Rüstungskontrolle für Roboter

Rüstungskontrolle für Roboter

von Jürgen Altmann

In der modernen Kriegsführung bieten unbemannte Fahrzeuge – in der Praxis handelt es sich meist um unbemannte Flugzeuge – aus rein militärischer Sicht viele Vorteile. Werden aber die Folgen für Frieden, Kriegsvölkerrecht und die Sicherheit in Gesellschaften genauer beleuchtet, kommt man zum Schluss, dass der Menschheit durch Begrenzungen und Verbote besser gedient wäre.

Unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs, uninhabited/unmanned air vehicles, im Deutschen auch »Drohnen«) nutzen Streitkräfte schon lange, aber seit einigen Jahren steigt ihre Bedeutung massiv an. Für ihre Kriegsführung in Afghanistan, Irak und Pakistan haben die USA bewaffnete UAVs eingeführt, mit denen sie ferngesteuert angreifen. Ein Ziel der weiteren Forschung und Entwicklung ist erhöhte Autonomie, bis zur vollautomatischen Entscheidung, wer oder was angegriffen wird. Andere Länder folgen diesem Trend. Hohe Aufwendungen gehen auch in die Entwicklung unbemannter Fahrzeuge (UVs – uninhabited/unmanned vehicles), die sich auf dem Boden bzw. auf oder unter Wasser bewegen.1

Geschichte und Gegenwart: Aufklärung und Überwachung

Experimente mit unbemannten Flugzeugen gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber im Krieg wurden sie zum ersten Mal systematisch durch Nazi-Deutschland eingesetzt, mit der Flügelbombe V1, einem Vorläufer des modernen Marschflugkörpers.2 Später wurden Luftabwehr-Zielflugkörper für Aufklärungszwecke umgerüstet und weiterentwickelt und durch die USA im Vietnamkrieg erstmalig routinemäßig eingesetzt. Seit den 1970er Jahren haben viele Streitkräfte UAVs für solche Zwecke eingeführt. Zunächst hatte Israel die Führung, wurde aber bald von den USA überholt. Heute stellen mehr als 50 Länder UAVs her, 20 exportieren sie.3

Es gibt verschiedenartige UAV-Typen: Kleine »Modellflugzeuge« werden von Hand gestartet und kommen einige Kilometer weit (z.B. die deutsche ALADIN). UAVs mittlerer Größe können von einem LKW-Katapult aus gestartet werden und haben Reichweiten bis zu einigen hundert Kilometer (z.B. der französische Sperwer). Größere Flugzeuge starten und landen auf Flugplätzen; sie können viele Stunden fliegen. Beim größten Typ, dem Global Hawk (USA, 40 m Spannweite), sind es 36 Stunden; er fliegt mit bis zu 640 km/h in bis zu 20 km Höhe. Neben solchen propeller- oder düsengetriebenen Flächenflugzeugen gibt es auch Hubschrauber verschiedener Größen. Diese Arten von UAVs tragen Sensoren (Videokameras für sichtbares oder Infrarot-Licht, Radar) und übermitteln ihre Bilder und Signale über Funk. Für größere Entfernungen (z.B. zwischen dem Mittleren Osten und Europa bzw. den USA) dienen Satelliten als Übertragungsknoten.

Da Navigation auf Land, insbesondere im Gelände, erheblich schwieriger ist als in der Luft, sind unbemannte Landfahrzeuge in der Entwicklung deutlich weniger weit als Luftfahrzeuge, mit der Ausnahme kleiner Roboterfahrzeuge zum Entschärfen von Sprengkörpern, die aus kurzer Entfernung ferngesteuert werden – hiervon haben die USA viele tausend im Einsatz. Für unbemannte Landfahrzeuge von klein bis groß wird intensive Forschung und Entwicklung betrieben, nicht nur in den USA. Auf See gibt es erste ferngesteuerte bewaffnete Motorboote, und unter Wasser geht es u.a. um autonome(re) Torpedos.4

Trend zur Bewaffnung unbemannter Fahrzeuge

Seit fast zehn Jahren gibt es einen Trend, Aufklärung mit Angriff zu kombinieren, indem UAVs mit Waffen ausgerüstet werden, wobei die USA führen (unbemannte Land- und Wasserfahrzeuge zu bewaffnen, ist ebenfalls vorgesehen).5 2000 setzte der US-Kongress das Ziel, 2010 solle ein Drittel der weitreichenden Kampfflugzeuge in der operativen US-Luftwaffe unbemannt sein und 2015 ein Drittel der Bodenkampffahrzeuge der US-Armee.6

Im Rahmen ihres »Kriegs gegen den Terror« rüsteten die USA einige ihrer Aufklärungs-UAVs des Typs Predator nachträglich mit zwei Hellfire-Flugkörpern aus (laser- oder radargesteuert, zum Einsatz gegen Bodenziele). Diese sind seit 2001 in Afghanistan im Einsatz; breiter bekannt wurde ein Angriff gegen ein Auto 2002 im Jemen, bei dem sechs mutmaßliche Al Kaida-Mitglieder getötet wurden. Seitdem sind Flugkörperangriffe von ferngesteuerten UAVs Routine geworden. Ein größeres UAV wurde gebaut und ab 2007 stationiert – der MQ-9 Reaper, mit 1.700 kg Zuladung (z.B. vier lasergesteuerte 230-kg-Bomben und vier Hellfire-Flugkörper). Anfang 2009 waren 195 bewaffnete MQ-1 Predator und 28 MQ-9 Reaper für Angriffe in Afghanistan, Irak und Pakistan stationiert.

Start und Landung werden von Basen in der Region gesteuert, aber dann wird die Flugüberwachung und Waffenauslösung von britischen und US-Piloten übernommen, die u.a. in der Creech Air Force Base in Nevada, USA, »arbeiten«. Sie gründen ihre Zielentscheidungen auf Videobilder der Kameras in den UAVs, die für eine Personenidentifikation zu ungenau sind; auch die Entscheidung, ob jemand eine Waffe trägt, ist nicht immer verlässig.7 In vielen Fällen wurden die falschen Personen angegriffen, Zivilisten wurden getötet, in einigen Fällen waren die Zielpersonen (Taliban- und Al Kaida-Führer) gar nicht anwesend. So wurden allein in Pakistan seit 2004 mehr als 1.000 Kämpfer und einige hundert Nicht-Kämpfer mittels UAVs getötet.8 Insbesondere die Angriffe in Pakistan werden nicht durch die Streitkräfte, sondern durch den Geheimdienst CIA durchgeführt, und der UN-Berichterstatter für außergerichtliche Tötungen hat Aufklärung gefordert.9

Kampfdrohnen werden kein Monopol der USA oder einiger westlicher Länder bleiben. Der Iran beispielsweise kündigte 2010 die Massenproduktion von zwei Typen langreichweitiger »unbemannter Bomber« an.10 Für die Zukunft werden UAVs für alle Formen von Kampf und Kampfunterstützung, die bisher mit bemannten Flugzeugen durchgeführt werden, in den Blick genommen. So sieht die »Unmanned Systems Roadmap« des US-Verteidigungsministeriums UAVs zur Luftbetankung für 2024 und für den Luftkampf für 2032 voraus.11 Prototypen solcher unbemannter Kampfflugzeuge (uninhabited combat air vehicles, UCAVs) werden entwickelt und gebaut in den USA (UCAS-D/X-47B), Frankreich (nEuron, mit Schweden, Griechenland, Schweiz, Spanien, Italien), Deutschland (Barracuda, mit Spanien), Großbritannien (Taranis) und Russland (Skat).

Trend zu autonomem Angriff

Schon jetzt werden viele UAVs mit Bord-Navigations- und Flugsteuerungssystemen gesteuert, mittels Wegpunkten, die im Vorhinein oder in Echtzeit durch eine Bodenkontrollstation angegeben werden. Dem menschlichen Bediener wird so die Aufgabe erspart, die Flughöhe und den Kurs zu halten. Er oder sie kann sich auf die Aufklärung und ggf. den Angriff konzentrieren. Einige militärische Motive sprechen dafür, UAVs, insbesondere bewaffneten, mehr Autonomie zu geben: Die Kommunikationsverbindung kann defekt sein oder gestört werden. Man könnte Geld sparen, wenn ein Soldat nicht ein, sondern mehrere UAVs kontrolliert. Die Zeitverzögerung durch die Satellitenverbindung plus der menschlichen Reaktionszeit kann für den Kampf zu lang erscheinen – für das Überleben der eigenen Systeme kann man die örtliche Reaktion in Sekundenbruchteilen für nötig halten. Aus diesen Gründen wird für autonome Zielauswahl und autonomen Angriff geforscht und entwickelt.

Das US-Verteidigungsministerium schreibt: „Die Bewaffnung unbemannter Systeme ist eine hoch kontroverse Frage, die ein geduldiges »Kriechen-Gehen-Laufen«-Herangehen erfordern wird in dem Maß, wie sich die Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit jeder Anwendung erweist. […] Anfängliche Anwendungen der Bewaffnung eines unbemannten Systems können einen »Menschen in der Schleife« erfordern. […] In dem Maß, wie das Vertrauen in die Systemverlässlichkeit, Funktion und Zielalgorithmen wächst, kann man mehr autonome Operationen mit Waffen in Erwägung ziehen.“ 12

Töten auf Beschluss einer Maschine?

Es ist offensichtlich: Die Möglichkeit, dass ein Computer die Entscheidung trifft, einen Menschen zu töten, wirft ein tiefes moralisches Problem auf.13 Forschung zu den ethischen und rechtlichen Fragen, die sich durch den Einsatz bewaffneter autonomer Systeme stellen, wurde von der US-Marine und der US-Armee in Auftrag gegeben.14 Besonders wichtig ist die Frage, ob autonome Waffensysteme die Anforderungen des Kriegsvölkerrechts erfüllen können. Darin sind die zentralen Prinzipien die Diskriminierung (zwischen legitimen und illegitimen Angriffszielen) und die Proportionalität (zwischen dem errungenen militärischen Vorteil und dem angerichteten Schaden).

Um seine Arbeit an Algorithmen für ethisches Töten zu rechtfertigen, verweist ein Robotikforscher auf jüngere Umfragen durch den obersten Militärarzt der USA und auf allgemeine Literatur, die zeigen, dass menschliche Soldaten die Regeln des Kriegsvölkerrechts oft brechen.15 Sein Ziel ist es, Roboterprogramme zu erstellen, die sich gesetzeskonformer verhalten. Mit wissenschaftlicher Strenge schlägt er einen »ethischen Regler« für die Bewertung einer beabsichtigten tödlichen Handlung vor. Wenn der ein Veto abgäbe, würde kein Angriff stattfinden (mit der einzigen Ausnahme, wenn sich ein menschlicher Bediener darüber hinweg setzte, der dann die Verantwortung übernähme). Allerdings kann man bezweifeln, ob ein Künstliche-Intelligenz-System eine komplexe Kriegssituation auf der Höhe menschlicher Intelligenz beurteilen kann, wenigstens für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte. Ein britischer Robotikforscher hat solche Pläne lautstark kritisiert. Er fragt die Künstliche-Intelligenz-Gemeinschaft, „ob wir bereit sind, Entscheidungen über Leben oder Tod Robotern zu überlassen, die zu schwer von Begriff sind, um dumm genannt zu werden“.16 Er verweist auf die geringen Fähigkeiten heutiger künstlicher Intelligenz und stellt sich beispielhafte Situationen vor: „Ich kann mir eine städtische Umgebung vorstellen, in der ein kleines Mädchen einem Roboter ein Eis entgegen hält, nur um abgeknallt zu werden, weil es versucht hat, seine Süßigkeit mit ihm zu teilen.“

Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle

Neben Fragen des Kriegsvölkerrechts werfen bewaffnete U(A)Vs Probleme in Bezug auf einige andere Kriterien der präventiven Rüstungskontrolle auf.17 Rüstungskontrollverträge könnten gefährdet werden, wenn UAVs als neue Kernwaffenträger fungieren oder die Kategorien des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) umgehen würden.

Destabilisierung der militärischen Lage kann sich durch UAVs in mehrerlei Hinsicht ergeben: Da sie schwer zu entdecken sind, können sie für tiefes Eindringen und präzisen Überraschungsangriff genutzt werden. Weil sie keine Mannschaft an Bord haben, könnte man sie für riskantere Einsätze verwenden. Wenn sich in einer Krise zwei UAV-Flotten bei kurzem Abstand gegenseitig intensiv beobachten würden, könnten plötzliche unklare Ereignisse und ungesteuerte Rückkopplungsschleifen zur schnellen Eskalation in den Krieg führen. Schwärme von hoch genauen, kleinen UAVs könnten sogar in der Lage sein, nuklearstrategische Ziele auszuschalten; solch ein Szenario könnte zu sehr gefährlichem Verhalten führen. Dass bewaffnete UAVs technologisches Wettrüsten und Weiterverbreitung bringen werden, ist offensichtlich. Kleine, technisch ausgefeilte UAVs – die nur von Staaten entwickelt werden könnten, die aber in die Hände nicht-staatlicher Akteure gelangen könnten – würden neue Möglichkeiten für terroristische Anschläge bieten.

Daher würden bewaffnete UAVs in verschiedener Hinsicht Gefahren bringen. Um diese einzudämmen, sollten vorbeugende Begrenzungen diskutiert und eingeführt werden. Das hat sich das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC) zum Ziel gesetzt, das wir (zwei Philosophen aus Australien und USA, ein Robotikforscher aus Großbritannien und der Autor) im September 2009 gegründet haben und das 2010 um sechs internationale Wissenschaftler/innen erweitert wurde.18

Konzepte für präventive Rüstungskontrolle

Die Diskussion über vorbeugende Begrenzungen bei bewaffneten UAVs hat in der Wissenschaft erst begonnen19 und Regierungen noch kaum erreicht.

Es ist klar, dass bewaffnete, unbemannte Land- und Luftfahrzeuge unter die Definitionen des KSE-Vertrags fallen – diese wurden 1989/1990 bewusst so angelegt, dass sie unabhängig davon sind, ob eine Besatzung an Bord ist. Jedoch gibt es keine Begrenzungen konventioneller Streitkräfte außerhalb Europas (und die Vertragsstaaten USA und Großbritannien haben ihre Predator- und Reaper-UAVs nicht gemeldet, weil sie nicht im Vertragsgebiet – Europa vom Atlantik bis zum Ural – stationiert sind). Der Vertrag – gegenwärtig suspendiert – sollte dringend reaktiviert werden. Insbesondere sollte das Protokoll über vorhandene Typen konventioneller Waffen und Ausrüstungen aktualisiert werden.20 Solange keine neuen Kategorien leichterer Kampfflugzeuge mit zusätzlichen Obergrenzen eingeführt werden, zählen auch kleine bewaffnete UAVs als ein Kampfflugzeug, so dass die bisherigen nationalen Obergrenzen für eine wirksame quantitative Begrenzung in Europa sorgen würden. Bei Landfahrzeugen würden unbemannte Fahrzeuge als »Kampfpanzer « bzw. »Kampffahrzeuge mit schwerer Bewaffnung« zählen, wenn sie die entsprechenden Kriterien erfüllen (u.a. Kanone von mindestens 75 mm Kaliber und Leermasse mindestens 16,5 bzw. 6,0 Tonnen). Leichtere bewaffnete unbemannte Fahrzeuge sind nicht erfasst (wenn sie nicht zum Transport einer Infanteriegruppe gebaut sind) und könnten daher unbegrenzt eingeführt werden.

Der Mittelstreckenwaffen- (INF-) Vertrag zwischen den USA und Russland verbietet diesen Ländern landgestützte Langstrecken-Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5.500 km, andere Länder sind nicht einbezogen. Um Unterlaufen und weltweiten Aufwuchs zu vermeiden, sollte der Vertrag auf alle relevanten Länder erweitert werden,21 und andere nuklear bewaffnete U(A)Vs sollten ganz verboten werden.

Der Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen (HCOC – Hague Code of Conduct against Ballistic Missile Proliferation) verpflichtet die Mitgliedsländer politisch zu Exportkontrolle und vertrauensbildenden Maßnahmen, gilt aber nur für Raketen. Marschflugkörper und andere UAVs werden bisher nicht erfasst.22

In Bezug auf autonom angreifende Waffensysteme gilt eigentlich, dass sie nicht eingeführt werden dürfen, solange nicht demonstriert ist, dass sie die Regeln des Kriegsvölkerrechts einhalten können. Außer in eng begrenzten Szenarien mit wenigen, leicht unterscheidbaren Zielen wie z.B. bei Luftabwehr wird das auf lange Zeit nicht gelingen. Jedoch kann man sich auf die allgemeine Regel nicht verlassen – die militärischen Motive für autonomes Schießen werden dafür wahrscheinlich zu stark. Folglich sollte ein explizites Verbot beschlossen werden.

Das ICRAC hat im September 2010 den ersten internationalen Experten-Workshop »Rüstungskontrolle für Roboter« durchgeführt. In der Abschlusserklärung heißt es:23

„Wir glauben:

Dass die Langzeitrisiken durch Proliferation und weitere Entwicklung dieser Waffensysteme schwerer wiegen als kurzfristige Nutzeffekte gleich welcher Art, die sie zu haben scheinen.

Dass es nicht akzeptabel ist, dass Maschinen die Anwendung von Zwang oder Gewalt in Konflikten oder Kriegen steuern, bestimmen oder darüber entscheiden. In jeder Situation, in der eine solche Entscheidung zu treffen ist, muss zumindest ein Mensch für diese Entscheidung und deren vorhersehbare Folgen persönlich verantwortlich und juristisch rechenschaftspflichtig sein.

Dass das sich derzeit beschleunigende Tempo der Kriegsführung durch diese Systeme weiter gesteigert wird und die Fähigkeit von Menschen, in Militäroperationen verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen, unterminiert.

Dass die Asymmetrie der Kräfte, die diese Systeme möglich machen, sowohl Staaten als auch nicht-staatliche Akteure ermutigt, Formen der Kriegsführung zu verwenden, die die Sicherheit der Bürger der Besitzerstaaten verringern.

Dass die Tatsache, dass ein Fahrzeug unbemannt ist, nicht das Recht verleiht, die Souveränität von Staaten zu verletzen.“

Die Erklärung verlangt ein Rüstungskontrollregime mit mehreren Bestandteilen. Verboten werden sollen:

„Die weitere Entwicklung, Beschaffung, Stationierung und Nutzung autonomer Roboterwaffen.

Die Bestückung neuer Arten von autonomen oder ferngesteuerten Systemen mit Nuklearwaffen.

Die Entwicklung, Stationierung und Nutzung von Roboter-Weltraumwaffen.“

Eingeschränkt werden sollen:

„Die Reichweite und Nutzlast von bewaffneten ferngesteuerten unbemannten Fahrzeugen.

Die Anzahl – aufgeschlüsselt nach Art und Leistungsfähigkeit – bewaffneter ferngesteuerter unbemannter Systeme, die von einem Staat stationiert werden dürfen.

Die Höchstflug- bzw. -fahrtdauer dieser Systeme.

Die Entwicklung, Beschaffung und Stationierung bewaffneter unbemannter Systeme unterhalb einer Mindestgröße.“

Diese Regeln sollten weltweit gelten. Das erste Verbot sollte als neue globale Konvention beschlossen werden, wobei genaue Definitionen und auch bestimmte Ausnahmen festzulegen sind.24 Das zweite sollte in Verhandlungen zur Reduzierung und schließlichen Abschaffung der Kernwaffen eingehen. Das dritte sollte mit dem lange angestrebten allgemeinen Verbot von Weltraumwaffen realisiert werden.

Details für die verschiedenen vorgeschlagenen Beschränkungen festzulegen, wird intensive Überlegungen und Verhandlungen brauchen. Dabei können die Ziele des KSE-Vertrags25 als Richtschnur gelten, und seine Methodik26 kann als allgemeines Vorbild dienen. Grundsätzlich sind globale Regeln anzustreben, da das aber in den bekannten Krisenregionen (wie Naher/Mittlerer Osten, Südasien, Ostasien) schwierig werden wird, ist es sinnvoll, in anderen Regionen anzufangen. Insbesondere Europa könnte hier eine Vorbildrolle spielen.

Fazit

Die Bewaffnung von UAVs hat gerade erst begonnen, und die von unbemannten Land- und Wasserfahrzeugen steht noch weitgehend bevor. Daher gibt es die prinzipielle Möglichkeit, die nächste große Welle militärtechnischer Innovation zu stoppen, bevor sie sich in großem Umfang entfaltet und praktisch unumstößlich wird. Die Länder sollten ihre Sicherheit aus aufgeklärter Sicht betrachten, das heißt im weiten, internationalen Rahmen. Stabilität, Frieden und internationaler Sicherheit wäre durch kooperativ ausgehandelte Begrenzungen besser gedient als durch einen unbeschränkten Aufwuchs aller Arten bewaffneter unbemannter Fahrzeuge. Forscher/innen in Robotik und künstlicher Intelligenz sollten sich der Gefahren von Roboter-Waffen bewusst sein und vorbeugende Begrenzungen unterstützen.

Anmerkungen

1) Für Übersichten siehe A. Krishnan (2009):, Killer Robots – Legality and Ethicality of Autonomous Weapons. Farnham Surrey / Burlington VT: Ashgate. P. Singer (2009): Wired For War – The Robotics Revolution and Conflict in the 21st Century. New York: Penguin. P. Singer: Der ferngesteuerte Krieg, Spektrum der Wissenschaft, Nr. 10, Dez. 2010, S.70-79. Siehe auch L. Wirbel, Kriegsführung mit Drohnen, W&F 3-2010.

2) L.R. Newcome (2004): Unmanned Aviation – A Brief History of Unmanned Aerial Vehicles. Reston VA: AIAA.

3) Jane’s Unmanned Vehicles and Aerial Targets (2007). Coulsdon: Jane’s.

4) Auch an bewaffneten unbemannten Flugkörpern für den Weltraum wird gearbeitet, jedoch stellt dieses Medium besondere Bedingungen, und es gibt noch eine gewisse Zurückhaltung bei den Weltraummächten. Solche Systeme sollten durch das von der großen Mehrheit der Staaten geforderte allgemeine Verbot von Weltraumwaffen erfasst werden.

5) US Department of Defense (2009): FY2009-2034 Unmanned Systems Integrated Roadmap. Washington DC.

6) Diese Ziele werden nicht erreicht werden, insbesondere für Landfahrzeuge. Das große Programm »Future Combat Systems« der US-Armee, das eine Reihe unbemannter Land- und Luftfahrzeuge umfasste, wurde 2009 eingestellt. Jedoch sind die Ausgaben für Beschaffung und Einsatz unbemannter Systeme unter der Obama-Administration deutlich angestiegen.

7) Allerdings kann ein Ziel über längere Zeit beobachtet werden als mit einem Flugzeug mit Pilot.

8) http://counterterrorism.newamerica.net/ drones.

9) J. Mayer: The Predator War – What are the risks of the C.I.A.’s covert drone program?. The New Yorker, October 26, 2009. Auszüge aus dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters Alston sind in dieser Ausgabe von W&F abgedruckt; der vollständige Bericht in deutscher Übersetzung steht unter www.un.org/depts/german/menschenrechte/a-hrc14-24add6-deu.pdf.

10) Iran Starts Mass Production of Advanced Unmanned Bombers, Tehran: Fars News Agency, 8 Febr. 2010; http://english.farsnews.com/newstext.php?nn=8811191064.

11) US Department of Defense (2009), op.cit. S. 18.

12) US Department of Defense (2007): Unmanned Systems Roadmap 2007-2032, Washington DC. S.54.

13) In einem gewissen Sinn machen Minen schon etwas Ähnliches. Dass sie nicht unterscheiden können und auch nach einem bewaffneten Konflikt weiter funktionieren, hat zu ihrem Verbot geführt. Bewaffnete autonome U(A)Vs wären anders: Sie wären beweglich, und sie würden eine Situation bewerten und dann nach einem Algorithmus entscheiden, ob eine Person getötet bzw. ein Objekt zerstört werden soll. Vorläufer (automatische Flug-/Raketenabwehrsysteme, umher fliegende Anti-Radar-Flugkörper) sind auf eine spezifische Zielklasse mit klaren Eigenschaften beschränkt, aber sogar hier sind Fehler vorgekommen, wie der Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs vom US-Schiff Vincennes 1988.

14) P. Lin, G. Bekey, K. Abney: Autonomous Military Robotics: Issues of Risk and Ethics. In R. Capurro, M. Nagenborg (eds.) (2009), Ethics and Robotics. Heidelberg: AKA/IOS. R.C. Arkin (2009): Governing Lethal Behavior in Autonomous Robots. Boca Raton FL: Chapman&Hall/CRC.

15) Arkin (2009), op.cit.

16) N. Sharkey (2007), Automated Killers and the Computing Profession. Computer, 40 (11), S.124ff.

17) J. Altmann, Preventive Arms Control for Uninhabited Military Vehicles. In: Capurro et al. (2009), op.cit.

18) www.icrac.co.cc.

19) Altmann , op.cit. R. Sparrow (2009): Predators or Plowshares? Arms Control of Robotic Weapons. IEEE Technology and Society, 28 (1), S.25-29.; Krishnan (2009), op.cit.

20) Vertragstexte z.B. unter www.armscontrol.de, Dokumente.

21) Das würde auch die ballistischen Raketen mit 500-5.500 km Reichweite erfassen, was einen großen Teil der (zukünftig befürchteten) Raketenbedrohung mit aus der Welt schaffen würde. Weitere Reduzierungen der Langstreckenraketen bei den offiziellen Kernwaffenstaaten wären dafür hilfreich, wenn nicht sogar notwendig.

22) www.bmeia.gv.at/aussenministerium/aussen politik/abruestung/massenvernichtungswaffen/hcoc.html; auf die Regeln des HCOC haben sich gegenwärtig 130 Länder verpflichtet. Das mit 34 Staaten erheblich kleinere Missile Technology Control Regime schreibt Exportbeschränkungen für Marschflugkörper und bestimmte andere UAVs vor; www.mtcr.info.

23) Erklärung des Expertenworkshops 2010 über die Begrenzung bewaffneter ferngesteuerter und autonomer Systeme, Berlin, 22.September; http://e3.physik.tu-dortmund.de/P&D/Workshop-Erklaerung_22_September_ 2010_deutsch.pdf.

24) „Es ist klar, … dass gewisse Ausnahmen gemacht werden können, wo die Automatisierung von Waffen und Sicherheitssystemen seit langem eingeführt ist oder wo zwingende Gründe für die Notwendigkeit der Automatisierung vorliegen, damit menschliches Leben vor unmittelbaren Bedrohungen geschützt wird.“ (Aus der Workshop-Erklärung, op.cit)

25) „… in Europa ein sicheres und stabiles Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau als bisher zu schaffen, Ungleichgewichte, die für Stabilität und Sicherheit nachteilig sind, zu beseitigen und – besonders vorrangig – die Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung groß angelegter Offensivhandlungen in Europa zu beseitigen;“ (aus der Präambel des KSE-Vertrags vom 19.11.1999).

26) Definitionen von Kategorien der begrenzten Waffen und Ausrüstungen, Listen vorhandener Typen, regelmäßiger Informationsaustausch, Inspektionen usw.

Jürgen Altmann (Experimentelle Physik III, Technische Universität Dortmund) hat das Forschungsprojekt »Unbemannte bewaffnete Systeme – Trends, Gefahren und Präventive Rüstungskontrolle« bearbeitet, gefördert durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF).

Internationaler Appell

Internationaler Appell

»Setzt den angepassten KSE-Vertrag in Kraft«

von Redaktion

Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) ist ein Eckpfeiler der europäischen Sicherheit und das Kernelement des kooperativen Sicherheitsansatzes, wie er in der Charta von Paris im November 1990 beschlossen wurde. Doch jetzt ist das ganze Regime aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den NATO-Staaten und Russland in ernster Gefahr. Die Vertragsstaaten bemühen sich gegenwärtig einen Kompromiss zu finden, der dieses entscheidende Dokument retten kann.

Vor diesem Hintergrund initiieren wir den internationalen Appell »Setzt den angepassten KSE-Vertrag in Kraft«, der von 33 ehemaligen Diplomaten und Wissenschaftlern aus zehn Ländern unterstützt wird, die KSE-Vertragsstaaten sind. Die Liste der Unterzeichner kann auf der Internet-Seite der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (http://www.hsfk.de/) oder des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (http://www.ifsh.de/IFSH/aktuelles/cfe_appeal.htm) eingesehen werden. Um den internationalen Charakter des Appells zu unterstreichen, wird er in Englisch, Russisch und Deutsch verbreitet. Der Appell wird am 28. November 2007 auf den Websites der folgenden Organisationen veröffentlicht: Arms Control Association (ACA), Washington, D.C., USA; Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/Main, Deutschland; Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Deutschland.

