die angreifenden Truppen Aserbaidschans durch Einsatz unbemannter Waffensysteme – in diesem Fall der türkischen Kampfdrohne »Bayraktar TB2« – Übermacht gegenüber den armenischen Truppen erlangen.

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine offenbart sich nun, dass es inzwischen eine breite Palette kriegsverwendbarer Kampf- und Aufklärungsdrohnen gibt. Die dazu verfügbaren Informationen sind mit einiger Vorsicht zu genießen, weil sie mit Propaganda, Über- und Untertreibung und Irreführung gemischt sind und so manches geheim gehalten wird. Dennoch zeichnet sich erkennbar ab, dass mit den verschiedenen Typen der Drohnen ein neues Waffensystem in das ohnehin schon weitgefächerte Arsenal der Tötungsmaschinerie eingefügt worden ist.

Drohnen auf Seiten der Ukraine

Die größte mediale Aufmerksamkeit hat die von der Ukraine eingesetzte Kampf- und Aufklärungsdrohne »Bayraktar TB2« erfahren – dies betraf die umstrittene Anschaffung und erst recht die militärische Kampfverwendung in den Jahren 2019 und 2020. Sie wird von der türkischen Rüstungsschmiede Baykar Defense hergestellt und für rund 5 Mio. Euro pro Stück verkauft. Ihr Erstflug war 2014. Sie fliegt vollautonom, kann 24 Stunden in mittlerer Höhe in der Luft bleiben, hat eine Reichweite von rund 150km und lässt sich mit lasergelenkten »Minibomben« mit einem Gewicht zwischen 6 und 22kg oder Luft-Boden-Panzerabwehrraketen bewaffnen.1 Die Ukraine hat bereits 2019 die ersten sechs TB2-Drohnen beschafft und vor allem zu Aufklärungszwecken gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine eingesetzt. Zu Beginn des russischen Angriffs verfügte die Ukraine über mindestens 20 (eher zwei- oder dreimal so viele) dieser Drohnen, die anscheinend anfangs auch sehr erfolgreich bei der Erstellung von Lagebildern und direkt gegen russische Panzer und Artillerie eingesetzt wurden. Das ist etwas überraschend, weil solche Drohnen relativ langsam und niedrig fliegen und deshalb vergleichsweise leicht von Flugabwehrsystemen abgeschossen werden können. In den ersten Kriegswochen hatte die russische Seite damit anscheinend einige Probleme, zumal die TB2 gegenüber sonstigen Drohnen dieser Art klein ist und deshalb vom Radar schwerer zu erfassen. Inzwischen konnte aber die russische Seite eine ganze Reihe TB2-Drohnen abschießen, so dass mit ihnen in letzter Zeit wohl wesentlich weniger Wirkung zu erzielen war.

Daneben sind auch viel kleinere Drohnen im Einsatz. So haben die USA der Ukraine in den ersten Kriegswochen Drohnen vom Typ »Puma« und »Switchblade« zur Verfügung gestellt, die beide vom US-Unternehmen AeroVironment hergestellt werden. Puma ist eine Leichtgewichtsdrohne in Form eines Modellflugzeugs mit einer Reichweite von 20 bis 60km, die bis sechs Stunden in der Luft bleiben kann und der Aufklärung dient. Switchblade ist eine Kamikaze-Drohne, von denen die Ukraine mehrere hundert Stück geliefert bekommen hat. Sie passt in einen Rucksack und wird aus einem Rohr abgeschossen. Die größere Version wiegt 15kg, fliegt bis zu 40 Minuten, hat eine Reichweite von 40km, und ihr Gefechtskopf kann gepanzerte Fahrzeuge zerstören. Sie kann per Tablet ferngesteuert werden oder autonom in einem vorgegebenen Gebiet eigenständig Ziele suchen. Wird der Abschuss freigegeben, stürzt sie sich in ihr Ziel. Ansonsten zerstört sie sich selbst nach Ablauf der 40 Minuten. Der besondere Vorteil gegenüber sonstigen Granaten ist, dass ihr Ausgangspunkt vom Gegner nicht zurückverfolgt werden kann.

Darüber hinaus ist eine ganze Reihe von Drohnen aus ukrainischer Eigenentwicklung im Einsatz. Sie sind relativ klein, in der Art größerer Modellflugzeuge, und haben teilweise sehr einfache Sprengladungen, die über den erreichten Zielen abgeworfen werden. Dennoch deuten Berichte darauf hin, dass sie als Aufklärungsdrohnen bei der Zielermittlung für Artilleriestellungen zeitnah sehr brauchbare Lagebilder liefern. Es heißt auch, dass der Einsatz kleiner Drohnen in den ersten Tagen des Krieges maßgeblich geholfen hat, die 60km lange Panzerkolonne der russischen Armee zu stoppen und die Einnahme eines Flughafens nahe Kiew zu verhindern – ein herber Rückschlag für die russischen Angreifer.

Drohnen auf Seiten Russlands

Die russische Seite verfügt ebenfalls über ein ganzes Arsenal an Drohnen – über die zur Verfügung stehende Anzahl kann nur spekuliert werden, da es keine Einsicht in die entsprechenden Produktionszahlen der russischen Seite gibt. Dazu gehören taktische Drohnen wie die »Forpost-R« und die »Orlan-10«. Die Forpost-R-Drohne wird in Russland mit einer israelischen Lizenz gebaut. Sie ist etwas kleiner als die TB2, hat aber ähnliche technische Eigenschaften. Sie war ursprünglich nur für Aufklärungszwecke vorgesehen, kann inzwischen aber mit einer Lenkrakete bewaffnet werden und wurde bereits gegen eine ukrainische Raketenstellung eingesetzt. Die Orlan-10 ist eine kleine Drohne aus russischer Entwicklung, die seit 2010 produziert wird. Sie hat eine mittlere Reichweite von 120km bei Fernsteuerung und bis zu 1.000km bei autonomem Flug, und kann für viele Aufgaben rund um Überwachung und Aufklärung eingesetzt werden. Zumindest in der Kriegsphase zwischen 2016-2020 wurde sie bei der elektronischen Kriegsführung eingesetzt, beispielsweise zum Versenden von drohenden, einschüchternden oder irreführenden Meldungen an die ukrainischen Soldaten (DRF Lab 2017). Die russische Armee verfügt außerdem mit der »Orion« auch über eine Aufklärungs- und Kampfdrohne, ähnlich der TB2 auf ukrainischer Seite. Sie wird von der Kronstadt Group gebaut und ist erst seit Kurzem im Einsatz. Erwähnenswert ist auch die vom Kalaschnikow-Konzern hergestellte Kamikaze-Drohne »KUB-BLA«, die mit mehr als 100km/h 30 Minuten lang fliegen und drei Kilogramm Sprengstoff mit sich führen kann. Sie dient der Bekämpfung entfernter Bodenziele – auch sie stürzt sich in ihr Ziel. Es wird vermutet, dass diese Drohne bereits mit einem Modus ausgestattet ist, der sie vollständig autonom agieren lässt.

Trotz der Investition von umgerechnet mehreren Milliarden US$ in die Entwicklung und Produktion von russischen Drohnen in den letzten zehn Jahren sieht es danach aus, dass ihre Verfügbarkeit eingeschränkt ist, dass sie nur selten eingesetzt werden und sie keine sonderlichen Wirkungen erzielen (vgl. hierfür Bode und Nadibaidze 2022). Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich das seit der Annexion der Krim gegen Russland bestehende Handelsembargo für technologische Güter und insbesondere hochwertige Elektronik an dieser Stelle mittlerweile als wirksam erweist. Ein weiteres Indiz in diese Richtung ist, dass bei der Untersuchung abgeschossener russischer Drohnen improvisierte und eigentlich zivile Bauteile entdeckt wurden.

Drohnen einer dritten Seite

Eine weitere Drohne spielt in diesem Krieg vermutlich eine sehr spezifische Rolle: die Riesendrohne »Global Hawk«. Sie wird von keinem der beiden Kriegsgegner eingesetzt, sondern von den US Air Force und der NATO. Sie kann 24 Stunden lang autonom in bis zu 20km Höhe fliegen und während eines Einsatzes mit hochauflösenden Kameras und Seitensichtradar ein Gebiet der Größe Österreichs überwachen. Die Global Hawk wird schon seit 2015 regelmäßig eingesetzt, um russische Truppenbewegungen nahe der Ukraine zu beobachten. Es wird vermutet, dass die ukrainische Militärführung von der NATO großflächige und präzise Lagebilder zur Verfügung gestellt bekommt (siehe z.B. Monroy 2022, Wiener Zeitung 2022). Die Drohne hat keine aktive Kampffähigkeit.

Eine noch sehr vorläufige Bilanz

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine werden von beiden Seiten Aufklärungs- und Kampfdrohnen eingesetzt, wobei die bewaffneten Drohnen eher keinen entscheidenden Faktor darstellen. Aufklärungsdrohnen scheinen dagegen eine wichtige Rolle bei der Erstellung von präzisen Lagebildern und der Zielfindung – und damit für den gezielten Einsatz konventioneller Waffen – zu spielen. Drohnen tragen also zur Effizienzsteigerung der konventionellen Kriegsführung bei und werden von allen Kriegsparteien verwendet. Sie stellen insofern also keine Ausnahme mehr dar. Vermutlich werden sie durch ihre Aufklärungskapazitäten eher zu einer Verlängerung der Kampfhandlungen in der Ukraine beitragen, da Kriegsparteien sich schneller einen Überblick über die Lage verschaffen können und eine Einschätzung zur Sinnhaftigkeit der Aufrechterhaltung einer Kampfhandlung treffen können. Ganz im Gegensatz zur Erzählung von »chirurgischer Präzision« und »Lufthoheit« sind unbemannte Luftfahrzeuge erwartbar vor allem eine Erweiterung der Artilleriekapazitäten einer Kriegspartei. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch weder humaner noch schneller beendet werden können.

Nach den Erfahrungen im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien und vorher schon in Syrien und Libyen werden bewaffnete und unbewaffnete Drohnen auf den Schlachtfeldern der Zukunft ein integrales Element der Kriegsführung im Gesamtarsenal der Tötungsmaschinerie sein – mit wachsender Bedeutung, wie der aktuelle Krieg unter Beweis stellt. Der österreichische Oberst des Generalstabsdienstes sagt: „Drohnen sind im Gefecht nicht mehr wegzudenken.“ (Berliner Zeitung 2022, S. 2) Das gilt umso mehr, als ihr Einsatz die eigenen Soldat*innen nicht unmittelbar gefährdet. Denn bei einer fliegenden Drohne lässt sich ihr Ausgangspunkt nicht bestimmen.

Es gibt inzwischen ein breites Angebot an Drohnen, wobei insbesondere die kleinen, aber sehr wirkungsvollen Drohnen billig und vergleichsweise leicht zu bauen und zu beschaffen sind. Nicht nur sehr viele Staaten der Welt können sich das leisten, sondern auch Rebellen- und Terrorgruppen. Es gibt also ein eklatantes und hochgefährliches Proliferationsproblem. Diesen Geist hätte man nie aus der Flasche lassen dürfen.

Wider das globale Drohnen-Wettrüsten

Da sich Politik und Militär in vielen Ländern der Welt von Kriegsdrohnen eine militärische Überlegenheit versprechen, hat in diesem Bereich ein Rüstungswettlauf begonnen, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind. Eine tatsächliche oder vermeintliche Überlegenheit durch die Verfügbarkeit von Drohnen könnte die Schwelle zu militärischen Abenteuern senken. Es könnte sich aber auch herausstellen, dass bewaffnete Drohnen gar nicht sonderlich taugen, wenn der Gegner über eine funktionierende Luftabwehr verfügt.

Drohnen sind besonders perfide Waffen, weil sie allein durch ihre Präsenz im Luftraum des Einsatzgebiets über einen längeren Zeitraum hinweg die in der Nähe befindlichen Soldat*innen und Zivilpersonen in Angst und Schrecken versetzen können – wie unter anderem Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak gezeigt haben.

Zudem wird mit Hochdruck an vollautonomen Systemen gearbeitet. Es muss davon ausgegangen werden, dass bei einigen Drohnentypen solche Entscheidungsprogramme längst installiert sind und vielleicht sogar inoffiziell bereits aktiviert wurden – trotz aller ethischer Bedenken. Und was nicht ist, kann noch werden (vgl. Kreowski et al 2021; Altmann et al. 2020; Fuchs et al. 2020).

Auf UN-Ebene wurde daher die »Group of Govermental Experts on Lethal Autonomous Weapons« gebildet, zu der über 100 Staaten gehören und die seit 2017 jährlich für rund zwei Wochen in Genf formell über ein Verbot tödlicher autonomer Waffen berät. Da die USA, viele weitere NATO-Staaten, Russland, China und andere gegen ein Verbot votieren, werden die Verhandlungen bestenfalls auf eine Regulierung hinauslaufen. Das ist deshalb besonders enttäuschend, weil die aufgeführten Argumente zum Proliferationsproblem, zum Drohnenrüstungswettlauf und zur abgesenkten Kriegsschwelle bei der Verfügbarkeit von Kriegsdrohnen ein Verbot nahelegen. Und das gilt nicht nur für letale autonome Drohnen, sondern auch für teilautonome Killerdrohnen sowie Aufklärungs- und Zielfindungsdrohnen, die direkt mit tödlichen Waffen gekoppelt sind. Denn diese drei Formen von Kriegsdrohnenverwendung unterscheiden sich in ihrer Wirkung kaum voneinander.

Anmerkung

1) Im Folgenden stammen technische Informationen zu einzelnen Drohnentypen überwiegend aus öffentlich dazu einsehbaren Quellen. Von einzelnen Belegen wird daher abgesehen. Ansonsten stützt sich der kurze Abriss zum Drohneneinsatz auf russischer und auf ukrainischer Seite auf die lesenswert detaillierte IMI-Studie 3/2022 von Marischka (2022) und dem c’t-Artikel von Bode und Nadibaidze (2022), soweit kein anderer Verweis angegeben ist. Beide Publikationen sind umfangreich recherchiert.

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Berliner Zeitung (2022): Kompaktes Kriegsgerät. 20.06.2022, S. 2.

Bode, I.; Nadibaidze, A. (2022): Autonome Drohnen und KI-Waffen im Ukraine-Krieg. c’t 2022, Heft 10, S. 128-131.

DRF Lab (Atlantic Council Digital Forensic Research Lab) (2017): Electronic warfare by drone and SMS. How Russia-backed separatists use “pinpoint propaganda” in the Donbas. Blogbeitrag @DRFLab auf Medium.com, 18.05.2017.

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Marischka, Ch. (2022): Drohnen im Ukraine-Krieg. Technologietransfer als Gamechanger – und Kriegsgrund? IMI-Studie 2022/03. Tübingen: Selbstverlag, 26.02.2022.

Monroy, M. (2022): NATO-Spionagedrohnen machen Überstunden. Netzpolitik.org, Blogbeitrag, 23.05.2022.

Wiener Zeitung (2022): Ukraine-Krise: Russischer Sand im diplomatischen Getriebe, 21.02.2022.

Hans-Jörg Kreowski ist Professor (i. R.) für Theoretische Informatik an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im Vorstand des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) im Vorstand von W&F.

Militär- und Atommacht China


Militär- und Atommacht China

Knappe Analyse des militärischen Profils

von Lutz Unterseher

China ist die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. In den letzten Dekaden wurde stetig aufgerüstet und das technologische Niveau der Rüstungsgüter hat sich sehr gesteigert. Doch ist das Nuklearwaffen­arsenal immer noch um ein Vielfaches kleiner als das Russlands und der USA, vor wenigen Jahren noch war es nicht größer als das Frankreichs, weniger als 300 nukleare Gefechtsköpfe. Diese Asymmetrie ist im Gesamtzusammenhang von militär­strategischen Überlegungen, zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Streitkräftestruktur als Ganzem zu erklären.

Die Weltbank gibt für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas, in Kaufkraft gerechnet, bezogen auf das Jahr 2020 einen Umfang von gut 24,27 Bio. US$ an (Weltbank 2021). Auf dem zweiten Platz rangieren die Vereinigten Staaten mit ca. 20,94 Bio. US$. Bei den Militärausgaben liegen die USA jedoch vorn (Angaben für 2020): mit 778 Mrd. US$ zu »nur« gut 350 Mrd. US$ (kaufkraftbereinigt). Somit liegt der militärische Sektor Chinas etwas unter der Hälfte des US-amerikanischen Aufwands.

