Atomteststopp

Atomteststopp

von Barbara Sabel, Michael Kalman

Der Kalte Krieg scheint zu Ende. In den osteuropäischen Staaten wurden die kommunistischen Regime gestürzt. Mehrparteiensysteme nach westlichem Vorbild etablieren sich. Der Warschauer Pakt ist militärisch nicht mehr funktionsfähig. In der DDR desertieren NVA-Soldaten scharenweise. Der große Frieden ist in Europa ausgebrochen. Meint man. Und doch wird ein Relikt der neuesten Kriegsgeschichte diesen historischen Umbruch des Jahres 1989 noch lange überdauern: die atomaren Massenvernichtungsmittel, die nach wie vor in Ost und West nicht nur gehortet, sondern immer weiter modernisiert und perfektioniert werden. Nukleare Versuchsexplosionen zur Entwicklung neuer Kernwaffen werden von den Regierungen der Atommächte weiter für nötig befunden. Ein weltweites Ende der Atomtests ist nicht in Sicht.

I. Historischer Rückblick

Am 16. Juli 1945 gelang in der Wüste Alamogordo (New Mexico, USA) der erste Atomtest. Damit fand eine Vernichtungswaffe mit bis dahin nicht gekannter Zerstörungswirkung Eingang in eine von tiefgreifenden Machtgegensätzen und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Staatenwelt. Schon der zweite und dritte »Test« brachten besonders »authentische« Ergebnisse. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 töteten mindestens 156.000 Menschen auf der Stelle.

Trotz warnender Stimmen wurde die neue Waffe rasch Bestandteil der raison d'etre internationaler Politik. Das angebrochene Nuklearzeitalter offenbarte eine erschreckende Ungleichzeitigkeit zwischen dem traditionellen Politikverständnis der Staatsmänner und der völlig neuen Qualität der Kernwaffen. Herkömmliche Ziel-Mittel-Analysen, das überkommene Denken in Sieg und Niederlage, der selbstverständliche Grundsatz, Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – all diese klassischen Überzeugungen und Methoden internationaler Politik und Diplomatie hätten eigentlich eine tiefgreifende Revision erfahren müssen. Die Chancen, der atomaren Rüstungsdynamik wirksam Einhalt zu gebieten, sind jedoch schon in den Kindertagen des Nuklearzeitalters verspielt worden. Die USA nutzte ihr Kernwaffenmonopol als Mittel »atomarer Diplomatie« gegen die Sowjetunion im Zuge des sich allmählich herausbildenden Kalten Krieges. Wie in einer Art Vorspiel zur globalen Eindämmungspolitik (Containment) gegen den – so sahen es die wichtigsten amerikanischen Politiker – aggressiven und expansionistischen Weltkommunismus “entschied sich die Truman-Administration 1946 definitiv, der Sicherung durch Wahrung des Atomwaffen-Monopols Priorität vor der Vermeidung atomaren Wettrüstens einzuräumen” (Wilfried Loth, Die Teilung der Welt, München 1985, S. 136).

Der Kalte Krieg: Entfesselung der Rüstungsdynamik

Auch »gutgemeinte« amerikanische Vorschläge zur Eliminierung des drohenden nuklearen Aufrüstungsprozesses waren vor dem Hintergrund des immer deutlicher hervortretenden gegenseitigen Mißtrauens im Ost-West-Verhältnis zum Scheitern verurteilt. Der bekannte Baruch-Plan etwa sah eine Internationalisierung der Atombombe (besser Kernenergie) in drei Schritten nach folgendem Muster vor: nach dem Austausch aller wissenschaftlichen Informationen sollte eine supranationale Behörde unter Aufsicht des UN-Sicherheitsrats nach und nach alle mit Atomfragen befaßten wissenschaftlichen Einrichtungen kontrollieren. Danach sollte alles spaltbare Material kaserniert und auf die ausschließliche Verwendung zu friedlichen Zwecken hin kontrolliert werden. Diese an sich vernünftige Vorgehensweise war jedoch von den Sowjets nicht akzeptiert worden, da nicht ausgeschlossen werden konnte, daß die USA aus dem Plan einseitige Vorteile hätte ziehen können. Denn bis zur vollständigen Errichtung eines Kontrollsystems behielt sich Washington das Recht vor, weiter Bomben zu bauen. Die Sowjetunion hingegen – die 1946 noch keine Atomwaffen besaß – wäre bei ihrem Atomprogramm blockiert gewesen, was im Fall eines möglichen Scheiterns des Plans erhebliche Rückschläge für Moskau bedeutet hätte. So wie dieser Abrüstungsinitiative sollte es noch vielen gehen: die atomaren Massenvernichtungswaffen in einer von Machtrivalitäten der Blöcke geprägten Welt konnten nicht mehr eliminiert werden, weil jeder Vorschlag in diese Richtung von der Gegenseite nur als Täuschungsmanöver und als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretiert wurde. Als Konsequenz aus diesem Dilemma wurden Atomwaffen zum sich selbst reproduzierenden fait accompli; sie wurden und werden gefährlicherweise wie früher Gewehre und Schwerter in traditionelle Kosten-Nutzen-Kalküle der internationalen Politik einbezogen. Damit war und ist einer entfesselten nuklearen Rüstungsdynamik Tür und Tor geöffnet.

Die USA begannen mit dem Ausbau ihrer nuklearen Infrastruktur, der forciert wurde, als die Berlin-Blockade den Kalten Krieg auf einen neuen Höhepunkt trieb. Das Lawrence Livermore Laboratorium wurde eingerichtet, als man nach dem Bruch des amerikanischen Atomwaffenmonopols durch die Sowjetunion (Oktober 1949) – zu Beginn der Kommunisten-Hysterie der McCarthy-Ära – glaubte, die »Superbombe« entwickeln zu müssen. Die 1952 erstmals gezündete Wasserstoffbombe überstieg die Zerstörungskraft der A-Bomben noch um ein Vielfaches. Gleichzeitig wurden die Nuklearwaffen nach und nach in die Teilstreitkräfte – vor allem die Luftwaffe – integriert. Zu Beginn der fünfziger Jahre war die UdSSR durch einen Ring amerikanischer Militärstützpunkte umschlossen, auf denen B-29 (später B-52)-Bomber des SAC (Strategic Air Command) rund um die Uhr in Bereitschaft gehalten wurden. Sie alle waren in der Lage, jeden Punkt der Sowjetunion mit Atombombern zu bedrohen.

Diese militärische Option forderte zusammen mit der Entwicklung und Verbesserung der H-Bombe einen steigenden Testbedarf. Die Gegenseite schlief – wie zu erwarten war – nicht. Der sowjetische Ministerpräsident Malenkov konnte schon im August 1953 den erfolgreichen Test einer sowjetischen H-Bombe bekanntgeben. Schon in den »Kindertagen« des Nuklearzeitalters ist also ganz deutlich geworden, daß es aussichtslos ist, mit der Weiterentwicklung der Nuklearwaffen einseitige Vorteile zu erzielen.

Gleichwohl erhielt sich diese Illusion weiter am Leben – gekoppelt mit einem geradezu mythischen Vertrauen in die Segnungen des technischen Fortschritts. Im Hinblick darauf bildeten die beiden Supermächte in Ost und West tatsächlich eine Art »unheilige Allianz«. Und schon kündigte sich eine ganz neue Gefahr an: die Proliferation. Im Oktober 1952 gelang Großbritannien der erste erfolgreiche Nukleartest. 1957 konnte die erste britische Wasserstoffbombe gezündet werden.

Wachsende Kritik an Atomtests

Aber das Bewußtsein um die menschheitsbedrohende Wirkung der Nuklearwaffen wuchs. Die zahlreichen Tests, besonders der USA, begannen die kritische Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu wecken. Bis 1957 fanden alle Versuche oberirdisch statt – mit zum Teil verheerenden Folgen für Gesundheit und Umwelt.

Unter dem Eindruck des verheerenden Wasserstoffbomben-Tests »Bravo« im Pazifik, der zahlreichen Insulanern und 23 japanischen Fischern Gesundheit oder Leben kostete, appellierte der indische Premierminister Nehru am 2. April 1954 an die Kernwaffenmächte, ihre Nuklearversuche einzustellen. 1954 wurde auch die internationale Wissenschaftler-Organisation Pugwash und die britische »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) gegründet.

Allmählich fand die Testproblematik auch Eingang in die Abrüstungsinitiativen der Atommächte. Am 10. Mai 1955 legte die Sowjetunion dem Unterausschuß der UNO-Abrüstungskommission ein ganzes Bündel von Abrüstungsvorschlägen vor, wobei dem Kernwaffenteststopp eine vorrangige Bedeutung zukam. Der umfassende Abrüstungansatz, den Moskau in den Folgejahren immer wieder in abgewandelter Form vortrug, war jedoch wegen seiner Vielschichtigkeit und Ausgedehntheit nicht konsensfähig. Er enthielt immer wieder zu viele Punkte, die der Westen als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretierte. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vollzog sich die allmähliche Separierung des »test ban issue« von den umfassenden Ansätzen, ein Prozeß, der einen allgemeinen Paradigmenwechsel in der internationalen Sicherheitspolitik deutlich machte: Ansätze vollständiger Abrüstung resignierten zur Rüstungskontrolle voneinander isolierter Rüstungsbereiche. Damit kann man zwar eher Übereinkünfte erzielen, der entfesselten Rüstungsdynamik wird aber keinerlei Einhalt geboten, weil nur Symptome, nicht aber Ursachen beachtet werden.

Die Vorgeschichte des Partiellen Teststoppvertrages (1958-1963)

Im Jahre 1958 bewegten sich die Atommächte aufeinander zu. Am 31. März 1958 wählte Moskau erstmals das Mittel eines einseitigen Teststopp-Moratoriums, um die Sache voranzubringen. Chruschtschow forderte die Atommächte im Westen auf, seinem Beispiel zu folgen, andernfalls würde er “sich der übernommenen Verpflichtung zur Einstellung der Kernwaffenversuche für enthoben … betrachten” (zit. nach Franz Seiler, Die Abrüstung. Eine Dokumentation der Abrüstungsbemühungen seit 1945, München 1974, S. 98). Eisenhower lehnte die sowjetische Initiative zunächst ab. Nach dem Insistieren Chruschtschows schlug der amerikanische Präsident jedoch immerhin eine Expertenkonferenz zur Möglichkeit der Verifizierung eines Teststopps vor. Schließlich wurde diese Konferenz vom 1. Juli bis 21. August 1958 unter Teilnahme von acht Ländern – vier West, vier Ost – auch tatsächlich abgehalten. Das Ergebnis war bemerkenswert. Durch ein weltweites Netz von 160 bis 180 Kontrollposten, die seismische, akustische und Radiosignale im Zusammenhang mit Atomexplosionen entdecken und radioaktive Trümmer sammeln sollten, sei man in der Lage, selbst kleinere Explosionen von 1-5 Kilotonnen (Kt) zu registrieren. Kritisch sei die Kontrolle vor allem bei sorgfältig verborgenen tiefen unterirdischen Tests.

Relativ rasch konnten sich die Atommächte auf dreiseitige Verhandlungen einigen, die im November 1958 in Genf begannen und von einem Moratorium begleitet wurden. Damit ist die direkte Vorgeschichte zum »Partiellen Teststoppvertrag« (Partial Test Ban Treaty, ptbt) eingeleitet worden, der 1963 geschlossen wurde.

Die folgenden vier Jahre jedoch waren immer wieder überschattet von Krisen, die die Verhandlungen zum Stocken brachten oder unterbrachen. Durch den Abschuß des amerikanischen Aufklärungsflugzeugs U-2 über sowjetischem Territorium im Mai 1960 lagen die Gespräche bis zum Amtsantritt Präsident Kennedys, Anfang 1961, auf Eis. Die Berlin-Krise im August 1961 hatte schließlich den Abbruch des dreiseitigen Moratoriums zur Folge. Die Sowjetunion führte dann in der kurzen Zeit bis Ende 1961 sage und schreibe 50 oberirdische Tests durch, wovon einer die ungewöhnliche Ladungsstärke von 50-60 Mt erreichte! Die radioaktive Belastung der Umwelt durch Atomversuche erreichte in diesen Jahren ihren absoluten Höhepunkt.

Die Kuba-Krise im Oktober 1962 führte jedoch den politischen Entscheidungsträgern und der Weltöffentlichkeit die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zwischen Moskau und Washington drastisch vor Augen. Schon 1959 hatte man sich im Grundsatz darauf geeinigt, alle unterirdischen Tests mit einem Ausschlag über 4,75 auf der Richter-Skala zu verbieten; dies entspricht einer Schwelle von 20 kt.

Der PTBT von 1963

Am 5. August 1963 konnte nun tatsächlich nach nur 20-tägiger Verhandlungsdauer in Moskau der »Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser« (Partieller Teststopp-Vertrag, Partial Test Ban Treaty, PTBT) zwischen den USA, der UdSSR und GB unterzeichnet werden. Dies war ein großes Hoffnungszeichen – welches allerdings aus der Retrospektive betrachtet praktisch alle Probleme der ungehemmten nuklearen Aufrüstung ungelöst ließ. Denn zum einen konnte man sich nicht auf einen Umfassenden Teststopp-Vertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) einigen – Moskau hätte dabei nur drei Vor-Ort-Inspektionen gebilligt, die westlichen Vertragspartner forderten aber sieben – zum anderen beherrschten die USA bereits seit 1957, die UdSSR seit 1962 die Technik unterirdischer Atomversuche. Zudem mußte Präsident Kennedy dem Kongreß als Gegenleistung zu dessen Ratifikation des PTBT eine drastische Erhöhung des unterirdischen Testprogramms versprechen. Es läßt sich unschwer rekonstruieren, daß die Sprengköpfe fast des gesamten strategischen Nuklearraketenprogramms beider Supermächte in unterirdischen Versuchsreihen nach 1963 entwickelt wurden. Sämtliche noch folgende nukleartechnologische Revolutionen wie Mehrfachsprenköpfe (MIRV, MARV) sollten auf Tests zurückgehen, die vom ptbt unberührt blieben. Die Präambel des begrenzten Teststopp-Abkommens hatte nicht umsonst die rasche Verwirklichung eines CTBT eingefordert.

Das Problem der Weiterverbreitung der Kernwaffen

Die Weiterverbreitung von Kernwaffen (Proliferation) konnte nun ungezügelt weitergehen. Frankreich konnte seine erste Atombombe bereits 1960 zünden. China zog 1964 nach, was angesichts der verbalaggressiven Nukleardoktrin Pekings nicht gerade beruhigend wirkte. Was aber, wenn nun immer mehr Staaten nach der Bombe griffen? Wie sollten die Atommächte den »nuklearen Habenichtsen« erklären, daß sie gefälligst auf Nuklearwaffen zu verzichten hätten, sie selbst aber unablässig weitertesten? Kein Zweifel: nun zeigte sich der Zusammenhang zwischen einem Umfassenden Teststopp und einer wirksamen Vorkehrung gegen nukleare Proliferation. Aber Frankreich und China traten noch nicht einmal dem PTBT bei. Immerhin kam 1968 der Nichtweiterverbreitungsvertrag (Non-Proliferations-Treaty, NPT) zustande. Auch dieses Abkommen betonte die Notwendigkeit eines umfassenden Teststopps. Sein Regime bleibt jedoch bis heute bedroht. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Schwellenländern, die die technologische Fähigkeit der Kernspaltung besitzen.

Keine Fortschritte (1963-1974)

Die Jahre nach Abschluß des begrenzten Teststopp-Abkommens brachten in Bezug auf einen CTBT keine Annäherungen. Von 1962 bis 1969 wurde die Frage eines Umfassenden Teststopps Jahr um Jahr im Achtzehn-Nationen-Ausschuß für Abrüstungsfragen in Genf behandelt. Doch die unterirdischen Versuche warfen – wie oben bereits angedeutet – auch neue Verifikationsprobleme auf. In der Kontrollfrage wurde der Dissens zwischen der USA und der Sowjetunion denn auch am deutlichsten. Moskau vertrat den altvertrauten Standpunkt, daß staatliche Aufklärungsmittel (National Technical Means, NTM) zur Überwachung völlig ausreichten. Vor-Ort-Inspektionen wurden als überflüssig erachtet. Die USA und Großbritannien wollten jedoch gerade auf diese Inspektionen unter keinen Umständen verzichten, da die seismischen Meßmethoden trotz Verbesserung nicht ausreichten. Die unterschiedliche Interpretation der Wirksamkeit von Meßverfahren war selbstverständlich nur vordergründig eine wissenschaftliche Kontroverse; sie war und ist eine Agentur politischer Interessen und Ängste. Das wirkliche Interesse an einer Beendigung der Tests war bei den Atommächten wohl sehr gering. Die Denkvorstellung und die Struktur nuklearer Abschreckung hatte sich im Westen eingeschliffen; man bemühte keinerlei politische Phantasie für eine alternative Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund einer Beendigung der Tests. Das Mißtrauen Moskaus gegenüber westlicher Spionage war die Hauptursache für die notorische Ablehnung der Vor-Ort-Kontrollen. Vermittelnde und abgestufte Verifikationsvorschläge von Nichtkernwaffenstaaten wie Schweden blieben praktisch ohne Resonanz.

Die Verträge von 1974 – eher kontraproduktiv

In den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der ersten Ost-West-Entspannungsperiode, konnte im Juli 1974 auch ein sogenannter Test-Bann-Schwellenvertrag (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) geschlossen werden. Diese Übereinkunft verbietet den Parteien (USA, UdSSR) Tests mit einer Ladungsstärke von über 150 kt. Ergänzt wurde dieses Abkommen durch den »Vertrag über Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken« (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET), der 1976 paraphiert wurde. Beide Verträge sind bis heute nicht ratifiziert worden. Gleichwohl haben sich die beiden Supermächte im Großen und Ganzen bis heute daran gehalten. Vom Standpunkt des verbal immer wieder beschworenen Endziels CTBT haben sich die Schwellenverträge jedoch eher als kontraproduktiv erwiesen. Der breiten Öffentlichkeit wurde eine aktive Rüstungskontrollpolitik suggeriert, die in Wirklichkeit alles beim Alten ließ. Der nuklearstrategische Trend in Richtung »kleinere«, dafür treffgenauere Sprengköpfe war auch ohne Schwellenvertrag längst beschritten.

Neue Impulse unter Jimmy Carter

Die internationalen Abrüstungsperspektiven erhielten jedoch neue Impulse als Jimmy Carters Präsidentschaft begann. In einem Interview am 23. Januar 1977 bekannte er: “Ich möchte rasch und energisch mit einem umfassenden Versuchsverbotsvertrag vorankommen; ich bin für die Einstellung der Erprobung aller Kernwaffensprengsätze, und zwar sofort und völlig”. (Heinrich Siegler, Dokumente zur Abrüstung 1977, S.7) So konnten im Juli 1977 Verhandlungen über den CTBT zwischen USA, Großbritannien und UdSSR beginnen. Am 30. Juli 1980 wurde dem Abrüstungsausschuß (Comitee on Disarmament, CD) ein entsprechender Plan vorgelegt. In Fragen der Kontrolle eines dementsprechenden Abkommens wurden bemerkenswerte Fortschritte und Übereinkünfte erzielt. So sollten zehn seismische Meßstationen auf dem Gebiet der Gegenseite installiert werden. Sogar Vor-Ort-Inspektionen wurden prinzipiell eingeschlossen. Den Vertragsparteien blieb aber ein Verweigerungsrecht derartiger Kontrollen noch zugestanden. Im November 1980 vertagten sich die Gesprächspartner.

Reagans Politik der Stärke und Gorbatschows Moratorium

Mit Ronald Reagan folgte Carter ein Mann ins Weiße Haus, der den Gedanken einer Politik der Stärke mit der Vision verband, das bestehende nukleare Abschreckungssystem durch eine weltraumstationierte Raketenabwehr zu ersetzen. Es war nur folgerichtig, daß der neue Präsident keine Neigung verspürte, die trilaterale Verhandlungsrunde neu zu beleben. Im Juli 1982 erklärte die US-Administration offiziell, die Verhandlungen über einen CTBT nicht wiederaufnehmen zu wollen. Im März 1983 teilte Reagan der Welt seine »Vision« einer friedlichen Welt, gestützt auf eine Raketenabwehr im Weltraum mit. Diese »Strategic Defense Initiative« (SDI), deren Kern die Entwicklung von Nuklearwaffen der sogenannten »Dritten Generation« ist, erfordert einen riesigen Testbedarf. Ein Report der US-Rüstungskontroll- und Abrüstungsbehörde (ACDA) sprach sich 1983 denn auch für Atomtests auf unbeschränkte Zeit aus. Bis Gorbatschows Amtsantritt als Generalsekretär im März 1985 gab es keinerlei Bewegung beim test ban issue, obwohl sich der internationale Druck für einen CTB vergrößerte. Der neue Generalsekretär Gorbatschow bediente sich im ersten Jahr seiner »Amtszeit« eines alten-neuen Mittels, um Bewegung in die Testbann-Frage zu bringen. Am 29. Juli 1985 verkündete er ein einseitiges Moratorium, beginnend mit dem 40. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August 1985. Dieses Moratorium, zu dem der Generalsekretär die USA einlud, beizutreten, war bis zum 31. Dezember 1985 befristet. Die amerikanische Administration weigerte sich jedoch, ebenfalls die Tests einzustellen. Im Jahre 1986 verlängerte Gorbatschow diese einseitige Maßnahme daher noch dreimal. Die USA blieben bei ihrer ablehnenden Haltung. Im Januar 1987 schließlich kündigte die Sowjetunion an, sie werde nach dem ersten amerikanischen Versuch ihre Tests wieder aufnehmen. Mit dem 26. Februar 1987 war dann tatsächlich das Ende des sowjetischen Moratoriums markiert.

Die USA bedienten sich unterschiedlicher Argumente, um ihre Position vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen. Nach Gorbatschows erster Ankündigung sprach Reagan von “reiner Propaganda”, lud jedoch als Zeichen guten Willens immerhin sowjetische Spezialisten ein, amerikanische Tests in Nevada vor Ort zu beobachten. Im Laufe des Jahres 1986 war aus amerikanischen Regierungskreisen zu hören, ein umfassender Teststopp, worauf Gorbatschows Moratorium abzielte, sei überhaupt nicht verifizierbar. Dieses Argument wurde selbst von Testbefürwortern als ungeschickt qualifiziert (siehe z.B. Thomas Enders, Verbot von Kernwaffen-Versuchen – nützlich oder schädlich für die Sicherheit?, Europäische Wehrkunde 10/1985), da die Experten in ihrer überwältigenden Mehrheit bereits eine ausreichende Kontrolle der Einhaltung eines CTBT für möglich halten.

Schließlich wurde Washington deutlicher: die Tests seien für die Sicherheit der Vereinigten Staaten unerläßlich, da ohne sie die Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung nicht garantiert werden könne.

Die Fronten geraten in Bewegung – aber noch kein Teststopp in Sicht (1986-1990)

Trotzdem gingen vom Moratorium vertrauensbildende und rüstungskontrollpolitische Impulse aus. Denn der Druck in der Weltöffentlichkeit wie auch innerhalb der Vereinigten Staaten zur Beendigung der Tests wuchs. Bereits Ende 1985 hatten 30 Kongreßmitglieder gegen einen Atomversuch protestiert, der der Erprobung eines nuklear »gepumpten« Röntgenlasers diente. Anfang 1986 forderten bereits 63 Kongreßmitglieder (darunter viele Republikaner) eine Verschiebung des ersten Tests jenes Jahres – er wurde gleichwohl am 24. März 1986 durchgeführt. Im Mai 1986 wurde ein informelles Abkommen zwischen der US-Umweltschutzorganisation »Natural Resources Defense Council« (NRDC) und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften über die gegenseitige Beobachtung und seismische Kontrolle der Tests geschlossen. Bald darauf durften amerikanische Seismologen in der Umgebung des Testgebietes von Semipalatinsk (Kasachstan) ihre Meßgeräte zur Kontrolle des Moratoriums aufstellen. Das Abkommen wurde im Juni 1987 verlängert. Im Juli 1986 konnten bilaterale Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über alle Aspekte der Kernwaffentests beginnen. Freilich gab es kein Mandat zur Aushandlung eines Abkommens. 1986 und bis weit in das Folgejahr hinein versuchte die sowjetische Diplomatie durch Herstellung bestimmter Junktims die USA von ihrer orthodoxen Haltung in der Teststoppfrage abzubringen. Nach der Kernreaktor-Katastrophe von Tschernobyl wurde eine verstärkte internationale Zusammenarbeit bei Reaktorunfällen von Fortschritten in der Teststoppfrage abhängig gemacht. 1987 wurde ein ähnlicher Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (INF) hergestellt. Die USA ließen sich im Kern aber darauf nicht ein. Im Frühjahr 1987 erklärten sie, daß die Fortsetzung der Versuche für die vorhersehbare Zeit unerläßlich sei.

Gleichwohl konnte Reagan die trotz ihres Scheiterns überaus wirkungsvolle sowjetische Abrüstungsoffensive kontern. Er lenkte das Augenmerk auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge von 1974 und 1976.

Im Dezember 1987 kam es tatsächlich zu bilateralen Verhandlungen mit dem einvernehmlich formulierten “Endziel” eines “vollständigen Verzichts auf Nukleartests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses.” Das klang gut, war aber im Prinzip eine »Niederlage« für die Sowjetunion und ihre proklamierte Linie eines direkten Zusteuerns auf einen Umfassenden Teststopp.

Der Dissens zwischen beiden Parteien über die angeblich notwendige Verbesserung der Verifikation führte zu einem Gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE), das vorsah, je einen nuklearen Sprengsatz auf den test-sites beider Länder in Nevada und Kasachstan zu Überprüfung der Meßmethoden zu zünden.

Diese Testexplosionen wurden im August und September 1988 durchgeführt. Der »symbolische« und vertrauensbildende Aspekt solcher Art von Zusammenarbeit sollte nicht unterschätzt werden und wurde vor allem von US-Seite breit ausgeschlachtet. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das »Endziel« wieder einmal aus dem Blick geriet.

Anfang 1990 zeichnet sich die Ratifikation der Schwellenverträge ab. Aber was hat die Ratifizierung von Abkommen, die rüstungskontrollpolitisch (oder sagen wir deutlicher: abrüstungspolitisch) schon zum Zeitpunkt ihrer Paraphierung überholt waren, für einen Sinn? Selbst die positive Ausstrahlung eines formellen Inkrafttretens der Schwellenverträge für die Erreichung eines CTB muß eher als gering eingestuft werden. Denn die von den Amerikanern favorisierte CORRTEX-Methode, deren Überprüfung im JVE soviel Zeit und Geld gekostet hat, ist für niedrige Ladungsstärken ungeeignet.

II. Atomtests und aktuelle Rüstungsdynamik

Die nuklearen Arsenale der beiden Supermächte haben sich in den letzten 40 Jahren in erheblichem Maße ausdifferenziert. Heute werden die 22.500 amerikanischen Sprengköpfe aus 27 verschiedenen Typen gebildet (U.S. nuclear weapons stockpile, in: Bulletin of the Atomic Scientists, fortan zitiert: BAS; June 1989, S. 49). In der Sowjetunion verteilen sich gar über 50 verschiedene Sprengköpfe auf 67 nukleare Waffensysteme; die 32.000 sowjetischen Sprengköpfe übersteigen das amerikanische Arsenal um 45 % (Estimated Soviet nuclear stockpile, July 1989, in: BAS, July/August 1989, S. 56). In diesen »nuklearen Wucherungen« hat sich der Kalte Krieg als (ehemaliger) Kampf zweier einander ausschließender Weltordnungsmodelle materialisiert. Die fortlaufende Modernisierung und Perfektionierung dieser Arsenale wird jedoch auch zu Beginn der neunziger Jahre mit strategischer Analytik rationalisiert. Es ist bei den Atommächten kein Trend zur dauerhaften Einstellung der Tests erkennbar.

Den USA fiel mit Einschränkungen die Vorreiterrolle bei der Entwicklung immer modernerer nuklearer Waffensysteme zu. Die nuklearen Fähigkeiten haben in den letzten Jahrzehnten in Ost und West immens zugenommen. Aufgrund der jahrzehntelangen Testerfahrung hat sich das Know-How über atomare Sprengköpfe in den USA, der UdSSR, aber auch in Frankreich, Großbritannien und selbst in China außerordentlich verbessert. Seit langem sind die gesamten Verteidigungsstrukturen in Ost und West nuklearisiert, greifen nukleare und konventionelle Waffensysteme in den Großverbänden nahtlos ineinander über. Auf bundesdeutschem Boden ist ein breites Sprengkopfsortiment gelagert, beginnend mit der notfalls von einem Soldaten zu transportierenden »Rucksack«-Bombe mit 0,1 kt Sprengkraft (die allerdings in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wieder abgezogen wurde) bis zur Atombombe im Megatonnenbereich. Sämtliche dieser für den Einsatz auf dem mitteleuropäischen Gefechtsfeld bestimmten Gefechtsköpfe sind auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada getestet worden.

Die Strategien und aus ihnen abgeleitete taktisch-operative Einsatzpläne formulieren Anforderungen an die nuklearen Waffensysteme, die einen erheblichen Atomtestbedarf mitbedingen. Die NATO-Doktrin der flexible response erfordert eine nukleare »Reaktionsfähigkeit« auf allen Ebenen eines bewaffneten Konflikts, von dem »nuklearen Warnschuß« über atomare Schläge gegen Truppenkonzentrationen des Warschauer Pakts bis zur »allgemeinen nuklearen Reaktion«.

Die Relation des Sprengkopfs zu seinem Träger wird in zunehmend zielsicheren Versionen erprobt. Anfang der fünfziger Jahre gab es nur einen Trägertyp, den strategischen Atombomber, wie die amerikanische B-29. Durch die Entwicklung ballistischer Mittel- und Langstreckenraketen kamen bodengestützte Abschußrampen hinzu. 1960 wurde in den USA das erste mit seegestützten Nuklearraketen ausgerüstete Unterseeboot in Dienst gestellt.

Atomare Sprengköpfe in der Bundesrepublik
Sprengkopf Sprengkraft Entwicklung Einführung System
W 31 1 kt NIKE
W 33 1-12 kt (2 Versionen) 1954 1956 Haubitzen 203 mm
W 45 1-15 kt (3 Versionen) seit 1956 (LANL) 1965 MADM
W 48 0,1 kt 1957 1963 Haubitze 155 mm
W 54 0,01-1 kt (LANL) seit 1960 1964 SADM
W 70 1-100 kt (4 Versionen) 1969 1973 LANCE
W 79 1981 Haubitzen 203 mm
W 82 2/1990 Haubitze 155 mm
B 57 unter 20 kt 1960 1964 Bombe
B 61 u. 1-345 kt 1975 Bombe
Durch den INF-Vertrag wieder abgezogen:
W 50 60-200 kt (3 Versionen) Pershing 1A
W 84 0,2-150 kt CM
W 85/W 80 0,3-80 kt Pershing II
Abkürzungen:
MADM – Medium Atomic Demolition Munition (Mittlere Atommine)
LANL – Los Alamos National Laboratory
SADM – Spezielle Atommine »Tornister- oder Rucksackbombe«, sind in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abgezogen worden.
NIKE HERCULES MIM 14 B – in der Nuklearversion (Luftabwehrrakete); die W 31 ist 1984 abgezogen worden.
W 79 – ist ein Neutronensprengkopf und in den USA gelagert.
W 70 – gibt es als A- und Neutronensprengkopf.

Laut Mechtersheimer/Barth, a.a.O., S. 370 besitzen die verschiedenen in der Bundesrepublik
gelagerten Atombomben eine Sprengkraft zwischen 5 und 1.450 kt (= 1,45 Mt oder die
120fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe!).
Das Jahr der Entwicklung bezeichnet das Jahr der ersten Planungs- und Designphase (Phase I
und II). Die eigentliche Atomtestphase (III) schließt sich ungefähr ein bis zwei Jahre
später daran an.

Quelle: Cochran, Arkin, Hoenig, Nuclear Weapons Databook, Vol. I U.S. Nuclear forces
and Capabilities, Cambridge (Mass.) 1984; Mechtersheimer, Barth, Militarisierungsatlas der
Bundesrepublik, Neuwied, Berlin 1988 (3. Auflage); Bulletin of the Atomic Scientists,
verschiedene Ausgaben 1989

Konsequenz der Abschreckung: Diversifizierung der Atomwaffenprofile

Schon die unterschiedlichen Trägersysteme erzwingen unterschiedliche Sprengkopfprofile, deren Entwicklung Atomtests erforderlich machen. Die Ausdifferenzierung allein des Raketenarsenals erfordert weitere Sprengkopfvarianten. Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen unterscheiden sich mindestens hinsichtlich fünf Kriterien:

1. Wurfgewicht. Die Nutzlast der Raketen. Sie definiert sich als Summe der Gewichte aus Gefechtsköpfen (Wiedereintrittsflugkörper, Re-Entry-Vehicles, RV), Einrichtungen zur Freigabe, zum Ausstoß oder der Flugführung der RV's und Eindringhilfen. Das Wurfgewicht der strategischen bodengestützten Interkontinentalrakete Minuteman III mit ihrem aus 3 W-78-Sprengköpfen bestehenden MK-12A Mehrfachsprengkopf beträgt über eine Tonne (1.087,2 kg). Die modernere MX-Rakete erreicht durch ihren Zehnfachsprengkopf MK-21, W 87, hingegen 3.578,7 kg, die Kurzstreckenrakete Lance mit einem Gefechtskopf 211 kg.

2. Flugbahn. Die Wiedereintrittsflugkörper einer ICBM werden nach dem Brennschluß der Startrakete von einem sogenannten Bus herausgestoßen und erreichen während der Hauptflugphase eine Höhe von 1.200 km weit oberhalb der Atmosphäre. Lance-Raketen haben eine viel niedrigere Flugbahn und erreichen je nach Reichweite eine Flughöhe zwischen 1.350 und 45.700 Metern.

3. Reichweite. Lance 5-125 km, Minuteman III über 14.000 km, Trident II D 5 7.400 km

4. Einfallswinkel. Nach der maximal nur 60 Sekunden dauernden Zielanflugphase treffen die Raketen-Gefechtsköpfe je nach Art der Flugbahn bzw. der Reichweite in unterschiedlichen Einfallswinkeln am Erdboden auf. Cruise Missiles haben im Gegensatz dazu noch einmal prinzipiell andere Auftreffwinkel, weil sie anders als Raketen in Bodennähe fliegen und ihren Flugweg nach vorprogrammierten Landmarken korrigieren. CM's sind auch erheblich langsamer als ballistische Flugkörper und erreichen ca. 1.000 km/h. Auch (strategische) Bomben verlangen völlig andere Sprengkopfprofile, da sie über feindlichem Territorium abgeworfen werden und nach freiem Fall auftreffen.

5. Geschwindigkeit. Lance 3 Mach, Minuteman III nach Brennschluß 19,7 Mach oder 24.000 km/h, Pershing II 8 Mach.

Die Innovationsschübe in der Sprengkopftechnologie werden mit der angeblichen Notwendigkeit gerechtfertigt, die Zweitschlagfähigkeit zu verbessern. Dieser second-strike-capability wird eine stabilitätsfördernde und kriegsverhindernde Wirkung zugeschrieben. Der extrem dynamische Charakter der nuklearen Rüstungsentwicklung mit seinen unentwirrbaren Prozessen der Vor- und Nachrüstung gibt dieser Rechtfertigung einen zweifelhaften Charakter: jede »stabilisierende« Rüstungsentscheidung ist auch als Versuch der Verbesserung der Erstschlagkapazität interpretierbar.

Dem extensiv und offensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff der NATO gemäß dürfen keine »Sanktuarien« auf dem Gebiet der Sowjetunion entstehen. Jedes strategisch wichtige Ziel soll bedroht werden können. Was der amerikanische Luftwaffenminister Aldridge auf den sogenannten »Tarnkappen-Bomber« Stealth münzte, gilt auch für neue Sprengkopftypen, die jetzt in Nevada getestet werden: mobile und gehärtete Ziele in der Sowjetunion sollen “unter Risiko” gehalten werden (zitiert nach: Ulrich Albrecht, Stealth, Dossier Nr. 2, Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, 1989). Verteidigungsminister Carlucci hat gegen Ende seiner Amtszeit die Entwicklung von Erddurchdringungssprengköpfen (»earth penetrating warheads«) mit bislang unerreichter Durchschlagskraft genehmigt (National Resource Defense Council -NRDC-, Phasing Out Nuclear Weapons Tests. A Report to the President and Congress from Belmont Conference on Nuclear Test Ban Policy, o.O. 1989, S. 27). Der neue Sprengkopf soll sich nach dem Abwurf in die Erde bohren können, um erst dann zu explodieren. Seine “Wirkung solle so verheerend sein, daß…(er) die Wände der tiefsten unterirdischen Bunker durchdringen und im Kriegsfall die gesamte sowjetische Führung auslöschen” könnte (FAZ, 24.7.1989). Es sind aber die anderen anvisierten Eigenschaften dieses Sprengkopfes (möglicherweise vom Typ B-61, model 7, siehe Kasten), die einen nicht geringen Testbedarf erfordern werden: reduzierte Druck- und Hitzeeffekte.

Die neue Waffe dürfte zum Einsatzprofil des B-2-Bombers passen, der im Tiefflug weit ins sowjetische Territorium eindringen und neben Kommandozentralen die mobilen Interkontinentalraketenstellungen der SS-24 und SS-25 bekämpfen soll. Dies wird den Waffenspezialisten in den drei US-Waffenlaboratorien noch eine weitere Leistung abverlangen: die Entwicklung eines verzögerten Zündsatzes, der bewerkstelligen soll, daß die Detonation erst dann erfolgt, wenn der tieffliegende B-2-Bomber schon in sicherer Entfernung ist (Holger Mey, Europa-Archiv Nr. 6/1988).

Die modernsten Sprengköpfe des amerikanischen Arsenals
Sprengkopf Sprengkraft Spezifikation
B-61 1-500 kt Strategische Bombe
B-83 u. 1-1.200 kt Strategische Bombe
W-80-1 5-150 kt ALCM
W-84 0,2-150 kt GLCM
W-87 300 kt MX
W-88   Trident II
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben die USA mindestens sechs verschiedene Sprengkopftypen entwickelt, die 1988, den einschlägigen Hearings des Kongresses zufolge, produziert wurden:

Derzeit werden mindestens drei Sprengkopftypen getestet:

  • B-90 Nuclear Depth Bomb (Anti-Submarine Warfare Standoff Weapon, ASW/SOW). Diese Abstandswaffe zur U-Boot-Bekämpfung soll im Haushaltsjahr 1993 in das Arsenal aufgenommen werden (BAS, Juli 1989)
  • SRAM-2 (Short-Range Attack Missile), ein luftgestützter Abstandsflugkörper.
  • B-61 (model 7). Diese Bombe ist seit Anfang der siebziger Jahre in verschiedenen Versionen im amerikanischen Nukleararsenal. Die jetzt getestete Version ist wahrscheinlich ein Erddurchdringungssprengkopf.