Bitte senden Sie eine Email mit ihren gegenwärtigen und früheren Funktionen (zur Veröffentlichung) an cfe-appeal@ifsh.de, um den Appell zu unterzeichnen. Der Appell ist öffentlich, wir ermutigen ausdrücklich seine weitere Verbreitung.

Hoffnung auf verbesserte Verifikation

Hoffnung auf verbesserte Verifikation

Spaltmaterialproduktion und Teststopp

von Ole Roß, Heiner Daerr, Martin B. Kalinowski, Markus Kohler und Enno Peters

Die Wirksamkeit internationaler Verträge zur Kontrolle von Nuklearwaffen, deren Technologie oder nuklearwaffenfähigem Material steht und fällt mit der Wirksamkeit der Verifikation. Angeblich unzureichende Verifikationsmethoden waren immer wieder ein Argument der Gegner des Umfassenden Teststoppvertrages und anderer Verträge. Aktuell halten Vertreter der USA die Verifikation eines Abkommens für ein Verbot der Produktion von waffenfähigem spaltbarem Material für unmöglich und lehnen es daher ab. Die Verbesserung bestehender und die Entwicklung neuer naturwissenschaftlicher Methoden zur Überprüfung von nuklearen Rüstungskontrollverträgen ist eine zentrale Aufgabe, denn verlässliche technische Überwachungsmittel fördern das Vertrauen unter den Vertragspartnern und damit die Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung.

Im Folgenden werden die Überwachung des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Umfassenden Teststoppvertrages vorgestellt. Anschließend wird auf Erfordernisse und mögliche Neuentwicklungen eingegangen, insbesondere im Hinblick auf die Verifikation eines künftigen Produktionsverbots für Spaltmaterial zum Waffenbau.

Verifikation des Nichtverbreitungsvertrages

Zur Verifikation des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages verfügt die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) über eine Reihe von etablierten Methoden zur Kontrolle von Produktion und Beständen von kernwaffenrelevanten Spaltmaterialien. Die ursprünglich eingeführten klassischen Sicherungsmaßnahmen, fixiert in länderspezifischen Safeguards Agreements, haben sich allerdings in der Vergangenheit als nicht ausreichend erwiesen. Wenn beispielsweise die Anreicherung von Uran nicht aufgedeckt werden kann, weil die nötigen technischen Verfahren oder auch nur die rechtlichen Grundlagen zur Nutzung vorhandener Verfahren fehlen, besteht die Möglichkeit zu verborgener Aktivität, wie im Falle des Iran, dessen nicht-deklariertes Nuklearprogramm erst im Jahre 2002 von einer Oppositionsgruppe enthüllt wurde.

Nachdem infolge des Irakkriegs von 1991 das geheime irakische Nuklearprogramm bekannt geworden war, arbeitete die IAEO 1997 einen Modellentwurf für ein Zusatzprotokoll zum Sicherungsabkommen aus, zu dem sich die Unterzeichnerstaaten des NVV freiwillig verpflichten können. Das Protokoll sieht erweiterte Sicherungsmaßnahmen – z.B. Zugangsmöglichkeiten zu Nuklearanlagen für IAEO-Inspektoren innerhalb von 24 Stunden – und umfassendere Deklarationspflichten vor. Der Modellentwurf bietet die Basis für jeweils spezifische Vereinbarungen zwischen den einzelnen Ländern und der IAEO. Bis November 2007 traten in 84 der 160 Staaten, die bereits ein umfassendes Sicherungsabkommen mit der IAEO hatten, Zusatzprotokolle in Kraft. Alle offiziellen Nuklearwaffen-Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland) haben ein – allerdings stark abgeschwächtes und daher eher symbolisches – Zusatzprotokoll unterzeichnet, in Kraft getreten ist es bisher aber nur in Frankreich, China und Großbritannien.

Durch die strengere Informationspflicht über bestehende und geplante Anlagen und nukleares Material sowie zusätzliche Kontrollmaßnahmen soll die IAEO nicht nur in die Lage versetzt werden, die Angaben über nukleare Aktivitäten und Materialien eines Staates zu überprüfen, sondern auch undeklarierte Aktivitäten und Anlagen zu entdecken. Letzteres war in den bisherigen Sicherungsabkommen nicht vorgesehen. Sie beruhten vielmehr auf der Annahme, dass die Staaten wahre und vollständige Angaben über ihren Nuklearsektor machen.

Eine Neuerung ist die Möglichkeit, zum Aufspüren geheimer Nuklearprogramme innerhalb und außerhalb deklarierter Anlagen Umweltproben zu entnehmen. Derzeit sind in zu inspizierenden Anlagen so genannte »swipe samples« (Wischproben) erlaubt, um relevante Isotope (z.B. nicht natürlich vorkommende Transurane) aufzuspüren, die bei der Produktion von waffenfähigen Materialien anfallen. Die Wischproben ermöglichen Probennahme an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Anlass. Grundsätzlich gibt es auch die Möglichkeit weiträumiger Probennahmen an mehreren Orten über einen längeren, aber begrenzten Zeitraum. Letzteres wurde allerdings vom Board of Governors, dem obersten Entscheidungsgremium der IAEO, bislang nicht bewilligt.

Der Umfassende Teststoppvertrag

Ein Beispiel für den erfolgreichen Aufbau eines technischen Verifikationssystems liefert der umfassende Teststoppvertrag (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, CTBT), der die Durchführung jeglicher Nuklearexplosion, also auch der unterirdischen, untersagt. Als dieser Vertrag 1996 bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur Unterzeichnung ausgelegt werden konnte, ging ein zäher mehrjähriger Verhandlungsmarathon zu Ende. Einer der wesentlichen Streitpunkte war die Frage nach einem wirkungsvollen Verifikationssystem. NaturwissenschaftlerInnen trugen mit ihren Forschungsergebnissen erheblich dazu bei, dass ein solches durchgesetzt werden konnte.

Bis November 2007 haben den Vertrag 177 Staaten gezeichnet und 140 Staaten ratifiziert. Verbindlich wirksam ist er dennoch nicht. Dafür bedarf es der Ratifizierung durch alle 44 im Annex 2 genannten Staaten, deren Teilnahme notwendige Bedingung für das Inkrafttreten ist. Von diesen fehlen noch Ägypten, China, Indien, Indonesien, Iran, Israel, Kolumbien, Nordkorea, Pakistan und die USA. Den Grundpfeiler des Verifikationssystems bildet das technische Überwachungsnetz (International Monitoring System, IMS) aus insgesamt 321 Messstationen, das bereits zu zwei Dritteln fertig gestellt ist und Daten u.a. an die Vorbereitungskommission der Vertragsorganisation (CTBTO) in Wien liefert. Hierbei werden vier komplementäre Methoden verwendet: Mittels Seismologie (Erdbeben- und Erschütterungswellen), Hydroakustik (Wasserschallwellen), Infraschallmessungen (Wellen sehr tiefer Frequenz) und Radionuklidmessungen (Produkte der Kernspaltung) sollen unerlaubte Kernexplosionen entdeckt und nachgewiesen werden.

Die Daten der wellenbasierten Techniken laufen in nahezu Echtzeit im internationalen Datenzentrum des vorläufigen technischen Sekretariats der CTBTO zusammen und können in einer Netzwerkanalyse zur Bestimmung von Zeit und Ort des Ereignisses, von dem die Signale ausgingen, genutzt werden. Bei den Radionukliden (radioaktive Partikel und gasförmige Spaltprodukte) besteht die Herausforderung darin, mit Hilfe von meteorologischen Modellen deren Ausbreitung in der Atmosphäre zu simulieren und Radioisotopen, die an den Messstellen entdeckt werden, mögliche Quellregionen zuzuordnen. Je länger aber die angenommene Transportzeit von der Quellregion zur Messstation, desto ungenauer wird die Zuordnung. Auch hier gelingt durch die Kombination mehrerer Messungen, möglichst an verschiedenen Standorten, eine Eingrenzung der wahrscheinlichen Quellregion und Emissionszeit. Am Ende der Auswertungskette steht dann die Zusammenführung der Daten zur möglichst umfangreichen Charakterisierung eines Ereignisses. Das Urteil darüber, ob es sich um einen Kernwaffentest gehandelt haben könnte, obliegt aber den Mitgliedsstaaten, die von der CTBTO mit einer neutralen technischen Analyse versorgt werden.

Indizien oder eindeutiger Beweis?

Ein wichtiger Indikator eines Kernwaffentests sind radioaktive Xenon-Isotope. Diese werden allerdings nicht nur bei Nuklearexplosionen, sondern auch im Normalbetrieb von Kernkraftwerken sowie bei der Produktion von (beispielsweise medizinischen) Isotopen freigesetzt. Bei der Überwachung des Teststoppvertrags besteht die Herausforderung also darin, die Xenon-Emission richtig zuordnen zu können. Mit großräumigen Radioxenonmessungen gibt es bisher kaum Erfahrungen. Dementsprechend lückenhaft ist die Kenntnis des globalen Radioxenongehalts der Atmosphäre. Auch die Zeitpunkte und Größen der Xenon-Emissionspulse von Kernkraftwerken und Isotopenproduktionsfabriken sind nur unzureichend bekannt, denn diese müssen nicht deklariert werden. Daher wird im Rahmen des International Noble Gas Experiment seit 1999 zum einen die Xenon-Messtechnik für die Stationen des Überwachungsnetzes evaluiert und optimiert, zum anderen aber auch ein besseres Verständnis der auftretenden Konzentrationsspitzen aus zivilen Quellen angestrengt, die beim Überwachungssystem der CTBTO keinen Fehlalarm auslösen dürfen. Mit Hilfe atmosphärischer Transportmodelle werden die wahrscheinlichsten Quellregionen für die Messergebnisse bestimmt. Diese werden desto unsicherer, je länger der betrachtete Zeitraum ist. Bei der Überwachung des Teststoppvertrages handelt es sich um Tage bis zu wenigen Wochen.

Ein anderes interdisziplinäres Forschungsfeld zur Unterstützung der Teststoppverifikation untersucht, wie Spaltedelgase, die bei einer Nuklearexplosion entstehen, durch Gestein und Erdreich diffundieren. Das Verständnis der Mechanismen, durch welche die Edelgase an die Oberfläche gelangen, hilft bei der Planung von Bodenprobenahmen bei Vor-Ort-Inspektionen, der letzten Stufe der Teststoppverifikation. Auch hier gibt es natürliche Quellen aus dem spontanen Zerfall von Uran-238 in der Erdkruste, die zur Bewertung der gemessenen Signale verstanden werden müssen.

Die Charakterisierung, ob gemessene Xenon-Isotope von einer Nuklearexplosion oder einer anderen Quelle herrühren, ist sehr kompliziert. Dabei ist es hilfreich, dass die vier für den Nachweis von Kernspaltung relevanten Isotope Xe-131m, Xe-133, Xe-133m und Xe-135 unterschiedliche Halbwertszeiten von 9 Stunden bis zu 12 Tagen aufweisen und das Mengenverhältnis, in dem diese Isotope bei einer Kernspaltung entstehen, bekannt ist. Entsprechend kann man unter der Annahme, dass man es nur mit einer Quelle zu tun hat, über die Messung der verschiedenen Isotope auf den Zeitpunkt einer vermuteten Explosion schließen.

In der Realität funktioniert allerdings der ursprünglich von der Teststoppkommission verfolgte Ansatz, lediglich die Konzentration von zwei der vier Isotope zu messen, nicht: Der Charakter der Quelle ließ sich so nicht eindeutig feststellen. Ein viel versprechender Weg hingegen ist es, alle vier Isotope zu messen und dann die Konzentrationsverhältnisse von jeweils zwei der vier Isotope zu kombinieren. Dadurch lassen sich Kraftwerksemissionen eindeutig von denen aus Nuklearexplosionen unterscheiden, es bleibt jedoch eine Ambiguität zu den Emissionen von Isotopenfabriken.

Zudem ist ein viel grundsätzlicheres Problem bislang ungelöst: Die Messung aller vier Isotope ist an sich schon schwierig, da diese unterschiedlich gut nachzuweisen sind und insbesondere das kurzlebige Xe-135 rasch bis unter die Nachweisgrenze zerfällt. Hinzu kommt, dass sich die Abluftfahne eines etwaigen Kernwaffentests mit möglichen Hintergrundkonzentrationen zivilen Ursprungs vermischen kann und die Messergebnisse dadurch an Eindeutigkeit verlieren. Deshalb sollte für jede Messstation eine dynamische Hintergrundanalyse erstellt werden, in die folgende Faktoren einfließen: zivile Emissionen, Ergebnisse meteorologischer Ausbreitungsrechnungen und Charakteristik der Konzentrationserhöhungen, die beim Regelbetrieb kerntechnischer Anlagen auftreten. Durch die Kombination verschiedener Methoden und mehrerer Stationen lässt sich letztlich doch für die meisten Situationen eine belastbare Quellzuordnung erreichen.

Kernwaffenfähiges Material – neue technische Möglichkeiten und Erfordernisse

Das Entdecken von undeklarierten nuklearen Anlagen und Materialien gestaltet sich seit jeher schwierig und wird erst durch das Zusatzprotokoll der IAEO erleichtert. Es bleiben dennoch einige Herausforderungen bei der Detektierung geheimer Aktivitäten, die zu einer Kernwaffe führen könnten. Es gibt mehrere Wege zur Bombe, die vollständig erfasst werden müssen, um eine Verbreitung stoppen zu können. Schon allein die mögliche Verwendung von Uran oder Plutonium als Bombengrundstoff zwingt die Kontrolleure, auf zwei völlig unterschiedliche Weisen tätig zu werden.

Uran als einzig natürlicher Kernbrennstoff ist in seinem ursprünglichen Zustand zunächst unkritisch. Erst eine Anreicherung von Uran-235 auf über 20% (Standard für die Bombe: >80%) lässt den Bombenbau praktikabel werden. Dies kann man nur mit sehr aufwändigen Anreicherungsmethoden erreichen, die unter Umständen keine spezifischen Signaturen, wie Wärme, in der Umwelt hinterlassen. Die derzeit einzige Methode zur Entdeckung solcher Aktivitäten besteht im Einsatz von Satelliten. Da die IAEO über kein eigenes Satellitensystem verfügt, ist sie vom Erwerb der Bilder von Satellitenbetreibern und von Informationen der Mitgliedstaaten abhängig. Wie einige Fälle in jüngster Zeit jedoch gezeigt haben, werden diese Informationen aufgrund eigener Interessen der einzelnen Staaten nicht immer an die IAEO weiter gegeben. In manchen Fällen war die IAEO sogar auf Informationen von unabhängigen Gruppierungen angewiesen. Beispiele hierfür sind die Urananreicherungsanlage Natanz im Iran und die durch Israel am 6. September 2007 zerstörte angebliche Nuklearanlage in Syrien.

Einfacher als die Suche nach den Verarbeitungsstätten dürfte die Verfolgung des natürlichen Urans sein. Für die Gewinnung von Uran bedarf es nämlich des Abbaues riesiger Gesteinsmengen; je nach Urangehalt kann man aus einer Tonne Erz wenige Kilogramm Uran gewinnen. Ein Kontrollmechanismus inklusive Inventur (Mengenbilanz) an dieser Stelle würde das Abzweigen von Uran erschweren. Auch der Einsatz von Satelliten ist denkbar, um ungemeldete Minen zu entdecken.

Der zweite Weg zur Bombe führt über Plutonium. Dieses kommt in der Natur nicht vor und muss daher erst hergestellt werden. Dies geschieht in einem zivilen oder militärischen Kernreaktor, in welchem Uran-238 ein Neutron einfängt und durch Zerfall zu Plutonium wird. Zur Abtrennung des Plutoniums aus dem bestrahlten Kernbrennstoff bedarf es etlicher chemischer Prozesse. Dabei werden vor allem gasförmige, bei der Kernspaltung entstandene Spaltprodukte freigesetzt. Diese enthalten unter anderem auch radioaktive Edelgase. Von besonderem Interesse ist Krypton-85, das eine Halbwertszeit von 10,7 Jahren besitzt und für welches keine nennenswerten natürlichen Quellen existieren.

Dieses Krypton-85 kann man sich zum Nachweis einer geheimen Plutoniumproduktion zunutze machen. Das gesamte Inventar von Krypton-85 in der Atmosphäre stammt aus der Wiederaufarbeitung von bestrahltem Kernbrennstoff. Da Krypton-85 als Edelgas sehr reaktionsträge ist, lässt es sich kaum filtern oder anderweitig zurückhalten. Eine signifikante Konzentrationserhöhung in einer Abgasfahne von einer allein stehenden Anlage kann man unter Umständen noch in einer Entfernung von deutlich mehr als 100 km nachweisen. Ein weltweites Messnetz ähnlich dem für den Umfassenden Teststoppvertrag würde in einem entsprechend engmaschigen Raster den Kostenrahmen allerdings sprengen. Regionale Anwendungen erscheinen jedoch sinnvoll.

Ein weiterer wichtiger Schritt zur allgemeinen Kontrolle der spaltbaren Stoffe wäre die Gleichbehandlung der nuklearen Materialien in Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten. Dies sollte durch ein Verbot der Produktion von spaltbarem Material gewährleistet werden, welches die Waffenstaaten dazu verpflichtet, ihre Produktionsanlagen nicht mehr für die Herstellung von Bombenmaterial zu nutzen und dies auch überprüfen zu lassen. Auf Verhandlungen über einen solchen Produktionsstopp konnte sich die Völkergemeinschaft bei der Genfer Abrüstungskonferenz allerdings seit vielen Jahren nicht einigen (siehe Tab. 1).

Tabelle 1 Detektierbarkeit der verschiedenen
Prozessschritte zur Erzeugung
von spaltbarem Material
Satelliten-
aufnahmen
Umweltproben
Sichtbares
Licht
Infrarot An der
Anlage
Regionales
Messnetz
Plutonium-
erzeugung
Reaktor Ja Ja Ja Ja
Aufbereitung Nein Nein Ja Größere
Anlagen
Uran-
anreicherung
Konversion Nein Nein Ja Größere
Anlagen
Calutron /
EMIS
Nein Ja Ja Nein
Gasdiffusion Ja Ja Wahr-
scheinlich
Nein
Zentrifugen Nein Nein Unwahr-
scheinlich
Nein
Quelle: International Panel on Fissile Material: Global
Fissile Material Report 2007, Chapter 9.

Konkrete technische Möglichkeiten

Die erwähnte Möglichkeit, eine geheime Plutoniumproduktion über Krypton-85-Messungen in der Atmosphäre aufzuspüren, stellt eine vielversprechende Überwachungsmethode dar. Eine Expertenrunde der IAEO kam daher 1996 zu der Beurteilung, dass Krypton-85 der bestgeeignete Indikator für die Plutoniumabtrennung sei, ein regionales Messnetz allerdings (noch) zu teuer.

Ein möglicher Einsatz des Krypton-85-Verfahrens ist das Aufstellen eines Rasters von permanenten Messstationen in einem begrenzten Gebiet, die kontinuierlich den Krypton-85-Gehalt der Luft überwachen. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Freiburg betreibt bereits seit mehr als 30 Jahren ein globales Messnetz mit derzeit 14 Sammelstationen, die hauptsächlich in Deutschland, aber auch vereinzelt im Ausland, etwa in Spanien, Japan und der Antarktis, aufgestellt sind. Aus den so gewonnenen Daten lassen sich wichtige Schlüsse für die praktische Eignung von Krypton-85 als Verifikationsinstrument ziehen. Eine Fallstudie über die Korrelation von Krypton-85-Messungen am Nationallabor für Hochenergiephysik in Tsukuba und Krypton-85-Emissionspulsen der Wiederaufarbeitungsanlage in Tokai, beide Japan, belegt, dass die Produktion von 8 kg Plutonium (die von der IAEO definierte signifikante Menge für eine Kernwaffe), aufbereitet in einem Zeitraum von etwa einem halben Jahr, erfolgreich nachgewiesen werden kann, wenn die Station 60 Kilometer von der Quelle entfernt steht.

Nur mit systematischen atmosphärischen Ausbreitungsrechnungen kann studiert werden, in welchem Umfang ein lokales Messnetz in einem verdächtigen Gebiet kostengünstig und effektiv realisiert werden kann. Ein Grund für die bisherige Kostenintensivität der Krypton-85-Methode ist, dass der Nachweis auf Betamesstechnik beruht, also auf der Messung der Radioaktivität. Aufgrund der geringen Konzentration von Krypton-85 in der Atmosphäre sind derart große Luftproben erforderlich, dass die Edelgase mit einer speziellen Apparatur bereits im Feld abgetrennt werden müssen, um die Probe ins Labor schicken zu können. Die Probengröße des heutigen BfS-Messnetzes beträgt im Standardbetrieb beispielsweise 10 m³ Luft, der Sammelzeitraum eine Woche. Prinzipiell sind auch kleinere Proben von einigen Hundert Litern möglich, allerdings vergrößert sich dann die Messzeit im Labor.

Am Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) der Universität Hamburg wird derzeit an einer neuen Nachweistechnik gearbeitet, die auf dem Zählen einzelner Kryptonatome in einer Atomfalle mittels Lasermesstechnik beruht (ATTA = Atom Trap Trace Analysis). Mit Hilfe dieser Technik könnte die Probengröße so weit reduziert werden, dass keine Abtrennung im Feld erforderlich ist. Somit würde auch die Probensammlungs- und Messzeit verringert. Dann wäre diese Methode ebenfalls für kurzfristige Feldmessungen an wenigen Standorten geeignet, bei denen Inspektoren im Verdachtsfall kleine Luftproben nehmen. Die ATTA-Messtechnik ermöglicht die Probenahme in einer kleinen 1-Liter-Vakuumflasche, die in ein Labor geschickt und dort ausgewertet wird. Außerdem werden Zufallskontrollen möglich, so wie sie die Inspekteure mit den schon etablierten Wischproben während routinemäßiger Kontrollen durchführen können. Die ATTA-Messtechnik ist daher sehr vielversprechend; inwieweit sie aber funktionieren und sich effizient einsetzen lässt, muss für relevante Szenarien noch mit Hilfe von Transportrechnungen der Ausbreitung von Krypton-85 durch die Atmosphäre gezeigt werden. Insbesondere sollen mit derartigen Simulationen optimale Probennahmestrategien entwickelt werden. Das Hauptproblem ist der hohe Hintergrund aus legalen Wiederaufbereitungsaktivitäten, da das langlebige Kr-85 über Jahrzehnte in der Atmosphäre verbleibt.

Synergien für die Zukunft

Besonders wünschenswert wären Synergieeffekte zwischen dem International Monitoring System des Umfassenden Teststoppvertrags und großräumiger Umweltprobennahme gemäß des Zusatzprotokolls der IAEO. Technisch wäre es möglich, auch die Krypton-85-Gehalte der Luftproben der IMS-Stationen zu bestimmen. Allerdings ist dies bislang politisch nicht gewollt. Eine gemeinsame Herausforderung für beide Verträge besteht in der Quellortung durch atmosphärische Transportrechnungen bei einem beträchtlichen Hintergrund durch legale Emissionen.

Überdies kann das Monitoring-System der Teststopporganisation mit seinen standardisierten kontinuierlichen Messungen in hoher zeitlicher Auflösung rund um den Globus auch für die zivile Wissenschaft eine wichtige Datenquelle sein. So gibt es bereits Zusammenarbeit im Bereich der Tsunami-Warnung. Aber auch die Luftprobenauswertungen der Radionuklidstationen können Umwelt- und Atmosphärenwissenschaftlern helfen. Nachdem innerhalb der Teststopporganisation zunächst immer sehr auf Geheimhaltung gepocht wurde, besteht inzwischen eine entsprechende Kooperationsvereinbarung mit der World Meteorological Organization der Vereinten Nationen, die die prinzipielle Verfügbarkeit der Daten regelt. Es bedarf nur noch einer besseren Bekanntheit der Möglichkeiten unter den Wissenschaftlern – und es fehlt eine Initiative, diese auch zu nutzen.

Weiterführende Informationen

International Panel on Fissile Materials – www.fissilematerials.org

Independent Group of Scientific Experts on the detection of clandestine nuclear-weapons-usable materials production – www.igse.net

International Atomic Energy Agency – www.iaea.org

Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organisation (Preparatory Commission) – www.ctbto.org

Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung, Universität Hamburg – www.uni-hamburg.de/znf

Ole Roß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZNF und promoviert in Meteorologie zur Modellierung der Ausbreitung radioaktiver Edelgase. Heiner Daerr und Markus Kohler sind wissenschaftliche Mitarbeiter am ZNF und entwickeln im Rahmen ihrer Promotion eine Atomfalle zur Ultraspurenanalyse von Kr-85 (ATTA). Enno Peters ist Diplomand beim ATTA-Projekt und nimmt eine Probensammelanlage in Hamburg in Betrieb. Martin B. Kalinowski ist Leiter des Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg (ZNF).

Wie weiter mit dem »Nichtverbreitungsvertrag«

Wie weiter mit dem »Nichtverbreitungsvertrag«

Weg in die kernwaffenfreie Welt oder Eindämmung der Weiterverbreitung mit Fortschreibung der nuklearen Abschreckung?

von Wolfgang Liebert

1995 steht ein gewichtiges internationales Vertragswerk nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung an, der Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT), zu deutsch häufig Nichtverbreitungsvertrag genannt.

Dieser Beitrag1 will sich erneut mit dem Gehalt des NPT befassen, die aktuelle Situation der Verbreitung von Kernwaffen kurz beleuchten, an die historische Einbettung des NPT in die internationale Abrüstungsdebatte erinnern, sowie offensichtliche Mängel des Vertrages benennen und analysieren. Die Einschränkung wissenschaftlich-technisch erzeugter Voraussetzungen für jegliche Form der Proliferation (horizontal wie vertikal) wird betont. Daraus leiten sich Forderungen an die NPT-Mitgliedsländer ab, insbesondere an die etablierten Kernwaffenstaaten. Darüber hinaus werden Elemente einer glaubwürdigen, nichtdiskriminierenden und auf andere Staaten übertragbaren Non-Proliferationspolitik für die Bundesrepublik Deutschland vorgestellt. Das Ziel ist die Transformation des existierenden Non-Proliferationsregimes durch Einbettung in eine Konzeption der nuklearwaffenfreien Welt.

Die aktuelle Debatte um Vermeidung von Proliferation konzentriert sich zur Zeit auf Länder wie Nordkorea und Irak, denen die Bemühungen um Kernwaffen teils nachgewiesen wurde (so im Falle des Irak im Gefolge des Golfkrieges) oder teils mit gewichtigen Argumenten unterstellt wird (so gegenwärtig im Falle Nordkoreas). Weiterhin fokussiert sich die Debatte auf Nachfolgestaaten der Sowjetunion, hier insbesondere auf die Ukraine, von der erwartet wird, daß sie ihr – zur Zeit immer noch weltweit drittstärkstes – Nuklearpotential aufgibt, sowie auf die Gefahren eines Schwarzmarktes nuklearer, kernwaffenfähiger Materialien mit Quellen auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die horizontale Proliferation, also die Weiterverbreitung von Kernwaffen, steht im Vordergrund der Debatte, dementsprechend auch die Frage von effektiven Exportkontrollen aus den Industrie- und Kernwaffenstaaten in Empfängerländer mit möglichen Kernwaffenabsichten. Die Arsenale der bestehenden Kernwaffenstaaten geraten gegenwärtig kaum ins Blickfeld öffentlicher Diskussion, obwohl sie ebenfalls direkt den Kern des NPT berühren. Das diplomatische Tauziehen im Vorfeld der NPT-Verlängerungskonferenz, die im April/Mai 1995 stattfinden wird, scheint sich längst nur noch um prozedurale Fragen zu bekümmern. So werden »Freund« und »Feind« effektiver Non-Proliferation von diplomatischen Füchsen zunehmend an der Gretchenfrage geschieden: »Bist Du für die unendliche Verlängerung des NPT – ja oder nein?« Der Inhalt dessen, was da eigentlich auf unbegrenzt verlängert werden soll, gerät in Gefahr, unter Denk- und Diskussionsverbot gestellt zu werden. Die Verengung der Diskussion auf die Frage der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Verlängerung allein lenkt ab von den wesentlichen Problemen, die mit dem NPT selbst und der langfristigen Aufgabe der Proliferationsvermeidung und der Abrüstung verbunden sind.