Bei der Truppenstärke zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Während China fast 2,2 Mio. aktive Militärpersonen hat, sind es in den USA 1,4 Mio. (Mendelson 2021). Legt man die Militärausgaben auf die Truppen um, entfallen also in den USA viel mehr Mittel auf die einzelne Militärperson. Selbst wenn angenommen wird, dass in China die militärischen Personalkosten deutlich niedriger sind als in den USA, spricht dies für einen erheblich höheren Technisierungsgrad der US-Streitkräfte. Das lässt eine deutlich höhere Kampfkraft der US-Streitkräfte vermuten. Allerdings nur dann, wenn ausgeblendet wird, dass einige Kriegsszenarien unserer Tage eher robuste, einfache Strukturen und Ausrüstungskonzepte als Hochtechnologie verlangen.

In den USA machen die Militärausgaben 3,7 % des BIP aus, während es in China etwa 1,5 % sind. Dies spricht dafür, dass – zumindest bisher – die Führung in Beijing den Schlüssel zur Weltgeltung eher in wirtschaftlicher Macht gesehen hat als in militärischer Rüstung. Ebenso hat man in China vor einigen Jahren erkannt, dass direkte zivile Investitionen in eine Volkswirtschaft einen höheren Multiplikatoreffekt haben als der Umweg über die Rüstung (Chalmers 1985).

Gleichwohl hat sich das offizielle Militärbudget Chinas von 1994 bis 2014 um das Fünfzehnfache erhöht (Unterseher 2020, S. 27). Dabei hat sich der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht erhöht, der Anstieg folgte dem Gesamtwachstum des chinesischen BIP, das zeitweilig Raten im zweistelligen Bereich aufwies. Diese Zunahme hat sich sehr deutlich in der Ausstattung der Streitkräfte niedergeschlagen, wie im folgenden gezeigt werden wird.

Künftig dürfte das BIP Chinas moderater, aber doch deutlich schneller als beispielsweise das der USA wachsen, auch weil die Pandemie besser überwunden wurde. Vorausgesetzt ist innenpolitische Stabilität, die angesichts soziostruktureller Brüche nicht ohne Fragezeichen ist. Aus Sicht der chinesischen Führung braucht China nur abzuwarten. Wegen des höheren Gesamtwachstums werden in 15 Jahren die Streitkräfte Chinas wohl absehbar die am besten alimentierten der Welt sein.

Atomwaffen und Atomwaffenpolitik Chinas

China ist eine der fünf offiziellen Atommächte. Die landgestützten Träger von Atomwaffen stehen unter dem Kommando der Raketenstreitmacht der Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army Rocket Force: PLARF) – mit einer Personalstärke von 120.000 (IISS 2019, S. 257). Diese hat auch operativen Zugriff auf die Kernwaffenträger, die in die See- und Luftstreitkräfte integriert sind. Die PLARF gliedert sich in 30 Brigaden, was für eine robuste Dezentralisierung spricht.Mit einer in der Fläche verteilten Dislozierung soll es offenbar einem Angreifer erschwert werden, das Abschreckungspotential auszuschalten. Hierzu passt, dass neuerlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, Langstreckenraketen „gehärtet“ unterzubringen: also in Silos (Sarcasticus 2021).

Hinzu kommen vier strategische Radar-Großanlagen und zahlreiche Stationen zur Verfolgung der Flugbahn. Schätzungen von SIPRI-Forschern ergaben, dass China 2019 über ca. 190 landgestützte Atomraketen verfügte (Kristensen und Korda 2019, S. 2): ein Sammelsurium von Typen zum Teil älteren Konstruktionsjahrs mit Reichweiten zwischen 1.750 bis 13.000 km

Jüngere Typen sind zum Teil landbeweglich. Es befindet sich eine Rakete mit Reichweiten zwischen 12.000 und 15.000 km in der Erprobung, die mehrere Gefechtsköpfe tragen kann und Penetrationshilfen zur Überwindung der feindlichen Abwehr aufweist. Mit ihr dürften zukünftig ältere Systeme in begrenzter Zahl ersetzt werden (Unterseher 2020, S. 65).1

Zum Atompotential zählten 2019 auch ca. 20 inzwischen modernisierte mittlere H-6-Bomber älterer sowjetischer Herkunft (bestückt mit je einer Kernwaffe) sowie vier Atom-U-Schiffe (besonders große U-Boote) mit zusammen bis zu 48 Raketen. Inzwischen werden die H-6-Bomber mit jeweils sechs weitreichenden nuklearen Marschflugkörpern DH 10 ausgestattet. Insgesamt gab es 2019 einschließlich einer Reserve etwa 290 Gefechtsköpfe (Kristensen und Korda 2019). Allerdings wurden für 2020 bereits 320 atomare Sprengsätze gemeldet (Sarovic 2020) und 2021 nennt eine Quelle sogar 350 (Statista 2021a).

Trotz dieses Anstiegs ist Chinas Atomarsenal bislang noch bescheiden. Vergrößerung und Modernisierung erscheinen als Stückwerk, als hätte dies nicht höchste Priorität. Das spricht dafür, dass die Führung bislang dem Konzept der Minimalabschreckung anhängt (Feiveson 1989): China geht davon aus, dass Kernwaffen nicht zur Kriegführung taugen, das Konzept der Eskalationskontrolle samt »Enthauptungsoptionen« also irrig ist, womit Atomwaffen einzig eine Rückversicherung gegenüber atomarer Bedrohung bieten können.

Die USA und Russland dagegen verfügen trotz einiger Abrüstungsschritte immer noch über große Arsenale: jeweils zwischen 5.500 und 6.300 Sprengköpfen insgesamt sowie jeweils um 1.550 für den »sofortigen Gebrauch« (Sarovic 2020).

Für eine chinesische Orientierung am Konzept der Minimalabschreckung spricht auch die fehlende strategische Raketenabwehr, die zu einem Nuklearwaffenarsenal für Zwecke der Kriegführung gehören müsste, um es in seinen Optionen noch glaubwürdiger zu machen (Sloss 1989). Entwicklungsarbeiten in dieser Richtung lassen sich jedenfalls nicht erkennen.

„In Peking wird befürchtet, die von Washington betriebene Entwicklung von Kapazitäten zur Aufklärung, Überwachung und zum ‚conventional prompt strike‘ sowie der Aufbau von Raketenverteidigungssystemen könne die chinesische Zweitschlagsfähigkeit gefährden“ (Rudolf 2018, S. 18). Darum ist wohl eine vorsichtige Vergrößerung des strategischen Arsenals Chinas im Gange (ebd., S. 19). Sie geht einher mit Modernisierung und Diversifizierung: Raketen auf U-Schiffen, Wirkungssteigerung der landgestützten sowie Flexibilisierung der luftgestützten Mittel (Goldstein 2019a, S. 4ff): eine »Triade« nach US-Vorbild – doch auf niedrigerem Niveau.

Die Konventionelle Komponente

Der PLARF unterstehen nicht nur Atomwaffenträger, sondern auch ballistische Raketen mittlerer (80 Systeme) und kürzerer Reichweite (200) sowie landgestützte Marschflugkörper (30), die konventionell bewaffnet sind. China hätte die Ressourcen, um atomar deutlich aufzurüsten. Doch wird der Schwerpunkt erkennbar auf jene Elemente gelegt, von denen man Anwendbarkeit und realen Machtgewinn erwartet.

Die Landstreitkräfte schrumpften von gut drei Millionen in Uniform vor 40 Jahren auf knapp eine Million (IISS 1983, S 84, IISS 2019, S. 257). Dieser Prozess war mit Strukturverbesserungen verknüpft, wie der Einführung eines Brigade/Korps- statt des alten Regiment/Division-Systems.

Die technische Erneuerung jedoch kam nicht so schnell voran. China hat zwar nach den USA die zweitgrößte Panzerflotte im aktiven Dienst (Unterseher 2020, S. 113). Doch ist noch erst ein knappes Viertel davon als modern zu bezeichnen – ohne jedoch den westlichen Standard ganz zu erreichen. Bemerkenswert ist die Leistungssteigerung bei den Kampfschützenpanzern (Träger der »Panzerbegleitinfanterie«). Diese haben an Zahl stark zugenommen und einen hohen technologischen Standard erreicht (ebd., S. 40f.).

Wenn noch die mechanisierte Artillerie (»mechanisiert«: beweglich und gepanzert) vermehrt und weiter verbessert wird, sind die Voraussetzungen für den »Kampf der verbundenen Waffen« erfüllt – womit sich die Stoßkraft der chinesischen Landstreitkräfte bedeutend erhöhen würde. Zeitgemäß spielen luftverlegbare Kräfte und Spezialeinheiten eine zunehmend wichtige Rolle.

Zum Schutz eigenen Territoriums dürfte diese Streitmacht mehr als hinreichen. Dabei verrät die Dislozierung, dass es vor allem auch um die Sicherung des Machtzentrums geht. Erst danach scheinen Szenarien zu rangieren, die sich – in dieser Reihenfolge – auf Nordkorea, Taiwan, Vietnam und Indien beziehen. Die verschiedenen Gruppen von Armeen (bzw. Korps) sind entsprechend der angegebenen Brennpunkte bzw. Stoßrichtungen stationiert: in der Nähe Beijings und gegenüber den erwähnten Nachbarn. Dabei fällt auf, dass vor allem die Truppen in der Nähe des Machtzentrums, aber auch die in der Mandschurei (Richtung Korea) mehr schwere, gepanzerte Kräfte aufweisen als die in den anderen Stationierungsgebieten.

Die Seestreitkräfte, mit rund 250.000 Uniformierten, erneuern schrittweise ihre U-Flotte, wobei immer noch technische Hürden zu nehmen sind (beispielsweise bei der Geräuschdämpfung). Der Schwerpunkt lag bisher aber eher auf der Sicherung des weiteren Küstenvorfeldes durch modernste Raketenschnellboote als Voraussetzung für die Dominanz größerer Einheiten im Ost- und Südchinesischen Meer (vgl. Hoering in dieser Ausgabe) – sowie darüber hinaus bis hin zur weltweiten Präsenz. Das heißt, dass man eine »sichere« Basis geschaffen hat, von der aus weiterreichende Ambitionen zu realisieren sind.

Seit 2012 verfügte China über einen Flugzeugträger (Unterseher 2020, S. 45ff., 108f.), inzwischen hat die Volksrepublik zwei Flugzeugträger in Dienst, mindestens ein weiterer ist im Bau. Während in China 2019 zehn Zerstörer vom Stapel liefen, waren es in den USA nur einer sowie allerdings noch sechs kleinere neuartige Schiffe für den küstennahen Kampfeinsatz (»Littoral Combat Ships«). Ab 2020 lief der chinesischen Marine eine Serie von sieben »Superzerstörern« im Kreuzerformat (Typ 055) zu, die für weltweite Operationen geeignet sind. Die im Ausbau befindliche Marine-Infanterie – weit kleiner als die US-Marines – scheint auf die Küsten Taiwans, aber auch Vietnams, sowie die Inseln im Südchinesischen Meer hin orientiert zu sein.

China verfügt bisher nur über einen Stützpunkt im Ausland – Dschibuti am Indischen Ozean zur Sicherung der Afrika-Route, während die USA hunderte solcher Vorposten betreiben. Dies dürfte frustrierend sein, strebt man doch offenbar langfristig eine weltweite maritime Präsenz an (Goldstein 2019b). Es gibt also einen empfundenen Nachholbedarf Chinas, der eine expansive Außenpolitik erfordert.

Die Luftstreitkräfte, mit einer Personalstärke von ca. 400.000, haben die weltweit zweitgrößte Flotte von taktischen Kampfflugzeugen. Starkes Augenmerk gilt den Jagdbombern bzw. Mehrzweckflugzeugen (Unterseher 2020, S. 53f.). Hier wurde mit dem Typ J-10 technologisch Weltniveau erreicht. Dieses Potential ist eine Herausforderung für alle Anrainer. Diese liegen innerhalb des Aktionsradius des chinesischen taktischen Luftpotentials. Es mangelt allerdings noch an weiträumiger Vernetzung und Luftbetankungskapazität, um etwa auch für US-Fliegerkräfte bedrohlich zu sein.

Die bodengestützte Flugabwehr ist stark, womit angezeigt wird, dass die Luftstreitkräfte auf Balance achten, sich also nicht nur dem Angriffsdenken und seinen Risiken verschreiben. Ein Lenkwaffentyp dürfte nach Verbesserungen zur Bekämpfung taktisch-operativer ballistischer Raketen geeignet sein.

Cyber War und Weltraum-Aktivitäten

Das chinesische Konzept für den Informationskrieg ist das der ganzheitlichen Koordination von Land-, See-, Luft-, Weltraum- und elektromagnetischen Komponenten. Seit 2008 sind größere militärische Übungen Chinas durch integrale Elemente des Cyber Warfare gekennzeichnet. 2015 wurde die SSF (Strategic Support Force) geschaffen, sie verfügt über 120.000 Militärpersonen (IISS 2019, S. 258f.).

Diese hat vermutlich drei Säulen, deren erste der Informationsbeschaffung im Cyber Space zum Zweck militärischer Planung dient. Die zweite ist für Operationen im Weltraum zuständig und nutzt dazu Erdsatelliten unterschiedlicher Funktion, während die dritte mit offen­siver wie defensiver elektronischer Kriegsführung sowie Aufklärung befasst ist. China hat dazu mittlerweile über hundert Erdtrabanten für den vorwiegend militärischen Gebrauch (ebd., S. 259): sechs Kommunikationssatelliten, mehr als 30 zu Zwecken von Navigation bzw. Orts- und Zeitbestimmung, fast 50 für die strategische Radar- und Infrarot-Aufklärung sowie weitere Satelliten mit ELINT/SIGINT-Aufgaben (Electronic/Signal Intelligence).

Perspektiven für Rüstungs­kontrolle und Abrüstung

Zumindest verbal ist das Land bereit, „alle Fragen der strategischen Stabilität, nuklearer Risiken und Abrüstung zu erörtern“. Dennoch beteiligt sich Beijing beispielsweise nicht an den Wiener Verhandlungen über eine Nachfolgevereinbarung zum New-Start-Vertrag der USA und Russland (Krüger 2020, S. 2).

Dass Chinas Atomarsenal keinerlei Kontrolle unterliegt, stößt international auf Kritik. Allerdings wäre es höchst problematisch, wenn im Zuge der Beteiligung an Verhandlungen der Volksrepublik eine begrenzte »Nachrüstung« zugestanden würde. Das wäre Rüstungskontrolle, die Abrüstung sabotiert. Vor allem, wenn mit dieser Aufrüstung die Hinwendung Chinas zum wahnwitzigen atomaren Kriegführungsdenken einherginge.

Bleibt die konventionelle Ebene: Auch hier sind die Chancen für ein Einlenken Beijings in Rüstungskontrollverhandlungen eher schlecht. China verwendet das große Potential, neben der innenpolitischen Funktion, zur Machtprojektion in der Region und darüber hinaus. Der völkerrechtswidrige Anspruch auf das Südchinesische Meer ist für Beijing nicht verhandelbar. Kaum vorzustellen auch, dass man mit Taiwan Rüstungskontrollverhandlungen führt, die ja dessen Unabhängigkeit unterstreichen würden.

Anmerkung

1) Seltsam ist, dass Flüssigkeits- und Feststoffantrieb immer noch koexistieren, auch bei neueren Modellen – erhöht doch Feststoffantrieb die Reaktionsfähigkeit der Flugkörper erheblich.

Literatur

Chalmers, M. (1985): Paying for Defence: Military Spending and British Decline. London: Pluto.

Sarovic, A.(2020): SIPRI-Jahresbericht: Forscher warnen vor neuem Atomwettrüsten. Der Spiegel, 15.06.2020.

Feiveson, H. (1989): Finite Deterrence. In: Shue, H. (Hrsg.): Nuclear Deterrence and Moral Restraint, Cambridge: Cambridge University Press, S. 271-292.

Goldstein, L. (2019a): Why a new missile arms race with China might not be worth the cost. The National Interest, 20.12.2019.

Goldstein, L. (2019b): Why China Wants its Navy to Patrol the Atlantic Ocean. Is this a problem for Washington? The National Interest, 25.12.2019.

Mendelson, B. (2021): Die Länder mit den größten Armeen, Handelsblatt, 10.05.2021.

IISS (1983): The Military Balance 1983-84, Oxford: Oxford University.

IISS (2019): The Military Balance 2019-2020, Oxford: Oxford University.

Kristensen, H. M. Korda, M. (2019): World Nuclear Weapon Stockpile, Waterloo/Ontario: Ploughshares.