Modernisierung der Arsenale

Die Testserien in Nevada dienen jedoch nicht nur der zukünftigen Modernisierung der strategischen Nukleararsenale; sie betreffen auch in den neunziger Jahren geplante Nuklearsysteme für Europa. Einschlägige Militärexperten bestätigen, daß die verbliebenen Kernwaffenkräfte der NATO einer Modernisierung bedürften, um den Erfordernissen der »Flexible Response« gerecht zu werden. Die Sprengköpfe folgender Waffensysteme werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren auf der NTS getestet:

  • Nachfolgemodell Kurzstreckenrakete Lance, evtl. als Army Tactical Missile System (ATACMS) in der Nuklearversion, von Mehrfachraketenwerfern (MLRS) abzuschießen.
  • Entwicklung einer Luft-Boden-Abstandswaffe SRAM-T könnte in Europa die abzuziehenden Pershing II und Cruise Missiles ersetzen.
  • Modernisierung nuklearer Artilleriegranaten mit W-82-Sprengköpfen
  • Modernisierung Nuklearbomben der dual capable Kampfflugzeuge (siehe ami 1/90, S. 3).

Im Haushaltsjahr 1988 gaben die USA 618,9 Mio. $ für die Atomtests aus. Im fiscal year (FY) 1989 betrug die Summe 524,2 Mio. $. Im laufenden Haushaltsjahr 1990 sind Mittel in Höhe von 511,7 Mio. $ vorgesehen. Trotz leichten Rückgangs stehen auch aktuell alle Finanzmittel zur Verfügung, um die Modernisierung und Neuentwicklung von Nuklearwaffen voranzutreiben.

III. Atomtests, SDI und kein Ende

Mit Präsident Reagans Vision einer lückenlosen, weltraumgestützten Raketenabwehr (Strategic Defense Initiative, SDI) sind neue Begründungen für die Aufrechterhaltung der Atomtests in die Diskussion gekommen. SDI strebt Laserwaffen an, die gestartete sowjetische Interkontinentalraketen bereits in der Anfangsphase zerstören sollen. Drei Laserarten benötigen zu ihrer Erzeugung die Energie von nuklearen Detonationen:

  • Atomlaser zur Bekämpfung von Aufklärungs- und Fernmeldesatelliten des militärischen Gegners.
  • Weltraumgestützte Mikrowellenwaffen zur Zerstörung der elektronischen Infrastruktur auf der Erdoberfläche.
  • Röntgenlaser zur Zerstörung anfliegender ballistischer Interkontinentalraketen.

Der Röntgenlaser

Der Röntgenlaser ist die anspruchsvollste »Atomwaffe der dritten Generation«. Dieses System besteht aus einem nuklearen Sprengsatz, der von einem zylindrischen Bündel sehr dünner metallischer Fasern umgeben ist. Bei der Nuklearexplosion bewirken die freiwerdenden Röntgenstrahlen in der kurzen Phase vor der Selbstzerstörung des Systems, daß ein Puls sekundärer Röntgenstrahlen sich in Richtung der Metallfasern ausbreitet. Eine Studie der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft kam schon vor drei Jahren zu dem Schluß, daß die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten fast unüberwindlich sind. Am Beispiel des Röntgenlasers wurde ausgeführt: “Da die Atmosphäre Röntgenstrahlen absorbiert, müßte eine entsprechende Einrichtung in mehr als 80 Kilometer Höhe stationiert werden – möglicherweise mittels irgendeiner Art Katapult-System. Notwendig wäre auch eine Methode, die Bündel von Röntgenstrahlen zu fokussieren und auf ein vorgegebenes Ziel zu richten. Auch müßte man eine Reihe anderer physikalischer Konzepte auf ihre Wirksamkeit untersuchen, ehe man abschließend beurteilen könnte, ob nuklear gepumpte Röntgenlaser in der strategischen Verteidigung anwendbar seien” (Kumar N. Patel, Nicolaas Bloembergen, SDI und Waffen mit gerichteter Energie, Spektrum der Wissenschaft, November 1987). Trotz solcher Vorbehalte hatte die Regierung Reagan seit 1984 nahezu 17 Mrd. US-Dollar für SDI ausgegeben. Der Etat für Kernwaffenversuche hatte sich von 201 Mio. $ (FY 1981) auf 388 Mio. $ im Haushaltsjahr 1984 verdoppelt (SZ, 31.1.1984). Der erste unterirdische Atomtest im Rahmen eines Röntgenlaser-Versuchs (Code: Dauphin) wurde unter der Zuständigkeit des Lawrence Livermore Laboratoriums am 14. November 1980, also noch vor Reagans »Star Wars«-Rede, auf der Nevada Test Site durchgeführt. 1983 und 1985 folgten je zwei weitere Tests des »X-Ray-Lasers« (NRDC, Known U.S. Nuclear Tests July 1945 to 31 December 1985). Es ist gesichert, daß zwischen Mitte 1985 und Mitte 1988 sechs weitere Atomversuche zur Erforschung nukleargetriebener SDI-Waffen durchgeführt wurden (FR, 10.8.1988). Die Anzahl der SDI-bedingten Atomversuche seit 1983 dürfte jedoch noch höher liegen, weil die US-Administration seit Januar 1984 nach einer Aussage des damaligen Stabschefs des Weißen Hauses, James Baker, dazu übergegangen war, nicht mehr alle unterirdischen Atomtests anzugeben (SZ, 31.1.1984). Experten vermuten, daß es sich bei diesen Versuchen um Tests von Atomwaffen der dritten Generation handelt.

Kontinuität unter Bush

Die Bush-Administration sieht in SDI nicht mehr ihre militärpolitische Priorität. Der amerikanische Präsident hält im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger einen vollkommenen Schutz gegen ballistische Raketen für unrealistisch. Das heißt jedoch nicht, daß SDI bald »begraben« wird – im Gegenteil. Der Haushaltsentwurf für das fiscal year 1991 sieht wieder eine Steigerung der SDI-Ausgaben auf 4,8 Mrd. $ vor (FY 1990: 3,8 Mrd. $, SZ, 30.9.1989). Dies bedeutet aber, daß auch in Zukunft weiterhin Atomtests zur Erforschung von Atomwaffen der dritten Generation durchgeführt werden. Der Kongreß hat in diesem Zusammenhang 110 Mio. $ für das Haushaltsjahr 1990 bewilligt. Bei den Kosten von 20 bis 30 Mio. $ pro Test dürften im Jahre 1990 4-6 Atomversuche im Zusammenhang mit SDI stehen. Allein die Entwicklung einer Atomwaffe der dritten Generation wird nach Aussagen von Wissenschaftlern des Los Alamos Laboratoriums zwischen 100 und 200 Tests erforderlich machen (Josephine Anne Stein, Nuclear tests means new weapons, BAS, Nov. 1986, S. 8).

Die UdSSR zieht nach

Die Konzentration auf die USA zur Exemplifizierung der atomtestbedingten Rüstungsdynamik darf nicht vergessen machen, daß die Sowjetunion alle sprengkopftechnologischen Trends der USA mit- oder nachvollzogen hat. Ende der 50er Jahre wurden die Sprengköpfe für die erste sowjetische Interkontinentalrakete SS-6 getestet, die 1960 in Dienst gestellt wurde. Die Gefechtsköpfe für U-Boot-gestützte Raketen dürften in der ersten Hälfte der sechziger Jahre entwickelt worden sein. Der erste erfolgreiche Raketenstart von einem getauchten sowjetischen U-Boot aus erfolgte im Jahr 1962. Die erste U-Boot gestützte Nuklearrakete schließlich wurde 1968 auf dem Unterseeboot Yankee stationiert.

Auch in der Mehrfachsprengkopftechnologie holte die Sowjetunion bald die USA ein: Anfang der 70er Jahre wurden jene MIRV's getestet, die 1974 auf der SS-18 oder SS-19 montiert und stationiert wurden. Wie die amerikanische Kontroverse um die Entwicklung einer neuen, besonders zielgenauen und beweglichen »kleinen« Interkontinentalrakete Midgetman zeigt, wird die amerikanische Entscheidung zur Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen heute aus eben diesem Grund vielfach kritisiert; das selbst für US-Kongreßmitglieder irritierende Schema amerikanischer Vorrüstung und sowjetischer Nachrüstung wird an der Geschichte der MIRV's daher besonders deutlich. Mit vergleichbarem Unbehagen registrieren selbst republikanische Politiker in den USA heute die Midgetman, deren Gesamtkosten mit Stationierung von 500 Raketen 39 Mrd. $ betragen soll. Der Trend zur mobilen ICBM wird auch von der Sowjetunion nachvollzogen. Selbst einzeln lenkbare, zur nachträglichen Kurskorrektur fähige MARV-Sprengköpfe sind bereits produziert worden. Derzeit testet die UdSSR einen Gefechtskopf, der offensichtlich zu einem sowjetischen Midgetman-Äquivalent gehören soll.

Frankreich

Seit Jahrzehnten erhält Frankreichs Nuklearrüstung ca. 30 % des Verteidigungshaushalts. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hat Frankreich die Sprengköpfe von mindestens drei Raketensystemen getestet, die gemäß des Haushalts 1990 sofort oder später beschafft werden sollen:

  • M-4 SLBM
  • M-5 SLBM
  • Hades

Am umstrittensten ist die Kurzstreckenrakete Hades, von der jetzt wahrscheinlich nur noch 60 statt ursprünglich 120 Stück beschafft werden (ami 2/90, S.11). Ihre Reichweite von 350 km bedroht niemand außer die Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. Der militärische Sinn dieses Waffensystems wird auch von Militärexperten angezweifelt. Hades ersetzt den Boden-Boden-Flugkörper Pluton, der einen Sprengkopf von ca. 20 kt hat und im Elsaß stationiert ist.

Mit der U-Boot-gestützten M-4-Rakete wurde Mitte der achtziger Jahre erstmals ein Mehrfachsprengkopf in das französische Arsenal aufgenommen. Er wurde zwischen 1983 und 1985 ausgiebig im Pazifik getestet (Die Welt, 10.8.1983). Zum französischen Nuklearpotential gehören insgesamt mindestens sieben verschiedene Sprengkopftypen (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, S. 53).

China

Die Volksrepublik China führt nicht einmal annährend so viele Atomtests auf ihrem Versuchsgelände in Lop Nor durch wie die beiden großen Atommächte. Dennoch konnte die Volksrepublik in über 30 Tests seit 1964 ein begrenztes Atomsprengkopfarsenal schaffen, das zu folgenden Raketensystemen gehört:

  • CSS-NX-3, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-NX-4, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-5 Interkontinentalrakete (ICBM)

(Quelle: William M. Arkin, Richard W. Fieldhouse, »Nuclear Battlefields«. Der Atomwaffen-Report, Frankfurt/M 1986, S. 193)

Insgesamt unterhält China ähnlich viele Sprengkopftypen wie Frankreich (siehe BAS, Juni 1989).

Großbritannien

Großbritannien lehnt sich bei seiner Nuklearbewaffnung eng an die Vereinigten Staaten an; sämtliche britische SLBM's sind in den USA entwickelt und gebaut worden.

Atomwaffentests dienen vier Zwecken:

  • Entwicklung neuer Waffen
  • Untersuchung von Kernwaffenwirkungen
  • Überprüfung der Zuverlässigkeit der Arsenalwaffen
  • Entwicklung von Systemen gegen Mißbrauch und Unfälle

Die Entwicklung neuer Sprengkopfprofile ist nach wie vor unumgänglich mit der Durchführung von Atomtests verbunden. Weder die computergestützte Simulation noch sogenannte Labortests können eine atomare Detonation so exakt abbilden, daß sie Atomversuche ersetzen könnten.

Testserien dieser Art werden immer in vertikalen Bohrlöchern von 300 bis 2.000 Metern Tiefe durchgeführt.

Da Waffen, Geräte und sonstige Systeme auch unter Nuklearkriegsbedingungen möglichst noch funktionieren sollen, werden ein bis zweimal im Jahr die Kernwaffenwirkungen untersucht. Zu diesem Zweck wird ein horizontaler Tunnel in den Felsen getrieben. In diesen Stollen werden die zu testenden Geräte – z.B. Satelliten, Raketenstufen – zusammen mit dem nuklearen Sprengsatz, verschiedenen Detektoren und Meßgeräten in einer bestimmten Anordnung plaziert. Nach Registrierung der Meßwerte (z.B. der Neutronenstrahlung) sorgen in Millisekunden schließende Tore dafür, daß die Meßgeräte vor der zerstörerischen Wirkung der Druckwelle geschützt werden.

Die am meisten kontroversen Diskussionen haben sich bei der Frage ergeben, ob die Zuverlässigkeit von stationierten Nuklearwaffen von Zeit zu Zeit durch Atomtests überprüft werden müssen. Renommierte Experten wie Glenn T. Seaborg weisen jedoch schon seit einigen Jahren darauf hin, das in der Entwicklungsphase ausreichend getestete Sprengköpfe die beste Gewähr für die Zuverlässigkeit bieten und weitere Tests nach der Stationierung überflüssig seien.

Um die Atomwaffen vor Unfällen zu schützen, müssen Sicherungssysteme entwickelt werden, die einen Testbedarf erfordern. Ein solches Sicherungssystem sind zum Beispiel spezielle Explosionsstoffe, die die Kettenreaktion in Gang setzen sollen, aber gegen Unfälle und Stöße unempfindlicher sind als alte Mixturen chemischer Explosionsstoffe: Intensitive High Explosive (IHE)

Bei Tests sind folgende Namen zu unterscheiden: der Name der Testserie, z.B. »Crossroads« im Sommer 1946 in Bikini, eine Serie von 2 Explosionen und der Name des Tests und der Bombe/des Sprengkopfs, wobei Test und Waffe nicht genau unterschieden werden; bei »Crossroads« sind dies »Able« und als zweiter Test »Baker«. Prinzipiell sind offizielle Codenamen und interne Spitznamen zu unterscheiden. Hier werden generell Codenamen untersucht; die wenigen Spitznamen werden extra gekennzeichnet.

IV. Die Waffenlaboratorien

Die fünf Atommächte der Welt betreiben und erweitern für die Planung und Durchführung ihrer Atomtests eine weitverzweigte und kostspielige nukleare Infrastruktur, zu denen u.a. Großforschungseinrichtungen und ausgedehnte Testgelände gehören.

Die Vereinigten Staaten

In den USA sind drei Forschungslaboratorien mit der Entwicklung von Atomsprengköpfen befaßt. Das Los Alamos National Laboratory (LANL) ist das Älteste. Es wurde im Jahre 1943 gegründet und hatte den Auftrag, die erste Atombombe zu entwickeln und zu bauen. Einige 10.000 hochqualifizierte Wissenschaftler arbeiteten für dieses Ziel rund um die Uhr. Die ersten »erfolgreich getesteten« Atomsprengsätze – »Trinity« und die Hiroshima-/Nagasakibomben – wurden ebenso in Los Alamos entwickelt, wie sämtliche Sprengköpfe, die bis 1958 in das amerikanische Arsenal aufgenommen wurden. 1952 wurde unter der Leitung dieses Laboratoriums der erste H-Bomben-Test im Pazifik durchgeführt. Von den 71 Sprengkopftypen, die bis 1984 entwickelt wurden, stammen 53 aus Los Alamos. Vor allem die Abteilung »Weapons Development Programs« ist hier mit den Atomtests befaßt; die Abteilung »Defense Research Programs« ist für SDI-Technologien zuständig.

Die Bedeutung von Los Alamos ist in den letzten 20 Jahren vom Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) erreicht, wenn nicht übertroffen worden. Mindestens die Hälfte aller zu Beginn der neunziger Jahre im US-Arsenal befindlichen Nuklearsprengkopftypen sind in diesem kalifornischen »lab« entwickelt worden. Die wichtigsten Labortests zur Entwicklung von Sprengkopfkomponenten, die zunehmend Aufgaben von unterirdischen Atomtests übernehmen, werden hier durchgeführt. LLNL wurde im Jahre 1952, nicht zuletzt auf Betreiben von Ernest O. Lawrence und Edward Teller, gegründet. Im Haushaltsjahr 1953 wurden 3,5 Mio. $ für LLNL veranschlagt. Mitte der achtziger Jahre überschritt das Budget die 700 Mio. $-Grenze. Über 8.000 Mitarbeiter sind heute in Lawrence Livermore beschäftigt. In der Abteilung »Defense Systems« werden die nuclear warheads von der ersten Planungs- und Designphase (Phase 1 und 2) über die eigentliche Testphase (Phase 3/3a/3b) bis hin zur Einpassung in die jeweilige Trägerumgebung (landgestützte Abschußrampe, Flugzeug, Schiff, U-Boot), sowie die Einführung in das Arsenal (Phasen 4 bis 7) entwickelt. Wie Los Alamos ist auch Lawrence Livermore mit SDI-Forschung und Lasertechnologie befaßt.

Die Sandia National Laboratories gingen 1945 aus den nahegelegenen Los Alamos-Forschungsstätten hervor. Aus einigen wenigen Gebäuden ist eine Großeinrichtung geworden mit fast 9.000 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über 1 Mrd. $. Sandia ist mit allen nicht-nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen (z.B. Elektronik, Kommando- und Kontrolleinrichtungen, konventionelle Zünder der Sprengköpfe) befaßt.

Die drei Laboratorien unterstehen dem amerikanischen Energieministerium (Department of Energy, DOE) und beschäftigen zusammen über 23.000 Mitarbeiter. An der unmittelbar atomtestrelevanten Waffenentwicklung arbeiten in Los Alamos und Lawrence Livermore über 8.000 hochqualifizierte Beschäftigte, häufig Physiker. Diese Spezialisten bilden eine einflußreiche Lobby gegen einen umfassenden Atomteststopp oder sonstige Testbeschränkungen. Die Methoden der Einflußnahme im Kongreß sind subtil. Immer wenn sich im Repräsentantenhaus oder im Senat eine Mehrheit für Testrestriktionen abzeichnet, werden die Lobbyisten – häufig indirekt von der Regierung »beauftragt« – aktiv. So 1987, als das »House« ein einjähriges Verbot für alle Tests über 1 kt beschloß. Eine u.a. aus Mitarbeitern der labs gebildete Gruppe (»Arms Control Working Group«) schickte unter dem Wohlwollen des Energieministeriums Argumentpakete mit »Pro-Test-Informationen« an die Senatoren und House-members. Die zahlreichen Briefings hatten Erfolg: das sogenannte Hatfield-Kennedy amendment über eine zweijährige Periode von erheblichen Testbeschränkungen passierte am 24.9.1987 den Senat nicht (F.A.S. Public Interest Report, Nov. 1987, No. 9). Der primäre Beschäftigungseffekt gilt neben den Naturwissenschaftlern in den Labors noch für die 11.000 Mitarbeiter auf dem amerikanischen Testgelände, der Nevada Test Site (NTS) und den dazugehörigen Verwaltungsbüros in Las Vegas. Auf dem test site selbst sind in erster Linie Bauarbeiter, Bergleute, Schlosser, Schweißer, Elektriker und Dreher beschäftigt. Auf dem verdorrten Wüstengelände, das dreißig Prozent größer als das Saarland ist, werden diese qualifizierten Facharbeiter gebraucht, da vertikale oder horizontale Bohrlöcher in den Felsen- bzw. Wüstenboden getrieben und dann Rohr- und Stromleitungen verlegt werden müssen. Das Energieministerium ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte Arbeitgeber in Las Vegas – nach der Unterhaltungsindustrie (FAZ, 14.7.1987).

Großbritannien

Bereits seit den fünfziger Jahren testet auch Großbritannien seine Nuklearsprengköpfe auf der Nevada Test site. Ein britisches Labor, das Atomic Weapons Research Establishment in Aldermaston, Südengland, ist für die Sprengkopfentwicklung zuständig. Es untersteht der Abteilung »Forschung und Entwicklung nuklearer Programme« des britischen Verteidigungsministeriums.

UdSSR

Wie die USA hat auch die Sowjetunion eine ausgedehnte und komplexe nukleare Infrastruktur, zu deren wichtigsten Bestandteilen die Planung und Durchführung von Atomtests gehört. Allerdings gibt es hierzu im Westen auch im Zeichen Gorbatschows nur lückenhafte Kenntnisse. “Bei der Kernwaffenforschung gibt es in der Sowjetunion keine Glasnost”, klagte ein sowjetischer Wissenschaftler auf einer Tagung über »Neue Atomwaffenkonzepte«, Anfang 1990 in Darmstadt (FR, 23.1.1990). Die Sowjetunion hat ihre Sprengköpfe bis in die siebziger Jahre hinein auf über 20 verschiedenen Testgeländen erprobt. Heute werden noch die Gelände bei Semipalatinsk (Kasachstan) und auf der Nordmeerinsel Nowaya Semlja benutzt. Darüber hinaus führt die Sowjetunion sogenannte Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken im Ural, in Teilen der europäischen UdSSR, am Kaspischen Meer, am Baikalsee und in vier anderen Gebieten Sibiriens durch. Die Produktionsanlagen und die Sprengkopfentwicklung unterstanden lange Zeit dem Ministerium für mittelschweren Maschinenbau. Seit Dezember 1989 ist die oberste Behörde für die sowjetischen Atomtests das Ministerium für Atomenergie. Die beiden wichtigsten Laboratorien für die Sprengkopfentwicklung liegen im Ural: eine Forschungseinrichtung in Kyschtym und das Radiologische Institut in Sungul.

Frankreich

Auch Frankreich hat als nukleare Mittelmacht eine beachtliche nukleare Infrastruktur. Oberste Behörde für die Sprengkopfentwicklung ist die CEA (Commisariat a l'Énergie Atomique). Der CEA-Abteilung für militärische Anwendung unterstehen u.a. alle relevanten Labors, z.B. Limeil-Valenton in Val-de-Marne. Auch die Atomforschungszentren in Saclay und Grenoble könnten dazugehören.

China

Die wenigsten Informationen gibt es über die infrastrukturellen Voraussetzungen der chinesischen Atomtests. Die Nuklearversuche selbst werden in Lop Nor durchgeführt. Ungefähr vierzig Anlagen gelten als Produktionsstätten zur Urangewinnung und-anreicherung.

V. Atomtests und Sprache

Die Herrschaft eines bestimmten, nur strategischen Rationalitätsbegriffs läßt sich unter anderem am Gebrauch der Sprache im militärischen Bereich zeigen.

Die Namen der Testreihen, Tests und Bomben verraten schon viel.

Amerikanische und britische Waffennamen bieten sich aufgrund des leichter zugänglichen Materials an. Namen ohne Angabe sind hier amerikanisch, britische werden extra gekennzeichnet. (Vielleicht ist im Rahmen von Glasnost demnächst auch ein ähnlicher Artikel über russische Namen möglich.)

Warum erhalten Tests und Waffen Namen?

Zunächst wundert man sich, daß totes Material überhaupt benannt wird. Warum wurde die MX-Rakete von US-Präsident Reagan mit dem Namen »Erhalter des Friedens« bedacht? Warum gab man dem Test »Baker« am 25.7.1946 auf den Marshall-Inseln nicht einfach die Ziffer 2/46 – der zweite Test des Jahres 46?

Namen sind natürlich auch funktional, sie dienen als Gedächtnisstütze, vereinfachen den sprachlichen Umgang mit Waffen und Tests und erleichtern das Unterscheiden der Tests und Testserien.

Sieht man sich die Namen aber genauer an, so merkt man, daß sie noch weit wichtigere Bedeutung haben.

Das Flugzeug »Enola Gay« und die Uranbombe mit dem Spitznamen »Little Boy« verwüsteten Hiroshima. Der Nagasaki-Bombe hatte man den Spitznamen »Fat Man« gegeben. Mit »Fat Man« (20Kt=20.000 TNT Sprengkraft) wurden 64.000 Menschen ermordet. Viele weitere Opfer litten und leiden an Spätfolgen.

»Ermorden« – »Opfer« – das sind nur unsere Wörter. In der militärisch-strategischen Sprache kommen sie so nicht vor. Angriffe gegen Bevölkerungszentren heißen in der Planung nicht »Massenmord« sondern »Gegenwertangriffe« (»counter-value-attacks«) im Unterschied zu »counterforce-Schlägen«, die »nur« gegen feindliche Anlagen gerichtet sind. Die Bombenangriffe auf die beiden japanischen Städte werden in der amerikanischen Statistik als Test 2 und 3 geführt. Besonders der Hiroshima-Test war sehr gelungen – d.h. er lief nach militärischer Planung – nur waren eben 136.000 Menschen unfreiwillige Bestandteile dieses Tests. »Begleitschaden« ist ein oft verwendeter Terminus für den Tod von Menschen! (s. Carol Cohn, Artikel »Death and Sex«, 2 Teile, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 5 u. 6 1988, hier Teil I, S. 20)

Wir möchten betonen, daß wir den militärischen Quellen dabei keine besondere Grausamkeit an Menschen entnehmen. »Menschen« erscheinen sprachlich ja kaum, und wenn, dann nicht als Opfer. Was Nicht-Militärs zynisch vorkommt, hört sich in der militärstrategischen Sprache ganz sachlich an. Das evidenteste Beispiel für diese Beobachtung ist der Terminus »anti-personnel-bombs«. Dies sind Waffen speziell gegen Menschen (die Neutronenbombe), wobei alles nicht Lebendige intakt bleiben soll. »Personal« generalisiert, läßt den Einzelnen verschwinden und erhöht gleichzeitig die Bedeutung der Waffen, denen das »Personal« zugeordnet wird.

Namhafte Bomben und namenlose Menschen

»Fat Man« tötete 64.000 Einwohner Nagasakis. »Bravo« (1.3.54) verseuchte die Bikini-Inseln und untergrub langfristig die Gesundheit von 236 Inselbewohnern, Soldaten und 23 japanischen Fischern, von denen einer nach 6 Monaten starb. Der wohlklingende Liebesname »Romeo« ist nichts anderes als der Name der Nachfolgerbombe von »Bravo«, am 27. März 54 gezündet. Ein Ergebnis: mißgebildete und lebensunfähige Kinder. »Smoky« (31.8.57) sorgte für vermehrte Leukämie bei den live beobachtenden Soldaten etc. etc.

Bomben und Tests tragen Namen, die Menschen nicht. Der Name unterscheidet die Waffen sogar als einmalige Wesen: »Fat Man« ist eben von »Small Boy« (1 Kt, 1.10.61 in Nevada) oder »Mike« (1.11.52 in Enewetok, 10,4 Mt) verschieden, auch wenn es sich in Wirklichkeit um lebloses Waffenmaterial zur Vernichtung lebender Menschen und ihrer Werke handelt. Durch die Namen werden die Waffen denkbar wie lebende Wesen und erhalten sogar einen bestimmten Gefühlswert. Wer denkt bei »Kätzchen« (kleinerer bitischer Test 1953 in Südaustralien) oder »Easy« (47 Kt, 21.4.51 in Nevada) nicht an etwas Nettes, Gutes?

»Buffalo« (britische Testserie Sept-Okt. 1956 in Maralinga) oder »Buster Jungle« (Serie von 8 Tests 51 in Nevada) bringen ein wenig Abenteuer, während »Buggy« (März 68 in Nevada) und »Grapple« (britische Testserie Mai 57-Sept. 58, Weihnachtsinsel) eher lustig klingen. »Buggy« bedeutet etwa altes, klappriges Auto, »grapple« ist ein Handgemenge, eine Kabbelei.

Durch die Namensgebung werden viele Waffen sprachlich »lebendig«. Das Verhältnis zwischen fühlenden Menschen ohne Namen und leblosen, aber niedlich oder herzhaft benannten Waffen und Tests wird also verkehrt. Gewinner sind die Letzteren. Sie »beherrschen« die militärische Szene.

Schönheit und Humor gegen den Tod

Sicherlich haben zu allen Zeiten Soldaten versucht, den Schrecken ihrer Aufgabe erträglich zu machen, indem sie ihm beschönigende Namen gaben. Der schon erwähnte Bomber über Hiroshima trug z.B. den Frauennamen »Enola Gay«. Im Mittelalter hieß eine ziemlich tödliche Eisenkugel mit Eisenzacken ringsherum, an einer langen Kette und einem Prügel befestigt, »Morgenstern« – wer den sieht, sieht den Abendstern nicht mehr, so hieß es.

Entscheidend ist, daß Namen es den beteiligten Wissenschaftlern und Militärs erleichtern, an Vernichtungspotential und -strategien weiterzuarbeiten, mit ihm zu leben und gegebenenfalls eigene Opfer zu bringen, ohne an die menschlichen Folgen ihres Tuns zu denken. Und auch den (interessierten) potentiellen Opfern bleibt der Schrecken in so süßen Sprachformen annehmbar. Letzteres resultiert freilich mehr aus der »Entmenschlichung« der Opfer als aus der »Vermenschlichung« der Waffen. Zur Anteilnahme brauchen wir eben Namen. Hört man abends im Fernsehen, daß etwa beim Test »Midas Myth« (Nevada 1984) 12 Arbeiter schwer verletzt wurden (einer davon starb) oder daß in Nevada allein in den Jahren von 1951 bis 1958 etwa 200.000 Soldaten und die umwohnende Zivilbevölkerung gesundheitlich belastet wurden, so ordnet man das zwar sofort als »Unglück« ein, die Zahl bleibt aber abstrakt, und besonders bei den »Medienunglück-Versierten« will sich nicht so recht Mitleiden entwickeln.

Erfährt man jedoch, daß es John Wayne war, der infolge ausgiebiger Dreharbeiten in atomverseuchtem Nevadasand an Leukämie gestorben sein soll, oder daß es der Lehrer Billiet Edmond und seine Kinder waren, die gerade ihr Frühstück vorbereiteten, als die Katastrophe des Tests »Bravo« über sie hereinbrach, so kann man sich identifizieren, leidet mit – und empört sich.

Die Planung eines Atomkriegs erfordert Abstraktion

Eben dieses Mitleiden, die Empörung, das Bewußtwerden schrecklichen Tuns darf in der militärisch-strategischen Sprache keinen Platz finden. Rationelles Denken zur Planung eines Atomkriegs oder einer »Kriegsführungsabschreckung« erfordert Abstraktion.

Die Sprache der amerikanischen Verteidigungsstrategen z.B. hat, wie Carol Cohn anschaulich berichtete, viele nur der eingeweihten Elite verständliche Abkürzungen, wie z.B. MAD (Mutual Assured Destruction – gegenseitig gesicherte Zerstörung). »MAD« spricht sich gut, und bei niemand werden Assoziationen der folgenden Art geweckt: Ich sah “auf der Straße eine Gestalt auf mich zustolpern. Sie war nackt, schmutzig und voller Blut. Ihr Körper war stark geschwollen. Fetzen hingen an ihr herunter. (…) Eine dunkle Flüssigkeit tropfte von den Fetzen herab. Die Fetzen waren Haut, die schwarzen Tropfen waren Blut. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, ein Soldat oder eine Zivilperson.” (Shuntaro Hida, Der Tag an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, dt. Ausg. Bremen 1989, S. 76)

Die Testnamen sehen auf spezielle Weise von den Menschenopfern ab. Kürzel finden sich hier – so weit zu überblicken ist – nicht; vielleicht deshalb, weil diese Namen auch vielen »Nichtstrategen« dienen müssen.

Bomben und Raketchen im Haushalt

Dr H-Bombentest »Mike« (1952) wurde intern scherzhaft »Kühlschrank« genannt, wegen der bis zur Explosion erforderlichen niedrigen Temperaturen. 1955 wurde in Nevada die Testserie »Teapot« durchgeführt, mit wahrscheinlich wenig gemütlichen 14 Sprengungen. Am 31.10.52 wurde auf dem Pazifikatoll Enewetok der Test »Greenhouse« durchgeführt. »Greenhouse« bedeutet eigentlich Glashaus für Pflanzen. Schon im 2. Weltkrieg wurde der Name von der englischen Luftwaffe für das Glas des Cockpits am Flugzeug verwendet, welches hier nicht Pflanzen, sondern Piloten schützt – schon damals ein humorvoller, etwas liebevoller Name. Seriöser klingt »Nadelstreifen« (25.4.66 in Nevada), der 350.000 Curie Radioaktivität freisetzte. Noch im Ostkaukasus und in Nebraska wurde radioaktives Jod in Milch und menschlichen Schilddrüsen gefunden.

Humorvolle Vernichtung

Der Name des schon erwähnten »Kätzchen«-Tests setzt diese niedlichen Tierchen und ihre kleinen Krallen in Kontrast zur ungeheuren Zerstörungskraft der Atomwaffe – das ist wahrhaft schwarzer englischer Humor! Die Diskrepanz bringt Lachen oder zumindest Schmunzeln hervor – ein probates Mittel gegen Angst und Schrecken! (Ähnlich wirkt z.B. ein interner Name für das Attentatskommando des CIA: »Kommittee zur Veränderung der Gesundheit«!) Lachen, aber auch warme Mutter- bzw. Vatergefühle beschert »Baby«. So hießen gleich mehrere Bomben, darunter die H-Bombe »Mike«, die »Teller's Baby« war. Der winzige Säugling hatte 10,4 Megatonnen und zischte einen Pilz von etwa 40 km in die Luft!

Schlicht und einfach »shots« heißen die Testexplosionen, ein vieltausendmal verwendeter Ausdruck.

Euphemistische Phantasie blüht hier neben Galgenhumor.

Naturhafte Waffen

»Adler« (12.12.63 in Nevada), »Mächtige Eiche« (10.4.86 in Nevada), »Hurricane« (brit., 3.10.52, Monte-Bello-Inseln), »Giftbeere« (18.12.70, Nevada, 10 Kt) – all dies sind Codenamen für Testexplosionen, wobei »Mächtige Eiche« der Wolkenform nach und »Giftbeere« der Wirkung nach wenigstens minimal angemessene Namen sind. (»Giftbeere« entließ eine Wolke von 3 Millionen Curie; bei dem unterirdischen Test war ein Loch im Wüstenboden entstanden.)

Des weiteren begegnet man einem ganzen Zoo: »Zebra« (15.5.48), »Hund« (8.4.51), »Ratten«, »Füchsinnen« – »vixens« (kleinere brit. Tests in Südaustr.), wobei »vixens« auch von Männern gefürchtete Frauen, Xanthippen, bedeuten kann. (Sonst tragen Waffen anscheinend selten Frauennamen – Waffen und ihre »Herren« sind wohl ausschließlich männlich, was Carol Cohns Übrlegungen zu einem unterschwelligen sexuellen Potenzwettbewerb der Strategen unterstützen könnte.)

Bäuerlich-friedliche Tests

Das »Pflugschar«-Programm mit 49 Explosionen (insg. von 1958 bis 1970), die unter anderem der »Kraterforschung« dienen sollten, galt angeblich der zivilen Nutzung atomarer Sprengkraft – etwa für Flußberichtigungen, Häfen, Kanäle – ein neuer Panamakanal war 1961 geplant. Edward Teller wollte mit Kraterexplosionen in Alaska seine Utopie einer nach Wunsch formbaren Geographie erproben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als ein Teststopp nicht mehr unwahrscheinlich erschien. Die »friedlichen« Tests sollten jedoch nach Vorstellung der amerikanischen Wissenschaftler davon ausgenommen werden. Sind friedliche Tests unschädlich und werden sie in jedem Fall nur zivil genutzt? Das ist wohl kaum anzunehmen! Der beschönigende Name und die dahinterstehende gedankliche Konzeption wirkten hier durchaus gefährlich irreführend. Teller schlug den Verantwortlichen in Alaska eine zuvor von seinen Wissenschaftlern bestimmte Stelle an der Nord-West-Küste Alaskas vor, Cape Thompson, wo er mit Hilfe von 6 Atomsprengsätzen einen künstlichen Hafen formen wollte. Die anwesenden Alaskaner zeigten sich zunächst angetan von der »Idee« (die sich später als versuchtes Diktat herausstellen sollte), nur der Ort paßte ihnen nicht. Das Projekt wurde später still und unauffällig eingestellt, als sich der Widerstand der in der Nähe wohnenden Eskimos und Anderer als zu stark erwies. Tellers Idee der »Geographie-Architektur« setzte sich insgesamt nicht durch, anders als ähnliche Pläne in der UdSSR, wo in der Tat z.B. die Umleitung des Kalonga-Flusses mithilfe der Atomkraft geschah. (s. Bulletin of the Atomic Scientists, Dez. 89, S.28 ff.)

Einige wenige Namen verraten etwas über die »Waffennatur«

Nur wenige Namen sind halbwegs angemessen für Atomwaffen und deren Tests: »hurricane« z.B. – man denke an den Sturm, etwa nach der »Bravo«-Explosion auf Bikini; »red hot« (5.3.66 in Nevada) paßt zu der überwältigenden Hitze und der glühenden Gaskugel, aus der der »Pilz« austritt. Einer der größten angekündigten unterirdischen Tests hieß »Boxcar« (April 68 in Nevada, 1,2 Mt=1,2 Mill. Tonnen TNT). Eigentlich bedeutet »boxcar« in Amerika »geschlossener Güterwagen«; denselben Namen trug ein Bomber im 2. Weltkrieg. Passender aber scheint eine dritte Version: von den hohen Zahlen auf den Güterwagen leitete man die Bedeutung »Glücksspiel mit viel Geldeinsatz und hohem Risiko« ab. Und genau das stellen die Atomtests mit ihren vielen Unfällen dar!

Die Unfälle selbst – wen wundert's – tragen wieder sehr romantische beschönigende Namen: »zerbrochener Pfeil« läßt an Indianerromane denken, »verbogener Speer« und »stumpfes Schwert« an mittelalterliche Artusabenteuer. Uneingeweihte kämen nicht darauf, daß es sich hier um Unfälle wie z.B. den Brand oder sogar die Explosion einer Atomwaffe handelt. Diese altertümlichen Namen passen übrigens erstaunlich gut – nur sprachlich ? – zur Form des alten und heutigen Freund-Feind-Denkens.

Der Sinn von Sprachanalysen

Gewöhnlich achtet man bei militärischen Studien gleich welcher Art keinesfalls auf die Bedeutung von Namen. Bezeichnungen der Waffen, besonders auffällige, dienen der besseren Erinnerung und ermöglichen einen von schädlichen Emotionen ungetrübten Diskurs. So verbleiben auch die Friedensforscher im sprachlichen System der Kriegsplaner.

Zu Anfang dieses Kapitels war von einem eingeschränkten, nur militärisch-strategischen Rationalitätsbegriff die Rede, von einer Logik also, die nur innerhalb eines bestimmten Systems gilt: die Logik des Sieg-Denkens in heutiger Variante, die Rationalität der Abschreckung.

Sprachanalyse bietet nun eine Chance, aus diesem Denksystem auszusteigen, es von außen zu betrachten.

Carol Cohn schließt ihren Artikel über Atomsprache mit den Forderungen nach Sprachanalyse zur Demontage des technostrategischen Diskurses und nach alternativen Vorstellungen von Rationalität. Ihrer ersten Forderung versuchten wir für den Bereich »Atomtests und Sprache« nachzukommen. Eine alternative Rationalität zu entwickeln ist natürlich ungleich schwieriger als die »Sprachdemontage« ex negativo. Sie soll aber dennoch angedeutet werden.

Skizze einer alternativen Rationalität

Die Kritik der Sprachverwendung allein hat wohl wenig direkte Folgen. Ob »Kätzchen« oder »Test einer Vernichtungswaffe«, ob »Neutronenbombe«, »Anti-Personal-Bombe«, »Saubere Bombe« oder »Massenvernichtungsmittel« – Bedrohung und Wirkung bleiben ebenso wie der Preis, der schon im Frieden gezahlt wird.