Es scheint, daß mit dem Ergebnis der NPT-Verlängerungsdebatte auch über die zukünftige Rolle der Kernwaffen entschieden wird. Zwei wesentliche, differierende Optionen stehen zur Wahl. Die eine hieße Beibehaltung der Kernwaffen in den etablierten Kernwaffenstaaten unter Neudefinition ihrer »Aufgaben«. Eine Umwidmung der alten Abschreckung zwischen den Blöcken in eine Abschreckung gegen neu entstehende oder bereits existierende Massenvernichtungswaffen in anderen Ländern würde damit verbunden. Die zweite Option hieße, die Bedeutung von Kernwaffen in der internationalen Politik Schritt für Schritt auf Null zu reduzieren, den Anreiz, Kernwaffen zu besitzen, nahezu gleichzeitig für alle Staaten zu minimieren, und die Aufrechterhaltung technischer Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme so klein wie möglich zu machen. Eine kernwaffenfreie Welt wäre das Ziel.

Der Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT)

Das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen führte 1968 zu folgendem Ergebnis2:

Verpflichtungen der Kernwaffenstaaten:

  • Weitergabe von Kernwaffen oder Kernsprengkörpern an andere oder Hilfe bei der Beschaffung, Übergabe der Verfügungsgewalt ist verboten (Artikel I).
  • Mögliche Vorteile aus »friedlichen Kernsprengungen« sollen den Vertragsparteien zugänglich gemacht werden (Artikel V).
  • Verhandlungen in redlicher Absicht über Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung (explizit genannt werden Kernwaffenteststopp, Einstellung der Kernwaffenproduktion) sollen geführt werden (Artikel VI und Präambel).

Verpflichtungen der Nicht-Kernwaffenstaaten:

  • Keine Annahme von Kernwaffen oder Kernsprengkörpern oder Verfügungsgewalt darüber, keine Herstellung oder Produktion, keine Unterstützung anderer oder Annahme von fremder Unterstützung (Artikel II).
  • Annahme von Sicherungsmaßnahmen (gemeint sind die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO), die auf alles Ausgangsmaterial und besondere spaltbare Materialien, sowie alle Nuklearaktivitäten angewandt werden (Artikel III).

Gemeinschaftliche Verpflichtungen:

  • Weitergabe von besonderem spaltbarem Material und entsprechenden Ausrüstungen an andere, nur wenn sie Sicherungsmaßnahmen unterliegen (Artikel III).
  • Erleichterung und Beförderung der weltweiten zivilen Kernenergienutzung, insbesondere durch internationalen wissenschaftlich-technologischen Austausch (Artikel IV und Präambel).

Zu den gemeinsamen Verpflichtungen gehören auch die angestrebten Verhandlungen zur Abrüstung (Artikel VI), die aber von der Sache her Vorleistungen der Kernwaffenstaaten erforderlich machen.

In Artikel VIII ist der Prozeß der alle fünf Jahre möglichen Überprüfungskonferenzen geregelt, in denen die Wirkungsweise des Vertrages und die Verwirklichung seiner Ziele (inklusive der Präambel) zur Diskussion stehen. Weiterhin wird dort geregelt, wie Vertragsänderungen möglich sind. Zustimmen müßten die Mehrheit aller Vertragsstaaten, alle Kernwaffenstaaten, die Mitglied des NPT sind3 , sowie alle Mitgliedsländer des Gouverneursrates der IAEO zum Zeitpunkt der Antragstellung. Artikel X gibt jedem Mitgliedsland das Recht, mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist wieder auszutreten. Dieser Artikel sieht weiterhin vor, daß nach 25-jähriger Laufzeit eine Verlängerungskonferenz einberufen wird, auf der die Mehrheit der Mitglieder über eine unbegrenzte oder über eine auf eine oder mehrere Frist/Fristen begrenzte Verlängerung befinden soll.

Einbettung des NPT in die Abrüstungsdebatte

Seit Existenz der Vereinten Nationen hat in ihren Debatten das Ziel einer abgerüsteten, friedlichen Welt besondere Bedeutung. Der Generalversammlungsbeschluß vom 13.12.1961, das Eighteen-Nations Committee on Disarmament (ENDC) mit der Aufgabe einzuberufen, entsprechende internationale Verträge vorzubereiten, diente dieser Zielsetzung. In der Folgezeit entwickelte sich das ENDC zu dem Gremium, in dem als erstem Schritt zur allgemeinen Abrüstung die Aushandlung von Schritten zur nuklearen Abrüstung und zur Eindämmung der Weiterverbreitung von Kernwaffen erfolgte, speziell die Aushandlung des NPT. Die Resolution 2028 (XX) der UN-Generalversammlung vom 19.11.19654 legte Prinzipien fest, aufgrund derer ein Vertrag zur Vermeidung der Proliferation von Kernwaffen zustande kommen sollte:

  1. Der Vertrag soll keine Schlupflöcher enthalten, die Kernwaffenstaaten oder Nicht-Kernwaffenstaaten erlauben könnten, direkt oder indirekt Kernwaffen in irgendeiner Form zu proliferieren;
  2. der Vertrag soll ein akzeptables Gleichmaß von Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen der Kernwaffen- und der Nicht-Kernwaffenstaaten enthalten;
  3. der Vertrag soll ein Schritt sein in Richtung auf die Erreichung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung und insbesondere der nuklearen Abrüstung;
  4. akzeptable und handhabbare Vorkehrungen sollen die Effektivität des Vertrages sicherstellen;
  5. das Recht jeglicher Staatengruppe, regionale Verträge abzuschließen, die eine völlige Abwesenheit von Kernwaffen in den zugehörigen Territorien sicherstellen, soll durch den Vertrag nicht negativ berührt werden.

Die Resolution 2373 (XXII) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12.6.1968, mit der der endgültige Entwurf des NPT den Regierungen zur Unterzeichnung und Ratifizierung vorgelegt wurde, bekräftigte den klaren Standpunkt zur Abrüstungsfrage: Die Generalversammlung „fordert die Konferenz des Achtzehn-Nationen Kommitees für Abrüstung (ENDC) und die Kernwaffenstaaten auf, mit hoher Dringlichkeit Verhandlungen zu führen, die das Ende des Rüstungswettlaufs zu einem frühen Zeitpunkt betreffen, sowie die nukleare Abrüstung und einen Vertrag über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle.“ Dieselbe Resolution betont allerdings die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Bedeutung der internationalen Kooperation bei der Entwicklung der zivilen Anwendungen der Atomenergie.

Der Bezug zur Abrüstung und insbesondere zur nuklearen Abrüstung ist jedenfalls eindeutig mit dem Prozeß der Aushandlung des NPT verbunden und hat sich in der Formulierung der Präambel und des Artikel VI des Vertrages niedergeschlagen. 1967 haben die blockfreien Mitglieder des ENDC zu Protokoll gegeben, daß sie im Austausch gegen die Zustimmung zum Ende der horizontalen Proliferation (Weiterverbereitung) von Kernwaffen die Kernwaffenstaaten auffordern, dem Ende der vertikalen Proliferation (Weiterentwicklung und Vermehrung) der Kernwaffen zuzustimmen. Insbesondere wurden fünf Forderungen erhoben (»Five Demands«), die bis heute unerfüllt sind: 1. vollständiges Ende des nuklearen Testens, 2. Produktionsstopp für kernwaffenfähige Materialien, 3. Einfrieren und schrittweise Reduktion der bestehenden Kernwaffenarsenale, 4. internationaler Bann des Gebrauchs von Kernwaffen, 5. ungeteilte Sicherheitsgarantien der Kernwaffenstaaten für Nicht-Kernwaffenstaaten.5

Kurz nach Fertigstellung des Vertragsentwurfes trafen sich (vom 28.August bis zum 28.September 1968) Vertreter von 69 Staaten zu einer Konferenz der Nicht-Kernwaffenstaaten in Genf. Die Resolution C des dort erarbeiteten Abschlußdokuments liest sich ebenfalls eindeutig: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen wird aufgefordert, Verhandlungen innerhalb des ENDC zu empfehlen über 1. die Verhinderung der Weiterentwicklung und Verbesserung von Kernwaffen und Trägersystemen, 2. den Abschluß eines vollständigen Teststoppvertrages, 3. das sofortige Ende der Produktion spaltbaren Materials für Waffenzwecke und das Ende der Herstellung von Kernwaffen, 4. die Reduktion und nachfolgende Eliminierung aller Arsenale von Kernwaffen und Trägersystemen.

Die Entstehung des NPT in der existierenden Form ist das Ergebnis eines Kompromisses. Um überhaupt einen Fortschritt in Hinblick auf das Ziel der Abrüstung zu erreichen, wurde als erster erreichbarer Schritt die Proliferation von Kernwaffen angegangen, wobei die klareren Regelungen im Bereich der horizontalen Proliferation akzeptabel erschienen im Vertrauen darauf, daß die eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen der etablierten Kernwaffenstaaten – und als Einstieg das vereinbarte Ende des technologisch dominierten Rüstungswettlaufes – mehr als nur Rhetorik wären.

Aktuelle Verbreitung von Kernwaffen und sensitiver Nukleartechnologie

Der Klub der fünf etablierten Nuklearmächte hat sich seit 1968 erweitert, ohne daß die Exklusivität dieser fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates in Frage gestellt wäre. Tabelle 1 gibt einen Überblick über den nuklearen Status einer Reihe wichtiger Staaten und benennt die jeweilige Beziehung zum NPT.

Durch den Zerfall der Sowjetunion sind neben Rußland immer noch zwei weitere Staaten, Ukraine und Kasachstan, als Kernwaffenstaaten zu zählen. An Israels Besitz von Kernwaffen hegt wohl niemand mehr Zweifel. Indien hat mit seiner »friedlichen« Kernexplosion im Jahre 1974 der Welt seine nuklearen Fähigkeiten demonstriert, während Pakistan vor einigen Jahren regierungsamtlich verlauten ließ, man sei durchaus in der Lage Kernsprengkörper zu bauen. Diese drei Länder stehen immer noch abseits des NPT. In Südafrika wurden erklärtermaßen Kernwaffen produziert; sie sollen allerdings alle wieder vor dem Beitritt zum NPT zerstört worden sein. Daß die Mitgliedschaft im NPT allein noch nichts aussagt über eine mögliche Verfolgung von Forschungs- und Technologieprogrammen, die in Kernwaffenprogramme münden, zeigt unter anderem der berechtigte Verdacht, unter dem die NPT-Mitgliedsstaaten Taiwan, Irak und Nordkorea standen und teilweise noch stehen. Der Iran kommt neuerdings hinzu. Auch Libyen und Algerien verfolgen uneindeutige Nuklearprogramme, deren rein zivile Zielsetzung nicht klar ist. In anderen nicht NPT-Mitgliedsländern, wie Argentinien und Brasilien, wurden Technologien entwickelt (zum Teil unter Nutzung internationaler Kooperationsprogramme), die Voraussetzungen für Kernwaffenprogramme sind. Diese Staaten standen einige Jahre unter starkem und berechtigtem Verdacht, Kernwaffen entwickeln, testen und produzieren zu wollen. Wie im Falle von Schweden, das offenbar noch nach Unterzeichnung des NPT in den siebziger Jahren Anstrengungen in Richtung auf Kernwaffen unternommen hatte, ist ein Kernwaffenprogramm Brasiliens offiziell geworden. Daneben gibt es eine Reihe von Industriestaaten, die prinzipiell in der Lage wären, Kernwaffen zu bauen, da die wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten bereits weitgehend vorhanden sind. Zu dieser langen Liste von Staaten, in denen latente Proliferationsgefahren ausgemacht werden müssen, gehören die Länder Japan, Deutschland, Kanada und Belgien. Gleichwohl blockieren hier politische Entscheidungen gegen den Kernwaffenbesitz die technischen Möglichkeiten.

Eine wesentliche Quelle für die Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation ist die zivil-militärische Ambivalenz der Nuklearforschung- und Technologie6. Die weltweit betriebenen »zivilen« Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen7. Zur Betreibung der großen Kernenergieprogramme wird eine jährliche Anreicherungskapazität von wenigstens 10000 Tonnen schwach angereicherten, reaktortauglichen Urans benötigt. Etwa 70 Tonnen Plutonium werden jährlich in zivilen Leistungsreaktoren produziert. Die Überwachungsmaßnahmen der seit 1957 arbeitenden Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) reduzieren die daraus erwachsende Problematik zwar erheblich, aber die prinzipielle Nutzbarkeit von Anreicherungsanlagen zur Produktion hochangereicherten Urans (HEU) zu Waffenzwecken oder die Abzweigung abgetrennten Plutoniums für den Bau von Bomben8 kann so nicht aus der Welt geschafft werden.

Der Gebrauch von waffentauglichem HEU in Forschungsreaktoren ist weltweit nicht beendet, auch wenn seit Jahren internationale Bemühungen zur Umstellung von solchen Reaktoren auf die Verbrennung schwach angereicherten Urans gewisse Erfolge zeitigen. Plutonium ist in jeder Isotopenzusammensetzung waffentauglich. Das gilt nicht nur für das speziell produzierte sogenannte »Waffenplutonium«, sondern auch für das beim Betrieb von Kernreaktoren automatisch mitproduzierte sogenannte »Reaktorplutonium«.9 Weltweit sind etwa 270 Tonnen »Waffenplutonium« produziert worden; 100 Tonnen davon sollen bis zum Jahr 2003 gemäß den amerikanisch-russischen Abrüstungserklärungen »frei« werden. Demgegenüber wurden bislang etwa 850 Tonnen »Reaktorplutonium« produziert, von denen bis 1990 120 Tonnen vom abgebrannten Brennstoff absepariert wurden. Die Probleme mit dem Waffenstoff Plutonium werden demnach nicht mit der Zerstörung bzw. sicheren Endlagerung des »Waffenplutoniums« allein gelöst sein. Das »Reaktorplutonium« wird zunehmend zum langfristig wirksamen Problem.

Zumindest 19 Länder haben den Zugriff auf mindestens eine der sensitiven Nukleartechnologien Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung erreicht, die eine Produktion waffenfähiger, spaltbarer Materialien prinzipiell ermöglicht und somit Voraussetzungen für Waffenprogramme schafft. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Verbreitung dieser sensitivsten Nukleartechnologien. Neue sensitive Nukleartechnologien werden sich im Nachvollzug der Hochtechnologieentwicklung der Industrieländer weiter verbreiten und wachsende Proliferationsrisiken auslösen.

Tabelle 3 gibt die Zahl der Sprengköpfe in den Arsenalen der Kernwaffenstaaten (Stand Ende 1993) an. Die Gesamtzahl von weltweit 27.500 Sprengköpfen ist eine untere Abschätzung, da in den beiden Supermächten zwar eine große Anzahl taktischer (und auch einiger strategischer) Sprengköpfe den Arsenalen entzogen wurde, diese allerdings zu einem großen Teil – getrennt von den Trägersystemen aber immer noch intakt – weiter gebrauchsfähig lagern und ihre Zerstörung erst (viel) später erfolgen wird. Die endgültigen Entscheidungen gegen eine geplante Erweiterung oder Modernisierung der britischen und französischen Nuklearstreitkräfte stehen noch aus. Die vertikale Proliferation in den Ländern China, Israel, Indien und Pakistan scheint noch ungebremst zu sein. Auch nach der für das Jahr 2003 angekündigten Reduktion der amerikanischen und russischen strategischen Potentiale auf 3500 bzw. 3000 Sprengköpfe hat die Welt noch immer eine mehrfache Overkill-Kapazität zu gewärtigen.

Mängel und Schwachstellen des NPT

Von verschiedener Seite wird immer wieder betont, der NPT sei sehr erfolgreich bei der Einschränkung der Weiterverbreitung von Kernwaffen gewesen. Auch wenn eingeräumt werden kann, daß die erwartete explosionsartige Vermehrung der absoluten Zahl von Kernwaffenstaaten in den siebziger und achtziger Jahren tatsächlich ausgeblieben ist, so bleiben doch einige gewichtige Mängel des NPT zu konstatieren, die langfristig kontraproduktiv wirken:

  1. Der NPT ist de-facto und de-jure diskriminatorisch. Er schreibt fünf Kernwaffenstaaten auf Dauer fest, sieht keinerlei Kontrollen in diesen Staaten vor und baut in der Praxis ein Dreiklassensystem des Technologiezugangs auf. Einer ersten Gruppe von Staaten ist der Besitz von Kernwaffen auf Dauer erlaubt. Einer zweiten Gruppe von (Industrie-)Staaten ist zwar der Zugriff auf Kernwaffen verwehrt, aber alle sensitiven Technologien können genutzt oder innerhalb dieser Gruppe exportiert werden. Einer dritten Gruppe von Staaten ist sowohl der Zugriff auf Kernwaffen als auch auf bestimmte sensitive Technologien verwehrt, die hier als Ausdruck einer Kernwaffenoption interpretiert werden.
  2. Kein verbindlicher Weg zur Abrüstung und insbesondere zur nuklearen Abrüstung ist festgelegt. Zwar wird in der Präambel und im Artikel VI des NPT das Ziel deutlich angegeben, aber die Schritte zur Verwirklichung bleiben unverbindlich. Noch 25 Jahre nach Aushandlung des NPT scheinen einige Kernwaffenstaaten die im NPT enthaltenen Formulierungen eher als unverbindliche nebulöse Absichtserklärungen für eine ferne Zukunft als eine dringliche Verpflichtung wahrzunehmen.
  3. Der NPT zielt auf die Verhinderung des militärischen Gebrauchs der Kernenergie und entsprechender Materialien in Nicht-Kernwaffenstaaten und erlaubt und befördert den zivilen Gebrauch der Kernenergie. Die Nichtbeachtung der zivil-militärischen Ambivalenz und der Doppelverwendbarkeit (Dual-use) der Nuklearforschung und -technologie ist ein zentraler Mangel des NPT. Die Propagierung der zivilen Nutzung der Kernenergie und ihrer ungebremsten Fortentwicklung kann nicht losgelöst betrachtet werden von der dadurch immer auch erfolgenden Weiterverbreitung, Beibehaltung oder Verbesserung der technisch-wissenschaftlichen Grundlagen für Kernwaffenoptionen.
  4. Die Zulassung »ziviler« Kernsprengungen ist nicht nur nach den erzeugten Umweltkatastrophen – vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion –, sondern insbesondere auch in Hinblick auf die damit ermöglichte Entwicklung bis hin zu einem funktionsfähigen Kernsprengkörper ein eklatanter Widerspruch zum Ziel des NPT. Wer, wie Indien, außerhalb des NPT steht und sich keine »zivile« Nutzanwendung von Kernsprengkörpern bei den etablierten Kernwaffenstaaten »kaufen« will, kann immer darauf verweisen, mit der De-facto-Entwicklung einer Kernwaffe lediglich zivile Ziele verfolgen zu wollen.
  5. Es sind keine Prozeduren vorgesehen, wie und mit welchem Status De-facto-Kernwaffenstaaten oder Schwellenländer, die außerhalb des Vertrages stehen, für den Vertrag gewonnen werden können. Ebenso sind keine Prozeduren vorgesehen zur verifizierbaren, transparenten und effektiven Denuklearisierung von Kernwaffenstaaten innerhalb des NPT oder von beitretenden Staaten, die den Schritt zu Kernwaffen bereits erreicht hatten (wie im Falle Südafrikas).
  6. In Verbindung mit dem NPT, wenn auch nicht als direkter Mangel des NPT festzumachen, steht die Doppelrolle der IAEO als Kernenergiepromotor und -kontrolleur. Diese Doppelrolle hat zu vielen mangelhaften Aktivitäten der IAEO geführt, so zuletzt besonders augenfällig angesichts der schon lange erkennbaren Doppelbödigkeit des irakischen Nuklearprogrammes. Eine tiefgreifende Reform der IAEO stünde an10 . Ein weiterer Mangel der IAEO-Sicherungsmaßnahmen ist die ausschließliche Beschränkung auf den Materialfluß, obgleich hier tatsächlich versucht wird, ein wesentliches und im Prinzip kontrollierbares Element zu erfassen11

Diese offensichtlichen Mängel und Widersprüche des NPT müßten angegangen werden, wenn tatsächlich eine erfolgreiche Verlängerung und Fortentwicklung des Vertragsregimes unter globaler Perspektive angestrebt ist. Hier ist nicht der Raum, alle diese Schwachstellen im Detail zu besprechen. Von größter Bedeutung ist sicherlich die Verpflichtung zur Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten, die immer wieder von Vertretern der Nicht-Kernwaffenstaaten, vorrangig aus Ländern der Dritten Welt, angemahnt wird. Wann, wenn nicht jetzt – in der Debatte um die Verlängerung des Vertrages – müssen diese inhaltlichen Mängel des NPT deutlich zur Sprache gebracht werden, um schiefliegenden Argumentationsmustern vorzubeugen, die nur den Vertrag als solchen ohne Ansehung des Inhaltes »retten« wollen. Man sollte schon sehr genau hinsehen, bevor der Ruf nach einer unbegrenzten Verlängerung allein als das Postulat der Stunde verbindliche Politik wird. Die Zukunft des NPT hängt davon ab, ob mit den genannten Widersprüchen und Mängeln in einer zufriedenstellenden und nicht-diskriminierenden Art umgegangen werden kann.

Gleichwohl, Änderungen oder Ergänzungen des NPT durchzusetzen, sind nach der obigen Darstellung der Vertragslage (Artikel VIII) wohl kaum erfolgversprechend. Welche tiefgreifenden Änderungen wären wohl mit der Einwilligung der fünf etablierten Kernwaffenstaaten und allen Mitgliedern des Gouverneursrates der IAEO zu erwirken? Zu bedenken ist, daß der NPT der bislang einzige weltweit gültige Vertrag ist, der sich mit der Proliferation von Kernwaffen befaßt. Demnach erscheint er trotz aller Mängel zur Zeit erhaltenswert. Wie soll man also weiterverfahren? Wie sollen die Länder mit Nuklearoptionen außerhalb des NPT für die Ziele einer ungeteilten Non-Proliferationspolitik gewonnen werden, insbesondere solche Staaten, die den NPT – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – als diskriminatorisch ablehnen? Könnte sich die Überstimmung einer gewichtigen Minderheit bei der Entscheidung über die Verlängerung nicht als Sprengstoff für eine möglichst globale Zugehörigkeit zum Vertrag herausstellen?

Perspektive für eine nuklearwaffenfreie Welt

Idealtypisch lassen sich zwei differierende Sichtweisen der Stellung des NPT innerhalb der internationalen Politik unterscheiden.

Die eine Position sieht den NPT als einen ersten, notwendigen Schritt in einer Kette von Abrüstungsvereinbarungen, die eine abgerüstete, »friedliche« Welt als Vision ansteuert. Diese Sichtweise kann als Bild in konzentrischen Kreisen dargestellt werden: Leicht exzentrisch im Mittelpunkt steht der NPT eingebettet vom Kreis weiterer Bemühungen, Abmachungen, Regelwerke mit dem Ziel der Non-Proliferation. Der endlich in Verhandlung befindliche vollständige Teststoppvertrag verlagert sich mit seinem Schwerpunkt mehr in den Halbkreis der vertikalen Proliferation während der NPT seinen Schwerpunkt mehr im Bereich der horizontalen Proliferation besitzt. Darum schließen sich die Kreise der nuklearen Abrüstung (beispielsweise die START-Verträge enthaltend) und der angestrebten nuklearwaffenfreien Welt. In den äußeren Schalen des Bildes werden diese Bemühungen ergänzt durch weitere internationale (oder auch regionale) Abkommen, wie die C-Waffen- und B-Waffen-Konvention oder nuklearwaffenfreie Zonen. Das Bild wird abgerundet durch den Kreis, der die weiteren Bemühungen um vollständige Abrüstung symbolisiert. Präventive Rüstungskontrolle, die auch die Kontrolle wissenschaftlich-technologischer Innovation in den Blickwinkel nimmt, hat in diesem Bild entscheidende Bedeutung. So wird der NPT langfristig nur sinnvoll in Hinblick auf das weiterreichende Ziel der Abrüstung. Hegemonialen Machtgefällen innerhalb dieser Abrüstungskonzeption sowie dem Fortbestand der nuklearen Abschreckung wird eine Absage erteilt.

Die zweite Position sieht den NPT als wesentlichen Kern eines sich verdichtenden Regel- und Vertragswerkes eines internationalen Nichtweiterverbreitungsregimes. Der horizontale Aspekt der Proliferation wird betont. Daneben – im Grunde losgelöst davon – steht die internationale Abrüstungsdebatte. Im Kern ist die nukleare Abrüstung angeordnet, ergänzt um weitere Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen, insbesondere im Bereich von Massenvernichtungswaffen. Ob vollständige nukleare Abrüstung angestrebt wird, bleibt bereits offen. Ein neues Konzept der nuklearen Abschreckung (beispielsweise gegen »mögliche Proliferateure«) erscheint bedenkenswert oder sogar als sinnvoll. Das Ziel der vollständigen Abrüstung wird als unrealistisch oder sogar als nicht wünschbar bezeichnet. Das Non-Proliferationsregime wird in seiner Wirksamkeit zwar auch kritisch betrachtet, aber im Prinzip als unter allen Umständen in dieser Architektur als erhaltenswert und fortentwickelbar betrachtet. Schon die hohe Anzahl der Mitglieder (inzwischen über 160 Staaten) wird als unterstützendes Argument herangezogen. Daß es sich in dann der bestehenden Form mehr um ein Nichtweiterverbreitungsregime als um ein Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen handelt, wird in Kauf genommen. Ebenso wird die Hegemonie der etablierten Kernwaffenstaaten – wenn auch manchmal zähneknirschend – akzeptiert. Sie erscheint wünschenswert in Hinblick auf die Politik der Stärke gegenüber nuklearen Schwellenländern in der Dritten Welt. Teilweise werden auch militärisch dominierte Gegenmaßnahmen gegen erfolgte oder befürchtete Weiterverbreitung empfohlen. Dieses Bild ist äußerst pragmatisch und keinesfalls visionär. Zum Teil ist diese Sichtweise sicher auch eine enttäuschte Reaktion auf die innerhalb internationaler Gremien betriebene reine »Abrüstungsrhetorik« der vergangenen Jahrzehnte.

Tatsächlich ist der NPT in einer bestimmten historischen Situation entstanden. Die UN-Debatten über nukleare und vollständige Abrüstung mit dem Ziel eines friedlichen und gerechten Weltsystems standen der Konzeption der nuklearen Abschreckung innerhalb der wachsenden Blockkonfrontation und dem damit verbundenen Rüstungswettlauf in der Ost-West-Konkurrenz gegenüber. Das Hegemoniestreben der Supermächte und seiner Verbündeten konnte mit dem NPT nicht gebrochen werden.

Die vertikale Proliferation ging nach Abschluß des NPT in den siebziger und achtziger Jahren sogar verstärkt weiter. Ein weiteres wesentliches Gegensatzpaar bildete die Sorge um die beschleunigte Weiterverbreitung der Kernwaffen im Weltmaßstab bei gleichzeitigem Wunsch der Proliferation im Bereich ziviler Kerntechnik. Die Kernenergie-Euphorie der sechziger Jahre wurde von ökonomischen Interessen der Industrieländer und Entwicklungshoffnungen der Entwicklungs- und Schwellenländer gleichermaßen gespeist. So war der NPT im Kern ein doppeltes »Geschäft«. Ein Hauptaspekt war der Verzicht der »Entwicklungsländer« auf eigene Kernwaffen gegen Unterstützung bei der »zivilen« Nutzung der Kernenergie bei gleichzeitigem Versprechen der Kernwaffenstaaten auf Stopp der Kernwaffenweiterentwicklung und Einleitung von Schritten zur vollständigen Abrüstung. Mindestens genauso wesentlich, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, war der Verzicht der industrialisierten Nationen, wie Deutschland, Japan, Canada, Schweden, auf Zugang zu Kernwaffen bei gleichzeitiger unbeschränkter Nutzung der Kernenergie im »zivilen« Bereich und bei Zulassung eines exzessiven (kontrollierten) nuklearen Exportgeschäfts. Diese doppelte Strategie, die deutlich erkennbar nicht nur Sicherheitsinteressen sondern ganz entscheidend auch Geschäftsinteressen diente, hat großenteils nicht zum Erfolg geführt. Neben den bereits erwähnten Fakten, sollte man sich vor Augen halten, daß seit 1970 keine nennenswerte Stromproduktion aus Nuklearenergie in Ländern der sogenannten Dritten Welt zu verzeichnen ist.

