Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE)

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

von Ingo Arend und Michael Kalman

In Wien verhandeln seit dem 9. März 1989 die Mitgliedsstaaten von Warschauer Pakt und NATO in der seit langem aussichtsreichsten Abrüstungskonferenz zwischen Ost und West über die Reduzierung konventioneller Rüstung in Europa. Zusammen mit dem INF-Abkommen könnten diese »Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa« (VKSE) einen Wendepunkt markieren, steht doch erstmals nahezu das gesamte Militärpotential in Europa zur Verhandlung an. Für Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat deshalb “das Jahr 1989 gute Aussichten, ein entscheidendes Jahr der Abrüstung zu werden” (WDR-Interview vom 16.1.1989). Selbst NATO-Oberbefehlshaber General John Galvin betrachtet die Wiener Verhandlungen als “die wichtigsten für Europa”. (FAZ vom 21.1.1989)
Trotz der neuen Aufrüstungsversuche seitens der NATO durch die sogenannte »Modernisierung« scheint nämlich nicht nur die politische, sondern auch die militärische Rivalität in Europa ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Für den sowjetischen Außenminister Schewardnadse geht es denn auch bei den Abrüstungsverhandlungen “nicht nur um die Beseitigung von Waffen, sondern um die Überwindung der Teilung Europas”. (Rede auf der Schlußberatung der Wiener KSZE-Folgekonferenz am 19. Januar 1989) Fortgesetzten, konsequenten öffentlichen Druck auf den weiteren Abrüstungsprozeß vorausgesetzt, könnte sich aus dieser chancenreichen politischen Situation des alten Kontinents das Modell einer anderen Entwicklungslogik in den internationalen Beziehungen herausbilden: Echte Abrüstung und die Ersetzung des Abschreckungssystems. Wird es gelingen, die militärische Konfrontation zu beenden, Kriege und militärische Angriffe in Europa unmöglich zu machen, die europäische Nachkriegsordnung in eine entmilitarisierte europäische Friedensordnung umzugestalten und die Periode des Kalten Krieges endgültig hinter sich zu lassen?

I. Konventionelle Abrüstung und die Sicherheit in Europa

Pulverfass Europa – Glacis Bundesrepublik

Militärische Rivalität und Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt haben die in Friedenszeiten größte militärische Konzentration in der Geschichte hervorgebracht. Europa gleicht einem Waffenlager ohnegleichen. Rund 14 Millionen aktive Soldaten und Reservisten stehen im Dienst auf beiden Seiten unter Waffen. Dazu kommen über 200 stehende Divisionen Bodentruppen und über einhundert Reserve-Divisionen. Zu den ständig in Europa stationierten Truppen zählen: ca. 75.000 schwere Kampfpanzer, 60.000 Artilleriegeschütze, 30.000 Schützenpanzer und 12.000 Kampfflugzeuge. Dazu kommen noch ca. 1000 Kriegsschiffe und U-Boote. Zählt man die Ausgaben beider Bündnisse zusammen, verzehrt die militärische Konfrontation in Europa ungefähr zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für Streitkräfte von einer Billion Dollar jährlich. Die Verteidigungsausgaben verschlingen ca. 5 Prozent des Bruttosozialproduktes der NATO-Staaten und ca. 10 Prozent desjenigen der Warschauer-Pakt-Staaten.(vgl.: Götz Neuneck: Strukturelle Angriffsunfähigkeit und konventionelle Rüstungskontrolle. Wege zur Entmilitarisierung des Ost-West-Verhältnisses. Heft 35 der Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH, Dezember 1988, S. 1-7)

Allein in der mit 280 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Bundesrepublik – die gerade mal so groß ist wie der US-Bundesstaat Oregon – sind etwa 900.000 Soldaten und 10.000 Panzer stationiert. Mit insgesamt über vier Millionen Flügen pro Jahr hat die Bundesrepublik den dichtesten Luftverkehr der Welt. 580.000 davon sind militärisch. Mehr als zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik sind Tieffluggebiete. Denkt man sich den Besatz an Kernkraftwerken und chemischer Industrie hinzu, wird deutlich, daß bereits ein mit wenig aufwendigen Mitteln konventionell geführter Krieg das Ende ganz Europas und insbesondere der Bundesrepublik bedeuten würde. Die liberale Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« resümiert die waffenstarrende Situation: “Dies ist absurd in einer Zeit, in der die Spannung zwischen den Blöcken nachgelassen hat.” (Theo Sommer: Raketen – wider deutschen Willen?, Die Zeit, Nr. 18 vom 28.4.1989).

Ziele konventioneller Abrüstung

Diese Zahlen und die geschilderte Situation machen nicht nur die Dringlichkeit des Problems konventioneller Abrüstung, sondern auch seine Komplexität deutlich. Die bisherigen Ansätze, etwa im Bereich der MBFR-Verhandlungen, haben sich jedoch als untauglich erwiesen, dieser Problemstellung gerecht zu werden. Sie scheiterten am mangelnden politischen Interesse beider Seiten und an der Datenfrage. (Vgl. ausführlich Kapitel II. – MBFR)

In den von der Bundeswehr und NATO vorgelegten Kräftevergleichen wird in der Regel nur mit der Zahl der Divisionen gearbeitet. Das Weißbuch 1985 und die 1988 von der Hardthöhe präsentierten Zahlen beharren auf einer Drei-zu-Eins-Überlegenheit des Warschauer-Paktes bei Waffen und Divisionen und wurden selbst von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als unnötige Gruselstory abgetan, deren “Waffenzählen nicht gerade nach Adam Riese” gestrickt worden sei (FAZ vom 23.2.1988). Ein bis auf drei Stellen hinter dem Komma exakter Kräftevergleich ist im übrigen auch gar nicht so wichtig, solange man die Datenfrage nicht zur alles entscheidenden Voraussetzung macht. Dahinter steckte bislang in der Regel das Bemühen, den fehlenden politischen Willen zur Abrüstung zu verschleiern. Allerdings ist die prinzipielle Offenheit in der Datenfrage eine wichtige Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsabsichten. Und bis Anfang 1989 trug auch die Warschauer-Pakt-Seite mit ihrer traditionellen Geheimniskrämerei dazu nicht gerade bei.

Im Gegensatz zur atomaren Abrüstung mit der klaren Zielstellung der restlosen Beseitigung atomarer und natürlich auch chemischer Massenvernichtungsmittel auf Null, kurz: Denuklearisierung, läßt sich angesichts der Größenordnung und Vielschichtigkeit des Übermaßes an konventionellen Rüstungen und Streitkräften für diesen Bereich der Abrüstung als konkretes Verhandlungsziel nicht so ohne weiteres die Forderung vollständiger Demilitarisierung West- und Osteuropas aufstellen.

Ein umsetzbarer Ansatz für die Einleitung eines Prozesses konventioneller Abrüstung, an dessen Ende die Demilitarisierung stehen könnte, wird erst sichtbar, wenn man sich die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien einer neuen europäischen Sicherheitspolitik vergegenwärtigt. Diese basieren auf der Annahme, daß Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam mit politischen Mitteln erreicht werden kann. Eigene Sicherheit muß dabei stets auch die Sicherheit des Nachbarn oder des Gegenüber berücksichtigen, zumal auch Gefahren und Krisen wie Umweltverschmutzung, zivile Reaktorunfälle, von den Folgen eines Atomkrieges ganz zu schweigen, nicht vor Grenzen haltmachen. Die Grundprinzipien einer so verstandenen Sicherheitspolitik müssen demnach lauten:

  • Beseitigung des militärischen Faktors als Mittel der Politik durch Abrüstung auf allen Ebenen
  • Schaffung kriegsverhindernder, vertrauensbildender und entspannungsfreundlicher Strukturen
  • Abrüstung muß Mittel zum Zweck, das heißt zur Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes und die Umformung dieser Systemauseinandersetzung in einen friedlichen Wettbwerb sein
  • Durchsetzung umfassender und systemübergreifender Kooperation zur Lösung der globalen Probleme (Abrüstung, Entwicklung, Ökosphäre, Ressourcen, Menschenrechte)

Daraus lassen sich dann drei Hauptziele für den militärischen Bereich ableiten:

Überwindung der atomaren Abschreckung, das heißt Abschaffung der Massenvernichtungswaffen und C-Waffen Herstellung konventioneller Stabilität durch nichtoffensive Verteidigung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit dauerhafte Senkung der Rüstungsausgaben

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und konventionelle Abrüstung

Auch in dem Mandat über die VKSE-Verhandlungen (siehe Kapitel III.) kehrt der Begriff der »konventionellen Stabilität» wieder. Was er schließlich konkret bedeuten, wie er in konkrete gegenseitige Schritte der Abrüstung und Umstrukturierung umgesetzt werden soll, darüber wird in den nächsten Jahren zäh verhandelt werden.

Militärexperten, Friedensforscher und Sicherheitspolitiker haben in den letzten Jahren eine Fülle von Konzepten zur konventionellen Stabilisierung entwickelt. (Ein Überblick bei: Karsten D. Voigt, Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte.In: aus politik und zeitgeschichte B 18/1988). Diese Vorschläge stellen vor allem militärische Lösungsansätze dar. Ihre Einordnung in übergreifende politische Konzeptionen wie in die Konturen einer Neuen Europäischen Friedensordnung oder dem Gemeinsamen Haus Europa geschieht allerdings selten. Ihre Wirksamkeit ergibt sich also erst im Rahmen des geschilderten politischen Gesamtkonzepts. Gleichwohl haben sich um den Begriff »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit» (StruNa), der Anfang der achtziger Jahre aufkam (vgl. Hans-Peter Dürr, Albrecht A.C. von Müller, NATO am Scheideweg. In: Frankfurter Rundschau, 1.+ 3.7.1983) Konzepte gruppiert, die aus realpolitischer Sicht sinnvolle Vorschläge enthalten. Sie stellen sozusagen die verteidigungs- und militärstrategische Ebene der politischen Konzeption Gemeinsame Sicherheit dar.

In diesem Zusammenhang von Militärstrategie und Politik soll das Stabilitätsziel durch die Orientierung an folgenden Kriterien erreicht werden:

  • Angriffsunfähigkeit: alle offensiven Optionen (sei es die Fähigkeit zu raumbesetzenden Operationen oder zu tiefen Schlägen – deep strikes – in gegnerisches Hinterland) müssen unmöglich gemacht werden. Damit würde ein signifikanter Abbau von Bedrohungen und Bedrohungsvorstellungen einhergehen.
  • Verteidigungsfähigkeit durch ein Potential zur strikten und effizienten Abhaltung eines gegnerischen Angriffs verlangt gegenseitige Verteidigerüberlegenheit. Die defensiven Mittel der beiden Kontrahenten müssen ihre Angriffspotentiale bei weitem übertreffen.
  • Abrüstung: aus der konzeptionellen Funktionslosigkeit von Offensivpotentialen ergeben sich weitreichende Perspektiven der Abrüstung.
  • Strukturveränderung: Streitkräfte und Bewaffnung müssen so angeordnet und gestaffelt sein, daß ihr defensiver Charakter deutlich wird.

(vgl.: E. Bahr / D. S. Lutz (Hg.), Gemeinsame Sicherheit Dimensionen u. Disziplinen, Baden Baden 1986-1987, Band I-III).

Dementsprechend definieren der ehemalige NATO-General Gerd Schmückle und der Starnberger Militärexperte Albrecht A.C. von Müller konventionelle Stabilität als “den Zustand einer robusten, wechselseitigen Verteidigerdominanz. Hier geht es also um ein militärisches Kräfteverhältnis, bei dem die nicht durch Überraschungsschläge zu gefährdende Verteidigungsfähigkeit beider Seiten deutlich größer ist als die Angriffsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers. Die Verwirklichung eines derartigen Zustandes setzt die bewußte Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitigem Abbau von Angriffsfähigkeit in Ost und West voraus.” (Schmückle/von Müller: Das Konzept der “Stabilen Abhaltung”, Manuskript, Starnberg, April 1988)

Schwachpunkt der »StruNa«-Konzepte ist die Nuklearfrage. StruNa strebt zunächst keine vollständige Denuklearisierung an. Das verwandte Konzept der »stabilen Abhaltung« will eine nukleare Minimalabschreckung durch einige hundert Sprengköpfe mit politischem Demonstrationscharakter. Außerdem birgt StruNa die Gefahr der Verlagerung eines Rüstungswettlaufs auf den Bereich defensiver Waffensysteme.

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist, und hier wird die gemeinsame Sicherheit sozusagen »sinnfällig«, dann gegeben, wenn alle darin übereinstimmen, daß sie gegeben ist. Mit ihr werden die materiellen Voraussetzungen für Blockauflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung geschaffen.

In dieser Perspektive hat sie bereits Eingang in konkrete Politik gefunden. Vordenkerarbeit in dieser Hinsicht haben die SPD und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) geleistet. Mit der Vorlage des gemeinsamen Papiers für vertrauensschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa hatten die Sozialdemokraten den Rahmen ihrer “zweiten Phase der Entspannungspolitik” nach den gemeinsamen Erklärungen mit der KPdSU und der SED um ein weiteres Stück vervollständigt. Diese Positionen finden sich inzwischen großenteils in den offiziellen Verhandlungszielen wieder.

Das Papier knüpft an die Warschauer-Pakt-Vorschläge von 1986 (Budapest) und 1987 (Ost-Berlin) sowie an den Jaruzelski-Plan von 1987 an (vgl. Teil II des Dossiers). Die Thesen fassen Vorschläge, “Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa” zusammen.

Aus ihm lassen sich Kriterien für eine solche Umorientierung ableiten:

  • gleiche Obergrenzen für Waffen, Verbände und Soldaten
  • drastische Reduzierung der Truppenstärken
  • Reduzierung durch weitgehende Abrüstung von Waffen und Verbänden auf ein niedrigeres Niveau als vorher
  • Beseitigung der Offensivfähigkeiten
  • Durchsetzung vertrauensbildender Maßnahmen und Verfikationsmodelle
  • Verbote und Beseitigungen bestimmter Waffen und Technologien
  • beidseitiges Vorgehen unter Einschluß eigenständiger Initiativen
  • paralleles Vorgehen auf allen Feldern mit Vorrang bei den atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen. (Gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe SPD/PVAP über Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa, Bonn 1988).
  • Bündnisimmanenz des Prozesses. Die existierenden Militärbündnisse, sind eine unausweichbare Realität, die nur aus den Bündnissen heraus überwunden werden kann. Statt der isolierten und sterilen Diskussionen über die Frage einer abstrakten Blockzugehörigkeit, geht es beim Konzept Gemeinsamer Sicherheit auch darum, “die Bündnisse auf der Grundlage eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu einem aktiven Faktor beim Umbau der Ost-West-Beziehungen zu machen”, wie es der Starnberger Friedensforscher Albrecht von Müller (auf dessen Forschungen das Wortungetüm Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zurückgeht) und der ehemalige Bundeswehr- und NATO-General Gerd Schmückle forderten.

Nach Ansicht der Sicherheitsexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, Katrin Fuchs, sind Abrüstung und Beseitigung besonders der offensivfähigen Waffen die Voraussetzung, um eine wirklich einschneidende Reduzierung der Militärausgaben zu erreichen, die wiederum dringend gebraucht wird, wenn der Menschheit ihre vielfältigen Probleme nicht endgültig über den Kopf wachsen sollen. Dies hatte schon der Nürnberger SPD-Parteitag gefordert.(Parteitag der SPD in Nürnberg, 25.-29.8.1986, Beschlüsse, S. 861-897).

Konventionelle und nukleare Abrüstung hängen in diesem Prozeß eng zusammen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht darum die Auseinandersetzung über die nuklearen Kurzstreckenraketen. An dieser Frage scheinen alle Widersprüche der nuklearen Abschreckungsstrategie wie in einem Brennglas auf. Aufgrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und deren Rückwirkungen auf die NATO-Strategie sieht der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer die NATO in einer “Existenzkrise”. (Rede im Deutschen Bundestag, 28.4.1989) Zugleich werden – im Lichte der Erfahrungen von Reykjavik, als “die Supermächte bereit waren, die Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit einzureißen und über die Köpfe ihrer Verbündeten hinweg die nukleare Abschreckung zur Disposition zu stellen” (Günther Nonnenmacher, FAZ vom 29.4.1989) – die Befürchtungen über eine unkontrollierbare Veränderung des sicherheitspolitischen status quo zu Lasten Europas und der Deutschen laut, die zu einer psychologischen Hemmschwelle für den Abrüstungsprozeß werden könnten.

Insgesamt steht fest, daß mit den Wiener Verhandlungen aufgrund ihres Zusammenhanges in die bevorstehende Entscheidung über das NATO-Gesamtkonzept der Gesamtzusammenhang aller Fragen von Abrüstung, Rüstungskontrolle und politischer Kooperation auf der Tagesordnung steht. Für die realistischen Konservativen stellt sich folgerichtig die Frage einer “verläßlichen Ordnung für einen zerbrechlichen Kontinent”, in der die militärische Sicherheitskomponente “nicht mehr allein das gestaltende Element sein” kann. (Michael Stürmer, FAZ vom 29.4.1989). Sie warnen deshalb davor, Chancen zu verpassen: “Die NATO muß dort auf Gorbatschow eingehen, wo es für eine Neuordnung der europäischen Sicherheit nötig ist. Sie muß begreifen, daß die Nachkriegszeit zu Ende ist und die im kalten Krieg erstarrten Fronten in Bewegung geraten sind.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 18.4.1989)

Im Unterschied zu den INF-Verhandlungen ist die Bundesrepublik diesmal bei den VKSE-Verhandlungen als direkt beteiligter Verhandlungspartner gefordert. Damit wird ihre Schlüsselrolle an der Nahtstelle der Systeme noch deutlicher. Hier wird sich besonders klar zeigen, ob die Bundesregierung dafür sorgen wird, daß einschneidende konventionelle Abrüstungsschritte möglich werden, damit ein weitergehender Abrüstungsprozeß ermöglicht wird.

II. Die Entwicklung der Positionen zur konventionellen Abrüstung 1986-1989.

Der Gorbatschow-Plan

Am 15.1.1986 legte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau einen Plan zur phasenweisen Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor, den sogenannten Gorbatschow-Plan.

Den Beginn dieser Entwicklung sollte die 50prozentige Reduzierung aller strategischen Waffen machen. Gleichzeitig sollten USA und Sowjetunion auf die Entwicklung von Weltraumwaffen und weitere Atomwaffenversuche verzichten.

Als weitere Vorschläge enthielt der Gorbatschow-Plan die Bereitschaft der UdSSR, alle Abkommen, auch vor Ort, der Verifikation (Kontrolle) zu unterwerfen. Gorbatschow sprach sich darin in sehr allgemeiner Form auch für Fortschritte bei der konventionellen Rüstungskontrolle aus. Er erklärt außerdem die Bereitschaft, durch Abrüstung die Entwicklung der Dritten Welt zu fördern.

Mit diesem Vorschlag – man mag es drehen und wenden wie man es will – hatte die Sowjetunion auch ganz offiziell als erste konsequent mit der atomaren Abschreckungsideologie gebrochen und ihre Bereitschaft verkündet, einen Umwandlungsprozeß analog zu den genannten Kriterien Gemeinsamer Sicherheit einzuleiten.

Bewegung in die Frage konventioneller Abrüstung kam erst durch eine neue Initiative des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow auf dem SED-Parteitag am 18. April 1986 in Ost-Berlin. In seinem Vorstoß schlug er “bedeutende Reduzierungen aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Fliegerkräfte bei Auflösung der jeweiligen reduzierten Truppenteile und Vernichtung oder nationaler Lagerung der Rüstungen” vor. Diese sollten verknüpft werden mit dem “Abbau nuklearer Rüstungen operativ-taktischer Bestimmung”. Die Reduzierungen sollten in einer von beiden Seiten kontrollierten Weise vorgenommen werden. Dazu zählte Gorbatschow auch internationale Überprüfungsformen, z.B. Vor-Ort-Inspektionen. Als Reduzierungsraum schlug Gorbatschow erstmals – und damit verließ er den Ansatz der bisherigen MBFR-Gespräche – das Gebiet “vom Atlantik bis zum Ural”, also ganz Europa unter Einbeziehung der westlichen UdSSR-Militärbezirke. vor. Gorbatschow begründete seine Initiative darüberhinaus mit dem Wunsch, westliche Einwände gegen weitergehende Schritte auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung aus dem Weg zu räumen.

Die NATO reagierte auf diesen Vorschlag und die neue Situation, die durch ihn entstanden war auf ihrer Frühjahrstagung im Mai 1986 im kanadischen Halifax mit der Einsetzung einer »High Level Task Force« (HLTF), die die Vorschläge überprüfen sollte. (Arms Control Reporter, 1/1989, 407.A.3; FAZ vom 30.6.1986)

Budapester Appell – Brüsseler Erklärung

Gorbatschows Vorschlag wurde auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschußes des Warschauer-Paktes am 11. Juni 1986 in Budapest aufgenommen und als »Budapester Appell» verkündet. In ihm näherte sich der Warschauer Pakt noch weiter an die westlichen Vorstellungen an.

Der Appell sah als ersten Schritt vor, “eine einmalige Reduzierung der Truppenstärken der Staaten der beiden einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse innerhalb von ein bis zwei Jahren um 100.000 bis 150.000 Mann auf jeder Seite vorzunehmen… Bei entsprechender Bereitschaft der Länder des nordatlantischen Bündnisses würden dadurch Anfang der 90er Jahre die Landstreitkräfte beider Bündnisse in Europa um ca. 25 Prozent des heutigen Niveaus reduziert werden.” Es handelte sich also um einen Vorschlag, der symmetrische Reduzierungen in beiderseits gleichem Umfang und den prozentualen Abbau von einem gegebenen Niveau vorsah und mit diesem Element noch keine wesentliche Neuerung bedeutete.

Außerdem wurde die Notwendigkeit der Umstellung der Militärdoktrinen auf “Verteidigungsprinzipien” festgestellt. Maßnahmen zur Vermeidung eines Überraschungsschlages und von Offensivoperationen sollten eingeleitet werden. Zur weiteren Erörterung der Vorschläge zur konventionellen Rüstung sollte ein “spezielles Forum” oder eine erweiterte MBFR-Runde diskutieren.

Im Appell heißt es weiter: “Die durch entsprechende Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen freiwerdenden Mittel dürfen nicht für die Schaffung neuer Waffenarten oder für andere militärische Zwecke eingesetzt, sondern müssen für die ökonomische und soziale Entwicklung verwendet werden.” (Appell der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages an die Mitgliedstaaten der NATO, an alle europäischen Länder zur Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa. TASS-APN, Dokumente, Nr. 54/86, Köln 12.6.1986)

In Reaktion auf diese Entwicklung verabschiedeten die NATO-Außenminister am 12. Dezember 1986 die »Brüsseler Erklärung», in der sie dem Warschauer Pakt vorschlugen im Rahmen und unter dem Dach des KSZE-Prozesses neue Verhandlungen über ein Mandat für Verhandlungen über die Konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) neben den weiterzuführenden MBFR– und KVAE-Verhandlungen aufzunehmen und deren Geltungsbereich ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural umfassen sollte. Die Brüsseler Erklärung verlangte weiter den einseitigen Abbau des von des NATO wahrgenommenen Übergewichts des Warschauer-Paktes im konventionellen Bereich. Die vorgeschlagenen Mandatsverhandlungen begannen schließlich am 17. Februar 1987 im Rahmen des KSZE-Folgetreffens in Wien. (FAZ, 12.12.1986; vgl. auch: Sigurd Boysen: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural. In: aus politik und zeitgeschichte, B 44/87, S. 24ff)

Asymmetrie-Zugeständnis in Prag

Ein weiteres Einschwenken auf westliche Forderungen zeigte sich schließlich erneut in einer Rede Gorbatschows am 10. April 1987 in Prag, als er erstmals existierende Ungleichgewichte im konventionellen Bereich des Ostens zugab und asymmetrische Reduzierungen akzeptierte. Gorbatschow erklärte, die Sowjetunion sei für “die Beseitigung irgendwelcher Elemente der Ungleichheit, der Asymmetrie, wenn es diese bei diesen Waffen tatsächlich gibt.”

In dem wiederum dieser Rede folgenden Beschlüssen des Warschauer Paktes von Ostberlin vom 28./29. Mai 1987 wurden “Konsultationen über entstandene Ungleichgewichte bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach ihrer Beseitigung”, also Verhandlungen zur “Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.” Damit war quasi vorgeschlagen, gemeinsam auf die Herstellung einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit hinzuwirken. Wiederum wird die Auflösung von WVO und NATO im Falle der Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit vorgeschlagen und zum ersten Mal werden Konsultationen zu Fragen der Militärdoktrinen vorgeschlagen. Die Konferenzteilnehmer erteilten jedem militärischem Angriff gegen ein Staatenbündnis eine Absage.

Zusätzliche Zielstellungen tauchten in Form der Schaffung von “Zonen verringerter Rüstungskonzentration” auf, an deren Frontlinie an der Nahtstelle der Bündnissysteme die Rüstungs- und Streitkräftekonzentration verringert werden solle. (Europa-Archiv, 1987, 14, S. D 392-394)

Vorausgegangen war diesem Vorschlag am 8. Mai 1987 die Präsentation des sogenannten Jaruzelski-Plans, der, auf den polnischen Plänen für eine nuklearwaffenfreie Zone und das Einfrieren der atomaren Rüstungen aufbauenden Vorschläge zur atomaren und konventionellen Rüstungsverminderung im MBFR-Gebiet machte und vorschlug, die Waffen allmählich abzuziehen, die für einen Überraschungsangriff besonders gut geeignet sind. Außerdem sieht der Jaruzelski-Plan blockübergreifende Gespräche über den Charakter der Militärdoktrinen vor.

Die NATO reagiert auf die östlichen Vorschläge auf ihrer Außenministertagung in Reykjavik am 12. Juni 1987 mit der Forderung nach der “Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung” (Europa-Archiv, Nr. 14/1988, S. D 382f.).

Ende 1987 einigten sich die 23 Verhandlungspartner bei den KRK-Mandatsverhandlungen auf eine Liste der künftigen Verhandlungsgegenstände, die sich im wesentlichen an der Brüsseler Erklärung der NATO von 1986 orientierte und

  • die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts bei den konventionellen Truppen und Waffensystemen,
  • den Abbau der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zu großräumigen Offensiven,
  • die Beseitigung von Disparitäten, die sich nachteilig auf die Stabilität und Sicherheit auswirken
  • sowie regionale Differenzierungen hinsichtlich der Obergrenzen der verbleibenden Potentiale umfasste. (Arms Control Reporter, 1-89, 407.A.3/Mutz, in: Friedensgutachten 1988, S. 124)

Brüsseler Erklärung: “Der Weg nach vorn”

Im März 1988 versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO erneut in Brüssel zu einem Gipfeltreffen, um die Ergebnisse der Wiener Mandatsverhandlungen zu würdigen. Die NATO-Führer erklärten in ihrer Deklaration “Der Weg nach vorn” ihre Bereitschaft zu Gesprächen über konventionelle Rüstungsreduzierung, allerdings nur im Rahmen eines noch auszuarbeitenden Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Gespräche sollen der “Herstellung eines stabilen und sicheren Niveaus konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten in ganz Europa” dienen. Die NATO wandte sich wegen der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes in Europa gegen jede Denuklearisierung. Eine gesonderte Erklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle wiederholt die Ziele der NATO bei den VKSE-Mandatsverhandlungen Ende 1987.

Die Erklärung stellte fest: “Das Bestehen eines konventionellen Ungleichgewichts zugunsten des Warschauer Paktes ist nicht der einzige Grund für die Anwesenheit von Kernwaffen in Europa. Die Bündnisstaaten sind und werden von sowjetischen nuklearen Streitkräften verschiedener Reichweiten bedroht. Obwohl ein konventionelles Gleichgewicht für die (Gesamt-)Stabilität wichtige Vorteile schaffen würde, kann nur die nukleare Komponente einen Angreifer vor unannehmbare Risiken stellen. Deshalb benötigt die Abschreckung für die übersehbare Zukunft eine zureichende Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften.”

Die NATO verlangte, einen “hohen, asymmetrischen Abbau des Ostens, der beispielsweise den Abzug von Zehntausenden von Waffen des Warschauer Paktes beinhaltet, die für Überraschungsangriffe dienen können.”(Europa-Archiv, Nr. 7/1988, D201-208)

Auf seiner Außenministertagung am 6.4.1988 in Sofia ließ der Warschauer Pakt die Forderung nach einer Koppelung von VKSE-Verhandlungen mit Gesprächen über die taktischen Nuklearwaffen und Systemen mit doppelter Verwendungsfähigkeit fallen und befürwortet separate Verhandlungen.

Warschau: Drei-Stufen-Plan

Am 8. Juni 1988 stellte der sowjetische Außenminister Schewardnadse vor der UN-Generalversammlung in New York einen Drei-Stufen-Plan zur konventionellen Abrüstung in Europa vor, der auf einer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer-Paktes am 15. und 16. Juli 1988 in Warschau konkretisiert und verkündet wurde. Ziel dieses Plans war es, einen solchen “Zustand herbeizuführen, bei dem die Länder der NATO und des Warschauer Vertrages Kräfte und Mittel behalten, die für die Verteidigung erforderlich sind, jedoch für einen Überraschungsangriff und für Angriffsoptionen nicht ausreichen.”

In der ersten Etappe dieses Plans soll die “beiderseitige Liquidierung der Ungleichgewichte und Asymmetrien” und die Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen erreicht werden. In der zweiten Etappe “würden die Streitkräfte jeder Seite um ungefähr 25 Prozent (ca. 500.000 Mann) mit ihrer strukturmäßigen Bewaffnung reduziert”, in der dritten Phase schließlich “würden weitere Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen erfolgen und die Streitkräfte beider Seiten strikten Verteidigungscharakter annehmen.” Dazu gehört auch der Austausch von Ausgangsdaten über das Ausmaß der konventionellen Rüstung noch vor Verhandlungsbeginn. Außerdem sollen entlang der Berührungslinie der beiden militärisch-politischen Bündnisse Zonen verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden. Mit dieser Tagung hatte der Warschauer Pakt offiziell und eindeutig die Position eingenommen, daß zuerst die Asymmetrien zwischen den Paktsystemen abgebaut und die weiteren Reduktionen dann in gleich großen Schritten unternommen werden müssen. (Europa-Archiv, Nr. 15, D420-429)

UNO-Initiative Gorbatschows

Am 7. Dezember 1988 legte Michail Gorbatschow auf der 43. UNO-Vollversammlung noch einmal nach und verkündete einen weitreichenden einseitigen Rüstungsschnitt. Danach wird in den Jahren 1989 und 1990 der Personalbestand der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann verringert, zugleich werden aus der DDR, der CSSR und Ungarn 50.000 Mann, 10.000 Panzer 8.500 Systeme der Artillerie, 800 Kampfflugzeuge abgezogen, sechs sowjetische Panzerdivisionen aufgelöst. Die verbliebenen Truppen im europäischen Teil der Sowjetunion werden erheblich verringert und die bei den Verbündeten verbliebenen Truppen werden neu, d.h. defensiv umstrukturiert. Von bloß symbolischer Effekthascherei konnte bei diesem Vorschlag eigentlich keine Rede sein: “Gorbatschows Vorschlag kommt einer Reduzierung der besten und modernsten sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa und in den westlichen Militärbezirken Rußlands um ein Drittel gleich.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 9.12.1988).

(Rede Michail Gorbatschows vor der UNO in New York, Sowjetunion heute, Nr. 1, Januar 1989).

Genau einen Tag später reagierte die NATO: Am 8.12.1988 legten die Außenminister noch vor der Verabschiedung des von der High-Level-Task-Force erarbeiteten Dokuments für das Verhandlungsmandat in Wien eine Erklärung mit eigenen Abrüstungseckdaten vor. Kernpunkt der Forderung des westlichen Bündnisses blieb die Forderung nach asymmetrischer Abrüstung. Nach ihrem Vorschlag soll kein Staat zwischen Atlantik und Ural mehr als 12.000 Kampfpanzer unterhalten dürfen. Die Gesamtzahl der Panzer auf beiden Seiten soll eine Obergrenze von 40.000 nicht überschreiten. “Dies würde eine Reduzierung für den Warschauer Pakt um mehr als 60 Prozent bedeuten, die NATO müßte zehn Prozent abbauen… Diese Forderung hat vor allen Dingen für die Sowjetunion und ihre großen Panzerbestände Bedeutung. Ihr blieben, wie allen anderen Staaten auch, nur höchstens 12.000 Panzer. Einschränkungen sollen vor allem für die außerhalb des eigenen Landes stationierten Streitkräfte wirksam werden. Dabei sollen auch Untergrenzen eingeführt werden, damit die Streitkräfte-Konzentration in Schlüsselregionen Europas unmöglich werde.” (Jan Reifenberg in: FAZ vom 9.12.1988)

Auf der Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages im Januar 1989 gibt der Warschauer Pakt – noch vor Beginn der Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa – einen offiziellen Kräftevergleich der konventionellen Streitkräfte in Europa heraus.

Darin gibt er “eine Überlegenheit bei Panzern, Startrampen für taktische Raketen, Kampf-Abfangflugzeugen der Truppen der Luftverteidigung sowie bei Schützenpanzern, Schützenpanzerwagen und Artillerie” zu. (vgl. FAZ vom 31.1.1989; Süddeutsche Zeitung vom 8.2.1989).

III. Mandat und Ausgangslage bei den Wiener Verhandlungen

Das Mandat

Am 15. Januar 1989 wurde in Wien das Abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, das am 4. November 1986 begonnen hatte und am 19. Januar 1989 beendet worden ist, verabschiedet. Es enthält im Anhang u.a. auch das Mandat für die “Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa”, auf das sich die Verhandlungsdelegationen am 16. Januar 1989 im Wiener Palais Liechtenstein nach fast 23monatiger Verhandlungsdauer geeinigt hatten.

Die VKSE-Runden, die im Rahmen der Verhandlungen der 35 KSZE-Mitgliedsstaaten und parallel zu den Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Verifikation (KVAE) stattfinden, sollen die nach 15jähriger Verhandlungsdauer nahezu ergebnislos verlaufenden MBFR-“Verhandlungen über einen beiderseitigen, ausgewogenen Truppenabbau” in Europa ersetzen. Die VKSE-Verhandlungen der 23 und die KSZE-Folgekonferenzen sollen durch »eine enge bilaterale Kooperation und Information« gekoppelt werden. Das schließt eine Pflicht der Unterrichtung der 23 am KSZE-Prozeß Teilnehmenden gegenüber den Neutralen und Nichtpaktgebundenen Staaten durch die Vertreter der 23 ein. Die VKSE-Verhandlungen bleiben jedoch nach den gemeinsamen Verfahrensregeln eine selbstständige Konferenz: “Die Ergebnisse der Verhandlungen werden nur von den Teilnehmern bestimmt.”

Verhandelt werden soll über die Abrüstung konventioneller Waffen und Streitkräfte in dem “gesamten Landterritorium der Teilnehmer in Europa vom Atlantik bis zum Ural.” Ziel der Verhandlungen ist

  • “die Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte…auf niedrigerem Niveau”
  • “die Beseitigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für Stabilität und Sicherheit sind” und “als vorrangige Angelegenheit”
  • “die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung grossangelegter offensiver Handlungen”.

Als Methoden zur Erreichung dieser Ziele nennt das Mandat “Reduzierungen, Begrenzungen, Bestimmungen zu Umdislozierungen, gleiche Obergrenzen” und auch “regionale Differenzierungen, um Ungleichgewichte innerhalb des Anwendungsgebietes zu beseitigen.”

Als Verhandlungsgegenstand werden ausschließlich “die auf Land stationierten konventionellen Streitkräfte” benannt. Damit sind die Luftstreitkräfte von NATO und Warschauer Pakt grundsätzlich im Mandat enthalten. Kernwaffen, Seestreitkräfte und chemische Waffen sind von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Ein wichtiger strittiger Punkt der Vorverhandlungen waren die doppelt verwendbaren Waffensysteme. Der Warschauer Pakt hatte auf einer Einbeziehung bestanden, Frankreich dagegen war von Anfang an dagegen, um seinen Atomstatus nicht zu gefährden und indirekt in den NATO-Zusammenhang hineingezogen zu werden. Das Mandat sieht einen Kompromiß vor. Es bestimmt: “Keine konventionelle Bewaffnung oder Ausrüstung wird als Verhandlungsgegenstand ausgeschlossen, weil sie neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben kann. Solche Bewaffnung oder Ausrüstung wird nicht als gesonderte Kategorie herausgestellt.” Mit diesem auf den bundesdeutschen Außenminister Genscher zurückgehenden Kompromiß, diese Systeme nicht zu erwähnen, sollte zunächst gesichert werden, daß die Verhandlungen überhaupt aufgenommen werden können. Später soll dann konkret entschieden werden, welche Waffen zu welcher Zeit behandelt werden. (Der Spiegel, 40/1988, S. 22). Damit behält sich aber jede Seite das Recht vor, zu gegebener Zeit einzelne Waffensysteme und Streitpunkte solcher Art zu benennen. Für den Westen wären das dann Truppenstärken, Panzer und Kanonen, bei denen die NATO den Warschauer Pakt überlegen wähnt. Erst wenn diese “so weit abgebaut wären, daß sie nur noch Verteidigungszwecken dienen könnten” (FAZ vom 19.7.1988) könnte es dann für den Osten möglich sein die Kampfflugzeuge, bei denen er ein westliches Übergewicht sieht, einzubringen.

Darüberhinaus fordert das gemeinsame Mandat ein “wirksames und striktes Verifikationsregime” sowie das “Recht auf Vor-Ort-Inspektionen”. Jede Veränderung des Verhandlungsmandats kann nur mit Übereinstimmung aller Teilnehmer erfolgen: “Die erzielten Abkommen sollen international verbindlich sein. Über die Art ihres Inkrafttretens wird während der Verhandlung entschieden.”

Insgesamt gesehen ist das Mandat ein Erfolg der USA, da die Frage der taktischen Nuklearwaffen, die die Sowjetunion in die Verhandlungen einbezogen wissen wollte, nicht im Mandat enthalten sind. Wann parallele Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollen, ist derzeit noch unklar. In einer Verlautbarung der NATO in Brüssel im April wurde betont, daß für die NATO die Wiener Verhandlungen Vorrang vor möglichen Verhandlungen über die taktischen Nuklearwaffen haben. “Der Westen habe trotz der Aufforderung der Außenminister des Warschauer Pakts in Ost-Berlin, gleichzeitig über Kurzstreckenwaffen zu verhandeln, keinen Anlaß, von dem Ziel abzugehen, die Invasionsfähigkeit des Ostens und damit die unmittelbare Gefährdung Westeuropas zu beseitigen und Stabilität zwischen Atlantik und Ural herzustellen.” Damit will sich die NATO eine Modernisierungsoption vor allem deshalb offenhalten, um der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr der Denuklearisierung Europas zu entgehen, also nicht von der nuklearen Abschreckungsdoktrin abgehen zu müssen. (FAZ vom 14.4.1988).

Der westliche Verhandlungsvorschlag

In der Substanz umfasst der westliche Verhandlungsvorschlag nur die drei Waffensysteme, in denen er die Ungleichgewichte zugunsten des Ostens vermutet: Kampfpanzer, Artillerie, und gepanzerte Infanterie-Kampffahrzeuge. Hier sollen vor allem durch Vereinbarung gemeinsamer Obergrenzen Reduzierungen auf ca. 90% der Waffenbestände der NATO erreicht werden. Vorschläge für die Kampfflugzeuge liegen keine vor. Ihre Einbeziehung wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Der Westen will sie erst später in die Verhandlungen einbeziehen und darüber “erst nach Abschluß der ersten Verhandlungsphase mit der Verringerung der drei Hauptwaffenkategorien der konventionellen Rüstung reden.” (dpa, 6.3.1989).