Krüger, P.-A. (2020): Schlachtfeld Weltraum, Süddeutsche Zeitung (online), 28.07.2020.

Rudolf, P. (2018): Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten. SWP-Studie, 11.05.2018.

Sarcasticus (2021): Chinas Silomania, Das Blättchen, Ausgabe 21/11.10.2021.

Sloss, L. (1989): The case for deploying strategic defenses, In: Shue, H. (Hrsg.): a.a.O., S. 343-380.

Statista (2021a): Atomwaffen – Anzahl weltweit, Statista Research Department (online).

Unterseher, L. (2020): Militärmacht China. Berlin: Lit.

Weltbank (2021): GDP, PPP, online unter: data.worldbank.org.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten sowie Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a.: Militärtheorie, NS-System.

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Eine Abschätzung von Abrüstungsraten

von Moritz Kütt

Der 2017 verhandelte »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« sieht zwei Möglichkeiten vor, wie Staaten, die im Besitz von Kernwaffen sind, Vertragsmitglieder werden können: Entweder rüsten sie zuerst ab und treten dann dem Vertrag bei. Oder sie treten zunächst bei und zerstören anschließend Kernwaffen und ihr Kernwaffenprogramm in einem zeitlich begrenzten Prozess, der mit den anderen Mitgliedsstaaten vereinbart wurde. Die Art und Dauer dieses Prozesses ist im Vertrag noch nicht festgelegt, und bislang wurde diese Frage in der öffentlichen Diskussion nur selten
aufgeworfen.

Dieser Text diskutiert die notwendigen Schritte zur Zerstörung von Kernwaffen und gibt einen Überblick über die mögliche Dauer des Prozesses.1 Dieses Wissen ist relevant für die Vertragsstaaten, da sie innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrags2 ein gemeinsames Treffen abhalten und eine allgemeingültige Frist für die Zerstörung von Kernwaffen festlegen müssen. Dieses Wissen ist aber auch von Bedeutung, wenn sich die Kernwaffenstaaten anderweitig auf die Beseitigung ihrer
Kernwaffen einigen. Unabhängig vom Weg in die kernwaffenfreie Welt wird nach einer politischen Einigung immer die überprüfbare Abrüstung von Kernwaffen und die Zerstörung der verwendeten Komponenten nötig sein. Genaue Kenntnisse des dafür erforderlichen Abrüstungsprozesses und der zeitlichen und räumlichen Limits sind überdies schon während entsprechender Verhandlungen hilfreich.

Jüngste Schätzungen beziffern die Anzahl existierender Kernwaffen auf 13.890 (Kristensen und Korda 2019). Neun Länder besitzen Kernwaffen. Die USA und Russland haben mit ca. 90 % den weitaus größten Anteil an der Gesamtzahl. Neben einsatzbereiten Kernwaffen gibt es in den Arsenalen der beiden Staaten Tausende Waffen, die nicht mehr operativ eingesetzt werden und auf baldige Abrüstung warten. Die anderen Staaten (China, Frankreich, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan und Vereinigtes Königreich) besitzen Arsenale im Umfang von wenigen Dutzend bis hin zu einigen Hundert Kernwaffen. Es wird
angenommen, dass diese Staaten derzeit keine Waffen besitzen, die nicht einsatzbereit bzw. zur Abrüstung vorgesehen sind.

Für eine erste Abschätzung der Dauer von Abrüstung kann folgende Rechnung dienen: Insgesamt 125.000 Kernwaffen wurden zwischen 1945 und 2013 produziert (Kristensen und Norris 2013). Etwa 2.050 Kernwaffen wurden für Kernwaffentests genutzt. Bezogen auf die aktuell knapp 14.000 Kernwaffen wurden in den 75 Jahren seit Bau der ersten Kernwaffen ca. 109.000 Kernwaffen abgerüstet oder vernichtet, im historischen Durchschnitt etwa 1.450 pro Jahr. Mit dieser Geschwindigkeit könnte der heutige Bestand an Kernwaffen in knapp einem Jahrzehnt vollständig abgerüstet werden.

Wie wird eine Kernwaffe abgerüstet?

Die Mehrzahl der Waffen in heutigen Arsenalen sind thermonukleare Waffen, d.h. sie sind zweistufig aufgebaut. Die erste Stufe (primary) ist eine Spaltwaffe. Sie besteht aus einem »pit«, einer Hohlkugel aus Spaltmaterial (hochangereichertes Uran/HEU oder Plutonium). Diese ist umhüllt von einem neutronenreflektierenden Dämpfer und konventionellem Sprengstoff, um die Explosion auszulösen und die Hohlkugel zu komprimieren. Daneben enthält die erste Stufe einen Neutronengenerator, der zu Beginn der Explosion die Spaltungskettenreaktion (fission) startet, sowie einen Behälter mit
Deuterium-Tritium-Gas. Dieses wird ins Innere der Hohlkugel geleitet und verstärkt die Sprengkraft der ersten Stufe (boosting). Die zweite Stufe (secondary) besteht aus Lithium-Deuterid als Material für die Kernschmelze (fusion) und zusätzlichem Spaltmaterial. Dieses Spaltmaterial dient als Dämpfer sowie zur Zündung der zweiten Stufe (spark-plug). Ausgelöst wird diese Zündung durch die Energie der ersten Stufe (Feiveson et al. 2014) (siehe Abb. S. 38).

Die nuklearen Komponenten einer Kernwaffe werden oft als »physics package« bezeichnet. Neben den nuklearen Komponenten sind weitere, nicht-nukleare Bauteile in Kernwaffen vorhanden. Der Behälter des Deuterium-Tritium-Gases lässt sich vergleichsweise leicht austauschen. Tritium hat eine Halbwertszeit von 12,3 Jahren und muss daher regelmäßig ersetzt werden. Der Zündungsmechanismus von Kernwaffen (arming, fusing and firing mechanism) stellt die notwendige Technik zur synchronen Zündung des konventionellen Sprengstoffes zur Verfügung; über ihn wird die Komprimierung der ersten Stufe
eingeleitet. Ein weiteres Element ist ein Sicherheitsmechanismus, der die Kernwaffe vor einer Zündung bei unberechtigtem Zugriff schützt. Weitere Bauteile sind von den verwendeten Trägersystemen abhängig: Kernwaffen auf Interkontinentalraketen werden durch ein Hitzeschild vor Schäden beim Wiedereintritt in die Atmosphäre geschützt. Bomben, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, haben teilweise Fallschirme, die den Fall bremsen, sowie Navigationssysteme und steuerbare Finnen, um die Zielgenauigkeit zu verbessern.

Das Office of Technology Assessment der USA beschrieb 1993 in einem öffentlich zugänglichen Bericht zentrale Abrüstungsschritte (OTA 1993): In einem ersten Schritt wird die abzurüstende Kernwaffe mit verschiedenen Verfahren untersucht, um u.a. einen Überblick über eventuelle Veränderungen seit der Produktion zu erhalten. Diese Untersuchungen dienen vor allem der Sicherheit bei der Abrüstung, könnten aber in Zukunft auch als Verifikationsinstrument genutzt werden. Früh im Abrüstungsprozess wird der Zündungsmechanismus deaktiviert bzw. der im vorigen Absatz beschriebene Sicherheitsmechanismus
der Zündung aktiviert. Anschließend werden die einzelnen Komponenten voneinander getrennt. Das »physics package« wird von den nicht-nuklearen Komponenten separiert, danach werden die einzelnen Stufen der Waffe zerlegt. In der ersten Stufe wird die Spaltmaterialhohlkugel vom Sprengstoff getrennt, in der zweiten Stufe das Lithium-Deuterid von den Spaltmaterialien.

Kernwaffenstaaten nutzen für den Abrüstungsprozess spezielle Anlagen. In den meisten Fällen werden die selben Anlagen auch für den Zusammenbau und die Wartung von Kernwaffen genutzt. Kernwaffenstaaten haben nur wenige, oft nur eine einzige solche Anlage. Einzelne Arbeitsschritte werden in speziellen Sicherheitszellen und besonders gebauten Räumen (dismantlement bay) durchgeführt. Die Zahl der Anlagen, Zellen und Spezialräume ist der größte technische Flaschenhals für eine rasche Abrüstung von Kernwaffen. Sofern die Abrüstung mit einem Verzicht auf Modernisierung und Wartung einhergeht,
können die dadurch freiwerdenden Kapazitäten ebenfalls für Abrüstungszwecke genutzt werden.

Wann ist eine Kernwaffe zerstört?

Weder der nukleare Nichtverbreitungsvertrag noch der Kernwaffenverbotsvertrag definieren, was eine Kernwaffe ist. Eine der ältesten Definitionen findet sich im Brüsseler Vertrag (Protokoll I, Anlage II von 1954), der den Bau von Kernwaffen für Deutschland verbot, dann aber 1991 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst wurde. Weitere Definitionen finden sich in den Verträgen zu nuklearwaffenfreien Zonen. All diese Definitionen basieren auf der Funktion als Waffe und der Schadenswirkung durch die Explosion bzw. die Spaltmaterialien. Diese Charakteristika lassen sich allerdings nur schwer
verifizieren, insbesondere, wenn wenig Informationen über einen Waffentyp bereitgestellt werden. Im Falle des Kernwaffenverbotsvertrages besteht die Möglichkeit der Beweisumkehr: Für die Kernwaffenzerstörung könnten einfach alle Objekte als Kernwaffen gelten, die von den besitzenden Staaten als solche definiert werden, da im Verlauf des gesamten Abrüstungsprozesses außer der Zerstörung der Kernwaffen selbst auch die Beendigung des kompletten Kernwaffenprogramms überprüft wird.

Die Definition der Zerstörung von Kernwaffen ist konzeptionell etwas einfacher. Nach einer US-amerikanischen Definition hört eine Kernwaffe auf zu existieren (ceases to exist), sobald die Spaltmaterialhohlkugel vom Rest getrennt ist (DOE 1997). Gleichzeitig bewahren die Vereinigten Staaten jedoch mehrere Millionen nicht-nukleare Komponenten und mehrere Tausend Spaltmaterialhohlkugeln in speziellen Lagern auf. Daher ist diese Definition nicht besonders weitgehend. Ein erneuter Zusammenbau der Komponenten wäre
vergleichsweise einfach und in wenigen Tagen zu bewerkstelligen.

Zusammen mit meinem Kollegen Zia Mian schlug ich kürzlich eine Definition für die Zerstörung von Kernwaffen vor, die darüber hinaus geht (Kütt und Mian 2019):

„Eine Kernwaffe gilt als zerstört, wenn alle der folgenden Schritte durchgeführt wurden: Die nicht-nuklearen Komponenten wurden von den nuklearen Komponenten (physics package) getrennt, der konventionelle Sprengstoff wurde vom Spaltmaterial getrennt, und sämtliche nuklearen und elektronischen Komponenten wurden mechanisch oder chemisch unwiederbringlich so verändert, dass sie nicht ohne erhebliche zusätzlichen Bearbeitungsaufwand für eine Waffe verwendet werden können.

Diese Definition verhindert den schnellen Wiederzusammenbau nach der Abrüstung und führt damit zu einer höheren Irreversibilität der Zerstörung. Die erforderliche Abtrennung der Komponenten wurde oben beschrieben. Eine mechanische oder chemische Veränderung ist in vielen Fällen leicht möglich. Die Spaltmaterialhohlkugel kann relativ einfach verformt oder mit Draht gefüllt werden. Beides ist relativ schnell durchzuführen, aber schwierig rückgängig zu machen. Wird die Hohlkugel verformt, ist die Deformierung nicht rückgängig zu machen, sondern das Spaltmaterial muss neu in Hohlkugelform
gebracht werden.

Anschließend müssen die Spaltmaterialien aus der Hohlkugel sowie aus der zweiten Stufe beseitigt werden. Hochangereichertes Uran kann mit natürlichem Uran gemischt und anschließend in zivilen Kernreaktoren eingesetzt werden. Auch Plutonium kann in Form von Mischoxid-Brennstoffen (MOX) in Reaktoren eingesetzt werden. Alternativ kann es als Zugriffsbarriere mit stark strahlendem Abfall vermischt und endgelagert werden. Bei Plutonium sind die Erfahrungen begrenzt. Weder Russland noch die USA haben, obwohl in den späten 1990er Jahren vereinbart, signifikante Mengen von überschüssigem
Waffenplutonium beseitigt. Daneben gibt es auch große Mengen an separiertem zivilen Plutonium, u.a. in Großbritannien und Japan, für welches bisher ebenso keine Beseitigungslösung existiert.

Tritium aus Kernwaffen kann entweder bis zum Zerfall gelagert oder mit Sauerstoff in Wasser umgewandelt werden. Dieses Wasser ist weiterhin radioaktiv und kann erst nach ausreichender Verdünnung entsorgt werden. Lithium-Deuterid-Komponenten können separiert werden, und sowohl Lithium als auch Deuterium lassen sich zivilen Zwecken zuführen. Der konventionelle Sprengstoff wird in der Regel einfach abgebrannt und damit vernichtet. Früher geschah dies oft unter freiem Himmel; aus Emissionsgründen ist eine geschlossene Verbrennung mit Filteranlage vorzuziehen.

Die weiteren Komponenten können ebenfalls vernichtet werden, insbesondere die Elektronik. Dabei ist zum einen darauf zu achten, dass die Bestandteile durch Zerschneiden oder ähnliche Bearbeitung für die militärische Nutzung unbrauchbar gemacht werden (demilitarizing). Zusätzlich sind die Bestandteile so zu behandeln, dass etwaige sensitive Informationen zum Bau von Kernwaffen nicht mehr erkennbar sind (sanitizing). Anschließend können sie wie andere Abfälle entsorgt oder ggf. auch recycelt werden.

Wie schnell ist Abrüstung möglich?

Der historische Blick auf vergangene Abrüstung ermöglicht für einzelne Staaten eine Abschätzung möglicher Abrüstungsraten. Die Vereinigten Staaten waren hier in der Vergangenheit am transparentesten. Sie machten Abrüstungsraten von 1980 bis 2017 öffentlich, genauso wie die Zahl der in den gleichen Jahren zusammengebauten Kernwaffen. Mit einer Ausnahme wurden dabei jährlich über 500 Kernwaffen zusammengesetzt und/oder zerlegt. In den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, wurden allerdings deutlich höhere Abrüstungsraten erreicht, durchschnittlich 1.500 Waffen pro Jahr. Das in den
USA für Kernwaffen zuständige Energieministerium fasste 1997 in einer Studie auch die benötigten Zeiten für die Abrüstung von unterschiedlichen Kernwaffentypen zusammen. Bei achtstündigen Arbeitsschichten benötigen die USA für ihre existierenden Waffentypen zwischen 1,5 und neun Schichten für die Abrüstung einer Kernwaffe. Parallele Abrüstung ist möglich, sofern die entsprechenden Zellen und Sicherheitsräume verfügbar sind (DOE 1997). Mit neun parallelen Arbeitsschritten und je einer Schicht an fünf Tagen pro Woche könnte das derzeitige US-Arsenal in rund neun Jahren abgerüstet werden. Dabei
ist die spezifische Zusammensetzung des Arsenals bereits berücksichtigt.

Für andere Staaten ist die Einschätzung schwieriger. Es gibt mehrere Quellen, die Russlands Abrüstungskapazitäten in den 1990er Jahren auf 1.000-3.000 Sprengköpfe jährlich schätzten. Neuere Schätzungen gehen von 400-500 Sprengköpfen pro Jahr aus (IPFM 2007). Im Vereingten Königreich wurden zwischen 1954 und 2013 insgesamt 1.250 Kernwaffen produziert (Kristensen und Norris 2013). Heute hat Großbritannien weniger als 250 Waffen, damit also rund 1.000 Waffen in 60 Jahren abgerüstet – eine Rate von mehr als 160 Waffen pro Jahrzehnt. Frankreich baute 1.260 Waffen in dem etwas kürzeren
Zeitraum 1960-2012. Nach Aussagen des ehemaligen Präsidenten Hollande in 2015 hatte Frankreich zu dieser Zeit 300 Kernwaffen. Die französische Regierung teilte in der Vergangenheit außerdem mit, keine nicht-einsatzbereiten Kernwaffen zu besitzen, also keine Bestände noch abzurüstender Kernwaffen zu haben. Daraus lässt sich eine durchschnittliche Abrüstungsrate von rund 200 Sprengköpfen pro Jahrzehnt schließen.