Die Zeiten der ungehemmten Propagierung der Kernenergie sind aus verschiedensten (ökonomischen, sicherheitstechnischen, umweltpolitischen, entsorgungstechnischen, entwicklungspolitischen) Erwägungen weltweit zu Ende gegangen; ebenso ist der Ost-West-Konflikt begraben. Ist es da nicht Zeit, über eine neue Einbettung des NPT in die internationale Politik nachzudenken? Die alte Block-Konfrontation führte wie üblich zu einer Festschreibung des Status quo der Machtverhältnisse, so auch im NPT, der den fortdauernden Besitz von Kernwaffen für wenige im Kern trägt, sofern nicht mit der nuklearen Abrüstung auf Null Ernst gemacht wird. Die längst überholte Kernenergieeuphorie führte zu der widersprüchlichen und fatalen Grundannahme des NPT, die Weiterverbreitung von Kernwaffen könne bei gleichzeitiger Proliferation im Bereich »ziviler« Nukleartechnologie aufgehalten werden. Ein Umdenken wäre nach Beilegung des Ost-West-Gegensatzes und bereits erfolgten ersten Schritten zur nuklearen Abrüstung der Supermächte, sowie bei einer dringend nötigen Entmystifizierung des angeblich unverzichtbar notwendigen Zugangs zu fortgeschrittener Nukleartechnologie möglich. Das oben erwähnte Dreiklassensystem des Zugangs zu nuklearen Technologien und die damit verbundenen Einfluß- und Technologiebarrieren müßte aufgebrochen werden. Bei Einführung eines weitgehenderen Souveränitätsverzichts aller Staaten und von Selbstbeschränkungen im Gebrauch der Nukleartechnologie wäre die im Grunde künstliche (einseitige) Beschränkung des Exportes nur noch für eine Übergangszeit erforderlich und würde die Glaubwürdigkeit einer dann »ungeteilten« Non-Proliferationspolitik der »Habenden« erhöhen. Kontraproduktiv und widersinnig erscheint dagegen die Aufrechterhaltung der Drohung mit Kernwaffen als Mittel gegen die Verbreitung von Kernwaffen.

Die Debatten über die Verlängerung des NPT im Jahre 1995 bergen die historische Chance in sich, die diskriminierende Interpretation des NPT, die lediglich den horizontalen Aspekt der Proliferation betont, radikal zu verändern. Der NPT Verlängerungsprozeß könnte zum Wendepunkt des »nuklearen Zeitalters« werden. Der Glaube an die Rationalität von Kernwaffen, wo auch immer auf der Welt, könnte endgültig gebrochen werden. Das Konzept der nuklearen Abschreckung, das für Jahrzehnte die Welt bedroht, muß bald verschwinden. Die nuklearwaffenfreie Welt, wie im NPT bereits anvisiert, sollte zum erreichbaren Ziel werden.12 Die Transformation des Non-Proliferations-Regimes, in dessen Kern der NPT steht, zu einer Konzeption einer nuklearwaffenfreien Welt sollte schrittweise betrieben werden.13

Vorschläge für Maßnahmen

Eine Fülle von Vorschlägen kann in Hinblick auf die Bearbeitung der Gefahren der horizontalen und vertikalen Proliferation und dem Ziel nuklearer Abrüstung gemacht werden14. Hier soll im Wesentlichen auf eine mögliche Politik der Kernwaffenstaaten und der im Prinzip nuklearwaffenfähigen Industriestaaten, wie Deutschland, eingegangen werden.

Unter Beibehaltung des NPT auf Zeit sollten begleitende Schritte zur Transformation des Non-Proliferationsregimes eingeleitet werden. Dies könnte auch ein Weg sein, wesentliche Staaten, die dauerhaft außerhalb des NPT stehen, zunehmend in die Bemühung um Non-Proliferation und Abrüstung einzubinden, ohne ihnen die Zustimmung zum abgelehnten NPT aufzuzwingen. Ein hilfreicher Weg in der aktuellen Situation wären einseitige, völkerrechtlich verbindliche Erklärungen der Kernwaffenstaaten und wichtiger Industrienationen. Das können auch zusätzliche internationale Verträge mit Bezug zum NPT sein oder Initiativen, die kurz- oder mittelfristig dahin führen sollen, um breitere multinationale Unterstützung zu erreichen.

Darin sollten sich die Kernwaffenstaaten verpflichten

  1. zu einem vollständigen Teststopp (unter Ausschluß von Umgehungstechnologien)15 ;
  2. zu einem Ende der Produktion waffengrädiger Materialien in Mengen, die für Kernwaffen relevant sind (HEU, Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung, Tritium)16 ;
  3. zu weiteren einschneidenden Reduzierungen der Kernwaffenarsenale mit Angabe eines verbindlichen zeitlichen »Fahrplans« zur nuklearen Abrüstung (nicht nur in den USA und Rußland)17;
  4. zu full-scope safeguards in allen ihren von Kontrollen bisher ausgenommenen Nuklearanlagen;
  5. zum Ende aller kernwaffenrelevanten Forschung und Entwicklung.

Im Prinzip nuklearwaffenfähige Industriestaaten und die Kernwaffenstaaten sollten sich verpflichten zum Verzicht auf Nutzung spezifischer sensitiver Technologien, wie Wiederaufarbeitung (obwohl der NPT die Nutzung jeglicher »ziviler« Nukleartechnologie erlaubt); zum Verzicht auf jegliche Plutoniumnutzung im Brennstoffkreislauf; zum Verzicht auf Nutzung hochangereicherten Urans (HEU) in allen Reaktoren und Bemühung um Internationalisierung der Anreicherung jenseits nationaler Oberhoheiten; zur Internationalisierung aller Lager waffengrädiger Spaltstoffe unter Einschluß von Tritium; zum Verzicht auf die Entwicklung neuer sensitiver Nukleartechnologien, wie Laserisotopentrennung, Trägheitseinschlußfusion, schnellen Brutreaktoren, beschleunigergestützter Materialproduktion; zur Bereitstellung von erheblichen Finanzmitteln für die Ausstattung einer Internationalen Energiebehörde, die die Entwicklung und Verbreitung nicht-nuklearer Energieträger in offener internationaler Kooperation anstrebt.

Das wären erste Schritte, die jetzt sofort möglich wären, und deutliche Signale setzen würden. Was spräche dagegen, daß sich beispielsweise Indien und Pakistan an einem von den USA und Rußland initiierten Produktionsstopp für waffenfähige Materialien (zunächst vielleicht begrenzt auf das für die letzteren kaum empfindlich spürbare Verbot der Neuproduktion waffengrädiger spaltbarer Materialien, die in Hülle und Fülle vorhanden sind) anschließen, ohne dem abgelehnten NPT beizutreten? Sie wären so aber endlich eingebunden in internationale, streng verifizierte Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen, die ungeteilt und universell (ohne Diskriminierung) anwendbar sind. Was spräche gegen ein beispielsweise von Deutschland, Schweden, USA und Belgien initiiertes Abkommen, das den Verzicht auf Plutoniumnutzung bekannt gibt, und das u.a. Brasilien, Nordkorea und Japan ein überzeugendes Vorbild für einen gleichartigen Schritt gäbe? Ist mit dem Angebot der partnerschaftlichen Entwicklung alternativer, regenerativer Energieträger dem Ziel der Nichtweiterverbreitung von sensitiver Nukleartechnologie mittel- und langfristig nicht mehr gedient, als mit dem Beharren auf dem Sinn großer nationaler Nuklearprogramme (und dem Lippenbekenntnis zu ungeteilter internationaler Kooperation) bei gleichzeitiger Teilung des Technologiezugangs mithilfe von Exportbeschränkungen?

Wer eine »unendliche« Verlängerung des NPT fordert, so wie es beispielsweise die wichtigsten NATO-Länder tun, muß entschiedene Schritte zur Abrüstung ergreifen und das Dual-use Problem im Bereich sensitiver Technologien über Exportkontrollen hinaus durch Selbstbeschränkung im eigenen Gebrauch und offene internationale Kooperation in überlebenswichtigen Technologiebereichen angehen. Ohne daß sich hier erhebliche Fortschritte in den nächsten zwei Jahren wenigstens andeuten, wird es unwahrscheinlicher, das der NPT im Einvernehmen der ganzen Völkergemeinschaft erfolgreich verlängert werden kann.

Vorschläge für eine deutsche Position in Bezug zum NPT

Die Bundesregierung sollte »Druck« auf die Kernwaffenstaaten, der ja zum Teil »partnerschaftlicher Druck« wäre, ausüben, die im letzten Abschnitt aufgelisteten Schritte der Kernwaffenstaaten zu erreichen. Dabei sollten die außerhalb des NPT stehenden De-facto-Kernwaffenstaaten miteinbezogen werden. Deutschland könnte partiell eine Moderatorrolle zukommen, die versucht, die Kernwaffenstaaten und Schwellenländer mit großer Distanz zum NPT zu überzeugen, unabhängig davon gemeinsame Begrenzungs- und Abrüstungsschritte mit (oder ohne) den etablierten Fünf (und anderen) auszuhandeln. Weiterhin sollten insbesondere die industrialisierten NPT-Mitgliedsländer, die nicht selber Kernwaffen besitzen, zu den im vorausgegangenen Abschnitt angegebenen Schritten überzeugt werden.

So könnte die deutsche Regierung

  1. für eine Verlängerung des NPT unter Einschluß eines regelmäßigen Review-Prozesses eintreten (der »Hebel« des Artikel VI sollte nicht aus der Hand gegeben werden);
  2. für entsprechende völkerrechtlich verbindliche Zusatzerklärungen und -vereinbarungen mit Bezug zum NPT werben;
  3. eine tiefgreifende Reform der IAEO anregen (unter Einschluß der Gründung einer Internationalen Energieagentur);
  4. die Transformation des Non-Proliferationsregimes durch Einbettung in eine Konzeption der nuklearwaffenfreien Welt propagieren.

Überzeugend würde eine solche deutsche Position allerdings erst, wenn eigene entschiedene Schritte in die anvisierte Richtung ergriffen würden. Ein solcher deutscher Maßnahmenkatalog sollte den Zielen dienen:

  • Schritte zur Aufhebung der Wahrnehmung des NPT als eines diskriminatorischen Vertrages;
  • Bearbeitung der NPT-inhärenten Ambivalenz- und Dual-use-Problematik;
  • Glaubwürdigkeit und Übertragbarkeit der Position auf alle Staaten durch eindeutigen Selbstverzicht;
  • Erreichung maximaler Proliferationsresistenz des genutzten Brennstoffkreislaufes, insbesondere Vermeidung des Erhaltes wissenschaftlich-technologischer Optionen, die für Kernwaffen wesentliche Voraussetzungen sind;
  • Internationalisierung des Prozesses, der die Transformation des NPT will.

Der Katalog möglicher Maßnahmen für die deutsche Exekutive enthält (unter Angabe der Handlungs-Konsequenzen):

  1. Verzichtserklärung: kein Interesse an der Nutzung ziviler Kernsprengungen (außer Abgabe der Erklärung im direkten Bezug zum NPT keine Handlungskonsequenzen);
  2. erklärter Verzicht auf HEU-Produktion und HEU-Nutzung (Verzicht auf die gegenwärtige Konzeption des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors FRM II);
  3. Verzicht auf Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente auf deutschem Boden (zur Zeit de-facto keine weitere Handlungskonsequenz)
  4. Verzicht auf Plutoniumnutzung (Konsequenzen: 1. Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge im Ausland, insbesondere mit der französischen Cogema und der britischen THORP; 2. Ende der Mischoxidnutzung (MOX) in deutschen Reaktoren; 3. »Aus« für die neue Hanauer Brennelementefabrik);
  5. allgemeine Erklärung der Nicht-Produktion und Nicht-Nutzung waffengrädigen Nuklearmaterials in für Kernwaffen relevanten Mengen (Konsequenzen wie oben; hinzu käme die Nichtnutzung von Tritium);
  6. nationale Schritte zur Internationalisierung aller Lager waffenfähigen Materials (Übergabe deutscher Plutoniumvorräte an eine internationale Behörde)
  7. Verzicht auf Weiterentwicklung neuer proliferationsträchtiger Nukleartechnologie (forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen mit Einfluß auf Programme zur Trägheitseinschlußfusion, zur Laserisotopentrennung, zu bestimmten Beschleunigerentwicklungen, zur Brüterentwicklung);
  8. Aufrechterhaltung der strikter gewordenen Exportkontrolle und ihre ungeteilte Anwendung bis das Prinzip »exportiert werden kann, was auch im eigenen Land für unverzichtbar gehalten wird« maßgeblicher werden kann (Konsequenzen: keine Aufweichung der Gesetzgebung im Dual-use Bereich oder im Rahmen der anstehenden euröpäischen »Harmonisierung« der Kontrollrichtlinien; keine Exporte mehr, die im Zusammenhang mit Kernwaffenprogrammen von Kernwaffenstaaten stehen)
  9. Eintreten für die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Mitteleuropa (Konsequenzen: Abzugsforderung für die noch immer auf deutschem Boden stationierten Kernwaffen);
  10. massive Entwicklung von Alternativen zur Kernenergienutzung insbesondere in Kooperation mit sich entwicklenden Ländern (institutionelle und forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen unter Einschluß internationaler Kooperationsprogramme; Initiative für eine entsprechende Internationale Behörde; (Fort-)Entwicklung von Aus- und Umstiegsszenarien);
  11. Förderung der Entwicklung von Wegen zur Zerstörung von Plutonium (forschungs- und technologiepolitische Konsequenzen).

Dies wären eindeutige und glaubwürdige Schritte auf dem Weg in eine nuklearwaffenfreie Welt. Eine Umsetzung im nationalen Rahmen – zunächst fokussiert auf einige der Vorschläge18 – wäre anzustreben. International sollte (gerade auch durch konkrete eigene Schritte) für eine solche Neukonzeption im Bereich Non-Proliferation und Abrüstung geworben werden. Dazu gehört mittelfristig die Aushandlung eines neuen, erweiterten Vertrages (»Konvention über die Erreichung einer kernwaffenfreien Welt«), der den NPT eines Tages ersetzen kann und den Übergang in die nuklearwaffenfreie Welt international verbindlich regelt.

Schlußbemerkung

Carl Friedrich von Weizsäcker hat immer wieder betont, daß die Bedrohung der Welt mit Kernwaffen höchstens dann irgendeinen Sinn haben könnte, wenn in der Atempause, die diese tatsächlich schaffen könnte, Anstrengungen erfolgreich würden, die Institution des Krieges überhaupt zu überwinden. Nach Ende des Kalten Krieges ist die Zeit reif, diese Bemühung dringlich einzufordern. Der Abrüstungsprozeß für die bereits existierenden Kernwaffen wird allein schon aus technischen Gründen mindestens ein bis zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen (vermutlich mehr). Die verbleibende »Atempause« unter Fortexistenz von Kernwaffen ist also notgedrungen lang. Die Entscheidung für das Ziel einer kernwaffenfreien Welt muß aber bereits jetzt fallen, ansonsten werden die Kernwaffen von den »Habenden« auf Dauer als Macht- und Drohmittel eingesetzt und bleiben begehrlich für andere Staaten. Die politische und technische Realisierung dieses Ziel bleibt eine Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte.

Anmerkungen

1) Eine Grundlage ist die »Stellungnahme zu aktuellen Problemen der nuklearen Non-Proliferation aus naturwissenschaftlicher Blickrichting«, die mit Datum vom 10.3.1993 von W.Liebert und M.Kalinowski für die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« erarbeitet wurde. (Abgedruckt im »Dossier Verbreitung von Atomwaffen«, Wissenschaft und Frieden, 11. Jg. 1/1993.) Dort wird wird die Weiterverbreitungsproblematik ausgiebiger behandelt. Zurück

2) Für den vollständigen Text, vergl. Bundesgesetzblatt, Jg. 1974, Teil II, Nr.32 (8.6.1974), S.785-793. Zurück

3) Als Kernwaffenstaat gilt, wer vor dem 1.1.1967 eine Kernwaffe hergestellt oder gezündet hat (Artikel IX). Nach dieser definitorischen Festlegung sind seit 1992 »alle« Kernwaffenstaaten, nämlich USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und China, Mitglieder des NPT. Zurück

4) UN-Dokumente werden zitiert nach: UN Department of Political and Security Council Affairs, The United Nations and Disarmament 1945-1970, United Nations, New York, 1970. Zurück

5) Zitiert nach W.Epstein, The Non-Proliferation Treaty and the Review Conferences – 1965 to the Present, in: R.D.Burns (ed.), Encyclopedia of Arms Control and Disarmament, New York: Charles Scribners's Sons, 1993, S. 855-875. Zurück

6) Vergleiche dazu ausführlicher W.Liebert, Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologie, in: E.Müller, G.Neuneck (Hrsg.), Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden: Nomos, 1991, S.147-167; W.Liebert, M.Kalinowski, E.Kankeleit, K.Nixdorff, A.Schaper, J.Scheffran, Proliferation von Massenvernichtungswaffen aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: U.Kronfeld et al. (Hrsg.), Naturwissenschaft und Abrüstung, Münster: Lit-Verlag, 1993, S.120-174. Zurück

7) John Holdren, Civilian Nuclear Technologies and Nuclear Weapons Proliferation, in: C.Schaerf, B.H.Reid, D.Carlton (Hrsg.), New Technologies and the Arms Race, MacMillan Basingstoke 1989, S.161. Zurück

8) Ausreichen würden (in Abhängigkeit von der verwendeten Sprengtechnik) jeweils einige Kilogramm Plutonium bzw. in der Größenordnung von 10 bis 20 Kilogramm HEU ~<-10> <0>90<-10> <0>% Anreicherung). Zurück

9) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, (erweiterte Fassung der ersten Fassung von 1984), IANUS-Arbeitsbericht 1/1989. Zurück

10) Zu Verbesserungsvorschlägen im Safeguards-Bereich vergl. W.Liebert, M.Kalinowski, Present problems of nulcear non-proliferation (and nuclear disarmament) from a natural scientists point of view, Proffered paper 43rd Pugwash Conference on Science and World Affaires, Sweden, June 1993 (auch als IANUS-Arbeitsbericht 5/1993 erhältlich). Zurück

11) Wie »die Bombe« gebaut werden kann, ist kein prinzipielles Geheimnis mehr. Die wesentliche Schwelle für die Möglichkeit, Kernwaffen zu bauen, ist tatsächlich der Zugriff auf waffentaugliches Material. Aber für deren Produktion werden Nuklearanlagen benötigt, die nur halbherzig in Sicherungsmaßnahmen einbezogen sind. Zurück

12) Vergl. ausführlicher J.Rotblat, J.Steinberger, B. Udgaonkar (Hrsg.), A Nuclear-Weapon-Free World – Desirable? Feasable?, A Pugwash Monograph, Boulder: Westview Press, 1993. Zurück

13) Diesem Ziel dient auch der im Dezember 1993 herausgebrachte Aufruf einer International Coalition for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament – Working Together for a Nuclear Weapon-Free World. Vergl. Nachrichten in den »blauen Seiten« dieses Heftes. Zurück

14) Vergl. dazu ausführlich W.Liebert/M.Kalinowski (1993), op.cit. Zurück

15) Der möglichst weitgehende Ausschluß von bereits bekannten Umgehungstechnologien wäre wünschenswert. Eine Verbesserung von neu ausgehandelten Rüstungskontrollvereinbarungen würde so durch Beachtung des in der Vergangenheit gering geachteten Präventionsprinzipes erreicht, die den technischen Vorsprung einiger Länder nicht mehr belohnt bzw. dessen Nutzung zur Umgehung der Vertragsziele einzuschränken sucht. Zurück

16) Ein solcher »cut-off« sollte sich nicht auf das Ende der Materialproduktion für Waffenzwecke beschränken, sondern die prinzipielle Waffenfähigkeit der angegebenen Stoffe zum Ausschlußkriterium machen. Zurück

17) Nachfolgende Verträge sollten neben der Zerstörung der Kernwaffen selbst, eine internationale Überwachung der vorübergehenden Lagerung der entnommenen waffengrädigen Materialien, ihre langfristig vorzunehmende Zerstörung bzw. sichere Endlagerung, sowie die Zerstörung der zugehörigen Trägersysteme vorsehen. Zurück

18) Vorschlag 1. wäre »billig« zu haben, wäre aber ein »Einfallstor« für die Konzeption, den »mangelhaften NPT« in der angestrebten Weise zum Ausgleich seiner Schwächen einzubetten. Vorschläge 2., 3., 4., 6. und teilweise 7. könnten beispielsweise in gebündelter Form einem international auszuhandelnden Produktions-Cut-off korrespondieren. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Hochschule Darmstadt. Er ist Mitglied des Beirates der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« und Mitglied des Coordinating Committee des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).

Vor dem Durchbruch?

Vor dem Durchbruch?

Die Genfer Verhandlungen über ein umfassendes Verbot chemischer Waffen

von Joachim Badelt

Die weltweite Bedrohung durch chemische Waffen (CW) nimmt ständig zu. Dabei sind zwei Tendenzen zu beobachten: Die Zahl der Staaten, die die Möglichkeit zur Herstellung chemischer Waffen erlangen, wächst stetig und die Hemmschwelle zu einem Einsatz scheint immer niedriger zu werden. Zwar wurden vom Irak im Krieg mit den USA und deren Verbündeten trotz unverhohlener Drohungen keine chemische Waffen eingesetzt. Doch im Krieg gegen den Iran hat der Irak ebensowenig vor dem Einsatz chemischer Waffen zurückgeschreckt wie in seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden und andere Bevölkerungsgruppen im eigenen Lande. Aber der Irak ist nur ein, wenn auch das brisanteste Beispiel für die weltweit zunehmende Gefahr eines CW-Einsatzes.

Seit vielen Jahren wird das bisher gültige Regime zur Verhinderung von Chemiewaffeneinsätzen, das Genfer Giftgasprotokoll von 1925, nicht mehr als ausreichend erachtet, einen Einsatz dieser furchtbaren Massenvernichtungswaffe zu verhindern. Vor allem, da durch das Genfer Giftgasprotokoll nur der Erst-Einsatz, nicht jedoch Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Besitz und Weitergabe von chemischen Waffen untersagt werden.

Ein solch umfassendes Verbot soll durch ein neues Abkommen erreicht werden, über das in Genf im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) seit über zwanzig Jahren verhandelt wird.

Die CW-Verhandlungen der Genfer Abrüstungskonferenz

Die Genfer Abrüstungskonferenz ist das wichtigste Forum für die Bemühungen um die weltweite Eliminierung chemischer Waffen. Ihre Bedeutung liegt auch darin, daß sie das einzige auf Dauer angelegte multilaterale Verhandlungsforum ist, dessen 39 Verhandlungsteilnehmer die gesamte Staatengemeinschaft repräsentieren sollen.

Die Mitgliedsstaaten der Abrüstungskonferenz treten während der Sitzungsperioden, die jeweils von Februar bis April (»Frühjahrssitzung«) und von Juni bis August (»Sommersitzung«) dauern, zweimal wöchentlich in öffentlichen Plenarsitzungen zusammen, in denen alle formellen Beschlüsse gefaßt werden. Seit 1980 gibt es einen sog. »Ad-Hoc-Ausschuß für chemische Waffen«, dem alle Verhandlungsteilnehmer angehören. In diesem Gremium, das in nicht-öffentlichen Sitzungen tagt, werden die politischen und technischen Detailprobleme verhandelt.

Die in den Treffen des CW-Ad-Hoc-Ausschusses erreichten gemeinsamen Positionen werden zum Schluß der jeweiligen Sitzungsperiode in einem Bericht festgehalten. Dieser Bericht besteht im wesentlichen aus dem »Rolling Text«,1 der den aktuellen Stand der Verhandlungen wiedergibt. Der Rolling Text ist ein Entwurf des Konventionstextes. Er bildet eine Grundlage für die weitere Entwicklung der Konvention. Der Text hat im Laufe der letzten Jahre immer mehr Gestalt angenommen und enthält heute 20 Artikel mit Anhängen auf 245 Seiten. Er ist, was Länge und Detailregelungen anbetrifft, ohne Beispiel in der Geschichte von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen. Obwohl er für keine der Verhandlungsdelegationen bindend ist, stellt er »kraft des Faktischen« eine solide Grundlage für den endgültigen Vertragstext dar.

Verhandlungsverlauf

Die CW-Verhandlungen auf der Genfer Abrüstungskonferenz begannen, wie es ein beteiligter Diplomat ausdrückte, „langsam und vorsichtig“. Erst im Jahr 1977 traten sie mit Beginn zusätzlicher bilateraler Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion in eine intensivere Phase.

Nach dem Amtsantritt von US-Präsident Reagan im Jahre 1980 ging eine Neuorientierung der Rüstungskontrollpolitik der US-Administration einher. Mit der allgemeinen Verschlechterung des politischen Klimas zwischen den beiden Großmächten kam es auch zu einer Stagnation der Verhandlungen. Es erwies sich jedoch, daß andere Staaten an einer Intensivierung zumindest aber an einer Aufrechterhaltung, des Verhandlungsprozesses interessiert waren. Dies zeigte sich u.a. in der Verlagerung der Verhandlungsbemühungen in den CW-Ad-Hoc-Ausschuß.

Ab 1984 kam es zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen den beiden Großmächten. Im Jahr 1986 wurden dann wieder regelmäßige, bilaterale Gespräche zwischen den USA und der Sowjetunion aufgenommen. Gleichzeitig zeichnete sich ein Einlenken der Sowjetunion in der Verifikationsproblematik ab. Die Veränderung der sowjetischen Rüstungskontrollpolitik unter Michail Gorbatschow führte dazu, daß die Sowjetunion im Laufe des Jahres 1987 allen Forderungen der USA, insbesondere in der umstrittenen Frage der Vor-Ort-Inspektionen, im wesentlichen zustimmte.

Zu Beginn der Frühjahrsitzung 1988 zeigte sich jedoch, daß nicht mit dem baldigen Abschluß einer CW-Konvention zu rechnen war. Vor allem neue Vorbehalte der US-amerikanischen und der französischen Regierung, die mit der Produktionsaufnahme binärer C-Waffen durch die USA und französischen Plänen für den Beginn einer CW-Produktion einhergingen, verlangsamten den Fortgang der Verhandlungen.

Wesentliche Fortschritte waren auch 1989 und 1990 nicht zu erkennen. Zwar wurde der Vertragstext in wichtigen Teilen fortgeschrieben und es wurden bilaterale Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion getroffen; dennoch blieben wesentliche politische Fragen ungelöst.

Die Frühjahrssitzung 1991 stand unter dem Eindruck des Golfkrieges. Die Folgen eines möglichen Einsatzes von C-Waffen auf den Fortgang der Verhandlungen waren nicht abzusehen. Es wurde sogar ein endgültiges Scheitern der Verhandlungen befürchtet. Es stellte sich jedoch heraus, daß nach Ende des Golfkrieges die Rolle von C-Waffen in militärischen Auseinandersetzungen neu beurteilt wurde. Die Tatsache, daß der Irak selbst bei der sich abzeichnenden Niederlage nicht auf seine großen Arsenale an chemischen Waffen zurückgriff, führte in den USA zu einer Revision der Politik, die eine Existenz von CW-Beständen zur Abschreckung und Vergeltung von CW-Angriffen für notwendig erachtete. Als Folge kam es zu Beginn der Sommersitzung im Mai 1991 zu einer politischen »Initiative« von US-Präsident Bush,2 die soweit es die Position der Vereinigten Staaten anbetrifft, eine deutliche Bereitschaft zum baldigen Abschluß des Vertrages signalisierte und eine Revision ihrer hinhaltenden Verhandlungsführung bedeutete.

Wichtige Verhandlungsgegenstände

Definition von Chemiewaffen

Bei der Definition von chemischen Waffen besteht weitgehende Einigkeit unter den Verhandlungsdelegationen. So werden unter chemischen Waffen verstanden: (1) Toxische Chemikalien und ihre Vorprodukte, außer Chemikalien für solche Zwecke, die von der Konvention nicht verboten werden; (2) Munition und sonstige Vorrichtungen, die dazu dienen, die oben genannten Chemikalien freizusetzen; (3) Ausrüstungen, die für die Anwendung der oben genannten Munition oder Vorrichtungen besonders konstruiert sind. Dabei wird auch bereits dann von einer »chemischen Waffe« gesprochen, wenn nur eines der genannten Kriterien vorliegt.