Nach dem Willen des Westens soll

  • der Gesamtbestand im Vertragsgebiet zwischen Atlantik und Ural auf 40.000 Panzer, 33.000 Artilleriegeschütze und 56.000 Infanterie-Kampffahrzeuge reduziert werden. Das hieße, daß der Warschauer Pakt wie die NATO jeweils 20.000 Kampfpanzer, 16.500 Artilleriegeschütze und 28.000 Infanterie-Kampffahrzeuge besitzen dürfe.
  • kein Land soll – im Sinne der “Hinlänglichkeit (Suffizienz)” – dann in Europa mehr als dreißig Prozent dieser Gesamtzahl dieser drei Kategorien beibehalten, d.h. jeweils 12.000 Kampfpanzer, 10.000 Artilleriegeschütze und 16.800 Infanterie-Kampffahrzeuge.
  • bei den Bündnisstaaten, die Streitkräfte auf dem Territorium von Partnern unterhalten, soll bei den aktiven Verbänden die Zahl 3200 Panzer, 1700 Geschütze und 6000 Infanterie-Kampffahrzeuge nicht übersteigen.

Im Vorschlag der NATO ist der Gesamtraum der Reduzierungen in verschiedene ineinander verschachtelte Unterzonen untergliedert, in denen sukzessive die Verminderungen vorgenommen werden sollen. Es handelt sich um die Gebiete:

  • In der Zone 1: Vom Atlantik bis zum Ural sollen beide Pakt-Systeme in aktiven Verbänden nicht mehr als 11.300 Panzer, 9000 Artilleriegeschütze und 20.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten.
  • Die Zone 2: von Frankreich bis Weißrußland sollen in aktiven Einheiten nicht mehr als 10.300 Panzer, 7600 Artilleriegeschütze und 18.000 Infanterie-Kampffahrzeuge vorhanden sein.
  • Die Zone 3: umfasst nach NATO-Vorstellung die alte MBFR-Zone Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, die DDR, Polen und die CSSR. Hier sollen in den aktiven Einheiten nicht mehr als 8.000 Kampfpanzer, 4.500 Artilleriegeschütze und 11.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten werden.

(Quelle: NATO-Vorschlag zu Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), Stichworte zur Sicherheitspolitik des Bundespresseamtes, Bonn, März 1989).

Darüberhinaus enthält der westliche Vorschlag weitere “Maßnahmen im Hinblick auf Stabilität, Verifikation und den Ausschluß einer Umgehung von Reduzierungsmaßnahmen” für notwendig: Transparenz-, Notifizierungs- und Beschränkungsmaßnahmen für die Dislozierung konventioneller Streitkräfte; Verifikationen und Vor-Ort-Inspektionen. Als “längerfristige Perspektive” der Verhandlungen nennt er

  • weitere Reduzierungen oder Begrenzungen konventioneller Waffen und Ausrüstung sowie
  • die Umstrukturierung von Streitkräften mit dem Ziel, ihre defensiven Fähigkeiten zu stärken und die offensiven Fähigkeiten weiter zu verringern.

Der Verhandlungsvorschlag des Ostens

Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse legte auf der Eröffnungssitzung der Wiener Konferenz für den Warschauer Pakt ein »Arbeitspapier» mit dem Titel “Konzeptioneller Ansatz zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa” vor. Nach diesem Vorschlag soll die Abrüstung in Europa in drei Etappen vor sich gehen:

  • Erste Etappe: (1991-94): Hier sollen die Asymmetrien zwischen den beiden Bündnissen, sowohl hinsichtlich der zahlenmäßigen Stärke, als auch der wichtigsten Rüstungsarten beseitigt werden. Außerdem soll mit dem Abbau der Offensivwaffen begonnen werden: Kampfflugzeuge, Panzer, Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und Artillerie. In dieser Etappe sollen die Streitkräfte auf gleiche gemeinsame Höchstgrenzen reduziert werden, die bei jeder Waffenart um 10 bis 15 Prozent niedriger liegen als das jetzige niedrigste Niveau eines der beiden Bündnisse.
    Dabei sollen auch Berechnungsregeln für einen einheitlichen Datenaustausch festgelegt werden. Ebenfalls in dieser ersten Etappe sollen entlang der Berührungslinie der beiden Bündnisse Gebiete eines verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden, aus denen die gefährlichsten Waffenarten entweder abgezogen oder begrenzt werden. Der Umfang, die Tiefe dieser Gebiete soll unter der Berücksichtigung geostrategischer und andere Faktoren erfolgen.
  • Zweite Etappe (1994-97): Darin sollen auf der Grundlage der dann bereits erreichten gleichen Höchstgrenzen beider Bündnisse weitere Reduzierungen vorgenommen werden. Die Streitkräfte mit ihrer Bewaffnung sollen um etwa 25 Prozent, das wären auf jeder Seite ca. 500.000 Mann verringert werden. Der Abbau der Offensivpotentiale soll in dieser Etappe weitergeführt werden und z.B. die im Mandat nicht genannten Rüstungskategorien, wie Seestreitkräfte erfasst werden. Gleichzeitig sollen Schritte auf eine defensive Umorientierung der Streitkräfte eingeleitet werden.
  • Dritte Etappe (1997-2000): Hier werden die Reduzierungen fortgesetzt bis zu dem Stand, wo keine Seite mehr die Mittel für einen Angriff besitzt. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch alle Rüstungskategorien von der Abrüstung erfasst sein. Zur Kontrolle der Vereinbarungen schlägt die Sowjetunion ein umfassendes System vor, einschließlich von Inspektionen vor Ort, auf dem Land und in der Luft und zwar ohne ein Recht auf Verweigerung. Kontrollpunkte sollen innerhalb der Reduzierungszone geschaffen werden, außerdem eine internationale Kontrollkommission mit umfassenden Vollmachten, der Vertreter aller Teilnehmerstaaten angehören.

Der sowjetische Vorschlag ist von Offenheit und Flexibilität geprägt. Während der Westen mit genauen numerischen Höchstgrenzen und einem detaillierten Regionalkonzept operiert, nennt der Osten nur Prozentzahlen, bekundete aber im Prinzip auch die Bereitschaft, Höchstgrenzen zuzustimmen. Generell ist der Vorschlag der Sowjetunion auch deutlich offener für tiefere Rüstungsschnitte, während die NATO nur unwesentlich (95%) unter ihr derzeitiges Niveau gehen möchte. Der SPD-Politiker Andreas von Bülow nennt den NATO-Ansatz deswegen “timide”. Er wolle Abrüstung nur in Form »homöopathischer Dosen» verabreichen. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Indem der Osten die Nennung konkreter Zahlen zunächst umging, weigerte er sich implizit einem rein quantitativen Kräftevergleich zuzustimmen und brachte damit die technologische Überlegenheit des Westens auf die Agenda der Konferenz in Wien. Die FAZ urteilt:“ Als besonders auffallend wertet man in westlichen Verhandlungskreisen die Tatsache, daß der Osten seinen Vorschlag so allgemein formuliert hat. Man zögert, dies als einen Mangel zu bewerten, sondern hält es für möglich, daß dahinter die Absicht steht, sich die Möglichkeit des Eingehens auf konkrete Vorschläge der anderen Seite zu belassen.” (FAZ vom 11.3.1989) Damit hält sich die sowjetische Seite offensichtlich auch die Möglichkeit offen, im kommenden Verhandlungs- und Diskussionsverlauf den Gang der Auseinandersetzung mit weiteren einseitigen Aktionen zu begleiten. Das Interesse der UdSSR nach einem dynamischen Verhandlungsprozeß wird auch daran deutlich, daß der sowjetische Außenminister Schewardnadse vorgeschlagen hat, zweimal im Jahr eine Außenministerkonferenz in den Verhandlungsprozeß zu integrieren, damit das “Feuer” der Verhandlungsführung erhalten bleibe.

(Quelle: Monitor-Dienst, Stimme der DDR, 10.3.1989; FAZ vom 11.3.1989; Kurier (Wien), vom 9.3.1989, Süddeutsche Zeitung vom 7.3.1989).

Nach dem Ende der ersten Verhandlungsperiode wird die sowjetische Absicht deutlich, nun bereits die Kampfflugzeuge, bei denen der Osten eine Überlegenheit der NATO vermutet, in ein erstes Abkommen mit einbeziehen zu wollen. Die westlichen Staaten befürworten dies erst nach erfolgter Einigung bei der Abrüstung der übrigen Kategorien: “Die sowjetischen Sprecher, der Verhandlungsführer Grinevski und sein militärischer Berater, General Tatarnikov, machten in Wien deutlich, daß ihre Regierung auf die Einbeziehung bestimmter Kategorien von Kampfflugzeugen, nämlich von Jagdbombern, in ein erstes Abkommen dringt.” Der Westen bezweifelte die östlichen Zahlenangaben in dieser Kategorie und lehnt außerdem die von der UdSSR bevorzugte Ausklammerung der der Heimatverteidigung dienenden sowjetischen Kampfflugzeuge ab. Die indirekte Einbeziehung dieser Kategorie in die Verhandlungen dadurch, daß sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden, war ein Kompromiß innerhalb der westlichen Staaten. Zwar bleibt, wie die FAZ berichtet, (auf westlicher Seite unbestritten, daß die Flugzeuge, obwohl deren hohe Beweglichkeit sie zu einer Sonderkategorie macht, die nicht zur direkten »Invasionsfähigkeit« beider Seiten zählt, auf die Dauer nicht aus den VKSE-Verhandlungen ausgeschlossen werden können.” (Jan Reifenberg: Ernsthafte Abrüstungsgespräche in Wien, FAZ vom 25.3.1989) Die sowjetische Absicht wird hier nun aber als Versuch gewertet, die Einigkeit des Bündnisses zu erproben und so die Verhandlungen früh zu gefährden, wiewohl unbestritten ist, daß Kampfflugzeuge eindeutig ebenso offensive Fähigkeiten besitzen wie Panzer usw. (Karl Feldmeyer: Moskau hat den Hebel angesetzt, in: FAZ vom 7.4.1989).

In der letzten Verhandlungsrunde Anfang Mai in Wien hat der Warschauer Pakt ein eigenes Regionalkonzept vorgelegt. Darin spricht er von einer Verhandlungszone mit einem nördlichen und südlichen Teil, in dem jeweils eigene Teilobergrenzen der Reduzierung gelten sollen. Die Zone erstreckt sich vom Nordkap bis zum Kaukasus.

Würden nur einige der Ziele der Verhandlungen erreicht und Angriffshandlungen unmöglich gemacht, würde erstmals ein qualitativer Übergang von der konventionellen Rüstungskontrolle zur konventionellen Abrüstung erreicht. Wenn also auch die verkündete “Hoffnung auf ein neues Zeitalter” (Christoph Bertram in: Die Zeit, Nr. 11 vom 10.3.1989) ein wenig verfrüht erscheinen mag, so sehen doch selbst konservative Interpreten die Chancen dieser Entwicklung. Für sie bestehe sie immerhin darin, einen “Prozeß einzuleiten, der zu Vereinbarungen in Gestalt eines Sicherheitssystems auf Gegenseitigkeit führt.” (Wolfram von Raven in: Europäische Wehrkunde, 2/1989, S. 94). Der Bonner Verhandlungsleiter bei der VKSE-Runde Heydrich ergänzt: “Der Westen hat noch gar nicht richtig verstanden, was in Wien wirklich geschieht. Bisher haben wir alles unter Konfrontations-Aspekten gesehen. Hier aber entsteht ein gemeinsames Kooperations- und Kontrollsystem, das alle Voraussetzungen der politischen Arbeit verändert.” (Bonner Generalanzeiger, 23. 3. 1989). Das wäre dann in der Tat ein wichtiger Schritt hin auf ein “Neues Europa”, wie es der sowjetische Außenminister Schewardnadse zur Eröffnung der VKSE beschwor. (Die Welt vom 6.3.1989)

Es wäre angesichts der fast unentwirrbaren Menge von Streitkräften, Ausrüstungen und Waffensystemen in Europa aber illusionär zu glauben, daß sich die 23 Delegationen in Wien bald zu konkreten Abrüstungsschritten einigen könnten. Bei allen Annäherungen gibt es nach wie vor außerordentlich schwer zu überbrückende Differenzen, die sich vor allem auf die gegenseitige Gesamtbeurteilung des Kräfteverhältnisses, unterschiedliche Perzeptionen der geostrategischen Lage, verschiedene Einschätzungen der Reduzierungsankündigungen des Warschauer Paktes, der Militärdoktrinen und vor allem der taktischen Nuklearwaffen beziehen. Bonn, aber auch offensichtlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse rechnen mit ersten notifizierbaren Erfolgen wohl frühestens in drei Jahren. (FAZ vom 2.3.1989; SZ vom 7.3.1989).

IV. Probleme konventioneller Rüstung in Europa

NATO-Strategie und Rolle der Nuklearwaffen

Die taktischen Nuklearwaffen in Europa sind nicht Verhandlungsgegenstand in Wien, werden aber in besonderer Weise Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz mitbestimmen.

Die NATO sieht in der Existenz von taktischen Nuklearwaffen auch für die absehbare Zukunft einen Garanten westlicher Sicherheit. Deshalb plädierte auch NATO-Generalsekretär Manfred Wörner dafür, ständig “ein Minimum” an Nuklearwaffen “auf dem neuesten Stand” zu halten. (Süddeutsche Zeitung vom 8.3.1989)

Ein ständiger Modernisierungsbedarf ist also auch weiterhin programmiert.

Die NATO verfolgt mit ihren atomaren Systemen in Europa mindestens zwei zentrale (Abschreckungs-)Ziele:

  1. “Ankopplung” an den “Schutzschild” des nuklearstrategischen Potentials der USA durch einen lückenlosen “Eskalationsverbund”.
  2. Kompensation der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes durch Androhung nuklearen Ersteinsatzes im Krisenfall, Schläge gegen hohe gegnerische Truppenkonzentrationen und nukleare “Warnschläge”.

Die nukleare Abschreckungsdoktrin der NATO hat jedoch zu einem überdimensionierten Atomwaffenarsenal geführt, das strukturell und technisch in einer unentwirrbaren Weise mit der konventionellen Rüstung verkoppelt ist. Beides – die zahlreichen doppelt (atomar und konventionell) verwendungsfähigen (dual capable) Trägersysteme wie Flugzeuge, Artillerie und Raketen und die laufenden Modernisierungen werden die Perspektiven konventioneller Abrüstung beeinträchtigen:

  1. Die Verifikation der doppelt verwendbaren Systeme wird erschwert, wenn nur eine Kategorie abgerüstet werden soll.
  2. Die NATO hat ein zusätzliches Interesse, Flugzeuge und Raketen als atomare Trägersysteme möglichst lange aus den Wiener Gesprächen herauszuhalten. Das führt zu einer unfruchtbaren Verhandlungsposition, wenn zunächst nur die überlegenen Landstreitkräfte des WP, die offensiven Optionen der NATO hingegen erst später behandelt werden sollen. Wie soll den WP-Staaten plausibel gemacht werden, daß prioritär ihre Panzer abzubauen seien, die dann einer atomar aufgerüsteten NATO gegenüberstünden, deren Luftflotte um keinen Deut vermindert wäre.
  3. Atomare “Modernisierungen” und Aufrüstungsvorhaben, die durch die “dual-capables” auch konventionelle Systeme betreffen würden, wirken lähmend auf den gesamten Abrüstungsprozeß.

Dennoch verstärkt sich innerhalb der NATO der Druck der Modernisierungsbefürworter. Ende April drang aus militärischen Kreisen um den NATO-Oberbefehlshaber Europa, Galvin, drohend durch, daß die Vereinigten Staaten ihre Truppen in der Bundesrepublik nur dann belassen werde, “wenn ihnen das gesamte Spektrum zur Abschreckung notwendiger Waffen, also auch atomare Kurzstreckenwaffen, zur Verfügung stünde.” (FAZ, 29.4.89) Man sieht in Brüssel und Washington die Gefahr einer Demontierung der gültigen Strategien “Vorneverteidigung” und “flexible response”, die solange gültig bleiben müßten, bis die “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Paktes beseitigt sei. Ein solch zähes Festhalten an nuklearen Angriffsoptionen, die mit angeblichen Verteidigungserfordernissen begründet werden, dokumentiert den “überproportionalen Einfluß des Denkens der U.S. Army, die eine starke Neigung zu offensiven, siegorientierten Optionen zeigt.” (HSFK, Modernisierung und kein Ende?, HSFK-Report 1-2/1989, April 1989, S. 52). Der Verdacht liegt heute näher denn je, daß Nuklearsysteme ganz konkrete Kriegsführungsoptionen wahrnehmen sollen. Selbst der Chef des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, Flottillenadmiral Schmähling räumt angesichts der jüngsten Erfahrung mit der Wintex-Cimex-Übung ein: “Der Widerspruch zwischen militärischer und politischer Rollenzuweisung an Nuklearwaffen tritt in Europa immer deutlicher zutage.” (Der Spiegel, 1. Mai 1989)

Angesichts solcher Gefahren unterstrich der sowjetische Außenminister Schewardnadse auf der Wiener KSZE-Schlußberatung am 19. Januar 1989 und ähnlich auf der Eröffnung der Wiener VKSE-Konferenz die seit langem bekannte sowjetische Position mit den Worten: “Wir gehen eindeutig von der Prämisse aus, daß Nuklearraketenmodernisierung einen Schritt rückwärts und nicht nach vorne darstellt. … und ich bekräftige: die Sowjetunion ist nicht dabei, ihre taktischen Nuklearraketen zu modernisieren”, (zitiert nach: Frieden und Abrüstung Nr. 1/1989).

Unterschiedliche Perzeption des konventionellen Kräfteverhältnisses

Ein weiterer Stolperstein: Die gravierenden Unterschiede in der Einschätzung des konventionellen Kräfteverhältnisses.

Im November 1988 und Januar 1989 legten NATO und Warschauer Pakt ihre offiziellen Versionen des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa vor.

Anhand der beiden Kräftevergleiche lassen sich Möglichkeiten und Grenzen der Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle bereits erahnen.

Die NATO zählt aussschließlich Land- und Luftstreitkräfte, was durchaus in Einklang mit dem Wiener Mandat steht. Der Warschauer Pakt betont in seiner Gegenüberstellung hingegen die Bedeutung der westlichen Seestreitkräfte für die Nachschublinien aus den USA. Dies ist aus seiner geostrategischen Perspektive verständlich; gleichwohl bleibt die maritime Komponente aus den Wiener Verhandlungen ausgeklammert.

Durch diese unterschiedliche Sichtweise kommt es etwa bei der Einschätzung der Streitkräfte-Personalstärke auch zu differierenden Zahlen. Während der WP hier von einer Parität ausgeht (WP: 3,57 Mio. / NATO: 3,66 Mio.), konstatiert die NATO ein deutliches Übergewicht von 1,4 : 1 zugunsten des Warschauer Pakts (WP: 3,09 Mio. / NATO: 2,21 Mio.). Noch extremer liegen die Werte bei den Kampfflugzeugen auseinander. Die WVO sieht sich hier nur minimal im Vorteil (WP: 7876 / NATO: 7130, Verhältnis 1,1: 1). Die NATO hingegen ermittelt eine doppelte Überlegenheit des östlichen Bündnisses (WP: 8250 / NATO: 3977).

Die meisten anderen Vergleichswerte mit extrem unterschiedlicher Ausprägung resultieren aus differierenden Zählkriterien – Beispiel: (Kampf-)Panzer. Die NATO kommt hier zu einer dreieinhalbfachen WP-überlegenheit (WP: 51500 / NATO: 16424). Der Warschauer Pakt subsummiert unter die unspezifischere Kategorie “Panzer” lediglich ein Verhältnis 1,9 : 1 (WP: 59470 / NATO: 30690). Ähnliches gilt für die Artillerie; die NATO zählt hier nur schwere Geschütze und Mörser über 100mm Kaliber, der WP hingegen berechnet auch Geschütze ab 75mm und Mörser ab 50mm. So nimmt es nicht wunder, daß verschiedene Werte deklariert werden NATO: WP 43400 / NATO 14458 (3 : 1): WP: WP 71560 / NATO 57060 (1,3 : 1). Gleichwohl fällt hier auf, daß die extreme Spanne der auseinanderliegenden Zahlen dennoch nicht erklärbar ist. Auch einige andere Differenzen entziehen sich der Deutung. In der ersten VKSE-Runde wird es daher eine Menge zu tun geben, alle Daten kontrolliert und exakt zu ermitteln. Insgesamt erweist es sich, daß der Warschauer Pakt mit seinem Kräftevergleich die alte These von einer generellen Parität mit der NATO stützen wollte. Dies hat das westliche Bündnis immer bestritten (SZ, 1.2.89).

Zweierlei bleibt aber positiv anzumerken:

  1. Der Warschauer Pakt hat erstmals einen Kräftevergleich der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Dies ist eine glaubwürdige Geste im Rahmen von Glasnost auch in den Streitkräften.
  2. Dieser Kräftevergleich ist durchaus ernstzunehmen und gibt ein konstruktives politisches Signal, weil er spezifische Überlegenheiten des Warschauer Paktes zugibt. Bei 11 von den 26 Zählkategorien konzediert der WP Asymmetrien zu seinen Gunsten. Aus westlicher Sicht besonders erfreulich sind die Zahlen zu den “Startrampen für taktische Raketen” (WP: 1608 / NATO: 136, Verhältnis 11,8 : 1).
  3. Auch bei den zentralen Großkampfgeräten wie Panzern und Artillerie sieht sich die WVO vorn (siehe SZ, 8.2.89)

Die Kompliziertheit der militärischen Materie endet natürlich nicht bei numerischen Zahlenverhältnissen, dem berüchtigten und politisch mißbrauchbaren “Erbsenzählen”. Qualitative, strukturelle, geographische und geostrategische Dimensionen vielfältigster Art und Bezugspunkte kommen hinzu, um die Kampfkraft von Streitkräften zu beurteilen. Je nach Gewichtung solcher Faktoren können im Extremfall numerische Relationen auf den Kopf gestellt werden.

Beispiel: Kampfpanzer. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Paktes ist mittlerweile in Ost wie West unstrittig (siehe oben). Man braucht jedoch aus den vielen zusätzlichen und notwendigen Beurteilungskriterien nur eines herauszunehmen, um zu völlig veränderten Ergebnissen zu kommen. Beispiel: Herstellungsjahr der Panzer. Über 90% aller WP-Panzer sind vor 1975 erbaut worden, sie sind also nach dem neuesten technischen Stand völlig überaltert. Von den Panzern, die seit 1975 erbaut wurden, besitzt die NATO eine dreifache Überlegenheit (9095 zu 2950) (siehe Carl Levin, Beyond the Bean Count, Bericht an den Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses des U.S. Senats, Sam Nunn, 1988, zit. nach “Frieden und Abrüstung”, Nr. 28, Schluß mit der Erbsenzählerei, S. 52)

Auch wenn die SU-Panzer nachgebessert werden, bleibt aber zwischen einem hochmodernen NATO-Kampfpanzer und einem lediglich modernisierten WP-“Veteran” nicht zuletzt auf Grund westlicher technologischer Überlegenheit ein riesiger Unterschied. Zwei renommierte Verteidigungsexperten, Malcolm Chalmers und Lutz Unterseher kamen bereits 1987 in der Studie “Is there a tank gap?” unter Berücksichtigung sehr vieler qualitativer, szenariengebundener Aspekte gar zum Schluß, daß die NATO eine leichte Kampfpanzerüberlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt in Mitteleuropa hat (Siehe: Chalmers, Unterseher, Is there a tank gap? A comparative assessment of the tank fleets of NATO and the Warsaw Pact, Oktober 1987)!

Auch wer dieses Ergebnis für unrealistisch hält, muß zugestehen, daß bei der Gegenüberstellung von Kräfteverhältnissen immer wieder die falsche Vergleichsgrundlage gewählt wird; so ist es allemal fragwürdig Kampfpanzer mit Kampfpanzer aufzurechnen. Das offensive Kampfsystem des WP sollte man zunächst nur in Beziehung setzen zu dem entsprechenden Defensivsystem der NATO. Gerade bei den Panzerabwehrwaffen, deren panzerbrechende Fähigkeiten selbst das modernste Kettenfahrzeug des Warschauer Pakts fürchten muß, erfreut sich das westliche Bündnis aber einer beachtlichen (nicht nur technischen) Überlegenheit (Siehe z.B. Admiral (ret.) Antoine Sanguinetti, Einseitiges Übergewicht oder Gleichgewicht der beiden Blöcke im Konventionellen Bereich, Occasional Papers Nr. 3, Generals for Peace and Disarmament, 1987/88 S.3f.).

Diese Diskussion könnte man bis in die entlegensten militärischen Details im Für und Wider weiterführen. Dies wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß es kein Monopol für die Beurteilung militärischer Kräfteverhältnisse gibt. Dieses können weder die NATO noch die WP-spezialisten für sich in Anspruch nehmen. Die konkrete zahlenmäßige Gestalt von militärischen Stärkerelationen ist immer auf die Interessengebundenheit ihrer Urheber, sowie ihrer politischen Zielsetzungen hin zu analysieren. Wichtig ist es, daß in Wien gemeinsame Zählkriterien vereinbart werden können.

Invasionsfähigkeit?

Die WP-Fähigkeit zu großangelegten Offensiven – in der Bundesrepublik hat sogar der Begriff “Invasionsfähigkeit” Karriere gemacht – scheint von maßgeblichen NATO-Kreisen hingegen vielfach überschätzt zu werden. Denn der Zeitfaktor spielt hier eine andere Rolle als beim Überraschungsangriff. Je länger eine WP-Offensive dauerte, desto stärker würden sich die überlegenen Eigenschaften der NATO-Streitkräfte wie Einsatzfähigkeit, Ausbildungsstand und Qualität der Waffensysteme auswirken. (Es erscheint daher überzogen, von einer “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Pakts zu sprechen. Denn dieser Begriff entstammt nicht etwa dem militärischen Vokabular, sondern wurde vor einigen Jahren aus Bonner Regierungskreisen politisch lanciert (siehe die Studie des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung von Wulf Lapins, Besitzt der Warschauer Pakt eine “Invasionsfähigkeit”?, Bonn 1987). Er überhöht die konventionelle Bedrohung durch den Warschauer Pakt. Mit einer “Invasion” verbindet man das feindliche Einrücken von Truppen in fremdes Gebiet (als raumbesetzende Operation); damit weckt dieser Terminus auch Vorstellungen einer irreversiblen Okkupation.

Einseitige SU-Reduzierungen

Von den 5300 Panzern, die Gorbatschow unilateral aus Ostmitteleuropa abziehen will, müßten nach Auflösung von sechs Panzerdivisionen und Rückverlegung von fünf Panzerausbildungsregimentern immerhin 2860 Panzer durch die Defensivstrukturierung der übrigen 24 sowjetischen Divisionen (10 Panzer- und 14 Mot-Schützendivisionen) frei werden. General Batenin konkretisierte dies im Februar 1989 gegenüber einer SPD-Delegation in Moskau. Nach einem bestimmten Modus sollen in den Mot. Schützendivisionen und Panzerdivisionen Panzerregimenter mit 95 Panzern durch Mot. Schützenregimenter mit 40 Panzern ersetzt werden. Zusammen mit dem Austausch bestimmter Panzerbataillone durch Mot. Schützenbataillone in ausgewählten Panzerregimentern der Panzerdivisionen ergibt sich in der Tat die von Gorbatschow angekündigte Gesamtgrößenordnung von 5300 Panzern (FR, 24.2.89, sowie antimilitarismus information, ami, Nr. 5/89, S. 5).

Zu diesen sowjetischen Maßnahmen kommen die Ankündigungen einseitiger Reduzierungen aus den meisten anderen WVO-Staaten. Die DDR z.B. baut ihre Streitkräfte um 10.000 Mann ab, löst 6 Panzerregimenter auf, reduziert 600 Panzer, 50 Kampfflugzeuge und ihren Verteidigungsetat um 10%.

Diese Initiativen werden im Westen zwar fast durchweg positiv, gleichwohl unterschiedlich bewertet. Es ist strittig, ob die sowjetischen Maßnahmen allein einen signifikanten Verlust an Offensivfähigkeit bedeuten oder nur eine “notwendige Anpassung an die veränderten Gefechtsfeldrahmenbedingungen” (FAZ, 6.3.89) darstellen. Nicht wenige Experten argumentieren, daß der Kampfkraftverlust der Streitkräfte auf dem Territorium der Sowjetunion eher gering ist.

Hans-Joachim Schmidt von der HSFK kommt aber insgesamt zum Schluß, daß die “Fähigkeit (des Warschauer Paktes) zum Angriff nach kurzer Vorbereitungszeit … weiter signifikant abgebaut und die Zeitdauer für die Mobilisierung erhöht” worden ist. Das östliche konventionelle Übergewicht sei zwar noch nicht abgebaut, aber “bedeutsam reduziert” (FR 24.2.89). Aber die NATO will nicht wahrhaben, was sich ändert.

Militärdoktrinen und Defensivität

“Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes hat ausschließlich Verteidigungscharakter” – so steht es in einem Dokument des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes vom 28./29. Mai 1987. An anderer Stelle heißt es: “Die Streitkräfte der verbündeten Staaten werden in einer Gefechtsbereitschaft gehalten, die ausreicht, um nicht überrascht zu werden. Falls dennoch ein Angriff gegen sie verübt wird, werden sie dem Aggressor eine vernichtende Abfuhr erteilen.” In welcher Form? Durch Gegenangriffe auf feindliches Territorium? Offensive Optionen innerhalb seines Verteidigungskonzepts schien der Warschauer Pakt nicht auszuschließen, wenn man u.a. liest: “Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind.” Diese Formulierung ließ zumindest offen, ob nicht auch offensive Operationen gegen feindliches Territorium durchgeführt werden sollen. Pauschale westliche Stellungnahmen, an dem offensiven Charakter der sowjetischen Militärdoktrin habe sich nichts geändert, reflektieren allerdings nicht die Implikationen der “eigenen” Doktrin und übersehen zudem die beachtlichen östlichen Zugeständnisse im militärischen Denken; denn die Sowjetunion hat in den letzten zwei Jahren viel unternommen, um ihrer Doktrin einen strikteren Defensivcharakter zu verleihen.

  1. Erstmals wurde die östliche Militärdoktrin vom Warschauer Pakt offiziell festgeschrieben (am 28./29. Mai 1987 auf der Tagung des Politschen Beratenden Ausschusses in Berlin).
  2. Zusätzlich wurden der NATO Gespräche über den Vergleich beider Doktrinen vorgeschlagen. Dabei soll gemeinsam der Charakter der Doktrinen und ihre zukünftige Ausrichtung erörtert werden. Der WP sieht seinen Vorstoß als vertrauensbildende Maßnahme, indem er zu einem besseren Verständnis der beiderseitigen Absichten beitragen und gewährleisten könnte, daß die Militärkonzeptionen und -doktrinen beider Militärblöcke und ihrer Teilnehmer auf Verteidigungsprinzipien beruhen. Ein Treffen der Verteidigungsminister Carlucci und Jasow im März 1988 in Bern diente diesem Zweck.
  3. Die qualitativen Veränderungen im sowjetischen militärischen Denken in den letzten Jahren sind beträchtlich. Zwei Punkte seien herausgegriffen:
  4. Die Führung von Präventivschlägen, um einem Angreifer zuvorzukommen, wird nicht mehr gefordert.
  5. Neue Definition des Begriffes »Aggression«; darunter wird nicht mehr die “Absicht zu einem Überfall” verstanden, was ja erhebliche Interpretationsspielräume zuließe, sondern nur noch der reale Beginn der feindlichen Operationen.

Neuerdings soll eine Verteidigung aufgebaut werden, die einen Angriff auf das Territorium der Warschauer-Vertrags-Staaten lediglich abwehrt und die nicht über Paktgrenzen hinausgeht. Auch die Lehrmittel und Instruktionen für die Ausbildung der Offiziere sind bereits im Hinblick auf eine defensive Ausrichtung der Doktrin umgestellt worden (Erklärung der SPD-Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs und Gernot Erler vom 14. Februar 1989 nach einer Informationsreise in die Sowjetunion). Die Tatsache, daß die östliche Dialogbereitschaft nun auch das Thema Militärdoktrinen nicht ausklammert, sollte vom Westen entschlossen genutzt werden.

Denn auch die NATO hat genügend Grund ihre eigenen offensiven Optionen zu reflektieren. Die Bundeswehr-Strategie der Vorneverteidigung, die amerikanische Heeresdoktrin Air Land Battle (ALB) und die NATO-Strategie Follow-on-Forces-Attack (FOFA) sehen im Fall eines WP-Angriffs innerhalb der “flexible response” massive Schläge gegen feindliches Hinterland und andere Formen offensiver Kriegsführung vor. Im Weißbuch 1985 steht der auch heute gültige Grundsatz: “Verteidigung kann nicht bedeuten, daß der Angreifer sein Territorium als Sanktuarium betrachten und das Schadensrisiko allein dem Angegriffenen aufbürden kann. Die Fähigkeit zur Bekämpfung des Gegners mit Waffenwirkung in der Tiefe ist schon seit langem Bestandteil der Strategie der Flexiblen Reaktion.” (BMVG, Weißbuch 1985, S. 28f.).

Hemmnisse: altes Denken, neues Denken

Die vielfach zu beobachtende Skepsis und Zurückhaltung westlicher Fachleute über die deklarierte Defensivorientierung der sowjetischen Militärdoktrin (siehe z.B. Gerhard Wettig in Aussenpolitik II/1988, S. 172ff.) nährt sich aus nicht überwundenem Mißtrauen gegenüber einer angeblich ungebrochenen aggressiven Tendenz des Kommunismus.

Der »Leitfaden« des Hardthöhen-Generalinspekteurs Wellershoff nimmt hier eine Extremposition ein. Dieses Kompendium war als interne militärpolitische Argumentationshilfe gedacht und ging Mitte März 1989 an alle Kommandeure der Bundeswehr. Dort heißt es zum Beispiel: “Es zeichnet sich keine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik ab. Geändert haben sich vor allem Stil, Taktik und Klima der politischen Auseinandersetzung” (zit. nach Stuttgarter Zeitung, 16. März 1989). “Auch »Friedliche Koexistenz« und Abrüstungsverhandlungen bedeuten nicht etwa Stillstand oder Abbruch der Auseinandersetzung, sondern lediglich eine Phase, die zur Schwächung des Gegners genutzt werden soll, z.B. durch verstärkten ideologischen Kampf.” (zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 15.3.1989). Wellershoff kommt zum Schluß, “daß sich am grundlegenden Ziel, dem “Sieg des Kommunismus” im Weltmaßstab nichts geändert habe (siehe auch taz, Express v. 15.3.89).

Gegen eine solche Sichtweise sprechen die programmatisch-ideologischen Neuerungen der »Perestroika» für die Außenpolitk:

  1. Verzicht auf eine finale geschichtsphilosophische Perspektive, die von Lenin bis Breschnew das östliche staatskommunistische Denken prägte. Die Geschichte ist offen. Die Behauptung eines Sieges des Kommunismus im Weltmaßstab wird nicht mehr weiter aufrechterhalten.
  2. Damit verliert auch die »Friedliche Koexistenz« ihren “janusköpfigen Charakter”. Dieses Prinzip ist nicht mehr einem geschichtsnotwendigen “Meisterplan zur Weltrevolution” verpflichtet, ist nicht mehr lediglich eine “Atempause” im mörderischen Kampf mit dem “kapitalistischen Lager”. “Die Konzeption der Friedlichen Koexistenz wird im »Neuen Denken« vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck weiterentwickelt”, der sich nur noch der friedlichen Gestaltung der Gegenwart verpflichtet ist. Sie wird zu einer den Status quo achtenden “neuen Theorie des Friedens” (Karsten Voigt in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 4/1989, S. 308f.).
  3. Betonung und Begrüßung der Vielfalt der Welt. Damit verbunden eine Absage an Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das gilt auch für die eigenen Verbündeten: der auch früher zumindest deklaratorisch geltende Grundsatz von den “verschiedenen Wegen des/zum Sozialismus” wird heute voll umgesetzt. Moskau läßt den ungarischen Kurs hin zu einem demokratischen Mehrparteiensystem ebenso gewähren wie den dogmatischen Kurs der DDR. Nie war das alte Wort vom Polyzentrismus zutreffender als heute.
  4. Verzicht auf “Revolutionsexport”. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan ist das spektakulärste Beleg dafür, daß Moskau nicht mehr in alten Kategorien des Bipolarismus denkt. Infiltrationen, Okkupationen und Stellvertreterkriege in der »Dritten Welt« für zweifelhafte Geländegewinne im Ost-West-Konflikt gehören der Vergangenheit an.
  5. Ebenso die Vorstellung von der Weltpolitik als globalisierter Klassenkampf. Im Neuen Denken ist der zentrale Bezugspunkt nicht mehr eine Klasse, sondern die Menschheit als Ganzes. “Der weitere Friedensprozeß ist jetzt nur über den Weg eines allgemeinmenschlichen Konsenses zur Schaffung einer neuen Weltordnung möglich”, sagte Gorbatschow in seiner UN-Rede vom 7. Dezember 1988.

Diese zentralen Aspekte des außenpolitischen Credos der Perestroika werden in überzeugender Weise durch die bahnbrechenden innersowjetischen Reform- und Demokratisierungsprozesse beglaubigt.

Wer diese gravierenden und komplexen Entwicklungen in der UdSSR ignoriert, verrät einen erschreckenden Mangel an (real)politischer Phantasie und Konzeptlosigkeit. Er flüchtet in (irreale) rückwärtsgewandte Negativutopien des hochgerüsteten Blockantagonismus aus Zeiten des Kalten Krieges. “Zum ersten Mal in der Geschichte des (NATO) Bündnisses droht sein potentieller Gegner oder Feind, die Bedrohung wegzunehmen.” (Egon Bahr auf der 26. Wehrkundetagung in München, zit. nach Manuskript, 12.1.89). Das kann doch nun nicht heißen, das die derzeitige militärische Gestalt der NATO quasi zeitlos gültig und unangetastet bleibt.

Die Perestroika ist ein Angebot, gemeinsam mit dem Westen das internationale Staatensystem zu reformieren. Diese Offerte sollte nach eingehender Prüfung energisch genutzt werden. Eine Voraussetzung hierfür aber ist die Bereitschaft der NATO, sich auf die antizipierte Logik neuer kooperativer Formen der Weltpolitik einzulassen.

V. Die Diskussion und der politische Prozess in der Bundesrepublik

Abrüstung-Militär-Akzeptanz-Öffentlichkeit

Die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und die Diskussion, die um die konventionelle wie die weitere nukleare Abrüstung geführt werden, unterscheiden sich wesentlich von der Stimmungslage, wie sie die Auseinandersetzung um die Pershing II und die Cruise Missiles kennzeichnete. 1988/1989 ist nicht 1983. Es gibt heute neue Ideen, veränderte Kräfteverhältnisse, drängende globale Notwendigkeiten und durch die Friedensbewegung eine neue Form der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Politik von Glasnost und Perestroika hat zu einem Schwinden der Bedrohungsgefühle gegenüber den osteuropäischen Staaten geführt. Das alte Feindbild schwindet, gleichzeitig verliert die Politik der militärischen Stärke und der Androhung wechselseitiger nuklearer Selbstvernichtung an Akzeptanz. In Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verstärken sich angesichts der Perzeption einer zunehmenden Verwundbarkeit unserer hochindustrialisierten Zivilisation die Zweifel an jeder Art von militärischer Verteidigungspolitik. Fast alle Entscheidungen der Bonner Regierungskoalition in Sachen Militär, Abrüstung und Rüstungskontrolle waren von diesen Rahmenbedingungen geprägt. Das gilt für die halbherzige Kanzlerentscheidung zum Verzicht auf die Pershing IA wie für die Rücknahme der umstrittenen Wehrdienstverlängerung auf 18 Monate. Die Dominanz einer antinuklearen Stimmung in der Bevölkerung ist offensichtlich und schafft andere Voraussetzungen für die Zuspitzung der Diskussion um die anstehenden Abrüstungsperspektiven.