Chinas Bestände an Kernwaffen wachsen derzeit langsam weiter an, eine Schätzung der Abrüstungskapazitäten ist daher schwierig. Es kann aber angenommen werden, dass chinesische Kernwaffen mindestens ähnlich schnell abzurüsten sind wie die zeitaufwändigste Waffe der USA. Nach den Zahlen des US-Energieministeriums sollte die Abrüstung einer B53 (Außerbetriebnahme nach Ende des kalten Krieges) rund neun Arbeitsschichten dauern. Bei gleicher Zeitdauer sollte es möglich sein, alle chinesischen Waffen in rund zehn Jahren abzurüsten.

In den neueren Kernwaffenstaaten ist eine ähnliche Annahme möglich. Bei neun Arbeitstagen pro Waffe sollte es möglich sein, die indischen und pakistanischen Bestände in je fünf Jahren zu beseitigen, die israelischen Bestände in zweieinhalb Jahren und die nordkoreanischen Waffen noch deutlich schneller.

Zusammenfassung

Der Beitrag beschrieb die notwendigen Schritte und Anlagen für die technische Abrüstung von Kernwaffen. Langfristig wichtig ist dabei eine vollständige Zerstörung von Kernwaffenkomponenten, um einen raschen Wiederzusammenbau zu vermeiden. Es zeigt sich, dass eigentlich alle Staaten ihre Arsenale in rund zehn Jahren vollständig abrüsten könnten. Auch eine schnellere Abrüstung kann möglich sein, erfordert aber zusätzliches Engagement der Staaten über den Status quo hinaus, wie z.B. Mehrschichtbetrieb existierender Anlagen oder den Bau neuer Abrüstungsanlagen. Daher kann die technische
Abrüstung nicht der limitierende Faktor auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt sein. Wenn nach einer politischen Einigung die Wartung und Modernisierung von Kernwaffen eingestellt wird, können diese Kapazitäten ebenfalls für Abrüstung genutzt werden. Beim Design von Verifikationsregimen sollte darauf geachtet werden, dass die Zeiträume nicht unnötig lang veranschlagt werden.

Auch wenn bisher noch kein Kernwaffenstaat dem Kernwaffenverbotsvertrag beigetreten ist, könnten sie in Bezug auf vergangene Abrüstungsbemühungen transparenter sein. Diese Informationen könnten als Verhandlungsgrundlage für neue Abkommen dienen. Ein Austausch von Erfahrungen bezüglich sicherer Abrüstung und Zerstörung würde daneben allen beteiligten Staaten sowie ihren Nachbarn helfen, die Abrüstungsprozesse sicherer zu gestalten.

Anmerkung

1) Dieser Text basiert auf einem kürzlich veröffentlichten Artikel von Moritz Kütt und Zia Mian (Kütt und Mian 2019). Der Artikel ist kostenfrei unter https://t1p.de/deadline verfügbar (englische Sprache).

2) Der Vertrag tritt drei Monate nach Hinterlegung der 50. Ratifizierungsurkunde in Kraft.

Literatur

Feiveson, H.A.; Glaser, A.; Mian, Z.; von Hippel, F. (2014): Unmaking the Bomb – A Fissile Material Approach. Cambridge: MIT Press.

International Panel on Fissile Materials (IPFM) (2007): Global Fissile Material Report 2007. Princeton: Princeton University.

Kristensen, H.M.; Korda, M. (2019): Status of World Nuclear Forces. Washington, D.C.: Federation of American Scientists; fas.org.

Kristensen, H.M.; R.S. Norris (2013): Global Nuclear Weapons Inventories, 1945-2013. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 69, Nr. 5, S. 75-81.

Kütt, M.; Mian, Z. (2019): Setting the Deadline for Nuclear Weapon Destruction under the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 2, S. 410-430.

Office of Technology Assessment (OTA) (1993): Dismantling the Bomb and Managing the ­Nuclear Materials. Washington, D.C.: United States Congress.

United States Department of Energy (DOE) (1997): Transparency and Verification Options – An Initial Analysis of Approaches for Monitoring Warhead Dismantlement. United States Department of Energy – Office of Arms Control and Nonproliferation.

Vereinte Nationen – Generalversammlung (2017): Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (vom 7.7.2017). Die Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen steht unter un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf.

Moritz Kütt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich »Rüstungskontrolle und Neue Technologien« des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Kernwaffen in Südasien


Kernwaffen in Südasien

Arsenale, Doktrinen und Rüstungskontrolle

von Jens Heinrich

Indien und Pakistan bewiesen spätestens mit ihren Atomtests von 1998, dass sie in der Lage sind, nukleare Sprengsätze herzustellen. Seitdem haben beide Länder in den Ausbau und die Modernisierung ihrer Kernwaffenarsenale investiert. Ein Ende der Aufrüstungsdynamik der beiden verfeindeten Nuklearmächte ist bisher nicht abzusehen – mit weitreichenden Konsequenzen für Sicherheit und Frieden in der Region.

Nach aktuellen Schätzungen verfügen die zwei Länder über ca. 150-160 (Pakistan) bzw. 130-140 (Indien) Sprengköpfe (SIPRI 2019, S. 11), die von Flugzeugen, ballistischen Raketen und zukünftig auch von Marschflugkörpern getragen werden. Der Schwerpunkt der Modernisierung liegt bisher eindeutig auf landgestützten Raketen (Krepon und Thompson 2013, S. 13).

Indien fokussiert sich auf die Erhöhung der Reichweite der Trägerraketen. Das Arsenal umfasst aktuell nicht nur ältere Systeme, wie Prithvi II (350 km) und Agni I und II (>700 km bzw. >2.000 km), die im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre in Dienst gestellt wurden, sondern auch neuere und noch in der Testphase befindliche Typen, wie Agni IV und Agni V. Besonders mit der Agni V könnte Neu-Delhi in Zukunft über eine Rakete mit (fast) interkontinentaler Reichweite (>5.200 km) verfügen (Kristensen und Korda 2018, S. 364). Der Wunsch nach größeren Reichweiten kommt nicht überraschend, hatte doch schon die Regierung unter Atal Behari Vajpayee die Tests von 1998 mit der Bedrohung durch China legitimiert (Perkovich 1999, S. 417). Dazu kommen weitere Faktoren, wie das Streben nach Status und Prestige und das Interesse der Forschungseinrichtungen am Bau immer weiterreichender Raketen (Narang 2009).

Pakistans sicherheitspolitischer Blick hingegen ist nach wie vor deutlich auf Indien gerichtet (Auswärtiges Amt 2019, S. 123). Die 2015 zum ersten (und letzten) Mal getestete Mittelstreckenrakete Shaheen 3 (2.750 km) soll einen möglichst großen Teil Indiens abdecken. Aus Sicht Pakistans wären Interkontinentalraketen erst dann notwendig, wenn auch Ziele im Indischen Ozean erreicht werden sollen (Kristensen, Norris und Diamond 2018, S. 354). Die Konzentration auf Indien zeigt sich besonders bei der Einführung von Raketen mit einer Reichweite von 50-60 km in Pakistan (National Air and Space Intelligence Center 2017, S. 17). Offizielle pakistanische Stellen rechtfertigten die Entwicklung von Hatf 1 (50 km) und Hatf 9/Nasr (60 km) mit der indischen Militärstrategie, die u.a. begrenzte konventionelle Schläge vorsieht (Kidwai 2015). Die pakistanische Nuklearpolitik ist demgemäß darauf ausgelegt, nicht nur einen indischen Kernwaffeneinsatz, sondern auch einen konventionellen Krieg abzuschrecken, wobei der Hatf 9 eine wichtige Rolle zukommt.

Drei weitere Trends werden die regionale Sicherheitsstruktur zukünftig prägen: erstens die Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen, zweitens die Einführung atombetriebener U-Boote und U-Boot-gestützter Atomwaffen und drittens das indische Bestreben, Raketenabwehr aufzubauen.

Mehrfachsprengköpfe

Die MIRV-Technologie1 ermöglicht es, mit einer Rakete mehrere Sprengköpfe individuell gegen ein oder mehrere Ziele zu richten. Die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien haben MIRV schon lange in ihre Atomarsenale integriert. Auch China hat Teile seines Arsenals mit dieser Technologie ausgestattet (Department of Defense 2019, S. 44). Indische Wissenschaftler, wie der Direktor der Forschungseinrichtung Defence Research and Development Organization (DRDO), kündigten wiederholt an, MIRV solle auch für das indische Arsenal entwickelt werden (Times of India 2015). Wann dies gelingt, ist offen; schon das Streben nach MIRV könnte allerdings negative Folgen für Sicherheit und Frieden in der Region haben. Zum einen könnte Pakistan darin den Versuch Indiens sehen, langfristig eine Erstschlag­option zu entwickeln, um pakistanische Kernwaffen zu zerstören. Während des Kalten Krieges galten MIRV-Sprengköpfe aufgrund ihrer erhöhten Treffwahrscheinlichkeit als potentielles Instrument für solche Optionen (Müller und Schörnig 2006, S. 81). Diese Befürchtungen werden durch die jüngsten Äußerungen indischer Generäle und Politiker bestätigt, der Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (»no first use«) sei abhängig von zukünftigen Umständen. Als Reaktion auf die Entwicklung von MIRV könnte Pakistan die Alarmbereitschaft des eigenen Arsenals erhöhen, was in Krisen- und Spannungssituationen eskalierend wirken könnte. Zum anderen kann MIRV zur Verstärkung der bestehenden Aufrüstungsdynamik führen. Pakistan könnte dazu übergehen, eigene Mehrfachsprengköpfe zu entwickeln oder sein Kernwaffenarsenal weiter auszubauen.

U-Boot-gestützte Kernwaffen

Der zweite Trend ist der Aufbau einer nuklear angetriebenen und nuklear bewaffneten U-Boot-Flotte. Hier ist Indien deutlich weiter als Pakistan, das allerdings ebenfalls Interesse an diesen Systemen bekundete (Kidwai 2015). Das erste von insgesamt vier geplanten atombetriebenen U-Booten, die INS Arihant, absolvierte 2018 eine erste Fahrt, die vom indischen Premierminister Narendra Modi öffentlich als »Abschreckungspatrouille« bezeichnet wurde. Während des Kalten Krieges wurden auf U-Booten stationierte Atomraketen als stabilisierend betrachtet, da sie die nukleare Abschreckung stärken würden. Allerdings besteht bei U-Booten und darauf stationierten Atomraketen ein erhöhtes Risiko für Reaktorunfälle an Bord, für einen Atomwaffeneinsatz »aus Versehen«2 und für gravierende Folgen im Falle von Einsätzen zur U-Boot-Bekämpfung (Mian et al. 2019, S. 194). Ein weiteres Problem liegt darin, die Kommunikation zwischen dem U-Boot und der politischen und militärischen Entscheidungsebene auch in Krisensituationen und Kriegen zu sichern.

Raketenabwehr

Den dritten Trend stellen Pläne Indiens zum Aufbau von Raketenabwehr dar. Die Regierung in Neu-Delhi verfolgt diesbezüglich eine Doppelstrategie. Zum einen wird an eigenen Abwehrsystemen, wie dem Prithvi Air Defense System, gearbeitet. Gleichzeitig sucht die indische Regierung nach internationalen Partnern, vor allem in Israel, den USA und Russland, um die Raketenabwehr voranzubringen (Joshi und O’Donnell 2019, S. 35-37). Die erforderliche Technologie ist noch nicht sehr ausgereift, jedoch ist alleine das Streben nach Raketenabwehr problematisch, da Pakistan so zur Vergrößerung des eigenen Atomwaffenarsenals gereizt werden bzw. die eigene Aufrüstung legitimieren kann. Pakistans UN-Botschafter, Farukh Amil, wies jüngst auf die destabilisierenden Auswirkungen einer Raketenabwehr hin und stellte diese in einen Zusammenhang mit nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung (Amil 2018, S. 3). Zusätzlich könnte Raketenabwehr ein falsches Gefühl von »Unverwundbarkeit« vermitteln, zu riskantem Verhalten in Konfliktsituationen verleiten und eine Eskalation befördern.

Ersteinsatz und massive Vergeltung

Neben Waffensystemen liefert ein Blick in die jeweiligen Nukleardoktrinen Antworten darauf, welchen Stellenwert Kernwaffen für beide Länder haben und unter welchen Bedingungen der Einsatz erwogen würde. Dabei zeigt sich, dass Indien und Pakistan vor Dilemmata und Paradoxien stehen.

Indien veröffentlichte bereits 1999 eine nichtoffizielle Nukleardoktrin. Dabei handelte es sich um einen »Entwurf« des National Security Advisory Board, einem beratenden Gremium.3 Ein wesentliches Element dieser Doktrin war der Verzicht auf den Ersteinsatz, d.h., Kernwaffen würden ausschließlich als Antwort auf einen gegnerischen nuklearen Angriff eingesetzt (Ministry of External Affairs 1999).

Im Januar 2003 veröffentlichte das Büro des indischen Premierministers eine Pressemitteilung, die die zentralen Punkte einer Neufassung der Doktrin auflistete (Prime Minister’s Office 2003). Das Dokument, das vor dem Hintergrund des indisch-pakistanischen Kargil-Krieges (1999) und der so genannten »Doppelkrise« von 2001/2002 zu sehen ist, weist zwei wesentliche Veränderungen im Vergleich zum Entwurf auf.

Erstens wurde die geographische Eingrenzung aufgehoben. Im Entwurf von 1999 wurde eine nukleare Vergeltung als Reaktion auf einen Nuklearwaffeneinsatz gegen Indien und indische Streitkräfte genannt. In der Version von 2003 blieb der Verzicht auf den Ersteinsatz zwar erhalten, gilt seither aber nicht für den Fall, dass indische Streitkräfte mit Kernwaffen angegriffen werden – und zwar „egal wo“ (Prime Minister’s Office 2003), also auch außerhalb des indischen Hoheitsgebiets. Die indische Regierung versuchte so eine Art Schutzschild für die eigene Armee aufzubauen, damit diese in pakistanischem Staatsgebiet aktiv werden kann.

Eine zweite Erweiterung war inhaltlicher Natur. Anders als der Entwurf verweist die Pressemitteilung von 2003 explizit darauf, ein Einsatz biologischer und chemischer Waffen gegen Indien oder indische Truppen könnte eine nukleare Vergeltung auslösen. Da die Staaten, die Neu-Delhi als Hauptbedrohung wahrnimmt (China und Pakistan), vermutlich nicht im Besitz von B- oder C-Waffen sind (Arms Control Association 2018), dürfte sich dieser Punkt auf terroristische Gruppen beziehen. Die indische Regierung könnte somit bei einem von nichtstaatlichen Gruppen verübten Anschlag mit biologischen oder chemischen Waffen auch einen Kernwaffeneinsatz in Pakistan in Betracht ziehen.

Ein weiterer Pfeiler der indischen Doktrin ist die massive Vergeltung als Reaktion auf einen Kernwaffeneinsatz. In dem Entwurf von 1999 war noch von einer „punitive retaliation“, also bestrafender Vergeltung, die Rede (National Security Advisory Board 1999). Seit 2003 gilt offiziell die »massive Vergeltung« – ein Begriff, der an die Debatte in den 1950er Jahren in der NATO erinnert, die allerdings unter anderen Vorzeichen geführt wurde. Massive Vergeltung führt in Verbindung mit den oben erwähnten Doktrinerweiterungen zu einem Glaubwürdigkeitsproblem für die indische Regierung, mit potentiell gravierenden Folgen.

Ein Szenario soll dies kurz illustrieren: In einem Krieg zwischen Indien und Pakistan könnte die pakistanische Seite Atomwaffen einsetzen, um vorrückende indische Streitkräfte zu stoppen. Denkbar wären auch ein »demonstrativer« oder nicht-autorisierter Einsatz durch untere Kommandoebenen. Sollten dadurch indische Streitkräfte auf irgendeine Weise betroffen sein, wäre die indische Seite unter Zugzwang, da ein Nichthandeln der eigenen Doktrin widersprechen und somit die Glaubwürdigkeit schwächen würde. In einem solchen Szenario würden also nicht unbedingt militärische Argumentationen und Rechtfertigungen, sondern vielmehr psychologische Faktoren greifen.

In jüngster Zeit steht zudem der Nicht-Ersteinsatz zur Diskussion. Hohe indische Offizielle, wie z.B. der amtierende Verteidigungsminister Rajnath Singh, haben den Verzicht auf den nukle­aren Ersteinsatz jüngst relativiert und von zukünftigen (und somit vagen und interpretierbaren) Bedingungen abhängig gemacht (The Hindu 2019).