Umstritten ist allerdings die Zuordnung von Reizgasen (CS, CN, CR) und Pflanzenvernichtungsmitteln (Herbizide). Die Einbeziehung von Reizgasen stößt bei vielen Regierungen auf Widerstand, da sie ihre Polizeikräfte damit ausstatten und nicht auf dieses innerstaatliche Gewaltmittel verzichten wollen. Gegen die Einbeziehung von Herbiziden wenden sich vor allem die USA. Es ist davon auszugehen, daß diese Giftstoffe nicht in die Verbotskonvention aufgenommen werden, da gegen den erklärten Widerstand einiger Staaten in dieser Frage kein Abkommen möglich sein wird.

Vernichtung von Chemiewaffen und Produktionsanlagen

Die Verhandlungsdelegationen haben sich im wesentlichen über die Vorgehensweise bei der Vernichtung der chemischen Waffen geeinigt. Dabei besteht Übereinstimmung darüber, daß die Sicherheit keines Staates während der Vernichtungsperiode beeinträchtigt werden darf. Dies bedeutet, daß nach den im Rolling Text festgelegten Modalitäten der CW-Vernichtung alle Staaten mit vergleichbaren Beständen dem Abkommen in etwa gleichzeitig beitreten müßten, wenn das »Prinzip der gleichen Sicherheit« gewahrt bleiben soll. Die mit Abstand größten CW-Besitzer, USA und Sowjetunion, haben übereinstimmend erklärt, zu den Erstunterzeichnern der Konvention gehören zu wollen. Das Prinzip der gleichen Sicherheit stellt jedoch besondere Anforderungen an Regionen wie beispielsweise den Nahen und Mittleren Osten. Es ist unvorstellbar, daß beispielsweise Syrien das Abkommen unterzeichnet, solange nicht auch Israel beigetreten ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Staaten, von denen angenommen wird, daß sie über C-Waffen verfügen, auch tatsächlich im Besitz solcher Waffen sind. Allerdings könnte das Problem des gleichzeitigen Beitritts dadurch gelöst werden, daß alle Staaten, die dem Abkommen beitreten wollen, auf einer regionalen oder internationalen Beitrittskonferenz die Konvention gemeinsam unterzeichnen.

Was die bestehenden C-Waffen und Produktionsanlagen anbetrifft, müßten sie innerhalb von 30 Tagen nach Inkrafttreten der Konvention deklariert werden. Sie werden dann unter ständige internationale Überwachung gestellt. Innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren sind alle chemischen Waffen und CW-Produktionsanlagen nach einem festgelegten Modus vollständig zu vernichten.

Die USA und Frankreich erhoben zeitweise die Forderung, solange sog. »Sicherheitsbestände« zu behalten, bis alle Staaten, die über die Möglichkeit verfügen, C-Waffen herzustellen (etwa 60), dem Abkommen beigetreten sind. Diese Forderung war wegen ihres diskriminierenden Charakter ein großes Hindernis auf dem Weg zu einem Vertragsabschluß. Viele Staaten waren nicht bereit zu akzeptieren, daß einige Staaten einen Teil ihrer CW-Bestände behalten und alle anderen mit dem Beitritt zu Konvention völlig auf sie verzichten müßten. Außerdem hätte eine solche Regelung Staaten ohne CW-Bestände zum Aufbau eigener »Sicherheitsbestände« provoziert. Dies wurde offensichtlich auch erkannt, und so wurde diese Position von Frankreich im September 1989 und von den USA im Mai 1991 aufgegeben.

Es muß an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen werden, daß das Problem einer umweltverträglichen Vernichtung großer Mengen chemischer Waffen nach wie vor nicht gelöst ist. Die Verbrennungsanlage der USA auf dem Johnston Atoll im Südpazifik soll inzwischen zwar relativ störungsfrei arbeiten, es wird jedoch kaum gelingen, die angestrebten Vernichtungszeiträume einzuhalten. Die Sowjetunion verfügt bislang über keine einzige funktionierende Anlage zur Vernichtung größerer Mengen chemischer Waffen. Wenn schon die industrialisierten Staaten solche Probleme mit der Vernichtung haben, ist davon auszugehen, daß CW-Besitzer in der Dritten Welt über keinerlei Kapazitäten zur umweltverträglichen Vernichtung verfügen.

Verifikation

Im Mittelpunkt des Interesses bei den CW-Verhandlungen steht die Frage, wie die Einhaltung der Vertragsbestimmungen überwacht werden kann. Die Besonderheiten von chemischen Waffen erfordern ein System von Verifikationsmaßnahmen, das bislang in rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen kein Beispiel kennt. Zum einen ist die Vernichtung der CW-Bestände und Produktionsanlagen zu kontrollieren; zum anderen geht es darum, die Einhaltung des Produktionsverbots chemischer Waffen sicherzustellen. Das bedeutet, daß auch diejenigen Produktionsanlagen der chemischen Industrie zu überwachen sind, die zivile Produkte herstellen. Zahlreiche in der zivilen Produktion verwandte Chemikalien sind hoch-toxisch. Ihre Produktion wird aber weiterhin erlaubt sein. Im Vertragstext wird in diesem Zusammenhang von „nicht verbotenen Aktivitäten“ gesprochen. Diese sind jedoch daraufhin zu kontrollieren, ob nicht unter dem Deckmantel ziviler Produktion chemische Waffen hergestellt werden.

Wir leben in einer Welt voll von chemischen Anlagen, von denen viele, rein technisch gesehen, für die Produktion von chemischen Waffen mißbraucht werden könnten. Es wird vor allem aus Kostengründen nicht möglich sein, alle potentiellen CW-Produktionsanlagen regelmäßig zu kontrollieren. Um dennoch die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu gewährleisten, soll ein System von Routine- und Verdachtskontrollen eingerichtet werden.

Routinekontrollen sollen in regelmäßigen Abständen in den deklarierten Anlagen stattfinden. Um die Routinekontrollen möglichst effektiv zu gestalten, wurden drei Kategorien von Stoffen geschaffen. In Kategorie 1 sind diejenigen Substanzen aufgelistet, die für die Produktion von chemischen Waffen (u.a. aufgrund ihrer hohen Toxizität) das höchste Risiko darstellen und deren Verwendung für zivile Zwecke nur in relativ geringen Mengen notwendig ist. Stoffe, die in diese Kategorie fallen, dürfen nur in dafür bestimmten Produktionsanlagen in sehr geringen Mengen (1 Tonne pro Jahr und Staat) hergestellt werden und unterliegen einer sehr strengen Überwachung, die auch regelmäßige Vor-Ort-Kontrollen beinhaltet. In Kategorie 2 sind Stoffe erfaßt, die ein beträchtliches Risiko für einen Mißbrauch darstellen, die jedoch in der zivilen Produktion weitgehend Verwendung finden. Die Kontrollen werden weniger intensiv als für Kategorie-1-Stoffe ausfallen, jedoch auch regelmäßige Vor-Ort-Kontrollen einschließen. In Kategorie 3 sind Chemikalien und chemische Vorprodukte enthalten, die in der chemischen Industrie in sehr großen Mengen für zivile Produkte verarbeitet werden. Über diese Chemikalien müssen jährliche Mengenangaben hinsichtlich Produktion und Weiterverarbeitung gemacht werden, allerdings sind keine routinemäßigen Vor-Ort-Kontrollen vorgesehen.

Durch Routinekontrollen wird es jedoch nicht möglich sein, alle in Frage kommenden Anlagen so regelmäßig zu überprüfen, daß ein Mißbrauch weitgehend ausgeschlossen werden kann. Vor allem werden durch das System der Routinekontrollen nur alle deklarierten Anlagen erfaßt. Um aber alle, d.h auch nicht-deklarierte, Anlagen kontrollieren zu können, wurde das Instrument der sog. Verdachtskontrollen geschaffen. Sie sollen Vor-Ort-Inspektionen „zu jeder Zeit“ und „an jedem Ort“ erlauben, wenn ein Vertragsstaat dies fordert. So wäre es z.B. möglich gewesen, vorausgesetzt Libyen und die USA wären Vertragsstaaten einer schon bestehenden Konvention gewesen, auf Ersuchen der USA innerhalb von 24 Stunden ein internationales Inspektionsteam nach Rabta zu entsenden. Die Inspektoren hätten vor Ort überprüfen können, ob dort chemische Waffen oder tatsächlich nur pharmazeutische Stoffe produziert worden sind.

Die Verdachtskontrollen gehören zu den Verhandlungsgegenständen, die nach wie vor umstritten sind. Insbesondere die Staaten in der Dritten Welt befürchten einen Mißbrauch für politische oder geheimdienstliche Zwecke. Aber auch die chemischen Industrien in den Industriestaaten und die Militärs stehen den Verdachtskontrollen skeptisch gegenüber. Erstere fürchten um ihre Geschäftsgeheimnisse und letztere einen möglichen Mißbrauch zur nachrichtendienstlichen Ausforschung. Zwar wurden in der Vergangenheit verschiedene Vorschläge unterbreitet, die den geäußerten Bedenken Rechnung tragen und trotzdem eine effektive Durchführung von Verdachtskontrollen ermöglichen sollen; dennoch ist immer noch nicht absehbar, wann und wie dieses Problem gelöst werden kann. Es könnte sich somit als großer »Stolperstein« auf dem Weg zu einem Vertragsabschluß erweisen.

Etablierung einer internationalen Verifikationsorganisation

Die zahlreichen Verifikationsaufgaben werden von einer internationalen Organisation wahrgenommen werden, die speziell zu diesem Zweck geschaffen werden soll. Sie würde vermutlich mehrere hundert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben und über ein Jahresbudget von mehreren hundert Millionen DM verfügen.

Die Organisaton soll aus drei Sub-Organen bestehen: der »Konferenz der Vertragsstaaten«, dem »Exekutivrat« und einem »Technischen Sekretariat«. Die Staatenkonferenz bildet das oberste Organ, dem alle Unterzeichnerstaaten angehören werden. Die wichtigen Entscheidungen sollen allerdings im Exekutivrat getroffen werden, der im Gegensatz zur Generalkonferenz ein ständiges Organ sein wird, dessen Mitgliederzahl begrenzt bleibt. Dies wirft die schwierige Frage einer angemessenen Repräsentation aller Vertragsstaaten auf, die bis heute nicht gelöst wurde. Es gibt auch noch erhebliche Meinungsunterschiede über die konkrete Aufgabenverteilung und Entscheidungsbefugnisse innerhalb der neuzubildenden Organisation, insbesondere darüber, wieviel Macht von der Staatenkonferenz an den Exekutivrat delegiert werden soll.

Perspektiven

Angesichts der zunehmenden Weiterverbreitung chemischer Waffen gibt es keine Alternativen zu der angestrebten Konvention, die für ein umfassendes Verbot dieser Massenvernichtungswaffen sorgen soll. Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung dieses Vorhabens besteht allerdings in der Universalität des Abkommens. Das bedeutet, daß nicht nur alle CW-Besitzer Vertragsparteien werden müssen, sondern auch möglichst alle Staaten, die über die Fähigkeit zur Herstellung chemischer Waffen verfügen. In dieser Hinsicht »relevante« Staaten sind neben allen Industriestaaten auch viele Staaten in der Dritten Welt. Es genügt also nicht, wenn sich die beiden Großmächte USA und Sowjetunion einig sind, ihre CW-Arsenale abzurüsten. Darüber hinaus sind Maßnahmen zu ergreifen, die es für alle relevanten Staaten günstiger erscheinen läßt, der Konvention beizutreten.

Die Chancen stehen nicht schlecht

Die meisten Industriestaaten scheinen inzwischen willens zu sein, den Vertrag baldmöglichst bis zur Unterschriftsreife fertigzustellen. Auch die chemischen Industrien haben, wie die Industrie-Regierungs-Konferenz im australischen Canberra im September 1989 zeigte, anfängliche Widerstände gegen die geplanten Verifikationsmaßnahmen aufgegeben. Auch ist davon auszugehen, daß das militärische Establishment seine Bedenken zurückgestellt hat. Beiden Gruppen wird nachgesagt, daß sie in der Vergangenheit durch ihren Einfluß auf Regierungspositionen wesentlichen Anteil an Verzögerungstaktiken mancher Staaten hatten.

Nach vielen Jahren des Verhandelns ist es nun höchste Zeit, die verbleibenden Probleme zu lösen. Dies sind, neben der bereits erwähnten Durchführung der Verdachtskontrollen, der Errichtung einer internationalen Verifikations-Organisation oder dem Zeitpunktes des Beitritts, Probleme wie der Einsatz von C-Waffen im Inneren eines Staates und die Frage von Sanktionen gegen Staaten, die das Abkommen verletzen. Ungelöst ist auch noch die Frage, wie viele oder welche Staaten der Konvention beitreten müssen, damit sie in Kraft tritt.

Neben der Lösung dieser Probleme, geht es jetzt vor allem darum, Anreize zu schaffen, die die Staaten in der Dritten Welt in das Abkommen einbinden. Dies könnte erreicht werden, indem verbindliche Regelungen über technische und wirtschaftliche Hilfe beim Aufbau einer eigenen zivilen chemischen Industrie in diesen Staaten getroffen werden. Umgekehrt könnten Staaten, die der angestrebten Konvention nicht beitreten, vom internationalen Handel mit Chemikalien und Anlagenteilen ausgeschlossen werden, die für die Produktion von chemischen Waffen mißbraucht werden können. Darüberhinaus sollte Staaten und Bevölkerungsgruppen internationale Hilfe für den Fall zugesichert werden, daß sie mit chemischen Waffen bedroht oder angegriffen werden.

Nach den neuen Vorschlägen der USA vom Mai 1991 sind die Aussichten für das baldige Zustandekommen einer Verbotskonvention wieder optimistischer zu beurteilen. Nach den Erfahrungen des Golfkrieges scheinen sie entschlossen, baldmöglichst ein umfassendes Abkommen durchzusetzen. Es muß aber noch gelingen, durch praktische Maßnahmen die meisten Staaten aus der Dritten Welt und besonders sensiblen Regionen, wie etwa dem Nahen und Mittleren Osten, in das Abkommen einzubeziehen. Dann könnte die Konvention 1992 zur Unterschriftsreife gediehen sein und in einigen Jahren in Kraft treten.

Anmerkungen

1) Zuletzt: CD/1033 vom 10.8.1990, Report of the Ad-hoc Committee on Chemical Weapons to the Conference on Disarmament Zurück

2) Siehe cbw-Chronologie (13. Mai 1991) in diesem Heft Zurück

Dr. Joachim Badelt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berghof-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, Berlin. Mitglied der Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden.

Die START-Verhandlungen

Die START-Verhandlungen

Zielsetzung und Stand der Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen

von Joachim Rohde

Seit 1982 verhandeln die USA und die Sowjetunion in Genf über eine Reduzierung und Umstrukturierung ihrer weitreichenden strategischen Angriffswaffen (Strategic Arms Reduction Talks, kurz START genannt). Lange Jahre waren diese Verhandlungen Teil eines umfassenderen Verhandlungspakets, das sowohl nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Verhandlungen) als auch strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme (Space and Defense Talks) umfassen sollte. Innerhalb dieses Pakets wurden Fortschritte in einer Systemkategorie abhängig gemacht von Fortschritten in den beiden anderen Kategorien. Erst mit der Entkopplung der verschiedenen Bereiche wurde die Voraussetzung für erfolgreiche Vertragsabschlüsse geschaffen. 

So gelang 1987 der Abschluß des INF-Abkommens, nachdem Moskau die INF-Verhandlungen über Angriffssysteme mittlerer Reichweite nicht mehr von Fortschritten bei START abhängig gemacht hatte. Nachdem es 1990 gelang, auch die START-Verhandlungen von Fortschritten in den Verhandlungen über die anderen noch verbleibenden Systemkategorien (strategische Verteidigungs- und Weltraumsysteme) abzukoppeln, scheinen beide Seiten auch hier kurz vor einem Vertragsabschluß zu stehen. Die Unterzeichnung des ca. 450 Seiten umfassenden Vertragswerks mußte allerdings mehrfach verschoben werden, da für einige strittige Problembereiche offenbar noch keine Lösung gefunden werden konnte.

So ist auch noch keineswegs sicher, daß der für Juni/Juli 1991 geplante Gipfel, auf dem der START-Vertrag unterzeichnet werden soll, nicht erneut verschoben werden muß. Zwar beschlossen die beiden Außenminister auf ihrem Treffen Anfang Juni, die Verhandlungen zu beschleunigen, es gelang ihnen jedoch trotz mehrstündiger Verhandlungen nicht, die noch bestehenden Differenzen auszuräumen und den Weg zur Vertragsunterzeichnung zu ebnen.

Im folgenden soll – im Sinne einer Momentaufnahme – ein Überblick über den Stand der Verhandlungen gegeben werden. Dabei wird zunächst noch einmal die mit START verfolgte Zielsetzung und ihre vertragstechnische Umsetzung skizziert so wie die konkreten Vertragsbestimmungen und ihre Verifikation erläutert. Die Analyse schließt mit einer kurzen Bewertung und Überlegungen zu den Aussichten für den weiteren Fortgang der Verhandlungen angesichts der sich wandelnden Beziehungen zwischen Moskau und Washington.

I. Verhandlungsgegenstand und Dauer

Verhandlungsgegenstand sind offensive strategische Nuklearwaffen, d.h. genauer gesagt nukleare Trägersysteme interkontinentaler Reichweite und nukleare Gefechtsköpfe. Im einzelnen sind dies landgestützte Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles/ICBM), seegestützte Interkontinentalraketen (Sea-Launched Ballistic Missiles/SLBM) und strategische Bomber einschließlich ihrer Bewaffnung.

Der Vertrag soll auf 15 Jahre abgeschlossen werden mit der Möglichkeit, ihn jeweils um 5 Jahre zu verlängern. Nach 7 Jahren müssen die Vertragsbestimmungen implementiert, d.h. die Potentiale auf die vorgesehenen Höchstgrenzen reduziert worden sein.

II. Verhandlungsziel

Ziel ist eine Reduzierung (ursprünglich um 50%) der Nuklearwaffenpotentiale der Supermächte bei gleichzeitiger Erhöhung der strategischen Stabilität. Als wesentliche Voraussetzung für Stabilität wird die Überlebensfähigkeit der strategischen Potentiale angesehen. Dieser Gedanke ist nicht neu und beruht auf der Überlegung, daß in einer akuten Krisensituation der Anreiz, auf den Einsatz militärischer Macht zurückzugreifen, dann am größten ist, wenn derjenige, der zuerst zuschlägt, davon einen erheblichen Vorteil hätte. Der größte militärische Vorteil ließe sich dann erzielen, wenn es einem Angreifer gelingen würde, den Gegner nuklearstrategisch zu entwaffnen. Die Überlebensfähigkeit der strategischen Nuklearpotentiale ist deshalb eine Mindestvoraussetzung, will man verhindern, daß eine Krise schon allein aufgrund der Struktur der Militärpotentiale eskalieren könnte.

III. Vertragstechnische Umsetzung der Zielvorgabe

Strategische Rüstungskontrolle soll – zumindest nach amerikanischer Argumentation – auf zweierlei Weise zur Vergrößerung der Überlebensfähigkeit der Nuklearstreitkräfte beitragen:

  • Zum einen soll die Anzahl der Gefechtsköpfe (GK) pro Rakete reduziert werden (DeMIRVing).1
  • Zum anderen soll der Anteil langsam fliegender Systeme (Bomber und Marschflugkörper/MFK) gegenüber schnell fliegenden (ballistischen Raketen) erhöht und damit eine Schwerpunktverlagerung im strategischen Dispositiv vorgenommen werden.

Die stabilitätsfördernde Wirkung eines DeMIRVing läßt sich am besten an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn beide Seiten über tausend Raketen mit jeweils einem Gefechtskopf verfügen und zur Zerstörung einer Rakete beispielsweise in ihrem Silo mindestens drei Gefechtsköpfe notwendig sind, ließe sich selbst unter Einsatz des Gesamtpotentials nur ein Bruchteil des gegnerischen Potentials (ca. 330 Raketen) zerstören, der Angreifer würde sich also quasi selbst entwaffnen. Umgekehrt kann man sagen, wenn beide Seiten über Raketenpotentiale mit MIRV-Gefechtsköpfen verfügen, läßt sich mit einem Bruchteil des eigenen das jeweilige gegnerische Potential ausschalten. Geht man wiederum von dem oben genannten Beispiel aus, setzt nun aber zehn Gefechtsköpfe pro Rakete, so zeigt sich, daß der Angreifer nunmehr mit nur 300 Raketen (3 000 GK) den Gegner entwaffnen kann.

Daraus läßt sich die generelle These ableiten: Je weniger Gefechtsköpfe sich auf den einzelnen Raketen befinden, desto geringer ist der Erstschlagsvorteil und desto größer die militärische Stabilität.

Die stabilitätsfördernde Wirkung einer Erhöhung des Anteils langsam fliegender Systeme läßt sich aus folgender Überlegung ableiten: Ein Entwaffnungsschlag – wie er oben skizziert wurde – ist nur praktikabel, wenn der Angegriffene sein eigenes Potential nicht startet, bevor der Angriff einschlägt. Je kürzer die Vorwarnzeit und damit die mögliche Reaktionszeit, um so sicherer kann der Angreifer sein, die gegnerischen Raketen noch in ihren Silos zerstören zu können. Umgekehrt gilt: Je länger die Flugzeit eines erfaßten Systems, desto größer ist die Vorwarnzeit und desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß das gegnerische Potential im Zuge eines Überraschungsangriffs am Boden zerstört werden kann. Aus dieser Überlegung resultiert die These, daß die vergleichsweise langsam fliegenden luftatmenden Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) weniger stabilitätsgefährdend sind als ballistische Raketen, weil mit ihnen aufgrund ihrer unter Umständen mehrere Stunden betragenden Flugzeit ein überraschender Entwaffnungsangriff nicht möglich ist; der Angegriffene hätte ausreichend Zeit, einen Gegenschlag einzuleiten.

Beim ersten Ansatz, der Reduzierung der Anzahl der Gefechtsköpfe pro ballistischer Rakete lassen sich – orientiert am konkreten Verhandlungsgegenstand – wiederum zwei Vorgehensweisen unterscheiden:

  • die Begrenzung/Reduzierung des Wurfgewichtes des ballistischen Potentials;
  • die Reduzierung der Gefechtsköpfe.

Kommt es zu erheblichen Reduzierungen in diesen Kategorien, erscheint es für beide Seiten geboten, die verbleibenden Gefechtsköpfe bzw. das verbleibende Wurfgewicht auf möglichst viele Trägermittel zu verteilen, um die Überlebensfähigkeit des Potentials zu vergrößern.

IV. Die wesentlichen Regelungen eines START-Abkommens

In diesem Zusammenhang sind die Regelungen über Anzahl, Qualitätsmerkmale und Verteilung ballistischer Flugkörper zu sehen. Die Obergrenze für dislozierte land- und seegestützte Interkontinentalraketen mit zugehöriger Abschußvorrichtung (launcher) und für schwere Bomber liegt bei 1 600 Systemen. Von diesen dürfen wiederum maximal 154 schwere ICBM sein. Neben den Abschußvorrichtungen werden zum ersten Mal in der strategischen Rüstungskontrolle auch die Gefechtsköpfe gesondert reduziert. Ihre Zahl wird durch den Vertrag auf maximal 6 000 begrenzt, wobei es für GK auf dislozierten ballistischen Raketen (ICBM und SLBM) noch eine Untergrenze von 4 900 gibt. Von diesen 4 900 dürfen wiederum nur 1 540 Gefechtsköpfe auf schweren ICBM disloziert werden und 1 100 GK auf mobilen ICBM. Die erste Untergrenze bezieht sich ebenso wie die erwähnte Untergrenze bei Trägersystemen ausschließlich auf die sowjetische Interkontinentalrakete SS-18.

Neben der Begrenzung der Gefechtsköpfe wird aber auch das erlaubte Wurfgewicht auf 50% des aggregierten Wurfgewichts aller dislozierten sowjetischen ICBM und SLBM reduziert.

Darüber hinaus enthält der Entwurf für den START-Vertrag weitere Regelungen, die ebenfalls dem Ziel gelten, die Gefechtskopfanzahl pro Trägermittel zu reduzieren. Dazu gehören die Verbote:

  • neuer Typen von schweren ICBM,
  • neuer, schwerer SLBM und ihrer Abschußvorrichtungen,
  • mobiler Abschußvorrichtungen für schwere ICBM,
  • neuer Typen von ICBM und SLBM mit mehr als zehn Gefechtsköpfen,
  • einer schnellen Nachladefähigkeit von ICBM-Abschußvorrichtungen,
  • neuer luftgestützter Marschflugkörper mit mehreren, unabhängig von einander steuerbaren Gefechtsköpfen. (In der seegestützte Marschflugkörper/SLCM betreffenden bindenden politischen Erklärung wird dies auch für SLCM ausgeschlossen.)

Im Ergebnis würde ein START-Abkommen zu folgenden Reduzierungen führen:

  • Die Zahl der Gefechtsköpfe auf ballistischen Systemen wird um ca. 49% (UdSSR) und 39% (USA) verringert;
  • Die Anzahl der schweren ICBM, also der sowjetischen SS-18, wird um 50% reduziert;
  • Das Gesamtwurfgewicht der sowjetischen ballistischen Raketen verringert sich um 50%.

Zwar wird im Entwurf des START-Vertrages auf weitere radikale Maßnahmen zur Reduzierung der Gefechtsköpfe pro Trägermittel verzichtet (DeMIRVing), doch werden zumindest erste, wichtige Schritte unternommen. Eine weitergehende Restrukturierung soll den START-II-Verhandlungen überlassen bleiben.

Bezüglich luftatmender Offensivsysteme (Bomber und Marschflugkörper) sieht der Vertragsentwurf folgende Regelungen vor:

Bei START soll jeder schwere Bomber als ein Trägersystem (auf die Obergrenze von 1 600) angerechnet werden. Anders ist es bei der Anrechnung seiner mitgeführten Bewaffnung auf die Gefechtskopfobergrenze (von 6 000). Frei fallende Bomben und Kurzstreckenabstandsflugkörper (SRAM) werden pro Bomber als ein Gefechtskopf gezählt und zwar gleichgültig, wieviele dieser Systeme der Bomber tatsächlich mitführt. Luftgestützte Marschflugkörper (ALCM, Reichweite größer als 600 km) hingegen werden prinzipiell als individuelle Gefechtsköpfe gerechnet. Allerdings wird bei den ersten 150 amerikanischen und den ersten 180 sowjetischen ALCM-Bombern jeweils nur eine bestimmte Anzahl von ALCM in START verrechnet: US-Bomber werden mit 10 ALCM (10 Gefechtsköpfe) verrechnet, dürfen aber bis zu maximal 20 ALCM mitführen, sowjetische Bomber werden mit 8 verrechnet, dürfen aber maximal 16 mitführen. Bei allen nachfolgenden Bombern (also z.B. dem 151. US-Bomber) wird jeder ALCM als ein Gefechtskopf auf die Obergrenze von 6 000 angerechnet. Aufgrund dieser Zählkriterien werden strategische Bomber unter dem START-Regime »bevorzugt« behandelt, d.h. die von ihnen mitgeführten Nuklearwaffen werden nicht voll auf die Obergrenze von 6 000 Gefechtsköpfen angerechnet. Daraus folgt, daß der De-facto-Bestand an Nuklearwaffen (also an Gefechtsköpfen) höher liegen wird als 6 000, denn die Masse der von Bombern getragenen Waffensysteme wird nicht erfaßt. Um wieviel höher die Gefechtskopf(Waffen-)arsenale über dieser Grenze liegen, ist abhängig von der zukünftigen Rüstungspolitik der Vertragspartner, insbesondere davon, wieviel ALCM-Bomber und wieviel mit Bomben und SRAM ausgerüstete Bomber beibehalten oder beschafft werden. Entsprechend stark oder weniger stark ausgeprägt ist die Verlagerung auf luftatmende Offensivsysteme, wenn man Gefechtsköpfe als die relevante Meßlatte nimmt. Diese Zählregeln bieten erhebliche Anreize, einen größeren Anteil des Gesamtpotentials (gemessen in Gefechtsköpfen) auf Bombern zu dislozieren, und dürfte zu einer Schwerpunktverlagerung insbesondere bei den sowjetischen Angriffssystemen führen (s. Schaubild 3).