Auch die innenpolitischepolitische Diskussion in der Bundesrepublik um die konventionelle Abrüstung spiegelt diese veränderten Bedingungen. Sie oszilliert zwischen atavistischen Rückfällen in nukleares Stärkedenken, Versuchen durch symbolische Akte dem antinuklearen und antimilitaristischen Trend die Spitze zu nehmen und kompromißhafter Hilflosigkeit im Hinblick auf die eigenständige Formulierung von Abrüstungsinteressen der Bundesrepublik vor allem gegenüber den USA in einer Phase tiefgreifenden europäischen Wandels. Die Rangeleien um den jüngsten Koalitionskompromiß zur Frage der Bonner Haltung in der »Modernisierungs“frage vor dem Brüsseler NATO-Gipfel sind ein Beispiel dafür. Dem Umbruch in der Sowjetunion steht noch kein gleichwertiges Äquivalent im Westen oder in der Bundesrepublik gegenüber. Die innenpolitische Situation zeigt zudem eine große Asymmetrie der treibenden Kräfte für ein Konzept konventioneller Abrüstung. Um heute jedoch – im Gegensatz zu dem Ziel der Verhinderung einer qualitativ hochwertigen Aufrüstungsmaßnahme – das anspruchsvollere positive Ziel einer weitergehenden und tiefergreifenden konventionellen Abrüstung in ganz Europa durchzusetzen bedarf es aber eines umfassenderen gesellschaftlichen Konsenses (Wolfgang Zellner, Das Mandat von Wien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/1989).

Die weitestgehende Position in der Bundesrepublik vertritt die

SPD: Überwindung der Abschreckung…

In ihrem Parteitagsbeschluß von Münster fordert sie im Rahmen ihres Willens zur Überwindung der Abschreckung, “in Europa einen Zustand des gesicherten Friedens durch strukturelle Angriffsunfähigkeit beider Seiten auf möglichst niedrigem Niveau der Streitkräfte zu schaffen”. Gleichzeitig fordert sie explizit einen über das Genfer Mandat hinausgehenden Verhandlungsbereich: “Die Verhandlungen…sollten das Ziel haben, die Streitkräfte so zu vermindern, daß sie verteidigungsfähig, aber strukturell zu einem Angriff unfähig sind. Dabei müssen selbstverständlich auch die Luftstreitkräfte von Anfang an einbezogen werden.” Die Sozialdemokraten fordern “die Halbierung der heutigen NATO-Streitkräfte und eine darüber hinausgehende Verminderung der offensiven Waffensysteme, verbunden mit Stationierungsbeschränkungen zur Verhinderung angriffsfähiger Konzentrationen” als “Maßstab gleicher Obergrenzen mit den Streitkräften des Warschauer Paktes”. Diese gleichen Obergrenzen in Höhe von etwa 50 Prozent der heutigen NATO-Bestände sollen für schwere Kampfpanzer und Artilleriesysteme (Geschütze und Werfer) gelten, verbunden mit einer Dichtebeschränkung, die angriffsgeeignete Truppenkonzentrationen verhindert. Gleiche Obergrenzen von ca. 50 Prozent sollen auch für die NATO-Bestände für Kampfflugzeuge und für Kampfhubschrauber gelten. Diese Reduzierung um 50% ist als Übergang zu weiterer Abrüstung gedacht. Zusätzlich sollen Munitionsvorräte und offensiv nutzbares Brückengerät beschränkt werden. Die SPD verlangt zudem “eine Reichweitenbeschränkung auf ca. 50 km für alle unbemannten Flugkörper mit konventionellen Sprengköpfen”. In dem vom Parteitag angenommenen Leitantrag wird die Einsetzung einer gemeinsamen “High Level Task Force” von NATO und Warschauer Pakt empfohlen, “die den Auftrag erhält, innerhalb eines Jahres die Details für ein Kräfteverhältnis struktureller Angriffsunfähigkeit zu erarbeiten und die Militärdoktrin und Strategien aufeinander abzustimmen.” Außerdem wird die Entfernung aller schweren angriffsfähigen Waffen aus dem von der Palme-Kommission vorgeschlagenen Korridor entlang der Blockgrenzen vorgeschlagen.

(Parteitag der SPD in Münster, 30.8.-2.9.1988, Beschlüsse, Antrag A1, Parteivorstand, Frieden und Abrüstung in Europa, S. 695ff.) Ferner sprechen sich die Sozialdemokraten für drei weitere Null-Lösungen bei atomaren Gefechtsfeldwaffen (Artillerie) Kurzstreckenraketen und luftgestützten atomaren Mittelsystemen aus.

…und dritte Null-Lösung

Zu Beginn der Wiener Abrüstungsverhandlungen präzisierte SPD-Präsidiumsmitglied Egon Bahr die Haltung seiner Partei und forderte, “parallel zu den konventionellen Verhandlungen möglichst noch in diesem Jahr Verhandlungen über Atomwaffen mit der Reichweite von weniger als 500 Kilometer” aufzunehmen. Es sei “unakzeptabel”, so Bahr, “eine neue Grauzone zu schaffen, auf die sich neue Aufrüstungsbemühungen der Beteiligten konzentrieren, sei es durch eine neue Rakete als Lance-Nachfolger oder eine sowjetische Antwort darauf…Das Ziel der Verhandlungen sollte ein niedriges Niveau der konventionellen Streitkräfte sein, etwa die Hälfte dessen, was die NATO heute hat, bei Vorteilen für den Verteidiger.” Mit diesen Verhandlungszielen seien aber für die SPD im Hinblick auf die Ausrichtung der NATO-Strategie weitergehende Zielvorstellungen verknüpft, da diese Reduktionen notwendig “Strukturveränderungen” zur Folge hätten, “also Ausdünnungen mit unausweichlichen Änderungen der bisherigen strategischen Überlegungen.

Zwischen Modernisierungsverhinderung…

Auf der außerparlamentarischen Seite der Opposition, auf Seiten der Friedensbewegung gibt es außer einem ganz allgemein gehaltenen Bekenntnis zur konventionellen Abrüstung und zu “tiefgreifenden, einseitigen Abrüstungsschritten auf Seiten der NATO” (Aufruf zur Demonstration der Friedensbewegung am 10. Juni in Berlin: Das Denken modernisieren – Gerechtigkeit und Frieden brauchen Abrüstung, Flugblatt, Bonn 1989) keine weitergehende Befassung mit der Problematik. Die Friedensbewegung richtet ihre Aktionen fast nur gegen die »Modernisierung« der NATO.

und einseitigen Abrüstungsforderungen…

Auch die GRÜNEN haben bislang außer einem abstrakten Bekenntnis zur vollständigen Entmilitarisierung, Demobilisierungsforderungen und dem Verlangen nach einseitiger Abrüstung keine umfassende Gesamtkonzeption von Entmilitarisierung und Denuklearisierung aufzubieten, die – unter Einschluß einseitiger Schritte – darauf orientiert – die beiden Blöcke in einem wechselseitig aufeinanderbezogenen Prozeß zu einer neuen Friedensstruktur kommen zu lassen.

Die sozialdemokratischen Konzepte zur konventionellen Abrüstung und zur defensiven Umorientierung stammen in der Regel aus den Reihen der Friedensforschung. Hervorgetreten im Vorfeld der Wiener Verhandlungen sind erneut der ehemalige Bundeswehr-General Gerd Schmückle und der Starnberger Forscher Albrecht von Müller, die in einem neuen Abrüstungskonzept für die NATO zu der Auffassung gelangt sind, daß eine Obergrenze von 10.000 Panzern auf beiden Seiten und 5000 Artilleriegeschütze eine ausreichende Bewaffnung darstellen. Dabei soll jeweils nur die Hälfte dieser Systeme im zentraleuropäischen Raum stationiert sein.

Der SPD-Politiker Andreas von Bülow hatte bereits für die Minimalmarge von 5.000 Panzern pro Bündnissystem plädiert. (Interview in »frontal«-Magazin, April 1988) Dieser klaren abrüstungspolitischen Orientierung auf Seiten der Sozialdemokraten steht ein schwankendes und uneinheitliches Bild der die Bundesregierung tragenden Kräfte gegenüber.

Bundeskanzler Kohl sprach noch zu Beginn der VKSE-Konferenz – ohne weitere konkrete Perspektiven aufzuzeigen – ungenau von einer historischen Chance und einem “Markstein” zu einer Friedensordnung, warnte aber zugleich vor zu großen Erwartungen (Bonner Generalanzeiger vom 6.3.1989).

Die Kontrahenten: Genscher – Scholz

Die eigentlichen Kontrahenten im Regierungslager waren jedoch bis zur Kabinettsumbildung im April 1989 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der damalige Verteidigungsminister Prof. Rupert Scholz (CDU). Der Außenminister ist seit einigen Jahren nicht müde, die Veränderungen der Positionen und der Taten in der UdSSR zu loben. Genscher beharrt auf der Position, die “neue sowjetische Offenheit beherzt und entschlossen nutzen” (FAZ vom 29.4.1989). Für die Umbruchperiode im Ost-West-Verhältnis hatte er immer wieder zum Ärger der Unionsrechten den Begriff »Gezeitenwechsel» gefunden. Genscher lobte die Perestroika, die eine “Vertrauensbildung und eine Stabilisierung der internationalen Beziehungen auf kooperativer Grundlage” bei gleichzeitigem Abschied von dem Kampf der Systeme und einer Absage an die Ideologisierung der sowjetischen Außenpolitik gebracht habe. Die Vorgänge in der Sowjetunion nannte er “unumkehrbar”. Genscher mit Blick auf seinen sicherheitspolitischen Widersacher: “Diese Entwicklung liegt in unserem Interesse. Wir sollten ihr mit einer konstruktiven Grundhaltung begegnen. Abwarten und Skepsis würden unsere eigenen Interessen schädigen, würden uns zum Statisten der Weltgeschichte machen, anstatt uns in die Lage zu versetzen, die historische Chance einer durchgreifenden Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses beherzt zu nutzen (Süddeutsche Zeitung vom29. 7. 1988).

Abschreckung erhalten

Scholz dagegen sprach in der Regel von Hoffnungen, denen Realitäten erst noch folgen müssten. Gorbatschows Politik müsse in “ihren tatsächlichen Auswirkungen und ihren Entwicklungsperspektiven für das Ost-West-Verhältnis noch sehr genau und sehr sorgfältig beobachtet und untersucht werden …dieser Weg ist noch mit vielen Ungewißheiten und offenen Fragen gepflastert.” (Rede auf der 6. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für die NATO nahm er ohne jede Abstriche in Anspruch, sowohl strikt defensiv zu sein, als auch “kein Feindbild, das wir nie hatten”, abbauen zu müssen. Scholz beharrte – in deutlichem Gegensatz zu Genschers Formel, daß die Abschreckung zumindest ein zweites Sicherheitsnetz benötige, – klar auf der Abschreckung und qualifizierte die Gorbatschowsche Politik des Ausstiegs aus der Abschreckung groteskerweise als Ziele ab, “die keineswegs einem neuen Denken zu entspringen scheinen.” Trotz der bis dahin überreichlich vorhandenen Vorschläge des Warschauer Paktes zum Abbau von Asymmetrien beharrte er auf der Einschätzung, es sei “offensichtlich daß eine Erfüllung dieser Forderungen die vorhandene militärische Überlegenheit des Warschauer Paktes noch mehr zur Wirkung bringen würde.”

“Das operative Minimum”

In Anlehnung an sozialdemokratische Begriffsbildungen kreierte Scholz zwar das “Konzept gegenseitiger Sicherheit”, daß “von keiner Seite mehr als den Verzicht auf absolute militärische Sicherheit” verlange, mithin “die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit einzuräumen.” Eine Abrüstungsperspektive sucht man aber in diesem Konzept vergeblich, da der Minister für die NATO behauptete, daß im Rahmen der “klassischen Defensivausrichtung ihrer Strategie der Umfang ihrer Streitkräfte für die grenznahe Vorneverteidigung zu gering sei. Schon das notwendige “operative Minimum ist bereits größer, als die NATO heute an präsenten, rasch verfügbaren Kräften bereitstellen kann.” (Sicherheit in Europa, Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung am 12. September 1988, Bulletin der Bundesregierung, Nr.114 vom 15. 9. 1988). Wenig später relativierte er zwar die 95-Prozentorientierung bei den Reduzierungsvorschlägen der NATO für die VKSE-Verhandlungen, die gegebenenfalls “kein Dogma” sein dürften, sprach aber vor Beginn der Verhandlungen wiederum von “dem gigantischen Militärpotential, das die Sowjetunion gerade in Europa aufgetürmt hat” und lehnte mit Blick auf die Gorbatschow-Initiative vor der UNO einseitige Vorleistungen des Westens strikt ab (Zum Beginn der VKSE, Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989).

Demgegenüber verfolgte Außenminister Genscher eine konstruktivere Linie. In einem vielbeachteten Namensartikel in der »Frankfurter Rundschau« vom 7.4.1988 forderte er die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und eine Absage an den Gedanken, konventionelle Ungleichgewichte mit taktischen Nuklearwaffen ausgleichen zu wollen. Genscher verlangte in dem vom Bundessicherheitsrat abgesegneten Gesetz Verhandlungen über den asymmetrischen Abbau der Waffengattungen, die die Sowjetunion begünstigten: Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie mit dem Ziel “gleiche Obergrenzen nur leicht unter dem Niveau der schwächeren Seite durchzusetzen. In einer langfristigen Perspektive sollten dann weitergehende Reduzierungen erfolgen. (Konventionelle Stabilität-Kernproblem europäischer Sicherheit, Frankfurter Rundschau vom 7.4.1989).

Rühe auf SPD-Kurs

Ebenso für ein flexibleres, längerfristig angelegtes Konzept plädierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, mit dem er die im Wettstreit um Konzepte zur konventionellen Abrüstung erklärtermaßen zumindest öffentlich in die Defensive geratene NATO wieder in eine Initiativposition manövrieren wollte. Rühe schlug eine weitere Halbierung des bereits auf gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau (85% des NATO-Niveaus) reduzierten kampfentscheidenden Großgeräts vor und die Überführung des herausgelösten Materials in Depots: “Die Verhandlungsformel für diesen Schritt heißt also: gleiche Obergrenzen minus 50 Prozent”. Dies seien, so Rühe “deutliche Opfer und Einschnitte”. (Als Ziel ein Europa mit weniger Panzern, Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1988) Damit war Rühe mit ein paar rhetorischen Verrenkungen und Windungen schließlich bei dem schon skizzierten Konzept des SPD-Parteitages von Münster angekommen. Ein Unterschied freilich bleibt bestehen. Rühe will keinen Verzicht auf die atomare Abschreckung. Voraussetzung bleibt auch für ihn die Aufrechterhaltung der Abschreckung, “die auf einem Mindestmaß an Nuklearwaffen besteht.”

Damit wird der enge Zusammenhang der konventionellen Abrüstung mit der nuklearen »Modernisierungs«-Diskussion deutlich. Da das Kriterium für den Verzicht auf nukleare Kurzstreckensysteme die Herstellung konventioneller Stabilität sei, so der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Lamers, gehe es bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung nicht nur um konventionelle, sondern zugleich um atomare Waffen. Damit markierte er zugleich eine verhaltene Positionsbestimmung zugunsten einer dritten Null-Lösung. (Karl Lamers: Konventionelle Abrüstung in Europa. In: aus politik und zeitgeschichte, B18/1988, 29.4.1988)

An dem damit angesprochenen Punkt der taktischen Nuklearwaffen wird das ganze zerrissene Dilemma der Bonner Politik der “manifesten Panik” (FAZ vom 20.4.1989) zwischen nuklearer Nibelungentreue zum Bündnis, zwischen dem öffentlichen Druck der stärker an Unterstützung gewinnenden politischen Perspektive einer von Atomwaffen befreiten Welt und der Betroffenheit als potentieller Kriegsschauplatz in der Mitte Europas deutlich. Diese halbherzige Position führt im Effekt dazu, daß substantielle Abrüstungsziele auch im konventionellen Bereich entweder nicht formuliert werden können oder nicht formuliert werden wollen.

Dregger: Verminderung der taktischen Nuklearwaffen

Die Interessenlage im konservativen Lager ist dabei alles andere als eindeutig. Selbst Alfred Dregger treibt die Erkenntnis, daß “die dichtbesiedelte Bundesrepublik atomar vernichtet, aber nicht atomar verteidigt werden ” kann. Noch im April 1989 erneuerte Dregger die Forderung, das Gesamtkonzept der NATO mit einer Abrüstungsinitiative des Westens bei atomaren Kurzstreckenraketen zu verbinden. (Alfred Dregger: Entwurf einer Sicherheitspolitik zur Selbstbehauptung Europas. Europäische Wehrkunde, 12/1987, FAZ vom 10.4.1989). Demgegenüber behauptete der Kanzler noch fest: “Eine wirksame Abschreckung ist ohne auf dem zu verteidigenden Territorium stationierte Nuklearsysteme nicht glaubwürdig.” (Die Welt vom 14.12.1988)

Galvin: auf keine Aufrüstung verzichten

Der NATO-Oberkommandierende General Galvin machte denn auch schon deutlich wohin die defensive und alles andere als abrüstungsorientierte Diskussion weist. Nämlich auf eine Erneuerung des taktischen Nuklearpotentials auch dann nicht zu verzichten, wenn die Sowjetunion von ihrem konventionellen Übergewicht entscheidend herabrüste. (Interview in Die Zeit vom 23.9.1988) Welche politischen Ziele hinter dieser Haltung stehen, hatte bereits 1987 der damalige Bundesverteidigungsminister Wörner formuliert: “Die abschreckende Wirkung taktischer Nuklearwaffen ist um so größer, je tiefer diese Waffen in den Warschauer Pakt hineinreichen. Das heißt, zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.” (FAZ vom 30.6.1987)

Der Koalitionskompromiß

Der kurz nach der letzten Kabinettsumbildung gefasste Koalitionskompromiß enthält beide Elemente der widerstrebenden Auffassungen zu diesem Problem: Aufrüstungs- und Abrüstungsbereitschaft. Er erfüllt so hervorragend die Funktion, sich weiterreichende Perspektiven zugunsten einer Abrüstungsoption im nuklearen Kurzstreckenbereich offenzuhalten- dies auch aus Gründen populistischer Anbiederung – offenzuhalten, zugleich aber die Sowjetunion mit dem Offenhalten einer Aufrüstungsoption politisch unter Druck zu halten.

Zwischen diesen Polen schwankt die Bundesregierung. Kanzler Kohl sprach in seiner Regierungserklärung vom 27.4.1989 zwar von der Möglichkeit von “Verhandlungen über die nuklearen Kurzstreckenraketen…mit dem Ziel…die bestehenden Ungleichgewichte durch drastische Reduzierungen und gleiche Obergrenzen abzubauen”, verblieb aber damit ebenfalls im Rahmen der Abschreckung, da er die Formulierung der Null-Lösung vermied. (Bulletin, 28.4.1989) Die unnachgiebige Haltung machte der CSU-Abgeordnete Graf Huyn in der Debatte über die Regierungserklärung deutlich, als er “sich für eine Modernsierung und gegen Verhandlungen vor einem Vollzug konventioneller Abrüstung” aussprach (FAZ vom 29.4.1989) Dahinter steckt die Vorstellung, die Sowjetunion in ihrem Willen nach Abrüstung mit der Ablehnung der Dritten Null-Lösung unter Druck zu halten und so konventionell entwaffnen zu können: “Aus militärischer Sicht ist daher das Ziel von KRK etwas konkreter zu formulieren. Es gilt, die Streitkräfte des Warschauer Paktes unter das Invasionsminimum zu reduzieren, der NATO jedoch das Verteidigungsminimum zu erhalten.” (Karl-Heinz Kamp: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural – Sachstand und Probleme. aus politik und zeitgeschichte, b8/89 vom 17.2.1989). Wobei ja bereits Verteidigungsminister Scholz festgestellt hatte, das das “operative Minimum” der NATO schon jetzt gefährdet sei. Bewußt offen bleibt dabei natürlich, wie diese Begriffe konkret zu füllen sind.

Da die USA ihre Position aber offenkundig im Bündnis unter allen Umständen durchsetzen wollen, sah die FAZ bereits das Horrorbild einer ihrer nationalen Souveränitäten beraubten Staatenallianz heraufschimmern und prophezeite: “Die Zeichen stehen auf Sturm.” (FAZ vom 20.4.1989) Der Koalitionskompromiß steht auch insofern für gewachsene Konfliktbereitschaft der Bundesregierung nationale Interessen im Bündnis stärker zu vertreten. Hieran gilt es anzuknüpfen.

Im Banne der Abschreckungsparadoxie

Hinter dieser verkeilten Interessenlage steht nichts anderes als die zunehmende Unverantwortbarkeit einer Militärstrategie, die das, was sie zu verteidigen vorgibt, gleichzeitig aber ständig als Verfügungsmasse möglicher Vernichtung kalkuliert.

Eine friedenspolitische Perspektive der Entmilitarisierung und Denuklearisierung vermag und will sich die NATO jedoch trotz der Tatsache, daß sie mit der Abschreckung in die Sackgasse geraten ist, nicht vorstellen. Noch immer windet sie sich in dem nur noch semantisch auflösbaren Dilemma, die Verteidigung der USA mit der Europas verkoppeln zu wollen: Der ausgeschiedene Verteidigungsminister Scholz konnte als Antwort auf die Frage nach der Strategie der Zukunft nur ein “weiter so” formulieren: “Es ist eine permanente Aufgabe der militärstrategischen Konzeption der NATO, die Spannung zwischen den Maximen der Konflikteindämmung und der Risikoausweitung zu überbrücken.” (“Europäische Sicherheit” –Rede auf der 26. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für den SPD-Politiker Andreas von Bülow ist die hinter dieser Position stehende Sichtweise, Frieden nur als Resultat nuklearer Abschreckung definieren zu können, ein “Entmündigungsbescheid”, bei dem nur diejenigen, die den nuklearen Schirm spannen, zu bestimmen hätten. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Bei diesen Positionen ist es nicht verwunderlich, daß die NATO auch keine eigenständige Antwort jenseits der Abschreckung auf die entscheidende Zukunftsfrage zu formulieren vermag: “Wie sollte sicherheitspolitisch Europa im Jahre 2000 aussehen?…Jetzt könnte erstmalig eine Krise der Glaubwürdigkeit entstehen, wenn nämlich seine Bürger den Eindruck gewinnen würden, das Bündnis sei nicht abrüstungswillig oder -fähig.” (Egon Bahr. Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989)

VI. Druck auf tiefergehende Abrüstungsschnitte

In der Fachdiskussion wie in der öffentlichen Meinung verstärkt sich allerdings der Druck auf ein umfassendes Abrüstungskonzept im konventionellen Bereich. Annäherungen an die von einer fortschrittlichen, europäischen, weiterreichende Abrüstungsschnitte befürwortende Sichtweise war bereits 1987 in den Vereinigten Staaten durch eine Studie des Forschungsdienstes des US-Kongresses zum Ausdruck gekommen. Ein für den demokratischen Abgeordneten Stephen Solarz verfasster Bericht gelangt zu dem Resultat, daß die Aussichten auf eine Stärkung der konventionellen Streitkräfte, wie sie die USA seit langem von den westeuropäischen NATO-Mitgliedern fordern, sehr gering sind.

Als Alternative schlugen sie vor, daß in den anstehenden Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung die NATO zunächst auf die Entfernung und Zerstörung aller amerikanischen und sowjetischen nuklearen, chemischen und konventionellen Kurzstreckenraketen aus dem Reduktionsgebiet dringen solle und auch die Kampfbomber daraus entfernen solle. Damit solle die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf die NATO reduziert werden. Neu an der Studie war, daß die amerikanische Demokratische Partei die atomare Abrüstung offensichtlich nicht weiter mit der konventionellen Rüstungsverstärkung koppeln will. Damit wurden erste Anklänge an das SPD-Konzept der »strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« sichtbar. (Congressional Research Service/Library of Congress (CRS): Report for Congress. Conventional Arms Control and Military Stability in Europe. Washington, Oktober 1987)

Bereits Anfang 1988 hatte der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr nach Beratungen der sogenannten „Skandi-Lux-Gruppe» in Bonn, einem informellen Gremium sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien Norwegens, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs für die Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich eine so weitgehende Abrüstung vorgeschlagen, daß die auf beiden Seiten verbleibenden konventionellen Waffen die Anwesenheit landgestützter amerikanischer Atomwaffen in Europa nicht mehr rechtfertigten. (FAZ vom 1.3.1988)

Reduzierung um 50 Prozent

In der Zwischenzeit hat sich der frühere NATO-Oberkommandierende in Europa, US-General Goodpaster in die Diskussion um die konventionelle Abrüstung eingeschaltet und mit einem eigenen Vorschlag den Finger in die Wunde des marginalen NATO-Lösungsansatzes gelegt. Goodpaster “hat auf eine Halbierung der Truppen der NATO und des Warschauer Paktes gedrängt und damit im US-Senat beträchtliches Aufsehen erregt. Beide Bündnisse sollten bis Mitte der 90er Jahre in Europa auf die Hälfte ihrer derzeitigen Stärke abrüsten und eine von schweren Waffen freie Zone schaffen, sagte Goodpaster… vor dem Streitkräfteausschuß des Senats. Die nach einer Halbierung verbleibenden Waffen sollten umgruppiert werden. Das Angebot der NATO, die Zahl ihrer Panzer und Artillerie um bis zu zehn Prozent zu verringern, sei nur als Ausgangspunkt angemessen. Wenn die NATO nicht weiter gehe, würde dies nicht den Interessen der westlichen Länder dienen.” (Kölner Stadt-Anzeiger, 8./9. 4. 1989).

Ein weiterer in dieselbe Richtung zielender Vorschlag wurde kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt. In einem “Alternativen Gesamtkonzept für Verteidigung und Abrüstung der NATO” schlugen so bekannte Forscher und Politiker wie die früheren SIPRI-Chefs Frank Blackaby und Frank Barnaby, der frühere CIA-Chef William Colby, der deutsche Admiral Elmar Schmähling sowie der ehemalige Chef der US-Abrüstungsbehörde, Paul Warnke am Vorabend der Präsentation des offiziellen Gesamtkonzeptes der NATO zeitgleich in Brüssel, Bonn, Washington und London “langfristig ein Europa (vor), in dem die internationalen Beziehungen demilitarisiert worden sind.” Das vom British-American-Security-Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group in Großbritannien und dem Committee of National Security in den USA entwickelte Konzept spricht angesichts des Prozesses in der Sowjetunion im Gegensatz zu dem vor Jahren immer benutzten Begriff vom “Fenster der Verwundbarkeit” von einem “Fenster der Möglichkeiten”. Die Studie schlägt der NATO vor, mit dem Tabu der einseitigen Abrüstung zu brechen und parallel zu den Wiener Verhandlungen mit der Verschrottung der atomaren Artillerie zu beginnen. Ziel der Verhandlungen soll ein System gemeinsamer Sicherheit sein, am Ende des Abrüstungsprozesses müsse eine Umstrukturierung beider Militärblöcke zu Defensivbündnissen stehen. Dazu biete sich auch eine Defensivzone ohne Angriffswaffen entlang der Blockgrenze an. (The »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO from Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989)

Zu den anstehenden Verhandlungen in Wien hat auch die Sachverständigengruppe Sicherheitspolitik der Deutschen Kommission Justitia et Pax ein ausführliches Gutachten beigesteuert. Die sicherheitspolitischen Berater der katholischen Kirche fassen darin ihre Vorschläge in mehreren Empfehlungen für beiderseitiges kooperatives Vorgehen zusammen, die die Beseitigung der konventionellen Offensivfähigkeiten beinhaltet. Dabei gehe es vorrangig um die Beseitigung von Übergewichten, Reduzierung der Streitkräfte sowie deren Umstrukturierung im Sinne einer wirksamen Einschränkung der Offensivfähigkeiten und nicht um die bloße Herstellung von Parität. Die katholischen Experten fordern gleichzeitig die Reduzierung der nukleartaktischen Potentiale. (Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa, Kommission Justitia et Pax, Bonn 1989)

VII. Schlussfolgerungen

  1. Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte bieten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa die Chance zu weitreichenden Rüstungsschnitten und zur Einleitung eines Prozesses defensiver Umwandlung der militärischen Blockkonfrontation, an dessen Ende der Aufbau einer politischen Friedensordnung stehen könnte.
  2. Das Verhandlungsmandat läßt eine große Übereinstimmung in den Kriterien und Bereichen für diese Umwandlung und damit politischen Willen für diesen Prozeß erkennen.
  3. Die Staaten des Warschauer Paktes haben bereits einseitig mit Reduzierungen begonnen, beginnen ihre Militärdoktrinen defensiv umzustellen und haben einen Verhandlungsvorschlag vorgelegt, der offen ist für weitergehende Schnitte in allen Rüstungsbereichen.
  4. Mit dem Vorschlag, auf ca.95 Prozent des jetzigen Niveaus der NATO-Streitkräfte herabzurüsten, steht dem ein marginaler, defensiver Lösungsansatz der NATO gegenüber, der im wesentlichen auf dem status quo beharrt. Zudem läßt sie keinerlei kritische Überprüfung und Änderung ihrer bisherigen Militärstruktur erkennen.
  5. Das Konzept der NATO zielt im weiteren auf eine Kombination von Abrüstung (im konventionellen Bereich) und Aufrüstung (im nuklearen Bereich). Ziel ist eine erhebliche konventionelle Entwaffnung der Sowjetunion, gleichzeitig soll auf westlicher Seite die Abschreckung auf qualitativ verbessertem Niveau neu installiert werden. Damit wird der Prozeß konventioneller Abrüstung behindert. Als größtes Hindernis, den Abrüstungsprozeß vertraglich voranzutreiben, stellt sich die Weigerung der NATO dar, auf die Modernisierung ihres taktischen Nuklearpotentials zu verzichten.
  6. Aufgrund der Kompliziertheit der Verhandlungsmaterie, der Vielzahl der beteiligten Interessen und Verhandlungsteilnehmer besteht die Gefahr einer über lange Jahre sich hinziehenden Verzögerung und Verwässerung des Prozesses und eines Erlahmens des öffentlichen Interesses und des politischen Willens an diesem Prozess.
  7. Gleichzeitig gibt es eine sich verschärfende Akzeptanzkrise für die Abschreckungsstrategie der NATO und die Strategie militärischer »Verteidigung« generell. Die Auseinandersetzung um die konventionelle Abrüstung war aber bislang eher ein weißer Fleck im programmatischen Konzept der Friedensbewegung. Die Wiener Verhandlungen sind ebenfalls nicht in ausreichendem Maße im allgemeinen öffentlichen Interesse präsent.
  8. Die Friedensbewegung muß bei ihrer Arbeit, die sich bisher fast ausschließlich gegen die »Modernisierung« richtete, dialektisch vorgehen. Da die (taktischen) Nuklearwaffen und die konventionellen Streitkräfte in der NATO-Strategie unauflöslich zusammenhängen, muß sie gegen die nukleare Aufrüstungsrunde der NATO und für weitergehendere konventionelle Abrüstung, als es das NATO-Konzept vorsieht, eintreten. Sie muß deutlich machen, daß das Festhalten an atomarer Abschreckung die konventionelle Abrüstung behindert und daß ein gesellschaftliches Klima und gesellschaftlicher Druck gegen Atomwaffen auch Erfolge bei der konventionellen Abrüstung wahrscheinlicher machen kann.
  9. Die Friedensbewegung muß Druck auf die Bundesregierung ausüben, bei den Wiener Verhandlungen die Forderung nach einer 50prozentigen Reduzierung des konventionellen Rüstungspotentials als offizieller Forderung der Bundesrepublik im Verhandlungsprozeß zu erheben. Sie muß angesichts der sich ausweitenden Diskussion um konventionelle Abrüstungskonzepte für diese Forderung einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zustandebringen. Gleichzeitig sollte sie die sofortige Aufnahme von parallel zu den Wiener Verhandlungen stattfindenden Gesprächen über eine dritte Null-Lösung bei den taktischen Nuklearraketen fordern.
  10. Darüberhinaus sollten zur Verhinderung neuer Aufrüstungsschritte und zur Durchsetzung künftiger abrüstungsfördernder Strukturen die Forderungen nach einem Einfrieren des Rüstungshaushalts und die Durchsetzung einseitiger Abrüstungsschritte der Bundesrepublik erhoben werden: Verzicht auf die atomare Artillerie, Herabsetzung der Bundeswehrstärke beispielsweise durch Auflösung einer Bundeswehrdivision und der Verzicht auf offensive Militärstrategien wie FOFA und ALB-Konzepte.
  11. Der Prozeß der Abrüstung sollte programmatisch mit Forderungen zu ökonomischen Alternativen für einen ökologischen und sozialen Umbau verknüpft werden: Für einen nationalen Rüstungskonversionsplan, Stop neuer Aufrüstungsprogramme, Stop der Entwicklung neuer Waffensysteme. Verhinderung der bundesdeutschen Beteiligung an westeuropäischen Rüstungsprogrammen und -industrie (MBB/Daimler-Benz).

Redaktion: Stillstand bei MBFR – ein warnendes Beispiel

Schon einmal gab es Ost-West-Verhandlungen über konventionelle Rüstung in Europa: MBFR (Mutual Balanced Force Reduction) oder Verhandlungen über “Gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Fragen in Mitteleuropa”. Diese Konferenz begann am 30. Oktober 1973 in Wien noch auf dem Höhepunkt der ersten Phase der Entspannungspolitik und stand unter schlechteren Vorzeichen als die aktuellen VKSE-Verhandlungen. Keines der beiden Bündnisse hatte nämlich ein ernsthaftes Interesse an echter konventioneller Abrüstung.

Der Warschauer Pakt schien nur deswegen in die Aufnahme der Wiener Gespräche einzuwilligen, um ihren Zugang zum KSZE-Prozeß nicht zu verbauen; die NATO hatte zuvor den Beginn der Helsinki-Konferenz von der Eröffnung der MBFR-Verhandlungen abhängig gemacht.

Der Westen hingegen konnte mit MBFR jahrelangen Bestrebungen des US-Senators Mansfield um einen einseitigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa entgegenwirken. Denn während der multilateralen Verhandlungsrunden verboten sich unilaterale Maßnahmen von selbst (Ernst Jung, Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa im Licht der MBFR-Erfahrungen, in: Außenpolitik II/1988, S. 154).

Aber auch sonst unterschied sich MBFR in mannigfaltiger Hinsicht von seinem viel ambitionierteren “Nachfolgeprojekt”:

Das Verhandlungsgebiet war nur auf Mitteleuropa beschränkt. Das Gebiet Frankreichs blieb ebenso ausgeklammert wie die westlichen Militärbezirke der UdSSR. Es wurde immer wieder kritisiert, daß dieser Ansatz selbst bei drastischen Reduzierungen in der »Zentralregion« angesichts der kurzen Nachschubwege für sowjetische Truppen und Waffen aus der Ukraine nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bedinge. Das sehr viel größere VKSE-Anwendungsgebiet nimmt solchen geostrategischen Befürchtungen ihre Relevanz.

  • Teilnehmer waren lediglich die Staaten des Verhandlungsgebiets und Länder mit ausländischer Militärpräsenz, also die Sowjetunion, die USA, Kanada und Großbritannien. Frankreich hielt sich abseits. Ganz anders die VKSE-Konferenz, wo sämtliche Mitglieder beider Militärbündnisse unter Einschluß Frankreichs teilnehmen.
  • Das Verhandlungsziel war noch viel unkonkreter formuliert als im VKSE-Mandat: “Die Teilnehmer … kamen überein, während der Verhandlungen die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen in Mitteleuropa zu erörtern … es (wird) das allgemeine Ziel der Verhandlungen sein …, zu stabileren Beziehungen und zur Festigung von Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen.” (Abschlußkommunique der vorbereitenden Konsultationen vom 28. Juni 1973, Europa-Archiv 1973, D 514). De facto verengte sich der Blickwinkel in den folgenden fruchtlosen Verhandlungsjahren nur noch auf die Truppenstärken. Eine Einigung auf ein konkret anzustrebendes Verhandlungsziel konnte hier immerhin Mitte 1978 erzielt werden: Beschränkung der Landstreitkräfte beider Bündnisse auf je 700.00 Mann. Bewaffnung, gar strukturelle Probleme blieben völlig außer Acht. West wie Ost boten immer wieder nur das marginale Ziel einer linearen Reduzierung um 10 bis 15 Prozent an.
  • Nicht einmal unter diesen vereinfachten Bedingungen konnte eine Einigung erzielt werden. Die Datenfrage wurde nämlich zu keinem Zeitpunkt gelöst. Moskau lehnte Vor-Ort-Inspektionen kategorisch ab und trug mit seiner traditionellen Geheimniskrämerei in dieser Frage zum Mißerfolg bei. Die Folge war, daß die Verhandlungen 15 Jahre vor sich hin dümpelten und außer der berühmten Konferenzkrawatte keinerlei Ergebnis erbrachten.
  • Die wechselseitigen Perzeptionen des konventionellen Kräfteverhältnisses gingen extremer auseinander als heute. Da die UdSSR ohne Differenzierungen von einer Parität ausging, forderte sie notorisch symmetrische Reduzierungen und ein Einfrieren der Rüstungen auf einem niedrigeren Niveau von numerischer Parität. Die westliche Seite hingegen konstatierte eine extreme östliche Überlegenheit und forderte dementsprechend starke asymmetrische Verminderungen zu ihren Gunsten.

Am 2. Februar 1989 wurden die MBFR-Verhandlungen nach über 15 Jahren »begraben«. Sie sind für VKSE Warnung und Hoffnung zugleich: Datenstreitigkeiten durch absolute Transparenz ausräumen und nicht zum Vehikel mangelnden politischen Abrüstungswillens zu machen.

Ingo Arend, M.A., Politologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V., (IWIF) und des Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden in Bonn. Er ist Mitglied des Bundesvorstandes der Jungsozialisten in der SPD und Mitglied der Kommission für Sicherheitspolitik beim SPD-Parteivorstand.
Michael Kalman, M.A., Politologe, arbeitet als Mitarbeiter der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) in Bonn.

Präventive Rüstungskontrolle

Präventive Rüstungskontrolle

von Jürgen Altmann / Tom Bielefeld / Malcolm R. Dando / Mark Hotz / Wolfgang Liebert / Christian Mölling / Götz Neuneck / Kathryn Nixdorff / Christoph Pistner / Dagmar Schilling

Erste Ergebnisse des Projektes »Präventive Rüstungskontrolle« des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS)

zum Anfang | Zum Projekt »Präventive Rüstungskontrolle«

Ende 1999 genehmigte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen „prioritärer erster Maßnahmen für die Friedens- und Konfliktforschung“ fünf Projekte in Bochum, Darmstadt, Dortmund und Hamburg für die kurze Laufzeit von fünfzehn Monaten. Zentrales Forschungsobjekt waren die Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle (PRK), angewandt auf vier Technologiegebiete, die rüstungsrelevant sind. Zu diesem Zweck wurde von den beteiligten Gruppen – dem Bochumer Verifikationsprojekt in Bochum bzw. Dortmund, dem Center for Science and International Security (CENSIS) der Universität Hamburg, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt – der »Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle« gegründet. Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) beteiligte sich ebenfalls an den Arbeiten und begleitete den Projektverbund sozialwissenschaftlich. Die beteiligten Gruppen sind im »Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit« (FONAS)1 zusammengeschlossen. Hier werden seit Jahren technische Analysen zu Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung angefertigt.