Die Auswirkungen der indischen Doktrin werden erst vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Pakistan deutlich. Islamabad (bzw. Rawalpindi)4 hat bisher keine Nukleardoktrin veröffentlicht, lässt die indische Regierung über einen potentiellen Einsatz von Atomwaffen also im Unklaren. Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte, die helfen, Pakistans Nuklearstrategie zu verstehen. Wesentliches Merkmal ist die Option des Ersteinsatzes von Kernwaffen unter Bedingungen, welche General Khalid Kidwai formulierte. Darunter fallen 1. die Zerstörung großer Teile der pakistanischen Armee, 2. die Besetzung großer Teile pakistanischen Territoriums, 3. eine Wirtschaftsblockade gegen Pakistan durch Indien und 4. die Destabilisierung durch einen externen Akteur, womit Indien gemeint ist (Khan 2012, S. 351). Das Problem dieser roten Linien ist ihre Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit (Joshi und O’Donnell 2019, S. 7), die von pakistanischer Seite durchaus gewollt ist. In einer Krise oder einem Krieg könnte Indien eine oder mehrere dieser Grenzen bewusst oder unbewusst übertreten, sodass eine nukleare Eskalation wahrscheinlicher würde. Auf der anderen Seite erlaubt die Mehrdeutigkeit Freiräume bei der Reaktion, die bei strikteren Bedingungen kaum denkbar wären. Die politischen und militärischen Entscheidungsträger Pakistans wären somit nicht automatisch unter nuklearem Zugzwang.

Der Ersteinsatz von Kernwaffen wurde von der politischen und militärischen Führung Pakistans wiederholt diskutiert. Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche der Regierung, die Atomwaffenpolitik des Landes zu ändern bzw. zu relativieren. Im Jahr 2008 erklärte der damalige pakistanische Präsident Zardari, die Politik des Ersteinsatzes solle aufgehoben werden, was zu einer prompten Reaktion des Armeechefs Asfaq Kayani führte (Sagan 2009, S. 253). Die dominante Rolle der Armee in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigte sich auch, als der jetzige Ministerpräsident Imran Khan nach seinem Amtsantritt 2018 die Politik des Ersteinsatzes öffentlich in Frage stellte. Auch diese Aussage wurde später relativiert (Shahzad 2019).

Rüstungskontrolle in Südasien

Rüstungskontrolle als Strategie zur Kriegsverhinderung und Abrüstung hat in Südasien einen schweren Stand. Zwar gab es in der Vergangenheit Initiativen zur Vertrauensbildung, diese konnten die regionale Rüstungsdynamik jedoch nicht begrenzen. Besonders Verträge und verbindliche Abkommen gelten „eher als Problem […] denn als Lösung“ (Norddeutscher Rundfunk 2012). Konkret wirft Rüstungskontrolle in Südasien die folgenden Herausforderungen auf:

1. Eine regional beschränkte Rüstungskontrolle wird abgelehnt. Vor allem die indische Regierung verdeutlichte immer wieder, Rüstungskontrolle dürfe nicht auf Indien und Pakistan begrenzt sein, sondern müsse China einbeziehen. Da sich Chinas Sicherheitspolitik jedoch stärker an den USA5 (und zum Teil an Russland) orientiert, wird regionale mit globaler Rüstungskontrolle verknüpft und somit verkompliziert und erschwert.

2. Rüstungskontrolle setzt voraus, die Sicherheit der anderen Seite mitzudenken, zu akzeptieren und durch eigenes Handeln zu fördern. Die Realität in Südasien sieht anders aus. Von den politischen, militärischen und nuklear-wissenschaftlichen Eliten beider Länder wird Rüstungskontrolle nicht als Teil der eigenen Sicherheitspolitik, sondern als Gegensatz zu dieser betrachtet. Es geht führenden Politiker*innen und großen Teilen der Armeeführung beider Länder um Sicherheit durch Dominanz, rüstungstechnologische Überlegenheit und Abschreckung auf allen Ebenen. Die der Rüstungskontrolle zugrundeliegende Kooperation kann so kaum greifen.

3. Rüstungskontrollverträge leben von einer gewissen Vergleichbarkeit und Symmetrie. In Südasien spielen aber nicht nur Nuklearraketen eine Rolle, sondern auch die konventionelle Rüstung und »asymmetrische Bedrohungen«, also nichtstaatliche Gewaltgruppen. Für Indien sind terroristische Anschläge die zentrale Herausforderung, für Pakistan hingegen steht trotz Anschlägen im eigenen Land die indische Armee im Zentrum. Dieses Dreieck aus Terrorismus, konventioneller und nuklearer Rüstung lässt sich nur schwer in Verträge und verbindliche Abkommen übertragen.

4. Ein viertes Hindernis für Rüstungskontrolle zwischen beiden Ländern ist das Fehlen einer nennenswerten »community«, die sich mit dem Thema befasst. Die Chancen (und Grenzen) von Rüstungskontrolle hängen nicht nur von sicherheitspolitischen, technologischen und internationalen Faktoren ab, sondern werden auch von innenpolitischen und innergesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. In Indien und Pakistan gelten Verteidigungsfragen als Kernbereich exklusiver politischer und militärischer Kreise. Es gibt kaum intensive parlamentarische Debatten oder breite gesellschaftliche Diskursräume für Kritik und Kontroversen mit Blick auf die Atomwaffenpolitik beider Länder.

Ausblick

Atomwaffen werden in Südasien auch in Zukunft Teil der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein, denn zu stark sind die Beharrungskräfte in beiden Ländern. Ob es sich dabei um einen »Schrecken ohne Ende« handelt oder ob ein Ende abzusehen ist bzw. der Schreck zumindest verkleinert werden kann, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall gibt es Möglichkeiten, die Gefahren zu mindern. Zum einen streben sowohl Indien als auch Pakistan die Mitgliedschaft in internationalen Foren an, insbesondere in der »Nuclear Supplier Group« (Gruppe der Nuklearlieferländer), die den Handel mit Nukleartechnologie koordiniert und kontrolliert. Eine Mitgliedschaft sollte an Bedingungen geknüpft sein. Wichtige Partner beider Länder könnten versuchen, Zugeständnisse in bestimmten Bereichen zu verlangen. Leider blieben solche Versuche in der Vergangenheit ungenutzt. Zum anderen könnte die Unterstützung der rüstungskontroll- und abrüstungsfreundlichen Kräfte in Indien und Pakistan erhöht werden. Auch der Austausch mit Regierungsvertretern könnte darauf ausgerichtet sein, den skeptischen Blick auf Rüstungskontrolle und Abrüstung in beiden Ländern positiv zu verändern und die Vorteile einer solchen Politik für die Sicherheit aller zu verdeutlichen.

Anmerkungen

1) MIRV steht für Multiple Independently Tar­getable Reentry Vehicles.

2) Siehe dazu »Atomkrieg – aus Versehen?« von Karl-Heinz Bläsius auf S. 9 in diesem Heft.

3) Es darf jedoch bezweifelt werden, dass es nicht doch einen starken Einfluss offizieller Regierungsstellen gab. Die Doktrin kann durchaus auch als ein »Testballon« verstanden werden.

4) Die Chiffre »Rawalpindi« dient hier dem Hinweis auf die dominante Rolle des Militärs in sicherheitspolitischen Fragen. In Rawalpindi befindet sich das Hauptquartier der pakistanischen Armee.

5) Siehe dazu »Ein eigener Ansatz – Die Atomwaffendoktrin Chinas« von Gregory Kulacki auf S. 26 in diesem Heft.

Literatur

Amil, F. (2018): Statement delivered by Ambassador Farukh Amil, Permanent Representative of Pakistan to the UN and Other International Organizations in Geneva at the First Committee General Debate. New York: United Nations General Assembly.

Arms Control Association (2018): Chemical and Biological Weapons Status at a Glance. Washing­ton D.C.

Auswärtiges Amt (2019): Jahresabrüstungsbericht 2018. Berlin.

Joshi, Y.; O’Donnell, F. (2019): India and Nuclear Asia – Forces, Doctrine, and Dangers. Washington D. C.: Georgetown University Press.

Khan, F.H. (2012): Eating Grass – The Making of the Pakistani Bomb. Stanford: Stanford University Press.

Kidwai, K. (2015): A Conversation with Gen. Khalid Kidwai. Washington D. C.: Carnegie Endowment for International Peace.

Krepon, M.S.; Thompson, J. (2013): Introduction. In: dies.: Deterrence Stability and Escalation Control in South Asia. Washington D.C.: Stimson Center, S. 9-20.

Kristensen, H.M.; Korda, M. (2018): Indian nuclear forces, 2018. The Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 74, Nr. 6, S. 361-366.

Kristensen, H.M.; Norris, R.S.; Diamond, J. (2018): Pakistani nuclear forces, 2018. The Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 74, Nr. 5, S. 348-358.

Mian, Z.; Ramana, M.V.; Nayyar, A.H. (2019): Nuclear Submarines in South Asia – New Risks and Dangers. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 1, S. 184-202.

Ministry of External Affairs (1999): Draft Report of National Security Advisory Board on Indian Nuclear Doctrine. Neu-Delhi.

Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle – Eine exemplarische Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

National Air and Space Intelligence Center (2017): Ballistic and Cruise Missile Threat Report. Wright-Patterson Air Force Base: Watson Way.

National Security Advisory Board (1999): India’s Draft Doctrine. Neu-Delhi.

Narang, V. (2009): Pride and Prejudice and Prithvis – Strategic Weapons Behavior in South Asia. In: Sagan, S.D.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 137-183.

Norddeutscher Rundfunk (2012): Ungebremster Rüstungswettlauf in Asien – China und die USA kämpfen um ihre Vormachtstellung. Interview mit Michael Brzoska.

Perkovich, G. (1999): India’s Nuclear Bomb – The Impact on Global Proliferation. Berkeley: University of California Press.

Prime Ministers’s Office (2003): Cabinet Committee on Security Reviews Progress in Operationalizing India’s Nuclear Doctrine. Neu-Delhi.

Sagan, S.D. (2009): The Evolution of Pakistani and Indian Nuclear Doctrine. In: ders.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 219-263.

Sagan, S.D. (1996): Why Do States Build Nuclear Weapons? Three Models in Search of a Bomb. International Security, Vol. 21, Nr. 3, S. 54-86.

Shahzad, A. (2019): PM Khan – Pakistan would not use nuclear weapons first, amid tensions with India. Reuters.

Stockholm International Peace Research Institute (2019): SIPRI Yearbook – Armaments, Disarmament and International Security. Kurzfassung auf Deutsch. Stockholm: Oxford University Press.

The Hindu (2019): »No First Use« nuclear policy depends on circumstances: Rajnath Singh. Neu-Delhi.

Jens Heinrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit an der Universität Rostock.

Neues Projekt am IFSH


Neues Projekt am IFSH

»Rüstungskontrolle und Neue Technologien«

von Götz Neuneck

Erfolgreiche Rüstungskontrolle, Abrüstung und die Kontrolle neuer Technologien sind zentrale friedens- und sicherheitspolitische Herausforderungen unserer Zeit. Die Debatte um Cyberwar, Laserwaffen, Künstliche Intelligenz oder Hyperschallwaffen ist ein deutliches Indiz für Innovationen, die rüstungsrelevant sind, aber von Rüstungskontrolle momentan nicht erfasst werden. Um Völkerrechtsverträge, Abrüstung und Nichtverbreitung an diese Entwicklung anpassen zu können, ist ein genaues Verständnis der neuen Waffentechnologien erforderlich.

Vor dem Hintergrund des zunehmenden Rüstungswettbewerbes zwischen den USA, China und Russland, der Erosion der klassischen Rüstungskontrolle, der aktuellen Blockade der Abrüstungsbemühungen und der Verbreitung neuer (Waffen-) Technologie beschloss die Bundesregierung, ihre diesbezüglichen Aktivitäten international zu verstärken. Dies fand u.a. Ausdruck in der internationalen Fachkonferenz »Capturing Technology – Rethinking Arms Control«, die am 15. März 2019 in Berlin stattfand. Außenminister Heiko Maas betonte bei seiner Eröffnungsrede, dass wir „einen offenen, ernsthaften Dialog über die Zukunftsfragen der Rüstungskontrolle brauchen“. Er plädierte für mehr Kooperation und Dialog zwischen Parlamentarier*innen, Regierungsvertreter*innen, Thinktanks, Forscher*innen, Militärexpert*innen und Industrievertreter*innen. Mit der Außenministerin von Schweden und dem Außenminister der Niederlanden vereinbarte er bei diesem Anlaß eine engere Zusammenarbeit bei diesen Fragen.

Angesichts der steigenden Bedeutung neuer Technologien ist dafür interdiszi­plinäre Zusammenarbeit nötig. In seinen »Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung« vom 12. Juli 2019 verwies der Wissenschaftsrat zudem darauf, dass „einschlägige natur- und technikwissenschaftliche Kompetenz in Deutschland für die Friedens- und Konfliktforschung immer weniger verfügbar [ist], während zugleich die Nachfrage nach entsprechender Beratung im politischen Raum nicht zuletzt angesichts neuer Formen der Kriegsführung – Stichwort: Cyberwar – zunimmt“ (S. 14/15). Darüberhinaus gilt es auch, neue Rüstungswettläufe zu verhindern, destabilisierende Tendenzen in einer Krise zu identifizieren und weitere Abrüstung möglich zu machen. Diesem Anspruch liegt ein am IFSH seit Jahrzehnten entwickeltes Verständnis von „kooperativer Rüstungssteuerung“ (Wolf Graf von Baudissin/Dieter S. Lutz) und von »präventiver Rüstungskontrolle« zugrunde.

Entsprechend betrieb das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) im Rahmen der Interdisziplinären Forschungsgruppe für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR2) bereits in den vergangenen 20 Jahren Forschung in den Bereichen Technologiefolgenabschätzung, Dual-use-Potentiale neuer Technologien und deren Kompatibilität mit Rüstungskontrolle. Die Arbeiten bezogen sich insbesondere auf die Atombewaffnung, neue Trägersysteme, Raketenabwehr und die Bewaffnung von Weltraum und Cyberspace.

Nun ist es dem IFSH gelungen, vom Auswärtigen Amt den Zuschlag für das mehrjähriges Forschungs- und Transferprojekt »Rüstungskontrolle und Neue Technologien« zu bekommen. In einem internationalen Projektteam sollen die Risiken neuer rüstungsrelevanter Technologien und Innovationen für Frieden und Sicherheit erforscht und Vorschläge zu deren Einhegung durch Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung ausgearbeitet werden. Der erweiterte internationale und interdisziplinäre Forschungsbereich widmet sich dabei insbesondere den Technologien, die einen inhärenten zivil-militärischen Anwendungsdualismus (dual use) haben und beispielsweise Rüstungswettläufe antreiben können. Dennoch bleiben weiterhin auch bereits existierende oder noch zu entwickelnde Regulierungen zur Einhegung von Massenvernichtungswaffen im Fokus. Hierbei interessiert insbesondere die konfliktverringernde Anwendung der unterschiedlichen Instrumente zur Abrüstung und Rüstungskontrolle, zur Nichtverbreitung und Vertrauensbildung sowie zur Verifikation bestehender Übereinkommen. Das Paradigma der Abschreckung wird kritisch-distanziert im Sinne der Kriegsverhütung und des Friedenserhalts mit einbezogen.

Das Großprojekt »Rüstungskontrolle und Neue Technologien« wurde mit einer Auftaktveranstaltung am 21. Mai 2019 mit Eröffnungsreden von Außenminister Maas und Hamburgs Oberbürgermeister Tschentscher offiziell gestartet. Bei seiner Rede betonte der Außenminister, dass „die beratende Wissenschaft gerade in langwierigen und komplexen Prozessen wie der Rüstungskontrolle eine unverzichtbare Hilfe“ sei: „Sie ist Ratgeber, Kritiker und intellektueller Sparringpartner für Politik, Diplomatie und auch Militär. Sie sucht in der Forschung und im Austausch mit Experten und Politikern weltweit nach Mitteln und Wegen, die wir noch nicht kennen oder nicht erkennen.“ Damit wird deutlich, dass das Projekt keine Ressortforschung betreibt, wissenschaftlich unabhängig ist und politisch neutral bleibt.