V. Das vorgesehene Verifikationsregime

Die sicherheitspolitische Bedeutung eines START-Abkommens ist aber nicht nur auf die Begrenzungen der nuklearen Trägersysteme und Gefechtsköpfe und der damit ansatzweise begonnenen Restrukturierung der Nuklearpotentiale zurückzuführen, sondern auch auf das in seiner Art bisher einmalige Verifikationsregime.

Die Einhaltung der Bestimmungen des START-Vertrages soll durch eine Kombination von:

  • nationalen technischen Mitteln (NTM) und
  • kooperativen Maßnahmen (z.B. Vor-Ort-Inspektionen)

überwacht werden. Kooperative Maßnahmen und nationale technische Mittel sollen sich dabei gegenseitig unterstützen und in ihrer Wirksamkeit erhöhen.

Mit den Verifikationsmaßnahmen des START-Vertrages muß vor allem sichergestellt werden, daß die numerischen Begrenzungen der Trägersysteme und der von ihnen mitgeführten Waffensysteme/Gefechtsköpfe, sowie einige technische Eigenschaften dieser Systeme (z.B. Wurfgewicht, Zuladung) überprüft werden können.

1. Verifikation der Trägermittel

Die numerische Überprüfung der in Raketensilos dislozierten ICBM und der auf Unterseebooten dislozierten SLBM ist vergleichsweise einfach und kann primär mit nationalen technischen Mitteln erfolgen. Das gleiche gilt für schwere Bomber.

Bei Bombern gibt es allerdings zwei Problemfelder:

  • START erlaubt die Umwandlung einer bestimmten Anzahl schwerer, Nuklearwaffen-tragender Bomber (vermutlich 107) in Flugzeuge für ausschließlich konventionelle Einsätze (konventionelle Bomber, Aufklärer, Tanker etc.). Da sie vom Vertrag nicht erfaßt werden, müssen sie sich sichtbar unterscheiden von nuklear einsatzfähigen schweren Bombern. Aus diesem Grund sollen die umgewandelten schweren Bomber inspiziert werden, um eindeutige Unterscheidungsmerkmale festzustellen. Darüberhinaus werden diese konventionellen Bomber auf gesonderten Basen disloziert, auf denen keine Nuklearwaffen gelagert werden dürfen. Diese Bestimmung soll durch Vor-Ort-Inspektionen überwacht werden können, obwohl dafür vermutlich auch NTM ausreichen.
  • In einer politisch bindenden Erklärung wird sich die UdSSR verpflichten, ihren vom START-Vertrag nicht erfaßten Backfire-Bombern keine interkontinentale Reichweite zu geben. Zwar ließe sich eine Nachrüstung mit Luftbetankungsstutzen durch NTM nicht überprüfen, wohl aber das für den operativen Einsatz notwendige Luftbetankungstraining und der Ausbau der sowjetischen Tankerflotte.

Wesentlich komplexer ist die Überwachung der Begrenzungen bei mobilen Interkontinentalraketen, da diese ihre Position ständig ändern können und deshalb schwer zu zählen sind. In Ergänzung zu NTM und Vor-Ort-Inspektionen sind deshalb vorgesehen:

  • eine ständige Überwachung der Zugänge zu bestimmten Produktionsstätten für mobile ICBM (perimeter/portal monitoring);
  • Maßnahmen, die die Dislozierung und Bewegung mobiler ICBM regeln.

Die ständige Überwachung der Zugänge zu den Produktionsstätten mobiler Interkontinentalraketen dient – ähnlich wie im INF-Vertrag – dem Ziel, die Anzahl der produzierten mobilen Raketen festzustellen. Soll die Produktion heimlich vergrößert werden, müßte insgeheim eine komplette neue Infrastruktur aufgebaut werden.

Um die Verifikation dislozierter, mobiler ICBM durch nationale technische Mittel zu verbessern, unterliegen auch ihre Dislozierung und Bewegung bestimmten Regeln. Diese kooperativen Maßnahmen sehen vor, jeweils maximal 10 straßenmobile Systeme in einem 25 qkm großen Gebiet in jeweils einem Unterstand zu stationieren. Operationen von straßenmobilen Systemen sind auf Dislozierungsgebiete von jeweils 125 000 qkm beschränkt. In diesen größeren Dislozierungsgebieten darf sich beispielsweise zu Trainings- und Testzwecken jederzeit nur ein kleiner Prozentsatz der straßenmobilen Systeme befinden. Ein größerer Prozentsatz dieses Potentials darf sich hier zeitlich begrenzt aufhalten, um das Verteilen und Auflockern im Gelände zu üben. Eine Auflockerung des Gesamtpotentials in den Dislozierungsgebieten ist nur in akuten Krisensituationen erlaubt.

Vor-Ort-Inspektionen in den Stationierungsgebieten sollen nach Rückkehr aus den größeren Dislozierungsgebieten sicherstellen, daß der Umfang des Potentials nicht heimlich vergrößert wurde. Auch Standardinspektionen mit kurzer Ankündigungszeit sind hier vorgesehen. Sechsmal im Jahr dürfen die Amerikaner von den Sowjets außerdem verlangen, ihre straßenmobilen Systeme aus ihren Unterständen zu ziehen, um mit Satelliten überprüfen zu können, ob jeweils nur eine Abschußvorrichtung pro Unterstand vorhanden ist.

Die USA haben darüber hinaus vorgeschlagen, beiden Seiten das Recht einzuräumen, hin und wieder einen Rückruf aller aufgelockert dislozierten mobilen Systeme in ihre Stationierungsgebiete verlangen zu können. In Vor-Ort-Inspektionen eines auszuwählenden Stationierungsgebiets würden dann die dort vorhandenen Systeme gezählt. Gleichzeitig würden Satelliten die Dislozierungsgebiete nach illegalen mobilen Systemen absuchen. Diese Kombination von Satellitenaufklärung der größeren Dislozierungsgebiete und Vor-Ort-Inspektionen in einem ausgewählten Stationierungsgebiet soll vor einer heimlichen Dislozierung zusätzlicher Systeme abschrecken. Ähnliche Regelungen sind für schienenmobile Systeme vorgesehen.

2. Verifikation der Waffensysteme/Gefechtsköpfe

Bei ballistischen Raketen beginnt die Verifikation damit, daß die vereinbarte maximale Anzahl der Gefechtsköpfe, die einzelne ballistische Flugkörper tragen können durch NTM (Beobachtung der Raketentestflüge) und Vor-Ort-Inspektionen überprüft wird. In Ergänzung zu diesen Maßnahmen ist es nach START verboten, existierende Raketentypen mit mehr Gefechtsköpfen zu testen, als vereinbart wurde.

Mit diesen Maßnahmen läßt sich außerdem auch überprüfen, ob

  • die UdSSR das Gesamtwurfgewicht ihres ballistischen Potentials halbiert und ob
  • das Verbot neuer Typen ballistischer Raketen mit mehr als 10 Gefechtsköpfen
  • sowie das Verbot neuer schwerer ICBM

eingehalten wird.

Bei Bombern muß aufgrund der unterschiedlichen Verrechnung der von ihnen mitgeführten Waffensysteme vor allem unterschieden werden, welche Bomber Marschflugkörper mitführen können und welche nicht. Dies muß sich an strukturellen/konstruktiven Unterschieden festmachen lassen. Außerdem ist anzunehmen, daß mit Ausnahme der Bomber, die niemals mit ALCM getestet wurden, alle schweren Bomber durch Vor-Ort-Inspektionen nach kurzer Ankündigung überprüft werden können.

Darüber hinaus muß kontrolliert werden, ob die ALCM-Bomber nicht doch mehr als die erlaubten 20 (USA) bzw. 12 (UdSSR) Marschflugkörper tragen können. Hierzu wird in Vor-Ort-Inspektionen überprüft werden, wieviel Vorrichtungen für externes und internes Mitführen von ALCM an einem Bomber vorhanden sind. Solche Inspektionen würden auch die Unterscheidung von ALCM-Bombern und anderen Bombern erleichtern. Sowjetische Bomber der Typen Blackjack und Bear-H wurden bereits auf diese Weise inspiziert.

VI. Bewertung

Im Vergleich zu den anfänglich geäußerten, sehr weitgesteckten Erwartungen hätte ein START-Vertrag keinesfalls radikale Reduzierungen und Umstrukturierungen bei strategischen Offensivsystemen zur Folge:

Mit der Reduzierung des Wurfgewichts, der nuklearen Trägersysteme und der Gefechtsköpfe geht ein DeMIRVing allenfalls ansatzweise einher, d.h. der »richtige« Weg wird mit der Halbierung des Wurfgewichts und des SS-18-Potentials allenfalls angedeutet, aber noch nicht wirklich beschritten. Dies soll erst in den nachfolgenden START-II-Verhandlungen geschehen. Dabei wird auf Seiten der US-Administration daran gedacht, ein Verbot mobiler ICBM mit MIRV-Gefechtsköpfen als Vorstufe für ein generelles MIRV-Verbot bei ICBM zu verhandeln. Die UdSSR wird hier vermutlich vor allem die SLBM mit MIRV-Gefechtsköpfen ins Visier nehmen und daneben eine stärkere Begrenzung von ALCM anstreben. Der Anteil der Gefechtsköpfe auf Marschflugkörpern und Bombern nimmt zu; eine Schwerpunktverlagerung von schnell zu langsam fliegenden Systemen findet – wenn auch in bescheidenem Maße – statt. Betrachtet man das Wurfgewicht, dürfte sich diese Verlagerung sogar sehr viel deutlicher darstellen.

Ein gewisser stabilisierender Effekt wäre mit dem START-Vertrag also sicher zu erwarten, auch wenn größere Fortschritte in diese Richtung einem START-II-Vertrag überlassen bleiben. Daneben dürfte aber insbesondere das Verifikationsregime des START-Vertrages die militärische Transparenz erhöhen und die Vertrauensbildung zwischen den beiden Supermächten stärken.

VII. Aktueller Verhandlungsstand

Im Laufe des Jahres 1990 gelang es, einige der umstrittensten Fragen zu klären:

  • Seegestützte nukleare Marschflugkörper (Reichweite mehr als 600 km) fallen nicht unter die START-Begrenzungen, sondern werden durch politisch bindende Erklärungen erfaßt. Dabei darf die Zahl der dislozierten SLCM 880 nicht überschreiten.
  • Auch der sowjetische Backfire-Bomber wird in einer bindenen politischen Erklärung gesondert behandelt, in der sich die UdSSR verpflichtet, diesem Mittelstrecken-Bomber keine interkontinentale Reichweite zu verschaffen (Verzicht auf Betankungsfähigkeit in der Luft).
  • Auch das Problem der Nicht-Umgehungsklausel ist wohl gelöst: Die Sowjetunion stimmte zu, daß die USA und GB ihre nukleare Zusammenarbeit aufrechterhalten, solange dies nicht das strategische Gleichgewicht verändere.

Mit dem für Februar 1991 geplanten Gipfeltreffen wurde auch die Unterzeichnung des START-Vertrages auf Juni/Juli dieses Jahres verschoben, ohne daß bisher über ein konkretes Datum gesprochen wurde. Von amerikanischer Seite wird dies primär mit den noch zu lösenden »technischen Schwierigkeiten«, die der Unterzeichnung des START-Vertrages im Wege stehen, begründet. Zu den nach wie vor offenen Fragen gehören:

  • auf welchen ballistischen Flugkörpern wieviele Gefechtsköpfe reduziert werden dürfen (»downloading«);
  • welche Ausnahmen es hinsichtlich des allgemeinen Verschlüsselungsverbots von Telemetriedaten geben soll; und
  • wann eine neue Rakete lediglich eine Modifizierung eines vorhandenen Systems darstellt und wann es sich um eine Rakete neuen Typs handelt.

Insbesondere die Fragen eins und drei bedürfen aus amerikanischer Sicht der sorgsamen Klärung, da sie die kurzfristige Aufwuchsfähigkeit vor allem des sowjetischen strategischen Potentials bestimmen und deshalb für den Fall einer Vertragskündigung besonders kritisch sind.

Die Außenminister der beiden Supermächte haben auf ihrem jüngsten Treffen Anfang Juni beschlossen, den Verhandlungsprozeß zu intensivieren. Aus diesem Grund wollen sie die Anzahl der Experten, die die technischen Details aushandeln sollen, vergrößern und die Abfolge der einzelnen Verhandlungsrunden verkürzen. Angesichts der noch offenen substantiellen Probleme zeigten sich beide Minister aber auch skeptisch, eine Einigung so rechtzeitig herbeiführen zu können, daß eine Vertragsunterzeichnung noch im Juli erfolgen könnte.

Joachim Rohde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen.

Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und internationale Sicherheit

Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und internationale Sicherheit

von Wolfgang Kötter

Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der entsprechende Vertrag befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage? Der nachfolgende Artikel geht auf Fragen ein, die angesichts der bevorstehenden 4. Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtweiterentwicklung von Kernwaffen (NPT) (20. August – 14. Septemper d. J. in Genf, hochaktuell sind. Die Konferenz wird die Erfüllung der Vertragsbestimmungen durch die 142 Mitglieder prüfen und Maßnahmen zur weiteren Realisierung und Stärkung der NPT beraten. Besondere Bedeutung gewinnt sie dadurch, daß es die letzte solcher Bestandaufnahmen ist, bevor 1995 vertragsgemäß eine Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages gefällt wird.

Über den Wert oder Unwert des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) wird seit zwanzig Jahren kontrovers diskutiert. Die Bewertungen reichen von der Lobpreisung, es sei der erfolgreichste der je auf dem Abrüstungsgebiet abgeschlossenen Verträge1, bis dazu, daß er als ungerecht und diskriminierend verurteilt wird.2 Offensichtlich hängt es vom Standpunkt des Betrachters ab, ob das Glas »halbvoll« oder »halbleer« scheint.

Ist eine objektive Beurteilung eines so komplizierten und vielschichtigen Problems, wie es die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist, überhaupt möglich? Wenn man davon ausgeht, daß (trotz einzelner Vorwürfe) kein einziger der gegenwärtig 142 Mitgliederstaaten den NPT erwiesenermaßen verletzt hat und kein einziger von ihnen vom Vertrag zurückgetreten ist, so ist der NPT der bisher erfolgreichste Vertrag in der Geschichte der Rüstungsbegrenzung. Die Zahl der offiziellen Kernwaffenmächte ist über die im Vertrag definierten – bis 1. Januar 1967 existierenden fünf Kernwaffenmächte – nicht hinausgegangen. Befürchtungen hinsichtlich einer schnellen Zunahme dieser Zahl um 15-20 Staaten haben sich nicht bestätigt.

Die wichtigsten Schwellenmächte jedoch, die wissenschaftlich und technologisch in der Lage wären, Kernwaffen herzustellen, gehören ihm nicht an. De facto gibt es mehrere zusätzliche Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder sie produzieren können: Israel (60-100), Südafrika (10-20); Indien – seine Fähigkeit wurde durch eine als friedlich deklarierte Kernexplosion im Jahre 1974 nachgewiesen und reicht schätzungsweise für die Produktion von 10 bis 20 Sprengköpfen aus; Pakistan – es ist vermutlich in der Lage, 4 bis 8 Nuklearwaffen herzustellen.3

Der NPT – pro und kontra

Es stimmt, daß das Prinzip der Nichtweiterverbreitung heute zur allgemein anerkannten Norm internationalen Verhaltens geworden ist. Daran haben der NPT und das bestehende Regime der Nichtweiterverbreitung – also die Gesamtheit der Verträge, Vereinbarungen sowie weitere nationale und internationale Maßnahmen – einen wesentlichen Anteil. Die überwiegende Mehrheit der Staaten bezweifelt den militärischen Nutzen des Schritts zur Kernwaffenmacht. Politisch wäre dafür ein hoher Preis zu zahlen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat bisher keine Schwellenmacht den entscheidenden Schritt – die Durchführung eines Kernwaffentests oder die offizielle Erklärung über den Besitz von Nuklearwaffen – getan.

Doch wird es von vielen nicht als zufällig angesehen, daß die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates identisch mit den fünf Kernwaffenmächten sind. Obwohl es mit Japan und der BRD gegenteilige Beispiele dafür gibt, wie Staaten, ohne Kernwaffen zu besitzen, ökonomisch stark und einflußreich am internationalen Leben teilnehmen können, bestehen auch Ansichten, die ein gehobenes internationales Prestige mit dem Kernwaffenbesitz verbinden und darin den erfolgversprechendsten Weg zu einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat sehen.

Eine nüchterne Analyse der gegenwärtigen Situation zwingt zu der Schlußfolgerung: Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der NPT befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage?

Nichtweiterverbreitung und nukleare Abschreckung

Trotz aller nicht zu leugnender Verdienste tritt heute klar zutage: Der NPT ist gescheitert als Instrument zur Festschreibung des Status quo in einer sich verändernden Welt. So aber wurde er lange Zeit von den Kernwaffenmächten angesehen und gehandhabt (von einigen geschieht das anscheinend noch immer). Er wurde ungenügend genutzt als ein Mittel zur umfassenden Demokratisierung der internationalen Beziehungen, d.h. zur Transformierung der Welt in eine gewalt- und kernwaffenfreie Existenzform. Nur in einer solchen Welt können die Staaten ungeachtet ihrer sozialen und politischen Ordnung auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage miteinander verkehren, wobei ihre Beziehungen ausschließlich durch das Völkerrecht geregelt werden. Eine solche Ordnung fordert die Mehrzahl der nichtkernwaffenbesitzenden Staaten.

Der Grundwiderspruch des bestehenden Regimes der Nichtweiterverbreitung ist nicht darin zu suchen, daß sein zentrales Element, der NPT, an sich einen diskriminierenden Charakter hat oder daß einzelne Vertragsverpflichtungen ungenügend erfüllt werden. Er besteht im nicht gleichberechtigten, für die heutige Welt anachronistischem Sicherheitsverständnis, auf dessen Basis jahrzehntelang Nichtweiterverbreitungspolitik von den Kernwaffenmächten betrieben wurde. Damit haben sie gewissermaßen selbst den Zeitzünder unter der NPT gelegt, der, wenn er nicht entschärft wird, den Vertrag in nicht allzuferner Zeit in die Luft sprengen und das gesamte System (möglicherweise sogar im buchstäblichen Sinne) zu Asche machen wird.

Das Problem beginnt mit dem fundamentalen Mißverständnis über den zentralen Kompromiß des Vertrages. Für die Kernwaffenmächte besteht er im Tausch „Nichtweiterverbreitungsverpflichtung gegen Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Die eigenen Kernwaffen bleiben unberührt. Die Staaten, die keine Kernwaffen besitzen, erwarten als Gegenleistung für ihre eigene Nichterwerbsverpflichtung die nukleare Abrüstung der Kernwaffenstaaten. Die gleichzeitig ungehinderte friedliche Nutzung der Kernenergie wird vorausgesetzt. Die Kernwaffenmächte betrachten die Kernwaffen als ein legitimes, unverzichtbares Element für die Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit und der internationalen Stabilität (fairerweise wird man die UdSSR spätestens seit Beginn der Umgestaltung Mitte der 80er Jahre von dieser Einschätzung ausnehmen müssen). Es ist nur zu verständlich, daß die Nichtkernwaffenstaaten dagegen den Vorwurf erheben, es handle sich um einen moralischen Doppelstandard: „Kernwaffen in unseren Händen sind gut für uns und gut für die Welt; Kernwaffen in anderen Händen sind schlecht für alle!“ Die These, Kernwaffen würden friedenserhaltend in der Ost-West-Auseinandersetzung, aber destabilisierend und kriegsgefährlich in jeder anderen Region wirken, birgt in sich einen unvereinbaren Widerspruch zwischen dem Konzept der nuklearen Abschreckung und dem Interesse an der Nichtweiterverbreitung. Dieser Widerspruch ist seinem Wesen nach antagonistisch. Es ist nur lösbar, wenn sich einer der beiden Antipoden durchsetzt. Entweder das Abschreckungskonzept bleibt als Regulator der internationalen Beziehungen weiter wirksam, dann wird die Weiterverbreitung – und zwar nicht nur der Kernwaffen, sondern ebenso auch der chemischen, modernen konventionellen Waffen und Trägermittel – zwangsläufig und unaufhaltsam sein. Oder es gelingt, die Weiterverbreitung von Waffen und -technologien zu stoppen. Dafür ist – wenn auch schrittweise und über Zwischenetappen – die Ersetzung der Abschreckung durch ein kooperatives Sicherheitskonzept unerläßliche Bedingung.

Versuche, Abschreckung und Nichtweiterverbreitung miteinander in Einklang zu bringen, stützen sich auf zwei Grundprämissen:

  1. Die nukleare Abschreckung sei im Ost-West-Konflikt unverzichtbar, weil die Kernwaffen seit 45 Jahren den Frieden bewahrt haben;
  2. die nukleare Abschreckung würde in der Dritten Welt aus einer Vielzahl von Gründen nicht funktionieren. Da das Auftauchen von Kernwaffen hier destabilisierend wirken und die Gefahr eines Kernwaffenkrieges enorm erhöhen würde, ist die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auch in diesen Regionen oberstes Gebot.4

Die zweite These wird bis auf wenige Ausnahmen, die eine Weiterverbreitung von Kernwaffen auch in der Dritten Welt für stabilisierend halten, allgemein geteilt. Kritisch zu überprüfen wäre allerdings die erste Behauptung, und zwar nicht so sehr aus historischem Interesse, als vielmehr, um daraus die erforderlichen Schlußfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Natürlich kann es keine eindeutige Widerlegung der friedenserhaltenden Rolle der Abschreckung geben. Wenn sie versagt, wird niemand mehr da sein, um diesen Beweis zu führen oder entgegenzunehmen.

Die Existenz von Kernwaffen hat in den vergangenen Jahrzehnten in der Krieg-Frieden-Frage zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt. Waren es aber wirklich die Kernwaffen an sich, die den Frieden erhalten haben? War es nicht vielmehr die Erkenntnis, wie unermeßlich die Verluste wären und wie groß die Gefahr der Selbstvernichtung ist? Kernwaffen haben gewissermaßen als Denkhilfe gewirkt: sie haben dem gesunden Menschenverstand Geltung verschafft, der erkennt, daß andere – ökonomische, politische, kulturelle und auch moralische – Werte höher stehen als alles, was mit dem Risiko des Selbstmords zu gewinnen wäre. Gleichgültig, ob es die Berlinkrise, der Koreakrieg, die karibische Krise oder der Vietnamkrieg waren, letzten Endes wurde immer aus politischem Kalkül, in nüchterner Kosten-Nutzen-Analyse, dank dem Selbsterhaltungstrieb und – immer auch mit einer gehörigen Portion Glück – auf den Nuklearkrieg verzichtet und eine friedliche Lösung erreicht.

Um wieviel mehr stellt sich heute die Frage: Kann sich die Menschheit, jetzt und in Zukunft, eine derart selbstmörderische »Denkhilfe« noch leisten? Kann sie die Last dieser Verantwortung tragen? Haben in der Realität nicht schon längst andere Faktoren als die Kernwaffen die Abschreckungs- und Selbstabschreckungsfunktion übernommen? Als derartige Faktoren wären zu nennen:

  1. die allgemeine Kriegsunverträglichkeit moderner Industriegesellschaften (es würde nicht nur zerstört werden, was erobert, sondern auch, was verteidigt werden soll);
  2. vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten in wirtschaftlicher, ökologischer, kultureller u.a. Hinsicht und die daraus erwachsenden gemeinsamen Interessenfelder;
  3. Lernprozesse in westlichen Staaten und nicht zuletzt die zur Erneuerung drängenden Veränderungen in den östlichen Staaten.

Aus alledem ergibt sich immer zwingender die Schlußfolgerung: eine zeitgemäße alternative zur nuklearen Abschreckung ist eine umfassende Sicherheitspartnerschaft auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage. Sie ist nicht nur eine potentielle Möglichkeit, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Nichtweiterverbreitung ein kategorischer Imperativ.

Die Menschheit befindet sich im Umbruch

Die Tatsache, daß die Gefahr der Weiterverbreitung modernster Waffen und Militärtechnologien zu einer globalen Herausforderung von menschheitsbedrohender Dimension geworden ist, zeigt, daß eine historische Fehlentwicklung in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat und noch weiter stattfindet. Sie hat zur folgenschweren Nichtübereinstimmung zwischen der Herausbildung von Weltproduktivkräften, einer internationalisierten Wissenschaft, Technik und Technologie einerseits und überholten gesellschaftlichen Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene andererseits geführt.

Die Tatsache, daß die Beziehungen von Menschen und Gesellschaften untereinander unzureichend demokratisch sind, reproduziert einen willkürlichen Umgang und eine destruktive Verwendung von Wissenschaft und Technik. Der militärische Mißbrauch von Wissenschaft und Technik wie auch die Weiterverbreitung von Waffen und Militärtechnologien sind ein direkter Ausdruck des Auseinanderklaffens zwischen der materiellen und der sozialen Entwicklung der Menschheit. Die Welt befindet sich in einer dramatischen Umbruchsituation.

Die Globalisierung der Reproduktionsbedingungen der Menschheit im Gefolge fortschreitender Internationalisierung der Produktivkräfte und aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens verändert grundsätzlich die Prioritäten. Klassen- und Systemgegensätze werden relativiert, gemeinsame existentielle Herausforderungen an die Menschheit treten in den Vordergrund. Das Aufkommen der Kernwaffen vor fünfundvierzig Jahren signalisierte den tiefen Einschnitt im Dasein der Menschheit. Die Kernwaffen haben alles verändert, bis auf eins – unser Denken!5

Das sagte Einstein, und erst ein halbes Jahrhundert später beginnen wir diesen Satz zu begreifen. Eine andere Warnung, die erst kürzlich ausgesprochen wurde, lautet: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Michail Gorbatschow beim Besuch in der DDR aus Anlaß ihres 40. Jahrestages). Auch das Problem der Weiterverbreitung von Kernwaffen ist weder durch wissenschaftlich-technische Restriktionen noch durch administrativ-juristische Zwänge zu bannen. Dies kann nur auf politischem Wege gelingen, durch eine radikale Demokratisierung der internationalen Beziehungen und durch umfassende nukleare Abrüstung. Was jedoch die nukleare Abrüstung betrifft, so wurden zehn bis fünfzehn wichtige Jahre verloren. Das Ausbleiben durchgreifender Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und der nuklearen Abrüstung hat wesentlich mit dazu beigetragen, daß die Weiterverbreitung von Kernwaffen, von Waffen generell heute eine für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit außerordentlich akute Frage geworden ist. Wir stehen wahrscheinlich vor einem Dilemma: Flickschusterei kann das Problem nicht lösen, weil es nur die Symptome, nicht aber die Ursachen behandelt. Erforderlich sind historische Visionen und strategische Konzepte. Dafür aber läuft die Zeit davon.

Was ist zu tun?

Die Suche nach Antworten beginnt mit zwei alternativen Fragestellungen:

  1. Ist der NPT in der bisher vorwiegend gehandhabten Weise als Verweigerungs- und Schadensbegrenzungsmittel überhaupt noch ein angemessenes Instrument zur Regulierung internationaler Angelegenheiten in der heutigen Welt? Sollte er nicht umgehend durch ein umfassendes Sicherheitssystem abgelöst werden, das die nukleare Abrüstung als integrales Element einschließt?6

Oder die gegensätzliche Frage:

  1. Bestünde eine realistische Haltung nicht gerade darin, wenn man die De-facto-Existenz zusätzlicher Kernwaffenstaaten anerkennen würde, wenn man mit der Weiterverbreitung von Kernwaffen leben lernte und Maßnahmen ergriffe, um mit ihr zu überleben? Solche Maßnahmen wären dann z.B. folgende:

    • verbesserte Kommunikation durch »heiße Drähte«, Vereinbarungen über Prozeduren zur Risikoverminderung, Konfliktverhütung und zum Krisenmanagement zwischen neuen bzw. potentiellen Kernwaffenstaaten;
    • gegenseitige Verpflichtungen zum Nichtangriff auf nukleare Anlagen;
    • Vereinbarungen über die Nichterstanwendung von Kernwaffen;
    • Kernwaffentestverzicht u.a.7.