Zweck des Projektverbundes ist es, anhand von Analysen militärrelevanter Technologiefelder die Möglichkeiten für präventive Rüstungskontrolle zu untersuchen. Zum einen sollen darauf aufbauend umsetzbare Empfehlungen für künftige Rüstungskontrollmaßnahmen erarbeitet werden, zum anderen sollen die Methoden für eine praktikable Rüstungstechnologiefolgenabschätzung verfeinert werden. In enger Kooperation mit den beteiligten Projekten des Projektverbundes sollen allgemeine Bewertungsverfahren und Kriterien erarbeitet werden, die eine systematische Wissenschafts- und Technologiefolgenabschätzung im Hinblick auf ihr jeweiliges Rüstungspotenzial und die damit verbundenen Gefahren ermöglichen sowie die Ausarbeitung konkreter Maßnahmen zur vorbeugenden Rüstungskontrolle zulassen. Zudem soll die naturwissenschaftliche und rüstungskontrollpolitische Expertise in Deutschland im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung gestärkt werden.

Der Projektverbund besteht aus dem Rahmenprojekt und vier Einzelprojekten, die sich mit spezifischen Technologiefeldern beschäftigten (vgl. Tabelle).

Am 15. März wurden die Ergebnisse im Magnus-Haus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Leider war die Projektlaufzeit sehr kurz, so dass nur erste Ergebnisse und Empfehlungen erarbeitet werden konnten. Die Projektmitglieder haben jedoch die Hoffnung, dass eine fortgesetzte Förderung durch die »Deutsche Stiftung Friedensforschung« in den nächsten Jahren zustande kommt. Im folgenden wird eine Auswahl der Projektergebnisse einem friedenswissenschaftlich interessierten Adressatenkreis vorgelegt.2

Die Rüstungsdynamik setzt sich fort

Auch zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lässt sich kein Bild einer nachhaltigen globalen Abrüstung zeichnen. Vielmehr erfährt die Rüstungsdynamik neue Belebung. Grund ist der Versuch einiger insbesondere westlicher Staaten, allen voran die USA, militärische Überlegenheit mittels qualitativer Vorteile zu sichern oder auszubauen. Technologische Innovation und ihre Integration in moderne Rüstungstechnologie nehmen hierbei eine bedeutende Rolle ein. In den Köpfen vieler militärischer und politischer Eliten hat sich die in der Wissenschaft viel beschriebene und umstritten diskutierte »Revolution in Military Affairs« (RMA) bereits vollzogen. Mit ihr, so die Hoffnung in den Planungsstäben, eröffnen sich neue Horizonte bei der militärischen Bearbeitung von weit weniger klar definierten Sicherheitsproblemen und Konfliktszenarien. Dieses spiegelt sich in den entsprechenden sicherheitspolitischen und strategischen Konzepten der führenden westlichen Staaten wider.

Anmerkungen

1)Beschreibungen, Briefing Papers und Ergebnisse der Projekte sind zu finden unter: www.fonas.org/prk

2) Die vollständigen Kurzzusammenfassungen sowie die Endberichte der Projekte sind bei den jeweiligen Kontaktpersonen zu bestellen.

zum Anfang | Rahmenprojekt: Methoden, Kriterien und Konzepte für präventive Rüstungskontrolle

von Götz Neuneck und Christian Mölling

Das Rahmenprojekt hatte die Aufgabe, Randbedingungen und mögliche Verfahren des Konzeptes präventiver Rüstungskontrolle zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit den beteiligten Projekten des Projektverbundes sollte, auf der Basis von Kriterien, ein allgemeines Bewertungsverfahren erarbeitet werden. Hierin wird eine wichtige Grundlage für die systematische Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) gesehen. Die RTFA zielt darauf ab, in der Entwicklung befindliche Technologien im Hinblick auf ihr jeweiliges Rüstungspotenzial und mögliche Gefahren zu untersuchen.

Modelle und Praxis der Rüstungsdynamik

Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass eine effektive Rüstungskontrolle in hohem Maße abhängig ist von der Kenntnis der Rüstungsdynamik. Dieser Begriff bezeichnet jene Faktoren und Zusammenhänge, welche die Rüstung vorantreiben und die Entwicklung spezifischer Technologien und deren Anwendungen ermöglichen und charakterisieren. Zunächst zeigt sich, dass die Formen und Charakteristika der Rüstungsdynamik epochalen Veränderungen folgen. Konstatiert werden muss ein sich stetig wandelnder Wirkungszusammenhang von Wissenschaft, Technologie, Produktionsverfahren und gesellschaftlicher Organisation. Folgende vier idealtypische Dimensionen oder Kategorien sind für die wissenschaftliche Analyse relevant: Politik/Gesellschaft, Ökonomie, Militär und Technologie. Diese Dimensionen stehen zwar in Wechselwirkung zueinander, sie führen zunächst jedoch ein unterscheidbares »Eigenleben« mit eigenen Regeln und eigener Logik.

Die Gestalt und Dynamik der Systeme, die rüstungstechnologische Innovationen generieren, können sowohl hinsichtlich dieser Einflussdimensionen und -faktoren als auch in Bezug auf die relevanten Akteure und deren Interessen, die Strukturen und die ablaufenden Prozesse analysiert werden. Kommt man zu der Frage, welches der existierenden Modelle und Erklärungsansätze das System der Rüstungsdynamik mit seinen Elementen adäquat beschreibt und diese in Beziehung zu einander setzt, so muss man feststellen, dass hinreichende Erklärungen nur zu erzielen sind, wenn jene Ansätze, die auf innerstaatliche Faktoren bzw. die erwähnten Analysekategorien abzielen, durch jene, die Rüstungsdynamik aus der internationalen Konkurrenz heraus erklären, ergänzent werden. Ein homogenes Modell, welches nahezu alle jeweiligen rüstungsdynamischen Faktoren aus Politik, Ökonomie, Militär und Technologie einbezieht und zu eindeutigen Aussagen führt, ist derzeit nicht erkennbar. Hinzu kommt, dass eine Weiterentwicklung der vorhanden Ansätze, mit der diese den neuen Gegebenheiten angepasst werden können, nicht stattfindet. Diese Feststellung kennzeichnet symptomatisch ein großes Defizit in der theoretisch-konzeptionellen Bearbeitung der Thematik seit den 90er Jahren.

Wandel seit dem Ende des Ost-West-Konflikts

Bei der Betrachtung der Rüstungsdynamik der letzten Dekade zeigt sich ein disparates Bild. Neben dem Ende des Ost-West-Konflikts haben die verschiedenen Effekte der Globalisierung zu einer Veränderung der Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren geführt. Generell ist eine Zunahme der Geschwindigkeit bei der (Weiter-)Entwicklung von Rüstungsprodukten durch rüstungstechnologische Innovation zu beobachten. Dies lässt zwar die Rüstungsspirale schneller drehen, kann jedoch nicht zur Bestärkung der These einer RMA herangezogen werden. Richtig scheint hingegen die Annahme, dass der Faktor Technologie derzeit an Bedeutung zunimmt und zu einer Schlüsselvariable für die militärischen Fähigkeiten gerinnt.

Insbesondere der weltweite Rückgang staatlicher Aufwendungen für Rüstung und Verteidigung und somit das Absinken der Nachfrage prägen die Lage auf dem internationalen Rüstungsmarkt. In Folge dessen vollzieht sich ein nachhaltiger struktureller Wandel, der sowohl die Produktionscharakteristika und Industriestruktur des Sektors wie auch den Handel prägt (Internationalisierung, Aquisition & Mergers, Exportdruckerhöhung, Angebotsdiversifizierung). Im Windschatten dieses allgemeinen Abrüstungstrends erlebt die qualitative Rüstungsdynamik einen neuerlichen Aufschwung: Im Vergleich zu den Gesamtausgaben für Verteidigung sanken die Ausgaben für F&E der wichtigsten Länder nur in geringerem Maße. Man kann eindeutig von einer relativen Betonung der qualitativen Rüstung und Modernisierung sprechen.

Die Entwicklung im technologischen Bereich ist insbesondere gekennzeichnet durch zunehmende Möglichkeiten und Potenziale, die aus der zivilen Forschung resultieren. Die wichtigen Rüstungstechnologien der Zukunft sind Dual-Use-Technologien mit zivilem Ursprung. (Dies gilt insbesondere für die Biotechnologie, Informationsverarbeitungstechnologien, Kommunikationstechnologien, Materialforschung, Weltraumtechnologien und die Familie der Mikro- bzw. Nanotechnologien). Entsprechend ist abzusehen, dass militärrelevante Vorgänge erst in der Phase der Anwendungsforschung oder zu einem noch späteren Zeitpunkt offiziell als militärische Forschung deklariert werden. Hier eröffnet sich ein Forschungsproblem für die präventive Rüstungskontrolle, da dem Ziel der PRK, frühest möglich Einblick in die relevante Forschung zu gewinnen, sowohl das Argument der Geheimhaltung aus Wettbewerbsgründen als auch der Verweis auf den »offensichtlich« rein zivilen Charakter der Forschung entgegenstehen.

Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und Leitbilder haben sich gewandelt und diversifiziert. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete auch den Zusammenbruch der eindimensionalen Bedrohungswahrnehmung zwischen Ost und West. An dessen Stelle tritt eine teilweise unspezifische Ansammlung potenzieller Risiken. Das neue Leitbild und die Realität des militärischen Krisenmanagements bzw. der Interventionsfähigkeit hat alte Szenarien in den Hintergrund treten lassen. Dieser Perspektivwechsel hat wesentlichen Einfluss auf künftige Anforderungen an westliche Streitkräfte. Hinzu tritt ein gradueller Wandel der antizipierten Basis militärischer Stärke durch die Betonung qualitativer Elemente gegenüber quantitativen. Eine Folge der Perzeption von Qualität als einem wichtigen Schlüssel zu militärischer Überlegenheit ist die Ausweitung bzw. »Vorverlagerung« der Einflussfaktoren der Rüstungsdynamik in den Bereich der F&E/E.

Auf der militärischen Ebene eröffnet die Umsetzung der Prämisse von technologischer Überlegenheit zum einen die Aussicht auf den effektiveren Einsatz der Kräfte (force multiplying). Zum anderen wird die Abhängigkeit moderner Streitkräfte und Strategien von Hochtechnologiekomponenten und ihrer Vernetzung erhöht. Waffensysteme in modernen Armeen sind zunehmend nicht mehr als einzelne Einheiten zu sehen, sondern sind in elektronische Verbünde einbezogen, die, beginnend mit der Aufklärung über die Kommunikation und Führung bis hin zum Einsatz von Präzisionswaffen komplexe Netzwerke umfassen.

Weniger der fehlende Wille denn die leeren Kassen der Verteidigungsministerien verhindern derzeit in den meisten Ländern eine lückenlose Umsetzung neuer technologischer Innovationen in Rüstungstechnologien. Doch ist festzuhalten, dass die Rüstungsdynamik durch die Vorwegnahme neuer Szenarien und die darauf reagierenden neuen Rüstungsprogramme und Strategien, die zunehmend auf die Integration von High-Tech-Elementen setzen, angeheizt wird. Das Denken in Kategorien eines »virtuellen Wettrüstens« beginnt bereits im Bereich militärischer F&E/E neuer Waffen. Diese Entwicklung ist insbesondere in Staaten zu beobachten, die über eine hochmoderne Industrie- und Forschungsinfrastruktur verfügen. Hierbei spielen die USA eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Definition der technischen Notwendigkeiten.

Rüstungskontrolle vor neuen Herausforderungen

Eine Bilanz des vergangenen Jahrzehnts zeigt, dass Rüstungskontrolle zunehmend als überholtes Konzept angesehen wird. Dies geschieht auch und gerade, weil es die Staatengemeinschaft unterlassen hat, die Rüstungskontrolle den neuen Herausforderungen der Rüstungsdynamik anzupassen. So zielen die bestehenden Verträge in ihrer Mehrzahl auf vorhandene militärische Potenziale ab. Prognostizierbare oder bereits fest geplante qualitative Entwicklungen und Kapazitätserhöhungen werden in der Regel nicht berührt. Diese sind jedoch Gegenstand strategischer Kalkulationen in den Planungsstäben.

Das vormals globale Szenario der Rüstungskontrolle ist in diverse regionale Szenarien zerfallen. Ob dies die Kontrolle erschwert oder vereinfacht, kann nicht abschließend beantwortet werden. Klar ist jedoch, dass in vielen Regionen die Kontrolle von entstehenden Rüstungspotenzialen bisher noch gar nicht auf der Tagesordnung steht.

Immer deutlicher tritt das Problem zutage, Schlüsselstaaten wie die USA, Nord Korea, Indien oder den Iran in die Bearbeitung der Rüstungskontrollproblematik einzubeziehen. Ein zentraler Akteur sind die USA, deren Unilateralismus diverse, dringend notwendige globale Vereinbarungen erschwert.

Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob die internationale Gemeinschaft Rüstungskontrolle weiter als effektives Instrument der Friedens- und Sicherheitspolitik begreift und sie erhalten bzw. ausbauen will. Ist internationale Rüstungskontrolle weiterhin gewünscht, so muss sie an die neuen Herausforderungen angepasst werden. In dieser Situation sind Konzepte für eine nachhaltige Rüstungskontrollpolitik der Zukunft gefragt.

PRK als eine Antwort

Die Entwicklung der Rüstungsdynamik und die Defizite der bestehenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen sind Grund genug für die Suche nach systematischen Beschränkungsmöglichkeiten rüstungstechnologischer Innovation. Präventive Rüstungskontrolle (PRK) zielt als eine Variante bzw. Weiterentwicklung der qualitativen Rüstungskontrolle darauf ab, rüstungstechnologische Innovationen zu minimieren, die als nachteilig für internationale Sicherheit und Frieden bewertet werden.1

Die Begründung der Notwendigkeit von PRK liegt in einem erweiterten Verständnis von Rüstungskontrolle. Die klassische Rüstungskontrolle (und Abrüstung) basiert auf der Verregelung des Besitzes, des Erwerbes und der Anwendung von Waffen und Gerät. Nun sollen die zeitlich vorgelagerten Prozesse der F&E/E in den Blickpunkt gerückt werden. Diesem Bereich der Rüstungsinnovation ist in der Vergangenheit wenig Beachtung geschenkt worden. In Einzelfällen reichen zwar Verträge in die Frühphase der Rüstungsinnovation hinein – ohne jedoch in jedem Falle substanzielle und dauerhafte Effekte zu haben. Eine Fortentwicklung in Form eines umfassenden Ansatzes ist bis heute ausgeblieben.

PRK will noch nicht bestehende, aber infolge rüstungstechnologischer Innovation in absehbarer Zukunft mögliche, militärische und anderweitig Gefahren induzierende Konsequenzen durch die Steuerung, möglicherweise auch Blockierung bestimmter Entwicklungsstränge frühzeitig verhindern oder bereits stattgefundene Stationierungen qualitativ begrenzen.

Es soll zunächst die Beurteilung von militärrelevanter F&E/E ermöglicht werden. Hierzu ist ein Katalog von Kriterien entwickelt worden. Auf dessen Grundlage soll die sogenannte Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) rüstungsrelevante Entwicklungen darstellen und bewerten. Das Ergebnis dieser Abschätzung bildet die Grundlage für die Ausarbeitung konkreter Maßnahmen zur präventiven Rüstungskontrolle in Bezug auf die jeweilige Technologie.

Kriterien der PRK

Mit der Beurteilung von Technologien, die sich im Stadium der F&E/E befinden, wird versucht nachzuweisen, dass eine Technologie rüstungsrelevant ist, dass, gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft, nachteilige Folgen sowie problematische Nutzungspotenziale konkret durch diese Technologie zu erwarten sind und welche dies sind. Den Bewertungsmaßstab für diesen Entscheidungsprozess bildet ein Satz von Kriterien. Hierbei orientiert sich der Projektverbund nicht allein an der militärischen Dimension von Sicherheit. Vielmehr gehen wir von einem friedens- und sicherheitspolitischen Leitbild aus, welches versucht, neben den klassischen Kriterien (Kriegsverhinderung, Schadensvermeidung, Kostenverminderung) Aspekte nachhaltiger Entwicklung und menschlicher Sicherheit aufzunehmen.

Dies spiegeln insbesondere die Kriterien wider, welche die »Gefahrenvermeidung für nachhaltige Entwicklung« zum Maßstab erheben. Hierunter fallen neben den Gefahren für das Individuum und seine Umwelt als natürliche Lebensgrundlage auch die Bedrohungen für gesellschaftliche und politische Systeme sowie für die gesellschaftliche Infrastruktur. Durch den Begriff der Entwicklung wird der Bewertungshorizont über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft erweitert und erfordert eine langfristige Perspektive bei der Betrachtung der Technologien.

Eine zweite Gruppe zielt auf die »Effektivierung der bestehenden und zukünftigen Instrumente der Rüstungskontrolle« in Form von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen sowie bestehenden Völkerrechtsnormen, insbesondere denen des Kriegsvölkerrechts. Zentral ist auch die besondere Ächtung der Massenvernichtungswaffen. Eine letzte Gruppe betont die Notwendigkeit des »Erhaltes und der Förderung von Stabilität und internationaler Sicherheit«,welche insbesondere durch die Vermeidung qualitativer Aufrüstung sowie horizontaler oder vertikaler Proliferation/Diffusion von rüstungsrelevanten Technologien, Materialien oder von Wissen charakterisiert wird.

Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung

Der Bewertungsprozess selbst wird als Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA) bezeichnet. Er orientiert sich an folgenden Punkten:

1. der hypothetischen Möglichkeit eines negativen Einflusses einer Technologie gemäß der Kriterien als Ausgangspunkt der Überprüfung/Abschätzung

2. dem Realisierungsstand, den die Technologie erreicht hat

3. der Absehbarkeit der Realisierungswahrscheinlichkeit der Technologie

4. den Realisierungsfolgen, beschrieben in Anlehnung an die Kriterien

Für Punkt 1 und in begrenztem Maße für Punkt 4 kann auf einen vorhandenen Bewertungsmaßstab in Form der Kriterien zurückgegriffen werden. Ein solcher Maßstab ist für die Bestimmung der Realisierungswahrscheinlichkeit bisher nicht detailliert vorhanden. Die Ergebnisse der Einzelprojekte werden unter diesem Gesichtspunkt abschließend bewertet, um zusätzliche Anhaltspunkte für Maßstäbe zu erhalten. Sowohl für die Abschätzung der Realisierungswahrscheinlichkeit als auch für die Prognose der Realisierungsfolgen bedarf es eines systematischen Analysemodells, mit dessen Hilfe die realen Vorgänge innerhalb der spezifischen Rüstungsdynamik, in welche die Technologie involviert ist, bewertet werden können. Die oben benannten methodischen wie konzeptionellen Defizite sind in diesem Projekt zwar erkannt, jedoch nicht abschließend gelöst worden. Für die bisher vorgenommene RTFA im Rahmen der Einzelprojekte steht zunächst eine Liste mit Leitfragen zur Verfügung, die versucht, auf die allgemein wichtigsten Faktoren aufmerksam zu machen. Analyse, Gewichtung und Bewertung sind den Analysten überlassen.

Will man die Vergleichbarkeit der Ergebnisse garantieren, ist für die Zukunft jedoch ein Analyse-Instrument unabdingbar, welches übertragbar ist auf eine große Zahl von Einzelfällen, und welches die relevanten Faktoren, deren wechselnde Gewichtungen und die resultierende Dynamik sicher abbildet.

Die Konsequenz: PRK umsetzen, Forschung stärken

Die verstärkte Hinwendung der friedenswissenschaftlichen Forschung zu den Konfliktursachen hat den Bereich der Rüstungsdynamik mit seinem konfliktverschärfenden Potenzial wie auch die Rüstungskontrolle mit ihren Möglichkeiten, entsprechende Konflikte einzuhegen und zu bearbeiten, in den Hintergrund treten lassen. Erst die Debatten um NMD und die Bio-Waffen lassen die Aufmerksamkeit auf dieses Feld zurückkehren, das, in Folge des beschriebenen Wandels, ein bislang wenig verstandenes Konfliktpotenzial birgt. Eine zentrale Herausforderung in diesem und anderen Feldern ist die Prävention. Mit der Betonung dieses Prinzips reiht sich die Rüstungskontrollforschung in die friedenswissenschaftlichen Prämissen und Ergebnisse der Nachbarwissenschaften ein.

Die hier in Kürze dargebotenen Ergebnisse, insbesondere die aufgezeigten Probleme, legen ein beherztes politisches Handeln nahe. Die Umsetzung der folgenden Empfehlungen dürfen auch als Prüfstein für die Aussage der Bundesregierung verstanden werden, präventive Rüstungskontrolle als Teil einer sicherheits- und friedenspolitischen Gesamtstrategie zu verfolgen. Im Zentrum stehen hierbei insbesondere Bemühungen auf internationaler Ebene.

Zum einen ist die Einrichtung eines Registers für militärische Forschung Entwicklung und Erprobung, angesiedelt bei den Vereinten Nationen, angeraten. Hier sollen systematisch und öffentlich zugänglich alle relevanten Aktivitäten erfasst und ausgewertet werden.

Darüber hinaus macht die Prävention im Rahmen der Rüstungskontrolle nur Sinn, wenn sie als Prinzip systematisch in bestehende und zukünftige Rüstungskontrollvereinbarungen eingebracht wird. Dies bedeutet sowohl, sich stark zu machen für entsprechende Anpassungsklauseln in den betroffenen Verträgen, wie auch den Versuch zu unternehmen, die Staatengemeinschaft für die rein friedliche Nutzung der Technologien und Forschungsergebnisse zu gewinnen.

Ein internationales Frühwarnkomitee »Rüstung, Wissenschaft, Technologie und internationale Sicherheit« bei den Vereinten Nationen soll Informationen und Analysen sowie Prognosen zur Rüstungsdynamik und Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung bereitstellen. Solch eine Gruppe könnte zum einen Kontakt zu weltweiten Analyseeinheiten halten, die sich mit Rüstungsdynamik beschäftigen. Zum anderen könnten hochrangige WissenschaftlerInnen dem Sicherheitsrat bzw. dem Department of Disarmament Affairs zuarbeiten bzw. diese beraten.

Grundlage für die hinreichende Bearbeitung des Themas

Rüstungskontrolle/Rüstungsdynamik sind sowohl die inhaltliche Forschung zu speziellen Technologien wie auch die Arbeiten zur Methodik und Konzeption sowie den Umsetzungsmöglichkeiten für Maßnahmen zur präventiven Rüstungskontrolle. Mit Ende der Förderung des Projektverbundes Präventive Rüstungskontrolle findet nach unserem Kenntnisstand in Deutschland keine unabhängige Forschung zur rüstungstechnologischen Innovation und PRK mehr statt. Auch im Ausland stellen solche Studien eher die Ausnahme dar. Dem entsprechend wird dringend geraten, die entstehende Lücke zu füllen und eine kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet präventiver Rüstungskontrolle und technologischer Krisenprävention zu gewährleisten und substanziell zu fördern.

Anmerkungen

1) Siehe dazu G. Neuneck/R. Mutz (Hrsg.) (2000): Vorbeugende Rüstungskontrolle, Baden-Baden.

Dr. Götz Neuneck und Dipl. Soz.-Wiss. Christian Mölling c/o IFSH Falkenstein 1, eMail: neuneck@public.uni-hamburg.de

zum Anfang | Fallbeispiel: Relevanz der Biotechnologie für die Bio-Waffen-Konvention

von Kathryn Nixdorff, Mark Hotz, Dagmar Schilling und Malcolm R. Dando

Die »Biologische und Toxinwaffenkonvention« (BTWC) war das erste internationale Übereinkommen, das eine ganze Klasse von Massenvernichtungswaffen verbannt hat. Der Artikel I der Konvention enthält umfassend formulierte Verbote für alle denkbaren Situationen: „Each State Party to this Convention undertakes never in any circumstances to develop, produce, stockpile or otherwise acquire or retain: 1. Microbial or other biological agents, or toxins whatever their origin or method of production, of types and in quantities that have no justification for prophylactic, protective or other peaceful purposes 2. Weapons, equipment or means of delivery designed to use such agents or toxins for hostile purposes or in armed conflict.“

Es wurden jedoch keine effektiven Verifikationsmaßnahmen in die Konvention inkorporiert. Dies lag zum Teil an den Schwierigkeiten bei Verhandlungen über solche Maßnahmen, aber auch an der falschen Vorstellung, dass biologische Waffen (BW) aus militärischer Sicht in ihrer Nutzbarkeit limitiert seien. BW (speziell die Verursacher von Infektionskrankheiten) sind aufgrund ihrer Eigenschaften schwer einschätzbar; ihre Effekte können nicht so präzise wie bei anderen Waffenarten vorausgesagt werden und sie können leicht außer Kontrolle geraten.

Zwischenzeitlich hat sich die Ansicht über die mögliche militärische Nutzung biologischer Waffen stark verändert. Als die Konvention 1975 in Kraft trat, begann gerade die Revolution in der Biotechnologie: Kurz nach Abschluss der BTWC-Verhandlungen wurde das erste erfolgreiche gentechnische Experiment durchgeführt. Diese Entwicklung wurde bald als potenzielle Bedrohung bei der Kontrolle über biologische Waffen erkannt, und damit entstand die Angst, dass vollkommen neue, für die Kriegführung besser geeignete Arten von Mikroorganismen hergestellt werden könnten. Als Folge erhöhte sich die Forschung im Bereich der biologischen Abwehr, für einige Beobachter sogar exponentiell.

Nach dem Golfkrieg 1991 haben Untersuchungen der United Nations Special Commission (UNSCOM) offenbart, dass der Irak ein bedeutendes BW-Rüstungsprogramm besitzt. Ferner hat der damalige russische Präsident Boris Yeltsin 1992 zugegeben, dass die frühere Sowjetunion in der Zeit von 1946 bis März 1992 ein offensives B-Waffenprogramm durchgeführt hat. Es wird vermutet, dass mindestens zehn weitere Staaten offensive biologische Waffenkapazitäten entwickeln.

Solche Überlegungen erwecken ernsthafte Zweifel an der Effektivität einer biologischen Waffenkonvention ohne unterstützende Verifikationsmaßnahmen. In diesem Zusammenhang verhandelt zur Zeit eine Ad Hoc Gruppe der Vertragsstaaten über ein Protokoll mit rechtsverbindlichem Charakter, das Verifikationsmaßnahmen beinhaltet und der Konvention hinzugefügt werden soll.

Die Biotechnologie ist ein zentraler Punkt der Debatte über die Verifikationsmaßnahmen. Gemäß der Definition in der Konvention über Biologische Diversität (CBD) umfasst die Biotechnologie „jede technologische Applikation, die biologische Systeme, lebende Organismen, oder deren Derivate verwendet, um Produkte oder Prozesse für einen spezifischen Nutzen herzustellen oder zu modifizieren.“ Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte wurde die Biotechnologie durch die Molekularbiologie und die Gentechnik revolutioniert. Diese Techniken besaßen und besitzen immer noch einen großen Einfluss auf so verschiedene Bereiche wie die Medizin oder Lebensmittelkontrolle. Auf der einen Seite können diese Technologien positiv zu Forschungen, die friedlichen Zwecken dienen, sowie zum Verifikationsprozess beitragen. Andererseits allerdings können dieselben Technologien für die Entwicklung und Herstellung von BW missbraucht werden. Die großen Fortschritte in der Biotechnologie erfordern weiter führende Analysen und Beurteilungen, um die negativen Aspekte zu limitieren und die positiven zu fördern.

Das Gesamtziel des Forschungsprojekts war es, neue Entwicklungen in der Biotechnologie zu untersuchen, die eine Relevanz für die Kontrolle von BW besitzen, insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtigen und künftigen Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll zur Stärkung der BTWC. Durch den Austausch von Ergebnissen und Erfahrungen versprach die intensive Kooperation mit anderen Mitgliedern des Projektverbundes eine bedeutende Rolle bei der Erstellung von Kriterien zu spielen, die besonders relevant für PRK sind.

Bezüglich spezifischer Arbeitsziele befasste sich das Vorhaben mit der Analyse neuerer Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie, die in positiver Weise zur Verifikation der BTWC beitragen können, um Transparenz zu fördern und Vertrauen im Verifikationsregime aufzubauen. In diesem Zusammenhang wurden experimentelle Studien durchgeführt, die zu einer Verbesserung von Nachweisverfahren bei der Identifizierung von Mikroorganismen in problematischen Umweltproben beitragen sollen. Ein weiteres Ziel des Projektes war die Analyse des möglichen Missbrauchs neuerer Entwicklungen in der Biotechnologie für die Produktion von BW, um frühzeitig – bereits im Forschungsstadium – vor gefährlichen Entwicklungen warnen zu können. Schließlich wurden auch vergleichende Analysen zur Verifikation in der Chemie-Waffen-Konvention (CWC) und der BTWC erstellt um beurteilen zu können, inwieweit die BTWC der bewiesenen Effektivität der CWC gleicht.

Erste Ergebnisse

  1. Analyse neuerer Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie bezüglich ihrer Nutzbarkeit für die Verifikation von biologischen Waffen

Verschiedene für die BTWC relevante Schlüsseltechnologien wie die Gentechnik, die Polymerasekettenreaktion (PCR), Genomanalysen und Methoden zur Nukleotidsequenzierung wurden auf ihre Nutzbarkeit für die biologische Forschung hin untersucht. Obwohl verschiedene Entwicklungen als potenziell nützlich für die Verifikation von BW angesehen wurden, wurde ein neues Verfahren in molekularer Typisierung, genannt »multilocus sequence typing« (MLST), aufgrund seines großen Potenzials besonders hervorgehoben. Mit diesem relativ einfachen molekularbiologischen Verfahren können infektiöse Mikroorganismen eindeutig identifiziert und die Herkunft der Erreger sowie mögliche Mutationen bzw. Manipulationen der Mikroorganismen aufgespürt werden. Dadurch kann diese Methode einen bedeutenden Beitrag zur Bildung von Vertrauen in ein BTWC-Verifikationsprotokoll leisten und Transparenz fördern.1

  1. Experimentelle Untersuchungen zum Nachweis von Mikroorganismen aus Umweltproben unter Anwendung der Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR)

Die Polymerasekettenreaktion ist eine der am häufigsten angewandten Methoden in der Biotechnologie und kann sowohl bei der Identifizierung von Organismen als auch bei Untersuchungen auf dem Gebiet der Biodiversität und komplexen ökologischen Systemen eingesetzt werden. Es gibt jedoch eine Reihe von Veröffentlichungen, bei denen in erster Linie störende Substanzen in klinischen und natürlichen Proben zu einer Inhibierung der PCR geführt haben. Eine sehr vielversprechende Methode, die zunehmend Anwendung bei der Aufkonzentrierung und Aufreinigung von Umweltproben für die PCR findet, stellt die »immunocapture-PCR« (IC-PCR) dar. Bei dieser Methode werden Antikörper verwendet, die gegen Oberflächenantigene von Mikroorganismen gerichtet sind. Diese Antikörper sind konjugiert mit paramagnetischen »beads«, welche dazu dienen, mit Hilfe eines Magneten, Mikroorganismen aus einer Probe zu »fischen«. Dieser Vorgang führt zu einer Aufkonzentrierung der Mikroorganismen und ermöglicht auf dieser Weise das Entfernen von inhibitorischen Substanzen. Die Mikroorganismen können dann direkt durch die PCR endgültig identifiziert werden.

In dem Projekt wurde diese Methode in einem Modellsystem unter Anwendung von spezifischen und generischen Antikörpern zur Isolierung und Aufreinigung von Mikroorganismen in Umweltproben ausgetestet. Es konnte gezeigt werden, dass spezifische Antikörper gegen eine Antigendeterminante, wie sie nur in einzelnen Mikroorganismen zu finden ist, zu einem »Herausfischen« dieser Mikroorganismen aus einem Gemisch mit anderen Mikroorganismen geführt hat. Außerdem konnten mit Hilfe von generischen Antikörpern gegen eine Antigendeterminante, die bei einer Vielzahl von Mikroorganismen vorkommt, gleichzeitig mehrere verschiedene Bakterien aus einem Gemisch isoliert werden. Die Bakterien wurden anschließend in einer Multiplex-PCR identifiziert. Die optimalen Bedingungen für die Anwendung dieser Methode müssen jedoch noch weiter ausgearbeitet werden.

Analyse des möglichen Missbrauchs der Biotechnologie für die Produktion von BW

Seit der Entwicklung des »genetic engineering« wurden vier Kategorien der Manipulation oder Modifikation von Mikroorganismen in Bezug auf den Missbrauch für die Produktion von BW zum Gegenstand der Diskussion:

  • der Transfer von Antibiotikaresistenz in Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Antigendomänen von Mikroorganismen;
  • die Modifikation der Stabilität der Mikroorganismen gegenüber ihrer Umwelt und
  • der Transfer pathogener Eigenschaften in Mikroorganismen.

In der Projekt-Studie wurde eine wissenschaftlich fundierte Analyse des aktuellen Gefahrenpotenzials dieser Manipulationen im Hinblick auf die Produktion verbesserter BW durchgeführt. Es wurden drei Beispiele von Forschungsaktivitäten aus der laufenden Wissenschaftsliteratur für eine tiefer gehende Analyse ausgewählt:

  • Erstellung von genetischen Profilen für die Identifizierung von Mikroorganismen,
  • Transfer von Antibiotikaresistenz in Bacillus anthracis (dem Verursacher von Anthrax),
  • Transfer von Virulenz-Genen in Bacillus anthracis.

Anhand dieser drei Beispiele wurde das Modell einer konstruktiven und prospektiven Friedensethik angewendet, um eine gerechte Beurteilung über die Missbrauchsgefahr der Forschungsaktivitäten zu treffen. Dabei wurden sowohl Regeln der Güterabwägung als auch Regeln der Entscheidung unter Ungewissheit eingeführt und diskutiert.2

In diesem Zusammenhang wurde auf die Verantwortung der Forscher besonders hingewiesen. Die Notwendigkeit der Ausbildung von Fachleuten und Studierenden, die in BW-relevanten Gebieten arbeiten, über die Konvention und das Verifikationsprotokoll wurde angesprochen. Aus dieser Diskussion entwickelte sich eine Kooperation mit der Federation of American Scientists, die intendiert, ein solches Unterrichtsprogramm aufzubauen.

Vergleichende Analyse von Verifikation in der chemischen Industrie unter den Bestimmungen der Chemie-Waffen-Konvention (CWC) und in der biotechnologischen Industrie unter den Bestimmungen des vorläufigen Verifikationsprotokolls der BTWC

Die Analyse beginnt mit einer Darstellung des Problems fehlender effektiver Verifikationsmaßnahmen in der BTWC und beschreibt anschließend, wie das Verifikationsproblem der CWC gelöst wurde. Ein Hauptelement diesbezüglich war die Verantwortung der Regierungen und der chemischen Industrie, eine zwingende CWC auszuhandeln. Das selbe Engagement fehlt offensichtlich bei den Verhandlungen über das BTWC-Protokoll, insbesondere von Seiten der US-Regierung und der pharmazeutischen Industrie in den USA.

Eine Analyse über die Natur der modernen biotechnologischen Industrie versucht auf einige Hauptunterschiede im Vergleich zur Natur der chemischen Industrie hinzuweisen, um die Problematik der Verhandlungen über das Verifikationsprotokoll der BTWC zu verdeutlichen. Ein wichtiger Punkt wurde hervorgehoben: Vertrauen in die Willensfähigkeit eines Mitgliedsstaates kann nicht entstehen, weil alle relevanten Aktivitäten von der internationalen Organisation überwacht werden. Dieser Punkt wird in Diskussionen über die CWC oft übersehen, ist aber für das Verstehen der Verifikationsmechanismen essenziell. In Bezug auf die Verifikation der BTWC ist es wichtig zu erkennen, dass das (zugegebenermaßen) weniger perfekte Verifikationssystem der CWC zur allgemeinen Zufriedenstellung der internationalen Gemeinschaft implementiert wurde.3

Erste Empfehlungen

  • Es wurde festgestellt, dass bestimmte neue Entwicklungen in der Biotechnologie sehr nützlich für Verifikationsprozesse sein können, um Transparenz zu fördern und Vertrauen in die BTWC zu schaffen. Wegen der rapiden Entwicklungen in der Technologie besteht jedoch ein kontinuierlicher Bedarf an Forschung und Analyse derer, die am effektivsten verwendet werden können. Eine Unterstützung fortgeführter, wissenschaftlich basierter Analysen über nützliche Methoden mit Vorschlägen für Verbesserungen ist essenziell.
  • Der mögliche Missbrauch der Biotechnologie für die Produktion von BW ist eine Tatsache, die nicht ignoriert werden kann und die heutzutage die deutlichste Gefahr von Massenvernichtungswaffen darstellt. Der neueste Bericht über die zufällige Herstellung eines »Killerpockenvirus« betont diese Gefahr. Kriterien für die PRK verdeutlichen den Bedarf, Entwicklungen in einem frühen Prozess zu überwachen, das bedeutet, bereits im Forschungsstadium. Da sich die Technologie in diesem Bereich mit großen Schritten vorwärts entwickelt, ist dies eine große Aufgabe und dafür wird eine besondere Bemühung in strenger Überwachung benötigt. Eine Unterstützung zur Durchführung dieser Analysen, die zur Frühwarnung viel beitragen können, ist unbedingt erforderlich.
  • Möglicherweise wird noch in diesem Jahr ein Protokoll für die BTWC vereinbart. Dies wird kein so starkes Verifikationsregime sein, wie es von vielen Seiten gewünscht wird. Es wird jedoch eine zusätzliche Beschränkung der Proliferation darstellen, die schrittweise noch verbessert werden kann. Die Lösung ist es, ein weitreichend akzeptiertes und effektiv implementiertes Protokoll zu erhalten. Es ist essenziell, einen Abschluss zu erreichen, bei dem das Protokoll von Politikern und Wissenschaftlern gleichermaßen verstanden und akzeptiert wird.

Anmerkungen

1) Siehe Nixdorff, K./Hotz, M./Schilling, D. (2000): Cooperative measures to build confidence in the BTWC regime and the responsibility of scientists. In: PRK Briefing Paper Nr. 3.

2) Siehe in: Nixdorff, K/Bender, W.: Ethics of university research, biotechnology and potential military spin-off. In: Zanders, J.P. (ed.): Ethics and Norms in Chemical and Biological Weapons Research, Minerva, Special Edition (Veröffentlichung im Herbst 2001 vorgesehen).

3) Siehe in: Dando, M.R. (2000): Preventive Arms Control: The BTWC Regime. In: PRK-Briefing Paper Nr. 2.