Betrachten wir aber noch einmal die »Personal-Bombe«. »Personal« ist gesichtslos gleichmachend. Dichter zeigen die Gleichmacherei im Krieg noch besser als Strategen: “Soldaten sind sich alle gleich, ob lebendig oder als Leich'!” (Refrain des bekannten Liedes von Wolf Biermann). Indem das Wort »Personal-Bombe« isoliert betrachtet wird, zeigt sich der Schrecken mit seinem wahren Namen: Tod – Vernichtung – Krankheit. Mit Carol Cohns Worten wechselt man so die Perspektive vom Täter zum Opfer. (Auch Täter sind im Atomzeitalter Opfer, nur verrät die Sprache ihnen das nicht; für beides s. Carol Cohn, Teil II, S. 18).

Erst jetzt kann man in eine andere Rationalität »einsteigen«: Massenvernichtungswaffen verhindern per se, schon in ihrer Planung, was sie zu schützen vorgeben: die besonders in den USA so gefeierte freiheitliche Individualität des Menschen. Nach der neuen Logik eine Absurdität.

Tests haben aber durchaus eigene »absurde Qualitäten«:

Am 19. Mai 1953 wurde in Nevada »Harry« oberirdisch gezündet (32 Kt. »Harry« schickte eine riesige radioaktive Wolke über Farmen und Kleinstädte in Nevada, Utah und Arizona. Nach John May (s. 118 f.) informierte die Atomic Energy Commission die Anwohner bewußt nicht. “Als die Tests in Nevada 1951 begannen, beschwichtigte die Kommission die amerikanische Öffentlichkeit mit der Behauptung, es bestehe kein Grund zur Besorgnis, da die im Abwind liegenden Gebiete praktisch nicht bewohnt seien.” Kommentar eines Journalisten der »San Francisco Chronicle«: “Dies schafft eine interessante neue Klasse von Bürgern: »praktische Nichtbewohner«. Ihre Stimmen fallen bei Wahlen nicht ins Gewicht.” (s. May. S.118)

Auch für die Urangesellschaft Canada, 100%ige Tochter der (bundesdeutschen) Urangesellschaft Frankfurt, gibt es diese Spezies: die Inuit-Eskimos, die in Nord-West-Kanada auf dem geplanten Uran-Abbaugelände wohnen, sind in der Planung kaum vorhanden (s. FR, 5.1.90). Atomtests sind angeblich für eine glaubhafte Abschreckung des Feindes notwendig. Abschreckung garantiert das Bestehen des freien Westens, die bisherige Lebensform. Aus der Sicht der Opfer heißt das hier: Atomtests sind auch zur Sicherung des freien Farmerdaseins da. Atomtests sind aber gleichzeitig schon im Frieden gegen ihre Gesundheit (s. folgendes Kap.), und gerade das für die USA typische freie Siedlerleben in kleinen Verbänden brachte (und bringt) ihnen Verhängnis!

Man sieht, Namen haben nicht nur unterhaltende Funktion.

Exkurs: Atomtest,Gesundheit, Umwelt, Ethnien

Der Kurs einiger Atommächte und Militärbündnisse, ihre Sicherheit mit auf dem modernsten Stand gehaltenen nuklearen Massenvernichtungsmitteln zu gewährleisten, hat zu Belastungen für die Umwelt und die Gesundheit zahlreicher Menschen geführt, die weit über das Maß hinzunehmender »Nebenwirkungen« hinausgehen. Allein die hunderte von oberirdischen Tests, die die drei ersten Atommächte (USA, UdSSR, Großbritannien) bis zur Paraphierung des PTBT 1963 durchführten, haben die weltweite Radioaktivität über lange Zeit steigen lassen. Die Messungen der Betastrahlen durch die Münchner Universität ergaben 1963 einen Spitzenwert von etwa 52.000 Becquerel (Bq) pro Quadratmeter.

Wie gefährlich ist radioaktive Strahlung?

Die genaue Schädlichkeit von Radioaktivität war und ist umstritten. Nur über die akute Strahlenkrankheit, wie sie z.B. bei den Einwohnern von Hiroshima und Nagasaki eintrat, aber auch bei den Aborigines Australiens infolge der britischen Atomtests und bei nicht wenigen anderen Testteilnehmern, herrscht relative Einigkeit: Vom Körper absorbierte Strahlendosen ab etwa 3-5 Sievert (SV) aufwärts führen innerhalb von Tagen bis Monaten zum Tod. Die genaue Gefahr niedriger Strahlendosen, z.B. durch geringeren radioaktiven Fallout verursacht, ist aber unklar. Das liegt oft an der Länge des zu prüfenden Untersuchungszeitraums, an der Schwierigkeit, einzelne Untersuchungsergebnisse zu vergleichen und vielleicht auch, vorsichtig formuliert, an dem fehlenden Interesse finanzstarker Wissenschaft.

Besonders problematisch sind Aussagen über die Niedrigstradioaktivität, wie sie z.B. auch die BRD infolge der Atomtests und Reaktorunfälle betrifft. Generell weisen heute viele Wissenschaftler darauf hun, daß gerade die Gefahren der Niedrigstrahlung bisher weit unterschätzt wurden. Der amerikanische Radiobiologe Ernest Sternglass erläutert das anhand des Vergleichs mit Röntgenstrahlung: “Wenn eine Brustdurchleuchtung vorgenommen worden ist und die Röntgenmaschine abgeschaltet ist, dann befindet sich keine Radioaktivität mehr in dem bestrahlten Körper. Aber wenn Sie ein Glas Milch trinken, das Strontium 90 enthält, werden seine Atome Sie für den Rest ihres Lebens begleiten, indem sie in ihren Knochen und innerhalb wichtiger Organe Radioaktivität in einer Intensität abgeben, wie es kein Röntgenapparat je könnte.” (FR, 7.7.86, S. 14) So kann erklärt werden, warum die Bomben von Hiroshima und Nagasaki nicht nur in Japan ein Ansteigen der Krebsrate bewirkten, sondern auch in den USA! Die Wolken der Bomben zogen über Hawaii dorthin. (ebd.)

Der Experte für Radiologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in München, Herwig Paretzke, warnte, daß statt der bisher angenommenen 125 zusätzlichen Krebsfälle pro Million Bundesbürger 300-500 Krebsfälle mehr anzunehmen seien, wenn die Strahlendosis über die gesamte Lebenszeit eines Menschen um 1 Rem (=1000 Millirem) ansteige. (s. FR, 8.1.88, S. 4; s.a. SZ, 8.1.88, S. 1)

Eine direkte Umrechnung von Bq in Gray und Sv ist nur bei exakter Kenntnis der einzelnen Strahlungsarten, die den jeweiligen Menschen oder Stoff getroffen haben, möglich. Die genaue Gefahr durch Radioaktivität isat schon dadurch schwerer vorstellbar. Die Richtwerte können aber helfen, Einzelangaben anschaulich zu machen.

Die atomare Verseuchung durch oberirdische Tests

Vor allem in den fünfziger Jahren wurden zahlreiche Erkrankungen und nicht wenige Todesfälle durch lokale radioaktive Niederschläge von atmosphärischen Kernwaffentests verursacht. Eines der traurigsten und bekanntesten Beispiele hierfür ist der Atomtest »Bravo«, der am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll (Marshall-Inseln) gezündet wurde. Diese Wasserstoffbombe erreichte mit ihren 15 Mt mehr als das Tausendfache der Sprengkraft,die Hiroshima zerstörte. Da die Pilzwolke von »Bravo« höher stieg als man erwartet hatte, wurde sie durch hochgelegene Luftströmungen nicht nach Westen, sondern nach Osten getrieben. Der »weiße Schnee« radioaktiven Fallouts ging auf die bewohnten Nachbarinseln von Bikini, Rongelap und Utirik nieder (160 und 500 km entfernt). Ein Gebiet von 530 km Länge und 100 km Breite wurde verstrahlt. Die nicht gewarnten Bewohner und das dortige amerikanische Militärpersonal wurden erst 56 Stunden nach der Detonation evakuiert. Zu dieser Zeit zeigten sich schon erste Strahlensymptome bei den Menschen: Übelkeit, Verbrennungen der Haut, Durchfall, Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Verfärbungen der Haut und allgemeine Erschöpfung. In der Folge verloren die Menschen ihre Fingernägel, die Haare fielen ihnen aus etc. Die genaue Strahlendosis, die sie erhalten haben ist unbekannt; sie könnte bei den Bewohnern Utiriks 11 Rem betragen, bei denen Rongelaps 190 Rem pro Person. (s. John May, Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989, S. 138)

Bereits nach einem halben bzw. drei Jahren ließ man die Einwohner in ihre Heimat zurückgehen, obwohl die Atolle trotz einer notdürftigen Säuberungsaktion verseucht blieben, wie das US-Energieministerium aber erst nach 20 Jahren aufgrund erneuter radiologischer Untersuchungen auf den Inseln zugab. (May S. 137 f. und Streich S. 67 ff.)

Die Einwohner der genannten Inseln erlitten infolge der Atomversuche der USA nicht nur zahlreiche Krankheiten, es gab auch eine hohe Kindersterblichkeit, groteske Mißbildungen bei Neugeborenen, und nicht zuletzt die soziale Entwurzelung durch das unfreiwillige atomare Exil.

Schon seit 1951 führten die USA ihre Kernwafffenversuche größtenteils in der Wüste Nevadas durch. “Die (auf dem Nevada Test Site) von 1951 bis 1962 gezündeten oberirdischen Bomben mit einer Größenordnung von insgesamt 500 Kilotonnen haben dazu geführt, daß allein im benachbarten Bundesstaat Utah schätzungsweise 28 Kilogramm unterschiedliche radioaktive Stoffe als Niederschlag heruntergekommen sind. (…) Bei mindestens 87 der 121 Nuklearwaffen zwischen 1951 und 1958 gelangte Radioaktivität außerhalb des Testgeländes.” (Bernd W. Kubbig, Die unsichtbare Radioaktivität hat lange Schatten geworfen, FR vom 17.1.90)

Infolge der Verschleierungspolitik der zuständigen Atomic Energy Commission sind nur unzureichende Untersuchungen über die regionale Strahlenbelastung durchgeführt worden. So wurde vor allem die Verstrahlung der Luft gemessen, die gemeinhin geringere Werte aufweist als die des Bodens. Auch sollen wiederholt Meßwerte der Öffentlichkeit vorenthalten worden sein. 1980 wurde eine umfassende und unabhängige Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen des radioaktiven Fallouts auf die Bevölkerung rund um das Nevada Test Site durchgeführt. Man konzentrierte sich auf die Mormonen West-Utahs, ein Gebiet, das 1951 bis 1962 besonders betroffen war. Die Sekte der Mormonen war generell wegen ihrer enthaltsamen Lebensweise durch eine besonders niedrige Krebsrate ausgezeichnet. Der Vergleich einer Population, die einer erhöhten Strahlendosis ausgesetzt war mit einer wenig betroffenen ergab, daß 61% aller Krebsfälle in der ersten Gruppe vorkamen. (Carl F. Johnson, Chernobyl and Nuclear Weapons Tests: Estimating the Potential of Fallout to Induce Effects on Health; Manuskript o.O., 1988, S.7)

Besonders in den Städten Cedar City und St. George kam es neben hohen Krebsraten zu Mißbildungen bei Neugeborenen. Mit Entschädigungsforderungen an die US-Regierung hatten die Bewohner jedoch ebensowenig Erfolg, wie die US-Veteranen der US-Army, die bei atmosphärischen Tests zusehen mussten. Sie waren nur mit Stahlhelm, Plane und gelegentlich einem Filmdosimeter ausgerüstet, der sich schwärzt, wenn ihn Röntgenstrahlen treffen. (s. taz, 13.8.87, S. 7 und Zeitmagazin, Die ZEIT, 4.8.89, S. 10 ff.)

VI. Atomteststopp und Verifikation

Seit über einen Atomteststopp verhandelt und diskutiert wird, stehen Verifikationsfragen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Genau zu der Zeit, als sich die Atommächte anschickten, über ein umfassendes Versuchsverbot zu verhandeln, wurden mit der amerikanischen Fähigkeit, unterirdische Tests durchzuführen, zusätzliche Kontrollprobleme aufgeworfen. Ende der fünfziger Jahre war es noch nicht möglich, unterirdische Kernexplosionen von Erdbeben zu unterscheiden. Schließlich wurden beim Abschluß des »Partiellen Teststopp-Vertrages« von 1963 die unterirdischen Tests ausgeklammert. Die amerikanische Forderung nach Vor-Ort-Inspektionen (On-Site-Inspection, OSI) als ergänzende Verifikationsmaßnahme war damals sinnvoll, wurde allerdings von den mißtrauischen Sowjets beständig als »Versuch der Spionage« zurückgewiesen. Mit zunehmender Verbesserung seismischer Meßmethoden wurde das amerikanische Insistieren auf »OSI's« jedoch immer sinnloser. 1971 kam ein Bericht der Pentagon-Institution »Advanced Research Projects Agency« (ARPA) an den Kongreß nach jahrelangen Untersuchungen zu dem Schluß, daß Vor-Ort-Inspektionen für die Verifikation eines Teststopp-Abkommens nicht erforderlich seien (Siehe Jack Evernden, Lies that stopped a test ban, Bulletin of the Atomic Scientists, Oct. 1988). Es scheint, als ob die USA in der Nach-Kennedy-Ära die Forderungen nach einem so weitgehenden Kontrollregime für die Fortsetzung der Tests instrumentalisieren wollten.

Bereits 1969 waren sich die Seismologen einer Fachkonferenz in Woods Hole, Massachusetts, einig, daß ein Teststopp-Abkommen mit einer extrem niedrigen Schwelle (Very Low Threshold Test Ban Treaty, VLTTBT) von 1-10 Kt (Nevada) bzw. ca. 1 Kt (Semipalatinsk) mit seismischen Meßmethoden verifizierbar sei (Evernden, a.a.O., S. 22). Selbst wenn die Atommächte erst damals – sechs Jahre nach dem Abschluß des Partiellen Teststoppabkommens – einen derartigen Vertrag ausgehandelt hätten, so wären der Menschheit zahlreiche Neuentwicklungen von Nuklearwaffen erspart geblieben. Denn die Schwelle eines VLTTBT liegt deutlich unter der Sprengkraft der meisten heutigen Arsenalwaffen.

Fortschritte der Seismologie und Blockaden unter Reagan

In den letzten zwanzig Jahren hat die Seismologie viele Verbesserungen bei ihren Kontroll- und Meßmethoden erreicht. Mittlerweile ist sich die scientific community weltweit in der überwiegenden Mehrzahl einig, daß ein umfassender Atomteststopp lückenlos und vollständig verifizierbar ist. Nur einige entscheidende Repräsentanten der Arms Control-Diplomatie sprechen noch von der Nicht-Kontrollierbarkeit eines CTB. Mit dieser Behauptung betreiben sie eine »Verifikationspolitik«, die scheinbar beliebig die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren kann. Besonders die Vereinigten Staaten haben sich in den letzten Jahren in dieser Politik hervorgetan. Nachdem Washington durch das sowjetische Testmoratorium von August 1985 bis Februar 1987 in die Defensive gedrängt worden war, gelang es der Reagan-Administration die Aufmerksamkeit auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge aus den Jahren 1974 bzw. 1976 zu lenken. In diesem Zusammenhang beschuldigte Reagan die Sowjetunion, die 150 Kt-Schwelle bei einigen ihrer Tests überschritten zu haben. Im Jahre 1987 konnte ein renommierter amerikanischer Geophysiker, Charles Archambeau, jedoch nachweisen, daß die regierungsamtlichen Schätzungen der sowjetischen Ladungsstärken unrealistisch hoch lagen. Im Testgelände von Semipalatinsk liegt ein viel härterer Untergrund aus kaltem Granitgestein vor, der bei Kerndetonationen unverhältnismäßig stärkere Wellen erzeugt, als vergleichbare Sprengsätze in den USA. Der geologische Untergrund der Nevada Test Site besteht aus einem porösen Gestein, das vulkanisch aktiv und relativ heiß ist; dadurch werden Erderschütterungen besser absorbiert. Mittlerweile hatte auch die US-Regierung die von Archambeau ermittelten Korrekturterme für die sowjetischen Tests übernommen; damit waren die Vorwürfe hinsichtlich einer sowjetischen Verletzung der Testschwelle endgültig gegenstandslos.

Der »Partielle Teststopp-Vertrag« (Partial Test Ban Treaty) 1963

Vertrag über ein Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Partial Test Ban Treaty, PTBT) 1963

Präambel: Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, hiernach als “Die ursprünglichen Vertragspartner” bezeichnet, die es als ihr Hauptziel verkünden, schnellstmöglich ein Abkommen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen zu erreichen, das dem Wettrüsten ein Ende machen und den Anreiz zur Produktion und zur Erprobung aller Arten von Waffen, einschließlich von Kernwaffen, beseitigen würde und die die Einstellung aller Versuchsexplosionen nuklearer Waffen für alle Zeiten zu erreichen suchen, entschlossen, die diesbezüglichen Verhandlungen fortzusetzen , und von dem Wunsche beseelt, der Vergiftung der Umwelt des Menschen durch radioaktive Substanzen ein Ende zu setzen, haben folgendes vereinbart:

Art.I: 1. Jeder der Partner dieses Vertrages verpflichtet sich, keine Kernexplosion an irgendeinem unter seiner Jurisdiktion oder Kontrolle stehenden Platz durchzuführen, sie zu verbieten und zu verhindern: a) In der Atmosphäre , auch jenseits ihrer Grenze – einschließlich des Weltraums – oder unter Wasser – einschließlich der territorialen Gewässer oder auf hoher See – oder

b) in irgendwelchen anderen Bereichen, falls eine solche Explosion bewirkt, daß radioaktive Rückstände außerhalb der territorialen Grenzen des Staates auftreten, unter dessen Jurisdiktion oder Kontrolle eine derartige Explosion ausgeführt wird. In diesem Zusammenhang versteht es sich, daß die Bestimmungen dieses Unterabschnittes den Abschluß eines Vertrages nicht präjudizieren, der zu einem ständigen Verbot aller nuklearer Versuchsexplosionen, einschließlich aller derartigen Explosionen unter der Erde führt, dessen Abschluß – wie die Partner in der Präambel dieses Vertrages erklären – sie zu erreichen versuchen. (…)

Art. II: 1. Jeder der Partner kann Zusätze zu diesem Vertrag vorschlagen. Der Wortlaut jedes vorgeschlagenen Zusatzes soll den Depositar-Regierungen unterbreitet werden, die ihn an alle Partner dieses Vertrages weitergeben werden. Danach sollen die Depositarregierungen, sofern dies von einem Drittel oder mehr der Partner gewünscht wird, eine Konferenz zur Erörterung eines solchen Zusatzes einberufen, zu der alle Partner eingeladen werden sollen.

2. Jeder Zusatz zu diesem Vertrag muß von einer Stimmenmehrheit aller Partner dieses Vertrages, einschließlich der Stimmen aller ursprünglichen Partner, gebilligt werden. Der Zusatz soll für alle Partner mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch eine Mehrheit aller Partner, einschließlich der Ratifikationsurkunden aller ursprünglichen Partner, in Kraft treten.

Art. III: 1. Dieser Vertrag soll allen Staaten zur Unterzeichnung offen stehen.(…)

Art IV: Dieser Vertrag soll von unbegrenzter Dauer sein. (…)

Art V: (…) Gegeben in dreifacher Ausfertigung in Moskau am 25. Tage des Juli Eintausendneunhundertdreiundsechzig.

Moskau, 31. Juli 1963

Quelle: Archiv der Gegenwart

Mittlerweile sind 116 Staaten dem Vertrag beigetreten. China und Frankreich haben ihn nicht paraphiert. Beide Mächte haben noch bis 1980 bzw. 1974 oberirdisch getestet. Die sogenannten Schwellenmächte Argentinien und Pakistan paraphierten das Abkommen zwar 1963, haben es aber nicht ratifiziert.

Da die sowjetische Diplomatie auch nach Beendigung des einseitigen Testmoratoriums auf einen Umfassenden Teststopp drängte, warf die Reagan-Administration neue Verifikationsprobleme auf. Zwar verständigte sich der US-Präsident 1988 mit Generalsekretär Gorbatschow auf das »Endziel« eines CTB, favorisierte aber für die Kontrolle der zu ratifizierenden Schwellenverträge eine hydrodynamische Meßmethode mit der Bezeichnung CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment). Die Sowjets standen zwar auf dem Standpunkt, daß seismische Meßmethoden zur Verifikation eines CTB ausreichen, willigten aber dennoch ein, die Genauigkeit von CORRTEX durch ein »Gemeinsames Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) zu testen. Im August und September 1988 wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz gezündet. Dabei wurde auch die seismische Meßmethode anhand des hydrodynamischen Verfahrens kalibriert (geeicht). Das JVE wurde als eine durchaus löbliche vertrauensbildende Maßnahme angesehen. Vom Standpunkt eines direkten und entschlossenen Zusteuerns auf einen CTB mußte es jedoch wie eine geschickte Verzögerungstaktik erscheinen. Denn CORRTEX ist allenfalls für die exakte Bestimmung von Ladungsstärken über 100 Kt geeignet. Zudem ist die Methode äußerst kostspielig. Die Auswertung des Verifikationsexperiments hat zu Beginn des Jahres 1990 1 1/2 Jahre gedauert. Die Paraphierung der Verifikationsprotokolle zu den beiden Schwellenverträgen aus den Jahren 1974 und 1976 steht zwar bevor, die amerikanische Delegation verließ jedoch den Verhandlungstisch. Die US-Administration sah (wieder einmal) Schwierigkeiten bei der Verifikation: “Es sei wichtig, eine Periode zu haben, in der beide Seiten die Umsetzung der ausgehandelten Protokolle beobachteten, um so Gelegenheit zur Überprüfung der neuen Überprüfungsmaßnahmen zu haben”, so hieß es (SZ, 26.1.1990). Damit stellt sich die jetzige amerikanische Regierung gegen eine frühere Ankündigung Präsident Reagans, direkt weiterverhandeln zu wollen.

Dieses Zaudern erscheint unverständlich, seit selbst das Office of Technology Assessment (OTA), eine Wissenschaftsinstitution des amerikanischen Kongresses, in einem Bericht 1988 festgestellt hat, daß die USA durch ein dutzend seismischer »Arrays« entlang der sowjetischen Grenze »unterirdische Tests mit Ladungsstärken unter einer Kilotonne entdecken und identifizieren kann, falls keine Täuschungsversuche begangen würden” (The Defense Monitor 1/1989, S. 3, Übersetzung d. Verf.).

Möglichkeiten der Täuschung

Über die Möglichkeit solcher »Täuschungsversuche« ist jahrzehntelang diskutiert worden. So wurde argumentiert, daß eine der Supermächte ihre Sprengköpfe in riesigen unterdischen Kavernen oder Salzstöcken zünden könne. Die Schockwellen dieser sogenannten »entkoppelten Tests« würden so stark gedämpft, daß sie nicht mehr eindeutig zu entdecken wären. Diese Befürchtungen haben sich schon seit Jahren als haltlos erwiesen. Zwei von den USA in Norwegen installierte Überwachungssysteme (NORESS und NORSAR), die über Hochfrequenz-Seismometer verfügen, können nicht nur sowjetische Explosionen mit der Sprengkraft eines Bruchteils einer Kilotonne über 2.800 km hinweg präzise registrieren, sie sind auch in der Lage, entkoppelte Tests zu verifizieren (siehe Oliver Thränert, Ein umfassendes nukleares Teststopabkommen – ein wirkungsvolles Instrument zu Begrenzung der Rüstungsdynamik?, Bonn 1986, S. 9). Der Bochumer Geophysiker Harjes hat in seiner Eigenschaft als Berater der Bundesregierung für Verifikationsfragen bei der Abrüstungskonferenz in Genf 1985 zusammen mit drei anderen Experten eine Studie vorgelegt, die allen verbleibenden Schwierigkeiten bei der Detektion, Ortung und Identifikation von unterirdischen Atomtests Rechnung trägt. Das von Harjes vorgeschlagene weltweite seismische Kontrollnetz ist geeignet, alle Testexplosionen oberhalb 1 kt Sprengkraft zu registrieren (siehe unten)

CORRTEX

Auf ihrem Moskauer Gipfeltreffen paraphierten US-Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai 1988 eine Vereinbarung über die Durchführung eines Gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE). Am 17. August 1988 und am 14. September 1988 wurde auf den Testgeländen von Nevada und Semipalatinsk je ein atomarer Sprengsatz unter Beteiligung amerikanischer und sowjetischer Wissenschaftler gezündet. Der Sinn dieses Unternehmens lag in der Überprüfung einer hydrodynamischen Meßmethode, welche die USA seit Jahren für die Verifikation der Atomtest-Schwellenverträge favorisieren: CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiments). Diese Meßmethode wurde vom Los Alamos National Laboratory von 1976 bis 1982 entwickelt und mehr als zweihundert Mal getestet.

Technische Grundelemente eines globalen seismischen Überwachungssystems

  • “Es wird aus fünfzig bis hundert möglichst gleichmäßig über die Erde verteilten Beobachtungsstationen bestehen. Diese müssen an günstigen Orten, das heißt abseits von Industrie und Besiedlung oder in Bohrlöchern, installiert werden, um die Bodenunruhe auf einem niedrigen Pegel zu halten. Weiterhin sollte die Instrumentierung einheitlich und auf dem höchsten Stand der Technik sein, so daß alle seismischen Signale über einen weiten Amplituden- und Frequenzbereich unverzerrt aufgezeichnet werden können.
  • Um jederzeit Zugriff zu den Aufzeichnungen dieser Instrumente zu haben, müssen die Stationen durch ein Kommunikationssystem miteinander verbunden sein. Dazu stehen heute sowohl Satellitensysteme wie INTELSAT als auch Datenleitungsnetze wie DATEX zur Verfügung.
  • Datenzentren müssen errichtet werden, die die Stationsdetektionen assoziieren, das heißt die zugehörigen Ereignisse lokalisieren. Die Hauptaufgabe dieser Datenzentren besteht in der Erstellung von Ereignislisten und der Archivierung der Seismogramme. Die Zentren liefern diese Daten an die Vertragsstaaten.”

Das seismische Überwachungsnetz muß den geologischen Bedingungen angepaßt sein; eine Stationsverdichtung ist in Gebieten vorzunehmen, in denen unterirdische Kavernen möglich sind. Durch diese Maßnahmen können sogenannte »entkoppelte« Tests – etwa in dämpfenden unterirdischen Salzstöcken – verhindert werden. Ferner kann von der geologischen Umgebung bestimmter Tests besser auf die Ladungsstärken zurückgeschlossen werden.

Nach: Hans-Peter Harjes, Die Hindernisse sind politischer Natur. Zur seismischen Überwachung eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen, in: Altmann/Gonsior (Hgg.), Welt ohne Angst, 1987

Erweiterungskonferenz zum CTBT (Amendment)

Der Partielle Teststopp-Vertrag verpflichtet die drei Depositarstaaten (USA, UdSSR, GB) ebenso wie die anderen beigetretenen Staaten, ein Umfassendes Teststopp-Abkommen auszuhandeln. Auch die bilateralen Schwellenverträge von 1974 und 1976 verpflichten sich auf das Ziel einer vollständigen Einstellung aller Atomversuche. In den achtziger Jahren wurde es nicht nur von der weltweiten Friedensbewegung, sondern auch von etablierten Politikern und Staatsmännern angemahnt.

1984 traten sechs Staats- und Regierungschefs aus vier Kontinenten mit einer gemeinsamen Erklärung an die Weltöffentlichkeit. Raul Alfonsin (Argentinien), Indira Gandhi (Indien), Miguel de la Madrid (Mexiko), Julius K. Nyerere (Kenia), Olof Palme (Schweden) und Andreas Papandreou (Griechenland) appellierten an die Kernwaffenstaaten, alle Atomwaffentests sowie die Produktion und Stationierung von Atomwaffen und ihren Trägersystemen sofort einzustellen und ihre nuklearen Streitkräfte wesentlich zu reduzieren. Dieser Appell fand weltweit ein großes Echo: die Four Continent Peace Initiative (heute Six Nations Peace Initiative) war geboren. Bald fand sich die internationale Parlamentariergruppe (Parliamentarians for Global Action, PGA) bereit, die Six Nations Peace Initiative international zu koordinieren. PGA arbeitete ein Konzept zur Erweiterung des PTBT zu einem CTBT aus. Dieses ist bereits im Vertragswerk des PTBT als Möglichkeit angelegt (siehe Kasten »Der Partielle Teststopp-Vertrag«, Art. II). Im Dezember 1985 forderte Mexiko gemeinsam mit anderen blockfreien Staaten in einer UN-Resolution, mit Hilfe einer Konferenz der 116 Vertragsstaaten den PTBT zu einem Vertrag über ein vollständiges Atomtestverbot umzuwandeln. Um eine solche Konferenz einzuberufen, müssen ein Drittel der PTBT-Vertragsstaaten dies förmlich von den Depositarstaaten fordern. Im März 1989 hat der 39. Staat eine solche Forderung in London, Washington und Moskau hinterlegt. Die drei Regierungen sind nun verpflichtet, eine Amendment-Konferenz einzuberufen. Sie könnte noch in der ersten Jahreshälfte 1990 stattfinden. Wenn sich eine Mehrheit der Konferenzteilnehmer für eine Umwandlung des PTBT in einen Umfassenden Teststopp-Vertrag aussprechen sollte, so müßte dem stattgegeben werden. Allerdings haben die drei Ursprungsstaaten des PTBT de facto ein Vetorecht, da ihr Votum gemäß Artikel 2, Absatz 2 PTBT für jeden »Zusatz« zwingend erforderlich ist.

Dennoch dürfte allein schon die Abhaltung der Erweiterungskonferenz ein Erfolg sein, auch wenn ein CTBT dadurch nicht erreicht wird. Die durch die politischen Ereignisse in (Mittel-) Europa in Beschlag genommene Öffentlichkeit würde endlich wieder auf ein altes und wesentliches Rüstungkontrollproblem aufmerksam gemacht. Die zeitliche Nähe zur ebenfalls 1990 stattfindenden Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages von Atomwaffen (Nonproliferations-Treaty, NPT) ist dabei äußerst sinnvoll. Das NPT-Regime wird nicht zuletzt dadurch unterwandert, weil die Atommächte nicht zur Einstellung ihrer Tests zu bewegen sind. Die amerikanische Delegation verließ die bilateralen Atomtestverhandlungen Anfang 1990; es ist unklar, wann die Gespräche wieder augenommen werden (SZ, 26.1.1990).

VII. CTB – eine sinnvolle Ein- Punkt-Kampagne?

Ein-Punkt-Kampagnen in der Friedenspolitik haben den Vorteil, daß aus der Vielzahl relevanter Themen und Zusammenhänge ein Sachverhalt herausgewählt und hervorgehoben wird. Die Massenmobilisierung der Friedensbewegungen Anfang der achtziger Jahre war nicht zuletzt deswegen möglich, weil man sich gegen die Stationierung einer nuklearen Waffenkategorie wandte. Diese Bestrebungen hatten ein konkretes Ziel; Reduktion von Komplexität kann politisch sehr wirksam sein.

Ein-Punkt-Kampagnen haben aber auch etwas Verzweifeltes. Sie greifen einen mehr oder weniger wichtigen Aspekt aus der breiten Palette nuklearer Rüstung heraus und vernachlässigen notwendig andere. So gerinnt politisch an sich lobenswertes Engagement zum Motto »Schlagen wir der nuklearen Hydra einen Arm ab, so wächst er an anderer Stelle wieder nach – womöglich doppelt und dreifach«.

Dennoch bleibt ein Umfassender Teststopp sinnvoll. Er verhindert zuverlässig Rüstungsdynamik bei jenen Atomwaffen dritter Generation, die nur durch Nuklearexplosionen entwickelt werden können (z.B. Röntgenlaser). Zum zweiten bedeutet die weltweite Einstellung der Tests eine Entlastung der Umwelt, da auch unterirdische Tests durch »Ausbläser« Radioaktivität freisetzen können. Eine Beendigung insbesondere der französischen Tests würde der Gefahr begegnen, daß die Hohlräume des Mururoa-Atolls so brüchig werden, daß riesige Mengen Radioaktivität austreten. Drittens würde ein globaler CTBT dem »nuklearen Rassismus« ein Ende bereiten. Die (Menschen-) Rechte der Western Shoshone und der Bewohner Französisch-Polynesiens würden endlich wieder eingesetzt.

Ein Atomteststopp würde aber nicht die »Sündenfälle« aus über vierzig Jahren Atomzeitalter ungeschehen machen. Ein gewaltiges Sprengkopfarsenal kann jederzeit reproduziert werden. Alle diese »nukes« haben – weil ehedem ausreichend getestet – eine hinreichende »stockpile reliability«. Selbst die Verbesserung der Zielgenauigkeit von nuklearen Einsatzmitteln hängt nicht oder nur zweitrangig von Atomtests ab. Eine Perfektionierung der Leitsysteme für ballistische Raketen ist hierfür viel maßgeblicher. Beide Supermächte entwickeln und installieren Satelliten-Navigationssysteme im Weltraum (USA: NAVSTAR, UdSSR: GLONAS). Ein streichholzgroßer Satellitenempfänger an den Wiedereintritts-Flugkörpern kann alle nötigen Informationen zum optimalen Zielanflug empfangen und verarbeiten. Werden diese Navigationssysteme einmal angebracht sein, so werden die ICBM's in Ost und West eine Zielgenauigkeit von unter 10 Metern erreichen. Wesentlich für diese verbesserten Fähigkeiten sind auch Raketentests (siehe Udo Schelb, Teststopp für Interkontinentalraketen, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1989).

Auch die »earth-penetrating-weapons« bedürfen nicht notwendig der Atomtests, weil die Fähigkeit, sich tief in die Erde zu bohren, von mechanischen Vorrichtungen um den äußeren Sprengkopfmantel abhängt, nicht vom Sprengkopf selber.

Der rüstungskontrollpolitische Sinn eines Umfassenden Teststopps wird auch von der laufend verbesserten Fähigkeit geschmälert, immer mehr Sprengkopfkomponenten im Labor zu testen. Auf diesem Gebiet sind die USA führend. Zwar werden unterirdische Atomtests wohl nie völlig bei der Entwicklung neuer Waffen ersetzt werden können; ein CTBT würde dem Ziel der Präventiven Drosselung der Rüstungsdynamik jedoch erheblich besser gerecht werden, wenn er von wesentlichen flankierenden Maßnahmen begleitet würde:

  1. Navigationssatelliten-Entwicklungs-Stopp
  2. Raketenteststopp
  3. Forschungsstopp in Labors, gegenseitige Transparenz und Inspektion
  4. Produktionsstopp Plutonium/angereichertes Uran.

Radioaktivität: Maßeinheiten, Richt- und Grenzwerte

Das Strahlensyndrom äußert sich folgendermaßen: schon Strahlendosen ab 1 Sievert führen unmittelbar zu Übelkeit und Erbrechen; danach erholt sich der Körper oft; aber je nach Art und Intensität der Strahlen, persönlicher Verfassung und Erbgut kann sich das Leiden nach längerer Zeit durch Krebs, Leukämie u.a. fortsetzen.

3-5 Sv: 50% der Menschen sterben innerhalb von 2 Monaten an Schädigung des Knochenmarks (die blutbildenden Zellen vermehren sich nicht mehr).

10-50 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

100 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

Meßeinheiten:

Vom Spaltprodukt ausgehende Radioaktivität:

1 Becquerel (Bq)=1 Zerfall pro Sekunde

1 Curie (ci)=Zerfallseinheit von 1 Gramm Radium=37 Milliarden Bq

Bsp.: Plutonium mit einer Aktivität von 2000 Megabecquerel emittiert 2000 Millionen Aplhateilchen pro Sekunde

Vom Stoff aufgenommene Energie: 1 Gray=Energiedosis von 1 Joule pro Kilo

1 Gray=100 Rad (alte Einheit)

Die Strahlenarten sind unterschiedlich gefährlich. Je nach Strahlungsrat wird aufgrund von Gray ein Wert errechnet (die »Äquivalentdosis«), der die genaue Schädlichkeit in Sievert oder in Rem angibt: 1 Sievert (Sv)=100 Rem. Bei Gammastrahlen z.B. ist Gray=Sievert, bei Alphastrahlen, die inkorporiert besonders gefährlich sind für den Menschen, wird die in Gray errechnete Dosis mit dem Faktor 20 multipliziert, um Sievert zu erhalten.

Richtwerte und Höchstgrenzen für Radioaktivität (Auswahl) Luft: Als normal werden 3 Bq pro Kubikmeter angesehen. (Tschernobyl bewirkte zwischen 10-70 Bq)

In Rem und Gray: die empfohlene Höchstbelastung pro Stunde ist 114 Nanogray (= 0,000 000 114 Gray), das entspricht 100 Millirem pro Jahr.

Eine US-Bestimmung für Kernkraftwerksunfälle besagt, daß die Bevölkerung eine Dosis von 100 Rad bei einem Unfall erhalten darf.

Die Innenministerkonferenz gab 1988 in den »Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung technischer Anlagen« einen Wert von 400 Millionen Becquerel pro Quadratmeter als kritsche Grenze an. Eine Dekontamination solle aber erst ab 4000 Mill. Bq stattfinden. Arbeitern in Uranminen mutet man eine Ganzkörperdosis von 50 Millisievert pro Jahr zu, der übrigen Bevölkerung 5 Millisievert. Beschäftigte in Atomanlagen dürfen 5 Rem erhalten.

Barbara Sabel ist Germanistin;

Michael Kalman ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Starnberg.

Präventive Rüstungskontrolle

Präventive Rüstungskontrolle

von Jürgen Altmann / Tom Bielefeld / Malcolm R. Dando / Mark Hotz / Wolfgang Liebert / Christian Mölling / Götz Neuneck / Kathryn Nixdorff / Christoph Pistner / Dagmar Schilling

Erste Ergebnisse des Projektes »Präventive Rüstungskontrolle« des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS)

zum Anfang | Zum Projekt »Präventive Rüstungskontrolle«

Ende 1999 genehmigte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen „prioritärer erster Maßnahmen für die Friedens- und Konfliktforschung“ fünf Projekte in Bochum, Darmstadt, Dortmund und Hamburg für die kurze Laufzeit von fünfzehn Monaten. Zentrales Forschungsobjekt waren die Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle (PRK), angewandt auf vier Technologiegebiete, die rüstungsrelevant sind. Zu diesem Zweck wurde von den beteiligten Gruppen – dem Bochumer Verifikationsprojekt in Bochum bzw. Dortmund, dem Center for Science and International Security (CENSIS) der Universität Hamburg, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt – der »Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle« gegründet. Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) beteiligte sich ebenfalls an den Arbeiten und begleitete den Projektverbund sozialwissenschaftlich. Die beteiligten Gruppen sind im »Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit« (FONAS)1 zusammengeschlossen. Hier werden seit Jahren technische Analysen zu Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung angefertigt.

Zweck des Projektverbundes ist es, anhand von Analysen militärrelevanter Technologiefelder die Möglichkeiten für präventive Rüstungskontrolle zu untersuchen. Zum einen sollen darauf aufbauend umsetzbare Empfehlungen für künftige Rüstungskontrollmaßnahmen erarbeitet werden, zum anderen sollen die Methoden für eine praktikable Rüstungstechnologiefolgenabschätzung verfeinert werden. In enger Kooperation mit den beteiligten Projekten des Projektverbundes sollen allgemeine Bewertungsverfahren und Kriterien erarbeitet werden, die eine systematische Wissenschafts- und Technologiefolgenabschätzung im Hinblick auf ihr jeweiliges Rüstungspotenzial und die damit verbundenen Gefahren ermöglichen sowie die Ausarbeitung konkreter Maßnahmen zur vorbeugenden Rüstungskontrolle zulassen. Zudem soll die naturwissenschaftliche und rüstungskontrollpolitische Expertise in Deutschland im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung gestärkt werden.