Liegt die Antwort überhaupt in einem Entweder-Oder? Besteht sie nicht vielmehr darin, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen? Wahrscheinlich wäre ein Verzicht auf den NPT, bevor eine tragfähige Alternative gefunden ist, für niemanden von Nutzen. Allerdings müssen unverzüglich und zielstrebig Maßnahmen ergriffen werden. Sonst wäre – so scheint es – der NPT nicht zu retten.

Wie könnten derartige Maßnahmen aussehen?

  1. Mehr als vier Jahre sind seit dem Gorbatschow-Plan zur Beseitigung aller Kernwaffen bis zum Jahre 2000 vergangen. Vor zwei Jahren unterbreitete Indien das Programm zur nuklearen Abrüstung bis zum Jahre 2010. Wäre es nicht höchste Zeit, eine multilaterale Arbeitsgruppe – in welcher Form auch immer, z.B. als UN-Expertengruppe oder als Ad-hoc-Komitee der Genfer Abrüstungskonferenz u.a. – zu bilden, die sich mit der Erarbeitung eines globalen Konzepts zur nuklearen Abrüstung, einschließlich einer möglichen Kontrollfunktion der IAEA, befaßt?
  2. energisch und ergebnisorientiert muß der weltweite Dialog im Rahmen der UNO über die Gestaltung umfassender Sicherheit fortgesetzt werden. Die 44. UN-Vollversammlung nahm im Konsens eine gemeinsam von der UdSSR und den USA initiierte Resolution (44/21) zur Rolle der UNO bei der Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit an. Das sollte als ermutigendes Zeichen gewertet und durch konkrete Schritte materialisiert werden. Skeptischer allerdings stimmt, was bisher von amerikanischer Seite darüber zu hören ist, welchen Preis an nuklearer Abrüstung man für das Überleben des NPT zu zahlen bereit ist.8 Es bleibt zu hoffen, daß in dieser Hinsicht das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
  3. Der Trend zur Weiterverbreitung von Waffen – nuklearer, chemischer und anderer – wird sich ohne eine friedliche und dauerhafte Lösung der regionalen Konflikte und Spannungen nicht aufhalten lassen. Schwerpunkte bilden der Nahe und der Mittlere Osten, der Süden Afrikas, Südasien und Lateinamerika. Im Vordergrund muß das Bemühen stehen, das Interesse der betreffenden Staaten am Kernwaffenbesitz zu verringern. Die hauptsächlichen Interessen sind a) die eigene nationale Sicherheit (wie auch immer definiert) und b) die Erlangung eines Großmachtstatus (global bzw. regional). Also muß bei diesen Ursachen angesetzt und konstruktiv gehandelt werden. Versuche der Isolierung und Ausgrenzung z.B. Israels und Südafrikas sind bisher erfolglos geblieben. nun sollten alle Möglichkeiten geprüft werden, um diese Staaten durch Einbindung in das Regime der Nichtweiterverbreitung zu einer Kurskorrektur zu bewegen.
  4. Was ist auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung, realistisch betrachtet, in nächster Zeit zu erwarten und was kann darüber hinaus getan werden?

    • Dringend erforderlich scheint eine qualitativ neue (möglichst gemeinsam erarbeitete) Bedrohungsanalyse der NATO und der Warschauer Vertragsorganisation. Sie muß davon ausgehen, daß ein Nuklearkrieg, ja jeglicher Krieg gegeneinander, unter keinen Umständen gewonnen oder geführt werden kann. Auf dieser Grundlage müßte es, als ein erster Schritt, möglich sein, sich zunächst über eine nukleare »Minimalabschreckung« und die dafür erforderlichen Potentiale zu verständigen. Als Folge würden sich mit großer Wahrscheinlichkeit neue Spielräume für gemeinsame, aber auch für einseitige nukleare Abrüstungsmaßnahmen eröffnen.
    • Die Aussichten für eine Übereinkunft über eine einschneidende Reduzierung der strategischen Offensivwaffen der UdSSR und der USA noch im Jahre 1990 scheinen erfolgversprechend. Das Zustandekommen einer entsprechenden Vereinbarung wird eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der 1990 stattfindenden 4. Überprüfungskonferenz zum NPT bilden.
    • Das vollständige und allgemeine Verbot der Kernwaffenversuche wird vielerorts als eine vorrangige Forderung zur Erhaltung des NPT erhoben.9 In absehbarer Zeit ist ein solches Verbot angesichts der weiterhin ablehnenden Haltung der USA jedoch nicht zu erwarten.10 Bestimmte Zwischenetappen, so z.B. eine stärke- und zahlenmäßige Begrenzung, könnten möglich sein. Zweifelhaft bleibt jedoch, ob sie von den Nichtkernwaffenstaaten als ausreichender Fortschritt akzeptiert werden.
    • Eine überfällige Entscheidung ist die Modifizierung der negativen Sicherheitsgarantien der Kernwaffenmächte gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten. Unter Berücksichtigung der bekannten Folgen eines Kernwaffenkrieges, besonders des »nuklearen Winters«, sollte es möglich sein, gegenüber den nichtkernwaffenbesitzenden Staaten eine generelle Nichtanwendungsversicherung abzugeben und diese in einer gemeinsamen völkerrechtlichen Vereinbarung zu formulieren. Damit wäre einer langjährigen Forderung der Nichtkernwaffenstaaten entsprochen.
  5. Schließlich taucht die Frage auf: Was können und sollten die beiden deutschen Staaten tun, um den NPT zu stärken und die internationale Sicherheit zu stabilisieren? Noch vor einem Jahr wäre die Antwort »nichts Besonderes« für viele akzeptabel gewesen. Sind doch beide Mitglieder des Vertrages (die DDR sei 1969, die Bundesrepublik seit 1975), keiner hat seither das Verlangen nach eigenen Kernwaffen geäußert. Jeder der beiden deutschen Staaten ist in seinem jeweiligen Bündnis – NATO bzw. Warschauer Vertrag – eingebunden, und beide sind durch das KSZE-Vertragswerk vielfältig in die bestehende europäische Ordnung integriert.

Seit jedoch die deutsche Vereinigung in rasantem Tempo voranschreitet und schon bald ein einheitliches Deutschland in der Weltpolitik agieren wird, sind neue Unwägbarkeiten entstanden. Nicht nur die unmittelbaren Nachbarstaaten fragen mit Besorgnis, wie verhindert werden kann, daß Deutschland erneut zu einer Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit werden könnte. Richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die endgültige Anerkennnung der polnischen Westgrenze, so ist bald abzusehen, daß auch die weitere Haltung der neuen Großmacht zum Besitz von Kernwaffen von der internationalen Staatenwelt gespannt verfolgt werden wird.

Die beiden deutschen Staaten haben die Gelegenheit, auf der bevorstehenden NPT-Überprüfungskonferenz und im Hinblick auf die für 1995 anstehende Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages ein deutliches Zeichen zu setzen. In einer gemeinsamen bzw. in getrennten, aber inhaltlich gleichgerichteten Stellungnahmen sollte verbindlich erklärt werden, daß beide deutsche Staaten sich jetzt und in einem künftigen geeinten Deutschland an den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen gebunden fühlen.

Insbesondere sollten sie sich verpflichten, auch weiterhin:

  • keine Kernwaffen zu produzieren, zu erwerben oder die Kontrolle über sie anzustreben (Artikel II);
  • bei der Gestaltung der internationalen Kooperation zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, einschließlich des Handels mit Kernmaterial, Ausrüstungen und Technologien, nicht zuzulassen, daß Kernenergie aus friedlichen Anwendungsgebieten für Kernwaffen verwendet wird (Artikel III) und
  • aktive Bemühungen für die Einstellung des nuklearen Wettrüstens, die nukleare Abrüstung sowie die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle zu unternehmen (Artikel VI).

Eine derartige Versicherung wäre geeignet, vorhandenes Mißtrauen gegenüber der deutschen Wiedervereinigung abzubauen und die anderen Staaten zu versichern, daß ein vereintes Deutschland nicht zu einer Bedrohung, sondern zu einem Element der Stabilität, der Stärkung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit werden will.

Die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit erfordert ein effektives Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Auf längere Sicht kann es jedoch nur erhalten werden, wenn seine Stärkung einhergeht mit der Schaffung von Bedingungen, die ein solches Regime überhaupt überflüssig machen. Die einzige Chance für das Überleben des NPT liegt in der Anerkennung der Tatsache, daß seine Lebensdauer ohnehin begrenzt ist. Um die verbleibende Zeit zu nutzen, muß ein radikal neues Denken her und muß unverzüglich konstruktiv gehandelt werden. Der einzig zuverlässige Weg zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen besteht in ihrer völligen Beseitigung.

Anmerkungen

1) Vgl. Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey, in: Disarmament Newsletter, New York, October 1989, S.4. Zurück

2) Vgl. Interview mit dem Ständigen Vertreter Indiens bei den Vereinten Nationen, C.R. Gharekhan, a.a.O., S. 8. Zurück

3) Siehe L.S. Spektor, New players in the nuclear game, Bulletin of the Atomic Scientists, Chicago, January/February 1989. Zurück

4) Siehe K. Kaiser, Non-proliferation and nuclear deterrence, Survial, London, March/April 1989. Zurück

5) O. Nathan/H. Norden, Einstein on Peace, New York 1980, S. 376. Zurück

6) Dies ist ein Hauptanliegen des von Indien vorgeschlagenen Programms zur Befreiung der Welt von Kernwaffen bis zum Jahre 2010, UN-Dokument A/S-15/12. Zurück

7) Siehe L.S. Spector. The Undeclared Bomb, Cambridge, Massachusetts 1988; siehe auch derselbe, Nonproliferation – After the Bomb Has Spread, Arms Control Today, Washington, December 1988. Zurück

8) Siehe Erklärung des USA-Vertreters Lehmann im 1. Komitee der 44. UN-Vollversammlung, UN-Dokument A/C.1/44/PV.5. Zurück

9) Siehe V. Goldanski/W. Dawydow, Über die Abwendung der horizontalen Weiterverbreitung der Kernwaffen, Gesellschaftswissenschaften, Moskau, Nr. 3/1989. Zurück

10) Siehe Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey a.a.O. Zurück

Dr. Wolfgang Kötter ist Dozent an der Sektion Völkerrecht und internationale Politik an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam. Zugleich ist Dr. Kötter Konsultant des UNO-Sekretariats in Fragen NPT.

Teststopp für Interkontinentalraketen

Teststopp für Interkontinentalraketen

von Udo Schelb

Entwicklung der Raketenzielgenauigkeit

Aus den Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing II und bodengestützter Cruise Missiles ist noch bekannt, daß eines der Hauptargumente die neuartige enorme Zielgenauigkeit dieser Waffensysteme betraf. Denn eine hohe Zielgenauigkeit ist die entscheidende Voraussetzung dafür, sehr stark »gehärtete« Punktziele, v.a. Raketensilos und verbunkerte Kommandozentralen, mit großer Wahrscheinlichkeit ausschalten zu können – mithin ein Attribut von »erstschlagsfähigen Waffen«. Zwar wird die Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen solche in die Erde eingelassenen, gewaltig betonarmierten Ziele nicht nur von der Treffgenauigkeit der Waffen, sondern auch von der Sprengkraft ihrer nuklearen Sprengköpfe und vom Grad der Härtung der Ziele mitbestimmt: Aber die Zielgenauigkeit beeinflußt diese bei weitem am stärksten. So hat etwa eine Verdoppelung der Treffgenauigkeit der angreifenden Waffe dieselbe Erhöhung der Zerstörungswahrscheinlichkeit zur Folge wie eine Verachtfachung der Sprengkraft. Für die militärische Anwendung am wichtigsten ist, daß man also bei sehr hohen Zielgenauigkeiten mit kleineren atomaren Ladungen denselben gewünschten Effekt erzielen kann. Denn dadurch würden die unerwünschten »Kollateralschäden« – v.a. Opfer in der Zivilgesellschaft – geringer und die Möglichkeit näherrücken, »präzise, selektive Schläge« gegen rein militärische Ziele zu führen. In der Pershing II ist/war die Kombination höchste Zielgenauigkeit/geringe Sprengkraft gut realisiert.

Wie stellt sich der aktuelle Stand der Zielgenauigkeit und der aus ihr resultierenden Hartzielzerstörungsfähigkeit real dar?

Die ersten ICBMs verfehlten ihre Ziele im Durchschnitt noch um mehrere Kilometer; in den 70er Jahren waren es einige hundert Meter, in der 2.Hälfte der 80er Jahre erreichen die treffsichersten strategischen Raketen als Höchstwert etwa 100 m Treffgenauigkeit auf interkontinentalen Reichweiten. Als qualitative Trends waren zu verzeichnen: Sowjetische ICBMs hinkten und hinken den amerikanischen in der Genauigkeit deutlich hinterher; durchschnittlich um sieben Jahre, wenn man es mit Zeitabständen zu fassen versucht. U-Boot-abgeschossene SLBMs waren in der Vergangenheit immer wesentlich ungenauer, was hauptsächlich verursacht wurde durch die Schwierigkeit, den genauen Abschußort des fahrenden U-Bootes präzise genug zu bestimmen. Dieser Abstand zwischen ICBM und SLBM wurde jedoch von den USA seit Beginn der 80er Jahre mit den SLBM Trident I und Trident II tendenziell aufgehoben: Trident I erreichte als erste SLBM eine Zielgenauigkeit, die der einer modernen ICBM vergleichbar war; Trident II (gegenwärtig in der Flugerprobung) stößt mit in den neuen Rekordbereich von Genauigkeiten um 100 m vor. Für die sowjetischen SLBM ist ein ähnlicher Trend bis heute nicht auszumachen. Der Weltrekordinhaber bei den strategischen Raketen ist die MX mit 100 m Zielgenauigkeit; man spricht davon, daß ihr Lenksystem im Vergleich mit anderen ICBMs einer anderen Generation angehöre. Als Vergleichszahl interessant ist die Zielgenauigkeit der nicht-strategischen (Reichweite knapp 2000 km) und die der Verschrottung geweihten Pershing II : Nurmehr 40 m, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Während die bis 1985 zielgenaueste ICBM, die Minuteman III A, gegenüber Silos mit einer typischen gegenwärtigen Widerstandsfähigkeit rechnerisch knapp 75% Zerstörungswahrscheinlichkeit erreicht, sind es für die MX, die einen um 10% kleineren Sprengkopf hat, fast 99%. D.h., die neueste Raketengeneration ist (rechnerisch) in der Lage, gegenwärtige ICBM-Silos nahezu mit Sicherheit ausschalten zu können. Summiert man die inzwischen vorhandene Hartzielzerstörungsfähigkeit aller Raketen in den Arsenalen von USA und UdSSR zusammen, kommt man auf das beunruhigende Ergebnis, daß beide Seiten damit mehr als 97% Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen die Silos des Anderen haben (wobei jeweils mehrere Raketen ein Silo angreifen würden). Eine analoge Gegenüberstellung derselben Daten, die Kosta Tsipis 1974 vorgenommen hatte, zeigte noch beide ICBM-Arsenale klar im sicheren Bereich. Die Verwundbarkeit der ICBM-Silos ist also in den letzten 15 Jahren sehr schnell gewachsen – heißt das, daß beide Seiten kurz vor der Erlangung einer Erstschlagsfähigkeit stehen?

Nein; was durch diese Zahlen belegt wird, ist eine reale, ernstzunehmende, destabilisierende Tendenz, aber sie erfassen nicht, ob es eine konkrete rationale Option für einen Counterforce-Angriff gibt. Auch wenn man durch den Einsatz des allergrößten Teils der eigenen Raketen 97% der ICBM der anderen Seite ausschalten könnte, bliebe mit den auf absehbare Zeit unverwundbaren U-Boot-Raketen ein allemal ausreichendes Zweitschlagspotential bestehen. Solange nicht erreicht werden kann, daß diese unbeschädigten SLBMs nicht eingesetzt werden oder sie sonstwie entwertet werden können, bleibt also ein Erstschlag nach wie vor eine selbstmörderische Option. Hochgradige Silo-Verwundbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Erstschlagsfähigkeit (rationales Handeln vorausgesetzt).

Die realen Konsequenzen der zunehmenden Silo-Verwundbarkeit liegen in zwei Richtungen: Zum einen wird dadurch die Rüstungsdynamik angefacht. So hat die UdSSR mit ihren neuesten ICBMs, SS 24 und 25, begonnen, von der ortsfesten Stationierung zu einer mobilen auf LKW und Eisenbahn überzugehen, und dieser Trend wird sich auf beiden Seiten verstärkt fortsetzen. Denn das Beweglich-Machen der Ziele ist die natürliche Antwort auf höchste Treffsicherheit gegen Ziele mit fixierten Koordinaten. Mobilstationierung kompliziert aber erheblich die gängige Satelliten-Überwachung, weswegen die USA in den START-Verhandlungen den Verzicht darauf verlangten. Zum anderen ist es irritierend, aber Fakt, daß die Verwundbarkeit in den Köpfen und den realen Entscheidungen vieler Militärs und Politiker offenbar doch zu einem Gutteil mit der Möglichkeit einer Erstschlagsfähigkeit gleichgesetzt wird.

Ein typisches Denkmuster in strategischen Spielen setzt darauf, daß begrenzte, kontrollierte, gar »chirurgische« Schläge geführt werden können, die vom Gegner nicht ähnlich begrenzt, sondern nur durch eine Eskalation auf höhere Ebenen vergleichbar beantwortet werden können. Von solch einer Eskalation, bei der er nichts zu gewinnen habe, sondern nur das Schadensausmaß sich vergrößere, könne der Gegner abgeschreckt werden – hofft man. Für solche Szenarios sind natürlich hochzielgenaue Waffen, die mit geringen Sprengladungen auskommen, von größtem Interesse. In der Studie »Discriminate Deterrence« spielt dies eine zentrale Rolle; zugespitzt wird dort die Erwartung geäußert, daß die Zielgenauigkeits-Entwicklung von ICBMs im nächsten Jahrzehnt so weit getrieben werden könne, daß sie gehärtete Silos mit konventionellen Gefechtsköpfen ausschalten können. Sollte das zutreffen – was allerdings recht zweifelhaft ist – böte es den strategischen Planern eine faszinierende Option: Strategische Kernwaffen des Gegners mit nicht-nuklearen Mitteln auszuschalten. Wollte er dann auf gleicher Ebene zurückschlagen, müßte er als erster die nukleare Schwelle überschreiten – vorausgesetzt, er verfügt nicht über ähnlich zielgenaue Waffen. Solche Präzisionslenkung trauen die Amerikaner aber bisher nur sich selbst, nicht aber den Sowjets zu. Die Konsequenz einer solchen technischen Entwicklung würde mit Gewißheit nicht das Überflüssigwerden der Nuklearwaffen sein und die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Krieges nicht senken, sondern vergrößern.

Es ist durchaus vorstellbar, ein gehärtetes Raketensilo rein konventionell zu zerstören, wie eine Studie der RAND-Corporation 1983 meinte: Technische Voraussetzung dafür ist, das Silo exakt auf den Deckel – also mit Null Meter Zielverfehlung – zu treffen. Denn dann braucht das Silo nicht durch die schiere Explosionskraft einer Atomwaffe zerstört zu werden, sondern es kommt nur auf die Zertrümmerung des Silodeckels und die Beschädigung des Siloinhalts, der Rakete, an. Konventionelle Hohlladungen können aber meterdicken Beton ohne weiteres durchdringen. Nötig wäre es also, die Technologien der selbstzielsuchenden Waffen wie etwa von Panzer- und Luftabwehrraketen übertragungsfähig für Interkontinentalraketen zu machen. Es müßte die Technologie intelligenter, »gemarvter« ICBM/SLBM gemeistert werden: MARV kommt von Manouvering Reentry Vehicles, lenkbare Wiedereintrittskörper. Denn bisher hatten die Sprengköpfe der ballistischen Raketen, wenn sie nach ihrem Flug durch den Weltraum wieder in die Atmosphäre eintraten und auf das Ziel zustürzten, keine Möglichkeit einer Korrektur ihrer Flugbahn mehr. Intelligente MARV-Gefechtsköpfe müßten zum einen über geeignete Steuerungsmechanismen für die Wiedereintrittsphase und zum anderen über die Fähigkeit zur Zielerkennung und -suche verfügen. Die erste ballistische Rakete, die einen solchen MARV-Kopf besaß, ist/war die Pershing II und entsprechend ist/war sie auch die zielgenaueste. Sie benutzt gewöhnliche aerodynamische Flügel zur Kurskorrektur und nimmt im Flug ein Radarbild vom Zielgebiet auf, vergleicht es mit einem im Bordcomputer vorab gespeicherten und berechnet die nötigen Bahnänderungen. Eine Zielverfehlung von Null Metern ist damit nicht erreichbar; sie betrug etwa 40 m. Auf dieser Stufe kann die MARV-Technologie jedoch noch nicht auf ICBM/SLBM übertragen werden; der nötige Aufwand an Platz und Gewicht ist viel zu groß. Beispielsweise ist der Pershing-II-Wiedereintrittskörper, der einen einzelnen 10-20 kt-Sprengkopf enthält, schwerer als das Wurfgewicht der Minuteman-III-ICBM, die gegenwärtig mit drei MIRV-Sprengköpfen à 335 kt bestückt ist. Außerdem dürften die enormen Wiedereintrittsgeschwindigkeiten auf interkontinentalen Reichweiten, die zu starker Erhitzung der Gefechtsköpfe und der Bildung einer wenig transparenten Plasmawolke um sie herum führen, die Radarlenkung der Pershing erblinden lassen. Das Ziel der MARV-Entwicklung ist, die Fähigkeiten der Pershing in die vorhandenen ICBM-Wiedereintrittskörper zu inkorporieren (und für konventionelle Sprengköpfe sie noch stark zu steigern), statt sie durch zusätzliche äußere Aufbauten zu erreichen. Von diesem technisch äußerst schwierigen Ziel ist man noch weit entfernt.

Um sich ihm zu nähern, gibt es eine unabdingbare Voraussetzung: Raketentestflüge. Wenn eine Lenktechnologie entwickelt werden soll, die solch extremen Anforderungen wie der exakten Zielsuchlenkung eines mit ca. 7 km pro Sekunde in die Atmosphäre wiedereintretenden MARV-Gefechtskopfes genügen soll, ist es unmöglich, diese ohne realistische Tests zur Einsatzreife zu bringen. Was am zugespitztesten für die MARV-Technologie gilt, trifft aber auch generell für die Entwicklung neuer Raketen mit verbesserten Leistungsdaten, v.a. höherer Zielgenauigkeit, zu: Tests unter realen Einsatzbedingungen – d.h. Testflüge – sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Entwicklungsprogramms. Eine ICBM wird, bevor sie in Dienst gestellt wird, rund 20mal testgeflogen, eine SLBM rund 30mal. Beispielsweise soll die Trident II in diesen Tagen ihren 20. F.u.E.-Flug unternehmen, zugleich der erste vom getauchten U-Boot aus; die bisherigen Tests fanden unter erleichterten Bedingungen von Startrampen an Land aus statt.

So anspruchsvoll und wichtig für die Überprüfung der Raketenkonstruktion eine genaue Beobachtung von Details ist, so einfach ist es auf der anderen Seite, überhaupt festzustellen, daß ein Raketentest stattfindet: Während der Startphase werden die heißen Triebwerksabgase von den Infrarot-Detektoren der Frühwarnsatelliten erfaßt; beim ballistischen Flug über etliche Tausend Kilometer Reichweite steigt die Rakete auch über 1000 km hoch in den Weltraum auf und kann somit leicht von Radars erfaßt werden. Zu verifizieren, ob Raketentestflüge vorgenommen werden oder nicht, ist also für die USA wie die UdSSR mit den vorhandenen Beobachtungsmöglichkeiten zuverlässig möglich.

Es gibt Behauptungen (die in Reaktion auf den Vorschlag eines Raketenteststopps aufgestellt wurden), daß Raketentestflüge für die Raketenentwicklung nicht zwingend notwendig seien, daß sie durch andere Testmethoden und Simulationen am Boden, die nicht verifizierbar sind, ersetzt werden könnten. Eine Betrachtung allein schon der veröffentlichten Testerfahrungen lehrt, daß das ausgeschlossen ist. Immer wieder werden erst im Testflug gravierende Konstruktionsmängel aufgedeckt, die zuvor nicht erkannt wurden. Von 8 in den 80er Jahren entwickelten neuen ballistischen Raketen der Supermächte versagten beim ersten Testflug 5 vollständig. Da mit neuen Raketentypen immer neue Leistungsgrenzen (z.B. mehr Zielgenauigkeit) erreicht werden sollen, müssen neue, unerprobte Technologien angewendet werden, bzw. alte weiter ausgereizt werden; ohne Testmöglichkeit kann das Militär sich nie darauf verlassen, daß die projektierten Werte tatsächlich geschafft werden. Die so zielgenaue Pershing II verfehlte im 2.Testflug das Ziel um nicht weniger als 6,5 km, nachdem sie im ersten Testflug wenige Sekunden nach dem Start explodiert war.

Erfreulicherweise zeigt auch eine Betrachtung des technologischen Flusses zwischen ballistischen ICBM/SLBM und solchen Raketen, die Satelliten u.ä. in den Weltraum transportieren, daß dies keine taugliche Umgehungsmöglichkeit für einen Raketenteststopp schafft.

Die Raketentestflüge bieten daher der Rüstungskontrolle den Ansatzpunkt, um auf die Raketenentwicklung bremsend und einfrierend einzuwirken. Die Basis für verbesserte Raketenleistungen wird durch mannigfache technische Neuerungen auf den verschiedensten Feldern geschaffen; auf derlei Laborentwicklungen hat die Rüstungskontrolle natürlich keinen Zugriff. Aber auf dem Weg vom Labor zum ausgereiften, funktionsfähigen Großwaffensystem sind die Raketentestflüge ein unerläßliches Kettenglied, an dem die Rüstungskontrolle den Hebel ansetzen kann.

Testflüge finden nicht nur während der Entwicklungsphase einer neuen Rakete statt, sondern begleitend während der ganzen operationalen Stationierungsdauer. ICBM wie die MX, die Minuteman III oder die sowjetische SS 18 werden jeweils 6-8mal jährlich getestet, um ihre unverminderte Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit zu überprüfen. Neben anderen Raketenteilen unterliegt v.a. das Lenksystem während der Stationierung im Silo einer bedeutenden Beanspruchung, weil ständige sofortige Einsatzbereitschaft der Rakete verlangt, daß gewisse Stabilisierungskreisel im Lenksystem permanent rotieren und regelmäßig nachjustiert werden. Ohne operationale Testflüge würde die »confidence« in das exakt plangemäße Funktionieren der Rakete mit der Zeit sinken.

Ein Raketenteststopp würde daher in zwei Richtungen wirken: Erstens würde er die Entwicklung neuer, immer zielgenauerer Raketen verhindern. Insbesondere der Einstieg in die MARV-Technologie, das wesentliche Zukunftspotential bezüglich der Zielgenauigkeit, würde damit verunmöglicht. Zweitens würde er zu einer Entschärfung der schon entstandenen Situation mit sehr hohen Silo-Verwundbarkeiten auf beiden Seiten führen, weil jegliche Erwägung eines Erstschlages gegen die gegnerischen Silos natürlich höchste »confidence« in die Raketen voraussetzt – angesichts der Konsequenzen im Falle des Fehlschlags. In den Worten des oben zitierten Stansfield Turner: „Mit der Zeit würde das Ergebnis des Nicht-Testens sein, daß, während die Raketen hinreichend zuverlässig und genau bleiben würden, um eine allgemeine Abschreckung aufrechtzuerhalten, sie nicht als zielgenau und zuverlässig genug für einen ersten entwaffnenden Schlag betrachtet werden könnten.“

Kurz: Wenn das Einfrieren der rüstungstechnologischen Dynamik bei den interkontinentalen ballistischen Raketen politisch gewünscht wird, ist eine Möglichkeit dazu gegeben.

Dr. Udo Schelb ist Physiker in Marburg.

Konventionelle Rüstungskontrolle

Konventionelle Rüstungskontrolle

Denkhilfen gegen herkömmliche Rüstungsgarantie

von Wilhelm Nolte

Ein neues Akronym greift Platz: KRK. Konventionelle Rüstungskontrolle. Wer Sprache genau nimmt, übersetzt richtig: herkömmliche Rüstungskontrolle. Da steckt keine Ermutigung drin. Herkömmliches Merkmal von Rüstungskontrollpolitik ist: Mißerfolg. Allzuoft hat sie dazu gedient, Rüstung von Ost wie West zu bemänteln und zugleich abzusichern.