Prof. Dr. Kathryn Nixdorff, Institut für Mikrobiologie und Genetik, TU Darmstadt, Schnittspahnstr. 1064287 Darmstadt nixdorff@bio.tu-darmstadt.de (Projektleiterin), Dipl. Biol. Mark Hotz, Dipl. Biol. Dagmar Schilling, Institut für Mikrobiologie & Genetik und IANUS, TU Darmstadt; in Kooperation mit Prof. Malcolm R. Dando, Department of Peace Studies, Bradford University, UK

zum Anfang | Fallbeispiel: Raketenabwehrsysteme und internationale Sicherheit

von Tom Bielefeld und Götz Neuneck

Die Debatte um die Einführung des geplanten Raketenabwehrsystems »National Missile Defense« (NMD) hat sich im vergangenen Jahr intensiviert. Ausgangspunkt der US-Anstrengungen zur Schaffung einer Raketenabwehrkapazität ist nach wie vor die (umstrittene) These, dass angesichts fortschreitender Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen die Einführung einer aktiven Abwehr gegen ballistische Raketen nötig sei. Präsident Clinton hatte in einer Rede am 1. September 2000 die endgültige Endscheidung über die Stationierung des umstrittenen NMD-Systems seinem Amtsnachfolger überlassen, u.a. weil die Technologie insbesondere im Zuge der Tests des letzten Jahres sich als unreif herausstellte.1 Mit dem Antritt der Bush-Administration Anfang 2001 wurde die Debatte neu belebt. Eine eigene realistische Konzeption hat die Bush-Administration bis jetzt noch nicht vorgelegt. Klar scheint lediglich, dass die Verbündeten mit einbezogen werden sollen; unklar bleibt, wie ein Raketenkonzept aussehen könnte, d.h. welches Gut gegen welche Bedrohung mit welchen Mitteln geschützt werden soll und mit welchen sicherheitspolitischen und finanziellen Kosten zu rechnen ist.

Die mögliche Einführung des landesweiten Raketenabwehrsystems »National Missile Defense« (NMD) durch die USA hat weltweit zu heftigen Diskussionen geführt. Russland und China, aber auch europäische Staaten haben ernste Bedenken gegen NMD geäußert, insbesondere weil befürchtet wird, ein Aufweichen bzw. die Abschaffung des ABM-Vertrags von 1972 könne den weltweiten Rüstungskontrollprozess beenden und zu neuen, regionalen Rüstungswettläufen führen.

Das Projekt hat sowohl die politischen als auch die technischen Aspekte der Diskussion um NMD analysiert.2 Ziel war es einerseits, am Beispiel des ABM-Vertrages die präventive Funktion eines klassischen Rüstungskontrollvertrags im Laufe der fortschreitenden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Andererseits galt es, die Konsequenzen einer möglichen Stationierung von NMD für die internationale Sicherheit und Stabilität, die weitere strategische nukleare Abrüstung und die Rüstungskontrolle (START-Prozess) abzuschätzen. Mögliche Modifikationen des ABM-Vertrags wurden vorgeschlagen. Mit einbezogen wurden auch die rüstungskontrollpolitischen Auswirkungen der Entwicklung und Stationierung von taktischen Abwehrsystemen (TMD), sowohl im Hinblick auf ihre mögliche Vernetzung mit dem NMD-System als auch im Kontext regionaler Sicherheitspolitik. Die technische Dimension der Raketenabwehrdebatte, insbesondere die vorgeschlagenen NMD- und TMD-Technologien und die möglichen offensiven Gegenmaßnahmen, wurden untersucht und bewertet. Zudem wurde das NMD-Testprogramm intensiv analysiert. Alternative Abfangkonzepte wurden einer ersten Bewertung unterzogen. In einer kurzen Bestandsaufnahme wurden zudem die technischen Aspekte der gegenwärtigen und zukünftigen Raketenbedrohung aufgezeigt.

Bedrohungsszenarien

Die Entwicklung von NMD als strategischem Abwehrsystem gegen begrenzte Raketenangriffe wird begründet mit Bedrohungsszenarien nach denen

  • sogenannte »besorgniserregende Staaten« wie Nord-Korea, Iran oder Irak in wenigen Jahren die Fähigkeit zum Bau von Langstreckenraketen erlangen könnten und so in der Lage wären, das Territorium der USA mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen (MVW) zu bedrohen;
  • versehentliche oder nicht autorisierte Angriffe mit wenigen Raketen von russischem oder chinesischem Boden ausgehen könnten;
  • Terrorgruppen die Kontrolle über einzelne Raketen mit MVW erlangen könnten und damit in der Lage wären, die USA zu erpressen.

In der Diskussion um eine europäische Beteiligung an strategischen Abwehrsystemen wird zudem angeführt, dass Raketen aus dem Nahen Osten, aufgrund der geringeren Entfernung, Europa früher bedrohen könnten als die USA.

Zu diesen Szenarien kann folgendes festgestellt werden:

  • Gegenwärtig werden weder die USA noch Europa durch mit MVW bestückte Raketen aus Schwellenländern bedroht. Allgemein lässt sich, im Hinblick auf die schrumpfenden Arsenale Russlands und die Abschaffung ganzer Klassen von Raketen in den vergangenen Jahren, sogar eine deutliche Abnahme der Raketenbedrohung erkennen. Die gegenwärtige Entwicklung der technischen Kapazitäten der Schwellenländer lässt allerdings die Möglichkeit zu, dass einige von ihnen, mit massiver ausländischer Unterstützung, Mittel- und Westeuropa innerhalb des nächsten Jahrzehnts mit Mittelstreckenraketen erreichen könnten. Für den Iran ist eine solche Entwicklung denkbar, für den Irak eher unwahrscheinlich. Die USA werden noch länger außerhalb der Reichweite dieser Staaten bleiben. Jedoch sind überraschende, kurzfristige Entwicklungen in den Raketenprogrammen dieser Staaten nahezu ausgeschlossen, u. a. weil sich solche Fortschritte notwendigerweise in zumindest einigen Testflügen manifestieren müssen, die durch Aufklärungssatelliten beobachtet werden können. Daneben existiert eine zusätzliche technische Hürde, nämlich die Bestückung der Raketen mit MVW, insbesondere mit Nuklearsprengköpfen. Selbst wenn zukünftig »besorgniserregende Staaten« die dazu notwendigen technischen Fähigkeiten erlangen, ist es dennoch extrem unwahrscheinlich, dass sie – selbst im Krisenfall – die USA oder Europa mit MVW angreifen. Ein Grund dafür ist die nukleare Abschreckung.
  • Die Möglichkeit eines versehentlichen oder nicht autorisierten Angriffs aus Russland ist nicht völlig auszuschließen, insbesondere im Hinblick auf die hohe Alarmbereitschaft eines Teils der strategischen Streitkräfte und des stark geschwächten Frühwarnsystems. Aufgrund der russischen Kommandostruktur könnte ein solcher Angriff durchaus mehrere Dutzend Gefechtsköpfe umfassen, nicht nur einige wenige. Im Falle Chinas ist ein versehentlicher Angriff aufgrund eines Fehlalarms gegenwärtig auszuschließen, denn die chinesischen ICBM haben Mobilmachungszeiten von mehreren Stunden.
  • So genannte »irrationale« staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die in den Besitz von MVW gelangen, benötigen keine Mittel- oder Langstreckenraketen zu deren Einsatz. Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörper, gestartet von Frachtschiffen in Küstennähe, ins Land geschmuggelte B- oder C-Kampfstoffe oder Kernwaffen auf Booten, gezündet in den Häfen von Küstenstädten, stellen technisch weniger aufwändige Mittel zur Erpressung westlicher Regierungen dar. Insbesondere die europäische Geografie und Verkehrsinfrastruktur bietet zahlreiche Transportmöglichkeiten für MVW.

Das NMD-System: Architektur und Gegenmaßnahmen

Das NMD-System soll anfliegende Gefechtsköpfe von ICBM in deren mittlerer Flugphase außerhalb der Erdatmosphäre abfangen, indem ein Abfangflugkörper, das so genannte »Exoatmospheric Kill Vehicle« (EKV), direkt mit dem Gefechtskopf kollidiert und ihn so zerstört. Die dazu notwendigen Informationen über den Raketenstart, die Flugbahn der anfliegenden Gefechtsköpfe sowie über deren Unterscheidung von in der Nähe ausgesetzten Täuschkörpern sollen von Infrarot-Sensoren auf Frühwarn- und Bahnverfolgungssatelliten, bodengestützten Radars sowie IR-Sensoren auf dem EKV bereitgestellt werden.

Diese Systemarchitektur wird, wenn alle Komponenten einwandfrei arbeiten, wahrscheinlich in der Lage sein, einzelne ungetarnte Gefechtsköpfe abzufangen. Allerdings wird das System mit Hilfe von offensiven Gegenmaßnahmen bzw. Penetrationshilfen überwunden werden können.

Zu diesen Gegenmaßnahmen gehört u. a. das Verbergen eines Gefechtskopfs in Wolken von Metallstreifen, die Radarstrahlen reflektieren, die Überforderung des Systems durch den Einsatz von Submunition oder Täuschkörpern sowie die Methode der Anti-Simulation, d. h. das Tarnen eines Gefechtskopfs als Attrappe. Die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich haben verschiedene Gegenmaßnahmen entwickelt und teilweise in ihre Langstreckenraketen eingebaut. Auch technisch weniger weit entwickelte Staaten wären in der Lage, mit der ersten Generation von Langstreckenraketen effektive Penetrationshilfen zu stationieren. Die Konstruktion von Anti-Simulations-Täuschkörpern oder Submunitions-Behältern ist weniger aufwändig als die Konstruktion der Raketen selbst.

Technische Unterlagen über den ersten NMD-Vorbeiflugtest 1997, die im vergangenen Jahr veröffentlicht und von Ted Postol/MIT ausgewertet wurden, zeigen, dass in den IR-Signalen von Gefechtsköpfen keine Merkmale existieren, die nicht durch einfachste Täuschkörper (gestreifte Ballons) simuliert werden könnten. Dieses Ergebnis, das wir bestätigen können, ist dramatisch, denn es ist für die Funktionsfähigkeit des NMD-Systems entscheidend, dass das EKV die Diskriminierung und Identifizierung des Zielobjekts autonom durchführen kann. Bodengestützte Radaranlagen können zwar bei der Diskriminierung assistieren, sind jedoch alleine nicht ausreichend. Die NMD-Sensoren, auch mögliche zukünftige aktive Sensoren am EKV, sind auf die von den Zielobjekten reflektierte bzw. emittierte elektromagnetische Strahlung angewiesen. Eine Innovation in der Sensortechnik, die das Diskriminierungsproblem bei Anti-Simulation lösen könnte, ist nicht zu erwarten.

Viele der möglichen Gegenmaßnahmen ließen sich lediglich überwinden, wenn anstelle des EKV ein Nuklearsprengkopf eingesetzt wird. Die Einführung von nuklearen Abfangflugkörpern ist gegenwärtig nicht geplant und wäre eine äußerst dramatische Maßnahme.

Das NMD-Testprogramm ist inadäquat. Die bisherigen drei Abfangtests wurden mit so genannten »kooperativen Zielen« durchgeführt. Das bedeutet, dass alle Informationen über die Eigenschaften und die Flugbahn des Gefechtskopfs während der Tests bekannt waren. Der einzige Täuschkörper, der neben dem abzufangenden Gefechtskopf positioniert wurde, ein runder Ballon, unterschied sich in seiner Form deutlich vom kegelförmigen Gefechtskopf und sendete unter den Versuchsbedingungen ein sechs bis sieben Mal helleres IR-Signal aus als das eigentliche Ziel. Dennoch schlugen zwei der drei Tests fehl.

Die Verwendung kooperativer Ziele und der Verzicht auf den Einsatz echter Gegenmaßnahmen bilden die Hauptkritikpunkte am NMD-Testprogramm. Zu Beginn einer Testreihe ist ein solches Vorgehen zwar üblich, allerdings sollen nach den bisherigen Planungen auch bei den noch verbleibenden 16 weiteren Flugtests bis zur Erststationierung keine realistischen Gegenmaßnahmen zum Einsatz kommen. Daher haben diese Tests als Grundlage für eine Bewertung der technischen Durchführbarkeit des NMD-Projekts, d. h. der Fähigkeit des Abwehrsystems einen realen Raketenangriff abzufangen, keine Aussagekraft.

»Taktische Raketenabwehr«: TMD

Zusätzlich zu NMD befinden sich noch eine Reihe von so genannten Gefechtsfeld-Raketenabwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) in der Entwicklung.3 Diese haben den Zweck, Truppen und wichtige Einrichtungen bei »Out of Area«-Einsätzen oder Flottenverbände vor Angriffen mit Kurz- und Mittelstreckenraketen zu schützen.

Das geplante mobile landgestützte THAAD-System (Theater High Altitude Area Defense) und das seegestützte NTW-System (Navy Theater Wide) sind ausgelegt für die Verteidigung eines Bereichs von zunächst wenigen 100 km Durchmesser gegen Angriffe mit Mittelstreckenraketen einer Reichweite bis zu 3500 km. THAAD/NTW werden gegenwärtig auch als Systeme diskutiert, die für eine europäische Raketenabwehr eingesetzt werden könnten. Beide Systeme funktionieren, ähnlich wie NMD, durch Kollision eines Abfangflugkörpers mit dem anfliegenden Gefechtskopf außerhalb bzw. in den oberen Schichten der Erdatmosphäre. Sie können zudem mit den Frühwarnsatelliten und Radaranlagen des NMD vernetzt und so in ein nationales Raketenabwehrsystem integriert werden. Dies würde es ihnen auch ermöglichen, ihre theoretischen Schutzbereiche erheblich zu vergrößern, so dass sie damit ein signifikantes strategisches Potenzial erhielten. Das »dünne« NMD-System mit seinen etwa 250 geplanten Abfangflugkörpern könnte durch die Vernetzung mit dem THAAD-System um rund 1300 weitere Abfangflugkörper anwachsen. THAAD und NTW sind jedoch auf ähnliche Weise verwundbar gegen einfache Gegenmaßnahmen wie das NMD-System. Angriffe mit Submunition werden beide Systeme nicht abwehren können. Ihre geplanten Sensorkomponenten und Abfangflugkörper haben zudem noch geringere Fähigkeiten zur Diskriminierung als die des NMD-Systems.

Anders als THAAD und NTW stellen die sogenannten Punktverteidigungssysteme Patriot PAC-3, NAD und MEADS hauptsächlich erweiterte Luftverteidigungssysteme dar, deren Rolle als Raketenabwehrsysteme sich auf den Schutz von Gebieten von wenigen zehn Kilometern Durchmesser gegen Kurzstreckenraketen beschränkt. Sie sind rüstungskontrollpolitisch im Vergleich zu den oben besprochenen Systemen eher unproblematisch. Bei umfassender Vernetzung und Einbeziehung in ein globales Abwehrsystem könnte jedoch ein Mehrschichtsystem geschaffen werden, das durch den ABM-Vertrag verboten ist.

Luft- und weltraumgestützte Laserwaffen

Das luftgestützte Lasersystem ABL soll feindliche Raketen in deren Antriebsphase (Boost-Phase Intercept, BPI), d. h. noch über dem Staatsgebiet des Angreifers abschießen. Stationiert an Bord einer Boeing 747, soll ABL eine Reichweite von mehreren hundert Kilometern haben. Der erste Testflug ist für 2003 geplant, die Stationierung von bis zu sieben Flugzeugen soll im Jahre 2007 beginnen. Ein weiteres System für das Abfangen von Raketen in der Antriebsphase ist der weltraumgestützte Laser SBL. Für dieses System liegen gegenwärtig lediglich Vorstudien vor, mit der Erststationierung eines SBL-Satelliten kann frühestens im Jahre 2020 gerechnet werden. Die Effektivität beider Systeme lässt sich zur Zeit noch schwer einschätzen. Offizielle US-Analysen sprechen jedoch von noch zu bewältigenden „signifikanten technischen Herausforderungen“. Zudem würde eine massive Stationierung von Weltraumwaffen schwer wiegende sicherheits- und rüstungskontrollpolitische Konsequenzen nach sich ziehen.

BPI als Alternative?

Seit Anfang letzten Jahres existiert ein Vorschlag unabhängiger Experten für ein Raketenabwehrsystem, das, als Alternative zum NMD, möglichen Bedrohungen aus Schwellenländern begegnen könnte ohne die russischen und chinesischen Offensiv-Kapazitäten zu entwerten. Grundidee dieses Vorschlags ist es, statt einen Abwehrschirm über große Territorien wie die USA oder Europa zu errichten, im Falle einer Krise gewissermaßen einen Deckel über die kleineren, potenziellen Angreiferstaaten zu legen. Ein solches System, das angreifende Raketen noch in der Startphase abfängt, ist technisch attraktiv, weil die beschleunigende, noch intakte Rakete ein großes, leicht zu verfolgendes Ziel bietet. Submunition und Täuschkörper sind noch nicht ausgestoßen, andere Gegenmaßnahmen vergleichsweise aufwändig. Erste Analysen zeigen, dass das Garwin-Postol-BPI-System (Boost-Phase Defense) eine reale Chance hat, auch im Ernstfall, bei Angriffen mit wenigen Raketen, zu funktionieren. Rüstungskontrollpolitisch sind von diesem System wesentlich weniger Nachteile zu erwarten als bei allen übrigen, gegenwärtig diskutierten Abwehrkonzepten, weil große Länder wie Russland und China mit diesem System nicht abgedeckt werden können, kleinere, wie Nord-Korea, hingegen schon.

Raketenabwehr als Antwort auf Bedrohungen?

Das NMD-System sowie THAAD und NTW können mit Hilfe einfacher Gegenmaßnahmen überwunden werden. Jeder potenzielle Angreifer, der in der Lage ist Mittel- oder Langstreckenraketen zu bauen, besitzt die technischen Fähigkeiten zur Konstruktion solcher Penetrationshilfen. Folglich werden weder NMD noch THAAD oder NTW verlässliche Abwehrsysteme gegen mit MVW bewaffnete Raketen darstellen. Verbesserungen der Sensorik werden die Verwundbarkeit des Systems gegenüber offensiven Gegenmaßnahmen nicht verringern. Punktverteidigungssysteme haben eine wichtige Aufgabe in der Abwehr konventioneller Luft- und taktischer Raketenangriffe. Der Einsatz gegen Angriffe mit MVW erfordert aber eine extrem hohe Effektivität des Abwehrsystems, so dass diese Systeme in solchen Szenarien nur von sehr begrenztem Nutzen sein können. Das Garwin-Postol-BPI-System gegen begrenzte Raketenangriffe aus kleineren Staaten wäre noch am wenigsten durch einfache Gegenmaßnahmen zu überwinden. Um den Grad der Verlässlichkeit dieses Konzepts und dessen Grenzen zu bewerten, bedarf es weiterer Studien.

Die technische Analyse der verschiedenen Raketenabwehrkonzepte führt zu der Schlussfolgerung, dass die Stationierung von territorialen Raketenabwehrsystemen wie NMD als Antwort auf mögliche sich entwickelnde Raketenbedrohungen aus Schwellenländern als wenig effektiv anzusehen ist. Aufgrund der geringen Verlässlichkeit können Raketenabwehrsysteme westliche Regierungen weder vor Erpressungsversuchen zuverlässig schützen noch im Krisenfall Handlungs- und Interventionsfreiheit gewährleisten helfen. Hinzu kommt, dass ein Erpresser im Besitz von MVW ohne weiteres auf Raketen als Transportmittel verzichten kann.

Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen zum Schutz vor versehentlichen oder nicht autorisierten Raketenangriffen aus Russland und China wäre nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar kontraproduktiv. Beide Staaten haben bereits Penetrationshilfen in ihren Raketen installiert. Sollte Russland auf ein US-amerikanisches Raketenabwehrsystem reagieren, indem es den »Launch on Warning«-Status für einen Teil seines Arsenals beibehält, und sollte China im Zuge der Modernisierung der Raketenstreitkräfte eine ähnliche Politik einführen, wäre die Gefahr eines versehentlichen Raketenstarts gestiegen, ohne dass gleichzeitig ein verlässliches Abwehrsystem zur Verfügung stünde.

Das Ende des ABM-Vertrages

Bleibt es bei der Zielsetzung und Architektur von NMD, muss der ABM-Vertrag (1972) modifiziert oder gekündigt werden. Der ABM-Vertrag gilt bis heute als das Kernstück der bipolaren Abschreckung. Eine nukleare Abrüstung, wie sie mit dem START-Prozess begonnen wurde, erschien bisher ohne eine klare Beschränkung von ABM-Systemen kaum denkbar. Eine Reduzierung der strategischen Waffen war stets nur möglich, solange den Beteiligten auch mit der geringeren Anzahl von Nuklearsprengköpfen noch ein wirksamer Gegenschlag als Reaktion auf einen massiven Angriff möglich war. Sobald eine Seite die Fähigkeit erhält, sich mit Raketenabwehrsystemen gegen einen Zweitschlag zu verteidigen, ist diese Stabilität nicht mehr vorhanden. Je stärker die Nukleararsenale also reduziert werden, desto wichtiger ist der Erhalt des ABM-Vertrages.

Das geplante NMD-System verstößt eindeutig gegen den ABM-Vertrag, indem es

  • eine territoriale Verteidigung und nicht nur die einer individuellen Region darstellt,
  • die Abfangstellungen einschließlich der Radaranlagen nicht nur an einem einzigen Ort (single-site, d.h. in einem Radius von 150 km) stationiert werden, sondern mindestens zwei Abfangstellungen und Radaranlagen an neun verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb der USA errichtet werden;
  • ABM-Radars außerhalb des eigenen Territoriums stationiert werden;
  • ABM-Komponenten im Weltraum stationiert werden.

Russland und China

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Abschreckung ein wesentlicher Bestandteil der strategische Planung der Nuklearmächte. Ob die Unzulänglichkeiten der geplanten US-Raketenabwehrsysteme in Russland und China, insbesondere von der politischen Führung, durchgehend verstanden werden, ist nicht klar. Es scheint hingegen sicher zu sein, dass die Militärplaner beider Staaten von einem zumindest teilweise effektiven US-Abwehrschirm ausgehen müssen, der in der Lage sein könnte, die eigene Zweitschlagfähigkeit zu gefährden. Diese theoretische Gefährdung wird durch folgende Faktoren erhöht:

  • die im Falle Russlands schrumpfenden, im Falle Chinas ohnehin geringen Kapazitäten nuklearer land- und seegestützter Raketen;
  • das im Falle Russlands sich in Auflösung befindende, im Falle Chinas nicht existente Frühwarnsystem;
  • das trotz möglicher Reduzierung der Anzahl der nuklearen Gefechtsköpfe weiterhin immense Erstschlagpotenzial der USA durch sehr zielgenaue Raketen mit nuklearen, aber auch konventionellen Gefechtsköpfen;
  • das Ausbruchpotenzial des NMD-Systems, dessen mögliche Vernetzung mit den TMD-Systemen THAAD und NTW sowie die zukünftig geplante stärkere Einbeziehung des Weltraums.

Sollte es nicht zu einer einvernehmlichen NMD-Stationierung kommen, kann Russland darauf mit einer begrenzten und gezielten Modernisierung seiner Offensiv-Kapazitäten antworten, etwa mit der Wiedereinführung der durch START II verbotenen Mehrfach-Sprengköpfe (MIRV). Zusätzlich kann es einen Teil seines Arsenals weiterhin in erhöhter Alarmbereitschaft belassen.

China kann als Reaktion seine seit Jahrzehnten andauernde Modernisierung der strategischen Arsenale intensivieren, insbesondere den Bestand von heute etwa zwanzig ICBM drastisch erhöhen und seine alten, inflexiblen Flüssigkeitsraketen durch modernere und schneller einsatzbereite Raketen ersetzen. Ferner besitzt auch China die Möglichkeit, MIRV zu stationieren. Beide Staaten könnten zudem bestehende Rüstungskontrollregime unterlaufen und andere Akteure bei der Entwicklung von Langstreckenraketen unterstützen, bzw. Technologie zur Überwindung von Raketenabwehrsystemen weiterverkaufen.

Konsequenzen für Proliferation und nukleare Nichtverbreitung

Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen ist als Maßnahme gegen die Proliferation von MVW und Trägern nicht geeignet. Sie würde gerade in diesem Bereich eher kontraproduktiv wirken. Staaten würden keinesfalls dazu bewegt werden, ihre Raketenprogramme einzustellen. Ein solches Argument verkennt u. a. auch die vielschichtigen, vor allem regionalen Gründe für die Verbreitung dieser Waffensysteme. Dort, wo Raketen und MVW auch als Rückversicherung gegen westliche Interventionen entwickelt werden, kann die Stationierung von Abwehrsystemen zu einer Vermehrung oder Verbesserung der Angriffswaffen führen. Wahrscheinlich käme es auch zu einer Weiterverbreitung von Penetrationshilfen.

Im Falle einer einseitigen US-amerikanischen Aufkündigung des ABM-Vertrags würde, nach der bisher nicht erfolgten Ratifizierung des Teststoppvertrags (CTBT), eine zweite wichtige Säule im Rüstungskontrollgefüge einbrechen. Die Folgen dieser Entwicklung könnten verheerend sein, denn die Entscheidung anderer Staaten über den Beginn oder den Umfang von Entwicklungsprogrammen für Raketen und MVW hängt nicht zuletzt davon ab, ob das nukleare Nichtverbreitungsregime als wirkungsvoll angesehen wird. Besonders bedenklich wären die Folgen einer Schwächung des Regimes in Asien, wo eine beschleunigte Aufrüstung der existierenden Kernwaffenstaaten weitere Länder, wie z.B. Japan, dazu veranlassen könnte, sich ihrerseits nicht länger auf Rüstungskontrolle zu verlassen. In diesem Zusammenhang spielt auch die mögliche Verbreitung von regionalen Raketenabwehrsystemen eine erhebliche und verkomplizierende Rolle.

Der andere Weg: Ausbau und Stärkung des ABM-Vertrages

Sollte es zu einer Einigung zwischen den USA und Russland über eine Anpassung des ABM-Vertrags kommen, möglicherweise in Verbindung mit einer beiderseitigen Reduzierung der Anzahl nuklearer Gefechtsköpfe, so wie es Präsident Bush während des Wahlkampfs vorgeschlagen hat, müssen verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigt werden, damit das Ergebnis zu einem echten Gewinn an Sicherheit und Stabilität führt.

  • Ein entscheidender Punkt ist die Einbeziehung Chinas in einen veränderten Vertrag. Ohne China als Partner kann den befürchteten rüstungskontrollpolitischen Verwerfungen in Asien infolge der Stationierung von Raketenabwehrsystemen nicht vorgebeugt werden.
  • Des weiteren muss sichergestellt werden, dass sowohl die US-amerikanischen als auch die russischen Arsenale vollständig aus dem »Launch on Warning«-Zustand herausgeführt werden.
  • Die Planungssicherheit der Vertragspartner für die kommenden Jahrzehnte muss gewährleistet sein. Daher sollte der Vertrag Defensivkomponenten zeitlich und örtlich klar begrenzen und die Gefahr eines möglichen Ausbruchs aus dem Vertrag minimieren. Dies kann u. a. durch Begrenzungen bei der Anzahl der Stationierungsgebiete und Abfangflugkörper sowie bei Art/Umfang der Sensorkomponente erreicht werden.

Angesichts der zunehmenden Gefahr einer Einbeziehung des Weltraums in die strategische Planung der Nuklearmächte sollte die Stationierung von Waffen im Weltraum durch präventive Rüstungskontrolle verhindert werden. Der Weltraumvertrag von 1967 und einige UNO-Resolutionen bieten eine Grundlage dafür. Der große Teil der internationalen Völkergemeinschaft wäre wahrscheinlich für einen neuen Weltraumvertrag zu gewinnen, der Waffen im Weltraum verbietet. Auf Vorschläge von deutschen und US-Wissenschaftlern sollte zurückgegriffen werden.

Diplomatische Initiativen und gemeinsame Antworten

Europa sollte eine gemeinsame Position und Strategie gegen die fortschreitenden Weiterverbreitung von MVW und über die benötigten Rüstungskontrollinstrumente und Abrüstungsmaßnahmen entwickeln. Es sollten von europäischer Seite diplomatische Initiativen ergriffen werden, um zukünftige Bedrohungen durch Raketenpotenziale zu verhindern oder durch Rüstungskontrolle und Abrüstung einzudämmen. Details hierzu wurden im Rahmen des der Öffentlichkeit Ende 2000 vorgestellten Memorandums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) erarbeitet. Zu den Möglichkeiten gehören: die Schaffung von internationalen Normen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Raketentechnologien, der Aufbau eines umfassenden Informations- und Kontrollregimes für Raketenstarts, die Etablierung von regionalen Rüstungskontrollmaßnahmen (vertrauensbildende Maßnahmen, Notifikation und Raketenteststopps, Einführung von raketenfreien Zonen). Eine solche Strategie wirkt vorbeugend und ist daher effektiver, langfristig stabiler und kostengünstiger als der Aufbau von Raketenabwehrsystemen. Voraussetzung ist eine gemeinsame langfristige Bedrohungs- bzw. Risikoanalyse. Mögliche politische und technische Antworten sollten in einem gemeinsamen Studienprozess erarbeitet werden. Dazu gehört auch die Diskussion technischer Alternativen. Um die Möglichkeiten des BPI-Konzepts zu untersuchen, werden weitere Studien unternommen werden müssen. Die Beteiligung europäischer Staaten an einer strategischen Raketenabwehr auf der Grundlage von NMD- oder Flächenverteidigungstechnologien ist wegen der ungelösten rüstungskontrollpolitischen Probleme, der hohen Kosten und der technologischen Fragwürdigkeit nicht zu empfehlen.

Anmerkungen

1) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2000): Ende der Illusion? Spektrum der Wissenschaft, Nr. 9, September , S. 92-94.
2) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2000): Das geplante US-amerikanische NMD-System. Briefing Paper Nr. 1, Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle, Hamburg, September.
3) Siehe T. Bielefeld, G. Neuneck (2001): US Raketenabwehr – Zurück zum globalen Schutzschild? Wissenschaft und Frieden, Nr. 1, Januar, S. 7-11.

MSc Tom Bielefeld/Dr. Götz Neuneck, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Falkenstein 1, 22587 Hamburg, eMail: neuneck@public.uni-hamburg.de Tel.: (040) 866 077 21, Fax: (040) 866 3615

zum Anfang | Fallbeispiel: Technische Optionen zur Beseitigung von zivilen Plutoniumbeständen zur Minimierung des Proliferationsrisikos

von Wolfgang Liebert und Christoph Pistner

Plutonium ist ein wesentliches kernwaffenfähiges Material. Daher ist eine akute und bedeutende Gefahr für die Weiterverbreitung von Kernwaffen insbesondere durch bereits separierte Plutoniummengen, die aus abgebranntem Brennstoff gewonnen wurden, gegeben. Bereits fünf bis zehn Kilogramm Plutonium sind ausreichend für die Herstellung einer Kernwaffe. Sowohl staatliche als auch substaatliche Akteure müssen effektiv von einer Verwendung von Plutonium für Kernwaffen abgehalten werden.

Dabei ist eine Unterscheidung in »militärisches« und »ziviles« Plutonium bezüglich der Gefahr einer Verwendung in Kernwaffen nicht zu rechtfertigen. Alle Isotopenzusammensetzungen von Plutonium, sowohl das überwiegend im militärischen Bereich erzeugte so genannte Waffenplutonium, als auch das im zivilen Bereich anfallende, so genannte Reaktorplutonium können potenziell für Kernwaffen verwendet werden.

Plutoniumbestände und die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen

Beim Umgang mit vorliegenden Plutoniumbeständen sind daher vorrangig Aspekte der Nichtverbreitung von Kernwaffen bzw. kernwaffenfähigem Material (Non-Proliferation) zu berücksichtigen. Auch wenn institutionelle Maßnahmen (wie die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hierbei eine wichtige Rolle spielen, so müssen diese durch zusätzliche, intrinsische Barrieren ergänzt und erweitert werden, um eine langfristig wirksame, hohe Sicherheit gegen den Zugriff gewährleisten zu können. Solche intrinsischen Barrieren könnten z. B. darin bestehen, separiertes Plutonium mit anderen radioaktiven Materialien zu vermischen, deren Strahlung nur schwer abzuschirmen ist und die so eine Strahlenbarriere erzeugen, die den Zugriff auf das Material erschwert. Schließlich ist in Hinblick auf das Ziel einer irreversiblen Abrüstung ein langfristig nachhaltiger Umgang mit Plutoniumbeständen, seien sie ziviler oder militärischer Herkunft, anzustreben. Darüber hinaus sind sowohl beim (notwendigen) Umgang mit Plutonium sowie bei der (heute bereits stattfindenden) Nutzung Gefahren für Mensch und Umwelt nicht auszuschließen. Aus Sicht einer präventiven Rüstungskontrolle müssen Maßnahmen ergriffen werden, die vorliegenden Bestände separierten Plutoniums abzubauen und dabei einen erneuten Zugriff auf Plutonium soweit irgend möglich zu erschweren. Auch Deutschland steht hier vor einer großen Herausforderung.

Plutoniumbestände Deutschlands und weltweit

Weltweit liegen große Bestände an separiertem Plutonium vor. Im militärischen Bereich wurden bis heute etwa 250-270 t Plutonium erzeugt, im zivilen Bereich liegen z. Z. mindestens 200 t separiertes Plutonium vor. Während die Produktion von Plutonium im militärischen Bereich nahezu zum Stillstand gekommen ist, ist die Tendenz im zivilen Bereich nach wie vor steigend (in den letzten Jahren Zuwachsraten zwischen 10 und 20 Tonnen pro Jahr).

Über die vorliegenden Bestände separierten Plutoniums in deutscher Verantwortung liegen leider nur unzureichende öffentlich verfügbare Daten vor. Sogar die von Deutschland gemachten Angaben zu Plutoniumbeständen gemäß der internationalen Vereinbarung zur Offenlegung von Plutoniumdaten (IAEO/INFCIRC/549) sind bis heute unvollständig. Nach unserem Kenntnisstand wurden in deutschen Kernkraftwerken bis Ende 2000 ca. 90 Tonnen Plutonium produziert. Jährlich kommen etwa 4,5 Tonnen hinzu. Davon wurden bis Anfang 1999 32-38 t abgetrennt. Etwa 26 t Plutonium lagen noch in unbestrahlter Form vor. Mindestens 27 t Plutonium werden noch anfallen, wenn die momentanen Pläne der Energieversorgungsunternehmen umgesetzt werden (d.h. dass abgebrannte Brennelemente, die bis 2005 zu den Wiederaufarbeitungsanlagen transportiert werden, laut Konsensvereinbarung noch wiederaufgearbeitet werden können). Maximal ca. 36t würden bei vollständiger Abarbeitung der verbleibenden Wiederaufarbeitungsverträge insgesamt zusätzlich anfallen. Damit müssen in Deutschland, gerechnet ab Anfang 1999, noch 53-62t abgetrenntes Plutonium sicher beseitigt werden. In den letzten Jahren wurden nur zwischen 1,3 und 2,6 t Plutonium pro Jahr in deutschen Reaktoren eingesetzt.

Die Planungen im militärischen Bereich

Seit einigen Jahren werden insbesondere im militärischen Bereich Optionen für eine Beseitigung vorliegender Plutoniumbestände aus der Abrüstung untersucht. Sowohl in den USA wie auch in Russland sind jeweils ca. 50t Plutonium als Überschuss, der über die militärisch noch benötigten Bestände hinausgeht, deklariert worden. Bislang haben sich die beiden Länder jedoch nur über die Beseitigung von je 34t Plutonium vertraglich einigen können. Das amerikanisch-russische Abkommen vom 1.9.2000 sieht einerseits eine Umsetzung von Plutonium in der Form von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX) in existierenden Reaktoren, andererseits eine Immobilisierung von Plutonium gemeinsam mit hochradioaktiven Abfällen (d. h eine Einbettung in eine direkt endlagerfähige Matrix wie Glas oder Keramik) als mögliche Verfahren vor. Während Russland bislang die gesamte Menge von 34 t Plutonium durch eine Umsetzung in Reaktoren beseitigen möchte, streben die USA einen sogenannten »Dual-track-approach« an, bei dem 25,57 t in Reaktoren umgesetzt und 8,43 t immobilisiert werden sollen. Bislang ist noch kein Plutonium aus militärischen Beständen technisch umgesetzt worden. Die beiden z. Z. vorbereiteten Verfahren werden nicht vor 2007 zum Einsatz kommen.

Nach unserer Analyse ist ein Plutoniumumgang in Russland durch Verarbeitung zu MOX als problematisch anzusehen. Die Technologien der MOX-Fertigung und des MOX-Einsatzes sind dort noch nicht etabliert. Die in Russland zur Verfügung stehenden Reaktorkapazitäten reichen nicht für einen zügigen Abbau der Bestände aus. Ein sehr langsamer Abbau von Beständen und der Einstieg in einen internationalen Plutoniumbrennstoffhandel, der unter Proliferationsgesichtspunkten höchst bedenklich ist und zu problematischen Abfallkonzeptionen führen kann, sind zu befürchten.

Welche Optionen gibt es?

Die einzige bislang in einigen Ländern in großtechnischem Maßstab etablierte Technologie zum Umgang mit separierten Plutoniumbeständen ist die Verwendung des Plutoniums in der Form von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX) in existierenden Leichtwasserreaktoren (LWR).

Bezüglich des Umgangs mit zivilen Beständen separierten Plutoniums wurden neben der MOX-Option verschiedene Verfahren international in die Diskussion gebracht. Als besonders problematisch ist hierbei jedoch festzuhalten, dass fast keine Analysen geschweige denn Entwicklungsarbeiten zu Alternativen zur MOX-Option in Deutschland durchgeführt oder finanziert werden. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Möglichkeiten für einen Umgang mit deutschen Plutoniumbeständen aus dem zivilen Bereich.

Es könnte versucht werden, Plutonium durch den Einsatz in Reaktoren möglichst weit gehend zu eliminieren. Hierzu wäre der Einsatz uranfreier Brennstoffe geeignet. Längerfristig wären auch die Verwendung fortgeschrittener Reaktorsysteme oder eine mehrfache Wiederaufarbeitung mit anschließender Verarbeitung zu MOX denkbar. Ein weiterer wichtiger Ansatz bestünde darin, Plutonium zu immobilisieren und danach direkt endzulagern. Dabei wären entweder eine homogene Immobilisierung von Plutonium zusammen mit hochradioaktiven Abfällen (high level wastes, HLW), eine Immobilisierung nach dem »Can-in-Canister«-Verfahren gemeinsam mit HLW oder auch die Herstellung von Lagerstäben denkbar.

Reaktoreinsatz: MOX-Brennstoff

Bei der Herstellung von MOX wird Plutoniumdioxid mit Urandioxid in Pulverform vermischt, in Pellet-Form gepresst und gesintert. Typische MOX-Brennstoffe enthalten etwa 6-7% Plutonium, so dass sie in existierenden Leichtwasserreaktoren (LWR) eingesetzt werden können. Pro eingesetztem Reaktor und Jahr können damit typischerweise etwa 350kg vorliegendes Plutonium in radioaktive Abfälle eingebettet werden.

Vorteilhaft ist, dass alle Verfahrensschritte in Europa bereits großtechnisch etabliert sind und entsprechende Genehmigungen insbesondere auch für den Reaktoreinsatz in Deutschland vorliegen.