Der Projektverbund besteht aus dem Rahmenprojekt und vier Einzelprojekten, die sich mit spezifischen Technologiefeldern beschäftigten (vgl. Tabelle).

Am 15. März wurden die Ergebnisse im Magnus-Haus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Leider war die Projektlaufzeit sehr kurz, so dass nur erste Ergebnisse und Empfehlungen erarbeitet werden konnten. Die Projektmitglieder haben jedoch die Hoffnung, dass eine fortgesetzte Förderung durch die »Deutsche Stiftung Friedensforschung« in den nächsten Jahren zustande kommt. Im folgenden wird eine Auswahl der Projektergebnisse einem friedenswissenschaftlich interessierten Adressatenkreis vorgelegt.2

Die Rüstungsdynamik setzt sich fort

Auch zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt sich kein Bild einer nachhaltigen globalen Abrüstung zeichnen. Vielmehr erfährt die Rüstungsdynamik neue Belebung. Grund ist der Versuch einiger insbesondere westlicher Staaten, allen voran die USA, militärische Überlegenheit mittels qualitativer Vorteile zu sichern oder auszubauen. Technologische Innovation und ihre Integration in moderne Rüstungstechnologie nehmen hierbei eine bedeutende Rolle ein. In den Köpfen vieler militärischer und politischer Eliten hat sich die in der Wissenschaft viel beschriebene und umstritten diskutierte »Revolution in Military Affairs« (RMA) bereits vollzogen. Mit ihr, so die Hoffnung in den Planungsstäben, eröffnen sich neue Horizonte bei der militärischen Bearbeitung von weit weniger klar definierten Sicherheitsproblemen und Konfliktszenarien. Dieses spiegelt sich in den entsprechenden sicherheitspolitischen und strategischen Konzepten der führenden westlichen Staaten wider.

Anmerkungen

1)Beschreibungen, Briefing Papers und Ergebnisse der Projekte sind zu finden unter: www.fonas.org/prk

2) Die vollständigen Kurzzusammenfassungen sowie die Endberichte der Projekte sind bei den jeweiligen Kontaktpersonen zu bestellen.

zum Anfang | Rahmenprojekt: Methoden, Kriterien und Konzepte für präventive Rüstungskontrolle

von Götz Neuneck und Christian Mölling

Das Rahmenprojekt hatte die Aufgabe, Randbedingungen und mögliche Verfahren des Konzeptes präventiver Rüstungskontrolle zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit den beteiligten Projekten des Projektverbundes sollte, auf der Basis von Kriterien, ein allgemeines Bewertungsverfahren erarbeitet werden. Hierin wird eine wichtige Grundlage für die systematische Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) gesehen. Die RTFA zielt darauf ab, in der Entwicklung befindliche Technologien im Hinblick auf ihr jeweiliges Rüstungspotenzial und mögliche Gefahren zu untersuchen.

Modelle und Praxis der Rüstungsdynamik

Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass eine effektive Rüstungskontrolle in hohem Maße abhängig ist von der Kenntnis der Rüstungsdynamik. Dieser Begriff bezeichnet jene Faktoren und Zusammenhänge, welche die Rüstung vorantreiben und die Entwicklung spezifischer Technologien und deren Anwendungen ermöglichen und charakterisieren. Zunächst zeigt sich, dass die Formen und Charakteristika der Rüstungsdynamik epochalen Veränderungen folgen. Konstatiert werden muss ein sich stetig wandelnder Wirkungszusammenhang von Wissenschaft, Technologie, Produktionsverfahren und gesellschaftlicher Organisation. Folgende vier idealtypische Dimensionen oder Kategorien sind für die wissenschaftliche Analyse relevant: Politik/Gesellschaft, Ökonomie, Militär und Technologie. Diese Dimensionen stehen zwar in Wechselwirkung zueinander, sie führen zunächst jedoch ein unterscheidbares »Eigenleben« mit eigenen Regeln und eigener Logik.

Die Gestalt und Dynamik der Systeme, die rüstungstechnologische Innovationen generieren, können sowohl hinsichtlich dieser Einflussdimensionen und -faktoren als auch in Bezug auf die relevanten Akteure und deren Interessen, die Strukturen und die ablaufenden Prozesse analysiert werden. Kommt man zu der Frage, welches der existierenden Modelle und Erklärungsansätze das System der Rüstungsdynamik mit seinen Elementen adäquat beschreibt und diese in Beziehung zu einander setzt, so muss man feststellen, dass hinreichende Erklärungen nur zu erzielen sind, wenn jene Ansätze, die auf innerstaatliche Faktoren bzw. die erwähnten Analysekategorien abzielen, durch jene, die Rüstungsdynamik aus der internationalen Konkurrenz heraus erklären, ergänzent werden. Ein homogenes Modell, welches nahezu alle jeweiligen rüstungsdynamischen Faktoren aus Politik, Ökonomie, Militär und Technologie einbezieht und zu eindeutigen Aussagen führt, ist derzeit nicht erkennbar. Hinzu kommt, dass eine Weiterentwicklung der vorhanden Ansätze, mit der diese den neuen Gegebenheiten angepasst werden können, nicht stattfindet. Diese Feststellung kennzeichnet symptomatisch ein großes Defizit in der theoretisch-konzeptionellen Bearbeitung der Thematik seit den 90er Jahren.

Wandel seit dem Ende des Ost-West-Konflikts

Bei der Betrachtung der Rüstungsdynamik der letzten Dekade zeigt sich ein disparates Bild. Neben dem Ende des Ost-West-Konflikts haben die verschiedenen Effekte der Globalisierung zu einer Veränderung der Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren geführt. Generell ist eine Zunahme der Geschwindigkeit bei der (Weiter-)Entwicklung von Rüstungsprodukten durch rüstungstechnologische Innovation zu beobachten. Dies lässt zwar die Rüstungsspirale schneller drehen, kann jedoch nicht zur Bestärkung der These einer RMA herangezogen werden. Richtig scheint hingegen die Annahme, dass der Faktor Technologie derzeit an Bedeutung zunimmt und zu einer Schlüsselvariable für die militärischen Fähigkeiten gerinnt.

Insbesondere der weltweite Rückgang staatlicher Aufwendungen für Rüstung und Verteidigung und somit das Absinken der Nachfrage prägen die Lage auf dem internationalen Rüstungsmarkt. In Folge dessen vollzieht sich ein nachhaltiger struktureller Wandel, der sowohl die Produktionscharakteristika und Industriestruktur des Sektors wie auch den Handel prägt (Internationalisierung, Aquisition & Mergers, Exportdruckerhöhung, Angebotsdiversifizierung). Im Windschatten dieses allgemeinen Abrüstungstrends erlebt die qualitative Rüstungsdynamik einen neuerlichen Aufschwung: Im Vergleich zu den Gesamtausgaben für Verteidigung sanken die Ausgaben für F&E der wichtigsten Länder nur in geringerem Maße. Man kann eindeutig von einer relativen Betonung der qualitativen Rüstung und Modernisierung sprechen.

Die Entwicklung im technologischen Bereich ist insbesondere gekennzeichnet durch zunehmende Möglichkeiten und Potenziale, die aus der zivilen Forschung resultieren. Die wichtigen Rüstungstechnologien der Zukunft sind Dual-Use-Technologien mit zivilem Ursprung. (Dies gilt insbesondere für die Biotechnologie, Informationsverarbeitungstechnologien, Kommunikationstechnologien, Materialforschung, Weltraumtechnologien und die Familie der Mikro- bzw. Nanotechnologien). Entsprechend ist abzusehen, dass militärrelevante Vorgänge erst in der Phase der Anwendungsforschung oder zu einem noch späteren Zeitpunkt offiziell als militärische Forschung deklariert werden. Hier eröffnet sich ein Forschungsproblem für die präventive Rüstungskontrolle, da dem Ziel der PRK, frühest möglich Einblick in die relevante Forschung zu gewinnen, sowohl das Argument der Geheimhaltung aus Wettbewerbsgründen als auch der Verweis auf den »offensichtlich« rein zivilen Charakter der Forschung entgegenstehen.

Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und Leitbilder haben sich gewandelt und diversifiziert. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete auch den Zusammenbruch der eindimensionalen Bedrohungswahrnehmung zwischen Ost und West. An dessen Stelle tritt eine teilweise unspezifische Ansammlung potenzieller Risiken. Das neue Leitbild und die Realität des militärischen Krisenmanagements bzw. der Interventionsfähigkeit hat alte Szenarien in den Hintergrund treten lassen. Dieser Perspektivwechsel hat wesentlichen Einfluss auf künftige Anforderungen an westliche Streitkräfte. Hinzu tritt ein gradueller Wandel der antizipierten Basis militärischer Stärke durch die Betonung qualitativer Elemente gegenüber quantitativen. Eine Folge der Perzeption von Qualität als einem wichtigen Schlüssel zu militärischer Überlegenheit ist die Ausweitung bzw. »Vorverlagerung« der Einflussfaktoren der Rüstungsdynamik in den Bereich der F&E/E.

Auf der militärischen Ebene eröffnet die Umsetzung der Prämisse von technologischer Überlegenheit zum einen die Aussicht auf den effektiveren Einsatz der Kräfte (force multiplying). Zum anderen wird die Abhängigkeit moderner Streitkräfte und Strategien von Hochtechnologiekomponenten und ihrer Vernetzung erhöht. Waffensysteme in modernen Armeen sind zunehmend nicht mehr als einzelne Einheiten zu sehen, sondern sind in elektronische Verbünde einbezogen, die, beginnend mit der Aufklärung über die Kommunikation und Führung bis hin zum Einsatz von Präzisionswaffen komplexe Netzwerke umfassen.

Weniger der fehlende Wille denn die leeren Kassen der Verteidigungsministerien verhindern derzeit in den meisten Ländern eine lückenlose Umsetzung neuer technologischer Innovationen in Rüstungstechnologien. Doch ist festzuhalten, dass die Rüstungsdynamik durch die Vorwegnahme neuer Szenarien und die darauf reagierenden neuen Rüstungsprogramme und Strategien, die zunehmend auf die Integration von High-Tech-Elementen setzen, angeheizt wird. Das Denken in Kategorien eines »virtuellen Wettrüstens« beginnt bereits im Bereich militärischer F&E/E neuer Waffen. Diese Entwicklung ist insbesondere in Staaten zu beobachten, die über eine hochmoderne Industrie- und Forschungsinfrastruktur verfügen. Hierbei spielen die USA eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Definition der technischen Notwendigkeiten.

Rüstungskontrolle vor neuen Herausforderungen

Eine Bilanz des vergangenen Jahrzehnts zeigt, dass Rüstungskontrolle zunehmend als überholtes Konzept angesehen wird. Dies geschieht auch und gerade, weil es die Staatengemeinschaft unterlassen hat, die Rüstungskontrolle den neuen Herausforderungen der Rüstungsdynamik anzupassen. So zielen die bestehenden Verträge in ihrer Mehrzahl auf vorhandene militärische Potenziale ab. Prognostizierbare oder bereits fest geplante qualitative Entwicklungen und Kapazitätserhöhungen werden in der Regel nicht berührt. Diese sind jedoch Gegenstand strategischer Kalkulationen in den Planungsstäben.

Das vormals globale Szenario der Rüstungskontrolle ist in diverse regionale Szenarien zerfallen. Ob dies die Kontrolle erschwert oder vereinfacht, kann nicht abschließend beantwortet werden. Klar ist jedoch, dass in vielen Regionen die Kontrolle von entstehenden Rüstungspotenzialen bisher noch gar nicht auf der Tagesordnung steht.

Immer deutlicher tritt das Problem zutage, Schlüsselstaaten wie die USA, Nord Korea, Indien oder den Iran in die Bearbeitung der Rüstungskontrollproblematik einzubeziehen. Ein zentraler Akteur sind die USA, deren Unilateralismus diverse, dringend notwendige globale Vereinbarungen erschwert.

Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob die internationale Gemeinschaft Rüstungskontrolle weiter als effektives Instrument der Friedens- und Sicherheitspolitik begreift und sie erhalten bzw. ausbauen will. Ist internationale Rüstungskontrolle weiterhin gewünscht, so muss sie an die neuen Herausforderungen angepasst werden. In dieser Situation sind Konzepte für eine nachhaltige Rüstungskontrollpolitik der Zukunft gefragt.

PRK als eine Antwort

Die Entwicklung der Rüstungsdynamik und die Defizite der bestehenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen sind Grund genug für die Suche nach systematischen Beschränkungsmöglichkeiten rüstungstechnologischer Innovation. Präventive Rüstungskontrolle (PRK) zielt als eine Variante bzw. Weiterentwicklung der qualitativen Rüstungskontrolle darauf ab, rüstungstechnologische Innovationen zu minimieren, die als nachteilig für internationale Sicherheit und Frieden bewertet werden.1

Die Begründung der Notwendigkeit von PRK liegt in einem erweiterten Verständnis von Rüstungskontrolle. Die klassische Rüstungskontrolle (und Abrüstung) basiert auf der Verregelung des Besitzes, des Erwerbes und der Anwendung von Waffen und Gerät. Nun sollen die zeitlich vorgelagerten Prozesse der F&E/E in den Blickpunkt gerückt werden. Diesem Bereich der Rüstungsinnovation ist in der Vergangenheit wenig Beachtung geschenkt worden. In Einzelfällen reichen zwar Verträge in die Frühphase der Rüstungsinnovation hinein – ohne jedoch in jedem Falle substanzielle und dauerhafte Effekte zu haben. Eine Fortentwicklung in Form eines umfassenden Ansatzes ist bis heute ausgeblieben.

PRK will noch nicht bestehende, aber infolge rüstungstechnologischer Innovation in absehbarer Zukunft mögliche, militärische und anderweitig Gefahren induzierende Konsequenzen durch die Steuerung, möglicherweise auch Blockierung bestimmter Entwicklungsstränge frühzeitig verhindern oder bereits stattgefundene Stationierungen qualitativ begrenzen.

Es soll zunächst die Beurteilung von militärrelevanter F&E/E ermöglicht werden. Hierzu ist ein Katalog von Kriterien entwickelt worden. Auf dessen Grundlage soll die sogenannte Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) rüstungsrelevante Entwicklungen darstellen und bewerten. Das Ergebnis dieser Abschätzung bildet die Grundlage für die Ausarbeitung konkreter Maßnahmen zur präventiven Rüstungskontrolle in Bezug auf die jeweilige Technologie.

Kriterien der PRK

Mit der Beurteilung von Technologien, die sich im Stadium der F&E/E befinden, wird versucht nachzuweisen, dass eine Technologie rüstungsrelevant ist, dass, gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft, nachteilige Folgen sowie problematische Nutzungspotenziale konkret durch diese Technologie zu erwarten sind und welche dies sind. Den Bewertungsmaßstab für diesen Entscheidungsprozess bildet ein Satz von Kriterien. Hierbei orientiert sich der Projektverbund nicht allein an der militärischen Dimension von Sicherheit. Vielmehr gehen wir von einem friedens- und sicherheitspolitischen Leitbild aus, welches versucht, neben den klassischen Kriterien (Kriegsverhinderung, Schadensvermeidung, Kostenverminderung) Aspekte nachhaltiger Entwicklung und menschlicher Sicherheit aufzunehmen.

Dies spiegeln insbesondere die Kriterien wider, welche die »Gefahrenvermeidung für nachhaltige Entwicklung« zum Maßstab erheben. Hierunter fallen neben den Gefahren für das Individuum und seine Umwelt als natürliche Lebensgrundlage auch die Bedrohungen für gesellschaftliche und politische Systeme sowie für die gesellschaftliche Infrastruktur. Durch den Begriff der Entwicklung wird der Bewertungshorizont über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft erweitert und erfordert eine langfristige Perspektive bei der Betrachtung der Technologien.

Eine zweite Gruppe zielt auf die »Effektivierung der bestehenden und zukünftigen Instrumente der Rüstungskontrolle« in Form von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen sowie bestehenden Völkerrechtsnormen, insbesondere denen des Kriegsvölkerrechts. Zentral ist auch die besondere Ächtung der Massenvernichtungswaffen. Eine letzte Gruppe betont die Notwendigkeit des »Erhaltes und der Förderung von Stabilität und internationaler Sicherheit«,welche insbesondere durch die Vermeidung qualitativer Aufrüstung sowie horizontaler oder vertikaler Proliferation/Diffusion von rüstungsrelevanten Technologien, Materialien oder von Wissen charakterisiert wird.

Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung

Der Bewertungsprozess selbst wird als Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) bezeichnet. Er orientiert sich an folgenden Punkten:

1. der hypothetischen Möglichkeit eines negativen Einflusses einer Technologie gemäß der Kriterien als Ausgangspunkt der Überprüfung/Abschätzung

2. dem Realisierungsstand, den die Technologie erreicht hat

3. der Absehbarkeit der Realisierungswahrscheinlichkeit der Technologie

4. den Realisierungsfolgen, beschrieben in Anlehnung an die Kriterien

Für Punkt 1 und in begrenztem Maße für Punkt 4 kann auf einen vorhandenen Bewertungsmaßstab in Form der Kriterien zurückgegriffen werden. Ein solcher Maßstab ist für die Bestimmung der Realisierungswahrscheinlichkeit bisher nicht detailliert vorhanden. Die Ergebnisse der Einzelprojekte werden unter diesem Gesichtspunkt abschließend bewertet, um zusätzliche Anhaltspunkte für Maßstäbe zu erhalten. Sowohl für die Abschätzung der Realisierungswahrscheinlichkeit als auch für die Prognose der Realisierungsfolgen bedarf es eines systematischen Analysemodells, mit dessen Hilfe die realen Vorgänge innerhalb der spezifischen Rüstungsdynamik, in welche die Technologie involviert ist, bewertet werden können. Die oben benannten methodischen wie konzeptionellen Defizite sind in diesem Projekt zwar erkannt, jedoch nicht abschließend gelöst worden. Für die bisher vorgenommene RTFA im Rahmen der Einzelprojekte steht zunächst eine Liste mit Leitfragen zur Verfügung, die versucht, auf die allgemein wichtigsten Faktoren aufmerksam zu machen. Analyse, Gewichtung und Bewertung sind den Analysten überlassen.

Will man die Vergleichbarkeit der Ergebnisse garantieren, ist für die Zukunft jedoch ein Analyse-Instrument unabdingbar, welches übertragbar ist auf eine große Zahl von Einzelfällen, und welches die relevanten Faktoren, deren wechselnde Gewichtungen und die resultierende Dynamik sicher abbildet.

Die Konsequenz: PRK umsetzen, Forschung stärken

Die verstärkte Hinwendung der friedenswissenschaftlichen Forschung zu den Konfliktursachen hat den Bereich der Rüstungsdynamik mit seinem konfliktverschärfenden Potenzial wie auch die Rüstungskontrolle mit ihren Möglichkeiten, entsprechende Konflikte einzuhegen und zu bearbeiten, in den Hintergrund treten lassen. Erst die Debatten um NMD und die Bio-Waffen lassen die Aufmerksamkeit auf dieses Feld zurückkehren, das, in Folge des beschriebenen Wandels, ein bislang wenig verstandenes Konfliktpotenzial birgt. Eine zentrale Herausforderung in diesem und anderen Feldern ist die Prävention. Mit der Betonung dieses Prinzips reiht sich die Rüstungskontrollforschung in die friedenswissenschaftlichen Prämissen und Ergebnisse der Nachbarwissenschaften ein.

Die hier in Kürze dargebotenen Ergebnisse, insbesondere die aufgezeigten Probleme, legen ein beherztes politisches Handeln nahe. Die Umsetzung der folgenden Empfehlungen dürfen auch als Prüfstein für die Aussage der Bundesregierung verstanden werden, präventive Rüstungskontrolle als Teil einer sicherheits- und friedenspolitischen Gesamtstrategie zu verfolgen. Im Zentrum stehen hierbei insbesondere Bemühungen auf internationaler Ebene.

Zum einen ist die Einrichtung eines Registers für militärische Forschung Entwicklung und Erprobung, angesiedelt bei den Vereinten Nationen, angeraten. Hier sollen systematisch und öffentlich zugänglich alle relevanten Aktivitäten erfasst und ausgewertet werden.

Darüber hinaus macht die Prävention im Rahmen der Rüstungskontrolle nur Sinn, wenn sie als Prinzip systematisch in bestehende und zukünftige Rüstungskontrollvereinbarungen eingebracht wird. Dies bedeutet sowohl, sich stark zu machen für entsprechende Anpassungsklauseln in den betroffenen Verträgen, wie auch den Versuch zu unternehmen, die Staatengemeinschaft für die rein friedliche Nutzung der Technologien und Forschungsergebnisse zu gewinnen.

Ein internationales Frühwarnkomitee »Rüstung, Wissenschaft, Technologie und internationale Sicherheit« bei den Vereinten Nationen soll Informationen und Analysen sowie Prognosen zur Rüstungsdynamik und Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung bereitstellen. Solch eine Gruppe könnte zum einen Kontakt zu weltweiten Analyseeinheiten halten, die sich mit Rüstungsdynamik beschäftigen. Zum anderen könnten hochrangige WissenschaftlerInnen dem Sicherheitsrat bzw. dem Department of Disarmament Affairs zuarbeiten bzw. diese beraten.

Grundlage für die hinreichende Bearbeitung des Themas

Rüstungskontrolle/Rüstungsdynamik sind sowohl die inhaltliche Forschung zu speziellen Technologien wie auch die Arbeiten zur Methodik und Konzeption sowie den Umsetzungsmöglichkeiten für Maßnahmen zur präventiven Rüstungskontrolle. Mit Ende der Förderung des Projektverbundes Präventive Rüstungskontrolle findet nach unserem Kenntnisstand in Deutschland keine unabhängige Forschung zur rüstungstechnologischen Innovation und PRK mehr statt. Auch im Ausland stellen solche Studien eher die Ausnahme dar. Dem entsprechend wird dringend geraten, die entstehende Lücke zu füllen und eine kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet präventiver Rüstungskontrolle und technologischer Krisenprävention zu gewährleisten und substanziell zu fördern.

Anmerkungen

1) Siehe dazu G. Neuneck/R. Mutz (Hrsg.) (2000): Vorbeugende Rüstungskontrolle, Baden-Baden.

Dr. Götz Neuneck und Dipl. Soz.-Wiss. Christian Mölling c/o IFSH Falkenstein 1, eMail: neuneck@public.uni-hamburg.de

zum Anfang | Fallbeispiel: Relevanz der Biotechnologie für die Bio-Waffen-Konvention

von Kathryn Nixdorff, Mark Hotz, Dagmar Schilling und Malcolm R. Dando

Die »Biologische und Toxinwaffenkonvention« (BTWC) war das erste internationale Übereinkommen, das eine ganze Klasse von Massenvernichtungswaffen verbannt hat. Der Artikel I der Konvention enthält umfassend formulierte Verbote für alle denkbaren Situationen: „Each State Party to this Convention undertakes never in any circumstances to develop, produce, stockpile or otherwise acquire or retain: 1. Microbial or other biological agents, or toxins whatever their origin or method of production, of types and in quantities that have no justification for prophylactic, protective or other peaceful purposes 2. Weapons, equipment or means of delivery designed to use such agents or toxins for hostile purposes or in armed conflict.“

Es wurden jedoch keine effektiven Verifikationsmaßnahmen in die Konvention inkorporiert. Dies lag zum Teil an den Schwierigkeiten bei Verhandlungen über solche Maßnahmen, aber auch an der falschen Vorstellung, dass biologische Waffen (BW) aus militärischer Sicht in ihrer Nutzbarkeit limitiert seien. BW (speziell die Verursacher von Infektionskrankheiten) sind aufgrund ihrer Eigenschaften schwer einschätzbar; ihre Effekte können nicht so präzise wie bei anderen Waffenarten vorausgesagt werden und sie können leicht außer Kontrolle geraten.

Zwischenzeitlich hat sich die Ansicht über die mögliche militärische Nutzung biologischer Waffen stark verändert. Als die Konvention 1975 in Kraft trat, begann gerade die Revolution in der Biotechnologie: Kurz nach Abschluss der BTWC-Verhandlungen wurde das erste erfolgreiche gentechnische Experiment durchgeführt. Diese Entwicklung wurde bald als potenzielle Bedrohung bei der Kontrolle über biologische Waffen erkannt, und damit entstand die Angst, dass vollkommen neue, für die Kriegführung besser geeignete Arten von Mikroorganismen hergestellt werden könnten. Als Folge erhöhte sich die Forschung im Bereich der biologischen Abwehr, für einige Beobachter sogar exponentiell.

Nach dem Golfkrieg 1991 haben Untersuchungen der United Nations Special Commission (UNSCOM) offenbart, dass der Irak ein bedeutendes BW-Rüstungsprogramm besitzt. Ferner hat der damalige russische Präsident Boris Yeltsin 1992 zugegeben, dass die frühere Sowjetunion in der Zeit von 1946 bis März 1992 ein offensives B-Waffenprogramm durchgeführt hat. Es wird vermutet, dass mindestens zehn weitere Staaten offensive biologische Waffenkapazitäten entwickeln.

Solche Überlegungen erwecken ernsthafte Zweifel an der Effektivität einer biologischen Waffenkonvention ohne unterstützende Verifikationsmaßnahmen. In diesem Zusammenhang verhandelt zur Zeit eine Ad Hoc Gruppe der Vertragsstaaten über ein Protokoll mit rechtsverbindlichem Charakter, das Verifikationsmaßnahmen beinhaltet und der Konvention hinzugefügt werden soll.

Die Biotechnologie ist ein zentraler Punkt der Debatte über die Verifikationsmaßnahmen. Gemäß der Definition in der Konvention über Biologische Diversität (CBD) umfasst die Biotechnologie „jede technologische Applikation, die biologische Systeme, lebende Organismen, oder deren Derivate verwendet, um Produkte oder Prozesse für einen spezifischen Nutzen herzustellen oder zu modifizieren.“ Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte wurde die Biotechnologie durch die Molekularbiologie und die Gentechnik revolutioniert. Diese Techniken besaßen und besitzen immer noch einen großen Einfluss auf so verschiedene Bereiche wie die Medizin oder Lebensmittelkontrolle. Auf der einen Seite können diese Technologien positiv zu Forschungen, die friedlichen Zwecken dienen, sowie zum Verifikationsprozess beitragen. Andererseits allerdings können dieselben Technologien für die Entwicklung und Herstellung von BW missbraucht werden. Die großen Fortschritte in der Biotechnologie erfordern weiter führende Analysen und Beurteilungen, um die negativen Aspekte zu limitieren und die positiven zu fördern.

Das Gesamtziel des Forschungsprojekts war es, neue Entwicklungen in der Biotechnologie zu untersuchen, die eine Relevanz für die Kontrolle von BW besitzen, insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtigen und künftigen Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll zur Stärkung der BTWC. Durch den Austausch von Ergebnissen und Erfahrungen versprach die intensive Kooperation mit anderen Mitgliedern des Projektverbundes eine bedeutende Rolle bei der Erstellung von Kriterien zu spielen, die besonders relevant für PRK sind.

Bezüglich spezifischer Arbeitsziele befasste sich das Vorhaben mit der Analyse neuerer Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie, die in positiver Weise zur Verifikation der BTWC beitragen können, um Transparenz zu fördern und Vertrauen im Verifikationsregime aufzubauen. In diesem Zusammenhang wurden experimentelle Studien durchgeführt, die zu einer Verbesserung von Nachweisverfahren bei der Identifizierung von Mikroorganismen in problematischen Umweltproben beitragen sollen. Ein weiteres Ziel des Projektes war die Analyse des möglichen Missbrauchs neuerer Entwicklungen in der Biotechnologie für die Produktion von BW, um frühzeitig – bereits im Forschungsstadium – vor gefährlichen Entwicklungen warnen zu können. Schließlich wurden auch vergleichende Analysen zur Verifikation in der Chemie-Waffen-Konvention (CWC) und der BTWC erstellt um beurteilen zu können, inwieweit die BTWC der bewiesenen Effektivität der CWC gleicht.

Erste Ergebnisse

  1. Analyse neuerer Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie bezüglich ihrer Nutzbarkeit für die Verifikation von biologischen Waffen

Verschiedene für die BTWC relevante Schlüsseltechnologien wie die Gentechnik, die Polymerasekettenreaktion (PCR), Genomanalysen und Methoden zur Nukleotidsequenzierung wurden auf ihre Nutzbarkeit für die biologische Forschung hin untersucht. Obwohl verschiedene Entwicklungen als potenziell nützlich für die Verifikation von BW angesehen wurden, wurde ein neues Verfahren in molekularer Typisierung, genannt »multilocus sequence typing« (MLST), aufgrund seines großen Potenzials besonders hervorgehoben. Mit diesem relativ einfachen molekularbiologischen Verfahren können infektiöse Mikroorganismen eindeutig identifiziert und die Herkunft der Erreger sowie mögliche Mutationen bzw. Manipulationen der Mikroorganismen aufgespürt werden. Dadurch kann diese Methode einen bedeutenden Beitrag zur Bildung von Vertrauen in ein BTWC-Verifikationsprotokoll leisten und Transparenz fördern.1

  1. Experimentelle Untersuchungen zum Nachweis von Mikroorganismen aus Umweltproben unter Anwendung der Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR)

Die Polymerasekettenreaktion ist eine der am häufigsten angewandten Methoden in der Biotechnologie und kann sowohl bei der Identifizierung von Organismen als auch bei Untersuchungen auf dem Gebiet der Biodiversität und komplexen ökologischen Systemen eingesetzt werden. Es gibt jedoch eine Reihe von Veröffentlichungen, bei denen in erster Linie störende Substanzen in klinischen und natürlichen Proben zu einer Inhibierung der PCR geführt haben. Eine sehr vielversprechende Methode, die zunehmend Anwendung bei der Aufkonzentrierung und Aufreinigung von Umweltproben für die PCR findet, stellt die »immunocapture-PCR« (IC-PCR) dar. Bei dieser Methode werden Antikörper verwendet, die gegen Oberflächenantigene von Mikroorganismen gerichtet sind. Diese Antikörper sind konjugiert mit paramagnetischen »beads«, welche dazu dienen, mit Hilfe eines Magneten, Mikroorganismen aus einer Probe zu »fischen«. Dieser Vorgang führt zu einer Aufkonzentrierung der Mikroorganismen und ermöglicht auf dieser Weise das Entfernen von inhibitorischen Substanzen. Die Mikroorganismen können dann direkt durch die PCR endgültig identifiziert werden.

In dem Projekt wurde diese Methode in einem Modellsystem unter Anwendung von spezifischen und generischen Antikörpern zur Isolierung und Aufreinigung von Mikroorganismen in Umweltproben ausgetestet. Es konnte gezeigt werden, dass spezifische Antikörper gegen eine Antigendeterminante, wie sie nur in einzelnen Mikroorganismen zu finden ist, zu einem »Herausfischen« dieser Mikroorganismen aus einem Gemisch mit anderen Mikroorganismen geführt hat. Außerdem konnten mit Hilfe von generischen Antikörpern gegen eine Antigendeterminante, die bei einer Vielzahl von Mikroorganismen vorkommt, gleichzeitig mehrere verschiedene Bakterien aus einem Gemisch isoliert werden. Die Bakterien wurden anschließend in einer Multiplex-PCR identifiziert. Die optimalen Bedingungen für die Anwendung dieser Methode müssen jedoch noch weiter ausgearbeitet werden.

Analyse des möglichen Missbrauchs der Biotechnologie für die Produktion von BW

Seit der Entwicklung des »genetic engineering« wurden vier Kategorien der Manipulation oder Modifikation von Mikroorganismen in Bezug auf den Missbrauch für die Produktion von BW zum Gegenstand der Diskussion:

  • der Transfer von Antibiotikaresistenz in Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Antigendomänen von Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Stabilität der Mikroorganismen gegenüber ihrer Umwelt und
  • der Transfer pathogener Eigenschaften in Mikroorganismen.

In der Projekt-Studie wurde eine wissenschaftlich fundierte Analyse des aktuellen Gefahrenpotenzials dieser Manipulationen im Hinblick auf die Produktion verbesserter BW durchgeführt. Es wurden drei Beispiele von Forschungsaktivitäten aus der laufenden Wissenschaftsliteratur für eine tiefer gehende Analyse ausgewählt:

  • Erstellung von genetischen Profilen für die Identifizierung von Mikroorganismen,
  • Transfer von Antibiotikaresistenz in Bacillus anthracis (dem Verursacher von Anthrax),
  • Transfer von Virulenz-Genen in Bacillus anthracis.

Anhand dieser drei Beispiele wurde das Modell einer konstruktiven und prospektiven Friedensethik angewendet, um eine gerechte Beurteilung über die Missbrauchsgefahr der Forschungsaktivitäten zu treffen. Dabei wurden sowohl Regeln der Güterabwägung als auch Regeln der Entscheidung unter Ungewissheit eingeführt und diskutiert.2

In diesem Zusammenhang wurde auf die Verantwortung der Forscher besonders hingewiesen. Die Notwendigkeit der Ausbildung von Fachleuten und Studierenden, die in BW-relevanten Gebieten arbeiten, über die Konvention und das Verifikationsprotokoll wurde angesprochen. Aus dieser Diskussion entwickelte sich eine Kooperation mit der Federation of American Scientists, die intendiert, ein solches Unterrichtsprogramm aufzubauen.

Vergleichende Analyse von Verifikation in der chemischen Industrie unter den Bestimmungen der Chemie-Waffen-Konvention (CWC) und in der biotechnologischen Industrie unter den Bestimmungen des vorläufigen Verifikationsprotokolls der BTWC

Die Analyse beginnt mit einer Darstellung des Problems fehlender effektiver Verifikationsmaßnahmen in der BTWC und beschreibt anschließend, wie das Verifikationsproblem der CWC gelöst wurde. Ein Hauptelement diesbezüglich war die Verantwortung der Regierungen und der chemischen Industrie, eine zwingende CWC auszuhandeln. Das selbe Engagement fehlt offensichtlich bei den Verhandlungen über das BTWC-Protokoll, insbesondere von Seiten der US-Regierung und der pharmazeutischen Industrie in den USA.

Eine Analyse über die Natur der modernen biotechnologischen Industrie versucht auf einige Hauptunterschiede im Vergleich zur Natur der chemischen Industrie hinzuweisen, um die Problematik der Verhandlungen über das Verifikationsprotokoll der BTWC zu verdeutlichen. Ein wichtiger Punkt wurde hervorgehoben: Vertrauen in die Willensfähigkeit eines Mitgliedsstaates kann nicht entstehen, weil alle relevanten Aktivitäten von der internationalen Organisation überwacht werden. Dieser Punkt wird in Diskussionen über die CWC oft übersehen, ist aber für das Verstehen der Verifikationsmechanismen essenziell. In Bezug auf die Verifikation der BTWC ist es wichtig zu erkennen, dass das (zugegebenermaßen) weniger perfekte Verifikationssystem der CWC zur allgemeinen Zufriedenstellung der internationalen Gemeinschaft implementiert wurde.3

Erste Empfehlungen

  • Es wurde festgestellt, dass bestimmte neue Entwicklungen in der Biotechnologie sehr nützlich für Verifikationsprozesse sein können, um Transparenz zu fördern und Vertrauen in die BTWC zu schaffen. Wegen der rapiden Entwicklungen in der Technologie besteht jedoch ein kontinuierlicher Bedarf an Forschung und Analyse derer, die am effektivsten verwendet werden können. Eine Unterstützung fortgeführter, wissenschaftlich basierter Analysen über nützliche Methoden mit Vorschlägen für Verbesserungen ist essenziell.
  • Der mögliche Missbrauch der Biotechnologie für die Produktion von BW ist eine Tatsache, die nicht ignoriert werden kann und die heutzutage die deutlichste Gefahr von Massenvernichtungswaffen darstellt. Der neueste Bericht über die zufällige Herstellung eines »Killerpockenvirus« betont diese Gefahr. Kriterien für die PRK verdeutlichen den Bedarf, Entwicklungen in einem frühen Prozess zu überwachen, das bedeutet, bereits im Forschungsstadium. Da sich die Technologie in diesem Bereich mit großen Schritten vorwärts entwickelt, ist dies eine große Aufgabe und dafür wird eine besondere Bemühung in strenger Überwachung benötigt. Eine Unterstützung zur Durchführung dieser Analysen, die zur Frühwarnung viel beitragen können, ist unbedingt erforderlich.
  • Möglicherweise wird noch in diesem Jahr ein Protokoll für die BTWC vereinbart. Dies wird kein so starkes Verifikationsregime sein, wie es von vielen Seiten gewünscht wird. Es wird jedoch eine zusätzliche Beschränkung der Proliferation darstellen, die schrittweise noch verbessert werden kann. Die Lösung ist es, ein weitreichend akzeptiertes und effektiv implementiertes Protokoll zu erhalten. Es ist essenziell, einen Abschluss zu erreichen, bei dem das Protokoll von Politikern und Wissenschaftlern gleichermaßen verstanden und akzeptiert wird.

Anmerkungen

1) Siehe Nixdorff, K./Hotz, M./Schilling, D. (2000): Cooperative measures to build confidence in the BTWC regime and the responsibility of scientists. In: PRK Briefing Paper Nr. 3.

2) Siehe in: Nixdorff, K/Bender, W.: Ethics of university research, biotechnology and potential military spin-off. In: Zanders, J.P. (ed.): Ethics and Norms in Chemical and Biological Weapons Research, Minerva, Special Edition (Veröffentlichung im Herbst 2001 vorgesehen).

3) Siehe in: Dando, M.R. (2000): Preventive Arms Control: The BTWC Regime. In: PRK-Briefing Paper Nr. 2.

Prof. Dr. Kathryn Nixdorff, Institut für Mikrobiologie und Genetik, TU Darmstadt, Schnittspahnstr. 1064287 Darmstadt nixdorff@bio.tu-darmstadt.de (Projektleiterin), Dipl. Biol. Mark Hotz, Dipl. Biol. Dagmar Schilling, Institut für Mikrobiologie & Genetik und IANUS, TU Darmstadt; in Kooperation mit Prof. Malcolm R. Dando, Department of Peace Studies, Bradford University, UK

zum Anfang | Fallbeispiel: Raketenabwehrsysteme und internationale Sicherheit

von Tom Bielefeld und Götz Neuneck

Die Debatte um die Einführung des geplanten Raketenabwehrsystems »National Missile Defense« (NMD) hat sich im vergangenen Jahr intensiviert. Ausgangspunkt der US-Anstrengungen zur Schaffung einer Raketenabwehrkapazität ist nach wie vor die (umstrittene) These, dass angesichts fortschreitender Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen die Einführung einer aktiven Abwehr gegen ballistische Raketen nötig sei. Präsident Clinton hatte in einer Rede am 1. September 2000 die endgültige Endscheidung über die Stationierung des umstrittenen NMD-Systems seinem Amtsnachfolger überlassen, u.a. weil die Technologie insbesondere im Zuge der Tests des letzten Jahres sich als unreif herausstellte.1 Mit dem Antritt der Bush-Administration Anfang 2001 wurde die Debatte neu belebt. Eine eigene realistische Konzeption hat die Bush-Administration bis jetzt noch nicht vorgelegt. Klar scheint lediglich, dass die Verbündeten mit einbezogen werden sollen; unklar bleibt, wie ein Raketenkonzept aussehen könnte, d.h. welches Gut gegen welche Bedrohung mit welchen Mitteln geschützt werden soll und mit welchen sicherheitspolitischen und finanziellen Kosten zu rechnen ist.