Das zunächst vierjährige Projekt ist unterteilt in vier thematische Schwerpunkte: 1. nukleare Rüstungskontrolle und Massenvernichtungswaffen, 2. »emerging technologies« und präventive Rüstungskontrolle, 3. konventionelle Rüstungskontrolle und 4. Zukunftsfragen der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Projektpersonals umfassend an die interessierte Öffentlichkeit, in die Fachgemeinschaft und in den politischen Raum in Berlin zu transferieren, wird eine IFSH-Depen­dance in Berlin eröffnet, die unter anderem mit der Organisation einer alle zwei Jahre stattfindenden Abrüstungskonferenz in der Bundeshauptstadt befasst ist. Weitere Ziele des Projekts sind der Ausbau der international anerkannten deutschen Expertise im Bereich Rüstungskontrolle und Abrüstung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf diesem Sektor.

Ein erster internationaler Kooperationspartner des Projekts ist das Henry A. Kissinger Center for Global Affairs der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington, D.C., mit welchem das IFSH die alle zwei Jahre tagende Konferenz der »Nuclear Scholars Research Initiative« erstmals in Europa (Hamburg) veranstalten wird. Weitere nationale und internationale Kooperationspartner werden in den kommenden Jahren hinzukommen.

Erste Stellenbesetzungen sind erfolgt, sodass ab Sommer 2019 sieben Wissenschaftler*innen u.a. aus den Politikwissenschaften, den Kulturwissenschaften, der Physik, der Informatik und den Geschichtswissenschaften gemeinsam an den Projektthemen arbeiten werden. Auch besteht die Möglichkeit, internationale Fellows an das IFSH zu holen.

Prof. Dr. Götz ist Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des IFSH und Leiter des Projekts »Rüstungskontrolle und Neue Technologien«.

Es ist schon spät


Es ist schon spät

Das Ende des INF-Vertrags zwingt zum Handeln

von Joseph Gerson

Die durch Präsident Trump forcierte Aufrüstung und Kriegsrhetorik droht, den gesamten Prozess der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Einsturz zu bringen und den Frieden in der Welt tiefgreifend zu gefährden. Der Autor beschreibt einige Hintergründe und mögliche Konsequenzen, die sich aus dem Ende des INF-Vertrags ergeben. Sein Text ist aber auch Zeugnis dafür, wie sich die Friedens- und Abrüstungsbewegung in den USA – und nicht nur dort – an kleine Hoffnungsschimmer klammert, um eine neue Rüstungs­spirale aufzuhalten.

Der Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) trat 1987 in Kraft und beendete den Kalten Krieg, noch bevor die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion sich auflöste. Der Vertrag verpflichtete die USA und die Sowjetunion zur dauerhaften Abschaffung landgestützter nuklear oder konventionell bewaffneter Marschflugkörper und ballistischer Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km. Mit dem INF-Vertrag sank die Gefahr, dass Europa zum ersten Schlachtfeld und Opfer einer Atomkriegsapokalypse zwischen den damaligen Supermächten wird, erheblich (wenn auch nicht auf Null).

Im Oktober 2018 teilte US-Präsident Trump mit, er plane den Rückzug der Vereinigten Staaten von dem Vertrag, und schuf damit das politische und strategische Umfeld für ein ungehindertes und äußerst gefährliches nukleares Wettrüsten. Donald Trump ist ein hartnäckiger Lügner. Die New York Times berichtete, dass er kürzlich die Marke von 10.000 belegten Lügen seit seinem Amtsantritt knackte. Zuweilen sollten wir ihn aber beim Wort nehmen. Er meinte es ernst, als er sich damit brüstete, „wir haben mehr Geld als alle anderen“, und als er sagte „let it be an arms race“ – dann eben ein Wettrüsten. Präsident Putin drohte seinerseits, Russland könne im Falle der Stationierung neuer US-Raketen in Europa gleichziehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der New-START-Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen über das Jahr 2021 hinaus verlängert wird, sodass wir uns angesichts der verheerenden Beziehungen zwischen den USA und Russland im letzten Jahrzehnt jetzt im Anfangsstadium einer Konfrontation der beiden Länder befinden, die durchaus mit dem Kalten Krieg vergleichbar ist. Den INF-Vertrag einfach aufzugeben bezeugt einmal mehr, dass Ignoranz, die mit dem Drang nach Dominanz einhergeht, einen äußerst gefährlichen nuklearen Cocktail ergibt.

Es mag stimmen, dass das russische Militär den INF-Vertrag mit Tests eines neuen Marschflugkörpers mittlerer Reichweite verletzt hat. Weniger bekannt ist, dass, wie Professor Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) nachwies, die in Rumänien stationierten US-Raketenabwehrsysteme des Typs Aegis Merkmale aufweisen, die sie für Russland besonders bedrohlich machen […] Würden die Aegis-Systeme in Osteuropa mit US-Marschflugkörpern bestückt – sei es der existierende Tomahawk oder eine neue Rakete, die die Vereinigten Staaten aktuell entwickeln –, so wären sie angsteinflößende Offensivwaffen, stationiert direkt an der Grenze zu Russland. Und Russland könnte kaum wissen, ob Aegis-Systeme mit Abfangflugkörpern oder mit nuklear bewaffneten Marschflugkörpern geladen sind. Die offensiven Fähigkeiten der US-amerikanischen Raketenabwehrinstallationen in Osteuropa sind der Schlüssel, um den Streit zwischen den USA und Russland über den INF-Vertrag zu verstehen.“

Natürlich wäre die passende Antwort auf Russlands Marschflugkörper-Tests nicht gewesen, den Vertrag zu zerreißen, der für das Ende des Kalten Krieges von zentraler Bedeutung war. Vielmehr hätte die nukleare Abrüstungsdiplomatie intensiviert werden müssen, und dies hatte die russische Seite dringend eingefordert.

Eine neue nukleare Rüstungsspirale droht

Der Austritt aus dem INF-Vertrag ist elementarer Bestandteil von Trumps unilateraler Vision des »America First« und der globalen Dominanz der USA. Da vermutlich auch der New-START-Vertrag nicht verlängert wird, sind damit sämtliche nuklearen Abrüstungsabkommen zwischen den beiden größten und gefährlichsten Nuklearmächten hinfällig, und der Weg zu einem ungehemmten, gefährlichen und irrsinnig kostspieligen nuklearen Wettrüsten ist frei.

Der Rückzug vom INF-Vertrag muss im Kontext von mehr als zwei Jahrzehnten zunehmend aggressiverer Militärpolitik der USA gegenüber Russland gesehen werden: die Osterweiterung der NATO durch die Regierung Clinton; die Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags durch die Regierung Bush jr.; die Zusage der Regierung Obama, für die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen und Trägersystemen 1,2 Billionen US-Dollar auszugeben; die Stationierung von Raketenabwehrsystemen, von denen Moskau befürchtetet, sie könnten für einen nuklearen Erstschlag genutzt werden; die Entscheidung, in fünf europäischen NATO-Staaten aufgerüstete und »einsatzfähigere« US-Atomwaffen zu stationieren.

Fest entschlossen, anders als in den 1990 Jahren keine neue Demütigung Russlands zuzulassen, bekräftigte Präsident Putin sein Bekenntnis zur gegenseitig gesicherten Zerstörungsfähigkeit (mutually assured destruction, MAD). Russland hat inzwischen in Kaliningrad, am nördlichen Rand Mitteleuropas, atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen [des Typs Iskander] stationiert. Um US-Raketenabwehrsystemen ausweichen oder diese überwältigen zu können, stationiert Russland neue Langstreckenraketen mit mehreren Sprengköpfen, außerdem Hyperschall-Marschflugkörper und andere Raketen, die angeblich mit der fünffachen Schallgeschwindigkeit fliegen können. Putin hat des Weiteren angekündigt, ein »unbemanntes Unterwasserfahrzeug« mit Atomantrieb zu stationieren, das Hafenstädte der USA mit Atomwaffen zerstören könnte.

Diese neuen Waffensysteme erinnern an die existenziellen Bedrohungen der 1980er Jahre und setzen noch einen obendrauf.

Die Sorgen Trumps und seines Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton um mögliche Vertragsverletzungen Russlands sind aber nur vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es ihnen um die Bestimmungen des INF-Vertrags, die die USA daran hinderten, dem Aufrüstungsprogramm und der Einrichtung neuer Militärbasen im Südchinesischen Meer durch China etwas entgegenzusetzen. Der Rückzug der USA vom INF-Vertrag steht also im Kontext des aktuellen Kampfes um Hegemonie im asiatisch-pazifischen – inzwischen »indopazifisch« genannten – Raum. Wir müssen uns klar sein, dass der Rückzug von dem Vertrag die provokativen »Freiheit der Schifffahrt«-Übungen der USA im Südchinesischen Meer ebenso ergänzt wie die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Japan und Südkorea sowie den fatalen Wirtschaftskrieg mit China, den Trump auslöste. Dies sind alles Elemente von Trumps kontraproduktiver Kampagne, um China zu schwächen und einzudämmen.

Die Dringlichkeit der Gefahren ist groß

Ich kann es nicht anders sagen: Wahrscheinlich müssen wir bald Widerstand leisten gegen Pläne, landgestützte Marschflugkörper in Japan, in Taiwan und – in der Zeit nach der Präsidentschaft Duterte – auf den Philippinen zu stationieren.

Michail Gorbatschow hatte Recht mit seiner Bemerkung, Trumps Rückzug vom INF-Vertrag sei nicht das Werk „einer Geistesgröße […] Mit dem nötigen politischen Willen könnten alle Probleme mit der Einhaltung vorhandener Verträge gelöst werden“ und „in einem »Krieg aller gegen alle« wird es keinen Gewinner geben – vor allem dann, wenn er in einen Atomkrieg mündet“. Ich bin zwar kein Freund Putins, wir sollten aber unbedingt auf das russische Angebot eingehen, dass „immer noch Raum für Dialog ist“.

Die Gefahren, die sich aus dem Kollaps des INF-Vertrags und vermutlich auch des New-START-Vertrags ergeben, sind keineswegs abstrakt. Beide Großmächte benutzen ihre Atomwaffenarsenale, um ihre imperialen Einflusssphären in Besorgnis erregendem Ausmaß zu festigen oder auszuweiten. So haben die USA beispielsweise am Vorabend der Irakkriege von 1991 und 2003 mit nuklearen Angriffen gedroht, und Präsident Obama wiederholte die Drohung es sind alle Optionen auf dem Tisch“ gegen Iran. Erst die inspirierte Politik des südkoreanischen Präsidenten Moon brachte uns einen Schritt weg vom Abgrund der Trump’schen Drohung mit fire and fury“ (Feuer und Zorn) gegen Nordkorea. Waghalsige Politik ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der USA. Putin bestätigte, dass er den Einsatz von Atomwaffen erwogen habe, um die russische Kontrolle über die Krim sicherzustellen, und dass er für eine Art Kubakrise des 21. Jahrhunderts gewappnet sei. All das erhöht die ohnehin latente Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes aufgrund von Fehleinschätzungen und Unfällen.

Ich befürchte, die meisten Regierungen, Friedensorganisationen und die Zivilgesellschaft insgesamt schätzen die Dringlichkeit dieses Moments falsch ein. Wir müssen Wege finden, Alarm zu schlagen und die Großmächte vom Abgrund zurückzuziehen.

Die Krise ist wirklich ernst, und sie wird von starken Mächten in den USA, in Russland und, wenngleich auf andere Art, auch in China angeheizt. Sie kann nur durch den Aufbau einer ausgleichenden politischen, diplomatischen und bürgerschaftlichen Macht abgewehrt werden. Ich behaupte nicht, dass ich genau sagen kann, wie das geht, ich kann aber einige mögliche Pfade dorthin aufzeigen.

Einige Ansatzpunkte zum Handeln

Da ist zum einen das US-Abgeordnetenhaus mit seiner Budgethoheit. Adam Smith, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Abgeordnetenhauses, machte klar, er sei dagegen, Gelder für die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen und Trägersysteme bereitzustellen. Wir in den USA müssen ihm unbedingt den Rücken stärken und andere Kongressabgeordnete drängen, ebenfalls keine Gelder für neue Atomwaffen und Trägersysteme freizugeben. Das ist machbar.

Zum anderen hat der Vorwahlkampf der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 2020 begonnen. Wie Adam Smith stellten auch die Senator*innen Elizabeth Warren und Bernie Sanders klar, dass sie gegen die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen sind. Damit haben sie die Messlatte gelegt, und Lobbygruppen in New Hampshire und Iowa sowie Wähler*innen in anderen Staaten sollten die Präsidentschaftskandidat*innen darauf einschwören und daran messen.

Hier in den USA müssen wir aber auch Massenaktionen auf die Beine stellen. Angesichts des nachvollziehbaren Fokus auf Trump und die Korruption in seiner Regierungsmannschaft, der Angriffe gegen unsere Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit, der Klimakrise und aller möglichen anderen Themen, bleibt es eine Herausforderung, eine breitere Öffentlichkeit für die Nuklear- und Außenpolitik zu mobilisieren. Die Situation ist vergleichbar mit den 1980er Jahren, als sich Europa im Fadenkreuz eines möglichen Atomkrieges befand: Wenn die Öffentlichkeit in Europa gegen die Stationierung neuer Atomraketen der USA und Russlands mobilisiert werden kann, könnte dies bei uns in den USA einen deutlichen Widerhall hervorrufen und uns beflügeln. Die aufkeimende Bewegung »European Nuclear Disarmament« und die mit ihr verbündeten Organisationen schaffen es hoffentlich, in Europa die Menschen auf die Straße zu bringen. Erinnern wir uns an die Kampagne »Nuclear Weapons Freeze«, die quer durch die USA lokale Aktionen durchführte, 1982 mehr als eine Million Demonstrant*innen nach New York brachte und schließlich Präsident Reagan zu Verhandlungen mit der Sowjetunion zwang.

Und dann gibt es noch den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen«. Wenn im Globalen Süden und in Ländern, die unter dem »nuklearen Schutzschirm« stehen, die Menschen, die den Verbotsvertrag unterstützen, hartnäckig am Ball bleiben, könnten die Nuklearmächte eingekreist und isoliert werden. Sobald der Vertrag in Kraft tritt, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Atomwaffenstaaten ebenfalls zum Beitritt zu drängen. Wenn es den Regierungen der Vertragsstaaten wirklich ernst damit ist, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, können sie hochrangige Vertreter der Atomwaffenstaaten sowie der Atomwaffenindustrie mit Sanktionen belegen.

Und wenn Länder unter dem »nuklearen Schutzschirm« der USA, einschließlich der NATO-Staaten, Japans und Australiens, von Massenbewegungen in ihren Ländern zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Verbotsvertrags gezwungen werden, oder wenn Jeremy Corbyn in Großbritannien an die Macht kommt und den Vertrag unterzeichnet, würden die ideologischen Fundamente des »Nuklearismus« aufgebrochen und es würden neue Freiräume und Möglichkeiten geschaffen, auch in den Atomwaffenstaaten auf ernsthafte nukleare Abrüstung zu drängen.

Ich möchte noch auf zwei weitere Anknüfungspunkte für unseren Kampf gegen ein neues ungehindertes Wettrüsten hinweisen. Da sind zum einen die Kosten, viele Billionen Dollar, unvorstellbare Summen. Wir werden die Konsequenzen dieser Zahlen aber unschwer ausfindig machen in den Budgetkürzungen für Sozial- und Umweltprogramme, die auf dem Altar des Nuklearismus geopfert werden: bezahlbarer Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, Sozialhilfe und vieles mehr. Wir müssen uns daher unbedingt mit den Kräften in unserem Land verbünden, die für ökonomische, soziale und Umweltgerechtigkeit kämpfen.

Und schließlich ist da die Behauptung der Atommächte, das strategische Umfeld für eine ernsthafte Abrüstungsdiplomatie sei einfach nicht gegeben. Dieses Umfeld kann man schaffen, so wie das durch das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« in den 1980er Jahren geschah. Georgi Arbatow, der Mitglied der Palme-Kommission war und das Denken von Michail Gorbatschow stark beeinflusst hatte, schrieb „wir können unsere eigene Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen gewährleisten, sondern nur auf der Basis gemeinsamer Interessen“. Das gemeinsame Interesse war damals wie heute „ein Bekenntnis zum gemeinsamen Überleben anstatt zur Drohung mit der gegenseitigen Zerstörung“.

Ich bin gespannt, wohin uns unsere Überlegungen und Aktionen bringen. Bei allem, was wir über nukleare Erpressung, Unfälle mit Atomwaffen, Fehleinschätzungen und die menschlichen Kosten des nuklearen Wettrüstens wissen, gilt, um meinen Lieblings-Nobelpreisträger Bob Dylan zu zitieren, „the hour is getting late“ (in »All Along the Watchtower«) – es ist schon verdammt spät. Und doch wissen wir, dass eine andere Welt möglich ist.