Allerdings sehen wir auch einige Nachteile bzw. Unsicherheiten, die eine alleinige Festlegung auf die MOX-Option für Deutschland problematisch machen:

  • So bestehen insbesondere Unsicherheiten über die weitere Verfügbarkeit von MOX-Produktionsanlagen für deutsche Energieversorgungsunternehmen (EVU). Nach unserem Kenntnisstand ist unsicher, ob die in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren auf europäischer Ebene verfügbaren Anlagen zur MOX-Fertigung ausreichen, um die Menge des vorliegenden separierten Plutoniums konstant zu halten oder gar abzubauen.
  • Das Proliferationsrisiko bleibt bis zur Bestrahlung im Reaktor hoch, also auch noch nach der MOX-Fertigung. Lagerung und Transport von MOX erfüllen nicht das Kriterium der Proliferationsresistenz.
  • Die Plutoniummenge nimmt durch den Reaktoreinsatz insgesamt zu (bei der üblichen Belegung von maximal einem Drittel des LWR-Reaktorkerns mit MOX-Brennstoffen um ca. 50 kg pro Reaktor und Jahr).
  • Der Einsatz von MOX in LWR ist unökonomisch, da die höheren Anforderungen bei der Fertigung im Vergleich zu Uranbrennstoffen zu erheblichen Kostensteigerungen führen.
  • Der höhere Anteil an Plutonium im Reaktorkern führt zu einer Veränderung von neutronenphysikalischen Parametern, die sich negativ auf die Reaktorsicherheit auswirken kann.
  • Es kommt zu einer überproportional erhöhten Produktion von Americium und Curium. Diese Elemente tragen wesentlich zur langfristigen Radiotoxizität des abgebrannten Brennstoffs bei. Die erhöhte Wärmeproduktion im Vergleich zu Uranbrennstoffen führt auch zu höheren Kosten für die spätere Endlagerung.

Eine mehrfache Wiederaufarbeitung bei anschließender erneuter Verwendung von Plutonium als MOX in LWR (Mehrfachrezyklierung) mit dem Ziel einer vollständigen Eliminierung allen Plutoniums ist zwar prinzipiell machbar, aber wegen technischer Schwierigkeiten unwahrscheinlich. Aus unserer Sicht ist insbesondere die damit verbundene intensive Handhabung großer Mengen von separiertem Plutonium aus Non-Proliferationsgesichtspunkten als nicht sinnvoll einzuschätzen. Auch wäre eine tatsächliche Reduktion des gesamten Plutoniums nur auf einer sehr langfristigen Zeitskala (mehr als ein Jahrhundert) möglich.

Alternativer Reaktoreinsatz: Eliminierung mit uranfreien Brennstoffen

Eine Eliminierung von Plutonium durch die Verwendung neuartiger uranfreier Brennstoffe in existierenden LWR hat gewisse Vorteile gegenüber der heute praktizierten Nutzung als MOX. Bei diesen Brennstoffen würde das in MOX enthaltene Uran durch ein anderes, möglichst wenig mit Neutronen wechselwirkendes Material (z.B. Zirkonium) ersetzt. Auf diese Weise würde die kontinuierliche Neuproduktion von Plutonium aus Uran vermieden und es könnte ein höherer Anteil des Plutoniums durch Spaltung eliminiert werden.

Aufgrund unserer Untersuchungen zeigt sich, dass die prinzipielle Machbarkeit einer weit gehenden Eliminierung von Plutonium in existierenden Reaktoren gegeben ist. Es besteht aber noch relevanter Entwicklungsbedarf für die Brennstoffe (incl. Bestrahlungstests). Dieser ist jedoch weit geringer als für andere, fortgeschrittene Reaktorkonzepte (wie Hochtemperaturreaktoren oder beschleunigergetriebene Systeme). Wesentliche offene Fragen betreffen die Abbrandeigenschaften solcher Brennstoffe sowie die Auswirkungen des Fehlens von Uran auf die Reaktorbetriebseigenschaften. Da es sich bei den wichtigsten diskutierten Brennstofftypen um keramische Materialien handelt, entsprechen die Herstellungsverfahren der heutigen MOX-Fertigung.

Wir haben umfangreiche Rechnungen für die Veränderung der Brennstoffzusammensetzung im Laufe der Bestrahlung in Reaktoren durchgeführt, um die Abhängigkeit des relativen Plutoniumumsatzes von verschiedenen Brennstoffparametern sowie weitere Brennstoffeigenschaften genauer untersuchen zu können. Dabei haben wir sowohl den Einsatz in existierenden LWR als auch der Einsatz in modifizierten LWR, die speziell für die Plutoniumeliminierung verwendet werden sollen, untersucht. Erste Auswertungen der Rechnungen zeigen, dass durch Verwendung uranfreier Brennstoffe in einem einzelnen Zyklus ohne Wiederaufarbeitung bis zu siebzig Prozent des anfänglichen Plutoniums eliminiert werden könnten. Die Isotopenzusammensetzung des verbleibenden Plutoniums würde sich so sehr verändern, dass nach dem Reaktoreinsatz und etwaiger Wiederaufarbeitung eine Verwendbarkeit für Kernwaffen deutlich verschlechtert würde. Daraus ergibt sich ein Vorteil gegenüber allen anderen Verfahren, da auch nach Zerfall der Strahlenbarriere (Wirksamkeit nur wenige Jahrhunderte) die Attraktivität eines Zugriffs auf die abgebrannten Brennelemente gering ist. In Abhängigkeit von der verwendeten Matrix könnten die abgebrannten Brennstoffe auch gute Eigenschaften für eine spätere Endlagerung aufweisen.

Weiterhin finden sich in der Literatur Berechnungen für einen Plutoniumeinsatz in Hochtemperaturreaktoren, die bei Verwendung uranfreier Brennstoffe nahezu vergleichbare Eliminierungsraten vorhersagen, jedoch wären die Vorlaufzeiten für die Entwicklung und den Bau solcher Reaktoren ebenso wie die notwendigen Kapitalinvestitionen beträchtlich. Das Potenzial von beschleunigergestützten Systemen, welche in den letzten Jahren wieder verstärkt in die Diskussion gekommen sind, für eine Eliminierung von Plutonium wäre hoch, kann jedoch aus heutiger Sicht noch nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden. US-Planungen sprechen von mindestens 25 Jahren bis zur Fertigstellung eines Prototypreaktors. Beide Systeme erscheinen heute aus unserer Sicht als nicht attraktiv für einen Umgang mit vorliegenden Beständen.

Immobilisierung: Direktverglasung mit radioaktiven Abfällen

Bei der Option der Direktverglasung würde Plutonium zusammen mit HLW in eine Glasmatrix eingebettet und der direkten Endlagerung zugeführt. Die Verglasung von HLW aus der Wiederaufarbeitung unter Verwendung von Borsilikatgläsern ist eine in Europa großtechnisch etablierte Technologie. Neu wäre hier die Zugabe größerer Mengen spaltbarer Materialien.

Dieses Verfahren wird allgemein als prinzipiell technisch machbar eingeschätzt. Für eine Verglasung von Plutonium müssten voraussichtlich Anlagenmodifikationen zur Gewährleistung der Kritikalitätssicherheit durchgeführt werden. Ein Plutoniumanteil von maximal drei bis fünf Prozent scheint nach französischen und US-amerikanischen Quellen erreichbar zu sein, allerdings wird hierfür die Entwicklung einer geeigneten Glaszusammensetzung als notwendig erachtet. Der Zeitaufwand bis zu einer potenziellen großtechnischen Umsetzung wird mit wenigen Jahren abgeschätzt.

Vorteil dieses Verfahrens ist nach unserer Einschätzung, dass die Strahlenbarriere zum Schutz vor erneutem Zugriff auf das Plutonium im Unterschied zur MOX-Option unmittelbar erreicht wird.

Nachteilig ist, dass trotz Beimischung von Neutronenabsorbern eine langfristige Kritikalitätssicherheit bei den erwünschten Plutoniumkonzentrationen im Prozentbereich nur schwer nachweisbar ist. Ein weiterer Nachteil ist, dass die mit dieser Option umsetzbare Plutoniummenge von der noch zur Verfügung stehenden Menge an zu verglasenden HLW abhängt, wie erste Abschätzungen deutlich machen. Entscheidend wird dabei der Startzeitpunkt eines solchen Verfahrens sein. Die umsetzbare Menge hängt neben der Plutoniumkonzentration ebenfalls von der gewählten Konzentration des HLW ab, die als Strahlenbarriere wirksam werden soll. Ein wesentlicher Punkt, der weiter untersucht werden müsste, ist daher die Frage nach der tatsächlich mit diesem Verfahren umsetzbaren Plutoniummenge. Außerdem wäre eine geeignete Glasmatrix zu entwickeln.

Immobilisierung: Keramisierung und Verglasung mit radioaktiven Abfällen

In den USA wird die Option der Immobilisierung von Waffenplutonium nach dem sogenannten »Can-in-Canister«-Verfahren entwickelt. Dabei würde Plutonium zunächst ohne HLW in eine Keramik eingebettet und das entstehende Produkt anschließend zusammen mit HLW verglast. Als Matrix für die Einbettung von Plutonium sind verschiedene Keramiken möglich. Bei der in den USA verfolgten Variante ist hierfür eine spezielle Keramik (SYNROC) weiterentwickelt worden. Diese weist als Vorteile eine hohe Langzeitbeständigkeit und die Aufnahmefähigkeit für stark mit Verunreinigungen verschmutztes Plutonium in hohen Konzentrationen auf. Eine Abtrennung des Plutoniums mit heute etablierter Wiederaufarbeitungstechnologie wäre nicht ohne weiteres möglich.

Nach unserer Einschätzung wäre diese Option direkt auf den Umgang mit zivilen Plutoniumbeständen übertragbar. Die für die Durchführung dieser Option benötigten Technologien (Keramisierung und Verglasung) sind entwickelt und für vergleichbare Zwecke in Europa bereits großtechnisch etabliert (MOX-Fertigung und Verglasung von HLW). Anlagentechnische Anpassungen wären allerdings notwendig. Vorteile dieser Variante bestehen in einer besseren Langzeitstabilität der verwendeten Matrix im Vergleich zu einer Direktverglasung und der vereinfachten Prozessführung durch eine Trennung der Arbeitsschritte Plutonium- und HLW-Immobilisierung. Auch können höhere Plutoniumkonzentrationen in Keramiken (bis zu zehn Prozent Plutonium bei gleichzeitiger Zugabe von Natururan im Verhältnis 1:2) als in Gläsern erreicht werden. Damit erhöht sich der mögliche Plutoniumumsatz und es wird eine höhere langfristige Kritikalitätssicherheit im Endlager im Vergleich zur Direktverglasung erreicht. Der erreichte Grad an Proliferationsresistenz ist etwas geringer als bei der Option der Direktverglasung, da prinzipiell denkbar ist, dass eine Trennung des HLW enthaltenden Glases von der Plutonium enthaltenden Matrix vor einer chemischen Wiederaufarbeitung vergleichsweise einfach möglich sein könnte. Wenn auf existierende MOX-Fertigungsanlagen zurückgegriffen werden soll, können Kapazitätsprobleme auftreten, insbesondere bei gleichzeitiger MOX-Fertigung für die Reaktornutzung.

Im europäischen Kontext könnte auch Urandioxid als Matrix für die Keramisierung (analog zu MOX) verwendet werden. Der hierdurch zu erreichende hohe Anteil an Uran-238 würde sich zusätzlich positiv auf die Kritikalitätssicherheit im Endlager auswirken. Dabei könnten existierende Anlagen zur MOX-Fertigung unmittelbar genutzt werden.

Wir sehen bei dieser Option weiteren Forschungsbedarf bezüglich der optimalen Matrix für die Keramisierung von Plutonium, dem anzustrebenden Plutoniumgehalt in der Matrix sowie der dann aufgrund der Beschränkungen von verfügbarem HLW möglichen gesamten Umsatzmenge.

Immobilisierung: Lagerstabverfahren

Das Öko-Institut hat die Einbringung von Plutonium in sogenannte Lagerelemente (analog zu üblichen Brennelementen) vorgeschlagen. Dabei würde das Plutonium wie bei der MOX-Option mit Uran zu Mischoxid verarbeitet und in Lagerstäbe mit etwa 7-14% Plutoniumgehalt verbracht und zu Lagerelementen assembliert. Diese würden ohne vorherigen Reaktoreinsatz für die direkte Endlagerung vorgesehen. Ein Schutz vor unerlaubtem Zugriff würde bei dieser Option durch eine Mischung solcher Lagerelemente mit abgebrannten Brennelementen im Verhältnis 1:18 im Zwischenlagerbehälter erreicht werden (alternativ könnten auch Stäbe in den Elementen selbst gemischt werden).

Es bestätigt sich durch unsere Untersuchungen, dass auch diese Option technisch durchführbar ist und für alle Schritte in Europa existierende Anlagen genutzt werden könnten. Im Vergleich zur MOX-Option würden sich bei hohem Plutoniumgehalt Kosteneinsparungen durch den vereinfachten Herstellungsprozess ergeben. Ein weiterer Vorteil ergäbe sich durch die Unabhängigkeit von verfügbaren Reaktorkapazitäten.

Als Nachteil kann bei dieser Option gesehen werden – zumindest wenn die Mischung auf Elementebene vorgenommen wird –, dass anders als bei den übrigen Optionen die Strahlungsbarriere nicht durch eine unmittelbare Vermischung mit HLW erzeugt würde. Schließlich wäre auch diese Option auf die zur Verfügung stehenden MOX-Anlagen angewiesen, wodurch Kapazitätsprobleme entstehen können.

Bei dieser Option müsste nach unserer Analyse noch genauer geklärt werden, wie der erreichte Grad an Proliferationsresistenz einzustufen ist. Es müsste ebenfalls noch bestimmt werden, welche maximale Plutoniumkonzentration in Hinblick auf die Endlagersicherheit realisierbar erscheint.

Für alle Optionen (Eliminierung, Direktverglasung, »Can-in-Canister«, Lagerstab) sind aus unserer Sicht noch detailliertere Kostenvergleiche durchzuführen. Weiterhin wären noch Fragen zur direkten Endlagerung der verschiedenen erzeugten Endlagerprodukte zu beantworten.

Die Notwendigkeit einer vergleichenden Bewertung

Um die verschiedenen denkbaren Optionen vergleichend bewerten zu können, wurde ausgehend von den im Projektverbund entwickelten Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle ein umfassender Satz von Bewertungskriterien formuliert. Als entscheidende Oberkriterien wurden hierbei

  • technische,
  • politisch/gesellschaftliche,
  • Umwelt- und Sicherheits-,
  • Non-Proliferations- sowie
  • ökonomische

Kriterien identifiziert und in detaillierten Unterkriterien genauer spezifiziert. Wir haben darüber hinaus – wo möglich – eine Operationalisierung dieser Kriterien durch die Formulierung von quantifizierbaren Indikatoren vorgenommen, die eine möglichst transparente und damit breit akzeptierbare Bewertung der verschiedenen Optionen erlauben sollen. Die Kriterien sollen dazu dienen, die Diskussion und Entscheidung über die verschiedenen Optionen anzuleiten und ggf. eine Gestaltung der Optionen zu ermöglichen.

Konsequenzen für Politik und Öffentlichkeit

Über die vorliegenden und zukünftig anfallenden Bestände an separiertem Plutonium besteht in Deutschland bis heute keine öffentliche Transparenz. Diese ist jedoch eine Voraussetzung für eine breite gesellschaftliche Debatte über die brisante Frage des Umgangs mit Plutoniumbeständen in deutscher Verantwortung. Daher sollten Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen – entgegen der bisherigen Praxis – transparente Zahlenwerke über Plutoniumanfall und -umgang veröffentlichen. Weiterhin sollte speziell die Bundesregierung ihrer seit 1997 bestehenden internationalen Verpflichtung zur Offenlegung vorliegender Plutoniumbestände inklusive der Planungen für den weiteren Umgang gemäß IAEO/INFCIRC/549 nunmehr in vollem Umfang nachkommen.

Bislang ist die Notwendigkeit eines wohlüberlegten Umgangs mit existierenden und weiter anfallenden Plutoniummengen im Rahmen der Beendigung der gegenwärtigen Kernenergienutzung in Deutschland nur unzureichend im öffentlichen Bewusstsein verankert. Erste Planungsansätze sind zudem verengt auf die MOX-Option. In Deutschland finden keine nennenswerten, aus öffentlichen Mitteln finanzierten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu Alternativoptionen statt. Die russische Eingleisigkeit bei der Art des Umgangs mit militärischen Plutoniumbeständen wird dabei mitunterstützt. Die zu konstatierende Engführung ausschließlich in Richtung der MOX-Option muss dringend überwunden werden.

Speziell Parlament und Medien könnten hier zu einer Öffnung der Perspektive beitragen. Nichtstaatliche Organisationen und unabhängige Experten sollten frühzeitig neben Fach- und Interessenvertretern der Industrie in die anstehenden Diskussionen über die Wahl von Optionen des Umgangs mit Plutonium einbezogen werden, u.a. um erwartbaren Konflikten vorzubeugen.

Forschungs- und Kooperationsprojekte zu Umgangsmöglichkeiten mit Plutoniumbeständen über die MOX-Option hinaus sind dringend erforderlich. Durch diese sollte ermöglicht werden,

  • dass systematische Bewertungen der verschiedenen Optionen auf Grundlage eines Kriterienkatalogs (ein erster Vorschlag wurde von uns vorgelegt) durchgeführt und offene Fragen sowie technische Gestaltungsmöglichkeiten für attraktive Optionen geklärt werden,
  • dass Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Richtung einer konkreten Umsetzbarkeit von Alternativen zu MOX – auch im industriellen Maßstab – anlaufen
  • und dass schließlich internationale Kooperationsprojekte, insbesondere mit russischen Forschungseinrichtungen, gestartet werden (dadurch könnten deutsche Erfahrungen z.B. in Russland genutzt oder interessante US-amerikanische Entwicklungen in Deutschland aufgegriffen bzw. unterstützt werden).

Damit könnte Deutschland eine internationale Vorreiterrolle übernehmen, was die Etablierung von Alternativen zu MOX für den Umgang mit Plutonium angeht. Eine Ausstrahlung auf Russland und andere Plutonium verarbeitende Länder wäre anzustreben, eine Unterstützung von US-Aktivitäten wäre nahe liegend.

Alternativoptionen zu MOX, die attraktiv für tiefer gehende Untersuchungen wären, sind nach unserer Einschätzung:

  • Eliminierungsoptionen, insbes. auf der Basis uranfreier Brennstoffe für existierende Reaktoren
  • Immobilisierungsverfahren nach dem »Can-in-Canister« Prinzip
  • Immobilisierungsverfahren durch Direktverglasung mit hochaktiven Abfällen
  • Immobilisierungsoptionen nach dem Lagerstabverfahren.

Nach einer ausführlichen kriteriengestützten Bewertung sollte eine weitere Vorauswahl erfolgen mit dem Ziel, mindestens zwei MOX-Alternativen zur technischen Anwendungsreife zu führen.

Wenn der Abbau existierender Plutoniumbestände in den Blick genommen wird, ist es nahe liegend, über weitere grundsätzliche Schritte nachzudenken:

So sollten Wege gefunden werden, eine möglichst umgehende Beendigung des weiteren Anfalls von abgetrenntem Plutonium aus deutschen Kernkraftwerken zu erreichen. Die Bundesregierung sollte über den anvisierten Stopp der Wiederaufarbeitung hinaus durch Verhandlungen mit den EVU bewirken, dass die Menge des abgebrannten Brennstoffs, der noch für die Wiederaufarbeitung vorgesehen ist, drastisch reduziert wird.

Die Bundesregierung sollte die gegenwärtigen amerikanischen-russischen Verhandlungen über einen Stopp der zivilen Wiederaufarbeitung unterstützen, eine Erweiterung auf europäische Länder anregen und sich bei den bei der Genfer Abrüstungskonferenz anstehenden Cutoff-Verhandlungen (Stopp der Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke) für eine mittelfristige Einbeziehung von Plutoniumbeständen und Plutoniumumgang im zivilen Bereich einsetzen.

Dr. Wolfgang Liebert und Dipl. Phys. Christoph Pistner, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt, Hochschulstr. 4a, 64289 Darmstadt. E-mail:christoph.pistner@physik.tu- darmstadt.de

zum Anfang | Fallbeispiel: Mikrosystemtechik – Gefahren und Begrenzungsmöglichkeiten

von Jürgen Altmann

Mikrosystemtechnik (MST) ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Prozessen und Produkten, bei denen es um Systeme mit Komponentengrößen zwischen 0,1 und mehreren 100 µm geht. Bekannt ist die Mikroelektronik; MST geht darüber hinaus, indem sie mechanische, thermische, optische, magnetische, fluidische, chemische oder biologische Prinzipien verwendet. Oft sind die Produktionsprozesse denen der Mikroelektronik ähnlich: Viele Systeme werden gleichzeitig erzeugt, z.B. auf einer Siliziumoberfläche. Dadurch sind Mikrosysteme billig, klein und verbrauchen wenig Energie.

MST beinhaltet Basis- und Querschnittstechnologien, die für verschiedenartige Anwendungen und Zwecke genutzt werden können. Gemäß ihrer Funktion können MST-Systeme klassifiziert werden als: Sensoren, Aktoren, Systeme für Signalverarbeitung, Systeme für Informationsverarbeitung, -speicherung und -übertragung. Spezielle Systeme können chemische, biologische oder medizinische Analysen ausführen oder entsprechende Wirkungen ausüben. Eine besondere Untergruppe stellen Systeme für die Implantierung in den menschlichen Körper dar. Eine andere, im militärischen Zusammenhang wichtige Gruppe sind autonome Systeme, die ortsfest oder beweglich sein können.

Mit ihrer breiten Einsatzpalette kann MST für das Militär wie auch für die zivile Gesellschaft weit reichende Folgen haben.

Zivile und militärische Ausgaben für MST

MST ist einer der Schwerpunkte öffentlicher Förderung von Forschung und Entwicklung (FuE) in den höchstentwickelten Industriestaaten. In MST werden große Hoffnungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt gesetzt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sieht die USA in Führung, Japan und Europa gleichauf, wobei Deutschland in Europa führt. Die öffentliche Förderung für MST durch das BMBF in Deutschland beläuft sich auf 100 Mio. DM/Jahr.

Gegenwärtig sind die MST-Produkte mit dem höchsten Umsatz Festplatten-Schreib-/Leseköpfe und Druckköpfe für Tintenstrahldrucker. Andere Produkte sind Herzschrittmacher, Hörgeräte und Beschleunigungssensoren für Kfz-Airbags. Für den Weltumsatz in MST (1996 13 Mrd. $) wird bis 2002 ein Wachstum auf 38 Mrd. $ vorhergesagt. Wichtige neue Anwendungsfelder seien dann die medizinische Labordiagnose und Infrarotbildsensoren.

Während die FuE-Förderung in Europa und Japan vor allem auf zivile Anwendungen zielt, ist in den USA die militärische Förderung, v.a. durch die Defense Advanced Projects Agency (DARPA), zentral – die DARPA gibt pro Jahr über 300 Mio. $ für militärische MST und MST-basierte Anwendungen aus.

Das deutsche Bundesministerium der Verteidigung ließ 1996-98 eine erste Studie über militärische Anwendungen der MST erstellen. Hier wurden v.a. in den Bereichen Navigation/Stabilisierung, Zünder, Sensoren, Minen und Mikrofahrzeuge militärischer Nutzen bzw. militärische Bedrohung gesehen. Eine von der WEU in Auftrag gegebene Studie wurde 2000 fertiggestellt; sie empfiehlt fokussierte europäische Anstrengungen in sieben Bereichen, darunter Mikro-Trägheitslenksysteme, Zustandsüberwachungssysteme für alle größeren Träger, biochemische Sensoren und Mikroflugzeuge. Die NATO hat 2000 eine erste Task Group zu MST gegründet. Deutschland ist bei militärischer FuE eher zurückhaltend; auch in der Summe sind die Aktivitäten in Europa weit geringer als die der USA.

Mögliche militärische Anwendungen der Mikrosystemtechnik

Wo MST-Systeme vorhandene konventionelle ersetzen, sind erstere kleiner und bei Serienproduktion i.d.R. billiger, außerdem arbeiten sie in der Regel schneller und oft mit höherer Ausfallsicherheit. In vielen Bereichen können sie aber auch erstmals Anwendungen ermöglichen, die bei herkömmlichen Systemen technisch oder ökonomisch ausgeschlossen waren. Bisher waren z.B. Trägheitslenksysteme zu groß und zu teuer, als dass sie in Artilleriemunition (mit etwa 10 cm Durchmesser) eingesetzt werden konnten. Mit MST könnten sie in Kanonenmunition (einige cm), eventuell sogar in Gewehrgeschossen (etwa 1cm) eingebaut werden und dann zu höherer Zielgenauigkeit führen. MST kann aber auch ganz neue Systeme wie autonome Kleinroboter und -flugzeuge möglich machen.

Auch in allgemein nutzbaren Komponenten kann MST neue Möglichkeiten eröffnen, etwa bei kompakteren Datenspeichern oder kleineren Funksendern und -empfängern. Andere Beispiele sind »intelligente Materialien« zur Verringerung von Vibration und Verschleiß in Flugzeugen oder 1cm kleine Mikroturbinen, die entweder Kleinstflugzeuge antreiben oder die von den Soldaten der Zukunft mitgeführte Elektronik mit Strom versorgen könnten.

Je nach geforderter Miniaturisierung, dem Grad technologischer Neuerung sowie dem Ausmaß an ziviler FuE können die militärischen MST-Anwendungen

  • innerhalb der nächsten fünf Jahre zur Verfügung stehen (Lenksysteme für größere Träger oder Flugkörper, Waffenzünder, biotechnologische/medizinische Laboranalysesysteme),
  • noch fünf bis zehn Jahre bis zur Einsatzreife benötigen (Lenksysteme für Munition, verteilte Sensoren mit mm-Größe, Freund-Feind-Kennungssysteme für Soldaten und Fahrzeuge, Kleinstsatelliten, in den Körper implantierte Systeme für Diagnose und Medikation) oder
  • noch zehn bis zwanzig Jahre FuE-Zeit brauchen (teilmobile Ziel suchende Kleinstminen, autonome/kooperierende Mikroroboter und -flieger mit cm-Größe, Mensch-Rechner-Kontakt mit Übertragung höherer Informationen).
  • Manche denkbaren Anwendungen sind aber noch spekulativ (selbst-reproduzierende Mikrosysteme, Mikro-Nuklearwaffen).

Summarische Bewertung unter Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle

Bei den meisten allgemeinen bzw. Grundlagen-Anwendungen sind Destabilisierung, insbesondere Wettrüsten, und/oder Proliferation zu befürchten. Weil sie jedoch eng mit zivilen Anwendungen zusammenhängen und die Verifikation ein unrealistisch hohes Ausmaß an Transparenz bzw. Aufwand erfordern würde, scheinen Begrenzungen hier kaum möglich.

Bei den spezifisch militärischen Anwendungen ergibt sich ein differenziertes Bild:

Für Mikro-Trägheitslenksysteme gibt es nur begrenzten zivilen Bedarf; jedoch scheinen die Gefahren durch Destabilisierung und Proliferation nicht so dringend, dass sie die notwendige weit gehende Verifikation rechtfertigen würden.

Verteilte Sensoren, die in Gerät eingebaut sind oder die Umgebung militärischer Standorte überwachen, sind unproblematisch. Bei Gefechtsfeldüberwachung sind Destabilisierung, insbesondere Wettrüsten, und Proliferation abzusehen. Einsatz für Verifikation, etwa für den Nachweis chemischer oder biologischer Kampfstoffe, wäre positiv zu beurteilen, allerdings wäre MST dafür nicht unbedingt nötig – herkömmliche Sensoren könnten dasselbe leisten. Wegen schwieriger Abgrenzungs- und Verifikationsprobleme sind Begrenzungen ebenfalls schwierig.

Systeme zum Nachweis chemischer Kampfstoffe oder zum Sichern und Zünden von Waffen sind unter PRK-Gesichtspunkten nicht negativ oder sogar positiv zu beurteilen. Freund-Feind-Kennungssysteme für den Landkrieg können ebenfalls als i. W. neutral betrachtet werden.

Anders ist die Lage bei Klein(st)satelliten. Sie bieten viele Möglichkeiten des Einsatzes als Antisatellitenwaffe und gefährden daher beabsichtigte Rüstungsbegrenzung (Verbot von Weltraumwaffen). Außerdem sind Destabilisierung (Angreifervorteil, kurze Vorwarnzeiten, Unübersichtlichkeit; Wettrüsten) und Proliferation zu erwarten. Der zivile Bedarf ist begrenzt; wollte man die zivile Nutzung jedoch erlauben, könnte man sie prinzipiell durch Regeln erfassen, allerdings stellen sich ohne ein vollständiges Verbot schwierige Verifikationsprobleme.

Bei biotechnologischen/medizinischen Anwendungen sind Nachweissysteme für das Labor weit gehend unkritisch und laufen ähnlich zu zivilen Entwicklungen. Bei implantierten oder am Körper getragenen Systemen sind Destabilisierung (Wettrüsten) und Proliferation zu befürchten. Drastischer könnten jedoch die Auswirkungen auf die zivile Gesellschaft sein, wenn auf dem Umweg über das Militär die prophylaktische Implantation von nicht unmittelbar medizinisch notwendigem Gerät oder gar ohne medizinischen Bezug akzeptabler würde. Hier trifft PRK auf fundamentale Fragen des Menschenbildes, was uns zur Einführung eines zusätzlichen PRK-Kriteriums bewogen hat: Gefahren für die politische/ soziale Ordnung.

Die meisten Arten von Mikrokampfminen sind durch das Minen-, das Chemische- oder das Biologische-Waffen-Übereinkommen verboten. Die anderen Arten können das Minen-Übereinkommen gefährden, dazu auch das Kriegsvölkerrecht. Zusätzlich sind Destabilisierung (Wettrüsten) und Proliferation abzusehen. Auch wenn diese Argumente für Mikromarkierungsminen weniger stark zutreffen, wären sie den Kampfminen doch äußerlich oder funktionell ähnlich und daher kaum von ihnen abzugrenzen.

Unter allen MST-Anwendungen stellen autonome Mikroroboter die größte Gefahr in Bezug auf Destabilisierung (Angreifervorteil, kurze Vorwarnzeiten, Unübersichtlichkeit; Wettrüsten) und Proliferation dar, insbesondere diejenigen, die direkte Kampffunktionen haben – Abgrenzung von anderen aufgrund äußerer Kriterien ist jedoch schwierig. Auf allgemeinerer Ebene sind negative Effekte zu befürchten, wenn sich die technologische Asymmetrie verstärkt. Einerseits könnte die Aussicht, Krieg könnte weit gehend durch Automaten, bei sehr geringen eigenen Verlusten, geführt werden, bei den technologisch führenden Ländern die Hemmschwelle zum Krieg senken. Auf der anderen Seite könnten technologisch weniger entwickelte Staaten zur Kompensation des qualitativen Nachteils verstärkt auf Massenvernichtungswaffen setzen, die ja mit herkömmlicher mittlerer Technologie erreichbar sind. Bei Mikrorobotern ergeäben sich spezifische Gefahren für Menschen und die politische/soziale Ordnung, wenn diese Systeme für (Wirtschafts-)Spionage, Lausch- und Informationsangriffe, Terrorismus oder andere Verbrechen genutzt würden. Möglicher ziviler Nutzen ist dagegen abzuwägen, etwa bei der Erkundung eingestürzter Gebäude, Untersuchung von Rohrleitungen, später auch evtl. bei Operationen im menschlichen Körper.

Eine Mikrofusionsbomben ermöglichende Handhabung von Kernwaffenmaterialien würde unter fast alle PRK-Kriterien fallen.

Erste Empfehlungen

Zur Eindämmung der durch die militärische Nutzung von MST möglichen Gefahren sollten sich Regierung und Parlament Deutschlands auf verschiedenen, internationalen wie auch nationalen Ebenen für eine Reihe von Maßnahmen einsetzen:

  • Ein umfassendes Verbot von Weltraumwaffen sollte zügig abgeschlossen und ggf. durch Detailregeln für zivile Klein(st)satelliten ergänzt werden.
  • Der Gesellschaft sollte eine breite Diskussion ermöglicht werden, wieweit sie nicht direkt medizinisch begründete Implantate akzeptieren will. Militärische Entwicklungen sollten diese Diskussion nicht präjudizieren oder unterlaufen. Daher scheint für solche Implantate ein Moratorium angemessen.
  • In Bezug auf Mikrokampfminen sollten Definitionslücken im Minenverbotsabkommen gefüllt werden. Mikromarkierungsminen sollten hier oder ggf. bei Mikrorobotern eingeschlossen werden.
  • Bei Mikrorobotern ist der dringendste Handlungsbedarf für vorbeugende Beschränkungen. Für eine klare Definition und realistische Verifizierbarkeit sollte ein einfaches Größenkriterium gewählt werden, unterhalb dessen alle mobilen, autonomen oder ferngesteuerten Systeme verboten werden. Um schon eingeführte Drohnen nicht zu erfassen, sollte die Grenze bei 20 bis 50 cm liegen. Streng umgrenzte Ausnahmen mit technischen Maßnahmen (z.B. Mobilität nicht außerhalb eines Radius von 10-50 m, Energieversorgung über wenige Meter durch Induktionsschleifen) könnten gewünschte zivile Anwendungen für Katastrophenhilfe, Rohruntersuchungen oder medizinisch Operationen ermöglichen.
  • Die deutsche Zurückhaltung bei der FuE für militärische MST sollte in den kritischen Bereichen auch den NATO-Partnern, v.a. den USA, nahe gelegt werden.

In der Forschung sollten in einer Reihe von Feldern weiter führende Untersuchungen durchgeführt werden:

  • Aufbauend auf die jetzigen Resultate sollten Details möglicher Begrenzungen (Definitionen, Ausnahmen, Regeln, Unterschiede zivil-militärisch usw.) genauer untersucht und konzipiert werden, auch im Hinblick auf die Akzeptanz in verschiedenen Bereichen.
  • Mögliche Gefahren für Industriegesellschaften auf Grund der Einführung und Weiterverbreitung bestimmter militärischer Mikrosysteme, etwa Bedrohung durch kriminelle/terroristische Nutzung oder durch potenzielle Gegner, sollten genauer untersucht werden. Hier könnten sich Gründe für vorbeugende Begrenzungen zeigen, die bei einseitiger Fokussierung auf militärische Überlegenheit nicht in den Blick kommen.
  • In Bezug auf die Handhabung von Kernwaffenmaterialien für Mikrofusionsbomben sollte zunächst eine genauere Studie gemacht und dann der laufende wissenschaftlich-technische Fortschritt verfolgt werden.
  • Nanotechnologie (mit noch 100- bis 1000fach kleineren Strukturen) wird weit grundlegendere Änderungen bewirken als MST, sowohl zivil als auch militärisch. Ihr sollte eine neue, umfassender angelegte Studie gewidmet werden.

Jürgen Altmann, Experimentelle Physik III, Universität Dortmund, 44221 Dortmund, altmann@ep3.ruhr-uni-bochum.de

Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Vereinten Nationen:

Rüstungskontrolle und Abrüstung

von Harald Müller

Der Umgang mit den Mitteln organisierter Gewaltanwendung ist ein zentrales Thema von »global governance«. Da die Vereinten Nationen (VN) deren zentrales institutionelles Element darstellen, fragt sich, welche Rolle sie in der Rüstungskontrolle und Abrüstung spielen können und wollen.1 Im folgenden Artikel wird zunächst die Aufgabenstellung skizziert, die die VN-Charta vorgibt, und sodann die Praxis der Vereinten Nationen betrachtet. Der Umgang mit der Thematik in den verschiedenen Vorschlägen zur VN-Reform wird in den Schlussfolgerungen kurz angerissen.

Die Charta der Vereinten Nationen enthält eine erstaunlich kräftige Sprache zur Abrüstung. In Art. 26 verpflichtet sie den Sicherheitsrat, „für ein System der Regelung der Rüstungen Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen vorzulegen sind.“ Damit ist nicht weniger geschaffen als die Autorität der Vereinten Nationen, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, wie sie mit ihren Streitkräften und deren Bewaffnung umzugehen haben, und zwar in Friedenszeiten, denn der Sicherheitsrat könnte zu solchen Plänen unter Kapitel VII der VN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) auch Entschließungen fassen. Mit dieser Vorschrift ist ein qualitativer Schritt gegenüber dem klassischen kriegsvölkerrechtlichen Ansatz gemacht, nur die Anwendung der Waffen im Kriegsfall Einschränkungen zu unterwerfen. Die dahinter stehende Idee reflektiert eine doppelte Erkenntnis:

  • Die Möglichkeit zur Aggression setzt eine einsprechende Streitkräftekonstellation und ein vorteilhaftes Kräfteverhältnis voraus; diese Voraussetzungen können durch verbindliche Begrenzungen der Streitkräftekonfigurationen beseitigt werden. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zugrunde, der die für eine raumgreifende Offensive unerlässlichen Waffensysteme einer Begrenzung unterzieht.
  • Wildwüchsige Rüstung verschärft das Sicherheitsdilemma, treibt in die Überrüstung und kann im schlimmsten Fall präemptive Kriegshandlungen provozieren. Eine international verbindliche Streitkräfteordnung wirkt beruhigend auf das Sicherheitsdilemma ein und ist insofern ein Eckstein für internationale Stabilität und Frieden.

Mit der Ausarbeitung dieses Rüstungskontrollplans betraut die Charta den Generalstabsausschuss des Sicherheitsrates (Art. 26, Art. 47,1). Damit sollte sichergestellt werden, dass es sich nicht um utopische Luftschlösser handeln würde, sondern um einen soliden, von einschlägiger professioneller Expertise geprägten Entwurf.

Die Praxis der Vereinten Nationen

Bekanntlich ist diese Vorschrift nie verwirklicht worden, und der Generalstabsausschuss war nie arbeitsfähig. Der Ost-West-Konflikt gab den Selbsthilfestrategien der beiden Lager den Vorrang, das für die Ausarbeitung des Planes erforderliche normative Einvernehmen gab es zu keiner Zeit.2 Als das Ende des Konflikts die Neuaufnahme des Abrüstungsprojekts hypothetisch möglich machte, war seitens der Supermacht USA der Enthusiasmus für multilaterale Regelungen zumindest im konservativen Lager einer Präferenz für die Nutzung der eigenen Überlegenheit gewichen. Die Erhaltung amerikanischer Handlungsfreiheit im Sicherheitssektor wurde zunehmend nicht nur als Bedingung nationaler Sicherheit, sondern auch internationaler Stabilität verstanden, als deren einziger Garant sich Washington zusehends sah. Einzelne Vereinbarungen waren auf selektiver Basis immer noch möglich (zumindest für das politische Zentrum der USA, wenn auch nicht für die neokonservative Rechte), umfassende Pläne mit lang anhaltenden Konsequenzen kamen jedoch nicht mehr in Frage.3 Statt eines ganzheitlichen Neuanfangs blieb damit nur die bereits existierende Praxis fragmentierter Aktivitäten.

Der Regimeansatz

Der kooperationsstiftende Nutzen der Strategie, Streitfragen in ihre teilbaren Einzelkomponenten zu zerlegen und diese durch je spezifische Sets von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zu behandeln, ist in der Regimeanalyse ausführlich untersucht und bestätigt worden.4 Genau so verfuhr die internationale Gemeinschaft im Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Als »Produkte« liegen eine Reihe von bilateralen, regionalen und globalen Abkommen vor, denen es um die Einhegung der von einzelnen Waffen- oder Operationstypen ausgehenden Gefahren geht und die der Vertrauensbildung innerhalb je spezifischer Sicherheitskomplexe5 dienen.