Die mögliche Einführung des landesweiten Raketenabwehrsystems »National Missile Defense« (NMD) durch die USA hat weltweit zu heftigen Diskussionen geführt. Russland und China, aber auch europäische Staaten haben ernste Bedenken gegen NMD geäußert, insbesondere weil befürchtet wird, ein Aufweichen bzw. die Abschaffung des ABM-Vertrags von 1972 könne den weltweiten Rüstungskontrollprozess beenden und zu neuen, regionalen Rüstungswettläufen führen.

Das Projekt hat sowohl die politischen als auch die technischen Aspekte der Diskussion um NMD analysiert.2 Ziel war es einerseits, am Beispiel des ABM-Vertrages die präventive Funktion eines klassischen Rüstungskontrollvertrags im Laufe der fortschreitenden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Andererseits galt es, die Konsequenzen einer möglichen Stationierung von NMD für die internationale Sicherheit und Stabilität, die weitere strategische nukleare Abrüstung und die Rüstungskontrolle (START-Prozess) abzuschätzen. Mögliche Modifikationen des ABM-Vertrags wurden vorgeschlagen. Mit einbezogen wurden auch die rüstungskontrollpolitischen Auswirkungen der Entwicklung und Stationierung von taktischen Abwehrsystemen (TMD), sowohl im Hinblick auf ihre mögliche Vernetzung mit dem NMD-System als auch im Kontext regionaler Sicherheitspolitik. Die technische Dimension der Raketenabwehrdebatte, insbesondere die vorgeschlagenen NMD- und TMD-Technologien und die möglichen offensiven Gegenmaßnahmen, wurden untersucht und bewertet. Zudem wurde das NMD-Testprogramm intensiv analysiert. Alternative Abfangkonzepte wurden einer ersten Bewertung unterzogen. In einer kurzen Bestandsaufnahme wurden zudem die technischen Aspekte der gegenwärtigen und zukünftigen Raketenbedrohung aufgezeigt.

Bedrohungsszenarien

Die Entwicklung von NMD als strategischem Abwehrsystem gegen begrenzte Raketenangriffe wird begründet mit Bedrohungsszenarien nach denen

  • sogenannte »besorgniserregende Staaten« wie Nord-Korea, Iran oder Irak in wenigen Jahren die Fähigkeit zum Bau von Langstreckenraketen erlangen könnten und so in der Lage wären, das Territorium der USA mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen (MVW) zu bedrohen;
  • versehentliche oder nicht autorisierte Angriffe mit wenigen Raketen von russischem oder chinesischem Boden ausgehen könnten;
  • Terrorgruppen die Kontrolle über einzelne Raketen mit MVW erlangen könnten und damit in der Lage wären, die USA zu erpressen.

In der Diskussion um eine europäische Beteiligung an strategischen Abwehrsystemen wird zudem angeführt, dass Raketen aus dem Nahen Osten, aufgrund der geringeren Entfernung, Europa früher bedrohen könnten als die USA.

Zu diesen Szenarien kann folgendes festgestellt werden:

  • Gegenwärtig werden weder die USA noch Europa durch mit MVW bestückte Raketen aus Schwellenländern bedroht. Allgemein lässt sich, im Hinblick auf die schrumpfenden Arsenale Russlands und die Abschaffung ganzer Klassen von Raketen in den vergangenen Jahren, sogar eine deutliche Abnahme der Raketenbedrohung erkennen. Die gegenwärtige Entwicklung der technischen Kapazitäten der Schwellenländer lässt allerdings die Möglichkeit zu, dass einige von ihnen, mit massiver ausländischer Unterstützung, Mittel- und Westeuropa innerhalb des nächsten Jahrzehnts mit Mittelstreckenraketen erreichen könnten. Für den Iran ist eine solche Entwicklung denkbar, für den Irak eher unwahrscheinlich. Die USA werden noch länger außerhalb der Reichweite dieser Staaten bleiben. Jedoch sind überraschende, kurzfristige Entwicklungen in den Raketenprogrammen dieser Staaten nahezu ausgeschlossen, u. a. weil sich solche Fortschritte notwendigerweise in zumindest einigen Testflügen manifestieren müssen, die durch Aufklärungssatelliten beobachtet werden können. Daneben existiert eine zusätzliche technische Hürde, nämlich die Bestückung der Raketen mit MVW, insbesondere mit Nuklearsprengköpfen. Selbst wenn zukünftig »besorgniserregende Staaten« die dazu notwendigen technischen Fähigkeiten erlangen, ist es dennoch extrem unwahrscheinlich, dass sie – selbst im Krisenfall – die USA oder Europa mit MVW angreifen. Ein Grund dafür ist die nukleare Abschreckung.
  • Die Möglichkeit eines versehentlichen oder nicht autorisierten Angriffs aus Russland ist nicht völlig auszuschließen, insbesondere im Hinblick auf die hohe Alarmbereitschaft eines Teils der strategischen Streitkräfte und des stark geschwächten Frühwarnsystems. Aufgrund der russischen Kommandostruktur könnte ein solcher Angriff durchaus mehrere Dutzend Gefechtsköpfe umfassen, nicht nur einige wenige. Im Falle Chinas ist ein versehentlicher Angriff aufgrund eines Fehlalarms gegenwärtig auszuschließen, denn die chinesischen ICBM haben Mobilmachungszeiten von mehreren Stunden.
  • So genannte »irrationale« staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die in den Besitz von MVW gelangen, benötigen keine Mittel- oder Langstreckenraketen zu deren Einsatz. Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörper, gestartet von Frachtschiffen in Küstennähe, ins Land geschmuggelte B- oder C-Kampfstoffe oder Kernwaffen auf Booten, gezündet in den Häfen von Küstenstädten, stellen technisch weniger aufwändige Mittel zur Erpressung westlicher Regierungen dar. Insbesondere die europäische Geografie und Verkehrsinfrastruktur bietet zahlreiche Transportmöglichkeiten für MVW.

Das NMD-System: Architektur und Gegenmaßnahmen

Das NMD-System soll anfliegende Gefechtsköpfe von ICBM in deren mittlerer Flugphase außerhalb der Erdatmosphäre abfangen, indem ein Abfangflugkörper, das so genannte »Exoatmospheric Kill Vehicle« (EKV), direkt mit dem Gefechtskopf kollidiert und ihn so zerstört. Die dazu notwendigen Informationen über den Raketenstart, die Flugbahn der anfliegenden Gefechtsköpfe sowie über deren Unterscheidung von in der Nähe ausgesetzten Täuschkörpern sollen von Infrarot-Sensoren auf Frühwarn- und Bahnverfolgungssatelliten, bodengestützten Radars sowie IR-Sensoren auf dem EKV bereitgestellt werden.

Diese Systemarchitektur wird, wenn alle Komponenten einwandfrei arbeiten, wahrscheinlich in der Lage sein, einzelne ungetarnte Gefechtsköpfe abzufangen. Allerdings wird das System mit Hilfe von offensiven Gegenmaßnahmen bzw. Penetrationshilfen überwunden werden können.

Zu diesen Gegenmaßnahmen gehört u. a. das Verbergen eines Gefechtskopfs in Wolken von Metallstreifen, die Radarstrahlen reflektieren, die Überforderung des Systems durch den Einsatz von Submunition oder Täuschkörpern sowie die Methode der Anti-Simulation, d. h. das Tarnen eines Gefechtskopfs als Attrappe. Die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich haben verschiedene Gegenmaßnahmen entwickelt und teilweise in ihre Langstreckenraketen eingebaut. Auch technisch weniger weit entwickelte Staaten wären in der Lage, mit der ersten Generation von Langstreckenraketen effektive Penetrationshilfen zu stationieren. Die Konstruktion von Anti-Simulations-Täuschkörpern oder Submunitions-Behältern ist weniger aufwändig als die Konstruktion der Raketen selbst.

Technische Unterlagen über den ersten NMD-Vorbeiflugtest 1997, die im vergangenen Jahr veröffentlicht und von Ted Postol/MIT ausgewertet wurden, zeigen, dass in den IR-Signalen von Gefechtsköpfen keine Merkmale existieren, die nicht durch einfachste Täuschkörper (gestreifte Ballons) simuliert werden könnten. Dieses Ergebnis, das wir bestätigen können, ist dramatisch, denn es ist für die Funktionsfähigkeit des NMD-Systems entscheidend, dass das EKV die Diskriminierung und Identifizierung des Zielobjekts autonom durchführen kann. Bodengestützte Radaranlagen können zwar bei der Diskriminierung assistieren, sind jedoch alleine nicht ausreichend. Die NMD-Sensoren, auch mögliche zukünftige aktive Sensoren am EKV, sind auf die von den Zielobjekten reflektierte bzw. emittierte elektromagnetische Strahlung angewiesen. Eine Innovation in der Sensortechnik, die das Diskriminierungsproblem bei Anti-Simulation lösen könnte, ist nicht zu erwarten.

Viele der möglichen Gegenmaßnahmen ließen sich lediglich überwinden, wenn anstelle des EKV ein Nuklearsprengkopf eingesetzt wird. Die Einführung von nuklearen Abfangflugkörpern ist gegenwärtig nicht geplant und wäre eine äußerst dramatische Maßnahme.

Das NMD-Testprogramm ist inadäquat. Die bisherigen drei Abfangtests wurden mit so genannten »kooperativen Zielen« durchgeführt. Das bedeutet, dass alle Informationen über die Eigenschaften und die Flugbahn des Gefechtskopfs während der Tests bekannt waren. Der einzige Täuschkörper, der neben dem abzufangenden Gefechtskopf positioniert wurde, ein runder Ballon, unterschied sich in seiner Form deutlich vom kegelförmigen Gefechtskopf und sendete unter den Versuchsbedingungen ein sechs bis sieben Mal helleres IR-Signal aus als das eigentliche Ziel. Dennoch schlugen zwei der drei Tests fehl.

Die Verwendung kooperativer Ziele und der Verzicht auf den Einsatz echter Gegenmaßnahmen bilden die Hauptkritikpunkte am NMD-Testprogramm. Zu Beginn einer Testreihe ist ein solches Vorgehen zwar üblich, allerdings sollen nach den bisherigen Planungen auch bei den noch verbleibenden 16 weiteren Flugtests bis zur Erststationierung keine realistischen Gegenmaßnahmen zum Einsatz kommen. Daher haben diese Tests als Grundlage für eine Bewertung der technischen Durchführbarkeit des NMD-Projekts, d. h. der Fähigkeit des Abwehrsystems einen realen Raketenangriff abzufangen, keine Aussagekraft.

»Taktische Raketenabwehr«: TMD

Zusätzlich zu NMD befinden sich noch eine Reihe von so genannten Gefechtsfeld-Raketenabwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) in der Entwicklung.3 Diese haben den Zweck, Truppen und wichtige Einrichtungen bei »Out of Area«-Einsätzen oder Flottenverbände vor Angriffen mit Kurz- und Mittelstreckenraketen zu schützen.

Das geplante mobile landgestützte THAAD-System (Theater High Altitude Area Defense) und das seegestützte NTW-System (Navy Theater Wide) sind ausgelegt für die Verteidigung eines Bereichs von zunächst wenigen 100 km Durchmesser gegen Angriffe mit Mittelstreckenraketen einer Reichweite bis zu 3500 km. THAAD/NTW werden gegenwärtig auch als Systeme diskutiert, die für eine europäische Raketenabwehr eingesetzt werden könnten. Beide Systeme funktionieren, ähnlich wie NMD, durch Kollision eines Abfangflugkörpers mit dem anfliegenden Gefechtskopf außerhalb bzw. in den oberen Schichten der Erdatmosphäre. Sie können zudem mit den Frühwarnsatelliten und Radaranlagen des NMD vernetzt und so in ein nationales Raketenabwehrsystem integriert werden. Dies würde es ihnen auch ermöglichen, ihre theoretischen Schutzbereiche erheblich zu vergrößern, so dass sie damit ein signifikantes strategisches Potenzial erhielten. Das »dünne« NMD-System mit seinen etwa 250 geplanten Abfangflugkörpern könnte durch die Vernetzung mit dem THAAD-System um rund 1300 weitere Abfangflugkörper anwachsen. THAAD und NTW sind jedoch auf ähnliche Weise verwundbar gegen einfache Gegenmaßnahmen wie das NMD-System. Angriffe mit Submunition werden beide Systeme nicht abwehren können. Ihre geplanten Sensorkomponenten und Abfangflugkörper haben zudem noch geringere Fähigkeiten zur Diskriminierung als die des NMD-Systems.

Anders als THAAD und NTW stellen die sogenannten Punktverteidigungssysteme Patriot PAC-3, NAD und MEADS hauptsächlich erweiterte Luftverteidigungssysteme dar, deren Rolle als Raketenabwehrsysteme sich auf den Schutz von Gebieten von wenigen zehn Kilometern Durchmesser gegen Kurzstreckenraketen beschränkt. Sie sind rüstungskontrollpolitisch im Vergleich zu den oben besprochenen Systemen eher unproblematisch. Bei umfassender Vernetzung und Einbeziehung in ein globales Abwehrsystem könnte jedoch ein Mehrschichtsystem geschaffen werden, das durch den ABM-Vertrag verboten ist.

Luft- und weltraumgestützte Laserwaffen

Das luftgestützte Lasersystem ABL soll feindliche Raketen in deren Antriebsphase (Boost-Phase Intercept, BPI), d. h. noch über dem Staatsgebiet des Angreifers abschießen. Stationiert an Bord einer Boeing 747, soll ABL eine Reichweite von mehreren hundert Kilometern haben. Der erste Testflug ist für 2003 geplant, die Stationierung von bis zu sieben Flugzeugen soll im Jahre 2007 beginnen. Ein weiteres System für das Abfangen von Raketen in der Antriebsphase ist der weltraumgestützte Laser SBL. Für dieses System liegen gegenwärtig lediglich Vorstudien vor, mit der Erststationierung eines SBL-Satelliten kann frühestens im Jahre 2020 gerechnet werden. Die Effektivität beider Systeme lässt sich zur Zeit noch schwer einschätzen. Offizielle US-Analysen sprechen jedoch von noch zu bewältigenden „signifikanten technischen Herausforderungen“. Zudem würde eine massive Stationierung von Weltraumwaffen schwer wiegende sicherheits- und rüstungskontrollpolitische Konsequenzen nach sich ziehen.

BPI als Alternative?

Seit Anfang letzten Jahres existiert ein Vorschlag unabhängiger Experten für ein Raketenabwehrsystem, das, als Alternative zum NMD, möglichen Bedrohungen aus Schwellenländern begegnen könnte ohne die russischen und chinesischen Offensiv-Kapazitäten zu entwerten. Grundidee dieses Vorschlags ist es, statt einen Abwehrschirm über große Territorien wie die USA oder Europa zu errichten, im Falle einer Krise gewissermaßen einen Deckel über die kleineren, potenziellen Angreiferstaaten zu legen. Ein solches System, das angreifende Raketen noch in der Startphase abfängt, ist technisch attraktiv, weil die beschleunigende, noch intakte Rakete ein großes, leicht zu verfolgendes Ziel bietet. Submunition und Täuschkörper sind noch nicht ausgestoßen, andere Gegenmaßnahmen vergleichsweise aufwändig. Erste Analysen zeigen, dass das Garwin-Postol-BPI-System (Boost-Phase Defense) eine reale Chance hat, auch im Ernstfall, bei Angriffen mit wenigen Raketen, zu funktionieren. Rüstungskontrollpolitisch sind von diesem System wesentlich weniger Nachteile zu erwarten als bei allen übrigen, gegenwärtig diskutierten Abwehrkonzepten, weil große Länder wie Russland und China mit diesem System nicht abgedeckt werden können, kleinere, wie Nord-Korea, hingegen schon.

Raketenabwehr als Antwort auf Bedrohungen?

Das NMD-System sowie THAAD und NTW können mit Hilfe einfacher Gegenmaßnahmen überwunden werden. Jeder potenzielle Angreifer, der in der Lage ist Mittel- oder Langstreckenraketen zu bauen, besitzt die technischen Fähigkeiten zur Konstruktion solcher Penetrationshilfen. Folglich werden weder NMD noch THAAD oder NTW verlässliche Abwehrsysteme gegen mit MVW bewaffnete Raketen darstellen. Verbesserungen der Sensorik werden die Verwundbarkeit des Systems gegenüber offensiven Gegenmaßnahmen nicht verringern. Punktverteidigungssysteme haben eine wichtige Aufgabe in der Abwehr konventioneller Luft- und taktischer Raketenangriffe. Der Einsatz gegen Angriffe mit MVW erfordert aber eine extrem hohe Effektivität des Abwehrsystems, so dass diese Systeme in solchen Szenarien nur von sehr begrenztem Nutzen sein können. Das Garwin-Postol-BPI-System gegen begrenzte Raketenangriffe aus kleineren Staaten wäre noch am wenigsten durch einfache Gegenmaßnahmen zu überwinden. Um den Grad der Verlässlichkeit dieses Konzepts und dessen Grenzen zu bewerten, bedarf es weiterer Studien.

Die technische Analyse der verschiedenen Raketenabwehrkonzepte führt zu der Schlussfolgerung, dass die Stationierung von territorialen Raketenabwehrsystemen wie NMD als Antwort auf mögliche sich entwickelnde Raketenbedrohungen aus Schwellenländern als wenig effektiv anzusehen ist. Aufgrund der geringen Verlässlichkeit können Raketenabwehrsysteme westliche Regierungen weder vor Erpressungsversuchen zuverlässig schützen noch im Krisenfall Handlungs- und Interventionsfreiheit gewährleisten helfen. Hinzu kommt, dass ein Erpresser im Besitz von MVW ohne weiteres auf Raketen als Transportmittel verzichten kann.

Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen zum Schutz vor versehentlichen oder nicht autorisierten Raketenangriffen aus Russland und China wäre nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar kontraproduktiv. Beide Staaten haben bereits Penetrationshilfen in ihren Raketen installiert. Sollte Russland auf ein US-amerikanisches Raketenabwehrsystem reagieren, indem es den »Launch on Warning«-Status für einen Teil seines Arsenals beibehält, und sollte China im Zuge der Modernisierung der Raketenstreitkräfte eine ähnliche Politik einführen, wäre die Gefahr eines versehentlichen Raketenstarts gestiegen, ohne dass gleichzeitig ein verlässliches Abwehrsystem zur Verfügung stünde.

Das Ende des ABM-Vertrages

Bleibt es bei der Zielsetzung und Architektur von NMD, muss der ABM-Vertrag (1972) modifiziert oder gekündigt werden. Der ABM-Vertrag gilt bis heute als das Kernstück der bipolaren Abschreckung. Eine nukleare Abrüstung, wie sie mit dem START-Prozess begonnen wurde, erschien bisher ohne eine klare Beschränkung von ABM-Systemen kaum denkbar. Eine Reduzierung der strategischen Waffen war stets nur möglich, solange den Beteiligten auch mit der geringeren Anzahl von Nuklearsprengköpfen noch ein wirksamer Gegenschlag als Reaktion auf einen massiven Angriff möglich war. Sobald eine Seite die Fähigkeit erhält, sich mit Raketenabwehrsystemen gegen einen Zweitschlag zu verteidigen, ist diese Stabilität nicht mehr vorhanden. Je stärker die Nukleararsenale also reduziert werden, desto wichtiger ist der Erhalt des ABM-Vertrages.

Das geplante NMD-System verstößt eindeutig gegen den ABM-Vertrag, indem es

  • eine territoriale Verteidigung und nicht nur die einer individuellen Region darstellt,
  • die Abfangstellungen einschließlich der Radaranlagen nicht nur an einem einzigen Ort (single-site, d.h. in einem Radius von 150 km) stationiert werden, sondern mindestens zwei Abfangstellungen und Radaranlagen an neun verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb der USA errichtet werden;
  • ABM-Radars außerhalb des eigenen Territoriums stationiert werden;
  • ABM-Komponenten im Weltraum stationiert werden.

Russland und China

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Abschreckung ein wesentlicher Bestandteil der strategische Planung der Nuklearmächte. Ob die Unzulänglichkeiten der geplanten US-Raketenabwehrsysteme in Russland und China, insbesondere von der politischen Führung, durchgehend verstanden werden, ist nicht klar. Es scheint hingegen sicher zu sein, dass die Militärplaner beider Staaten von einem zumindest teilweise effektiven US-Abwehrschirm ausgehen müssen, der in der Lage sein könnte, die eigene Zweitschlagfähigkeit zu gefährden. Diese theoretische Gefährdung wird durch folgende Faktoren erhöht:

  • die im Falle Russlands schrumpfenden, im Falle Chinas ohnehin geringen Kapazitäten nuklearer land- und seegestützter Raketen;
  • das im Falle Russlands sich in Auflösung befindende, im Falle Chinas nicht existente Frühwarnsystem;
  • das trotz möglicher Reduzierung der Anzahl der nuklearen Gefechtsköpfe weiterhin immense Erstschlagpotenzial der USA durch sehr zielgenaue Raketen mit nuklearen, aber auch konventionellen Gefechtsköpfen;
  • das Ausbruchpotenzial des NMD-Systems, dessen mögliche Vernetzung mit den TMD-Systemen THAAD und NTW sowie die zukünftig geplante stärkere Einbeziehung des Weltraums.

Sollte es nicht zu einer einvernehmlichen NMD-Stationierung kommen, kann Russland darauf mit einer begrenzten und gezielten Modernisierung seiner Offensiv-Kapazitäten antworten, etwa mit der Wiedereinführung der durch START II verbotenen Mehrfach-Sprengköpfe (MIRV). Zusätzlich kann es einen Teil seines Arsenals weiterhin in erhöhter Alarmbereitschaft belassen.

China kann als Reaktion seine seit Jahrzehnten andauernde Modernisierung der strategischen Arsenale intensivieren, insbesondere den Bestand von heute etwa zwanzig ICBM drastisch erhöhen und seine alten, inflexiblen Flüssigkeitsraketen durch modernere und schneller einsatzbereite Raketen ersetzen. Ferner besitzt auch China die Möglichkeit, MIRV zu stationieren. Beide Staaten könnten zudem bestehende Rüstungskontrollregime unterlaufen und andere Akteure bei der Entwicklung von Langstreckenraketen unterstützen, bzw. Technologie zur Überwindung von Raketenabwehrsystemen weiterverkaufen.

Konsequenzen für Proliferation und nukleare Nichtverbreitung

Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen ist als Maßnahme gegen die Proliferation von MVW und Trägern nicht geeignet. Sie würde gerade in diesem Bereich eher kontraproduktiv wirken. Staaten würden keinesfalls dazu bewegt werden, ihre Raketenprogramme einzustellen. Ein solches Argument verkennt u. a. auch die vielschichtigen, vor allem regionalen Gründe für die Verbreitung dieser Waffensysteme. Dort, wo Raketen und MVW auch als Rückversicherung gegen westliche Interventionen entwickelt werden, kann die Stationierung von Abwehrsystemen zu einer Vermehrung oder Verbesserung der Angriffswaffen führen. Wahrscheinlich käme es auch zu einer Weiterverbreitung von Penetrationshilfen.

Im Falle einer einseitigen US-amerikanischen Aufkündigung des ABM-Vertrags würde, nach der bisher nicht erfolgten Ratifizierung des Teststoppvertrags (CTBT), eine zweite wichtige Säule im Rüstungskontrollgefüge einbrechen. Die Folgen dieser Entwicklung könnten verheerend sein, denn die Entscheidung anderer Staaten über den Beginn oder den Umfang von Entwicklungsprogrammen für Raketen und MVW hängt nicht zuletzt davon ab, ob das nukleare Nichtverbreitungsregime als wirkungsvoll angesehen wird. Besonders bedenklich wären die Folgen einer Schwächung des Regimes in Asien, wo eine beschleunigte Aufrüstung der existierenden Kernwaffenstaaten weitere Länder, wie z.B. Japan, dazu veranlassen könnte, sich ihrerseits nicht länger auf Rüstungskontrolle zu verlassen. In diesem Zusammenhang spielt auch die mögliche Verbreitung von regionalen Raketenabwehrsystemen eine erhebliche und verkomplizierende Rolle.

Der andere Weg: Ausbau und Stärkung des ABM-Vertrages

Sollte es zu einer Einigung zwischen den USA und Russland über eine Anpassung des ABM-Vertrags kommen, möglicherweise in Verbindung mit einer beiderseitigen Reduzierung der Anzahl nuklearer Gefechtsköpfe, so wie es Präsident Bush während des Wahlkampfs vorgeschlagen hat, müssen verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigt werden, damit das Ergebnis zu einem echten Gewinn an Sicherheit und Stabilität führt.

  • Ein entscheidender Punkt ist die Einbeziehung Chinas in einen veränderten Vertrag. Ohne China als Partner kann den befürchteten rüstungskontrollpolitischen Verwerfungen in Asien infolge der Stationierung von Raketenabwehrsystemen nicht vorgebeugt werden.
  • Des weiteren muss sichergestellt werden, dass sowohl die US-amerikanischen als auch die russischen Arsenale vollständig aus dem »Launch on Warning«-Zustand herausgeführt werden.
  • Die Planungssicherheit der Vertragspartner für die kommenden Jahrzehnte muss gewährleistet sein. Daher sollte der Vertrag Defensivkomponenten zeitlich und örtlich klar begrenzen und die Gefahr eines möglichen Ausbruchs aus dem Vertrag minimieren. Dies kann u. a. durch Begrenzungen bei der Anzahl der Stationierungsgebiete und Abfangflugkörper sowie bei Art/Umfang der Sensorkomponente erreicht werden.

Angesichts der zunehmenden Gefahr einer Einbeziehung des Weltraums in die strategische Planung der Nuklearmächte sollte die Stationierung von Waffen im Weltraum durch präventive Rüstungskontrolle verhindert werden. Der Weltraumvertrag von 1967 und einige UNO-Resolutionen bieten eine Grundlage dafür. Der große Teil der internationalen Völkergemeinschaft wäre wahrscheinlich für einen neuen Weltraumvertrag zu gewinnen, der Waffen im Weltraum verbietet. Auf Vorschläge von deutschen und US-Wissenschaftlern sollte zurückgegriffen werden.

Diplomatische Initiativen und gemeinsame Antworten

Europa sollte eine gemeinsame Position und Strategie gegen die fortschreitenden Weiterverbreitung von MVW und über die benötigten Rüstungskontrollinstrumente und Abrüstungsmaßnahmen entwickeln. Es sollten von europäischer Seite diplomatische Initiativen ergriffen werden, um zukünftige Bedrohungen durch Raketenpotenziale zu verhindern oder durch Rüstungskontrolle und Abrüstung einzudämmen. Details hierzu wurden im Rahmen des der Öffentlichkeit Ende 2000 vorgestellten Memorandums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) erarbeitet. Zu den Möglichkeiten gehören: die Schaffung von internationalen Normen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Raketentechnologien, der Aufbau eines umfassenden Informations- und Kontrollregimes für Raketenstarts, die Etablierung von regionalen Rüstungskontrollmaßnahmen (vertrauensbildende Maßnahmen, Notifikation und Raketenteststopps, Einführung von raketenfreien Zonen). Eine solche Strategie wirkt vorbeugend und ist daher effektiver, langfristig stabiler und kostengünstiger als der Aufbau von Raketenabwehrsystemen. Voraussetzung ist eine gemeinsame langfristige Bedrohungs- bzw. Risikoanalyse. Mögliche politische und technische Antworten sollten in einem gemeinsamen Studienprozess erarbeitet werden. Dazu gehört auch die Diskussion technischer Alternativen. Um die Möglichkeiten des BPI-Konzepts zu untersuchen, werden weitere Studien unternommen werden müssen. Die Beteiligung europäischer Staaten an einer strategischen Raketenabwehr auf der Grundlage von NMD- oder Flächenverteidigungstechnologien ist wegen der ungelösten rüstungskontrollpolitischen Probleme, der hohen Kosten und der technologischen Fragwürdigkeit nicht zu empfehlen.

Anmerkungen

1) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2000): Ende der Illusion? Spektrum der Wissenschaft, Nr. 9, September , S. 92-94.
2) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2000): Das geplante US-amerikanische NMD-System. Briefing Paper Nr. 1, Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle, Hamburg, September.
3) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2001): US Raketenabwehr – Zurück zum globalen Schutzschild? Wissenschaft und Frieden, Nr. 1, Januar, S. 7-11.

MSc Tom Bielefeld/Dr. Götz Neuneck, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Falkenstein 1, 22587 Hamburg, eMail: neuneck@public.uni-hamburg.de Tel.: (040) 866 077 21, Fax: (040) 866 3615

zum Anfang | Fallbeispiel: Technische Optionen zur Beseitigung von zivilen Plutoniumbeständen zur Minimierung des Proliferationsrisikos

von Wolfgang Liebert und Christoph Pistner

Plutonium ist ein wesentliches kernwaffenfähiges Material. Daher ist eine akute und bedeutende Gefahr für die Weiterverbreitung von Kernwaffen insbesondere durch bereits separierte Plutoniummengen, die aus abgebranntem Brennstoff gewonnen wurden, gegeben. Bereits fünf bis zehn Kilogramm Plutonium sind ausreichend für die Herstellung einer Kernwaffe. Sowohl staatliche als auch substaatliche Akteure müssen effektiv von einer Verwendung von Plutonium für Kernwaffen abgehalten werden.

Dabei ist eine Unterscheidung in »militärisches« und »ziviles« Plutonium bezüglich der Gefahr einer Verwendung in Kernwaffen nicht zu rechtfertigen. Alle Isotopenzusammensetzungen von Plutonium, sowohl das überwiegend im militärischen Bereich erzeugte so genannte Waffenplutonium, als auch das im zivilen Bereich anfallende, so genannte Reaktorplutonium können potenziell für Kernwaffen verwendet werden.

Plutoniumbestände und die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen

Beim Umgang mit vorliegenden Plutoniumbeständen sind daher vorrangig Aspekte der Nichtverbreitung von Kernwaffen bzw. kernwaffenfähigem Material (Non-Proliferation) zu berücksichtigen. Auch wenn institutionelle Maßnahmen (wie die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hierbei eine wichtige Rolle spielen, so müssen diese durch zusätzliche, intrinsische Barrieren ergänzt und erweitert werden, um eine langfristig wirksame, hohe Sicherheit gegen den Zugriff gewährleisten zu können. Solche intrinsischen Barrieren könnten z. B. darin bestehen, separiertes Plutonium mit anderen radioaktiven Materialien zu vermischen, deren Strahlung nur schwer abzuschirmen ist und die so eine Strahlenbarriere erzeugen, die den Zugriff auf das Material erschwert. Schließlich ist in Hinblick auf das Ziel einer irreversiblen Abrüstung ein langfristig nachhaltiger Umgang mit Plutoniumbeständen, seien sie ziviler oder militärischer Herkunft, anzustreben. Darüber hinaus sind sowohl beim (notwendigen) Umgang mit Plutonium sowie bei der (heute bereits stattfindenden) Nutzung Gefahren für Mensch und Umwelt nicht auszuschließen. Aus Sicht einer präventiven Rüstungskontrolle müssen Maßnahmen ergriffen werden, die vorliegenden Bestände separierten Plutoniums abzubauen und dabei einen erneuten Zugriff auf Plutonium soweit irgend möglich zu erschweren. Auch Deutschland steht hier vor einer großen Herausforderung.

Plutoniumbestände Deutschlands und weltweit

Weltweit liegen große Bestände an separiertem Plutonium vor. Im militärischen Bereich wurden bis heute etwa 250-270 t Plutonium erzeugt, im zivilen Bereich liegen z. Z. mindestens 200 t separiertes Plutonium vor. Während die Produktion von Plutonium im militärischen Bereich nahezu zum Stillstand gekommen ist, ist die Tendenz im zivilen Bereich nach wie vor steigend (in den letzten Jahren Zuwachsraten zwischen 10 und 20 Tonnen pro Jahr).

Über die vorliegenden Bestände separierten Plutoniums in deutscher Verantwortung liegen leider nur unzureichende öffentlich verfügbare Daten vor. Sogar die von Deutschland gemachten Angaben zu Plutoniumbeständen gemäß der internationalen Vereinbarung zur Offenlegung von Plutoniumdaten (IAEO/INFCIRC/549) sind bis heute unvollständig. Nach unserem Kenntnisstand wurden in deutschen Kernkraftwerken bis Ende 2000 ca. 90 Tonnen Plutonium produziert. Jährlich kommen etwa 4,5 Tonnen hinzu. Davon wurden bis Anfang 1999 32-38 t abgetrennt. Etwa 26 t Plutonium lagen noch in unbestrahlter Form vor. Mindestens 27 t Plutonium werden noch anfallen, wenn die momentanen Pläne der Energieversorgungsunternehmen umgesetzt werden (d.h. dass abgebrannte Brennelemente, die bis 2005 zu den Wiederaufarbeitungsanlagen transportiert werden, laut Konsensvereinbarung noch wiederaufgearbeitet werden können). Maximal ca. 36t würden bei vollständiger Abarbeitung der verbleibenden Wiederaufarbeitungsverträge insgesamt zusätzlich anfallen. Damit müssen in Deutschland, gerechnet ab Anfang 1999, noch 53-62t abgetrenntes Plutonium sicher beseitigt werden. In den letzten Jahren wurden nur zwischen 1,3 und 2,6 t Plutonium pro Jahr in deutschen Reaktoren eingesetzt.

Die Planungen im militärischen Bereich

Seit einigen Jahren werden insbesondere im militärischen Bereich Optionen für eine Beseitigung vorliegender Plutoniumbestände aus der Abrüstung untersucht. Sowohl in den USA wie auch in Russland sind jeweils ca. 50t Plutonium als Überschuss, der über die militärisch noch benötigten Bestände hinausgeht, deklariert worden. Bislang haben sich die beiden Länder jedoch nur über die Beseitigung von je 34t Plutonium vertraglich einigen können. Das amerikanisch-russische Abkommen vom 1.9.2000 sieht einerseits eine Umsetzung von Plutonium in der Form von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX) in existierenden Reaktoren, andererseits eine Immobilisierung von Plutonium gemeinsam mit hochradioaktiven Abfällen (d. h eine Einbettung in eine direkt endlagerfähige Matrix wie Glas oder Keramik) als mögliche Verfahren vor. Während Russland bislang die gesamte Menge von 34 t Plutonium durch eine Umsetzung in Reaktoren beseitigen möchte, streben die USA einen sogenannten »Dual-track-approach« an, bei dem 25,57 t in Reaktoren umgesetzt und 8,43 t immobilisiert werden sollen. Bislang ist noch kein Plutonium aus militärischen Beständen technisch umgesetzt worden. Die beiden z. Z. vorbereiteten Verfahren werden nicht vor 2007 zum Einsatz kommen.

Nach unserer Analyse ist ein Plutoniumumgang in Russland durch Verarbeitung zu MOX als problematisch anzusehen. Die Technologien der MOX-Fertigung und des MOX-Einsatzes sind dort noch nicht etabliert. Die in Russland zur Verfügung stehenden Reaktorkapazitäten reichen nicht für einen zügigen Abbau der Bestände aus. Ein sehr langsamer Abbau von Beständen und der Einstieg in einen internationalen Plutoniumbrennstoffhandel, der unter Proliferationsgesichtspunkten höchst bedenklich ist und zu problematischen Abfallkonzeptionen führen kann, sind zu befürchten.

Welche Optionen gibt es?

Die einzige bislang in einigen Ländern in großtechnischem Maßstab etablierte Technologie zum Umgang mit separierten Plutoniumbeständen ist die Verwendung des Plutoniums in der Form von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX) in existierenden Leichtwasserreaktoren (LWR).

Bezüglich des Umgangs mit zivilen Beständen separierten Plutoniums wurden neben der MOX-Option verschiedene Verfahren international in die Diskussion gebracht. Als besonders problematisch ist hierbei jedoch festzuhalten, dass fast keine Analysen geschweige denn Entwicklungsarbeiten zu Alternativen zur MOX-Option in Deutschland durchgeführt oder finanziert werden. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Möglichkeiten für einen Umgang mit deutschen Plutoniumbeständen aus dem zivilen Bereich.

Es könnte versucht werden, Plutonium durch den Einsatz in Reaktoren möglichst weit gehend zu eliminieren. Hierzu wäre der Einsatz uranfreier Brennstoffe geeignet. Längerfristig wären auch die Verwendung fortgeschrittener Reaktorsysteme oder eine mehrfache Wiederaufarbeitung mit anschließender Verarbeitung zu MOX denkbar. Ein weiterer wichtiger Ansatz bestünde darin, Plutonium zu immobilisieren und danach direkt endzulagern. Dabei wären entweder eine homogene Immobilisierung von Plutonium zusammen mit hochradioaktiven Abfällen (high level wastes, HLW), eine Immobilisierung nach dem »Can-in-Canister«-Verfahren gemeinsam mit HLW oder auch die Herstellung von Lagerstäben denkbar.

Reaktoreinsatz: MOX-Brennstoff

Bei der Herstellung von MOX wird Plutoniumdioxid mit Urandioxid in Pulverform vermischt, in Pellet-Form gepresst und gesintert. Typische MOX-Brennstoffe enthalten etwa 6-7% Plutonium, so dass sie in existierenden Leichtwasserreaktoren (LWR) eingesetzt werden können. Pro eingesetztem Reaktor und Jahr können damit typischerweise etwa 350kg vorliegendes Plutonium in radioaktive Abfälle eingebettet werden.

Vorteilhaft ist, dass alle Verfahrensschritte in Europa bereits großtechnisch etabliert sind und entsprechende Genehmigungen insbesondere auch für den Reaktoreinsatz in Deutschland vorliegen.

Allerdings sehen wir auch einige Nachteile bzw. Unsicherheiten, die eine alleinige Festlegung auf die MOX-Option für Deutschland problematisch machen:

  • So bestehen insbesondere Unsicherheiten über die weitere Verfügbarkeit von MOX-Produktionsanlagen für deutsche Energieversorgungsunternehmen (EVU). Nach unserem Kenntnisstand ist unsicher, ob die in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren auf europäischer Ebene verfügbaren Anlagen zur MOX-Fertigung ausreichen, um die Menge des vorliegenden separierten Plutoniums konstant zu halten oder gar abzubauen.
  • Das Proliferationsrisiko bleibt bis zur Bestrahlung im Reaktor hoch, also auch noch nach der MOX-Fertigung. Lagerung und Transport von MOX erfüllen nicht das Kriterium der Proliferationsresistenz.
  • Die Plutoniummenge nimmt durch den Reaktoreinsatz insgesamt zu (bei der üblichen Belegung von maximal einem Drittel des LWR-Reaktorkerns mit MOX-Brennstoffen um ca. 50 kg pro Reaktor und Jahr).
  • Der Einsatz von MOX in LWR ist unökonomisch, da die höheren Anforderungen bei der Fertigung im Vergleich zu Uranbrennstoffen zu erheblichen Kostensteigerungen führen.
  • Der höhere Anteil an Plutonium im Reaktorkern führt zu einer Veränderung von neutronenphysikalischen Parametern, die sich negativ auf die Reaktorsicherheit auswirken kann.
  • Es kommt zu einer überproportional erhöhten Produktion von Americium und Curium. Diese Elemente tragen wesentlich zur langfristigen Radiotoxizität des abgebrannten Brennstoffs bei. Die erhöhte Wärmeproduktion im Vergleich zu Uranbrennstoffen führt auch zu höheren Kosten für die spätere Endlagerung.