Dr. Joseph Gerson ist Abrüstungskoordinator des American Friends Service Committee (ASFC), Programmleiter der ASFC-Projekte in Neuengland und geschäftsführender Direktor der Campaign for Peace, Disarmament and Common Security.

Dieser Text wurde für die internationale zivilgesellschaftlichen Konferenz »Growing nuclear risks in a changing world« gehalten, die am 8. Mai 2019 zeitgleich mit der Konferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag in New York stattfand.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.

Nach dem INF-Vertrag

Nach dem INF-Vertrag

Dokumentation einer Stellungnahme

von Studiengruppe »Europäische Sicherheit und Frieden« der VDW

Am 2. August 2019 wird die bindende Wirkung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) wegfallen, wenn keine diplomatische Einigung in letzter Minute erfolgt. Damit besteht die Gefahr eines neuen unkontrollierten und gefährlichen Wettrüstens in Europa und das Ende der nuklearen Abrüstung weltweit. Ab sofort muss sich Europa stärker um den Erhalt von Frieden und Sicherheit kümmern und geschlossen die Neustationierung von russischen und amerikanischen Atomwaffen in Europa verhindern. Vertrauensbildende und deeskalierende Maßnahmen, insbesondere gegenüber
Russland, und der Wille zum Dialog mit allen Beteiligten sind daher dringend notwendig. Die Studiengruppe »Europäische Sicherheit und Frieden« der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) hat dazu konkrete Vorschläge.

Mit der Kündigung des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces; zu Deutsch: Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) durch die Vereinigten Staaten und Russland fallen ab August 2019 die völkerrechtlichen Beschränkungen für die Entwicklung und Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa weg. Das Vertragswerk war im Kontext der Entspannungspolitik beschlossen worden und hatte 1987 das Ende des Kalten Krieges eingeleitet. Dem Vertrag folgte ein beispielloser Abrüstungsprozess, in dem ca. 2.700 Trägersysteme mit ca. 4.000 Atomsprengköpfen
eliminiert wurden und weitere Abrüstungsverträge möglich wurden. US-Präsident Trump und der russische Präsident Putin haben Anfang Februar 2019 nacheinander erklärt, den Vertrag zu suspendieren. Die US-Regierung verweist zudem auf das wachsende INF-Potenzial Chinas und anderer Staaten. Sie macht geltend, dass der INF-Vertrag veraltet ist, weil er diese Staaten nicht einbezieht. Eine Multilateralisierung des Vertrages wurde bisher allerdings nie ernsthaft angegangen. Daraus ergibt sich die akute Gefahr, dass weltweit eine neue gefährliche Rüstungsspirale beginnt sowie die nukleare Bedrohung
für Europa wieder wächst: Als mögliche militärische Gegenmaßnahmen der NATO-Staaten (North Atlantic Treaty Organization) für Europa werden die Neustationierung bodengestützter INF-Systeme, konventionell und nuklear, der Ausbau der Raketenabwehr, die Einführung von see- und luftgestützter Flugkörper oder die Verstärkung konventioneller Streitkräfte diskutiert.

Russland und die USA haben keine ernsthaften Schritte unternommen, um eine Lösung für die gegenseitigen Anschuldigungen, die seit 2014 bestehen, zu finden. Im Wesentlichen geht es zunächst um die umstrittene Reichweite eines russischen Flugkörpers 9M729 sowie um die potenziellen Offensivkapazitäten zweier NATO-Raketenabwehrstellungen in Polen und Rumänien. Der neue russische, nuklear bestückbare Marschflugkörper soll weiter als 500 km fliegen und wurde inzwischen in vier Verbänden stationiert. Der INF-Vertrag beinhaltet einen Mechanismus (Special Verification Commission), in dem
gegenseitige Vertragsverstöße im Vorfeld geklärt werden können. Seit 2014 sind von Rüstungskontrollexperten zahllose Vorschläge gemacht worden, um die INF-Krise zu lösen. Die NATO-Staaten sehen die russischen Vertragsverletzungen als gesichert an, aber der Öffentlichkeit liegen keine konkreten Beweise dafür vor. Die Unwilligkeit, diese eher technischen Probleme zu lösen, legt die Vermutung nahe, dass seitens der USA und Russlands kein Interesse an einer Weiterführung des Vertrages besteht. Eine eigenständige, europäische Strategie zum Erhalt der INF-Beschränkungen ist nicht erkennbar.

Das Ende des Vertragswerkes muss im Wirkungszusammenhang mit der neuen geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China gesehen werden, in dem der nach dem Kalten Krieg erreichte Stand der kooperativen Sicherheit und die Politik des Ausgleichs verloren gegangen sind. Der Verlust des INF-Vertrags spiegelt den Vertrauensverlust und die seit einigen Jahren herrschende gefährliche Gesprächsverweigerung zwischen ­Washington und Moskau wider. Auch im Bereich der konventionellen Rüstung stehen sich in Europa erneut militärische Kräfte
Russlands und der NATO in einer Weise gegenüber, die an die Situation im Kalten Krieg erinnert. Mit der Auflösung des INF-Vertrages wird die Sicherheitslage in Europa verschlechtert. Europa steht erneut an einem Scheideweg, an dem es sich auf seine eigenen friedens- und sicherheitspolitischen Interessen besinnen muss. Das wird durch unterschiedliche Positionierungen unter den europäischen Partnern leider erschwert.

Nach der Aufkündigung des INF-Vertrages wird es darauf ankommen, eine neue atomare Rüstungsspirale in Europa durch politisch bindende Vereinbarungen abzuwenden.

Es gilt, eine politische Brandmauer zu errichten, durch die neue russische und amerikanische Atomwaffenstationierungen in Europa verhindert werden. Die strategische Stabilität zwischen der NATO und Russland wird durch die erfolgte Stationierung russischer Marschflugkörper des Typs 9M729 nicht wesentlich beeinträchtigt. Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, dass Russland und die NATO eine gegenseitige Selbstbeschränkung bei Mittelstreckenwaffen vereinbaren und ausüben. Hierzu könnte gehören, dass Russland als vertrauensbildende Maßnahme alle 9M729-Systeme ostwärts des Urals stationiert.
Im Gegenzug könnten die USA und die NATO-Staaten erklären, dass sie keine landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa stationieren. Dies schließt eine Erklärung ein, die amerikanischen Aegis-Startrampen in Osteuropa nicht für die Stationierung von Marschflugkörpern zu nutzen. Für das Aushandeln entsprechender Vereinbarungen könnte neben bilateralen Sondierungen auch der NATO-Russland-Rat genutzt werden. Bei der notwendigen Verifikation sollten Beobachtungsflüge im Rahmen des Vertrags über den offenen Himmel (Open Skies) einbezogen werden. Deutschland könnte mit seinem neuen
Open-Skies-Flugzeug nach Indienststellung einen wichtigen Beitrag zu dieser Verifikation leisten.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich wesentlich stärker als bisher dafür einzusetzen, dass die NATO-Staaten auf die Aufkündigung des INF-Vertrages in Europa maßvoll und deeskalierend reagieren, um der russischen Seite ein vergleichbar kooperatives Verhalten zu ermöglichen.

Über diese kurzfristigen Maßnahmen hinaus bedarf es mittelfristig neuer Anstrengungen zur politischen und militärischen Vertrauensbildung zwischen der NATO und Russland, die neue Ansätze in der Rüstungskontrolle auf vertraglicher Grundlage ermöglichen, um Frieden und Sicherheit in Europa wieder zu festigen. Wechselseitige Gegenrüstung und Abschreckungsdoktrinen können den Frieden nicht sichern, u.a. weil keine Seite eine Eskalationskontrolle generieren kann. Künftig sind darüber hinaus folgende sicherheitspolitischen Schritte zur Stabilisierung der Situation denkbar:

1. Sondierung der Möglichkeit einer wechselseitigen Verzichterklärung auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zwischen NATO und Russland (»No first use pledge«) als vertrauensbildende Maßnahme.

2. Aufnahme von Gesprächen und Verhandlungen für eine Vereinbarung zwischen der NATO und Russland, in der beide Seiten erklären, dass sie keine bodengestützten Marschflugkörper und ballistischen Flugkörper mit mehr als 500 km Reichweite in Europa stationieren werden. Diese Vereinbarung sollte in einen neuen Verbotsvertrag münden, in den später auch see- und luftgestützte atomare Marschflugkörper einbezogen werden könnten. Umfassende Verifikationsmaßnahmen sind dazu auszuarbeiten.

3. Aufnahme von Gesprächen und Verhandlungen für globale Verbote nuklear bestückter Marschflugkörper und nuklear bestückter ballistischer Flugkörper mit Reichweiten von z.B. 500 km bis 5.500 km inklusive eines umfassenden Verifikationssystems. Mögliche Vertragsparteien wären neben den USA und Russland Indien, China und Pakistan.

Diese weitergehenden rüstungskontrollpolitischen Vorschläge setzen ein Mindestmaß an wiedergewonnenem politischem Vertrauen und einen Spannungsabbau zwischen den NATOStaaten und Russland sowie einen neuen Konsens innerhalb der NATO-Allianz voraus. Hierfür sollte sich die Bundesregierung nachdrücklich einsetzen, um Frieden und Sicherheit in Europa zu stärken.

Unterzeichner:

Prof. Dr. Lothar Brock, Frankfurt
Prof. Dr. Michael Brzoska, Hamburg
Dr. Hans-Georg Ehrhart, Wedel
Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser, Hamburg
Prof. Dr. Hartmut Graßl, Hamburg
Dr. rer. nat. Dirk-Michael Harmsen, Karlsruhe
Dr. rer.pol. Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal
Parl. Staatssekretär a.D. Dr. Hans Misselwitz, Berlin
Prof. Dr. rer.nat. Götz Neuneck, Hamburg
Prof. Dr. Konrad Raiser, Berlin
Prof. Dr. Michael Staack, Hamburg
Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Hamburg

US-Pläne für Raketenabwehr


US-Pläne für Raketenabwehr

Nicht Schutz, sondern Destabilisierung

von Regina Hagen

Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump legte das Pentagon eine ganze Reihe von Strategiedokumenten vor. Am 17.1.2019 wurde nun auch der »Missile Defense Review« (Raketenabwehrstrategie und -planung) vorgestellt. Der Auftrag lautet, die USA, US-Truppen im Ausland, Alliierte und Partner zu schützen, gegnerische Bedrohungen und Angriffe abzuwehren […], Diplomatie aus einer Position der Stärke zu betreiben […] und uns die Handlungsfreiheit zu bewahren, zur Verteidigung unserer Interessen regionale Militäroperationen durchzuführen“.

Die Bedrohung lauert vermeintlich überall: Sie geht von China und Russland, aber auch von Nordkorea und Iran oder allgemeiner von „Schurkenstaaten und revisionistischen Mächten“ aus. Sie manifestiert sich in der Ausweitung von Reichweite, Zielgenauigkeit und Wirksamkeit bisheriger Raketentypen sowie in „neuen und beispiellosen Fähigkeiten“, wie Mehrfachsprengköpfen, manövrierbaren Sprengköpfen, Täuschflugkörpern, Störsendern, weiterentwickelten Marschflugkörpern und Hyperschall-Raumgleitern mit unvorhersehbaren (und damit für Abwehrraketen schwer berechenbaren) Flugbahnen. Als weiteres Problem werden die immer ausgefeilteren und umfangreicheren Raketenabwehrsysteme aufgeführt, die potentielle Gegner aufbauen, sowie deren rasch zunehmende Fähigkeiten zum Ausschalten von Satelliten und weiterer gegen die USA gerichteten Aktivitäten im Weltraum. Dennoch behauptete Präsident Trump: „Das Ziel ist einfach. Es ist sicherzustellen, dass wir jede gegen die Vereinigten Staaten gestartete Rakete aufspüren und zerstören können – jederzeit, überall, an jedem Ort.“ (17.1.2019)

Um diesem (technisch unerfüllbaren) Anspruch gerecht zu werden, wollen die USA mit land-, see-, luft- und weltraumbasierten Systemen kontern. Dabei setzen sie auch auf Technologien, die aus Planungsszenarien der vergangenen Jahrzehnte stammen und weder technisch noch finanziell realisierbar waren. Der Weltraum soll bei der Raketenabwehr eine deutlich größere Rolle spielen, bis hin zur direkten Stationierung von Abwehr- und Angriffswaffen in der Erdumlaufbahn – letztere zum Ausschalten gegnerischer Raketenstellungen noch vor einem eventuellen Start. In den Worten Trumps: „[W]ir werden anerkennen, dass der Weltraum eine neue Domäne der Kriegsführung ist, und die [kürzlich angeordnete] Weltraumtruppe wird den Weg führen.“ (17.1.2019)

Der Start von Abwehrraketen aus Flugzeugen oder der Einsatz von Lasersystemen gegen startende Raketen stehen ebenso auf dem Programm wie die zusätzliche Stationierung bereits verfügbarer Komponenten (wie Abwehrraketen und Radarsysteme) und die Erhöhung von deren Reichweite – darunter auch die in Europa stationierten und der NATO unterstellten Aegis-Systeme. Kurzum: „Wir haben die besten Waffen in der Welt, und wir bestellen die besten Waffen in der Welt. Darauf können Sie sich verlassen.” (Trump am 17.1.2019).

An der Finanzierung will Trump die Verbündeten beteiligen: „Wir schützen all diese reichsten Länder, was mir eine große Ehre ist, aber viele von ihnen sind so reich, dass sie uns problemlos die Kosten dieses Schutzes bezahlen können.“ Dazu meint Friedenforscher Götz Neuneck lakonisch: „Viel Geld wird in einige Programme wie in ein Schwarzes Loch geworfen.“ (24.1.2019)

Über all das könnte man lachen – wenn die Pläne nicht so gefährlich wären. Bei der jüngsten Pressekonferenz des in Chicago ansässigen »Bulletin of the Atomic Scientists« betonte die Sicherheitsexpertin Sharon Squaassoni: „Die Pläne […] könnten das strategische Gleichgewicht massiv stören. China, das schon seit langem die destabilisierende Wirkung von Raketenabwehrsystemen beklagt, sagte, die US-Pläne […] könnten den regionalen Frieden und die Sicherheit beeinträchtigen, die internationalen Prozesse zur Abrüstung von Atomwaffen beeinflussen, zu einem neuen Wettrüsten führen und das strategische Gleichgewicht und die Sicherheit in der Welt unterminieren‘. Russische Regierungsvertreter setzten die US-Entwicklung weltraumbasierter Sensoren für Raketenabwehr mit dem Start eines Wettrüstens im Weltraum gleich.“ (24.1.2019, thebulletin.org)

Widerstand aus deutschen Regierungskreisen ist kaum zu erwarten – obwohl der US-Plan sich direkt auf die Raketenabwehrplanung der NATO auswirken wird.

Literatur

U.S. Department of Defense: Missile Defense Review. 17.1.2019; defense.gov.

Aufzeichnung der MDR-Vorstellung vom 17.1.2019: youtube.com/watch?v=TRehghJk-jY.

Neuneck, G.: Trumps Mauerphantasien jetzt auch im Weltall? Stellungnahme, 24.1.2018; ifsh.de.

Kubiak, K.: Europe and Trump’s Missile Defense Policy. Kommentar, 23.1.2019; ­europeanleadershipnetwork.org.

Regina Hagen ist eine Sprecherin der Kampagne »Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt« und verantwortliche Redakteurin von W&F.

Dieser Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift »Friedensforum«.

NATO-Raketenabwehr


NATO-Raketenabwehr

Stand und Herausforderungen

von Katarzyna Kubiak

Einst eine heftig umstrittene Idee innerhalb der NATO, wurde Raketenabwehr mittlerweile zu einer Kernaufgabe der kollektiven Bündnisverteidigung. Aufgrund missgelungener Kooperationsversuche strapaziert sie jedoch weiterhin die ohnehin bröckelnden Beziehungen der USA und der NATO zu Russland. Daneben veranschaulicht das erste wirklich gemeinsame NATO-übergreifende Projekt auch allianzinterne Divergenzen. Nicht zuletzt fordert die NATO-Raketenabwehr die traditionelle Rüstungskontrolle heraus.

Die NATO beschloss 2010, eine strategische Fähigkeit aufzubauen, um das gesamte europäische Bündnisgebiet und die Bevölkerungen der europäischen Bündnisstaaten vor Angriffen mit ballistischen Raketen zu schützen. Die NATO-Raketenabwehr (Ballistic Missile Defence) in Europa ist neben der taktischen Raketenabwehr (zum punktuellen Schutz von Truppen und Anlagen), der Marschflugkörperabwehr, der Flugabwehr (Air Defence) und dem Air Policing (Luftraumüberwachung und Luftraumschutz) eine Teilkomponente der integrierten Luftverteidigung und Raketenabwehr der NATO.