Die Vereinten Nationen sind nicht die »Eigentümer« dieser Regime. Diese »gehören« vielmehr ihren jeweiligen Vertragsparteien. Die VN spielen jedoch eine gewichtige Rolle beim Zustandekommen, der Erhaltung und Weiterentwicklung vor allem jener Verträge, die der Idee und Absicht nach universal sind, vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Biowaffenregimes. In beiden Fällen, wie auch bei den Gesprächen, die zum Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens führten, bot die Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) den Rahmen, in dem die Staaten die schwierigen strittigen Fragen klären konnten: Die CD, die früher verschiedene andere Namen trug, ist das einzige Verhandlungsforum für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen. Sie besteht ausschließlich zum Zwecke von Abrüstungsverhandlungen, ihr gehört eine (über die Jahre gewachsene) Minderheit der VN-Mitgliedsstaaten nach dem Prinzip regionaler Repräsentation an und sie entscheidet nach Einstimmigkeitsregeln. Die CD ist kein Teil des VN-Sekretariats, sondern eine semi-autonome Einrichtung, deren administrative Betreuung gleichwohl im Verantwortungsbereich des VN-Sekretariats (Department for Disarmament Affairs, DDA) liegt.

Seit 1996, dem Abschluss des umfassenden Teststoppvertrages (der aufgrund amerikanischer Resistenz nicht in Kraft trat), konnte sich die CD nicht mehr auf eine Tagesordnung und ein Arbeitsprogramm einigen, denn leider gilt auch für Verfahrensfragen die Einstimmigkeitsregel. Viel wertvolles diplomatisches Kapital liegt also in Genf brach. Eine Änderung ist wohl nur unter zwei Auspizien denkbar: Einer fundamentalen Änderung der amerikanischen Politik, deren Weigerung, über Regelungen für Waffen im Weltraum auch nur zu sprechen und in Verhandlungen über ein Produktionsverbot von Spaltmaterialien die Frage der Überprüfbarkeit einzubeziehen, maßgeblich verantwortlich für die Stagnation ist; oder einer Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in Verfahrensfragen, die es der Mehrheit ermöglichen würde, Verhandlungsforen zu etablieren, in die nach angemessener Zeit wohl auch die widerstrebenden CD-Teilnehmer einziehen würden. Insgesamt sind die direkten Einflussmöglichkeiten der VN hier noch weit begrenzter als im Falle der Überprüfungskonferenzen.

Die zweite wichtige Rolle der Vereinten Nationen besteht nämlich in der Betreuung der Überprüfungskonferenzen jener globaler Verträge, die über keine eigene Vertragsorganisation verfügen, wie das beim Chemiewaffenübereinkommen der Fall ist. Diese Aufgabe nimmt das Department for Disarmament Affairs übrigens auch für den Nichtverbreitungsvertrag wahr, denn die Internationale Atom-Energie-Organisation in Wien unterstützt den Vertrag zwar mit Dienstleistungen für die Verifikation im Rahmen des Artikels III, ist aber nicht eine eigene Vertragsorganisation mit Autorität über den gesamten Umfang des Vertrages. Die Vollversammlung der VN beschließt auf Antrag der Vertragsmitglieder bzw. Depositare die Bereitstellung von Ressourcen (Räumlichkeiten, Sekretariat) für die Überprüfungskonferenzen. Diese Leistung ist nicht gering zu schätzen, sind doch diese Konferenzen, richtig gehandhabt, das entscheidende Mittel für die Stabilisierung, insbesondere aber für die den Umständen angemessene Weiterentwicklung der Regime gegenüber neuen Herausforderungen. Erfolge und Misserfolge dieser Konferenzen sind in einem engen Korridor beeinflussbar durch die mehr oder weniger fähige Stabsarbeit der zugeteilten VN-Beamten, namentlich des jeweiligen Konferenzsekretärs. Dieser Faktor kann jedoch nur wirksam werden, wenn seitens der Mitgliedsstaaten ein Minimum an politischem Willen vorhanden ist, auf eine Einigung hinzuarbeiten. Wo dies fehlt, wie bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2005, kämpft auch ein guter Konferenzsekretär vergeblich.6

Die dritte und wichtigste (potentielle) Funktion der VN im Zusammenhang der globalen Regime ist der Umgang mit Situationen, in denen ein ernster Regelbruch vermutet oder bewiesen wird und Schritte unternommen werden müssen, um die Einhaltung des Vertrages – gegebenenfalls zwangsweise – zu gewährleisten. Für all diese Regime ist der Sicherheitsrat der ultimative Garant ihrer Integrität. Diese Rolle ist im Lichte der Charta angemessen, handelt es sich doch beim Bruch der Regeln, mit denen Massenvernichtungswaffen kontrolliert werden sollen, praktisch immer um eine Gefährdung von internationalem Frieden und Sicherheit, also jener Lage, in der der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta die Aufgabe des universalen Sicherheitsgaranten wahrzunehmen hat; daher hat der Sicherheitsrat durchaus auch die Möglichkeit, sich außerhalb der Regime aus eigener Initiative um diese Problematik zu kümmern, wie etwa nach dem Golfkrieg von 1991, als er mit der Einsetzung der UNSCOM (Sonderkommission), später der UNMOVIC (Überwachungskommission), eigene Instrumente schuf, um die Abrüstung des Irak sicherzustellen.7 Da die Robustheit aller Regime davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder darauf verlassen können, im Krisenfall nicht auf Selbsthilfe angewiesen zu sein, sondern auf einen verlässlichen Mechanismus der Krisenreaktion vertrauen zu können, ist diese Funktion des Sicherheitsrats von herausragender Bedeutung. Es ist um so bedenklicher, dass er dieser Aufgabe bislang unzureichend nachgekommen ist. Die laufenden Krisen im nuklearen Sektor – Nordkorea und Iran – werden anderswo betreut. Im Feld der Chemiewaffen werden zwar Verdachtsmomente gegen Mitgliedsstaaten geäußert, der Sicherheitsrat wird jedoch nicht damit befasst, und das Gleiche gilt für biologische Waffen. Damit fällt der wichtigste Mechanismus für die Stabilisierung der vom Vertragsbruch – oder dem folgenschweren Verdacht, ein solcher liege vor – bedrohten Regime weitgehend aus. Hier sind Schritte notwendig, um eine nicht nur unbefriedigende, sondern direkt gefährliche Situation zu korrigieren.

Dazu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, wobei die Idee, ein neues, großzügig ausgestattetes Verifikationsorgan als unabhängige VN-Behörde einzurichten,8 aus politischen wie aus haushaltlichen Gründen keine Chance hat. Wesentlich zur Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, und zwar sowohl des Sicherheitsrats wie des Generalsekretärs, ist die Fähigkeit, streitige Datenlagen über den Bruch eines der globalen Abkommen technisch und strategisch beurteilen zu können. Hierzu sollte bei den Vereinten Nationen eine entsprechende Einheit platziert werden, und zwar am besten im Department of Disarmament Affairs, dessen vielfältige Routineaufgaben sicherstellen, dass die Fähigkeiten der neuen Experten auch außerhalb von Krisenzeiten sinnvoll genutzt werden können. Eine solche Einheit könnte dem Sicherheitsrat Entscheidungshilfe leisten und ihn von der einseitigen Abhängigkeit von notorisch unzuverlässigen nationalen Geheimdienstinformationen entlasten. Andererseits würde sie dem Generalsekretär zur Verfügung stehen, der durch seinen Untersuchungsauftrag für das Genfer Protokoll (Einsatz von chemischen und biologischen Waffen) ebenso auf derartige Hilfe angewiesen ist wie durch seine Aufgabe, unter Art. 99 der Charta, friedens- und sicherheitsgefährdende Umstände aus eigener Initiative in die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats zu rücken. Gerade dieses Mandat kann von Nutzen sein, um zwischenzeitlich die Lücke im Biowaffenregime zu schließen: Denn dieses ist nach der amerikanischen Weigerung, sich auf den Entwurf eines Verifikations- und Transparenzprotokolls einzulassen, ohne belastbare Verfahren geblieben, um mit Vertragsbrüchen umzugehen. Der Generalsekretär könnte hier nach Art. 99 einspringen, aber nur, wenn er über entsprechende Ressourcen verfügt, um vorhandene Informationen zu sammeln und zu bewerten.9

Auch die Verfahrensweise des Sicherheitsrats muss überholt werden. Es bedarf formalisierter Prozeduren, um die heikle Frage des Vertragsbruchs und der Antwort darauf angemessen zu entscheiden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fakten auf den Tisch kommen und von einer übernationalen Warte bewertet werden und dass auch die Sichtweisen der Nachbarstaaten, die sowohl von Massenvernichtungswaffen-Programmen als auch von wirtschaftlichen oder gar militärischen Gegenmaßnahmen am stärksten betroffen sind, angemessen in die Erörterungen einbezogen werden. Nach den irakischen Erfahrungen sind hier grundlegende Revisionen erforderlich.10

Eine neue und umstrittene Rolle der VN – wiederum des Sicherheitsrates – besteht in der »universellen Gesetzgebung«, in der der Rat quasi ersatzweise für das Fehlen weltweit geltender Verträge einspringt. Im Feld der Rüstungskontrolle hat er dies mit der Entschließung 1540 getan. Sie verpflichtet die Staaten, eine Reihe von Maßnahmen im Innern (Umgang mit gefährlichen Stoffen) und Äußeren (Exportkontrollen) zu treffen, um den Zugriff von nichtstaatlichen Akteuren auf Massenvernichtungswaffen, ihre Technologien und Vorprodukte zu verhindern. Viele dieser Maßnahmen sind Teil der globalen Verträge, andere sind in den exklusiveren »Exportkontrollclubs«, d.h. der Gruppe der nuklearen Lieferländer und der Australien-Gruppe, vereinbart worden. Der Sicherheitsrat rechtfertigte diesen ungewöhnlichen und für viele anstößigen Eingriff in die Prärogative der Nationalstaaten mit der Dringlichkeit der Gefahr und der Tatsache, dass die diversen Regime auf absehbare Zeit nicht wirklich universalisierbar sein werden. Gleichwohl bleibt ein Beigeschmack, wenn fünfzehn Staaten über die nationale Souveränität aller übrigen, Verträge zu verhandeln oder ihnen beizutreten, einfach hinwegrollen, wobei klar ist, dass diese »Gesetzgebungsfunktion« des Sicherheitsrats die nationalen Interessen vieler verletzen mag, sicherlich aber nie die jener fünf mit Veto-Macht ausgestatteten permanenten Mitglieder. Es ist anzuraten, von dieser Option möglichst sparsam Gebrauch zu machen und jede zu diesem Zweck verabschiedete Entschließung mit einem Verfallsdatum zu versehen, die den Sicherheitsrat zu einer Neubefassung, d.h. einer Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme, nötigt.11

Die Vereinten Nationen als Agenda-Setzer, Deliberator und Verhandlungsort

Eine der wichtigsten Aufgaben der VN ist es, neue Themen der Abrüstung zu identifizieren und für existierende Themen neue Aspekte zu benennen. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Vollversammlung und ihres ersten Ausschusses, der jährlich eine Vielzahl von Entschließungen zu Abrüstungsfragen verhandelt und anschließend die Entwürfe der Vollversammlung unterbreitet, wo über sie abgestimmt wird. Freilich ist festzustellen, dass die Mehrheit dieser Resolutionen nach dem Motto »und ewig grüßt das Murmeltier« Jahr für Jahr neu vorgelegt werden, ohne politische Wirksamkeit zu zeigen. Ein Großteil dieser Aktivitäten scheint der Selbstbefriedigung der Organisationsmitglieder zu dienen (nicht zuletzt der Blockfreien), ohne dass irgendjemand wirkliche politische Funktionen darin sieht. Indes ist die Möglichkeit vorhanden, auf diesem Wege neue Themen in die internationale Abrüstungsdiskussion einzuführen. Von besonderer Wirksamkeit sind in diesem Zusammenhang die Sondervollversammlungen der VN zu Abrüstungsfragen – allerdings hat seit zwei Jahrzehnten keine mehr stattgefunden, auch dies wegen US-amerikanischer Opposition.

Bisweilen setzt die VN nicht nur neue Agendathemen, sondern sorgt für deren Bearbeitung. Ein vorzügliches Beispiel ist das VN-Waffenregister, ein Instrument weltweiter Transparenz, das jährlich Berichte über Exporte und Importe von sieben konventionellen Hauptkampfsystemen auflegt. Das Register wird von einer Mehrzahl der Mitglieder regelmäßig beschickt. Seine bloße Existenz ist eine ständige Mahnung, dass das Prinzip militärischer Transparenz ein entscheidender Faktor globaler wie regionaler Vertrauensbildung ist. Dieses Register wurde innerhalb der Vereinten Nationen »erfunden«, verhandelt und operativ betreut.12

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinwaffenprogramm, dessen Existenz dem gezielten Einsatz verschiedener VN-Instrumente (Expertengruppe, Vollversammlungs-Deliberationen, Sonderkonferenz, Sekretariatsdienste) zu verdanken ist.13 Aus diesem Programm ist gleich die nächste Maßnahme, die Ausarbeitung eines Übereinkommens über die Kennzeichnung und Nachverfolgung von solchen illegalen Waffenströmen hervorgegangen: Hier hat die Vollversammlung unter Schweizer Vorsitz eine offene Verhandlungsgruppe eingesetzt, die es geschafft hat, einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten, der demnächst zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

Agenda-setting und Verhandeln ist eine Sache, Problemfelder gründlich zu durchdenken und zu diskutieren, um Lösungen zu entwerfen, ohne unter dem politischen Druck verbindlicher Verhandlungen zu stehen, eine andere. Die VN verfügen über zwei Institutionen für diesen Zweck. Das eine ist die Abrüstungskommission (Disarmament Commission, DC), ein Organ der Vollversammlung, das andere der Abrüstungsbeirat des Generalsekretärs.

Die Abrüstungskommission steht allen Mitgliedern der Vollversammlung offen. Sie tagt jährlich mehrere Wochen, jeweils auf drei Themenblöcke konzentriert. Ihre Teilnehmer sind Vertreter der Regierungen. Damit ist ihr Handicap gekennzeichnet: Alle stehen unter Instruktionen, und statt stressfreier Deliberation herrscht ein Verhandlungsklima mit allen Rigiditäten des diplomatischen Verkehrs. Die DC leidet insoweit unter den Mängeln der Genfer CD, ohne je deren verbindliche Ergebnisse produzieren zu können oder zu sollen. Sie ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Themenkatalog für ihre Sitzungen zu einigen – gerade wie die CD. Eingerichtet als Placebo für Mitgliedstaaten der VN, die in Genf nicht mittun dürfen, erscheint sie überflüssig, eine Geldverschwendung angesichts knapper Mittel, die weder zum Image der Vereinten Nationen noch zum Erfolg von Abrüstung beitragen kann. Als einziges der VN-Organe wäre ihr Ableben nicht zu bedauern.

Dies gilt um so mehr, als im Abrüstungsbeirat eine Institution zur Verfügung steht, deren Konstruktion geeigneter ist, den Bedingungen von Deliberation zu genügen. Nichts ist perfekt, auch im Beirat halten die Diplomaten die Mehrheit, obgleich alle 22 Mitglieder, die nach einigen Jahren ausgewechselt werden, nach repräsentativen Gesichtspunkten in persönlicher Kapazität berufen werden, also idealiter instruktionsfrei miteinander sprechen können. Realiter sind die Diskussionen des Beirats weitaus weniger vom Stress politischen Drucks gekennzeichnet. Das unverbindliche Setting erlaubt es, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Format der jährlichen Berichte, die Sache des Vorsitzenden sind und nicht im Konsens abgestimmt werden, erlaubt freiere Diskussionen. Das setzt voraus, dass der Vorsitzende seine Position nicht missbraucht, eine Norm, die durchweg eingehalten wird. Die Berichtsentwürfe werden unter den Mitgliedern zur Kommentierung zirkuliert, und im Ergebnis kommt etwas heraus, dass keinen vollständigen Konsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, aber eben auch keine fundamentale Konfrontation gegenüber dem »Eingemachten« der Sicherheitsinteressen eines der repräsentierten Staaten darstellt.

Der Beirat tagt halbjährlich für drei volle Tage und konzentriert sich dabei auf zwei, maximal drei Themen, wozu auch jeweils geeignete Experten aus Nichtregierungsorganisationen angehört werden. Im Zusammenhang mit der VN-Reform hat der Beirat es geschafft, einen Bericht mit sehr substantiellen Empfehlungen zustande zu bringen.14 Neuerdings ist der Vorsitzende aufgefordert, die Ergebnisse seiner Arbeit der Vollversammlung zu präsentieren, womit die deliberative Arbeit des Beirats beträchtlich aufgewertet worden ist.

Generalsekretär und Sekretariat

Auf einige Funktionen des Generalsekretärs ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Rolle als Stimme der VN, selbst machtvoll als Agenda-Setter und Mahner aufzutreten. Im Feld der Abrüstung haben Generalsekretäre davon weitaus sparsamer Gebrauch gemacht als in anderen Themenfeldern, etwa Armutsbekämpfung oder humanitäre Intervention. Dies ist um so betrüblicher, als dem Generalsekretär mit dem Abrüstungsbeirat ein kompetentes und durchaus effektives Instrument zugeordnet ist, von dem er weitaus aktiver Gebrauch machen könnte.

Die Abrüstungsabteilung (Deparment of Disarmament Affairs, DDA), geleitet von einem Untergeneralsekretär, ist die kleinste Abteilung der VN. In Unterabteilungen nach den verschiedenen Waffentypen aufgegliedert, verfügt sie über einen multinationalen Stab, der anderen Organen der VN, aber auch den Vertragsregimen in Dienstleistungsfunktionen, zur Verfügung steht. Die DDA versieht auch die Vollversammlung mit Berichten über die komplizierten Abrüstungsfragen. Gerade kleinere und unterentwickelte Mitgliedsstaaten haben auf nationaler Basis kaum die Möglichkeit, selbständig Information zu beschaffen und Analysen zu erstellen. Die Arbeit des DDA ist für sie unerlässliche Voraussetzung, dem Gang der Dinge folgen zu können.

Schließlich sollte die Rolle des VN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) nicht unerwähnt bleiben. Mit einer minimalen Grundfinanzierung gelingt es dieser Institution unter ihrer gegenwärtigen Direktorin, für das gesamte Spektrum von Abrüstungsfragen Publikationen von hoher Qualität und dichtem Informationsgehalt zu erarbeiten, die gerade für die VN-Mitgliedsstaaten aus der Dritten Welt von großem Nutzen sind.

Schlussfolgerung: VN-Reform und Abrüstung

Die Analyse hat ergeben, dass die Vereinten Nationen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zahlreiche Funktionen zu erfüllen haben. Da die VN eben die Vereinigung ihrer Mitgliedsstaaten sind, gelingt dies so gut, wie es der kollektive politische Wille der Staatenwelt zulässt. Ein Überschuss über diesen Vektor kann nur durch das Eigengewicht des Sekretariats und besonders des Generalsekretärs erzielt werden. Diese Variable ist größer als Null und kann beachtlich sein, darf andererseits auch nicht überschätzt werden – ein Generalsekretär, der sich in dieser Rolle überhebt, wäre schnell isoliert.

In der Diskussion wurden etliche Defizite notiert. Um so enttäuschender ist es, dass die offiziellen Vorschläge zur VN-Reform das Thema stiefmütterlich behandeln. Sie enthalten sporadische Vorschläge zur Abrüstung, aber wenig zum Verhältnis Abrüstung-VN. Eine Ausnahme bilden die Vorschläge des Abrüstungsbeirats, die jedoch von Kofi Annans hochrangiger Expertengruppe mangels Expertise in der Gruppe und ihrem Sekretariat weitgehend ignoriert wurden.15 Es ist zu befürchten, dass der Reformschwung, den der Millenium-plus-fünf-Gipfel mit sich bringt, am Feld VN/Abrüstung recht spurlos vorbeigehen wird.

Anmerkungen

1) Tanja Brühl/Volker Rittberger: From international to global governcance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the twenty-first century, in Volker Rittberger (Hrsg.): Global Governance and the United Nations System, Tokio u.a., United Nations University Press 2001, S. 1-47.

2) Dimitris Bourantonis: The United Nations and the quest for nuclear disarmament, Dartmouth, Aldershot 1993.

3) US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/Main, HSFK-Report 3/2003.

4) Harald Müller: Die Chance der Kooperation. Regime in den Internationalen Beziehungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.

5) Barry Buzan/Ole Waever: Regions and powers. The structure of international security. Cambridge, Cambridge University Press 2003.

6) Harald Müller: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M, HSFK-Report 4/2005; www.hsfk.de/downloads/report0405.pdf.

7) Brahma Chellaney: Arms control: The role of the IAEA and UNSCOM, in: Muthiah Alagappa/Takashi Inoguchi (Hrsg.), International Security Management and the United Nations, Tokio u.a., United Nations University Press 1999,S. 375-393.

8) Trevor Findlay: A Standing United Nations WMD Verification Body: Necessary and Feasible. An interim study prepared for the Commission on Weapons of Mass Destruction by the Canadian Centre for Treaty Compliance, Ottawa, Canada in cooperation with VERTIC, London, UK, May 2005; www.vertic.org/assets/Interim%20report%20UN%20WMD%20verification%20mechanism%20FINAL%20May%202005.pdf.

9) Una Becker, Harald Müller, Carmen Wunderlich: Während wir auf das Protokoll warten: Provisorische Wege, mit dem Bruch des Biowaffen-Übereinkommens umzugehen, Frankfurt/M, HSFK-Report 2005 (i.E.).

10) Hans Blix: Disarming Iraq, New York, Pantheon 2004.

11) Multilateral Disarmament and Non-Proliferation Regimes and the Role of the United Nations: An Evaluation. Contribution of the Advisory Board on Disarmament Matters to the High-Level Panel on Threats, Challenges, and Change, United Nations Department on Disarmament Affairs, Occasional Paper 8, New York 2004, S. 55/56.

12) Siemon T. Wezeman: The future of the United Nations register of conventional arms, Solna: SIPRI, 2003 SIPRI Policy Paper No. 4); http://editors.sipri.se/pubs/UNROCA.pdf.

13) Elli Kytömäki/Valerie Yankey-Wayne: Implementing the United Nations Programme of Action, Genf, UNIDIR 2004.

14) Vgl. Anmerkung 11.

15) Ich habe mich hierzu andernorts ausführlich geäußert und will das hier nicht verdoppeln. Vgl. Harald Müller: Multilaterale Abrüstung in der Krise. Die Vorschläge des High-level Panels und des UN-Abrüstungsbeirats zur Verbesserung der Nichtverbreitungsregime, in: Vereinte Nationen, 53 (2), April 2005, S. 41-45.

Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Vorsitzender des Beratungsausschusses zu Abrüstungsfragen (Abrüstungsbeirat) des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

Die Atomteststoppbehörde

Rüstungskontrolle im Schwebezustand

von Oliver Meier

Die internationale Atomteststoppbehörde (Comprehensive Test Ban Treaty Organization, CTBTO) befindet sich fast acht Jahre nach ihrer Gründung in einem eigenartigen politischen Schwebezustand. Aufgabe der Organisation ist es, die Einhaltung des Vertrags über das Umfassende Verbot von Nuklearversuchen (Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, CTBT) zu überwachen. Aber das Abkommen, das seine Mitglieder verpflichtet „keine Versuchsexplosionen von Kernwaffen und keine andere nukleare Explosion durchzuführen“1, kann nicht in Kraft treten, obwohl es mittlerweile 176 Staaten gezeichnet und 125 ratifiziert haben.

Damit der Atomteststoppvertrag völkerrechtliche Verbindlichkeit erhält, müssen alle 44 Staaten, welche bei Vertragsabschluss 1996 Mitglieder der Genfer Abrüstungskonferenz waren und über Atomprogramme verfügten, den CTBT ratifizieren. Von diesen Staaten haben den Vertrag bisher

  • weder unterschrieben, noch ratifiziert: Indien, Nordkorea und Pakistan,
  • unterschrieben aber noch nicht ratifiziert: Ägypten, China, Indonesien, Iran, Israel, Kolumbien, USA und Vietnam.

Diese elf Staaten verhindern damit, dass die Ergebnisse der Arbeit der CTBTO auch tatsächlich und völkerrechtlich verbindlich zur Teststopp-Verifikation genutzt werden können.

Der Aufbau des Überwachungssystems für den Teststopp-Vertrag durch eine Vorbereitungskommission und das Provisorische Technische Sekretariat (PTS) in Wien hat trotz dieser politischen und rechtlichen Hängepartie gute Fortschritte gemacht. Mittlerweile beschäftigt die CTBTO fast 270 Mitarbeiter aus 69 Staaten. Wenn man von der ungewissen Zukunft des Vertrags selbst absieht, arbeitet die Organisation schon jetzt wie eine normale Abrüstungsbehörde.

Die amerikanische Abwendung

Die klare Ablehnung des CTBT durch die gegenwärtige US-Regierung bildet das größte Hindernis auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrages. Solange die größte Militär- und Nuklearwaffenmacht der Welt nicht auf die Option zur Wiederaufnahme von Kernwaffentests verzichtet, werden auch andere Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder verfügen möchten, sich die Möglichkeit zur Durchführung von Atomexplosionen offen halten wollen.

Präsident Bill Clinton unterzeichnete noch voller Stolz als erster Staatschef am 24. September 1996 den CTBT am Sitz der Vereinten Nationen. Damit schien der jahrzehntelange Kampf der USA um einen überprüfbaren Teststopp-Vertrag erfolgreich zum Abschluss gebracht. Aber die Hoffnung auf ein dauerhaftes Verbot aller Kernwaffentests geriet bald ins Wanken. Im Oktober 1999 weigerte sich der republikanisch dominierte Senat, den vom verhassten demokratischen Präsidenten favorisierten CTBT zu ratifizieren. Seitdem hat sich Washington kontinuierlich vom Vertrag distanziert.

Amerikanische CTBT-Gegner halten den Vertrag für nicht verifizierbar und befürchten, dass ein dauerhafter Verzicht auf Atomtests das eigene Nuklearwaffenarsenal gefährden könnte. Alterungsprozesse in vorhandenen Atomwaffen könnten Kernwaffentests zur Prüfung von Sicherheitsmängeln notwendig machen, so amerikanische Teststopp-Kritiker. Aber auch die Entwicklung neuartiger Atomwaffen wie »Mininukes« oder bunkerbrechende Kernwaffen soll möglich bleiben.2

Die USA bleiben durch die Unterschrift Clintons an den CTBT gebunden, bereiten aber einen möglichen vollständigen Rückzug aus dem Teststopp-Vertrag vor. Amerikanische Diplomaten weigern sich, jedem internationalen Dokument zuzustimmen, das den CTBT auch nur erwähnt. Und im August 2003 wies Präsident Bush das Energieministerium an, die Vorbereitungszeit für eine mögliche Wiederaufnahme von Kernwaffentests von ehemals 2-3 Jahren auf 18 Monate zu verkürzen.

Die Ablehnung des Teststopp-Vertrages durch Washington behindert auch den Aufbau der CTBTO. Seit August 2001 kürzt Washington den eigenen finanziellen Beitrag und behält eigenmächtig die Kosten für die Vorbereitung von Vor-Ort-Inspektionen ein. Begründung: solche Inspektionen, die die CTBTO nach einer vermuteten Vertragsverletzung zur Klärung des Sachverhalts durchführen könnte, würden erst nach Inkrafttreten des Vertrages durchgeführt werden – und genau dieses Inkrafttreten des Vertrags lehnt Washington ab.3

Aus Sicht der CTBTO ist die Kürzung finanziell noch zu verkraften weil sie bisher nur rund 5% (rund US$ 1 Millionen jährlich) des veranschlagten amerikanischen Beitrags beträgt. Aber möglicherweise stehen bald noch weitere Kürzungen ins Haus. Der US-Senat hat insgesamt US$ 7,5 Millionen aus dem diesjährigen Beitrag in Höhe von US$ 22 Millionen herausgeschnitten. Derartige Kürzungen, die vom US-Repräsentantenhaus in dieser Form abgelehnt werden, wären ein schwerer Rückschlag für die Arbeit der CTBTO auch wenn Außenministerin Condoleezza Rice am 16. Februar beteuerte, dass eine weitere Kürzung der US-Beiträge „… keine Änderung der US-Politik gegenüber dem CTBT“ bedeuten würde.4

Um den Aufbau des Systems zu vollenden und fertig gestellte Stationen zu betreiben, ist eine stabile Finanzierung notwendig. Jährlich benötigt die CTBTO etwa US$ 100 Millionen. Bisher wurden rund 95% der Beiträge von den Unterzeichnern des Vertrages eingetrieben. Dies ist eine im Vergleich zu anderen UN-Organisationen gute Quote. Einzelne Staaten, wie Brasilien und Argentinien, zahlen allerdings seit Jahren ihre Beiträge nicht. Damit schwächen sie die CTBTO auch wenn die Arbeit der Behörde (noch) nicht gefährdet ist.

Der Aufbau des Internationalen Überwachungssystems

Trotz der politischen Ablehnung des CTBT unterstützen die USA den Aufbau des internationalen Überwachungssystems (International Monitoring System, IMS) voll und ganz. Ein Grund für diese schizophrene Politik liegt im Interesse amerikanischer Geheimdienste an den IMS-Daten. Für die amerikanische Regierung dürften vor allem Daten aus Regionen interessant sein, in denen sie selber nicht über ausreichend hochwertige Überwachungsstationen verfügt, wie etwa in Zentral- und Südasien. Die USA sind als größter Abnehmer von IMS-Daten sogar bereit, der CTBTO für die Übermittlung aller verfügbaren Daten mehr zu zahlen als den regulären Satz. Das US-Interesse an den Daten der CTBTO ist ein eindrucksvoller Beleg für deren Qualität.

Das IMS selbst ist bereits zu zwei Dritteln fertig gestellt. Zweihundertundneun der insgesamt 321 Überwachungsstationen sind errichtet. Das seismische Netzwerk, das darauf ausgelegt ist, Signale von unterirdisch durchgeführten Atomtests aufzunehmen, ist das Herzstück des Überwachungssystems. Fünfzig Stationen werden kontinuierlich Daten nach Wien übermitteln, weitere 120 Hilfsstationen können bei Bedarf zugeschaltet werden. Elf im Meer an Bojen verankerte Hydrophone oder in der Nähe von steil abfallenden Küsten stationierte Hochfrequenz-Seismometer können Explosionen in den Ozeanen oder auf kleinen Inseln feststellen. Das Infraschall-Überwachungsnetzwerk von 60 landgestützten Stationen dient dem Ziel, die von atmosphärischen Nukleartests verursachten Schallwellen festzustellen und diese Tests so zu lokalisieren. Achtzig Radionuklidstationen werden rund um die Uhr radioaktive Aerosole und Edelgase in der Atmosphäre messen, die von atmosphärischen Atomtests stammen oder von unterirdischen Tests, die ausgasen.

Von den Stationen werden die Daten an das International Data Centre (IDC) in Wien und von dort zügig an die Mitgliedstaaten übermittelt. Ein groß angelegter Dauertest im April und Mai diesen Jahres hat belegt, dass der für eine erfolgreiche Vertragsüberwachung notwendige Dauerbetrieb, inklusive sicherer Datenübertragung aus Wien gewährleistet werden kann.5

Die CTBTO bewertet und analysiert IMS-Daten nicht. Es obliegt den Mitgliedstaaten festzustellen, ob ihrer Meinung nach ein Vertragsverstoß vorliegt. Nach Inkrafttreten des Vertrags kann jeder Mitgliedsstaat eine Sitzung des Exekutivrats der Organisation beantragen, wenn er vermutet, dass ein anderes Mitglied gegen den Vertrag verstoßen hat. Stimmen 31 der 50 Mitglieder des Exekutivrats zu, wird eine Vor-Ort-Inspektion zur Klärung des Sachverhalts angeordnet. Klare Vertragsverstöße kann die Vertragsstaatenkonferenz an den UN-Sicherheitsrat melden.

Während der Aufbau des Überwachungssystems Fortschritte macht, bleibt die Vorbereitung der Vor-Ort-Inspektionen schwierig. Der Vertrag selbst beschreibt nur die groben Parameter künftiger Inspektionen, wie etwa Dauer und Umfang. Seit Jahren verhandeln Mitgliedstaaten in Wien über ein Handbuch zu Vor-Ort-Inspektionen, das Einzelheiten über die Rechte und Pflichten künftiger Teststopp-Inspekteure festlegen soll.

Der amerikanische Boykott der Vorbereitungen für Vor-Ort-Inspektionen stellt den Wert der Verhandlungen über ein Inspektionsregime insgesamt in Frage. Aber auch andere Staaten, wie etwa Israel, achten mit Argusaugen darauf, dass künftige Inspektoren nicht zu weitreichende Rechte erhalten. Sie fürchten, dass Inspektionen dazu missbraucht werden könnten vertragsfremde Einrichtungen auszuspionieren, etwa die geheime Atomanlage in Dimona.

Wie andere Verifikationssysteme, kann auch das IMS keine hundertprozentige Sicherheit bieten, dass alle Vertragsverletzungen aufgedeckt werden. Das System zielt eher darauf ab, Vertragsbrüche mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen, und potenzielle Vertragsverletzer dadurch abzuschrecken.

Ein Unterlaufen des Überwachungssystems durch einen geheimen Kernwaffentest – ein Szenario das CTBT-Kritiker in den USA immer wieder als Schwachpunkt des Vertrages angeführt haben – dürfte ausgeschlossen sein. Militärisch relevante Tests haben eine Sprengkraft von mehreren Kilotonnen TNT-Äquivalent. Das IMS ist aber darauf ausgelegt, weltweit Explosionen mit einer Sprengkraft von mindestens einer Kilotonne zu entdecken. In vielen Gegenden kann das IMS schon jetzt Explosionen von wesentlich kleinerer Sprengkraft – in einzelnen Fällen von 10-25 Tonnen – feststellen und in den meisten Fällen auch lokalisieren.6

Zusätzliche Nutzung des IMS?

Schon seit Jahren gibt es Vorschläge, die Daten des IMS auch für andere Zwecke als zum Aufspüren von Kernwaffentests zu verwenden,. Das Überwachungssystem ist weltweit einmalig, nicht nur auf Grund seiner globalen Reichweite sondern auch wegen der schnellen Datenverfügbarkeit und der sicheren Übertragung an Empfänger weltweit. So könnten z.B. die Daten aus dem Infraschallnetzwerk dazu verwendet werden, die Luftfahrt vor Vulkanausbrüchen zu warnen. Möglich wäre es auch, bestimmte IMS-Daten zur Überwachung anderer internationaler Abkommen, insbesondere Rüstungskontrollabkommen, zu nutzen. Das Netzwerk von Radionuklidstationen etwa könnte auch geheime Produktionsanlagen für Kernwaffenmaterialien aufspüren.

Jahrelang scheiterten solche Vorschläge zur Nutzung von Synergieeffekten jedoch an den Ängsten einiger Staaten wie China, die eine Aufweichung der Regeln zum Schutz »vertraulicher« Informationen befürchten. Sie bestanden darauf, dass nur staatliche Datenzentren IMS-Daten empfangen dürfen. Erst die Tsunami-Katastrophe vom letzten Jahr hat solche Bedenken hinweg gespült. Achtundsiebzig IMS-Stationen hatten das Seebeben am 26. Dezember 2004 registriert und die Daten schon nach zwei Stunden an alle Mitgliedstaaten übermittelt. Dies schloss auch betroffene Staaten in der Region ein, wie etwa Indonesien und Thailand.7 Diese Daten wurden dort allerdings nicht entsprechend ausgewertet und damit eine wichtige Chance zur Frühwarnung vertan.

Im März diesen Jahres beschlossen die Vertragsmitglieder, dass das PTS auf Probebasis Daten an zwei Tsunami-Frühwarnorganisationen der UNESCO übertragen soll. Ob dieser wichtige Schritt zur Öffnung des Systems auch weitere Möglichkeiten für eine Nutzung der Daten zur Frühwarnung und Katastrophenhilfe eröffnet, muss allerdings abgewartet werden.8

Wie weiter?

Trotz beeindruckender Fortschritte beim Aufbau des Überwachungssystems liegt die Frage des Inkrafttretens des Vertrages wie ein dunkler Schatten über der Arbeit der CTBTO. Alle zwei Jahre beraten die Mitgliedstaaten, was unternommen werden kann, um das Inkrafttreten des Teststopp-Vertrags zu beschleunigen. Auf der vierten, nach dem entsprechenden CTBT-Paragrafen benannte Artikel XIV-Konferenz, die vom 21.-23. September 2005 in New York stattfand, wurde erneut deutlich, dass ein stetiges und druckvolles Drängen auf Vertragsbeitritt bei den noch außerhalb des CTBT stehenden Staaten ohne politische Alternative ist. Je kürzer die Liste der Blockierer ist, desto größer wird der politische Druck auf die noch ausstehenden Verweigerer und desto stärker ist die internationale Norm gegen Atomtests.

Der Sonderbeauftragte zur Förderung des Ratifizierungsprozesses, Jaap Ramaker, berichtete von seinen weitgehend erfolglosen Bemühungen weitere Annex II-Staaten von einem Vertragsbeitritt zu überzeugen.9 Die chinesische Regierung beteuerte gegenüber Ramaker, dass sie guten Willens sei, den CTBT zu ratifizieren und »nur« noch auf den Abschluss des parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens warte. Gleichlautende Beteuerungen gibt es allerdings seit Jahren aus Peking. Pakistan erklärte, dass ein Beitritt zum Teststopp-Vertrag gegenwärtig keine Priorität besäße und die indische Regierung empfing Botschafter Ramaker erst gar nicht. Der wichtigste Schlüssel zum politischen Erfolg liegt aber weiterhin in Washington.

Der Fortschritt beim Aufbau des Verifikationssystems durch die Wiener Teststoppbehörde ist dabei ein wichtiges Seismometer für die politische Unterstützung für den CTBT insgesamt. Auch deshalb ist es wichtig, dass diejenigen Regierungen, die an den Zielen des Teststopp-Vertrags festhalten, die CTBTO weiter nach Kräften unterstützen. Nur dann ist gewährleistet, dass „bei Inkrafttreten des Vertrages … das Verifikationssystem in der Lage [ist], den Verifikationsanforderungen des Vertrages zu genügen.“10

Anmerkungen

1) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel I (1).

2) Eine Diskussion dieser Argumente findet sich in dem Report des CTBT-Sonderbeauftragten General John M. Shalikashvili (USA Ret.): Report on the Findings and Recommendations Concerning the Comprehensive Test Ban Treaty, January 4, 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_01-02/ctbtreport.asp

3) Philipp C. Bleek: White House to Partially Fund Test Ban Implementing Body, in: Arms Control Today, September 2001, http://www.armscontrol.org/act/2001_09/ctbtsept01.asp.

4) Daryl G. Kimball: The Status of CTBT Entry Into Force: the United States, Presentation at the VERTIC Seminar on the Comprehensive Test Ban Treaty on the Occasion of The Fourth Article XIV Conference on Accelerating Entry Into Force, New York, September 22, 2005, http://www.armscontrol.org/events/20050921_VERTIC.asp.

5) Background Document by the Provisional Technical Secretariat of the Preparatory Commission for the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization prepared for the Conference on Facilitating the Entry into Force of the CTBT, CTBT-Art.XIV/2005/3/Rev.1, 7 September 2005.

6) Einschätzungen zur Verifizierbarkeit des Vertrages finden sich unter anderem im Bericht der Unabhängigen Kommission zur Verifizierbarkeit des Teststopp-Vertrages, London 7. November 2000, http://www.ctbtcommission.org/germanreport.htm und Ben Mines: The Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty: virtually verifiable now, VERTIC Brief 3, London, April 2004, http://www.vertic.org/assets/BP3_Mines.pdf.

7) Northern Sumatra Earthquake and the Subsequent Tsunami on 26 December 2004, CTBTO Press Release, 5. Januar 2005.

8) Oliver Meier: CTBTO Releases Test Ban Monitoring Data for Tsunami Warning, in: Arms Control Today, Vol. 35, No. 2, April 2005, S. 39-40.