Eine mehrfache Wiederaufarbeitung bei anschließender erneuter Verwendung von Plutonium als MOX in LWR (Mehrfachrezyklierung) mit dem Ziel einer vollständigen Eliminierung allen Plutoniums ist zwar prinzipiell machbar, aber wegen technischer Schwierigkeiten unwahrscheinlich. Aus unserer Sicht ist insbesondere die damit verbundene intensive Handhabung großer Mengen von separiertem Plutonium aus Non-Proliferationsgesichtspunkten als nicht sinnvoll einzuschätzen. Auch wäre eine tatsächliche Reduktion des gesamten Plutoniums nur auf einer sehr langfristigen Zeitskala (mehr als ein Jahrhundert) möglich.

Alternativer Reaktoreinsatz: Eliminierung mit uranfreien Brennstoffen

Eine Eliminierung von Plutonium durch die Verwendung neuartiger uranfreier Brennstoffe in existierenden LWR hat gewisse Vorteile gegenüber der heute praktizierten Nutzung als MOX. Bei diesen Brennstoffen würde das in MOX enthaltene Uran durch ein anderes, möglichst wenig mit Neutronen wechselwirkendes Material (z.B. Zirkonium) ersetzt. Auf diese Weise würde die kontinuierliche Neuproduktion von Plutonium aus Uran vermieden und es könnte ein höherer Anteil des Plutoniums durch Spaltung eliminiert werden.

Aufgrund unserer Untersuchungen zeigt sich, dass die prinzipielle Machbarkeit einer weit gehenden Eliminierung von Plutonium in existierenden Reaktoren gegeben ist. Es besteht aber noch relevanter Entwicklungsbedarf für die Brennstoffe (incl. Bestrahlungstests). Dieser ist jedoch weit geringer als für andere, fortgeschrittene Reaktorkonzepte (wie Hochtemperaturreaktoren oder beschleunigergetriebene Systeme). Wesentliche offene Fragen betreffen die Abbrandeigenschaften solcher Brennstoffe sowie die Auswirkungen des Fehlens von Uran auf die Reaktorbetriebseigenschaften. Da es sich bei den wichtigsten diskutierten Brennstofftypen um keramische Materialien handelt, entsprechen die Herstellungsverfahren der heutigen MOX-Fertigung.

Wir haben umfangreiche Rechnungen für die Veränderung der Brennstoffzusammensetzung im Laufe der Bestrahlung in Reaktoren durchgeführt, um die Abhängigkeit des relativen Plutoniumumsatzes von verschiedenen Brennstoffparametern sowie weitere Brennstoffeigenschaften genauer untersuchen zu können. Dabei haben wir sowohl den Einsatz in existierenden LWR als auch der Einsatz in modifizierten LWR, die speziell für die Plutoniumeliminierung verwendet werden sollen, untersucht. Erste Auswertungen der Rechnungen zeigen, dass durch Verwendung uranfreier Brennstoffe in einem einzelnen Zyklus ohne Wiederaufarbeitung bis zu siebzig Prozent des anfänglichen Plutoniums eliminiert werden könnten. Die Isotopenzusammensetzung des verbleibenden Plutoniums würde sich so sehr verändern, dass nach dem Reaktoreinsatz und etwaiger Wiederaufarbeitung eine Verwendbarkeit für Kernwaffen deutlich verschlechtert würde. Daraus ergibt sich ein Vorteil gegenüber allen anderen Verfahren, da auch nach Zerfall der Strahlenbarriere (Wirksamkeit nur wenige Jahrhunderte) die Attraktivität eines Zugriffs auf die abgebrannten Brennelemente gering ist. In Abhängigkeit von der verwendeten Matrix könnten die abgebrannten Brennstoffe auch gute Eigenschaften für eine spätere Endlagerung aufweisen.

Weiterhin finden sich in der Literatur Berechnungen für einen Plutoniumeinsatz in Hochtemperaturreaktoren, die bei Verwendung uranfreier Brennstoffe nahezu vergleichbare Eliminierungsraten vorhersagen, jedoch wären die Vorlaufzeiten für die Entwicklung und den Bau solcher Reaktoren ebenso wie die notwendigen Kapitalinvestitionen beträchtlich. Das Potenzial von beschleunigergestützten Systemen, welche in den letzten Jahren wieder verstärkt in die Diskussion gekommen sind, für eine Eliminierung von Plutonium wäre hoch, kann jedoch aus heutiger Sicht noch nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden. US-Planungen sprechen von mindestens 25 Jahren bis zur Fertigstellung eines Prototypreaktors. Beide Systeme erscheinen heute aus unserer Sicht als nicht attraktiv für einen Umgang mit vorliegenden Beständen.

Immobilisierung: Direktverglasung mit radioaktiven Abfällen

Bei der Option der Direktverglasung würde Plutonium zusammen mit HLW in eine Glasmatrix eingebettet und der direkten Endlagerung zugeführt. Die Verglasung von HLW aus der Wiederaufarbeitung unter Verwendung von Borsilikatgläsern ist eine in Europa großtechnisch etablierte Technologie. Neu wäre hier die Zugabe größerer Mengen spaltbarer Materialien.

Dieses Verfahren wird allgemein als prinzipiell technisch machbar eingeschätzt. Für eine Verglasung von Plutonium müssten voraussichtlich Anlagenmodifikationen zur Gewährleistung der Kritikalitätssicherheit durchgeführt werden. Ein Plutoniumanteil von maximal drei bis fünf Prozent scheint nach französischen und US-amerikanischen Quellen erreichbar zu sein, allerdings wird hierfür die Entwicklung einer geeigneten Glaszusammensetzung als notwendig erachtet. Der Zeitaufwand bis zu einer potenziellen großtechnischen Umsetzung wird mit wenigen Jahren abgeschätzt.

Vorteil dieses Verfahrens ist nach unserer Einschätzung, dass die Strahlenbarriere zum Schutz vor erneutem Zugriff auf das Plutonium im Unterschied zur MOX-Option unmittelbar erreicht wird.

Nachteilig ist, dass trotz Beimischung von Neutronenabsorbern eine langfristige Kritikalitätssicherheit bei den erwünschten Plutoniumkonzentrationen im Prozentbereich nur schwer nachweisbar ist. Ein weiterer Nachteil ist, dass die mit dieser Option umsetzbare Plutoniummenge von der noch zur Verfügung stehenden Menge an zu verglasenden HLW abhängt, wie erste Abschätzungen deutlich machen. Entscheidend wird dabei der Startzeitpunkt eines solchen Verfahrens sein. Die umsetzbare Menge hängt neben der Plutoniumkonzentration ebenfalls von der gewählten Konzentration des HLW ab, die als Strahlenbarriere wirksam werden soll. Ein wesentlicher Punkt, der weiter untersucht werden müsste, ist daher die Frage nach der tatsächlich mit diesem Verfahren umsetzbaren Plutoniummenge. Außerdem wäre eine geeignete Glasmatrix zu entwickeln.

Immobilisierung: Keramisierung und Verglasung mit radioaktiven Abfällen

In den USA wird die Option der Immobilisierung von Waffenplutonium nach dem sogenannten »Can-in-Canister«-Verfahren entwickelt. Dabei würde Plutonium zunächst ohne HLW in eine Keramik eingebettet und das entstehende Produkt anschließend zusammen mit HLW verglast. Als Matrix für die Einbettung von Plutonium sind verschiedene Keramiken möglich. Bei der in den USA verfolgten Variante ist hierfür eine spezielle Keramik (SYNROC) weiterentwickelt worden. Diese weist als Vorteile eine hohe Langzeitbeständigkeit und die Aufnahmefähigkeit für stark mit Verunreinigungen verschmutztes Plutonium in hohen Konzentrationen auf. Eine Abtrennung des Plutoniums mit heute etablierter Wiederaufarbeitungstechnologie wäre nicht ohne weiteres möglich.

Nach unserer Einschätzung wäre diese Option direkt auf den Umgang mit zivilen Plutoniumbeständen übertragbar. Die für die Durchführung dieser Option benötigten Technologien (Keramisierung und Verglasung) sind entwickelt und für vergleichbare Zwecke in Europa bereits großtechnisch etabliert (MOX-Fertigung und Verglasung von HLW). Anlagentechnische Anpassungen wären allerdings notwendig. Vorteile dieser Variante bestehen in einer besseren Langzeitstabilität der verwendeten Matrix im Vergleich zu einer Direktverglasung und der vereinfachten Prozessführung durch eine Trennung der Arbeitsschritte Plutonium- und HLW-Immobilisierung. Auch können höhere Plutoniumkonzentrationen in Keramiken (bis zu zehn Prozent Plutonium bei gleichzeitiger Zugabe von Natururan im Verhältnis 1:2) als in Gläsern erreicht werden. Damit erhöht sich der mögliche Plutoniumumsatz und es wird eine höhere langfristige Kritikalitätssicherheit im Endlager im Vergleich zur Direktverglasung erreicht. Der erreichte Grad an Proliferationsresistenz ist etwas geringer als bei der Option der Direktverglasung, da prinzipiell denkbar ist, dass eine Trennung des HLW enthaltenden Glases von der Plutonium enthaltenden Matrix vor einer chemischen Wiederaufarbeitung vergleichsweise einfach möglich sein könnte. Wenn auf existierende MOX-Fertigungsanlagen zurückgegriffen werden soll, können Kapazitätsprobleme auftreten, insbesondere bei gleichzeitiger MOX-Fertigung für die Reaktornutzung.

Im europäischen Kontext könnte auch Urandioxid als Matrix für die Keramisierung (analog zu MOX) verwendet werden. Der hierdurch zu erreichende hohe Anteil an Uran-238 würde sich zusätzlich positiv auf die Kritikalitätssicherheit im Endlager auswirken. Dabei könnten existierende Anlagen zur MOX-Fertigung unmittelbar genutzt werden.

Wir sehen bei dieser Option weiteren Forschungsbedarf bezüglich der optimalen Matrix für die Keramisierung von Plutonium, dem anzustrebenden Plutoniumgehalt in der Matrix sowie der dann aufgrund der Beschränkungen von verfügbarem HLW möglichen gesamten Umsatzmenge.

Immobilisierung: Lagerstabverfahren

Das Öko-Institut hat die Einbringung von Plutonium in sogenannte Lagerelemente (analog zu üblichen Brennelementen) vorgeschlagen. Dabei würde das Plutonium wie bei der MOX-Option mit Uran zu Mischoxid verarbeitet und in Lagerstäbe mit etwa 7-14% Plutoniumgehalt verbracht und zu Lagerelementen assembliert. Diese würden ohne vorherigen Reaktoreinsatz für die direkte Endlagerung vorgesehen. Ein Schutz vor unerlaubtem Zugriff würde bei dieser Option durch eine Mischung solcher Lagerelemente mit abgebrannten Brennelementen im Verhältnis 1:18 im Zwischenlagerbehälter erreicht werden (alternativ könnten auch Stäbe in den Elementen selbst gemischt werden).

Es bestätigt sich durch unsere Untersuchungen, dass auch diese Option technisch durchführbar ist und für alle Schritte in Europa existierende Anlagen genutzt werden könnten. Im Vergleich zur MOX-Option würden sich bei hohem Plutoniumgehalt Kosteneinsparungen durch den vereinfachten Herstellungsprozess ergeben. Ein weiterer Vorteil ergäbe sich durch die Unabhängigkeit von verfügbaren Reaktorkapazitäten.

Als Nachteil kann bei dieser Option gesehen werden – zumindest wenn die Mischung auf Elementebene vorgenommen wird –, dass anders als bei den übrigen Optionen die Strahlungsbarriere nicht durch eine unmittelbare Vermischung mit HLW erzeugt würde. Schließlich wäre auch diese Option auf die zur Verfügung stehenden MOX-Anlagen angewiesen, wodurch Kapazitätsprobleme entstehen können.

Bei dieser Option müsste nach unserer Analyse noch genauer geklärt werden, wie der erreichte Grad an Proliferationsresistenz einzustufen ist. Es müsste ebenfalls noch bestimmt werden, welche maximale Plutoniumkonzentration in Hinblick auf die Endlagersicherheit realisierbar erscheint.

Für alle Optionen (Eliminierung, Direktverglasung, »Can-in-Canister«, Lagerstab) sind aus unserer Sicht noch detailliertere Kostenvergleiche durchzuführen. Weiterhin wären noch Fragen zur direkten Endlagerung der verschiedenen erzeugten Endlagerprodukte zu beantworten.

Die Notwendigkeit einer vergleichenden Bewertung

Um die verschiedenen denkbaren Optionen vergleichend bewerten zu können, wurde ausgehend von den im Projektverbund entwickelten Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle ein umfassender Satz von Bewertungskriterien formuliert. Als entscheidende Oberkriterien wurden hierbei

  • technische,
  • politisch/gesellschaftliche,
  • Umwelt- und Sicherheits-,
  • Non-Proliferations- sowie
  • ökonomische

Kriterien identifiziert und in detaillierten Unterkriterien genauer spezifiziert. Wir haben darüber hinaus – wo möglich – eine Operationalisierung dieser Kriterien durch die Formulierung von quantifizierbaren Indikatoren vorgenommen, die eine möglichst transparente und damit breit akzeptierbare Bewertung der verschiedenen Optionen erlauben sollen. Die Kriterien sollen dazu dienen, die Diskussion und Entscheidung über die verschiedenen Optionen anzuleiten und ggf. eine Gestaltung der Optionen zu ermöglichen.

Konsequenzen für Politik und Öffentlichkeit

Über die vorliegenden und zukünftig anfallenden Bestände an separiertem Plutonium besteht in Deutschland bis heute keine öffentliche Transparenz. Diese ist jedoch eine Voraussetzung für eine breite gesellschaftliche Debatte über die brisante Frage des Umgangs mit Plutoniumbeständen in deutscher Verantwortung. Daher sollten Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen – entgegen der bisherigen Praxis – transparente Zahlenwerke über Plutoniumanfall und -umgang veröffentlichen. Weiterhin sollte speziell die Bundesregierung ihrer seit 1997 bestehenden internationalen Verpflichtung zur Offenlegung vorliegender Plutoniumbestände inklusive der Planungen für den weiteren Umgang gemäß IAEO/INFCIRC/549 nunmehr in vollem Umfang nachkommen.

Bislang ist die Notwendigkeit eines wohlüberlegten Umgangs mit existierenden und weiter anfallenden Plutoniummengen im Rahmen der Beendigung der gegenwärtigen Kernenergienutzung in Deutschland nur unzureichend im öffentlichen Bewusstsein verankert. Erste Planungsansätze sind zudem verengt auf die MOX-Option. In Deutschland finden keine nennenswerten, aus öffentlichen Mitteln finanzierten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu Alternativoptionen statt. Die russische Eingleisigkeit bei der Art des Umgangs mit militärischen Plutoniumbeständen wird dabei mitunterstützt. Die zu konstatierende Engführung ausschließlich in Richtung der MOX-Option muss dringend überwunden werden.

Speziell Parlament und Medien könnten hier zu einer Öffnung der Perspektive beitragen. Nichtstaatliche Organisationen und unabhängige Experten sollten frühzeitig neben Fach- und Interessenvertretern der Industrie in die anstehenden Diskussionen über die Wahl von Optionen des Umgangs mit Plutonium einbezogen werden, u.a. um erwartbaren Konflikten vorzubeugen.

Forschungs- und Kooperationsprojekte zu Umgangsmöglichkeiten mit Plutoniumbeständen über die MOX-Option hinaus sind dringend erforderlich. Durch diese sollte ermöglicht werden,

  • dass systematische Bewertungen der verschiedenen Optionen auf Grundlage eines Kriterienkatalogs (ein erster Vorschlag wurde von uns vorgelegt) durchgeführt und offene Fragen sowie technische Gestaltungsmöglichkeiten für attraktive Optionen geklärt werden,
  • dass Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Richtung einer konkreten Umsetzbarkeit von Alternativen zu MOX – auch im industriellen Maßstab – anlaufen
  • und dass schließlich internationale Kooperationsprojekte, insbesondere mit russischen Forschungseinrichtungen, gestartet werden (dadurch könnten deutsche Erfahrungen z.B. in Russland genutzt oder interessante US-amerikanische Entwicklungen in Deutschland aufgegriffen bzw. unterstützt werden).

Damit könnte Deutschland eine internationale Vorreiterrolle übernehmen, was die Etablierung von Alternativen zu MOX für den Umgang mit Plutonium angeht. Eine Ausstrahlung auf Russland und andere Plutonium verarbeitende Länder wäre anzustreben, eine Unterstützung von US-Aktivitäten wäre nahe liegend.

Alternativoptionen zu MOX, die attraktiv für tiefer gehende Untersuchungen wären, sind nach unserer Einschätzung:

  • Eliminierungsoptionen, insbes. auf der Basis uranfreier Brennstoffe für existierende Reaktoren
  • Immobilisierungsverfahren nach dem »Can-in-Canister« Prinzip
  • Immobilisierungsverfahren durch Direktverglasung mit hochaktiven Abfällen
  • Immobilisierungsoptionen nach dem Lagerstabverfahren.

Nach einer ausführlichen kriteriengestützten Bewertung sollte eine weitere Vorauswahl erfolgen mit dem Ziel, mindestens zwei MOX-Alternativen zur technischen Anwendungsreife zu führen.

Wenn der Abbau existierender Plutoniumbestände in den Blick genommen wird, ist es nahe liegend, über weitere grundsätzliche Schritte nachzudenken:

So sollten Wege gefunden werden, eine möglichst umgehende Beendigung des weiteren Anfalls von abgetrenntem Plutonium aus deutschen Kernkraftwerken zu erreichen. Die Bundesregierung sollte über den anvisierten Stopp der Wiederaufarbeitung hinaus durch Verhandlungen mit den EVU bewirken, dass die Menge des abgebrannten Brennstoffs, der noch für die Wiederaufarbeitung vorgesehen ist, drastisch reduziert wird.

Die Bundesregierung sollte die gegenwärtigen amerikanischen-russischen Verhandlungen über einen Stopp der zivilen Wiederaufarbeitung unterstützen, eine Erweiterung auf europäische Länder anregen und sich bei den bei der Genfer Abrüstungskonferenz anstehenden Cutoff-Verhandlungen (Stopp der Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke) für eine mittelfristige Einbeziehung von Plutoniumbeständen und Plutoniumumgang im zivilen Bereich einsetzen.

Dr. Wolfgang Liebert und Dipl. Phys. Christoph Pistner, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt, Hochschulstr. 4a, 64289 Darmstadt. E-mail:christoph.pistner@physik.tu- darmstadt.de

zum Anfang | Fallbeispiel: Mikrosystemtechik – Gefahren und Begrenzungsmöglichkeiten

von Jürgen Altmann

Mikrosystemtechnik (MST) ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Prozessen und Produkten, bei denen es um Systeme mit Komponentengrößen zwischen 0,1 und mehreren 100 µm geht. Bekannt ist die Mikroelektronik; MST geht darüber hinaus, indem sie mechanische, thermische, optische, magnetische, fluidische, chemische oder biologische Prinzipien verwendet. Oft sind die Produktionsprozesse denen der Mikroelektronik ähnlich: Viele Systeme werden gleichzeitig erzeugt, z.B. auf einer Siliziumoberfläche. Dadurch sind Mikrosysteme billig, klein und verbrauchen wenig Energie.

MST beinhaltet Basis- und Querschnittstechnologien, die für verschiedenartige Anwendungen und Zwecke genutzt werden können. Gemäß ihrer Funktion können MST-Systeme klassifiziert werden als: Sensoren, Aktoren, Systeme für Signalverarbeitung, Systeme für Informationsverarbeitung, -speicherung und -übertragung. Spezielle Systeme können chemische, biologische oder medizinische Analysen ausführen oder entsprechende Wirkungen ausüben. Eine besondere Untergruppe stellen Systeme für die Implantierung in den menschlichen Körper dar. Eine andere, im militärischen Zusammenhang wichtige Gruppe sind autonome Systeme, die ortsfest oder beweglich sein können.

Mit ihrer breiten Einsatzpalette kann MST für das Militär wie auch für die zivile Gesellschaft weit reichende Folgen haben.

Zivile und militärische Ausgaben für MST

MST ist einer der Schwerpunkte öffentlicher Förderung von Forschung und Entwicklung (FuE) in den höchstentwickelten Industriestaaten. In MST werden große Hoffnungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt gesetzt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sieht die USA in Führung, Japan und Europa gleichauf, wobei Deutschland in Europa führt. Die öffentliche Förderung für MST durch das BMBF in Deutschland beläuft sich auf 100 Mio. DM/Jahr.

Gegenwärtig sind die MST-Produkte mit dem höchsten Umsatz Festplatten-Schreib-/Leseköpfe und Druckköpfe für Tintenstrahldrucker. Andere Produkte sind Herzschrittmacher, Hörgeräte und Beschleunigungssensoren für Kfz-Airbags. Für den Weltumsatz in MST (1996 13 Mrd. $) wird bis 2002 ein Wachstum auf 38 Mrd. $ vorhergesagt. Wichtige neue Anwendungsfelder seien dann die medizinische Labordiagnose und Infrarotbildsensoren.

Während die FuE-Förderung in Europa und Japan vor allem auf zivile Anwendungen zielt, ist in den USA die militärische Förderung, v.a. durch die Defense Advanced Projects Agency (DARPA), zentral – die DARPA gibt pro Jahr über 300 Mio. $ für militärische MST und MST-basierte Anwendungen aus.

Das deutsche Bundesministerium der Verteidigung ließ 1996-98 eine erste Studie über militärische Anwendungen der MST erstellen. Hier wurden v.a. in den Bereichen Navigation/Stabilisierung, Zünder, Sensoren, Minen und Mikrofahrzeuge militärischer Nutzen bzw. militärische Bedrohung gesehen. Eine von der WEU in Auftrag gegebene Studie wurde 2000 fertiggestellt; sie empfiehlt fokussierte europäische Anstrengungen in sieben Bereichen, darunter Mikro-Trägheitslenksysteme, Zustandsüberwachungssysteme für alle größeren Träger, biochemische Sensoren und Mikroflugzeuge. Die NATO hat 2000 eine erste Task Group zu MST gegründet. Deutschland ist bei militärischer FuE eher zurückhaltend; auch in der Summe sind die Aktivitäten in Europa weit geringer als die der USA.

Mögliche militärische Anwendungen der Mikrosystemtechnik

Wo MST-Systeme vorhandene konventionelle ersetzen, sind erstere kleiner und bei Serienproduktion i.d.R. billiger, außerdem arbeiten sie in der Regel schneller und oft mit höherer Ausfallsicherheit. In vielen Bereichen können sie aber auch erstmals Anwendungen ermöglichen, die bei herkömmlichen Systemen technisch oder ökonomisch ausgeschlossen waren. Bisher waren z.B. Trägheitslenksysteme zu groß und zu teuer, als dass sie in Artilleriemunition (mit etwa 10 cm Durchmesser) eingesetzt werden konnten. Mit MST könnten sie in Kanonenmunition (einige cm), eventuell sogar in Gewehrgeschossen (etwa 1cm) eingebaut werden und dann zu höherer Zielgenauigkeit führen. MST kann aber auch ganz neue Systeme wie autonome Kleinroboter und -flugzeuge möglich machen.

Auch in allgemein nutzbaren Komponenten kann MST neue Möglichkeiten eröffnen, etwa bei kompakteren Datenspeichern oder kleineren Funksendern und -empfängern. Andere Beispiele sind »intelligente Materialien« zur Verringerung von Vibration und Verschleiß in Flugzeugen oder 1cm kleine Mikroturbinen, die entweder Kleinstflugzeuge antreiben oder die von den Soldaten der Zukunft mitgeführte Elektronik mit Strom versorgen könnten.

Je nach geforderter Miniaturisierung, dem Grad technologischer Neuerung sowie dem Ausmaß an ziviler FuE können die militärischen MST-Anwendungen

  • innerhalb der nächsten fünf Jahre zur Verfügung stehen (Lenksysteme für größere Träger oder Flugkörper, Waffenzünder, biotechnologische/medizinische Laboranalysesysteme),
  • noch fünf bis zehn Jahre bis zur Einsatzreife benötigen (Lenksysteme für Munition, verteilte Sensoren mit mm-Größe, Freund-Feind-Kennungssysteme für Soldaten und Fahrzeuge, Kleinstsatelliten, in den Körper implantierte Systeme für Diagnose und Medikation) oder
  • noch zehn bis zwanzig Jahre FuE-Zeit brauchen (teilmobile Ziel suchende Kleinstminen, autonome/kooperierende Mikroroboter und -flieger mit cm-Größe, Mensch-Rechner-Kontakt mit Übertragung höherer Informationen).
  • Manche denkbaren Anwendungen sind aber noch spekulativ (selbst-reproduzierende Mikrosysteme, Mikro-Nuklearwaffen).

Summarische Bewertung unter Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle

Bei den meisten allgemeinen bzw. Grundlagen-Anwendungen sind Destabilisierung, insbesondere Wettrüsten, und/oder Proliferation zu befürchten. Weil sie jedoch eng mit zivilen Anwendungen zusammenhängen und die Verifikation ein unrealistisch hohes Ausmaß an Transparenz bzw. Aufwand erfordern würde, scheinen Begrenzungen hier kaum möglich.

Bei den spezifisch militärischen Anwendungen ergibt sich ein differenziertes Bild:

Für Mikro-Trägheitslenksysteme gibt es nur begrenzten zivilen Bedarf; jedoch scheinen die Gefahren durch Destabilisierung und Proliferation nicht so dringend, dass sie die notwendige weit gehende Verifikation rechtfertigen würden.

Verteilte Sensoren, die in Gerät eingebaut sind oder die Umgebung militärischer Standorte überwachen, sind unproblematisch. Bei Gefechtsfeldüberwachung sind Destabilisierung, insbesondere Wettrüsten, und Proliferation abzusehen. Einsatz für Verifikation, etwa für den Nachweis chemischer oder biologischer Kampfstoffe, wäre positiv zu beurteilen, allerdings wäre MST dafür nicht unbedingt nötig – herkömmliche Sensoren könnten dasselbe leisten. Wegen schwieriger Abgrenzungs- und Verifikationsprobleme sind Begrenzungen ebenfalls schwierig.

Systeme zum Nachweis chemischer Kampfstoffe oder zum Sichern und Zünden von Waffen sind unter PRK-Gesichtspunkten nicht negativ oder sogar positiv zu beurteilen. Freund-Feind-Kennungssysteme für den Landkrieg können ebenfalls als i. W. neutral betrachtet werden.

Anders ist die Lage bei Klein(st)satelliten. Sie bieten viele Möglichkeiten des Einsatzes als Antisatellitenwaffe und gefährden daher beabsichtigte Rüstungsbegrenzung (Verbot von Weltraumwaffen). Außerdem sind Destabilisierung (Angreifervorteil, kurze Vorwarnzeiten, Unübersichtlichkeit; Wettrüsten) und Proliferation zu erwarten. Der zivile Bedarf ist begrenzt; wollte man die zivile Nutzung jedoch erlauben, könnte man sie prinzipiell durch Regeln erfassen, allerdings stellen sich ohne ein vollständiges Verbot schwierige Verifikationsprobleme.

Bei biotechnologischen/medizinischen Anwendungen sind Nachweissysteme für das Labor weit gehend unkritisch und laufen ähnlich zu zivilen Entwicklungen. Bei implantierten oder am Körper getragenen Systemen sind Destabilisierung (Wettrüsten) und Proliferation zu befürchten. Drastischer könnten jedoch die Auswirkungen auf die zivile Gesellschaft sein, wenn auf dem Umweg über das Militär die prophylaktische Implantation von nicht unmittelbar medizinisch notwendigem Gerät oder gar ohne medizinischen Bezug akzeptabler würde. Hier trifft PRK auf fundamentale Fragen des Menschenbildes, was uns zur Einführung eines zusätzlichen PRK-Kriteriums bewogen hat: Gefahren für die politische/ soziale Ordnung.

Die meisten Arten von Mikrokampfminen sind durch das Minen-, das Chemische- oder das Biologische-Waffen-Übereinkommen verboten. Die anderen Arten können das Minen-Übereinkommen gefährden, dazu auch das Kriegsvölkerrecht. Zusätzlich sind Destabilisierung (Wettrüsten) und Proliferation abzusehen. Auch wenn diese Argumente für Mikromarkierungsminen weniger stark zutreffen, wären sie den Kampfminen doch äußerlich oder funktionell ähnlich und daher kaum von ihnen abzugrenzen.

Unter allen MST-Anwendungen stellen autonome Mikroroboter die größte Gefahr in Bezug auf Destabilisierung (Angreifervorteil, kurze Vorwarnzeiten, Unübersichtlichkeit; Wettrüsten) und Proliferation dar, insbesondere diejenigen, die direkte Kampffunktionen haben – Abgrenzung von anderen aufgrund äußerer Kriterien ist jedoch schwierig. Auf allgemeinerer Ebene sind negative Effekte zu befürchten, wenn sich die technologische Asymmetrie verstärkt. Einerseits könnte die Aussicht, Krieg könnte weit gehend durch Automaten, bei sehr geringen eigenen Verlusten, geführt werden, bei den technologisch führenden Ländern die Hemmschwelle zum Krieg senken. Auf der anderen Seite könnten technologisch weniger entwickelte Staaten zur Kompensation des qualitativen Nachteils verstärkt auf Massenvernichtungswaffen setzen, die ja mit herkömmlicher mittlerer Technologie erreichbar sind. Bei Mikrorobotern ergeäben sich spezifische Gefahren für Menschen und die politische/soziale Ordnung, wenn diese Systeme für (Wirtschafts-)Spionage, Lausch- und Informationsangriffe, Terrorismus oder andere Verbrechen genutzt würden. Möglicher ziviler Nutzen ist dagegen abzuwägen, etwa bei der Erkundung eingestürzter Gebäude, Untersuchung von Rohrleitungen, später auch evtl. bei Operationen im menschlichen Körper.

Eine Mikrofusionsbomben ermöglichende Handhabung von Kernwaffenmaterialien würde unter fast alle PRK-Kriterien fallen.

Erste Empfehlungen

Zur Eindämmung der durch die militärische Nutzung von MST möglichen Gefahren sollten sich Regierung und Parlament Deutschlands auf verschiedenen, internationalen wie auch nationalen Ebenen für eine Reihe von Maßnahmen einsetzen:

  • Ein umfassendes Verbot von Weltraumwaffen sollte zügig abgeschlossen und ggf. durch Detailregeln für zivile Klein(st)satelliten ergänzt werden.
  • Der Gesellschaft sollte eine breite Diskussion ermöglicht werden, wieweit sie nicht direkt medizinisch begründete Implantate akzeptieren will. Militärische Entwicklungen sollten diese Diskussion nicht präjudizieren oder unterlaufen. Daher scheint für solche Implantate ein Moratorium angemessen.
  • In Bezug auf Mikrokampfminen sollten Definitionslücken im Minenverbotsabkommen gefüllt werden. Mikromarkierungsminen sollten hier oder ggf. bei Mikrorobotern eingeschlossen werden.
  • Bei Mikrorobotern ist der dringendste Handlungsbedarf für vorbeugende Beschränkungen. Für eine klare Definition und realistische Verifizierbarkeit sollte ein einfaches Größenkriterium gewählt werden, unterhalb dessen alle mobilen, autonomen oder ferngesteuerten Systeme verboten werden. Um schon eingeführte Drohnen nicht zu erfassen, sollte die Grenze bei 20 bis 50 cm liegen. Streng umgrenzte Ausnahmen mit technischen Maßnahmen (z.B. Mobilität nicht außerhalb eines Radius von 10-50 m, Energieversorgung über wenige Meter durch Induktionsschleifen) könnten gewünschte zivile Anwendungen für Katastrophenhilfe, Rohruntersuchungen oder medizinisch Operationen ermöglichen.
  • Die deutsche Zurückhaltung bei der FuE für militärische MST sollte in den kritischen Bereichen auch den NATO-Partnern, v.a. den USA, nahe gelegt werden.

In der Forschung sollten in einer Reihe von Feldern weiter führende Untersuchungen durchgeführt werden:

  • Aufbauend auf die jetzigen Resultate sollten Details möglicher Begrenzungen (Definitionen, Ausnahmen, Regeln, Unterschiede zivil-militärisch usw.) genauer untersucht und konzipiert werden, auch im Hinblick auf die Akzeptanz in verschiedenen Bereichen.
  • Mögliche Gefahren für Industriegesellschaften auf Grund der Einführung und Weiterverbreitung bestimmter militärischer Mikrosysteme, etwa Bedrohung durch kriminelle/terroristische Nutzung oder durch potenzielle Gegner, sollten genauer untersucht werden. Hier könnten sich Gründe für vorbeugende Begrenzungen zeigen, die bei einseitiger Fokussierung auf militärische Überlegenheit nicht in den Blick kommen.
  • In Bezug auf die Handhabung von Kernwaffenmaterialien für Mikrofusionsbomben sollte zunächst eine genauere Studie gemacht und dann der laufende wissenschaftlich-technische Fortschritt verfolgt werden.
  • Nanotechnologie (mit noch 100- bis 1000fach kleineren Strukturen) wird weit grundlegendere Änderungen bewirken als MST, sowohl zivil als auch militärisch. Ihr sollte eine neue, umfassender angelegte Studie gewidmet werden.

Jürgen Altmann, Experimentelle Physik III, Universität Dortmund, 44221 Dortmund, altmann@ep3.ruhr-uni-bochum.de

Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Vereinten Nationen:

Rüstungskontrolle und Abrüstung

von Harald Müller

Der Umgang mit den Mitteln organisierter Gewaltanwendung ist ein zentrales Thema von »global governance«. Da die Vereinten Nationen (VN) deren zentrales institutionelles Element darstellen, fragt sich, welche Rolle sie in der Rüstungskontrolle und Abrüstung spielen können und wollen.1 Im folgenden Artikel wird zunächst die Aufgabenstellung skizziert, die die VN-Charta vorgibt, und sodann die Praxis der Vereinten Nationen betrachtet. Der Umgang mit der Thematik in den verschiedenen Vorschlägen zur VN-Reform wird in den Schlussfolgerungen kurz angerissen.

Die Charta der Vereinten Nationen enthält eine erstaunlich kräftige Sprache zur Abrüstung. In Art. 26 verpflichtet sie den Sicherheitsrat, „für ein System der Regelung der Rüstungen Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen vorzulegen sind.“ Damit ist nicht weniger geschaffen als die Autorität der Vereinten Nationen, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, wie sie mit ihren Streitkräften und deren Bewaffnung umzugehen haben, und zwar in Friedenszeiten, denn der Sicherheitsrat könnte zu solchen Plänen unter Kapitel VII der VN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) auch Entschließungen fassen. Mit dieser Vorschrift ist ein qualitativer Schritt gegenüber dem klassischen kriegsvölkerrechtlichen Ansatz gemacht, nur die Anwendung der Waffen im Kriegsfall Einschränkungen zu unterwerfen. Die dahinter stehende Idee reflektiert eine doppelte Erkenntnis:

  • Die Möglichkeit zur Aggression setzt eine einsprechende Streitkräftekonstellation und ein vorteilhaftes Kräfteverhältnis voraus; diese Voraussetzungen können durch verbindliche Begrenzungen der Streitkräftekonfigurationen beseitigt werden. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zugrunde, der die für eine raumgreifende Offensive unerlässlichen Waffensysteme einer Begrenzung unterzieht.
  • Wildwüchsige Rüstung verschärft das Sicherheitsdilemma, treibt in die Überrüstung und kann im schlimmsten Fall präemptive Kriegshandlungen provozieren. Eine international verbindliche Streitkräfteordnung wirkt beruhigend auf das Sicherheitsdilemma ein und ist insofern ein Eckstein für internationale Stabilität und Frieden.

Mit der Ausarbeitung dieses Rüstungskontrollplans betraut die Charta den Generalstabsausschuss des Sicherheitsrates (Art. 26, Art. 47,1). Damit sollte sichergestellt werden, dass es sich nicht um utopische Luftschlösser handeln würde, sondern um einen soliden, von einschlägiger professioneller Expertise geprägten Entwurf.

Die Praxis der Vereinten Nationen

Bekanntlich ist diese Vorschrift nie verwirklicht worden, und der Generalstabsausschuss war nie arbeitsfähig. Der Ost-West-Konflikt gab den Selbsthilfestrategien der beiden Lager den Vorrang, das für die Ausarbeitung des Planes erforderliche normative Einvernehmen gab es zu keiner Zeit.2 Als das Ende des Konflikts die Neuaufnahme des Abrüstungsprojekts hypothetisch möglich machte, war seitens der Supermacht USA der Enthusiasmus für multilaterale Regelungen zumindest im konservativen Lager einer Präferenz für die Nutzung der eigenen Überlegenheit gewichen. Die Erhaltung amerikanischer Handlungsfreiheit im Sicherheitssektor wurde zunehmend nicht nur als Bedingung nationaler Sicherheit, sondern auch internationaler Stabilität verstanden, als deren einziger Garant sich Washington zusehends sah. Einzelne Vereinbarungen waren auf selektiver Basis immer noch möglich (zumindest für das politische Zentrum der USA, wenn auch nicht für die neokonservative Rechte), umfassende Pläne mit lang anhaltenden Konsequenzen kamen jedoch nicht mehr in Frage.3 Statt eines ganzheitlichen Neuanfangs blieb damit nur die bereits existierende Praxis fragmentierter Aktivitäten.

Der Regimeansatz

Der kooperationsstiftende Nutzen der Strategie, Streitfragen in ihre teilbaren Einzelkomponenten zu zerlegen und diese durch je spezifische Sets von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zu behandeln, ist in der Regimeanalyse ausführlich untersucht und bestätigt worden.4 Genau so verfuhr die internationale Gemeinschaft im Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Als »Produkte« liegen eine Reihe von bilateralen, regionalen und globalen Abkommen vor, denen es um die Einhegung der von einzelnen Waffen- oder Operationstypen ausgehenden Gefahren geht und die der Vertrauensbildung innerhalb je spezifischer Sicherheitskomplexe5 dienen.

Die Vereinten Nationen sind nicht die »Eigentümer« dieser Regime. Diese »gehören« vielmehr ihren jeweiligen Vertragsparteien. Die VN spielen jedoch eine gewichtige Rolle beim Zustandekommen, der Erhaltung und Weiterentwicklung vor allem jener Verträge, die der Idee und Absicht nach universal sind, vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Biowaffenregimes. In beiden Fällen, wie auch bei den Gesprächen, die zum Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens führten, bot die Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) den Rahmen, in dem die Staaten die schwierigen strittigen Fragen klären konnten: Die CD, die früher verschiedene andere Namen trug, ist das einzige Verhandlungsforum für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen. Sie besteht ausschließlich zum Zwecke von Abrüstungsverhandlungen, ihr gehört eine (über die Jahre gewachsene) Minderheit der VN-Mitgliedsstaaten nach dem Prinzip regionaler Repräsentation an und sie entscheidet nach Einstimmigkeitsregeln. Die CD ist kein Teil des VN-Sekretariats, sondern eine semi-autonome Einrichtung, deren administrative Betreuung gleichwohl im Verantwortungsbereich des VN-Sekretariats (Department for Disarmament Affairs, DDA) liegt.