Die USA, treibender Akteur beim Aufbau des Systems, stellen mit ihren see- und landgestützten Raketenabwehrsystemen in Europa bisher den Löwenanteil der NATO-Raketenabwehrfähigkeiten. Die NATO finanziert ein gemeinsames Kontroll- und Führungszentrum in Ramstein, welchem die US-amerikanischen Raketenabwehrsysteme in Rumänien untergeordnet sind. Zudem sollen in Krisenzeiten die vier raketenabwehrfähigen Aegis-Zerstörer der USA im Mittelmeer unter die operative Kontrolle der NATO gestellt werden.

Darüberhinaus entscheiden einzelne Mitgliedstaaten auf Grundlage ihrer eigenen Gefahrenanalyse, welche Sensoren (Radare, Satelliten) oder Abfang­raketen sie in das System einbringen. Allerdings beteiligt sich bisher nur eine Handvoll Verbündeter: Deutschland, Polen, Rumänien, Spanien und die Türkei stellen ihr Territorium für Elemente des NATO-Systems zur Verfügung. Deutschland, die Niederlande und Spanien steuern außerdem Patriot-Flugabwehrsysteme bei; Polen und Rumänien planen das für die Zukunft. Zudem wollen Frankreich und Großbritannien in landgestützte Radarsysteme investieren und Deutschland, Dänemark sowie die Niederlande einige ihrer Fregatten mit neuen Radarsystemen ausstatten, während Belgien eine Abfangfähigkeit als Option offenhält. Zusätzlich werden Kooperationsmodelle mit Nicht-Mitgliedstaaten erwogen, die beabsichtigen, in taktische Raketenabwehrfähigkeiten zu investieren.

Eine entscheidende Hürde für die europäische Beteiligung besteht darin, dass bislang kein europäisches Land eigenständig ein komplettes Raketenabwehrsystem bauen kann. Dies bedeutet entweder eine langfristige technologische Abhängigkeit von den USA oder die Notwendigkeit, massiv in die Entwicklung nationaler oder gemeinsamer Systeme zu investieren. Alle bisherigen Versuche, transatlantische Systeme aufzubauen, sind gescheitert, weil sich die USA aus entsprechenden Projekten wieder zurückzogen, und eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung europäischer Lösungen gibt es kaum. Beide Optionen sind außerdem mit sehr hohen Kosten verbunden.

Einen flächendeckenden Schutz rund um die Uhr bietet die NATO-Raketenabwehrfähigkeit – zumindest in ihrer jetzigen Form – nicht. Dies ist vor allem auf die wenigen zur Verfügung stehenden Interzeptoren (Abwehrraketen mit Abfangflugkörper) zurückzuführen. Die im Mittelmeer stationierten Aegis-Zerstörer können zudem aus ihrer regulären Position Teile Osteuropas, der Türkei, Grönlands, der Azoren oder der Kanarischen Inseln nicht abdecken.

Die Europäer scheinen vor allem aus Gründen bündnispolitischer Solidarität in Raketenabwehrsysteme zu investieren, denn eine verlässliche Bedrohungsanalyse wurde bisher weder seitens der NATO noch der einzelnen europäischen Regierungen öffentlich vorgelegt. Von allen Staaten, die Raketenfähigkeiten entwickeln und von der NATO als potentielle Gegner eingestuft werden, kommen lediglich Syrien, Russland und Iran in Frage. Da Syrien nur über Kurzstreckenraketen verfügt (wofür eine strategische Raketenabwehr nichts bringt) und das NATO-Raketenabwehrsystem nach offiziellen Aussagen nicht gegen Russland gerichtet ist, ist der Iran der unausgesprochene Grund.

Allerdings hat das System neben der Schutzwirkung noch einen weiteren symbolischen Wert: Es ist das erste groß angelegte NATO-Projekt, an welchem sich alle Mitgliedstaaten gleichermaßen beteiligen können.

Russland und die NATO-Raketenabwehr

Die russische Regierung sieht die NATO-Raketenabwehr als Teil eines welt­umspan­nen­den, von den USA gesteuerten und ständig wachsenden Raketenabwehrnetzes,1 welches das zentrale Merkmal des Verhältnisses zwischen beiden Mächten – die strategische Stabilität – langfristig unterminieren wird. Den Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag (Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion über die beiderseitige Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) im Jahr 2002, welcher dieses Prinzip institutionalisiert hatte, sieht Russland als Kehrwende mit gravierenden Folgen für die gegenseitigen Beziehungen.

Entgegen den Beteuerungen, die NATO-Raketenabwehr stelle für Russland keine Bedrohung dar, befürchtet der Kreml genau das Gegenteil. Als Reaktion entwickelte Moskau eine Haltung der Abwehr und Konfrontation. Die Modernisierung russischer Nuklearwaffenarsenale, die Verlagerung offensiver Fähigkeiten in unmittelbare Nähe zum NATO-Gebiet sowie die Entwicklung von Marschflugkörpern, welche im Rahmen des INF-Vertrages (Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion zur Eliminierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen) umstrittenen sind, wurden mit dem Aufbau der US-amerikanischen Raketenabwehrfähigkeiten in Europa begründet. Begleitet wurden diese Maßnahmen von einer aggressiven Rhetorik des Kremls gegenüber den NATO-Verbündeten Polen und Dänemark, welche sich an der NATO-Raketenabwehr beteiligen oder dies in der Zukunft beabsichtigen.

Um einem Sicherheitsdilemma vorzubeugen, hatte sich die NATO anlässlich der Entscheidung zum Aufbau ihres Raketenabwehrsystems für eine Zusammenarbeit mit Russland ausgesprochen. Ungeachtet mehrerer Kooperationsvorschläge aus Washington, Moskau und Brüssel konnten sich die Gesprächspartner jedoch nicht auf eine praktische Kooperation einigen. Dies lag u.a. an unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eine solche Zusammenarbeit aussehen sollte.

Die NATO wollte ihre Maßnahmen zum Abfangen gegnerischer Raketen mit jenen Russlands koordinieren. Weil die Verbündeten jedoch größtenteils politisch, operationell und technologisch von den USA abhängig geblieben wären, war das Gesprächsangebot der NATO, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, weiterhin vornehmlich von den bilateralen Gesprächen zwischen Washington und Moskau abhängig.

Washington bemühte sich jedoch vor allem durch transparenz- und vertrauensbildende Maßnahmen darum, die russischen Sorgen auszuräumen. Eine echte Integration der eigenen Raketenabwehrfähigkeiten mit den Fähigkeiten Russlands strebte Washington nie an – weil es dies aus politischen Gründen nicht wollte und aus technologischen Gründen nicht nötig hatte.

Die russische Regierung, welche Raketenabwehr als ein geostrategisches Problem betrachtet, versuchte Washington zunächst davon zu überzeugen, die Stationierung von Raketenabwehrfähigkeiten in Mittel- und Osteuropa aufzugeben. Diese Bedenken spiegelten sich auch in dem darauf folgenden Vorschlag einer so genannten »sektoralen« Raketenabwehr wider. Demnach wollte Moskau für das Abfangen gegnerischer Raketen über einem gesonderten Teil des europäischen NATO-Gebiets (Baltikum, Norwegen, Polen) zuständig sein. Als beide Vorschläge abgelehnt wurden, forderte Moskau rechtsverbindliche Garantien, dass das NATO-Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet wird. Die USA waren aber nicht bereit, die eigenen Fähigkeiten zu beschränken, womit sie die russischen Befürchtungen zusätzlich bestärkten. Offen blieb, ob Russland tatsächlich an einer echten Zusammeanrbeit gelegen war.

Im Oktober 2013 setzte Russland die Gespräche zur Raketenabwehr im NATO-Russland-Rat aus. Im April 2014 brach die NATO ihrerseits als Reaktion auf die Annexion der Krim alle Kontakte auf Arbeitsebene mit Russland ab. Zwar bekräftigte die Allianz in den darauffolgenden Gipfelerklärungen ihre Bereitschaft zum Dialog über Raketenabwehr mit Russland, faktisch fehlt es jedoch an substanziellen Ideen. Zudem bemühen sich die Alliierten derzeit, auf gar keinen Fall den Eindruck zu wecken, mit Moskau wieder »business as usual« zu betreiben. Jegliches Angebot, über die Raketenabwehr zu sprechen, könnte als Überschreiten dieser roten Linie gedeutet werden.

Herausforderungen der NATO Raketenabwehr

Auch wenn nach langem Ringen die Entscheidung für eine NATO-Raketenabwehr gefallen und das Projekt mittlerweile weit vorangeschritten ist, bedeutet dies nicht das Ende von Problemen. Im Gegenteil. Die NATO-Raketenabwehr bringt eine Reihe neuer Fragen und Herausforderungen mit sich, denen sich die Allianz stellen muss – in Bezug auf die Allianzsolidarität, das Verhältnis zu Russland sowie die Zukunft von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Neue Fähigkeiten, neue Bedrohungen

Die NATO-Raketenabwehr ist auf die Bekämpfung ballistischer Raketen ausgelegt. Um Raketenabwehrsysteme zu umgehen, entwickeln etliche Staaten, darunter auch Russland, neue Fähigkeiten, u.a. Marsch- und/oder Hyperschallflugkörper. Die Warnung zahlreicher Friedensforscher*innen, die auf die Gefahr eines durch Raketenabwehr ausgelösten Wettrüstens hinwiesen, hat sich damit bestätigt.2 Falls Washington der Absichtserklärung von US-Präsident Trump von Anfang Dezember 2018 folgt und den INF-Vertrag aufkündigt – was eine Erneuerung der europäischen Rüstungskontrollarchitektur deutlich erschwert –, könnte die NATO sich gedrängt sehen, zusätzliche Mittel in den Ausbau der Marschflugkörperabwehr einzukalkulieren.

Doch gegen Russland?

Solange die NATO-Raketenabwehr im Kern ein US-Programm bleibt, werden die europäischen Verbündeten auf dessen Ausrichtung nur begrenzten Einfluss nehmen können. Aus diesem Grund ist die Raketenabwehrpolitik der Allianz nah an die der USA angekoppelt. Während Letztere jahrelang auf die Bekämpfung begrenzter Bedrohungen (vor allem aus Nordkorea und Iran) ausgerichtet war, hat sich dies 2017 mit einem Beschluss des US-Kongresses geändert. Zukünftig soll das Raketenabwehrsystem der USA gegen „sich entwickelnde und komplexer werdende Bedrohungen“ schützen, womit auch die chinesischen und russischen Interkontinentalraketen gemeint sind. Dies hat sich bisher nicht auf die Raketenabwehrpolitik der NATO ausgewirkt.

Allerdings haben mittlerweile auch die Verbündeten die Zusage, ihre Raketenabwehrpotentiale nicht gegen Russland zu richten, relativiert. Sie erklärten auf ihrem Gipfel in Warschau im Jahr 2016, gewährleisten zu wollen, dass die Allianz sich gegen „die gesamte Bandbreite an Bedrohungen […], die sich dem Bündnis aus allen Richtungen entgegenstellen könnten“, verteidigen könne. Direkt übertragen schließt dies die Bereitschaft ein, auch russische Raketen abzufangen. Auch wenn es sich hier primär um eine Antwort auf die in Kaliningrad aufgestellten Iskander Raketen handelt und die bisher in Europa stationierten Abfangraketen aus technischen Gründen russische Interkontinentalraketen kaum abfangen können, verstärkt es die lang anhaltende russische Besorgnis, dass die diesbezügliche Allianzpolitik keinesfalls im Stein gemeißelt ist.

Gemeinsam oder doch eigenständig?

Die Türkei teilte mit, sie habe mit Moskau den Erwerb russischer S-400 Triumf – eines mobilen bodengebundenen Flugabwehrsystems, das auch Kurzstreckenraketen abfangen kann – vereinbart. Die NATO, allen voran die USA, kritisiert diesen Kauf aus industrie- und sicherheitspolitischen Gründen heftig. Zukünftig sollen die Fähigkeiten der strategischen und taktischen Raketenabwehr von einem gemeinsamen Kommando- und Kontrollzentrum koordiniert werden. Da man befürchtet, dass Russland bei der Anbindung eines S-400-Systems an dieses Zentrum Zugang zu geheimen Informationen erhalten könnte, verweigert die Allianz Ankara, die S-400-Systeme zukünftig an die gemeinsame Anlage anzukoppeln. Der Streit bezeugt jedoch eine tiefere Spaltung im Bündnis, da manche NATO-Staaten die Machtposition der USA innerhalb der Allianz infragestellen und mehr europäische Autonomie fordern.

Auswirkung für Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die NATO-Verhandlungen zur Raketenabwehr liefen parallel zu Überlegungen über die Rolle von Nuklearwaffen in der Verteidigungs- und Abschreckungspolitik der Allianz. Einzelne Mitgliedstaaten argumentierten, dass Raketenabwehr gegebenenfalls zur nuklearen Abrüstung innerhalb der NATO führen könnte, da an die Stelle der Abschreckung durch Vergeltung (mit Nuklearwaffen) die Abschreckung durch die Verweigerung von Erfolgsaussichten (mit Raketenabwehr) treten könnte. Diese Sichtweise hat sich in der Allianz nicht durchgesetzt. So einigten sich die Alliierten, dass die NATO-Raketenabwehr die Abschreckungsrolle von Nuklearwaffen lediglich vervollständigen, nicht aber ersetzen kann. Damit führt die NATO-Raketenabwehr nicht zur Entwertung oder gar zur Abrüstung von Nuklearwaffen der Mitgliedstaaten.

Daneben ist die NATO-Raketenabwehr Teil des Streits um den INF-Vertrag. Als Antwort auf die US-Vorwürfe, Russland würde mit einem neuen Marsch­flugkörper das Abkommen verletzen, entgegnet Moskau, dass die USA im Rahmen der NATO-Raketenabwehr landgestütze Mehrzweck-Abschussrampen in Rumänien (und ab ca. 2020 in Polen) stationieren, welche zum Abfeuern von Marschflugkörpern innerhalb der INF-Reichweite genutzt werden können und somit den Vertrag brechen. Washington behauptet, auf alle russischen Vorwürfe umfassend eingegangen zu sein. Die NATO ihrerseits stellt sich bedingungslos hinter die USA, ohne Forderung, die russischen Anschuldigungen durch Verifikation zu klären. Zudem wurde ist laut russischem Außenministerium das russische Angebot gegenseitiger Transparenzmaßnahmen von Washington „kategorisch abgelehnt“.

Mittlerweile ist Raketenabwehr Realität geworden, die für einige Staaten – u.a. Russland oder China – schwierig hinzunehmen, aber unumkehrbar ist. Auch wenn sich Russland mit der Raketenabwehr noch nicht abgefunden haben mag, scheint der Kreml zumindest an strategischer Rüstungskontrolle mit den USA weiterhin Interesse zu haben. Der Dialog zwischen beiden Nuklearmächten ist – wenngleich stockend und visionslos – noch nicht zum Stillstand gekommen. Selbst wenn sich Moskau und Washington auf die Verlängerung des New-START-Abkommens zur Verringerung strategischer Nuklearwaffen einigen sollten (das andernfalls im Februar 2021 ausläuft) – Raketenabwehr ist zweifelslos ein wesentlicher Stolperstein für zukünftige Rüstungskontrollverträge.

Anmerkungen

1) Neben Radarsystemen und Abfangraketen auf dem eigenen Territorium und auf ca. 33 Schiffen weltweit, betreiben die USA Raketenabwehrfähigkeiten auf dem Gebiet anderer Verbündeter und Partnerländer (Grönland/Dänemark, Großbritannien, Japan, Südkorea) sowie Guam. Zudem planen einige US-Verbündete strategische Raketenabwehrfähigkeiten US-amerikanischer Herstellung zu beschaffen oder existierende auszubauen (Japan, Vereinigte Arabische Emirate).

2) Allerdings ist schwer abzuschätzen, inwiefern diese Fähigkeiten auch ohne den Auslöser Raketenabwehr, vielleicht nur langsamer, entwickelt worden wären und inwiefern die Raketenabwehr lediglich zur Legitimierung ­dieser Entwicklung beiträgt.

Dr. Katarzyna Kubiak ist Policy Fellow am European Leadership Network (ELN) in London, wo sie zu Nuklear- und Rüstungskontrollpolitik arbeitet.