9) Report of Ambassador Jaap Ramaker, Special Representative to promote the ratification process of the CTBT to the Conference on Facilitating the Entry into Force of the Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, New York, 21-23 September 2005.

10) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, Artikel IV (1).

Dr. Oliver Meier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sowie Internationaler Repräsentant und Korrespondent der Arms Control Association in Berlin.

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

von Jörg Welke

Vom 2. bis 28. Mai 2005 tagt in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung sind nicht gerade vielversprechend. Auf den Vorbereitungskonferenzen in den letzten drei Jahren haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen können. Keine der »Atommächte« ist offensichtlich bereit die Verpflichtung zur totalen nuklearen Abrüstung, die beim Abschluss des Vertrages zugesagt wurde, zu erfüllen. Setzen wir einmal voraus, dass es nicht zum »offenen Scheitern« des Vertragswerks kommt – da hieran vor allem die Atomwaffen besitzenden Staaten kein Interesse haben – so bleibt die Frage in welche Richtung ein zu erzielender Kompromiss tendiert.

New York im Mai 2020: Unglaubliche Menschenmassen feiern ausgelassen in den Straßen Manhattans, vor dem UN-Gebäude ist kein Durchkommen mehr, strahlende Gesichter wohin man auch schaut. Dann ist es soweit. Der amtierende UN-Generalsekretär verkündet feierlich: „Der letzte Atomsprengkopf auf dieser Erde ist entschärft und wird in seine Bestandteile zur Verschrottung zerlegt. Die Ära der nuklearen Bedrohung ist beendet.“ Zehn Jahre zuvor hatten sämtliche Atomwaffenstaaten mit der Auflösung ihrer nuklearen Arsenale begonnen. Nach weiteren fünf Jahren hatten sie sich während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages (Nichtverbreitungsvertrag, NVV) auf Verhandlungen zur weltweiten atomaren Abrüstung geeinigt.

Soweit das Wunschdenken. Die Wirklichkeit ist komplizierter, die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung während der Überprüfungskonferenz in New York schwindet zusehends.

Als der NVV 1970 in Kraft trat, hatten diejenigen Staaten, die bereits im Besitz von Atomwaffen waren, ein für sie wichtiges Ziel erreicht: Sie sahen ihr Monopol auf den Besitz dieser Waffen nun völkerrechtlich festgeschrieben. Außer China, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den USA hatte fortan kein anderes Land, das dem Vertrag beitrat, das Recht, Atomwaffen zu entwickeln oder zu erwerben. Die inzwischen 182 anderen Vertragsstaaten ließen sich allerdings nicht ohne Gegenleistung zur militärisch-atomaren Enthaltsamkeit bewegen. Vielmehr sollten ihnen Materialien, wissenschaftliches Know-how und alle Technologien zur Nutzung der damals begehrten Atomenergie für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Die Vereinbarung sah darüber hinaus für die Atomwaffenstaaten die vertragliche Pflicht vor, Verhandlungen über die Abrüstung und Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen.

Um zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Atomtechnologie zu unterscheiden wurde ein Sicherheitskontrollsystem (safeguards) installiert. Mit der Kontrolle wurde die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) beauftragt. Sie inspiziert seither regelmäßig weltweit Atomanlagen, außer denjenigen der Atomwaffenstaaten und der Nicht-Unterzeichnerstaaten des NVV, das sind Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea, das 2003 aus dem Vertrag wieder ausgeschieden ist.

Die Abrüstungsverpflichtung ist im NVV nicht im Detail konkretisiert. Weder sind die einzelnen Schritte zu einer vollständigen Abschaffung von Atomwaffen festgelegt, noch wurde ein Zeitplan definiert. So stieg die Zahl der Atomwaffen zwischenzeitlich bis auf 65.000 an. Trotz diverser Abrüstungsverträge ist ihre Anzahl heute höher als zu Vertragsbeginn.

Als der NVV ausgehandelt wurde sollte er zunächst für 25 Jahre gelten, mit Überprüfungskonferenzen im Fünfjahresrhythmus. 1995 wurde anlässlich der Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags entschieden, die Vereinbarung unbefristet auszudehnen. Das entsprach vor allem dem Wunsch der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, ein großer Teil der blockfreien und Nicht-Atomwaffenstaaten betrachtete den Vertrag als diskriminierend. Sie stimmten der Verlängerung trotzdem zu, weil zusätzliche Versprechungen gemacht wurden, z.B. Verhandlungen zu einem umfassenden Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT). Dieses Abkommen wurde 1996 auch abgeschlossen, kann aber erst in Kraft treten, wenn die 44 Staaten, die über Atomenergieanlagen verfügen, es ratifiziert haben. Bislang fehlen aber die Ratifizierungen von elf Staaten, darunter die USA und China.

Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wurde einstimmig eine Liste von 13 »praktischen Schritten« zur Abrüstung der bestehenden Atomwaffenarsenale verabschiedet. Diese Liste enthält eine Bestätigung der Verpflichtung, alle Atomwaffen abzuschaffen, wie sie bereits in Artikel VI des NVV festgeschrieben ist.

Veränderte Sicherheitslage

Auf der nächsten Überprüfungskonferenz im Mai 2005 wollen die USA diese »13 Schritte« nun als »überholt« ad acta legen. So bezeichnete Ende letzten Jahres ein offizieller Regierungsvertreter aus Washington das Abschlussdokument der 2000er Überprüfungskonferenz inklusive der 13 Schritte als »historisch«.1 Es sei ein neues Dokument notwendig, das die veränderte Lage nach dem 11. September widerspiegele.

Zwei andere internationale Vereinbarungen haben die USA bereits erfolgreich torpediert: Das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens und den ABM-Vertrag. Der ABM-Vertrag wurde einseitig von den USA aufgekündigt, und der Atomteststoppvertrag wird in absehbarer Zeit von den USA nicht ratifiziert werden. Die USA erwägen zudem die Wiederaufnahme von Atomtests. Das Abkommen zwischen George Bush und Vladimir Putin aus dem Jahr 2002 (Moskauer Vertrag bzw. Strategic Offensive Reduction Treaty, SORT), nach dem die stationierten strategischen Atomwaffen jeweils auf 1.700 bis 2.200 zu reduzieren sind, hebt den START-II-Vertrag auf, der 2002 noch nicht in Kraft getreten war. Nach der neuen Regelung werden die »überzähligen« Atomwaffen nur »nicht gefechtsbereit« gelagert und nicht verschrottet. Das widerspricht dem 2000 verabredeten Prinzip der Unumkehrbarkeit von Abrüstungsmaßnahmen.

Die Liste gebrochener Versprechen von Seiten der Atomwaffen besitzenden Staaten ist lang und der Unmut auf Seiten der Nichtatomwaffenstaaten groß. Der Unmut wächst auch deshalb, weil das im Artikel IV des NVVzugesicherte „unveräußerliche Recht“ auf Hilfe zur zivilen Nutzung der Atomenergie von den Atomwaffenstaaten zunehmend in Frage gestellt wird. Seitdem der Iran vermutlich an einem Urananreicherungsprogramm arbeitet, wollen die USA bestimmten Ländern diese Technologie verweigern. Nach einer entsprechenden Intervention des US-amerikanischen Präsidenten auf dem Gipfel der G8-Staaten im Juni 2004 wurde dort verabredet – entgegen den Vertragsverpflichtungen – Atomtechnologie nur an Staaten zu exportieren, die durch ein Zusatzprotokoll von der IAEO als »sicher« eingestuft werden. Allerdings hätte der Iran auch in diesem Fall das Recht zum Erwerb der Technologie zur Urananreicherung, es sei denn der IAEO lägen Beweise zur Ablehnung vor.

Überprüfungskonferenz 2005

Die veränderte Sicherheitslage nach dem 11.September, weltweiter »Krieg gegen den Terrorismus«, iranisches Atomprogramm und nordkoreanische Atomwaffen: Diese Stichworte sind die unguten Vorzeichen für die Überprüfungskonferenz des NVV im Mai. Bei den drei jeweils zweiwöchigen Vorbereitungskonferenzen, die 2002-2004 stattfanden, haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung für 2005 einigen können.

Die Ausgangspositionen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die USA wollen ihr 2002 mit Russland ausgehandeltes SORT-Abkommen über die Reduzierung von strategischen Atomwaffen bereits als Schritt zur nuklearen Abrüstung verstanden wissen. Kritiker weisen aber darauf hin, dass dieses Abkommen eher ein Umrüstungs-, denn ein Abrüstungs-Abkommen ist: Die USA arbeiten an der Entwicklung neuer kleiner taktischer Atomwaffen – Mininukes – und bunkerbrechenden Atombomben, die die Gefahr eines atomaren Krieges erhöhen, da sie in »begrenzten« Kriegen eingesetzt werden können. Russland will sein Arsenal modernisieren, um die geplante Raketenabwehr der USA umgehen zu können. Das geplante US-Raketenabwehrsystem führt deshalb auch nicht zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes. Im Gegenteil, es erhöht die Gefahr eines atomaren Konflikts, da es zur Vergrößerung des Atomwaffenpotenzials führt. Für die taktischen Nuklearwaffen der beiden Länder gibt es sowieso keine vertraglichen Vereinbarungen.

Die aggressive Haltung der USA ist das entscheidende Problem für die Verhandlungen: Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und die Drohungen gegen die von Bush so titulierten Staaten der »Achse des Bösen« provozieren die Amerikaner in diesen Ländern geradezu den Willen zur Entwicklung und zum Bau eigener Atomwaffen. Viele – auch offizielle – Verlautbarungen aus diesen Ländern dokumentieren die Ansicht, dass nur der Besitz atomarer Waffen einen gewissen Schutz gegen militärische Aktionen der USA bietet. Ganz deutlich wird das in der Haltung der nordkoreanischen Regierung.

Die offizielle deutsche Regierungslinie propagiert Abrüstungsmaßnahmen in »kleinen Schritten« ohne vorgegebenen Zeitrahmen und lehnt (bislang) den Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention ab. Deutschland brachte in die Vorbereitungskonferenzen des NVV in den vergangenen Jahren einige nützlich Arbeitspapiere ein – u.a. zur Problematik der taktischen Atomwaffen und zur Stärkung des Vertragsregimes –, fordert aber weder den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden noch eine Änderung der NATO-Strategie, die nach wie vor die Möglichkeiten eines nuklearen Ersteinsatzes vorsieht (siehe Artikel von Bernd Hahnfeld in dieser W&F-Ausgabe, d. Red.).

Einmischung von unten

Umso stärker sind die nichtstaatlichen Akteure gefragt. Viele Nichtregierungsorganisationen sind weltweit vernetzt, können Strategien zur nuklearen Abrüstung entwickeln und vorschlagen, wie dies mit dem Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention 1996 bereits passiert ist.

Hiroshimas Bürgermeister, Tadatoshi Akiba, setzt sich mit der weltweiten Bürgermeisterkampagne »2020 Vision« für ein weitergehendes Vorhaben ein, als lediglich den – ohnehin unzureichenden – NVV zu retten. In New York will eine Delegation von etwa 100 BürgermeisterInnen an der Überprüfungskonferenz teilnehmen und der internationalen Staatengemeinschaft ihren Plan vorlegen: Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention jetzt beginnen, die Verhandlungen 2010 abschließen, und bis 2020 sämtliche Atomwaffen abrüsten. Gewissermaßen als »Plan B« ist die »second track diplomacy« zu verstehen: Analog des Ottawa-Prozesses für das Verbot der Landminen wird zu einer gemeinsamen Verhandlungsrunde aus »willigen« Staaten und kundigen Nichtregierungsorganisationen eingeladen. Damit sollen die »nicht-willigen« Staaten diplomatisch isoliert werden.

In Deutschland engagiert sich die Kampagne »atomwaffenfrei bis 2020« für eine Atomwaffenkonvention und eine atomwaffenfreie Welt. Die Kampagne wurde vom Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Dieser fordert insbesondere den sofortigen Abzug aller US-Atomwaffen, die sich auf deutschem Boden befinden und die im Rahmen der so genannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall auch von deutschen Soldaten eingesetzt würden.

Der Trägerkreis besteht aus 40 Mitgliedsorganisationen. Um sein Ziel – eine atomwaffenfreie Welt – zu erreichen, organisiert er unter anderem öffentlichkeitswirksame Aktionen und Lobbyarbeit bei Politikern und Diplomaten. Außerdem beteiligt sich der Trägerkreis aktiv an nationalen und internationalen Kampagnen, wie der Bürgermeisterkampagne der Mayors for Peace.

Der Trägerkreis versteht sich als deutscher Teil des globalen Netzwerkes »Abolition 2000«. Auch dieses Netzwerk, das 1995 gegründet worden ist, setzt sich für die Abschaffung aller Atomwaffen ein und besteht aus über 2000 Mitgliedsorganisationen weltweit.

Die ganz andere Vision 2020

New York im Mai 2020: Zur zehnten Überprüfungskonferenz des NPT treffen sich die Vertreter der drei Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht gekündigt haben, in einem Café in der Nähe des UN-Hauptquartiers. Sie haben nicht mehr viel zu besprechen. Nach dem totalen Scheitern der siebten Konferenz 2005 entschieden sich zunächst sämtliche Staaten des Nahen Ostens, Atomwaffen zu entwickeln und zu bauen. Bereits ein Jahr später wurde nach einer Eskalation des Kaschmir-Konfliktes Bombay durch den dritten Atomwaffeneinsatz auf eine Stadt ausgelöscht. Die USA reagierten auf die andauernden »dirty bomb-Terroranschläge« im eigenen Land mit dem massiven und flächendeckenden Einsatz ihrer neu entwickelten Bunker Busters, wo auch immer Terrorzellen oder unterirdische Atomanlagen vermutet wurden. Kriegsführung mit nuklearem Material ist zur Normalität geworden, selbst in Bürgerkriegen auf dem mittlerweile so gut wie entvölkerten Kontinent Afrika finden Mini-Atombomben ihren Einsatz.

So weit die Befürchtung. Auch dieses Mal ist die Wirklichkeit vermutlich komplizierter.

Es bleibt zu hoffen, dass die Überzeugungskraft friedliebender Staaten und die Beharrlichkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen der siebten Überprüfungskonferenz zum Erfolg verhelfen.

Anmerkungen

1) „U.S. seeks to defang NPT“ in: Japan Today, 31.12.2004.

Jörg Welke ist freier Journalist und arbeitet derzeit als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Voraussetzung oder Folge von Deeskalation?

von Herbert Wulf

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind kein zentrales Thema auf der heutigen politischen Agenda.1 Die Hochphase der Rüstungskontrollverhandlungen der 1980er Jahre, die zum Abschluss einiger wichtiger Verträge führte (INF, START I, CWC)2 ist vorüber, ebenso die Phase der Abrüstung unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges. Manche Verhandlungen wurden gestoppt und der Vertrag zum Verzicht auf Nukleartests (Comprehensive Nuclear Test-Ban Treaty, CTBT) ist bis heute nicht in Kraft, auch wenn sich die Atommächte bislang daran halten. Haben Abrüstung und Rüstungskontrolle angesichts der Rüstungskontrollkrise und der Umkehr des Abrüstungsprozesses von Anfang der 1990er Jahre heute keine Chance mehr?

Um Erfolg oder Misserfolg von Abrüstung und Rüstungskontrolle einschätzen zu können, ist es erforderlich, die Messkriterien hierfür zu benennen. Wenn das Ziel die vollständige Abrüstung sein sollte, wie dies in der Gründungsphase der Vereinten Nationen der Fall war, dann muss man tatsächlich von Scheitern sprechen. Sind die Ziele aber niedriger gesteckt, beispielsweise dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Kriegen und Krisen des 21. Jahrhundert eine deeskalierende Rolle spielen können, dann sieht die Bilanz zwar nicht rundum positiv, aber auch nicht völlig negativ aus.

Ziele von Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik

Für die heutige Relevanz von Abrüstung und Rüstungskontrolle lohnt ein Blick auf die Konzeption und Entwicklung dieser Politiken des letzten halben Jahrhunderts. In den 50er Jahren blockierte der Ost-West-Konflikt alle Abrüstungsbemühungen. Angesichts der wachsenden Nuklearwaffenpotenziale und der zunehmenden Zahl der Atomwaffenstaaten, aber auch der steigenden Ausgaben für Militär und Rüstung war das ursprüngliche Ziel der vollständigen Abrüstung offensichtlich nicht durchsetzbar. Ende der 50er Jahre wurde daher, zunächst in der »strategic community« in den USA, dann auch in den dortigen Ministerien und in anderen Ländern über eine Alternative nachgedacht. Das wichtigste Ergebnis war die »arms control«, die Rüstungskontrolle, oder wie der von Wolf Graf von Baudissin im Deutschen geprägte Begriff genauer beschreibt, die »kooperative Rüstungssteuerung«.3 Als »Manifest« der Verfechter der Rüstungskontrolle gilt vielfach ein Aufsatz von Morton Halperin und Thomas Schelling aus dem Jahr 1961. Die Autoren entwickeln drei zentrale Kriterien für erfolgreiche Kontrolle der Rüstung: Die Erhöhung der Stabilität, die Verringerung der Zerstörungsfähigkeit und die Verminderung der Kosten der Waffensysteme bzw. der Militärapparate.4

Um Stabilität zu erzielen, ist kooperatives Verhalten erforderlich – am Besten auf der Grundlage verbindlicher Abmachungen und unter intensiver gegenseitiger Aufsicht; denn, wie es später die »Palme-Kommission«5 formulierte, kann es Sicherheit angesichts der gegenseitigen Zerstörungsfähigkeit nur gemeinsam geben. Alle Beteiligten, so die Grundannahme, haben Interesse an der Erhaltung von Stabilität, um die Kriegsgefahr zu dämpfen, riskantes Verhalten in Krisen zu vermeiden und die Kosten zu senken.

Die Stabilisierung der zerstörungsträchtigsten Waffen wurde in den folgenden drei Jahrzehnten zum zentralen Gegenstand vielfältiger Bemühungen. Auch die Verminderung der Zerstörungswirkung war ein Ziel internationaler Verhandlungen, wenn auch oft mit dem Hintergedanken, damit Nuklearwaffen einsatzfähig zu machen. Kaum eine Rolle spielten hingegen Kostenüberlegungen. Die Rüstungshaushalte wuchsen und die populäre Forderung, Entwicklung statt Abrüstung, blieb ein Ziel, das tatsächlich in immer weitere Ferne rückte. Vielleicht wichtiger noch: In vielen Fällen wurde hingenommen, dass Rüstungskontrolle zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion mit quantitativer und qualitativer Aufrüstung einherging, so in den SALT I und SALT II Abkommen über strategische Nuklearwaffen. Gegenüber den nuklearen Habenichts-Staaten hingegen wurde versucht, den Verzicht auf Atomwaffen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages durchzudrücken.

Es fehlte der Rüstungskontrolle wegen dieses begrenzten Ansatzes nicht an Kritikern. Viele, nicht nur in der Friedensbewegung der späten 70er und 80er Jahre, sahen in der einseitigen Betonung der Stabilität einen Verrat am Ziel der Abrüstung. Einen Abbau der Waffenbestände hatte die Rüstungskontrolle bis in die 80er Jahre hinein nicht erreicht. Andere kritisierten den Gedanken als realitätsfremd, dass miteinander verfeindete Staaten daran interessiert sein könnten, Stabilität, ein Festhalten am status quo, zu vereinbaren. Ein Vertreter der realistischen Schule, Colin Gray, etwa formulierte sinngemäß: Rüstungskontrolle seit unmöglich, wenn sie nötig sei und nicht nötig, wenn sie möglich sei.6

Diese Situation änderte sich erst in der Endphase des Ost-West-Konfliktes. Unter dem Eindruck wachsenden wirtschaftlichen Rückstands gegenüber dem Westen war die Sowjetunion bereit auch Verträge abzuschließen, die man zuvor noch als nachteilig für die strategische Stabilität mit den USA angesehen hatte, wie den Vertrag über die Begrenzung von Mittelstrecken-Nuklearwaffen (INF). Das Tempo der Rüstungskontrolle steigerte sich enorm, und die Abkommen waren nun regelmäßig mit Reduzierungen von Waffensystemen verbunden. Rüstungskontrolle und Abrüstung fanden parallel zueinander statt. Mit dem INF-Vertrag wurde eine bestimmte Klasse nuklearer Waffensysteme abgebaut. Auf START I folgte START II mit tiefen Einschnitten bei den strategischen Nuklearwaffen, obwohl START II nie ratifiziert wurde. Die Chemiewaffenkonvention wurde ausgehandelt, die die Abschaffung einer ganzen Kategorie von Waffen vorsieht. In Europa wurde der Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE) abgeschlossen und die Streitkräfte in Ost und West deutlich reduziert.

Auch in dieser kurzen Hochphase der Rüstungskontrolle blieb das Kriterium der Stabilität vorrangig. Abrüstung war wichtiges Nebenziel und wurde beschränkt auf Fälle, die allgemein als stabilitätsfördernd angesehen wurden. Die Zerstörungswirkung wurde ebenfalls stärker beachtet, etwa bei der Aushandlung der Chemiewaffenkonvention. Das Kriterium der Kostenersparnis blieb weiterhin im Hintergrund, obwohl finanzielle Engpässe viele Abrüstungsschritte beflügelten. Nur am Rande wurden die Kosten der Abrüstung, nämlich die Verschrottung oder Entsorgung der Waffen, bedacht, die in einzelnen Fällen erheblich sein können, so beispielsweise bei den Chemiewaffen, bei der Entsorgung der Atomsprengköpfe oder beim Räumen von Minen.

Eskalation – Stabilität – Deeskalation

Parallel zur Definition des Konzeptes der »arms control« mit dem Hauptziel der Sicherung der Stabilität zwischen gegnerischen Systemen, propagierten die Vertreter der klassischen realistischen Schule, der »strategic studies«, in den USA das Konzept der Eskalation. Die RAND Corporation etwa oder Hermann Kahn,7 bemühten sich um Konzepte, Nuklearwaffen im Krieg einsetzen zu können und dabei selbst Herr der Lage zu bleiben, also die Eskalation zu beherrschen. Auch wenn das Konzept der Eskalationskontrolle im strategischen Denken immer einen Stellenwert behalten hat, so setzte sich doch mit der Entstehung des nuklearen Gleichgewichts, der gegenseitig gesicherten Zerstörung (mutual assured destruction), die Erkenntnis durch, dass die Kontrolle der Eskalation nicht mehr nur von der Dominanz des eigenen militärischen Potenzials abhängig ist, sondern dass die Kategorie von militärischer Überlegenheit oder Unterlegenheit mit der Existenz und Anhäufung der Atomwaffen grundsätzlich in Frage gestellt war. Die Anerkenntnis dieses Zustandes war die Voraussetzung für Rüstungskontrolle und des Konzepts der Gemeinsamen Sicherheit, wie sie sich in den 1970er und 1980er durchsetzten.

Die Frage ist, kann aus diesen Erfahrungen – dass Eskalation auch im engen militärischen Sinne eine fragliche Kategorie geworden ist, dass das Konzept der Erhaltung der Stabilität immerhin auf eine Geschichte zurückblicken kann, in der die Nuklearwaffen nicht eingesetzt und eine direkte kriegerische Konfrontation zwischen Ost und West vermieden werden konnte – für die heutigen Krisen und Konflikte etwas abgleitet werden?

Die Fortentwicklung zu einem Kontinuum Eskalation – Stabilität – Deeskalation scheint logisch. Wenn Rüstungskontrolle in manchen Bereichen Eskalation verhindern und in anderen zur Stabilität beitragen konnte, warum nicht auch zur Deeskalation? Das Paradigma der Deeskalation nimmt – wie in der Vergangenheit das Eskalationskonzept und die Rüstungskontrolle – „konfrontative Zuspitzungen im internationalen System“, nämlich Krisen und Kriege, sowie „vor allem die Konfliktdynamik und ihre Akteure ins Visier“. Anders als die Eskalations- und Stabilitätskonzepte geht Deeskalation davon aus, „einen aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation“ bewirken zu können.8 Deeskalation will nicht nur die Krise verhindern, sondern durch Prävention oder Nachsorge positiv beeinflussen. Und die Frage schließt sich an, ob Abrüstung und Rüstungskontrolle dazu beitragen können oder ob sie lediglich Resultat der Deeskalation sind. Simpel ausgedrückt (und nochmals an das oben zitierte Diktum von Colin S. Gray angeknüpft und vom Kopf auf die Füße gestellt): Ist Rüstungskontrolle nötig, um den politischen Prozess zur Kontrolle von Krisen und Schaffung von Frieden zu ermöglichen; oder kann Abrüstung und Rüstungskontrolle nur dem politischen Prozess folgen und ist sie dann überhaupt noch nötig?

Praktische Ergebnisse von Rüstungskontrollverträgen – drei Beispiele

1. Die Ambivalenz der Ergebnisse des Atomwaffensperrvertrags: Die Rüstungskontrolle hat, trotz der Krise seit Mitte der 1990er Jahre, auch Erfolge zu verzeichnen. Der wohl wichtigste war die im Mai 1995 ausgehandelte unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages. Bei Abschluss des Vertrages im Jahr 1968 und der Ratifizierung im Jahr 1970 bestand die Befürchtung, dass innerhalb kurzer Frist mindestens zwei Dutzend Länder über Atomwaffen verfügen würden. Der Atomwaffenvertrag hat, trotz mancher Rückschläge, die Realisierung dieses Szenarios verhindert; eine Eskalation dieses Ausmaßes ist ausgeblieben, obwohl der Bau der Bombe in Israel, Indien und Pakistan sowie möglicherweise jetzt auch Nordkorea zur Sorge Anlass gibt. Der Vertrag sieht aber nicht nur die Begrenzung der Atomwaffenländer vor, sondern auch die Förderung der Entwicklung zivil nutzbarer Atomtechnologie und auch die Verpflichtung der Atomwaffenbesitzer, Verhandlungen zu einem möglichst frühen Termin zur generellen und vollständigen Nuklearabrüstung durchzuführen. Dieser letzte Passus im Vertrag (Artikel 6) wurde bei der Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 noch einmal bestätigt. Aber kein Nuklearwaffenstaat hat diese Verpflichtung jemals ernst genommen oder zeigt sich gewillt, die vollständige Abrüstung der Atomwaffen tatsächlich in Angriff zu nehmen. Die Bemühungen der Atommächte, aber auch vieler anderer Ländern, zielen weiterhin auf Verhinderung der Proliferation von Atomwaffen und der zur Herstellung relevanten Technologien ab. Diese Politik ist zweifellos zu begrüßen. Aber nicht nur die potenziellen Atomwaffen der Möchtegerne wie Nordkorea oder der Verdächtigen wie Iran und der außerhalb des Atomwaffensperrvertrages stehenden Atommächte wie Indien, Israel und Pakistan sind das Problem, sondern ebenso und vor allem die Atomwaffen der völkerrechtlich anerkannten Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA. Mohamed El Baradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), kritisiert die einseitige Forderung der Nuklearstaaten, dass andere Länder keine Nuklearwaffen beschaffen sollen. Mit Blick auf die USA und deren Verhältnis zu Nordkorea sagte er: „In Wahrheit gibt es keine guten oder bösen Nuklearwaffen. Wenn wir nicht aufhören, doppelte Standards anzuwenden, werden wir mit noch mehr Nuklearwaffen rechnen müssen.“ 9 Wenn die Eskalation in diesem Rüstungssegment weiterhin verhindert und zumindest Stabilität erhalten werden soll, muss eine Deeskalation einsetzen. Die Doppelmoral der Atommächte gefährdet die positiven Ergebnisse der Vergangenheit. Um die Atomambitionen heimlicher und potenzieller Atomwaffenländer zu stoppen, muss eine realistische Perspektive der schon 1968 vereinbarten vollständigen Nuklearabrüstung aufgezeigt werden. Angesichts der nach wie vor großen Zahl von Nuklearsprengköpfen können die Atommächte hier deutlich »Flagge zeigen« und durch Abrüstungsmaßnahmen einen Deeskalationsprozess einleiten, der sich dann vertraglich abgesichert verstärken kann. Abrüstung kann also als Basis oder Voraussetzung für Deeskalation genutzt werden.

2. Abrüstung und Rüstungskontrolle als Folge von Deeskalation – der KSE-Vertrag: 1990, kurz vor der Auflösung des Warschauer Vertragsorganisation (WVO), unterzeichneten die NATO und die WVO den für Europa gültigen Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE), in dem die Vertragsstaaten einem umfassenden Stabilitätssystem aber auch der Ausmusterung von über 50.000 schweren Waffen und einer deutlichen Reduzierung der Zahl der Soldaten zustimmten. Der Vertrag ist die Grundlage für die heute militärisch entspannte Situation in Europa. Dem Vertragsabschluss waren komplizierte und kontroverse Verhandlungen vorausgegangen. Mehr noch: Über mehr als ein Jahrzehnt hatten sich die erfolglosen Verhandlungen über »Mutual Balanced Force Reductions« (MBFR)hinzogen. NATO und WVO nutzten die Verhandlungen, um der anderen Seite Rüstungseinschränkungen abzuringen und damit die eigene Position zu stärken. Vordergründig konnte man sich nicht über die Personal- und Waffenbestände verständigen; jede Seite legte Zahlenmaterial vor, das die andere Seite anzweifelte.

Es bedurfte des KSZE-Prozesses (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der sogenannten Helsinki-Vereinbarung von 1975, in der vage, aber politisch bedeutsame Absprachen über die Achtung der Menschenrechte, wirtschaftliche Kooperation und Sicherheit in Europa getroffen wurden. Dieser politische Vorlauf von zwei Jahrzehnten (1973 fanden Konsultationen zu MBFR statt, 1992 trat der KSE-Vertrag in Kraft) war offensichtlich notwendig, um Vereinbarungen über den Abbau militärischer Potenziale zu treffen. In diesem Falle waren Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folge der Deeskalation. Das gesamte Verhältnis zwischen Ost und West musste sich gründlich ändern, vertrauensbildende Maßnahmen mussten erfolgen, bevor beide Seiten bereit waren, Abstriche an der im Zentrum Europas massierten militärischen Macht vorzunehmen. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die Waffenarsenale offensichtlich überdimensioniert. Abrüstung war nicht nur vertraglichen Vereinbarungen zu verdanken sondern vor allem dem verbesserten politischen Klima. Tatsächlich sind in der Laufzeit des KSE-Vertrages erheblich mehr Waffen abgebaut worden (ähnlich wie bei START), als der Vertrag dies erforderte.

3. Deeskalation als Ergebnis von Abrüstung – Anti-Personenminenvertrag und Kleinwaffen: Als in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine ganze Reihe institutionalisierter Rüstungskontrollforen in die Krise kam (einige Verträge sind bis heute blockiert), war dennoch der Abschluss der Landminenvereinbarung möglich. Mit dem Ende des Kalten Krieges und parallel zur Etablierung der USA als einziger Supermacht setzte in vielen Ländern eine Neubewertung militärischer Risiken und damit auch der Bedeutung der Rüstungskontrolle ein. Interventionen in fernen Regionen wurden zahlreicher. Multilaterale Friedensmissionen auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen rückten als neue militärische Aufgabenstellungen in den Mittelpunkt. Das Kriegsgeschehen in vielen Regionen der Welt wurde stärker beachtet und es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, aus humanitären Gründen auf gewaltsam ausgetragene Konflikte deeskalierend einwirken zu müssen.10 Neben der daraus abgeleiteten notwendigen Umstrukturierung der Streitkräfte fanden die in diesen Konflikten vorrangig eingesetzten Waffen, wie Landminen und Kleinwaffen, erhöhtes Interesse der internationalen rüstungspolitischen und rüstungskontrollpolitischen Diskussion.

Die Art der Rüstungskontrolle, wie sie im Kalten Krieg etabliert worden war, erwies sich als nicht angemessen für diese neue Situation. Denn Stabilität war offensichtlich nicht das wesentliche Problem. Wichtiger waren die Verminderung der Zerstörungswirkung von Waffen, konkret der Schutz von Menschenleben, die Reduzierung der Waffenkosten und als neues Ziel kam die Deeskalation von Konflikten hinzu. Der Anti-Personenminenvertrag ist ein gutes Beispiel für die Umorientierung der Rüstungskontrolle. Wichtige Staaten, voran die USA, wollten Schützenminen alter Bauart verbieten, Minen mit modernen Selbstzerstörungsmechanismen aber zulassen. Dieser Ansatz entspricht der klassischen Rüstungskontrolle. Dem Problem, in diesem Fall der Gefährdung von Zivilisten, soll durch moderne Technik begegnet werden. Doch die meisten Vertragsstaaten stimmten der technischen Variante nicht zu. Weil eine Lösung im Forum der traditionellen Rüstungskontrolle (im Rahmen der Abrüstungskonferenz in Genf) nicht erreichbar war, verhandelte eine große Zahl sogenannter »gutwilliger« Staaten erfolgreich in einem neuen Rahmen, dem »Ottawa-Prozess«.

Der Vertrag von Ottawa11 ist weit davon entfernt, das Problem der Landminen gelöst zu haben. Dennoch zeitigte der Vertrag nicht nur Erfolge bei der tatsächlichen Räumung von Minen und der Zustimmung einer Mehrzahl der Länder, in Zukunft keine Anti-Personenminen herzustellen, zu verkaufen oder einzusetzen, sondern darüber hinaus gab es indirekte Folgen. Regierungen, die jahrelang im Rüstungskontrollforum die Verhandlungen blockiert hatten, sahen sich plötzlich mit einem Vertrag konfrontiert, dem sie zwar nicht angehörten, der aber dennoch öffentlichen moralischen Druck auslöst. Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) hatten genügend Druck erzeugt, um den Vertrag zu ermöglichen. Während die NRO sich vornahmen, dieses positive Ergebnis in anderen Bereichen zu wiederholen, bemühten sich viele Regierungen darum, dass ihnen das Rüstungskontrollforum nicht nochmals aus der Hand genommen wurde. Die derzeitigen Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen zur Kontrolle der Kleinwaffen (also Pistolen, Gewehre, Maschinengewehre usw.) sind auch ein Ergebnis des Landminenvertrages. Zunächst widerwillig, inzwischen aber doch ernsthafter, wurden Maßnahmen vereinbart und ein Aktionsprogramm in Angriff genommen, um der Anti-Personenminenplage Herr zu werden.12 Im Falle des Ottawa-Vertrages war es also möglich (in begrenztem Umfange) Abrüstungsmaßnahmen zu vereinbaren, um die Folgen dieser Waffen in den Konflikten einzuschränken. Zwar sind sich die Fachleute darüber einig, dass Minen und Kleinwaffen nicht die Ursache für gewaltsame Auseinandersetzungen sind, aber die leichte Verfügbarkeit der Waffen erhöht das Gewaltniveau. Die Deeskalation ist Ergebnis von Abrüstung und Abrüstung wiederum trägt zur Transformation der Konflikte bei.

Wie weiter?

Was sind die Unterschiede zwischen der »klassischen« Rüstungskontrolle und etwa den Verhandlungen im Rahmen des Ottawa-Prozesses? Zunächst ist hervorzuheben, dass der am Ende des Prozesses stehende Vertrag von Ottawa kein Rüstungskontroll – sondern ein Abrüstungsvertrag ist. Militärische Stabilität spielt keine Rolle, sondern die Verhinderung der Zerstörungswirkung von Waffen und die Schaffung von Voraussetzungen für politische Verständigung zur Entschärfung von Krisen und Beendigung von Kriegen. Allerdings fehlen wichtige Unterschriften von Staaten unter dem Ottawa-Vertrag. Länder wie die USA, Russland, Indien und China wollen aus militärischen Gründen nicht auf Anti-Personenminen verzichten.

Die mit einer Unterzeichnung des Vertrages von Ottawa verbundenen Kosten sind relativ gering und die positiven wirtschaftlichen Folgen der Minenräumung machen die Kosten mehr als wett. Es gibt keine aufwendige Verifikationsmaschinerie, nicht einmal eine Institution (wie im Falle der Chemiewaffen), die das Abkommen überwacht. Die Vertragsstaaten überwachen sich gegenseitig und durch regelmäßige Vertragskonferenzen. Wichtiger aber ist, dass die internationale Szene von NRO, die im Abkommen gar nicht erwähnt ist, die Überwachung übernommen hat und entsprechende Verstöße anprangert. Die Kombination »gutwilliger« Regierungen, vielfältiger national oder international operierender NRO und mobilisierter Öffentlichkeit ist der beste, und im Grunde einzige, Garant für die Einhaltung des Vertrages.

Der Vertrag von Ottawa hat seine Grenzen. Trotzdem war der neue Ansatz im Ottawa-Prozess weit erfolgreicher als die Verhandlungen im Rahmen der traditionellen Rüstungskontrollforen. Der Ottawa-Prozess ist bisher der einzige Fall »humanitärer« Rüstungskontrolle geblieben – der Schutz der Zivilbevölkerung vor diesen Waffen steht im Mittelpunkt. Ansätze hierfür gibt es auch bei den Kleinwaffen. Sie sind die eigentlichen Massenvernichtungswaffen; da die meisten Menschen in Kriegen durch Kleinwaffen und nicht durch konventionelle Großwaffen oder Atomwaffen sterben, ist deren Kontrolle besonders dringlich.

Abrüstung und Rüstungskontrolle können keine Garantie dafür geben, dass Krisen und Konflikte deeskalieren. Es gibt sowohl Situationen, in denen Abrüstung und Rüstungskontrolle die Voraussetzung für Deeskalation sein können als auch umgekehrt, politisch vereinbarte Deeskalation das Herunterfahren der Rüstungsarsenale möglich macht. Rüstungskontrolle und Abrüstung können an beiden Möglichkeiten auch für die Zukunft ansetzen.

Anmerkungen

1) Rüstungskontrolle zielt auf die Stabilität zwischen Gegnern ab und kann auch kontrollierte Aufrüstung bedeuten, während Abrüstung die Reduzierung militärischer Ressourcen (Waffen, Personal, Finanzen) bedeutet.

2) INF = Treaty on the Elimination of Intermediate-Range and Shorter-Range Missiles 1988; START = Treaty on the Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms (START I 1994, START II, unterzeichnet 1993, nicht in Kraft); CWC = Chemical Weapons Convention 1997).

3) Baudissin, Wolf von und Lutz, Dieter S.: Kooperative Rüstungssteuerung. Sicherheitspolitik und strategische Stabilität. Baden-Baden, Nomos, 1981.

4) Halperin, Morton and Thomas Schelling: Strategy and arms control. Washington, DC, Pergamon-Brassey’s, 1975.

5) Der Palme-Bericht: Common Security. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit, Berlin 1982.

6) Colin S. Gray: House of Cards. Why Arms Control Must Fail. Ithaca, N. Y., 1992.

7) Herman Kahn: On Escalation. Metaphors and Scenarios, London: Pall Mall Press 1965 (Hudson Institute Series on International Security and World Order).

8) Siehe den Beitrag von Corinna Hauswedell in dieser W&F Ausgabe, S. 7.

9) El Baradei, Mohamed: U.S. Should Set Nuclear Disarmament Example, Reuters 26. August 2003. Zitiert in Disarmament Diplomacy, Nr. 73, Oktober/November 2003, S. 43.

10) Siehe hierzu jüngst United Nations High-level Panel on Threats, Challenges and Change: A More Secure World. Our Shared Responsibility. New York 2004.

11) Zum Inhalt des Vertrages sowie den Mitgliedsländern siehe SIPRI: SIPRI Yearbook 2004, Oxford University Press, Oxford 2004, S. 803 – 804.

12) Graduate Institute of International Studies: Small Arms Survey 2002. Oxford, Oxford University Press.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conversion (BICC). Er ist Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) für Nordkorea und Vorsitzender des Vorstands von Wissenschaft und Frieden.