Seit 1996, dem Abschluss des umfassenden Teststoppvertrages (der aufgrund amerikanischer Resistenz nicht in Kraft trat), konnte sich die CD nicht mehr auf eine Tagesordnung und ein Arbeitsprogramm einigen, denn leider gilt auch für Verfahrensfragen die Einstimmigkeitsregel. Viel wertvolles diplomatisches Kapital liegt also in Genf brach. Eine Änderung ist wohl nur unter zwei Auspizien denkbar: Einer fundamentalen Änderung der amerikanischen Politik, deren Weigerung, über Regelungen für Waffen im Weltraum auch nur zu sprechen und in Verhandlungen über ein Produktionsverbot von Spaltmaterialien die Frage der Überprüfbarkeit einzubeziehen, maßgeblich verantwortlich für die Stagnation ist; oder einer Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in Verfahrensfragen, die es der Mehrheit ermöglichen würde, Verhandlungsforen zu etablieren, in die nach angemessener Zeit wohl auch die widerstrebenden CD-Teilnehmer einziehen würden. Insgesamt sind die direkten Einflussmöglichkeiten der VN hier noch weit begrenzter als im Falle der Überprüfungskonferenzen.

Die zweite wichtige Rolle der Vereinten Nationen besteht nämlich in der Betreuung der Überprüfungskonferenzen jener globaler Verträge, die über keine eigene Vertragsorganisation verfügen, wie das beim Chemiewaffenübereinkommen der Fall ist. Diese Aufgabe nimmt das Department for Disarmament Affairs übrigens auch für den Nichtverbreitungsvertrag wahr, denn die Internationale Atom-Energie-Organisation in Wien unterstützt den Vertrag zwar mit Dienstleistungen für die Verifikation im Rahmen des Artikels III, ist aber nicht eine eigene Vertragsorganisation mit Autorität über den gesamten Umfang des Vertrages. Die Vollversammlung der VN beschließt auf Antrag der Vertragsmitglieder bzw. Depositare die Bereitstellung von Ressourcen (Räumlichkeiten, Sekretariat) für die Überprüfungskonferenzen. Diese Leistung ist nicht gering zu schätzen, sind doch diese Konferenzen, richtig gehandhabt, das entscheidende Mittel für die Stabilisierung, insbesondere aber für die den Umständen angemessene Weiterentwicklung der Regime gegenüber neuen Herausforderungen. Erfolge und Misserfolge dieser Konferenzen sind in einem engen Korridor beeinflussbar durch die mehr oder weniger fähige Stabsarbeit der zugeteilten VN-Beamten, namentlich des jeweiligen Konferenzsekretärs. Dieser Faktor kann jedoch nur wirksam werden, wenn seitens der Mitgliedsstaaten ein Minimum an politischem Willen vorhanden ist, auf eine Einigung hinzuarbeiten. Wo dies fehlt, wie bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2005, kämpft auch ein guter Konferenzsekretär vergeblich.6

Die dritte und wichtigste (potentielle) Funktion der VN im Zusammenhang der globalen Regime ist der Umgang mit Situationen, in denen ein ernster Regelbruch vermutet oder bewiesen wird und Schritte unternommen werden müssen, um die Einhaltung des Vertrages – gegebenenfalls zwangsweise – zu gewährleisten. Für all diese Regime ist der Sicherheitsrat der ultimative Garant ihrer Integrität. Diese Rolle ist im Lichte der Charta angemessen, handelt es sich doch beim Bruch der Regeln, mit denen Massenvernichtungswaffen kontrolliert werden sollen, praktisch immer um eine Gefährdung von internationalem Frieden und Sicherheit, also jener Lage, in der der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta die Aufgabe des universalen Sicherheitsgaranten wahrzunehmen hat; daher hat der Sicherheitsrat durchaus auch die Möglichkeit, sich außerhalb der Regime aus eigener Initiative um diese Problematik zu kümmern, wie etwa nach dem Golfkrieg von 1991, als er mit der Einsetzung der UNSCOM (Sonderkommission), später der UNMOVIC (Überwachungskommission), eigene Instrumente schuf, um die Abrüstung des Irak sicherzustellen.7 Da die Robustheit aller Regime davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder darauf verlassen können, im Krisenfall nicht auf Selbsthilfe angewiesen zu sein, sondern auf einen verlässlichen Mechanismus der Krisenreaktion vertrauen zu können, ist diese Funktion des Sicherheitsrats von herausragender Bedeutung. Es ist um so bedenklicher, dass er dieser Aufgabe bislang unzureichend nachgekommen ist. Die laufenden Krisen im nuklearen Sektor – Nordkorea und Iran – werden anderswo betreut. Im Feld der Chemiewaffen werden zwar Verdachtsmomente gegen Mitgliedsstaaten geäußert, der Sicherheitsrat wird jedoch nicht damit befasst, und das Gleiche gilt für biologische Waffen. Damit fällt der wichtigste Mechanismus für die Stabilisierung der vom Vertragsbruch – oder dem folgenschweren Verdacht, ein solcher liege vor – bedrohten Regime weitgehend aus. Hier sind Schritte notwendig, um eine nicht nur unbefriedigende, sondern direkt gefährliche Situation zu korrigieren.

Dazu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, wobei die Idee, ein neues, großzügig ausgestattetes Verifikationsorgan als unabhängige VN-Behörde einzurichten,8 aus politischen wie aus haushaltlichen Gründen keine Chance hat. Wesentlich zur Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, und zwar sowohl des Sicherheitsrats wie des Generalsekretärs, ist die Fähigkeit, streitige Datenlagen über den Bruch eines der globalen Abkommen technisch und strategisch beurteilen zu können. Hierzu sollte bei den Vereinten Nationen eine entsprechende Einheit platziert werden, und zwar am besten im Department of Disarmament Affairs, dessen vielfältige Routineaufgaben sicherstellen, dass die Fähigkeiten der neuen Experten auch außerhalb von Krisenzeiten sinnvoll genutzt werden können. Eine solche Einheit könnte dem Sicherheitsrat Entscheidungshilfe leisten und ihn von der einseitigen Abhängigkeit von notorisch unzuverlässigen nationalen Geheimdienstinformationen entlasten. Andererseits würde sie dem Generalsekretär zur Verfügung stehen, der durch seinen Untersuchungsauftrag für das Genfer Protokoll (Einsatz von chemischen und biologischen Waffen) ebenso auf derartige Hilfe angewiesen ist wie durch seine Aufgabe, unter Art. 99 der Charta, friedens- und sicherheitsgefährdende Umstände aus eigener Initiative in die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats zu rücken. Gerade dieses Mandat kann von Nutzen sein, um zwischenzeitlich die Lücke im Biowaffenregime zu schließen: Denn dieses ist nach der amerikanischen Weigerung, sich auf den Entwurf eines Verifikations- und Transparenzprotokolls einzulassen, ohne belastbare Verfahren geblieben, um mit Vertragsbrüchen umzugehen. Der Generalsekretär könnte hier nach Art. 99 einspringen, aber nur, wenn er über entsprechende Ressourcen verfügt, um vorhandene Informationen zu sammeln und zu bewerten.9

Auch die Verfahrensweise des Sicherheitsrats muss überholt werden. Es bedarf formalisierter Prozeduren, um die heikle Frage des Vertragsbruchs und der Antwort darauf angemessen zu entscheiden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fakten auf den Tisch kommen und von einer übernationalen Warte bewertet werden und dass auch die Sichtweisen der Nachbarstaaten, die sowohl von Massenvernichtungswaffen-Programmen als auch von wirtschaftlichen oder gar militärischen Gegenmaßnahmen am stärksten betroffen sind, angemessen in die Erörterungen einbezogen werden. Nach den irakischen Erfahrungen sind hier grundlegende Revisionen erforderlich.10

Eine neue und umstrittene Rolle der VN – wiederum des Sicherheitsrates – besteht in der »universellen Gesetzgebung«, in der der Rat quasi ersatzweise für das Fehlen weltweit geltender Verträge einspringt. Im Feld der Rüstungskontrolle hat er dies mit der Entschließung 1540 getan. Sie verpflichtet die Staaten, eine Reihe von Maßnahmen im Innern (Umgang mit gefährlichen Stoffen) und Äußeren (Exportkontrollen) zu treffen, um den Zugriff von nichtstaatlichen Akteuren auf Massenvernichtungswaffen, ihre Technologien und Vorprodukte zu verhindern. Viele dieser Maßnahmen sind Teil der globalen Verträge, andere sind in den exklusiveren »Exportkontrollclubs«, d.h. der Gruppe der nuklearen Lieferländer und der Australien-Gruppe, vereinbart worden. Der Sicherheitsrat rechtfertigte diesen ungewöhnlichen und für viele anstößigen Eingriff in die Prärogative der Nationalstaaten mit der Dringlichkeit der Gefahr und der Tatsache, dass die diversen Regime auf absehbare Zeit nicht wirklich universalisierbar sein werden. Gleichwohl bleibt ein Beigeschmack, wenn fünfzehn Staaten über die nationale Souveränität aller übrigen, Verträge zu verhandeln oder ihnen beizutreten, einfach hinwegrollen, wobei klar ist, dass diese »Gesetzgebungsfunktion« des Sicherheitsrats die nationalen Interessen vieler verletzen mag, sicherlich aber nie die jener fünf mit Veto-Macht ausgestatteten permanenten Mitglieder. Es ist anzuraten, von dieser Option möglichst sparsam Gebrauch zu machen und jede zu diesem Zweck verabschiedete Entschließung mit einem Verfallsdatum zu versehen, die den Sicherheitsrat zu einer Neubefassung, d.h. einer Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme, nötigt.11

Die Vereinten Nationen als Agenda-Setzer, Deliberator und Verhandlungsort

Eine der wichtigsten Aufgaben der VN ist es, neue Themen der Abrüstung zu identifizieren und für existierende Themen neue Aspekte zu benennen. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Vollversammlung und ihres ersten Ausschusses, der jährlich eine Vielzahl von Entschließungen zu Abrüstungsfragen verhandelt und anschließend die Entwürfe der Vollversammlung unterbreitet, wo über sie abgestimmt wird. Freilich ist festzustellen, dass die Mehrheit dieser Resolutionen nach dem Motto »und ewig grüßt das Murmeltier« Jahr für Jahr neu vorgelegt werden, ohne politische Wirksamkeit zu zeigen. Ein Großteil dieser Aktivitäten scheint der Selbstbefriedigung der Organisationsmitglieder zu dienen (nicht zuletzt der Blockfreien), ohne dass irgendjemand wirkliche politische Funktionen darin sieht. Indes ist die Möglichkeit vorhanden, auf diesem Wege neue Themen in die internationale Abrüstungsdiskussion einzuführen. Von besonderer Wirksamkeit sind in diesem Zusammenhang die Sondervollversammlungen der VN zu Abrüstungsfragen – allerdings hat seit zwei Jahrzehnten keine mehr stattgefunden, auch dies wegen US-amerikanischer Opposition.

Bisweilen setzt die VN nicht nur neue Agendathemen, sondern sorgt für deren Bearbeitung. Ein vorzügliches Beispiel ist das VN-Waffenregister, ein Instrument weltweiter Transparenz, das jährlich Berichte über Exporte und Importe von sieben konventionellen Hauptkampfsystemen auflegt. Das Register wird von einer Mehrzahl der Mitglieder regelmäßig beschickt. Seine bloße Existenz ist eine ständige Mahnung, dass das Prinzip militärischer Transparenz ein entscheidender Faktor globaler wie regionaler Vertrauensbildung ist. Dieses Register wurde innerhalb der Vereinten Nationen »erfunden«, verhandelt und operativ betreut.12

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinwaffenprogramm, dessen Existenz dem gezielten Einsatz verschiedener VN-Instrumente (Expertengruppe, Vollversammlungs-Deliberationen, Sonderkonferenz, Sekretariatsdienste) zu verdanken ist.13 Aus diesem Programm ist gleich die nächste Maßnahme, die Ausarbeitung eines Übereinkommens über die Kennzeichnung und Nachverfolgung von solchen illegalen Waffenströmen hervorgegangen: Hier hat die Vollversammlung unter Schweizer Vorsitz eine offene Verhandlungsgruppe eingesetzt, die es geschafft hat, einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten, der demnächst zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

Agenda-setting und Verhandeln ist eine Sache, Problemfelder gründlich zu durchdenken und zu diskutieren, um Lösungen zu entwerfen, ohne unter dem politischen Druck verbindlicher Verhandlungen zu stehen, eine andere. Die VN verfügen über zwei Institutionen für diesen Zweck. Das eine ist die Abrüstungskommission (Disarmament Commission, DC), ein Organ der Vollversammlung, das andere der Abrüstungsbeirat des Generalsekretärs.

Die Abrüstungskommission steht allen Mitgliedern der Vollversammlung offen. Sie tagt jährlich mehrere Wochen, jeweils auf drei Themenblöcke konzentriert. Ihre Teilnehmer sind Vertreter der Regierungen. Damit ist ihr Handicap gekennzeichnet: Alle stehen unter Instruktionen, und statt stressfreier Deliberation herrscht ein Verhandlungsklima mit allen Rigiditäten des diplomatischen Verkehrs. Die DC leidet insoweit unter den Mängeln der Genfer CD, ohne je deren verbindliche Ergebnisse produzieren zu können oder zu sollen. Sie ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Themenkatalog für ihre Sitzungen zu einigen – gerade wie die CD. Eingerichtet als Placebo für Mitgliedstaaten der VN, die in Genf nicht mittun dürfen, erscheint sie überflüssig, eine Geldverschwendung angesichts knapper Mittel, die weder zum Image der Vereinten Nationen noch zum Erfolg von Abrüstung beitragen kann. Als einziges der VN-Organe wäre ihr Ableben nicht zu bedauern.

Dies gilt um so mehr, als im Abrüstungsbeirat eine Institution zur Verfügung steht, deren Konstruktion geeigneter ist, den Bedingungen von Deliberation zu genügen. Nichts ist perfekt, auch im Beirat halten die Diplomaten die Mehrheit, obgleich alle 22 Mitglieder, die nach einigen Jahren ausgewechselt werden, nach repräsentativen Gesichtspunkten in persönlicher Kapazität berufen werden, also idealiter instruktionsfrei miteinander sprechen können. Realiter sind die Diskussionen des Beirats weitaus weniger vom Stress politischen Drucks gekennzeichnet. Das unverbindliche Setting erlaubt es, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Format der jährlichen Berichte, die Sache des Vorsitzenden sind und nicht im Konsens abgestimmt werden, erlaubt freiere Diskussionen. Das setzt voraus, dass der Vorsitzende seine Position nicht missbraucht, eine Norm, die durchweg eingehalten wird. Die Berichtsentwürfe werden unter den Mitgliedern zur Kommentierung zirkuliert, und im Ergebnis kommt etwas heraus, dass keinen vollständigen Konsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, aber eben auch keine fundamentale Konfrontation gegenüber dem »Eingemachten« der Sicherheitsinteressen eines der repräsentierten Staaten darstellt.

Der Beirat tagt halbjährlich für drei volle Tage und konzentriert sich dabei auf zwei, maximal drei Themen, wozu auch jeweils geeignete Experten aus Nichtregierungsorganisationen angehört werden. Im Zusammenhang mit der VN-Reform hat der Beirat es geschafft, einen Bericht mit sehr substantiellen Empfehlungen zustande zu bringen.14 Neuerdings ist der Vorsitzende aufgefordert, die Ergebnisse seiner Arbeit der Vollversammlung zu präsentieren, womit die deliberative Arbeit des Beirats beträchtlich aufgewertet worden ist.

Generalsekretär und Sekretariat

Auf einige Funktionen des Generalsekretärs ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Rolle als Stimme der VN, selbst machtvoll als Agenda-Setter und Mahner aufzutreten. Im Feld der Abrüstung haben Generalsekretäre davon weitaus sparsamer Gebrauch gemacht als in anderen Themenfeldern, etwa Armutsbekämpfung oder humanitäre Intervention. Dies ist um so betrüblicher, als dem Generalsekretär mit dem Abrüstungsbeirat ein kompetentes und durchaus effektives Instrument zugeordnet ist, von dem er weitaus aktiver Gebrauch machen könnte.

Die Abrüstungsabteilung (Deparment of Disarmament Affairs, DDA), geleitet von einem Untergeneralsekretär, ist die kleinste Abteilung der VN. In Unterabteilungen nach den verschiedenen Waffentypen aufgegliedert, verfügt sie über einen multinationalen Stab, der anderen Organen der VN, aber auch den Vertragsregimen in Dienstleistungsfunktionen, zur Verfügung steht. Die DDA versieht auch die Vollversammlung mit Berichten über die komplizierten Abrüstungsfragen. Gerade kleinere und unterentwickelte Mitgliedsstaaten haben auf nationaler Basis kaum die Möglichkeit, selbständig Information zu beschaffen und Analysen zu erstellen. Die Arbeit des DDA ist für sie unerlässliche Voraussetzung, dem Gang der Dinge folgen zu können.

Schließlich sollte die Rolle des VN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) nicht unerwähnt bleiben. Mit einer minimalen Grundfinanzierung gelingt es dieser Institution unter ihrer gegenwärtigen Direktorin, für das gesamte Spektrum von Abrüstungsfragen Publikationen von hoher Qualität und dichtem Informationsgehalt zu erarbeiten, die gerade für die VN-Mitgliedsstaaten aus der Dritten Welt von großem Nutzen sind.

Schlussfolgerung: VN-Reform und Abrüstung

Die Analyse hat ergeben, dass die Vereinten Nationen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zahlreiche Funktionen zu erfüllen haben. Da die VN eben die Vereinigung ihrer Mitgliedsstaaten sind, gelingt dies so gut, wie es der kollektive politische Wille der Staatenwelt zulässt. Ein Überschuss über diesen Vektor kann nur durch das Eigengewicht des Sekretariats und besonders des Generalsekretärs erzielt werden. Diese Variable ist größer als Null und kann beachtlich sein, darf andererseits auch nicht überschätzt werden – ein Generalsekretär, der sich in dieser Rolle überhebt, wäre schnell isoliert.

In der Diskussion wurden etliche Defizite notiert. Um so enttäuschender ist es, dass die offiziellen Vorschläge zur VN-Reform das Thema stiefmütterlich behandeln. Sie enthalten sporadische Vorschläge zur Abrüstung, aber wenig zum Verhältnis Abrüstung-VN. Eine Ausnahme bilden die Vorschläge des Abrüstungsbeirats, die jedoch von Kofi Annans hochrangiger Expertengruppe mangels Expertise in der Gruppe und ihrem Sekretariat weitgehend ignoriert wurden.15 Es ist zu befürchten, dass der Reformschwung, den der Millenium-plus-fünf-Gipfel mit sich bringt, am Feld VN/Abrüstung recht spurlos vorbeigehen wird.

Anmerkungen

1) Tanja Brühl/Volker Rittberger: From international to global governcance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the twenty-first century, in Volker Rittberger (Hrsg.): Global Governance and the United Nations System, Tokio u.a., United Nations University Press 2001, S. 1-47.

2) Dimitris Bourantonis: The United Nations and the quest for nuclear disarmament, Dartmouth, Aldershot 1993.

3) US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/Main, HSFK-Report 3/2003.

4) Harald Müller: Die Chance der Kooperation. Regime in den Internationalen Beziehungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.

5) Barry Buzan/Ole Waever: Regions and powers. The structure of international security. Cambridge, Cambridge University Press 2003.

6) Harald Müller: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M, HSFK-Report 4/2005; www.hsfk.de/downloads/report0405.pdf.

7) Brahma Chellaney: Arms control: The role of the IAEA and UNSCOM, in: Muthiah Alagappa/Takashi Inoguchi (Hrsg.), International Security Management and the United Nations, Tokio u.a., United Nations University Press 1999,S. 375-393.

8) Trevor Findlay: A Standing United Nations WMD Verification Body: Necessary and Feasible. An interim study prepared for the Commission on Weapons of Mass Destruction by the Canadian Centre for Treaty Compliance, Ottawa, Canada in cooperation with VERTIC, London, UK, May 2005; www.vertic.org/assets/Interim%20report%20UN%20WMD%20verification%20mechanism%20FINAL%20May%202005.pdf.

9) Una Becker, Harald Müller, Carmen Wunderlich: Während wir auf das Protokoll warten: Provisorische Wege, mit dem Bruch des Biowaffen-Übereinkommens umzugehen, Frankfurt/M, HSFK-Report 2005 (i.E.).

10) Hans Blix: Disarming Iraq, New York, Pantheon 2004.

11) Multilateral Disarmament and Non-Proliferation Regimes and the Role of the United Nations: An Evaluation. Contribution of the Advisory Board on Disarmament Matters to the High-Level Panel on Threats, Challenges, and Change, United Nations Department on Disarmament Affairs, Occasional Paper 8, New York 2004, S. 55/56.

12) Siemon T. Wezeman: The future of the United Nations register of conventional arms, Solna: SIPRI, 2003 SIPRI Policy Paper No. 4); http://editors.sipri.se/pubs/UNROCA.pdf.

13) Elli Kytömäki/Valerie Yankey-Wayne: Implementing the United Nations Programme of Action, Genf, UNIDIR 2004.

14) Vgl. Anmerkung 11.

15) Ich habe mich hierzu andernorts ausführlich geäußert und will das hier nicht verdoppeln. Vgl. Harald Müller: Multilaterale Abrüstung in der Krise. Die Vorschläge des High-level Panels und des UN-Abrüstungsbeirats zur Verbesserung der Nichtverbreitungsregime, in: Vereinte Nationen, 53 (2), April 2005, S. 41-45.

Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Vorsitzender des Beratungsausschusses zu Abrüstungsfragen (Abrüstungsbeirat) des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

Die Atomteststoppbehörde

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

von Oliver Meier

Die internationale Atomteststoppbehörde (Comprehensive Test Ban Treaty Organization, CTBTO) befindet sich fast acht Jahre nach ihrer Gründung in einem eigenartigen politischen Schwebezustand. Aufgabe der Organisation ist es, die Einhaltung des Vertrags über das Umfassende Verbot von Nuklearversuchen (Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, CTBT) zu überwachen. Aber das Abkommen, das seine Mitglieder verpflichtet „keine Versuchsexplosionen von Kernwaffen und keine andere nukleare Explosion durchzuführen“1, kann nicht in Kraft treten, obwohl es mittlerweile 176 Staaten gezeichnet und 125 ratifiziert haben.

Damit der Atomteststoppvertrag völkerrechtliche Verbindlichkeit erhält, müssen alle 44 Staaten, welche bei Vertragsabschluss 1996 Mitglieder der Genfer Abrüstungskonferenz waren und über Atomprogramme verfügten, den CTBT ratifizieren. Von diesen Staaten haben den Vertrag bisher

  • weder unterschrieben, noch ratifiziert: Indien, Nordkorea und Pakistan,
  • unterschrieben aber noch nicht ratifiziert: Ägypten, China, Indonesien, Iran, Israel, Kolumbien, USA und Vietnam.

Diese elf Staaten verhindern damit, dass die Ergebnisse der Arbeit der CTBTO auch tatsächlich und völkerrechtlich verbindlich zur Teststopp-Verifikation genutzt werden können.

Der Aufbau des Überwachungssystems für den Teststopp-Vertrag durch eine Vorbereitungskommission und das Provisorische Technische Sekretariat (PTS) in Wien hat trotz dieser politischen und rechtlichen Hängepartie gute Fortschritte gemacht. Mittlerweile beschäftigt die CTBTO fast 270 Mitarbeiter aus 69 Staaten. Wenn man von der ungewissen Zukunft des Vertrags selbst absieht, arbeitet die Organisation schon jetzt wie eine normale Abrüstungsbehörde.

Die amerikanische Abwendung

Die klare Ablehnung des CTBT durch die gegenwärtige US-Regierung bildet das größte Hindernis auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrages. Solange die größte Militär- und Nuklearwaffenmacht der Welt nicht auf die Option zur Wiederaufnahme von Kernwaffentests verzichtet, werden auch andere Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder verfügen möchten, sich die Möglichkeit zur Durchführung von Atomexplosionen offen halten wollen.

Präsident Bill Clinton unterzeichnete noch voller Stolz als erster Staatschef am 24. September 1996 den CTBT am Sitz der Vereinten Nationen. Damit schien der jahrzehntelange Kampf der USA um einen überprüfbaren Teststopp-Vertrag erfolgreich zum Abschluss gebracht. Aber die Hoffnung auf ein dauerhaftes Verbot aller Kernwaffentests geriet bald ins Wanken. Im Oktober 1999 weigerte sich der republikanisch dominierte Senat, den vom verhassten demokratischen Präsidenten favorisierten CTBT zu ratifizieren. Seitdem hat sich Washington kontinuierlich vom Vertrag distanziert.

Amerikanische CTBT-Gegner halten den Vertrag für nicht verifizierbar und befürchten, dass ein dauerhafter Verzicht auf Atomtests das eigene Nuklearwaffenarsenal gefährden könnte. Alterungsprozesse in vorhandenen Atomwaffen könnten Kernwaffentests zur Prüfung von Sicherheitsmängeln notwendig machen, so amerikanische Teststopp-Kritiker. Aber auch die Entwicklung neuartiger Atomwaffen wie »Mininukes« oder bunkerbrechende Kernwaffen soll möglich bleiben.2

Die USA bleiben durch die Unterschrift Clintons an den CTBT gebunden, bereiten aber einen möglichen vollständigen Rückzug aus dem Teststopp-Vertrag vor. Amerikanische Diplomaten weigern sich, jedem internationalen Dokument zuzustimmen, das den CTBT auch nur erwähnt. Und im August 2003 wies Präsident Bush das Energieministerium an, die Vorbereitungszeit für eine mögliche Wiederaufnahme von Kernwaffentests von ehemals 2-3 Jahren auf 18 Monate zu verkürzen.

Die Ablehnung des Teststopp-Vertrages durch Washington behindert auch den Aufbau der CTBTO. Seit August 2001 kürzt Washington den eigenen finanziellen Beitrag und behält eigenmächtig die Kosten für die Vorbereitung von Vor-Ort-Inspektionen ein. Begründung: solche Inspektionen, die die CTBTO nach einer vermuteten Vertragsverletzung zur Klärung des Sachverhalts durchführen könnte, würden erst nach Inkrafttreten des Vertrages durchgeführt werden – und genau dieses Inkrafttreten des Vertrags lehnt Washington ab.3

Aus Sicht der CTBTO ist die Kürzung finanziell noch zu verkraften weil sie bisher nur rund 5% (rund US$ 1 Millionen jährlich) des veranschlagten amerikanischen Beitrags beträgt. Aber möglicherweise stehen bald noch weitere Kürzungen ins Haus. Der US-Senat hat insgesamt US$ 7,5 Millionen aus dem diesjährigen Beitrag in Höhe von US$ 22 Millionen herausgeschnitten. Derartige Kürzungen, die vom US-Repräsentantenhaus in dieser Form abgelehnt werden, wären ein schwerer Rückschlag für die Arbeit der CTBTO auch wenn Außenministerin Condoleezza Rice am 16. Februar beteuerte, dass eine weitere Kürzung der US-Beiträge „… keine Änderung der US-Politik gegenüber dem CTBT“ bedeuten würde.4

Um den Aufbau des Systems zu vollenden und fertig gestellte Stationen zu betreiben, ist eine stabile Finanzierung notwendig. Jährlich benötigt die CTBTO etwa US$ 100 Millionen. Bisher wurden rund 95% der Beiträge von den Unterzeichnern des Vertrages eingetrieben. Dies ist eine im Vergleich zu anderen UN-Organisationen gute Quote. Einzelne Staaten, wie Brasilien und Argentinien, zahlen allerdings seit Jahren ihre Beiträge nicht. Damit schwächen sie die CTBTO auch wenn die Arbeit der Behörde (noch) nicht gefährdet ist.

Der Aufbau des Internationalen Überwachungssystems

Trotz der politischen Ablehnung des CTBT unterstützen die USA den Aufbau des internationalen Überwachungssystems (International Monitoring System, IMS) voll und ganz. Ein Grund für diese schizophrene Politik liegt im Interesse amerikanischer Geheimdienste an den IMS-Daten. Für die amerikanische Regierung dürften vor allem Daten aus Regionen interessant sein, in denen sie selber nicht über ausreichend hochwertige Überwachungsstationen verfügt, wie etwa in Zentral- und Südasien. Die USA sind als größter Abnehmer von IMS-Daten sogar bereit, der CTBTO für die Übermittlung aller verfügbaren Daten mehr zu zahlen als den regulären Satz. Das US-Interesse an den Daten der CTBTO ist ein eindrucksvoller Beleg für deren Qualität.

Das IMS selbst ist bereits zu zwei Dritteln fertig gestellt. Zweihundertundneun der insgesamt 321 Überwachungsstationen sind errichtet. Das seismische Netzwerk, das darauf ausgelegt ist, Signale von unterirdisch durchgeführten Atomtests aufzunehmen, ist das Herzstück des Überwachungssystems. Fünfzig Stationen werden kontinuierlich Daten nach Wien übermitteln, weitere 120 Hilfsstationen können bei Bedarf zugeschaltet werden. Elf im Meer an Bojen verankerte Hydrophone oder in der Nähe von steil abfallenden Küsten stationierte Hochfrequenz-Seismometer können Explosionen in den Ozeanen oder auf kleinen Inseln feststellen. Das Infraschall-Überwachungsnetzwerk von 60 landgestützten Stationen dient dem Ziel, die von atmosphärischen Nukleartests verursachten Schallwellen festzustellen und diese Tests so zu lokalisieren. Achtzig Radionuklidstationen werden rund um die Uhr radioaktive Aerosole und Edelgase in der Atmosphäre messen, die von atmosphärischen Atomtests stammen oder von unterirdischen Tests, die ausgasen.

Von den Stationen werden die Daten an das International Data Centre (IDC) in Wien und von dort zügig an die Mitgliedstaaten übermittelt. Ein groß angelegter Dauertest im April und Mai diesen Jahres hat belegt, dass der für eine erfolgreiche Vertragsüberwachung notwendige Dauerbetrieb, inklusive sicherer Datenübertragung aus Wien gewährleistet werden kann.5

Die CTBTO bewertet und analysiert IMS-Daten nicht. Es obliegt den Mitgliedstaaten festzustellen, ob ihrer Meinung nach ein Vertragsverstoß vorliegt. Nach Inkrafttreten des Vertrags kann jeder Mitgliedsstaat eine Sitzung des Exekutivrats der Organisation beantragen, wenn er vermutet, dass ein anderes Mitglied gegen den Vertrag verstoßen hat. Stimmen 31 der 50 Mitglieder des Exekutivrats zu, wird eine Vor-Ort-Inspektion zur Klärung des Sachverhalts angeordnet. Klare Vertragsverstöße kann die Vertragsstaatenkonferenz an den UN-Sicherheitsrat melden.

Während der Aufbau des Überwachungssystems Fortschritte macht, bleibt die Vorbereitung der Vor-Ort-Inspektionen schwierig. Der Vertrag selbst beschreibt nur die groben Parameter künftiger Inspektionen, wie etwa Dauer und Umfang. Seit Jahren verhandeln Mitgliedstaaten in Wien über ein Handbuch zu Vor-Ort-Inspektionen, das Einzelheiten über die Rechte und Pflichten künftiger Teststopp-Inspekteure festlegen soll.

Der amerikanische Boykott der Vorbereitungen für Vor-Ort-Inspektionen stellt den Wert der Verhandlungen über ein Inspektionsregime insgesamt in Frage. Aber auch andere Staaten, wie etwa Israel, achten mit Argusaugen darauf, dass künftige Inspektoren nicht zu weitreichende Rechte erhalten. Sie fürchten, dass Inspektionen dazu missbraucht werden könnten vertragsfremde Einrichtungen auszuspionieren, etwa die geheime Atomanlage in Dimona.

Wie andere Verifikationssysteme, kann auch das IMS keine hundertprozentige Sicherheit bieten, dass alle Vertragsverletzungen aufgedeckt werden. Das System zielt eher darauf ab, Vertragsbrüche mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen, und potenzielle Vertragsverletzer dadurch abzuschrecken.

Ein Unterlaufen des Überwachungssystems durch einen geheimen Kernwaffentest – ein Szenario das CTBT-Kritiker in den USA immer wieder als Schwachpunkt des Vertrages angeführt haben – dürfte ausgeschlossen sein. Militärisch relevante Tests haben eine Sprengkraft von mehreren Kilotonnen TNT-Äquivalent. Das IMS ist aber darauf ausgelegt, weltweit Explosionen mit einer Sprengkraft von mindestens einer Kilotonne zu entdecken. In vielen Gegenden kann das IMS schon jetzt Explosionen von wesentlich kleinerer Sprengkraft – in einzelnen Fällen von 10-25 Tonnen – feststellen und in den meisten Fällen auch lokalisieren.6

Zusätzliche Nutzung des IMS?

Schon seit Jahren gibt es Vorschläge, die Daten des IMS auch für andere Zwecke als zum Aufspüren von Kernwaffentests zu verwenden,. Das Überwachungssystem ist weltweit einmalig, nicht nur auf Grund seiner globalen Reichweite sondern auch wegen der schnellen Datenverfügbarkeit und der sicheren Übertragung an Empfänger weltweit. So könnten z.B. die Daten aus dem Infraschallnetzwerk dazu verwendet werden, die Luftfahrt vor Vulkanausbrüchen zu warnen. Möglich wäre es auch, bestimmte IMS-Daten zur Überwachung anderer internationaler Abkommen, insbesondere Rüstungskontrollabkommen, zu nutzen. Das Netzwerk von Radionuklidstationen etwa könnte auch geheime Produktionsanlagen für Kernwaffenmaterialien aufspüren.

Jahrelang scheiterten solche Vorschläge zur Nutzung von Synergieeffekten jedoch an den Ängsten einiger Staaten wie China, die eine Aufweichung der Regeln zum Schutz »vertraulicher« Informationen befürchten. Sie bestanden darauf, dass nur staatliche Datenzentren IMS-Daten empfangen dürfen. Erst die Tsunami-Katastrophe vom letzten Jahr hat solche Bedenken hinweg gespült. Achtundsiebzig IMS-Stationen hatten das Seebeben am 26. Dezember 2004 registriert und die Daten schon nach zwei Stunden an alle Mitgliedstaaten übermittelt. Dies schloss auch betroffene Staaten in der Region ein, wie etwa Indonesien und Thailand.7 Diese Daten wurden dort allerdings nicht entsprechend ausgewertet und damit eine wichtige Chance zur Frühwarnung vertan.

Im März diesen Jahres beschlossen die Vertragsmitglieder, dass das PTS auf Probebasis Daten an zwei Tsunami-Frühwarnorganisationen der UNESCO übertragen soll. Ob dieser wichtige Schritt zur Öffnung des Systems auch weitere Möglichkeiten für eine Nutzung der Daten zur Frühwarnung und Katastrophenhilfe eröffnet, muss allerdings abgewartet werden.8

Wie weiter?

Trotz beeindruckender Fortschritte beim Aufbau des Überwachungssystems liegt die Frage des Inkrafttretens des Vertrages wie ein dunkler Schatten über der Arbeit der CTBTO. Alle zwei Jahre beraten die Mitgliedstaaten, was unternommen werden kann, um das Inkrafttreten des Teststopp-Vertrags zu beschleunigen. Auf der vierten, nach dem entsprechenden CTBT-Paragrafen benannte Artikel XIV-Konferenz, die vom 21.-23. September 2005 in New York stattfand, wurde erneut deutlich, dass ein stetiges und druckvolles Drängen auf Vertragsbeitritt bei den noch außerhalb des CTBT stehenden Staaten ohne politische Alternative ist. Je kürzer die Liste der Blockierer ist, desto größer wird der politische Druck auf die noch ausstehenden Verweigerer und desto stärker ist die internationale Norm gegen Atomtests.

Der Sonderbeauftragte zur Förderung des Ratifizierungsprozesses, Jaap Ramaker, berichtete von seinen weitgehend erfolglosen Bemühungen weitere Annex II-Staaten von einem Vertragsbeitritt zu überzeugen.9 Die chinesische Regierung beteuerte gegenüber Ramaker, dass sie guten Willens sei, den CTBT zu ratifizieren und »nur« noch auf den Abschluss des parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens warte. Gleichlautende Beteuerungen gibt es allerdings seit Jahren aus Peking. Pakistan erklärte, dass ein Beitritt zum Teststopp-Vertrag gegenwärtig keine Priorität besäße und die indische Regierung empfing Botschafter Ramaker erst gar nicht. Der wichtigste Schlüssel zum politischen Erfolg liegt aber weiterhin in Washington.

Der Fortschritt beim Aufbau des Verifikationssystems durch die Wiener Teststoppbehörde ist dabei ein wichtiges Seismometer für die politische Unterstützung für den CTBT insgesamt. Auch deshalb ist es wichtig, dass diejenigen Regierungen, die an den Zielen des Teststopp-Vertrags festhalten, die CTBTO weiter nach Kräften unterstützen. Nur dann ist gewährleistet, dass „bei Inkrafttreten des Vertrages … das Verifikationssystem in der Lage [ist], den Verifikationsanforderungen des Vertrages zu genügen.“10

Anmerkungen

1) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel I (1).

2) Eine Diskussion dieser Argumente findet sich in dem Report des CTBT-Sonderbeauftragten General John M. Shalikashvili (USA Ret.): Report on the Findings and Recommendations Concerning the Comprehensive Test Ban Treaty, January 4, 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_01-02/ctbtreport.asp

3) Philipp C. Bleek: White House to Partially Fund Test Ban Implementing Body, in: Arms Control Today, September 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_09/ctbtsept01.asp.

4) Daryl G. Kimball: The Status of CTBT Entry Into Force: the United States, Presentation at the VERTIC Seminar on the Comprehensive Test Ban Treaty on the Occasion of The Fourth Article XIV Conference on Accelerating Entry Into Force, New York, September 22, 2005, http://www.armscontrol.org/events/20050921_VERTIC.asp.

5) Background Document by the Provisional Technical Secretariat of the Preparatory Commission for the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization prepared for the Conference on Facilitating the Entry into Force of the CTBT, CTBT-Art.XIV/2005/3/Rev.1, 7 September 2005.

6) Einschätzungen zur Verifizierbarkeit des Vertrages finden sich unter anderem im Bericht der Unabhängigen Kommission zur Verifizierbarkeit des Teststopp-Vertrages, London 7. November 2000, http://www.ctbtcommission.org/germanreport.htm und Ben Mines: The Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty: virtually verifiable now, VERTIC Brief 3, London, April 2004, http://www.vertic.org/assets/BP3_Mines.pdf.

7) Northern Sumatra Earthquake and the Subsequent Tsunami on 26 December 2004, CTBTO Press Release, 5. Januar 2005.

8) Oliver Meier: CTBTO Releases Test Ban Monitoring Data for Tsunami Warning, in: Arms Control Today, Vol. 35, No. 2, April 2005, S. 39-40.

9) Report of Ambassador Jaap Ramaker, Special Representative to promote the ratification process of the CTBT to the Conference on Facilitating the Entry into Force of the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, New York, 21-23 September 2005.

10) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel IV (1).

Dr. Oliver Meier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sowie Internationaler Repräsentant und Korrespondent der Arms Control Association in Berlin.

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

von Jörg Welke

Vom 2. bis 28. Mai 2005 tagt in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung sind nicht gerade vielversprechend. Auf den Vorbereitungskonferenzen in den letzten drei Jahren haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen können. Keine der »Atommächte« ist offensichtlich bereit die Verpflichtung zur totalen nuklearen Abrüstung, die beim Abschluss des Vertrages zugesagt wurde, zu erfüllen. Setzen wir einmal voraus, dass es nicht zum »offenen Scheitern« des Vertragswerks kommt – da hieran vor allem die Atomwaffen besitzenden Staaten kein Interesse haben – so bleibt die Frage in welche Richtung ein zu erzielender Kompromiss tendiert.

New York im Mai 2020: Unglaubliche Menschenmassen feiern ausgelassen in den Straßen Manhattans, vor dem UN-Gebäude ist kein Durchkommen mehr, strahlende Gesichter wohin man auch schaut. Dann ist es soweit. Der amtierende UN-Generalsekretär verkündet feierlich: „Der letzte Atomsprengkopf auf dieser Erde ist entschärft und wird in seine Bestandteile zur Verschrottung zerlegt. Die Ära der nuklearen Bedrohung ist beendet.“ Zehn Jahre zuvor hatten sämtliche Atomwaffenstaaten mit der Auflösung ihrer nuklearen Arsenale begonnen. Nach weiteren fünf Jahren hatten sie sich während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages (Nichtverbreitungsvertrag, NVV) auf Verhandlungen zur weltweiten atomaren Abrüstung geeinigt.

Soweit das Wunschdenken. Die Wirklichkeit ist komplizierter, die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung während der Überprüfungskonferenz in New York schwindet zusehends.

Als der NVV 1970 in Kraft trat, hatten diejenigen Staaten, die bereits im Besitz von Atomwaffen waren, ein für sie wichtiges Ziel erreicht: Sie sahen ihr Monopol auf den Besitz dieser Waffen nun völkerrechtlich festgeschrieben. Außer China, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den USA hatte fortan kein anderes Land, das dem Vertrag beitrat, das Recht, Atomwaffen zu entwickeln oder zu erwerben. Die inzwischen 182 anderen Vertragsstaaten ließen sich allerdings nicht ohne Gegenleistung zur militärisch-atomaren Enthaltsamkeit bewegen. Vielmehr sollten ihnen Materialien, wissenschaftliches Know-how und alle Technologien zur Nutzung der damals begehrten Atomenergie für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Die Vereinbarung sah darüber hinaus für die Atomwaffenstaaten die vertragliche Pflicht vor, Verhandlungen über die Abrüstung und Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen.

Um zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Atomtechnologie zu unterscheiden wurde ein Sicherheitskontrollsystem (safeguards) installiert. Mit der Kontrolle wurde die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) beauftragt. Sie inspiziert seither regelmäßig weltweit Atomanlagen, außer denjenigen der Atomwaffenstaaten und der Nicht-Unterzeichnerstaaten des NVV, das sind Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea, das 2003 aus dem Vertrag wieder ausgeschieden ist.

Die Abrüstungsverpflichtung ist im NVV nicht im Detail konkretisiert. Weder sind die einzelnen Schritte zu einer vollständigen Abschaffung von Atomwaffen festgelegt, noch wurde ein Zeitplan definiert. So stieg die Zahl der Atomwaffen zwischenzeitlich bis auf 65.000 an. Trotz diverser Abrüstungsverträge ist ihre Anzahl heute höher als zu Vertragsbeginn.

Als der NVV ausgehandelt wurde sollte er zunächst für 25 Jahre gelten, mit Überprüfungskonferenzen im Fünfjahresrhythmus. 1995 wurde anlässlich der Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags entschieden, die Vereinbarung unbefristet auszudehnen. Das entsprach vor allem dem Wunsch der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, ein großer Teil der blockfreien und Nicht-Atomwaffenstaaten betrachtete den Vertrag als diskriminierend. Sie stimmten der Verlängerung trotzdem zu, weil zusätzliche Versprechungen gemacht wurden, z.B. Verhandlungen zu einem umfassenden Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT). Dieses Abkommen wurde 1996 auch abgeschlossen, kann aber erst in Kraft treten, wenn die 44 Staaten, die über Atomenergieanlagen verfügen, es ratifiziert haben. Bislang fehlen aber die Ratifizierungen von elf Staaten, darunter die USA und China.

Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wurde einstimmig eine Liste von 13 »praktischen Schritten« zur Abrüstung der bestehenden Atomwaffenarsenale verabschiedet. Diese Liste enthält eine Bestätigung der Verpflichtung, alle Atomwaffen abzuschaffen, wie sie bereits in Artikel VI des NVV festgeschrieben ist.

Veränderte Sicherheitslage

Auf der nächsten Überprüfungskonferenz im Mai 2005 wollen die USA diese »13 Schritte« nun als »überholt« ad acta legen. So bezeichnete Ende letzten Jahres ein offizieller Regierungsvertreter aus Washington das Abschlussdokument der 2000er Überprüfungskonferenz inklusive der 13 Schritte als »historisch«.1 Es sei ein neues Dokument notwendig, das die veränderte Lage nach dem 11. September widerspiegele.

Zwei andere internationale Vereinbarungen haben die USA bereits erfolgreich torpediert: Das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens und den ABM-Vertrag. Der ABM-Vertrag wurde einseitig von den USA aufgekündigt, und der Atomteststoppvertrag wird in absehbarer Zeit von den USA nicht ratifiziert werden. Die USA erwägen zudem die Wiederaufnahme von Atomtests. Das Abkommen zwischen George Bush und Vladimir Putin aus dem Jahr 2002 (Moskauer Vertrag bzw. Strategic Offensive Reduction Treaty, SORT), nach dem die stationierten strategischen Atomwaffen jeweils auf 1.700 bis 2.200 zu reduzieren sind, hebt den START-II-Vertrag auf, der 2002 noch nicht in Kraft getreten war. Nach der neuen Regelung werden die »überzähligen« Atomwaffen nur »nicht gefechtsbereit« gelagert und nicht verschrottet. Das widerspricht dem 2000 verabredeten Prinzip der Unumkehrbarkeit von Abrüstungsmaßnahmen.

Die Liste gebrochener Versprechen von Seiten der Atomwaffen besitzenden Staaten ist lang und der Unmut auf Seiten der Nichtatomwaffenstaaten groß. Der Unmut wächst auch deshalb, weil das im Artikel IV des NVVzugesicherte „unveräußerliche Recht“ auf Hilfe zur zivilen Nutzung der Atomenergie von den Atomwaffenstaaten zunehmend in Frage gestellt wird. Seitdem der Iran vermutlich an einem Urananreicherungsprogramm arbeitet, wollen die USA bestimmten Ländern diese Technologie verweigern. Nach einer entsprechenden Intervention des US-amerikanischen Präsidenten auf dem Gipfel der G8-Staaten im Juni 2004 wurde dort verabredet – entgegen den Vertragsverpflichtungen – Atomtechnologie nur an Staaten zu exportieren, die durch ein Zusatzprotokoll von der IAEO als »sicher« eingestuft werden. Allerdings hätte der Iran auch in diesem Fall das Recht zum Erwerb der Technologie zur Urananreicherung, es sei denn der IAEO lägen Beweise zur Ablehnung vor.

Überprüfungskonferenz 2005

Die veränderte Sicherheitslage nach dem 11.September, weltweiter »Krieg gegen den Terrorismus«, iranisches Atomprogramm und nordkoreanische Atomwaffen: Diese Stichworte sind die unguten Vorzeichen für die Überprüfungskonferenz des NVV im Mai. Bei den drei jeweils zweiwöchigen Vorbereitungskonferenzen, die 2002-2004 stattfanden, haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung für 2005 einigen können.

Die Ausgangspositionen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die USA wollen ihr 2002 mit Russland ausgehandeltes SORT-Abkommen über die Reduzierung von strategischen Atomwaffen bereits als Schritt zur nuklearen Abrüstung verstanden wissen. Kritiker weisen aber darauf hin, dass dieses Abkommen eher ein Umrüstungs-, denn ein Abrüstungs-Abkommen ist: Die USA arbeiten an der Entwicklung neuer kleiner taktischer Atomwaffen – Mininukes – und bunkerbrechenden Atombomben, die die Gefahr eines atomaren Krieges erhöhen, da sie in »begrenzten« Kriegen eingesetzt werden können. Russland will sein Arsenal modernisieren, um die geplante Raketenabwehr der USA umgehen zu können. Das geplante US-Raketenabwehrsystem führt deshalb auch nicht zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes. Im Gegenteil, es erhöht die Gefahr eines atomaren Konflikts, da es zur Vergrößerung des Atomwaffenpotenzials führt. Für die taktischen Nuklearwaffen der beiden Länder gibt es sowieso keine vertraglichen Vereinbarungen.

Die aggressive Haltung der USA ist das entscheidende Problem für die Verhandlungen: Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und die Drohungen gegen die von Bush so titulierten Staaten der »Achse des Bösen« provozieren die Amerikaner in diesen Ländern geradezu den Willen zur Entwicklung und zum Bau eigener Atomwaffen. Viele – auch offizielle – Verlautbarungen aus diesen Ländern dokumentieren die Ansicht, dass nur der Besitz atomarer Waffen einen gewissen Schutz gegen militärische Aktionen der USA bietet. Ganz deutlich wird das in der Haltung der nordkoreanischen Regierung.

Die offizielle deutsche Regierungslinie propagiert Abrüstungsmaßnahmen in »kleinen Schritten« ohne vorgegebenen Zeitrahmen und lehnt (bislang) den Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention ab. Deutschland brachte in die Vorbereitungskonferenzen des NVV in den vergangenen Jahren einige nützlich Arbeitspapiere ein – u.a. zur Problematik der taktischen Atomwaffen und zur Stärkung des Vertragsregimes –, fordert aber weder den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden noch eine Änderung der NATO-Strategie, die nach wie vor die Möglichkeiten eines nuklearen Ersteinsatzes vorsieht (siehe Artikel von Bernd Hahnfeld in dieser W&F-Ausgabe, d. Red.).

Einmischung von unten

Umso stärker sind die nichtstaatlichen Akteure gefragt. Viele Nichtregierungsorganisationen sind weltweit vernetzt, können Strategien zur nuklearen Abrüstung entwickeln und vorschlagen, wie dies mit dem Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention 1996 bereits passiert ist.

Hiroshimas Bürgermeister, Tadatoshi Akiba, setzt sich mit der weltweiten Bürgermeisterkampagne »2020 Vision« für ein weitergehendes Vorhaben ein, als lediglich den – ohnehin unzureichenden – NVV zu retten. In New York will eine Delegation von etwa 100 BürgermeisterInnen an der Überprüfungskonferenz teilnehmen und der internationalen Staatengemeinschaft ihren Plan vorlegen: Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention jetzt beginnen, die Verhandlungen 2010 abschließen, und bis 2020 sämtliche Atomwaffen abrüsten. Gewissermaßen als »Plan B« ist die »second track diplomacy« zu verstehen: Analog des Ottawa-Prozesses für das Verbot der Landminen wird zu einer gemeinsamen Verhandlungsrunde aus »willigen« Staaten und kundigen Nichtregierungsorganisationen eingeladen. Damit sollen die »nicht-willigen« Staaten diplomatisch isoliert werden.

In Deutschland engagiert sich die Kampagne »atomwaffenfrei bis 2020« für eine Atomwaffenkonvention und eine atomwaffenfreie Welt. Die Kampagne wurde vom Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Dieser fordert insbesondere den sofortigen Abzug aller US-Atomwaffen, die sich auf deutschem Boden befinden und die im Rahmen der so genannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall auch von deutschen Soldaten eingesetzt würden.

Der Trägerkreis besteht aus 40 Mitgliedsorganisationen. Um sein Ziel – eine atomwaffenfreie Welt – zu erreichen, organisiert er unter anderem öffentlichkeitswirksame Aktionen und Lobbyarbeit bei Politikern und Diplomaten. Außerdem beteiligt sich der Trägerkreis aktiv an nationalen und internationalen Kampagnen, wie der Bürgermeisterkampagne der Mayors for Peace.

Der Trägerkreis versteht sich als deutscher Teil des globalen Netzwerkes »Abolition 2000«. Auch dieses Netzwerk, das 1995 gegründet worden ist, setzt sich für die Abschaffung aller Atomwaffen ein und besteht aus über 2000 Mitgliedsorganisationen weltweit.

Die ganz andere Vision 2020

New York im Mai 2020: Zur zehnten Überprüfungskonferenz des NPT treffen sich die Vertreter der drei Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht gekündigt haben, in einem Café in der Nähe des UN-Hauptquartiers. Sie haben nicht mehr viel zu besprechen. Nach dem totalen Scheitern der siebten Konferenz 2005 entschieden sich zunächst sämtliche Staaten des Nahen Ostens, Atomwaffen zu entwickeln und zu bauen. Bereits ein Jahr später wurde nach einer Eskalation des Kaschmir-Konfliktes Bombay durch den dritten Atomwaffeneinsatz auf eine Stadt ausgelöscht. Die USA reagierten auf die andauernden »dirty bomb-Terroranschläge« im eigenen Land mit dem massiven und flächendeckenden Einsatz ihrer neu entwickelten Bunker Busters, wo auch immer Terrorzellen oder unterirdische Atomanlagen vermutet wurden. Kriegsführung mit nuklearem Material ist zur Normalität geworden, selbst in Bürgerkriegen auf dem mittlerweile so gut wie entvölkerten Kontinent Afrika finden Mini-Atombomben ihren Einsatz.

So weit die Befürchtung. Auch dieses Mal ist die Wirklichkeit vermutlich komplizierter.

Es bleibt zu hoffen, dass die Überzeugungskraft friedliebender Staaten und die Beharrlichkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen der siebten Überprüfungskonferenz zum Erfolg verhelfen.

Anmerkungen

1) „U.S. seeks to defang NPT“ in: Japan Today, 31.12.2004.

Jörg Welke ist freier Journalist und arbeitet derzeit als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Voraussetzung oder Folge von Deeskalation?

von Herbert Wulf

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind kein zentrales Thema auf der heutigen politischen Agenda.1 Die Hochphase der Rüstungskontrollverhandlungen der 1980er Jahre, die zum Abschluss einiger wichtiger Verträge führte (INF, START I, CWC)2 ist vorüber, ebenso die Phase der Abrüstung unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges. Manche Verhandlungen wurden gestoppt und der Vertrag zum Verzicht auf Nukleartests (Comprehensive Nuclear Test-Ban Treaty, CTBT) ist bis heute nicht in Kraft, auch wenn sich die Atommächte bislang daran halten. Haben Abrüstung und Rüstungskontrolle angesichts der Rüstungskontrollkrise und der Umkehr des Abrüstungsprozesses von Anfang der 1990er Jahre heute keine Chance mehr?

Um Erfolg oder Misserfolg von Abrüstung und Rüstungskontrolle einschätzen zu können, ist es erforderlich, die Messkriterien hierfür zu benennen. Wenn das Ziel die vollständige Abrüstung sein sollte, wie dies in der Gründungsphase der Vereinten Nationen der Fall war, dann muss man tatsächlich von Scheitern sprechen. Sind die Ziele aber niedriger gesteckt, beispielsweise dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Kriegen und Krisen des 21. Jahrhundert eine deeskalierende Rolle spielen können, dann sieht die Bilanz zwar nicht rundum positiv, aber auch nicht völlig negativ aus.

Ziele von Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik

Für die heutige Relevanz von Abrüstung und Rüstungskontrolle lohnt ein Blick auf die Konzeption und Entwicklung dieser Politiken des letzten halben Jahrhunderts. In den 50er Jahren blockierte der Ost-West-Konflikt alle Abrüstungsbemühungen. Angesichts der wachsenden Nuklearwaffenpotenziale und der zunehmenden Zahl der Atomwaffenstaaten, aber auch der steigenden Ausgaben für Militär und Rüstung war das ursprüngliche Ziel der vollständigen Abrüstung offensichtlich nicht durchsetzbar. Ende der 50er Jahre wurde daher, zunächst in der »strategic community« in den USA, dann auch in den dortigen Ministerien und in anderen Ländern über eine Alternative nachgedacht. Das wichtigste Ergebnis war die »arms control«, die Rüstungskontrolle, oder wie der von Wolf Graf von Baudissin im Deutschen geprägte Begriff genauer beschreibt, die »kooperative Rüstungssteuerung«.3 Als »Manifest« der Verfechter der Rüstungskontrolle gilt vielfach ein Aufsatz von Morton Halperin und Thomas Schelling aus dem Jahr 1961. Die Autoren entwickeln drei zentrale Kriterien für erfolgreiche Kontrolle der Rüstung: Die Erhöhung der Stabilität, die Verringerung der Zerstörungsfähigkeit und die Verminderung der Kosten der Waffensysteme bzw. der Militärapparate.4

Um Stabilität zu erzielen, ist kooperatives Verhalten erforderlich – am Besten auf der Grundlage verbindlicher Abmachungen und unter intensiver gegenseitiger Aufsicht; denn, wie es später die »Palme-Kommission«5 formulierte, kann es Sicherheit angesichts der gegenseitigen Zerstörungsfähigkeit nur gemeinsam geben. Alle Beteiligten, so die Grundannahme, haben Interesse an der Erhaltung von Stabilität, um die Kriegsgefahr zu dämpfen, riskantes Verhalten in Krisen zu vermeiden und die Kosten zu senken.

Die Stabilisierung der zerstörungsträchtigsten Waffen wurde in den folgenden drei Jahrzehnten zum zentralen Gegenstand vielfältiger Bemühungen. Auch die Verminderung der Zerstörungswirkung war ein Ziel internationaler Verhandlungen, wenn auch oft mit dem Hintergedanken, damit Nuklearwaffen einsatzfähig zu machen. Kaum eine Rolle spielten hingegen Kostenüberlegungen. Die Rüstungshaushalte wuchsen und die populäre Forderung, Entwicklung statt Abrüstung, blieb ein Ziel, das tatsächlich in immer weitere Ferne rückte. Vielleicht wichtiger noch: In vielen Fällen wurde hingenommen, dass Rüstungskontrolle zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion mit quantitativer und qualitativer Aufrüstung einherging, so in den SALT I und SALT II Abkommen über strategische Nuklearwaffen. Gegenüber den nuklearen Habenichts-Staaten hingegen wurde versucht, den Verzicht auf Atomwaffen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages durchzudrücken.

Es fehlte der Rüstungskontrolle wegen dieses begrenzten Ansatzes nicht an Kritikern. Viele, nicht nur in der Friedensbewegung der späten 70er und 80er Jahre, sahen in der einseitigen Betonung der Stabilität einen Verrat am Ziel der Abrüstung. Einen Abbau der Waffenbestände hatte die Rüstungskontrolle bis in die 80er Jahre hinein nicht erreicht. Andere kritisierten den Gedanken als realitätsfremd, dass miteinander verfeindete Staaten daran interessiert sein könnten, Stabilität, ein Festhalten am status quo, zu vereinbaren. Ein Vertreter der realistischen Schule, Colin Gray, etwa formulierte sinngemäß: Rüstungskontrolle seit unmöglich, wenn sie nötig sei und nicht nötig, wenn sie möglich sei.6

Diese Situation änderte sich erst in der Endphase des Ost-West-Konfliktes. Unter dem Eindruck wachsenden wirtschaftlichen Rückstands gegenüber dem Westen war die Sowjetunion bereit auch Verträge abzuschließen, die man zuvor noch als nachteilig für die strategische Stabilität mit den USA angesehen hatte, wie den Vertrag über die Begrenzung von Mittelstrecken-Nuklearwaffen (INF). Das Tempo der Rüstungskontrolle steigerte sich enorm, und die Abkommen waren nun regelmäßig mit Reduzierungen von Waffensystemen verbunden. Rüstungskontrolle und Abrüstung fanden parallel zueinander statt. Mit dem INF-Vertrag wurde eine bestimmte Klasse nuklearer Waffensysteme abgebaut. Auf START I folgte START II mit tiefen Einschnitten bei den strategischen Nuklearwaffen, obwohl START II nie ratifiziert wurde. Die Chemiewaffenkonvention wurde ausgehandelt, die die Abschaffung einer ganzen Kategorie von Waffen vorsieht. In Europa wurde der Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE) abgeschlossen und die Streitkräfte in Ost und West deutlich reduziert.

Auch in dieser kurzen Hochphase der Rüstungskontrolle blieb das Kriterium der Stabilität vorrangig. Abrüstung war wichtiges Nebenziel und wurde beschränkt auf Fälle, die allgemein als stabilitätsfördernd angesehen wurden. Die Zerstörungswirkung wurde ebenfalls stärker beachtet, etwa bei der Aushandlung der Chemiewaffenkonvention. Das Kriterium der Kostenersparnis blieb weiterhin im Hintergrund, obwohl finanzielle Engpässe viele Abrüstungsschritte beflügelten. Nur am Rande wurden die Kosten der Abrüstung, nämlich die Verschrottung oder Entsorgung der Waffen, bedacht, die in einzelnen Fällen erheblich sein können, so beispielsweise bei den Chemiewaffen, bei der Entsorgung der Atomsprengköpfe oder beim Räumen von Minen.

Eskalation – Stabilität – Deeskalation

Parallel zur Definition des Konzeptes der »arms control« mit dem Hauptziel der Sicherung der Stabilität zwischen gegnerischen Systemen, propagierten die Vertreter der klassischen realistischen Schule, der »strategic studies«, in den USA das Konzept der Eskalation. Die RAND Corporation etwa oder Hermann Kahn,7 bemühten sich um Konzepte, Nuklearwaffen im Krieg einsetzen zu können und dabei selbst Herr der Lage zu bleiben, also die Eskalation zu beherrschen. Auch wenn das Konzept der Eskalationskontrolle im strategischen Denken immer einen Stellenwert behalten hat, so setzte sich doch mit der Entstehung des nuklearen Gleichgewichts, der gegenseitig gesicherten Zerstörung (mutual assured destruction), die Erkenntnis durch, dass die Kontrolle der Eskalation nicht mehr nur von der Dominanz des eigenen militärischen Potenzials abhängig ist, sondern dass die Kategorie von militärischer Überlegenheit oder Unterlegenheit mit der Existenz und Anhäufung der Atomwaffen grundsätzlich in Frage gestellt war. Die Anerkenntnis dieses Zustandes war die Voraussetzung für Rüstungskontrolle und des Konzepts der Gemeinsamen Sicherheit, wie sie sich in den 1970er und 1980er durchsetzten.

Die Frage ist, kann aus diesen Erfahrungen – dass Eskalation auch im engen militärischen Sinne eine fragliche Kategorie geworden ist, dass das Konzept der Erhaltung der Stabilität immerhin auf eine Geschichte zurückblicken kann, in der die Nuklearwaffen nicht eingesetzt und eine direkte kriegerische Konfrontation zwischen Ost und West vermieden werden konnte – für die heutigen Krisen und Konflikte etwas abgleitet werden?

Die Fortentwicklung zu einem Kontinuum Eskalation – Stabilität – Deeskalation scheint logisch. Wenn Rüstungskontrolle in manchen Bereichen Eskalation verhindern und in anderen zur Stabilität beitragen konnte, warum nicht auch zur Deeskalation? Das Paradigma der Deeskalation nimmt – wie in der Vergangenheit das Eskalationskonzept und die Rüstungskontrolle – „konfrontative Zuspitzungen im internationalen System“, nämlich Krisen und Kriege, sowie „vor allem die Konfliktdynamik und ihre Akteure ins Visier“. Anders als die Eskalations- und Stabilitätskonzepte geht Deeskalation davon aus, „einen aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation“ bewirken zu können.8 Deeskalation will nicht nur die Krise verhindern, sondern durch Prävention oder Nachsorge positiv beeinflussen. Und die Frage schließt sich an, ob Abrüstung und Rüstungskontrolle dazu beitragen können oder ob sie lediglich Resultat der Deeskalation sind. Simpel ausgedrückt (und nochmals an das oben zitierte Diktum von Colin S. Gray angeknüpft und vom Kopf auf die Füße gestellt): Ist Rüstungskontrolle nötig, um den politischen Prozess zur Kontrolle von Krisen und Schaffung von Frieden zu ermöglichen; oder kann Abrüstung und Rüstungskontrolle nur dem politischen Prozess folgen und ist sie dann überhaupt noch nötig?

Praktische Ergebnisse von Rüstungskontrollverträgen – drei Beispiele

1. Die Ambivalenz der Ergebnisse des Atomwaffensperrvertrags: Die Rüstungskontrolle hat, trotz der Krise seit Mitte der 1990er Jahre, auch Erfolge zu verzeichnen. Der wohl wichtigste war die im Mai 1995 ausgehandelte unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages. Bei Abschluss des Vertrages im Jahr 1968 und der Ratifizierung im Jahr 1970 bestand die Befürchtung, dass innerhalb kurzer Frist mindestens zwei Dutzend Länder über Atomwaffen verfügen würden. Der Atomwaffenvertrag hat, trotz mancher Rückschläge, die Realisierung dieses Szenarios verhindert; eine Eskalation dieses Ausmaßes ist ausgeblieben, obwohl der Bau der Bombe in Israel, Indien und Pakistan sowie möglicherweise jetzt auch Nordkorea zur Sorge Anlass gibt. Der Vertrag sieht aber nicht nur die Begrenzung der Atomwaffenländer vor, sondern auch die Förderung der Entwicklung zivil nutzbarer Atomtechnologie und auch die Verpflichtung der Atomwaffenbesitzer, Verhandlungen zu einem möglichst frühen Termin zur generellen und vollständigen Nuklearabrüstung durchzuführen. Dieser letzte Passus im Vertrag (Artikel 6) wurde bei der Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 noch einmal bestätigt. Aber kein Nuklearwaffenstaat hat diese Verpflichtung jemals ernst genommen oder zeigt sich gewillt, die vollständige Abrüstung der Atomwaffen tatsächlich in Angriff zu nehmen. Die Bemühungen der Atommächte, aber auch vieler anderer Ländern, zielen weiterhin auf Verhinderung der Proliferation von Atomwaffen und der zur Herstellung relevanten Technologien ab. Diese Politik ist zweifellos zu begrüßen. Aber nicht nur die potenziellen Atomwaffen der Möchtegerne wie Nordkorea oder der Verdächtigen wie Iran und der außerhalb des Atomwaffensperrvertrages stehenden Atommächte wie Indien, Israel und Pakistan sind das Problem, sondern ebenso und vor allem die Atomwaffen der völkerrechtlich anerkannten Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA. Mohamed El Baradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), kritisiert die einseitige Forderung der Nuklearstaaten, dass andere Länder keine Nuklearwaffen beschaffen sollen. Mit Blick auf die USA und deren Verhältnis zu Nordkorea sagte er: „In Wahrheit gibt es keine guten oder bösen Nuklearwaffen. Wenn wir nicht aufhören, doppelte Standards anzuwenden, werden wir mit noch mehr Nuklearwaffen rechnen müssen.“ 9 Wenn die Eskalation in diesem Rüstungssegment weiterhin verhindert und zumindest Stabilität erhalten werden soll, muss eine Deeskalation einsetzen. Die Doppelmoral der Atommächte gefährdet die positiven Ergebnisse der Vergangenheit. Um die Atomambitionen heimlicher und potenzieller Atomwaffenländer zu stoppen, muss eine realistische Perspektive der schon 1968 vereinbarten vollständigen Nuklearabrüstung aufgezeigt werden. Angesichts der nach wie vor großen Zahl von Nuklearsprengköpfen können die Atommächte hier deutlich »Flagge zeigen« und durch Abrüstungsmaßnahmen einen Deeskalationsprozess einleiten, der sich dann vertraglich abgesichert verstärken kann. Abrüstung kann also als Basis oder Voraussetzung für Deeskalation genutzt werden.

2. Abrüstung und Rüstungskontrolle als Folge von Deeskalation – der KSE-Vertrag: 1990, kurz vor der Auflösung des Warschauer Vertragsorganisation (WVO), unterzeichneten die NATO und die WVO den für Europa gültigen Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE), in dem die Vertragsstaaten einem umfassenden Stabilitätssystem aber auch der Ausmusterung von über 50.000 schweren Waffen und einer deutlichen Reduzierung der Zahl der Soldaten zustimmten. Der Vertrag ist die Grundlage für die heute militärisch entspannte Situation in Europa. Dem Vertragsabschluss waren komplizierte und kontroverse Verhandlungen vorausgegangen. Mehr noch: Über mehr als ein Jahrzehnt hatten sich die erfolglosen Verhandlungen über »Mutual Balanced Force Reductions« (MBFR)hinzogen. NATO und WVO nutzten die Verhandlungen, um der anderen Seite Rüstungseinschränkungen abzuringen und damit die eigene Position zu stärken. Vordergründig konnte man sich nicht über die Personal- und Waffenbestände verständigen; jede Seite legte Zahlenmaterial vor, das die andere Seite anzweifelte.

Es bedurfte des KSZE-Prozesses (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der sogenannten Helsinki-Vereinbarung von 1975, in der vage, aber politisch bedeutsame Absprachen über die Achtung der Menschenrechte, wirtschaftliche Kooperation und Sicherheit in Europa getroffen wurden. Dieser politische Vorlauf von zwei Jahrzehnten (1973 fanden Konsultationen zu MBFR statt, 1992 trat der KSE-Vertrag in Kraft) war offensichtlich notwendig, um Vereinbarungen über den Abbau militärischer Potenziale zu treffen. In diesem Falle waren Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folge der Deeskalation. Das gesamte Verhältnis zwischen Ost und West musste sich gründlich ändern, vertrauensbildende Maßnahmen mussten erfolgen, bevor beide Seiten bereit waren, Abstriche an der im Zentrum Europas massierten militärischen Macht vorzunehmen. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die Waffenarsenale offensichtlich überdimensioniert. Abrüstung war nicht nur vertraglichen Vereinbarungen zu verdanken sondern vor allem dem verbesserten politischen Klima. Tatsächlich sind in der Laufzeit des KSE-Vertrages erheblich mehr Waffen abgebaut worden (ähnlich wie bei START), als der Vertrag dies erforderte.

3. Deeskalation als Ergebnis von Abrüstung – Anti-Personenminenvertrag und Kleinwaffen: Als in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine ganze Reihe institutionalisierter Rüstungskontrollforen in die Krise kam (einige Verträge sind bis heute blockiert), war dennoch der Abschluss der Landminenvereinbarung möglich. Mit dem Ende des Kalten Krieges und parallel zur Etablierung der USA als einziger Supermacht setzte in vielen Ländern eine Neubewertung militärischer Risiken und damit auch der Bedeutung der Rüstungskontrolle ein. Interventionen in fernen Regionen wurden zahlreicher. Multilaterale Friedensmissionen auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen rückten als neue militärische Aufgabenstellungen in den Mittelpunkt. Das Kriegsgeschehen in vielen Regionen der Welt wurde stärker beachtet und es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, aus humanitären Gründen auf gewaltsam ausgetragene Konflikte deeskalierend einwirken zu müssen.10 Neben der daraus abgeleiteten notwendigen Umstrukturierung der Streitkräfte fanden die in diesen Konflikten vorrangig eingesetzten Waffen, wie Landminen und Kleinwaffen, erhöhtes Interesse der internationalen rüstungspolitischen und rüstungskontrollpolitischen Diskussion.

Die Art der Rüstungskontrolle, wie sie im Kalten Krieg etabliert worden war, erwies sich als nicht angemessen für diese neue Situation. Denn Stabilität war offensichtlich nicht das wesentliche Problem. Wichtiger waren die Verminderung der Zerstörungswirkung von Waffen, konkret der Schutz von Menschenleben, die Reduzierung der Waffenkosten und als neues Ziel kam die Deeskalation von Konflikten hinzu. Der Anti-Personenminenvertrag ist ein gutes Beispiel für die Umorientierung der Rüstungskontrolle. Wichtige Staaten, voran die USA, wollten Schützenminen alter Bauart verbieten, Minen mit modernen Selbstzerstörungsmechanismen aber zulassen. Dieser Ansatz entspricht der klassischen Rüstungskontrolle. Dem Problem, in diesem Fall der Gefährdung von Zivilisten, soll durch moderne Technik begegnet werden. Doch die meisten Vertragsstaaten stimmten der technischen Variante nicht zu. Weil eine Lösung im Forum der traditionellen Rüstungskontrolle (im Rahmen der Abrüstungskonferenz in Genf) nicht erreichbar war, verhandelte eine große Zahl sogenannter »gutwilliger« Staaten erfolgreich in einem neuen Rahmen, dem »Ottawa-Prozess«.

Der Vertrag von Ottawa11 ist weit davon entfernt, das Problem der Landminen gelöst zu haben. Dennoch zeitigte der Vertrag nicht nur Erfolge bei der tatsächlichen Räumung von Minen und der Zustimmung einer Mehrzahl der Länder, in Zukunft keine Anti-Personenminen herzustellen, zu verkaufen oder einzusetzen, sondern darüber hinaus gab es indirekte Folgen. Regierungen, die jahrelang im Rüstungskontrollforum die Verhandlungen blockiert hatten, sahen sich plötzlich mit einem Vertrag konfrontiert, dem sie zwar nicht angehörten, der aber dennoch öffentlichen moralischen Druck auslöst. Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) hatten genügend Druck erzeugt, um den Vertrag zu ermöglichen. Während die NRO sich vornahmen, dieses positive Ergebnis in anderen Bereichen zu wiederholen, bemühten sich viele Regierungen darum, dass ihnen das Rüstungskontrollforum nicht nochmals aus der Hand genommen wurde. Die derzeitigen Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen zur Kontrolle der Kleinwaffen (also Pistolen, Gewehre, Maschinengewehre usw.) sind auch ein Ergebnis des Landminenvertrages. Zunächst widerwillig, inzwischen aber doch ernsthafter, wurden Maßnahmen vereinbart und ein Aktionsprogramm in Angriff genommen, um der Anti-Personenminenplage Herr zu werden.12 Im Falle des Ottawa-Vertrages war es also möglich (in begrenztem Umfange) Abrüstungsmaßnahmen zu vereinbaren, um die Folgen dieser Waffen in den Konflikten einzuschränken. Zwar sind sich die Fachleute darüber einig, dass Minen und Kleinwaffen nicht die Ursache für gewaltsame Auseinandersetzungen sind, aber die leichte Verfügbarkeit der Waffen erhöht das Gewaltniveau. Die Deeskalation ist Ergebnis von Abrüstung und Abrüstung wiederum trägt zur Transformation der Konflikte bei.

Wie weiter?

Was sind die Unterschiede zwischen der »klassischen« Rüstungskontrolle und etwa den Verhandlungen im Rahmen des Ottawa-Prozesses? Zunächst ist hervorzuheben, dass der am Ende des Prozesses stehende Vertrag von Ottawa kein Rüstungskontroll – sondern ein Abrüstungsvertrag ist. Militärische Stabilität spielt keine Rolle, sondern die Verhinderung der Zerstörungswirkung von Waffen und die Schaffung von Voraussetzungen für politische Verständigung zur Entschärfung von Krisen und Beendigung von Kriegen. Allerdings fehlen wichtige Unterschriften von Staaten unter dem Ottawa-Vertrag. Länder wie die USA, Russland, Indien und China wollen aus militärischen Gründen nicht auf Anti-Personenminen verzichten.

Die mit einer Unterzeichnung des Vertrages von Ottawa verbundenen Kosten sind relativ gering und die positiven wirtschaftlichen Folgen der Minenräumung machen die Kosten mehr als wett. Es gibt keine aufwendige Verifikationsmaschinerie, nicht einmal eine Institution (wie im Falle der Chemiewaffen), die das Abkommen überwacht. Die Vertragsstaaten überwachen sich gegenseitig und durch regelmäßige Vertragskonferenzen. Wichtiger aber ist, dass die internationale Szene von NRO, die im Abkommen gar nicht erwähnt ist, die Überwachung übernommen hat und entsprechende Verstöße anprangert. Die Kombination »gutwilliger« Regierungen, vielfältiger national oder international operierender NRO und mobilisierter Öffentlichkeit ist der beste, und im Grunde einzige, Garant für die Einhaltung des Vertrages.

Der Vertrag von Ottawa hat seine Grenzen. Trotzdem war der neue Ansatz im Ottawa-Prozess weit erfolgreicher als die Verhandlungen im Rahmen der traditionellen Rüstungskontrollforen. Der Ottawa-Prozess ist bisher der einzige Fall »humanitärer« Rüstungskontrolle geblieben – der Schutz der Zivilbevölkerung vor diesen Waffen steht im Mittelpunkt. Ansätze hierfür gibt es auch bei den Kleinwaffen. Sie sind die eigentlichen Massenvernichtungswaffen; da die meisten Menschen in Kriegen durch Kleinwaffen und nicht durch konventionelle Großwaffen oder Atomwaffen sterben, ist deren Kontrolle besonders dringlich.

Abrüstung und Rüstungskontrolle können keine Garantie dafür geben, dass Krisen und Konflikte deeskalieren. Es gibt sowohl Situationen, in denen Abrüstung und Rüstungskontrolle die Voraussetzung für Deeskalation sein können als auch umgekehrt, politisch vereinbarte Deeskalation das Herunterfahren der Rüstungsarsenale möglich macht. Rüstungskontrolle und Abrüstung können an beiden Möglichkeiten auch für die Zukunft ansetzen.

Anmerkungen

1) Rüstungskontrolle zielt auf die Stabilität zwischen Gegnern ab und kann auch kontrollierte Aufrüstung bedeuten, während Abrüstung die Reduzierung militärischer Ressourcen (Waffen, Personal, Finanzen) bedeutet.

2) INF = Treaty on the Elimination of Intermediate-Range and Shorter-Range Missiles 1988; START = Treaty on the Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms (START I 1994, START II, unterzeichnet 1993, nicht in Kraft); CWC = Chemical Weapons Convention 1997).

3) Baudissin, Wolf von und Lutz, Dieter S.: Kooperative Rüstungssteuerung. Sicherheitspolitik und strategische Stabilität. Baden-Baden, Nomos, 1981.

4) Halperin, Morton and Thomas Schelling: Strategy and arms control. Washington, DC, Pergamon-Brassey’s, 1975.

5) Der Palme-Bericht: Common Security. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit, Berlin 1982.

6) Colin S. Gray: House of Cards. Why Arms Control Must Fail. Ithaca, N. Y., 1992.

7) Herman Kahn: On Escalation. Metaphors and Scenarios, London: Pall Mall Press 1965 (Hudson Institute Series on International Security and World Order).

8) Siehe den Beitrag von Corinna Hauswedell in dieser W&F Ausgabe, S. 7.

9) El Baradei, Mohamed: U.S. Should Set Nuclear Disarmament Example, Reuters 26. August 2003. Zitiert in Disarmament Diplomacy, Nr. 73, Oktober/November 2003, S. 43.

10) Siehe hierzu jüngst United Nations High-level Panel on Threats, Challenges and Change: A More Secure World. Our Shared Responsibility. New York 2004.

11) Zum Inhalt des Vertrages sowie den Mitgliedsländern siehe SIPRI: SIPRI Yearbook 2004, Oxford University Press, Oxford 2004, S. 803 – 804.

12) Graduate Institute of International Studies: Small Arms Survey 2002. Oxford, Oxford University Press.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conversion (BICC). Er ist Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) für Nordkorea und Vorsitzender des Vorstands von Wissenschaft und Frieden.