Dennoch, es gibt einen Erfolg. Er liegt ein Jahr zurück: das INF-Abkommen1. Die nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa werden abgerüstet. Reagan und Gorbatschow hatten sich hierauf verständigt. Für beide Weltmächte war die Gefährdung durch die eigene Rüstung zu groß geworden, zu eng hatten sie sich mit den kleineren Partnern verkoppelt. Erleichert lassen sie die viel geschmähten Raketen zerstören. Öffentlichkeitswirksam werden die Trägersysteme zersägt und zersprengt. Aber nicht die Sprengköpfe2. Die bleiben verwendbar.

Schon bahnt sich der nächste Mißerfolg an. Schon fragt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, ob „mit (den) »START« (-Verhandlungen) nur die Fortsetzung des Wettrüstens garantiert“ wird3. START hatte SALT abgelöst. Das »L« in SALT hieß Limitation-Begrenzung. Das »R« in START sollte Reduction-Abrüstung versprechen – im nuklearstrategischen Bereich. Auch im konventionellen Bereich wurde in der MBFR-Konferenz Reduction angestrebt. Im ost-west-englischen Akronym für KRK, in CAC, ist nun weder von Begrenzung noch gar von Abrüstung die Rede. Alle verbliebene Hoffnung beschränkt sich auf bare Kontrolle: Control.

Eine CAC-Konferenz soll die in 14 Jahren ergebnislosen MBFR-Verhandlungen ablösen. CAC nennt den Verhandlungsgegenstand sprachlich korrekt: Conventional Arms: Konventionelle Waffen. Sie sollen Kontrolle unterworfen werden. Die Hoffnungen, die Vorschläge, die Mutmaßungen über das Erreichbare aber gehen über Kontrolle weit hinaus4. Hoffnungen, Vorschläge und Mutmaßungen lassen sich noch leicht formulieren. Denn noch steht ein sogenanntes »Mandat« für die Konferenz aus. Einzelne Konzepte machen die Runde. Auf den Abrüster setzen die einen, auf den Stark-Rüster die andern, auf den Abwarter die nächsten. Euphoriker verbreiten Zukunftsvisionen5, als hätten die Realpolitiker abgedankt. Mitnichten. Unverdrossen nehmen diese den »Feind« ins Visier und rechnen ihm vor6, worauf er werde verzichten müssen: auf Offensivfähigkeit, auf Invasionsfähigkeit, kurz: auf Bedrohung.

Dabei sind diese Begriffe ungeeignet, konkret zu kennzeichnen, was sie vorgeblich7 beinhalten. Einerseits nämlich leugnen amtliche Strategen gern, daß es überhaupt Waffen gebe, die als »offensiv« oder »defensiv« zu charakterisieren wären. Kampfpanzer beispielsweise, beharren sie, seien in der Hand des Verteidigers »defensiv«, aber in der Hand des Angreifers »offensiv«. Auf den Willen zum offensiven oder defensiven Gebrauch komme es an, auf die politische Absicht. Vordergründig betrachtet haben sie Recht. Waffen sind als solche handlungsunfähig, zum Gebrauch durch den Menschen gebaut. Von selbst fährt kein Panzer nach Osten oder Westen.

Aber warum versäumen die Amts-Strategen, zu erklären, welche Waffen sich zu welchem Gebrauch besser als andere eignen8? Brächten sie dies ins Gespräch, dann wäre rasch bestimmt, wer für welcherart Gebrauch – für Offensive oder Defensive – die besseren und vielleicht auch mehr Waffen vorhält, wer für Offensive mehr als für Defensive rüstet. Wer es – im Selbstverständnis des Verteidigers – unterläßt, Waffen auf diese Weise zu qualifizieren und dem Gegner vorhält, dieser wolle mit seinen Waffen nichts als Offensive möglich machen, bringt sich gegenüber der nicht-kundigen Öffentlichkeit wie gegenüber dem Gegner in den Geruch, mit den gleichen, selbst vorgehaltenen Waffen auch nichts anderes als Offensive zu wollen.9 (Kontrolle politischer Absichten macht er erst recht unmöglich.)

Invasionsfähigkeit ist der mit Offensivfähigkeit wie selbstredend eng verwobene Begriff.10 Vermutlich wird er aus Kurzsichtigkeit verwendet, wo ein anderer Begriff geboten wäre. Dabei mag politische Absicht im Spiel sein: die Öffentlichkeit soll begreifen, soll im Begriff »fassen«, wieviel mehr sie eigentlich tun müßte, um einer sogenannten Bedrohung zu begegnen, – wenn man ihr schon auf Dauer ausgesetzt bleibt. Invasionsfähigkeit vermittelt den Eindruck vom Ende. Und wer wollte das?

Das »Ende« eines konventionellen Krieges ist Kapitulation. Vor Kapitulation steht oder mit ihr einher geht: Okkupation.11 Der Aggressor besetzt das Land. Von Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes reden, als bedeutete sie Okkupation, heißt unterstellen: der mutmaßliche Aggressor hat hinreichend viele Truppen, um das Land zu besetzen. Und besetzt zu halten! Was sollte er mit einer Invasion bezwecken, nach deren Gelingen er seine Truppen zurückziehen muß, weil er das Land nicht in seiner militärischen Gewalt halten kann?

Okkupiert hält die Sowjetunion bespielsweise die DDR. Hier hat sie die Gewaltherrschaft des Dritten Reiches abgelöst. Von unverbrüchlicher Freundschaft zwischen Sowjetsoldaten und DDR-Bürgern wissen letztere nie zu berichten. Sie halten die Soldaten in den eng geschnittenen Uniformen für Besatzer. Die Sowjetunion braucht 400.000 Soldaten, um die 108.100 qkm große DDR besetzt und ihre 16,5 Millionen Bürger in der unverbrüchlichen Waffenbrüderschaft ruhig zu halten.

Wieviel Soldaten bräuchte sie für die 248.630 qkm Bundesrepublik? 2,5-mal so viel! Wieviel bräuchte sie für die 61 Millionen Bundesbürger? Viermal so viel? Ob die nicht schwerer zu beruhigen wären? Haben die nicht schon 40 Jahre Demokratie erlebt? Letztlich: wo eigentlich sollte die Sowjetunion diese Zigtausende von Soldaten abziehen? Aus der DDR? Aus Polen? Von der – sehr viel schwächer besetzten – Grenze zur Volksrepublik China?

Bloß von Offensivfähigkeit und Invasionsfähigkeit reden ist bloß die halbe Wahrheit. Sie verwirrt die Öffentlichkeit, statt sie aufzuklären. Denn offensivfähig und invasionsfähig ist die NATO auch.12 Allerdings ist auch sie nicht zur Okkupation in der Lage. So, wie sie zum Besetzt-Halten etwa nur der DDR nicht genügend Soldaten hat, so wenig ist sie für den Warschauer Pakt eine Bedrohung. Man muß es auch für den Warschauer Pakt zu Papier bringen: so, wie der Warschauer Pakt zum Besetzt-Halten etwa nur der Bundesrepublik nicht genügend Soldaten hat, so wenig ist er für die NATO eine Bedrohung. Eine Gefährdung stellt er dar. Offensivfähigkeit und Invasionsfähigkeit machen beide Militärbündnisse zu gefährlichen Gegnern. Sie sind in ihrer jeweiligen militärischen Potenz Gefährdungen nicht einmal nur für diesen. Sie stellen zugleich Gefährdungen für die Nicht-Gegner dar, z.B. insoweit diese bei nuklearer Kriegführung von deren Auswirkungen erfaßt werden.

Die Gefährdungen liegen bei Außerachtlassung der nuklearen Waffen im Bereich der konventionellen Rüstungen. Hierüber soll verhandelt werden, um die Gefahren unter Kontrolle zu bekommen, denen sich Ost wie West West wie Ost aussetzen.

Der erste Schritt zum Erfolg jeder Rüstungskontrollkonferenz scheint uns in einem kontrollierten Vokabular zu liegen. Der erste Schritt zu kontrolliertem Vokabular ist Kontrolle der selbst verwendeten Begriffe. Mißdeutbare Begriffe auf der eigenen Seite erschweren die untereinander gebotene Verständigung. Verständigung mit dem Gegner machen sie unmöglich. Hingegen kann es mit treffenderen Begriffen, mit den Mitteln präziser Sprache gelingen, deeskalierend Spannung aus einem Konfliktverhältnis herauszunehmen, die in den tatsächlichen Sachverhalten nicht begründet ist. Es wird sich – entspannt – leichter reden und erfolgsträchtiger verhandeln lassen.

Wir plädieren mithin für den Begriff Gefährdung – anstelle des zumeist vorgehaltenen Begriffs Bedrohung. Gefährdung charakterisiert nach unserer Einschätzung die Situation in Mitteleuropa treffender. Hardliner werden sich an die Feind-Bild-Debatte der 60-er Jahre erinnert sehen und unser Bemühen für müßig erklären, der allgemeinen Verteidigungsbereitschaft abträglich. Wir halten dagegen, daß der Ost-West-Konflikt ein ideologischer Konflikt ist, politischer Natur. Da ist es geboten, den politischen Gegner, der mit seiner Rüstung zu Offensive und Invasion fähig ist, zu Okkupation aber mangels Soldaten nicht willig sein kann, als zwar gefährlich aber durchaus nicht bedrohlich zu bezeichnen.13

Für den Gebrauch des Begriffs Gefährdung anstelle von Bedrohung spricht ein weiterer Umstand. Ein erheblicher Anteil von mit Rüstung verbundenen Risiken folgt im Falle ihrer Anwendung daraus, daß unsere zivile Infrastruktur unzählig viele Anlagen beherbergt, die im Falle ihrer Zerstörung etwa »nur« durch eigene, versehentlich »treffende« Waffen der Wirkung von konventionellen Waffen vergleichbare Zerstörungen hervorrufen.14 Sie können sogar weit schlimmer, nämlich wie nukleare Waffen oder wie andere Vernichtungswaffen wirken. Keiner der über konventionelle Rüstung Verhandelnden wird hierin eine Bedrohung ausmachen wollen. Eine Gefährdung, die selbstverursacht eskalatorisch wirken kann, wird er vor sich selbst nicht leugnen können. Freilich wird der sie auch nicht zu den Verhandlungsgegenständen der KRK-Konferenz zählen können. Aber im Auge, im Sinn muß er sie doch behalten – um der Sicherheit wenigstens der eigenen Bevölkerung willen.

Gefährdung ist der die tatsächliche Situation in Mitteleuropa präziser fassende Begriff. Denn er nimmt bei der Beschreibung des Gegners nicht nur weitersichtig die wirklichen Möglichkeiten des Gegners in den Blick. Sondern er fängt auch die Risiken mit ein und spiegelt sie wider, die der Verteidiger selbst hervorruft, ohne daß er sie dem Gegner zurechnen dürfte. Darum ist dem Begriff Gefährdung angesichts der Dringlichkeit von mehr Sicherheit in Mitteleuropa der Vorzug zu geben.

Wie immer das »Mandat«, der Auftrag an die KRK aussehen wird: nicht Erbsenzählen, nicht gegenseitige Reduzierungsforderungen, nicht blinde Vorleistungen werden den benötigten Sicherheitszuwachs auf dem Wege von Konventioneller Rüstungskontrolle erleichtern, sondern Begriffe, die Verständigung dadurch begünstigen, daß sie unmißverständlich Verständnis für den Gegner und seine Sicherheitsbedürfnisse zum Ausdruck bringen. Ein Beharren auf den herkömmlichen Begriffen aber wird nicht mehr bringen als herkömmliche Rüstungsgarantie.

Anmerkungen

1 Informationen und Abkommenstext in: Der Bundesminister der Verteidigung (Hrsg): Der Abbau der Mittelstreckenflugkörper – Eine Bürgerinformation, Bonn, Juni 1988 Zurück

2 eine nüchterne Bewertung legt Walter Stützle vor im SIPRI-Jahrbuch 1988: Die jüngsten Entwicklungen in Rüstung und Abrüstung – 1987 der Wendepunkt?, deutsch in: Beiträge zur Konfliktforschung, 3/1988, S. 139-163; hier S. 142 ff. Zurück

3 Jan Reifenberg: Wird mit »Start« nur die Fortsetzung des Wettrüstens garantiert?, in: FAZ vom 01.11.1988 Zurück

4 eine auf 7 Druckseiten komprimierte Stichwortbeschreibung der Positionen beider Seiten findet sich in: Heinrich Quaden: KRK I, in: SISTRA – Sicherheitspolitische Strategien, 10/87, S. 4 ff., Redaktionsstand 18.03.1988; zur Haltung der Bundesrepublik siehe: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg): Bericht zur Rüstungskontrolle und Abrüstung 1987, Bonn, 28.04.1988, S. 55 ff. Zurück

5 als herausragendes Beispiel: Jonathan Dean: dieser u.a. in: The New NATO-WTO Force Reduction Talks: An optimal outcome. in: Defense & Disarmament ALTERNATIVES, No 5/1988, S. 1 ff.: Dean hält beiderseits 50-%-ige Abrüstung für möglich. Zurück

6 Forderungen des Westens lauten hier auf „stark asymmetrische Reduzierungen von Warschauer-Pakt-Streitkräften“; vergl. H. Quaden, a.a.O. S. 4; so auch in: Erklärung zur Konventionellen Rüstungskontrolle des Nordatlantikrates am 2.03.1988, veröffentlicht in: NATO-Brief, 2/1988, S. 23 ff., hier S. 35 Zurück

7 plakativ herausgestellt in: Bundeswehr aktuell, Nr. 21/1988, Seiten 2 und 3; die Darstellung nimmt für sich Seriosität in Anspruch Zurück

8 hilfreiche Hinweise gibt die Friedensforschung, so etwa: Johan Galtung: Es gibt Alternativen – Vier Wege zu Frieden und Sicherheit, Opladen 1984, S. 213 ff. Zurück

9 Differenzierter betrachtet: Lothar Rühl: Wie offensiv ist die NATO? Wie defensiv ist der Warschauer Pakt?, in: Die Welt – Sonderdruck für die Bundeswehr, Sept. 1988, S. 2 ff. Zurück

10 hier handelt es sich nicht um eine Artikulationsgewohnheit der konservativen »Alten«; auch die »neue Generation der CDU/CSU« sieht in der „Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts … die eigentliche Bedrohung“, so Volker Rühe in: Herausforderungen an die deutsche Außenpolitik, in: ders (Hrsg): Herausforderung Außenpolitik, Herford 1988, S. 24 u. 33 Zurück

11 zur Begriffstrennung vergl. Wilhelm Nolte: Zum Thema Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, in: Egon Bahr, Dieter S. Lutz (Hrsg): Gemeinsame Sicherheit – Konventionelle Stabilität, Band III, Baden-Baden 1988, S. 333 ff., bes. S. 337 f.; Dieter S. Lutz: Zur Theorie Struktureller Angriffsunfähigkeit – Genesis, Definitionen und Kriterien …, in: Hamburger Beiträge zur Friedens- und Sicherheitspolitik, Heft 22, Hamburg 1987, S. 48 f. Zurück

12 vergl: Werner Ebeling: Schlachtfeld Deutschland? Vernichtung oder Überleben, Friedberg 1986, S. 16, 71, 222. Zurück

13 vergl. auch Argumentationen in: Hans-H. Nolte, Wilhelm Nolte: Ziviler Widerstand und Autonome Abwehr, Baden-Baden 1984, S. 161 f. Zurück

14 hierzu u.a. Gerhard Knies: Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit oder: Über die strukturelle Kriegsunfähigkeit moderner Industriegesellschaften, in: S+F Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 2/1988, S. 79 ff. Zurück

Wilhelm Nolte ist Oberstleutnant und leitet das Fachzentrum Dokumentation an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

Teststopp: Das gemeinsame Verifizierungsexperiment der USA und der UdSSR

von Uwe Reichert

Seit November 1987 sitzen amerikanische und sowjetische Unterhändler in Genf an einem Tisch, um über Kernwaffentests zu verhandeln. Diese als Nuclear Testing Talks (NTT) bezeichneten Verhandlungen haben ein erstes Ergebnis erbracht: ein Abkommen über die Durchführung gemeinsamer Nukleartests für Verifizierungszwecke, das während des Moskauer Gipfeltreffens von Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai dieses Jahres unterzeichnet wurde.

Bereits von Juli 1986 bis Juli 1987 hatte es in Genf Gespräche zwischen den USA und der UdSSR gegeben, bei denen während insgesamt sechs Gesprächsrunden der gesamte Themenkomplex von Kernwaffentests durchdiskutiert wurde. Im Gegensatz zu den jetzigen Verhandlungen hatten die Unterhändler damals jedoch kein Mandat gehabt, ein Abkommen auszuhandeln; die Gespräche dienten lediglich dem Zweck, die eigene Position darzulegen und die Position der Gegenseite anzuhören. Die Nuclear Testing Talks dagegen sind formelle Verhandlungen, die auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sind. Eines vorneweg: die NTT sind keine Verhandlungen über einen umfassenden Kernwaffenteststopp. Sie sind daher auch keine Fortsetzung der 1981 unterbrochenen Teststoppverhandlungen, die unter Carter und Breshnjew recht ansehnliche Fortschritte erbracht hatten. Sie sind dagegen primär auf die Anwendung von Verifikationsmaßnahmen ausgerichtet, mit denen die Einhaltung des Testschwellenvertrages (TTBT) und des Vertrages über die friedliche Nutzung von Nuklearexplosionen (PNET) überwacht werden soll.

Die Position der Vereinigten Staaten

Sowohl der TTBT als auch der PNET sind von den USA zwar unterzeichnet, aber nicht verifiziert worden. Die Zusatzprotokolle zu den Verträgen enthalten Regelungen über die anzuwendenden Verifizierungsmethoden und über einen Austausch von Testdaten, die die Überwachung der Einhaltung der Vertragsbestimmungen erleichtern sollen. Dieser Datenaustausch fand aber wegen der Nichtratifizierung nicht statt. Nach Ansicht der gegenwärtigen US-Regierung reichen die in den Zusatzprotokollen beider Verträge vereinbarten Verifikationsmaßnahmen nicht aus. Sie stützt sich dabei unter anderem auf den Vorwurf, die Sowjetunion hätte in der Vergangenheit den TTBT „wahrscheinlich verletzt“, indem die in diesem Vertrag festgelegte 150-Kilotonnen-Schwelle überschritten wurde. Die US-Regierung möchte daher vor einer Ratifizierung eine Einigung mit den Sowjets über weitergehende Verifikationsmaßnahmen erzielen und neue Protokolle verhandeln. Dies soll in der ersten Etappe der NTT-Verhandlungen geschehen. Nach erfolgter Ratifizierung des TTBT und des PNET sollen nach den Worten der amerikanischen Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung (ACDA) weitere mittelfristige Begrenzungen von Kernwaffentests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses verhandelt werden. Unter anderem soll dieser Prozeß als vorrangige Priorität die Reduzierung von Nuklearwaffen und ihre letztendliche Beseitigung zum Ziel haben. Bei zukünftigen Abkommen über die Begrenzung von Kernwaffentests sollen die erweiterten Verifizierungsmaßnahmen, die zuvor bei einem gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE) erprobt wurden, „in geeignetem Rahmen“ Anwendung finden.

Das CORRTEX- System

Mittelpunkt der von den USA vorgeschlagenen Verifizierungsmaßnahmen ist ein hydrodynamisches Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke eines unterirdisch gezündeten Kernsprengsatzes, das unter dem Namen CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment) bekannt ist. Hydrodynamische Verfahren zur Ladungsstärkebestimmung nutzen die Tatsache aus, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront, die bei der Detonation eines Kernsprengsatzes entsteht, von der Ladungsstärke abhängt (weitere Parameter, die in die Beziehung zwischen beiden Größen eingehen, hängen von den physikalischen Eigenschaften des Gesteins in der Nähe des Explosionszentrums ab). Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schockwellenfront kann zum Beispiel bestimmt werden, indem man ein Koaxialkabel vom zu testenden Kernsprengsatz ausgehend senkrecht nach oben verlegt und dessen Längenänderung mißt, wenn es durch die Schockwellenfront zerbrochen wird. Diese Lagenänderung des Kabels kann auf verschiedene Weise gemessen werden. CORRTEX benutzt dazu kurze elektrische Impulse, die von einem elektronischen Gerät im Abstand von 10 bis 50 Millisekunden in das obere Ende des Kabels eingespeist werden. Ein Teil der Impulse wird am unteren Ende des Kabels reflektiert und vom Gerät registriert. Durch die Messung der Laufzeit aufeinanderfolgender Impulse für Hin- und Rückweg läßt sich so die Länge des Kabels und damit auch die Position der Schockwellenfront in Abhängigkeit von der Zeit bestimmen. Aus der Laufzeitmessung der Impulse und der Anwendung theoretischer Modelle ergibt sich so die gesuchte Ladungsstärke. Am sinnvollsten und einfachsten ist es, das CORRTEX-Kabel direkt in dem Schacht zu verlegen, in dem sich der zu testende Kernsprengsatz befindet. Soll jedoch eine andere als die den Nukleartest durchführende Nation die Einhaltung des Testschwellenvertrages durch die Anwendung des CORRTEX- Systems (oder des äquivalenten sowjetischen MIS- Systems) überprüfen, könnte sie auf diese Weise Informationen über den Kernsprengsatz gewinnen, die möglicherweise Aufschluß über dessen Aufbau und Effektivität geben. Aus diesem Grunde ist für Verifizierungszwecke – sollte es je zu einem routinemäßigem Einsatz dieser Systeme kommen – der Gebrauch eines sogenannten Satellitenschachts vorgesehen, der parallel zu dem Hauptschacht in einem Abstand von etwa zehn Metern zu bohren ist.

Das JVE-Experiment

In dem Ende Mai unterzeichneten Abkommen über die Durchführung eines gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE) hatten sich die USA und die UdSSR darauf verständigt, auf jedem ihrer Testgebiete einen Nuklearversuch durchzuführen, dessen Ladungsstärke gemeinsam durch hydrodynamische Verfahren gemessen wird. Die beiden Versuche haben in der Zwischenzeit stattgefunden: am 14. August detonierte in der Pahute Mesa auf dem Nevada-Testgelände der erste amerikanische Kernsprengsatz, bei dem sowjetische Beobachter zugegen waren. Am 17. September folgte die Zündung des sowjetischen Kernsprengsatzes auf dem Semipalatinsk-Testgelände unter Anwesenheit amerikanischer Wissenschaftler. Die Einzelheiten der Durchführung der beiden Verifizierungsexperimente wurden durch einen knapp über 100 Seiten zusammenfassenden Anhang zum JVE-Abkommen geregelt. Alle Vereinbarungen, soweit sie nicht spezifische Unterschiede der amerikanischen und sowjetischen Meßsysteme betrafen, waren streng symmetrisch ausgelegt. Die geplante Ladungsstärke der beiden Kernsprengsätze sollte im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen liegen. Bei jedem der beiden Nuklearversuche wurden die hydrodynamischen Messungen von amerikanischer und sowjetischer Seite sowohl im Hauptschacht als auch in einem Satellitenschacht vorgenommen (das Abkommen enthält eine Klausel, die der Beobachterseite die Durchführung der Messungen im Hauptschacht als Referenzmessung nur für das JVE-Experiment erlaubt; sollten die Meßverfahren bei künftigen Nukleartests zum Einsatz kommen, wären die Messungen nur in einem Satellitenschacht möglich). Vor der Durchführung der beiden Nuklearexplosionen tauschten beide Seiten eine Reihe von Informationen über die Tests und die Testgebiete aus, die für die Auswertung der Meßdaten unbedingt nötig sind, so zum Beispiel die Tiefe, in der die Detonation stattfand, und verschiedene geologische und geophysikalische Daten des jeweiligen Testgebietes. Ebenfalls ausgetauscht wurden die entsprechenden Daten von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Kernwaffentests, die in dem Zeitraum von Anfang 1978 bis Ende 1987 durchgeführt worden waren (dieser Datenaustausch erfüllt gleichzeitig die Vereinbarungen des Zusatzprotokolls des TTBT aus dem Jahre 1974). Ergänzt wurde der Datenaustausch durch die Seismogramme dieser zehn Kernwaffentests, die von fünf amerikanischen und fünf sowjetischen Meßstationen aufgenommen worden waren. Diese Daten sollen zusammen mit den seismischen Registrierungen der beiden JVE- Explosionen dazu dienen, das seismische Verfahren zur Bestimmung der Ladungsstärke anhand der hydrodynamischen Messungen zu kalibrieren. In diesem Punkt kommt dem JVE die größte Bedeutung zu, denn mit der Ankopplung des seismischen Verfahrens zur Ladungsstärkebestimmung an das hydrodynamische Verfahren könnte es jetzt gelingen zu klären, ob die USA Recht haben mit ihrem Vorwurf, die UdSSR hätte in der Vergangenheit die Testschwelle von 150 kt überschritten. Ursache des Streits ist die Tatsache, daß aufgrund von Unterschieden im geologischen Aufbau der amerikanischen und sowjetischen Testgebiete Nuklearexplosionen gleicher Ladungsstärke verschieden große seismische Signale hervorrufen. Überträgt man die Daten, die anhand der Tests in Nevada genommen wurden, auf das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk, so wie es verschiedene US-Behörden jahrelang getan haben, so führt dies zu einer Überschätzung der Ladungsstärke sowjetischer Tests. Unabhängige Seismologen hatten schon Anfang der siebziger Jahre auf diese Tatsache hingewiesen und einen aus Erdbebenmessungen abgeleiteten Korrekturfaktor eingeführt, der zu einer realistischen Bestimmung der Ladungsstärke sowjetischer Nukleartests führte. Zieht man zur seismischen Bestimmung der Ladungsstärke die Registrierungen verschiedener Wellentypen (Raumwellen, Oberflächenwellen, Lg-Wellen) heran, so beträgt der Meßfehler nach Ansicht führender Seismologen etwa 50 Prozent. Demgegenüber wird von der US-Regierung die Genauigkeit von CORRTEX-Messungen im Hauptschacht mit 15 Prozent, bei Messungen im Satellitenschacht mit 30 Prozent angegeben. Die bei den JVE-Experimenten durchgeführten CORRTEX-Messungen im Hauptschacht können daher recht gut als Kalibrierung des seismischen Verfahrens dienen. Sollte CORRTEX bei künftigen Nukleartests dagegen nur in einem Satellitenschacht eingesetzt werden, dann wäre, so meinen Kritiker, die Unterschiede der beiden Verfahren vernachlässigbar gering, so daß der hohe Aufwand von CORRTEX (hohe Kosten, lange Vorbereitungszeit von 3 – 4 Monaten, Anwesenheit fremder Beobachter auf dem Testgebiet) eigentlich nicht zu rechtfertigen sei. Die US-Regierung sieht die Genauigkeit hydrodynamischer Messungen eher in der Gegend von 100 Prozent; sie möchte daher den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX bei allen Kernwaffentests mit einer geplanten Ladungsstärke von mehr als 50 kt vorsehen. Die Sowjetunion favorisiert dagegen seismische Messungen. Bei den NTT- Verhandlungen ist die endgültige Einigung auf künftig anzuwendende Verifikationsmaßnahmen und die Ausarbeitung eines neuen Zusatzprotokolls für den TTBT auf Drängen der Sowjets auf die Zeit nach der Auswertung der beiden JVE-Experimente vertagt worden. Man darf also gespannt sein, wie die Ergebnisse des JVE-Experiments aussehen und ob es wirklich zu einer Ratifizierung des TTBT und des PNET kommen wird.

Chronologie

17.09.87 Die USA und die UdSSR geben in einer gemeinsamen Erklärung bekannt, daß sie sich auf die Aufnahme umfassender, schrittweiser Verhandlungen über Kernwaffentests vor dem 1. Dezember 1987 geeinigt haben.

9. – 20.11.87 Erste Runde formeller, schrittweiser Verhandlungen der USA und der UdSSR über Kernwaffentests in Genf (Nuclear Testing Talks, NTT).

9.12.87 Beim Washingtoner Gipfeltreffen geben die beiden Außenminister Shultz und Schewardnadse bekannt, daß ein gemeinsames Verifizierungsexperiment durchgeführt werden soll.

8. – 15.01.88 Nukleartest-Experten der USA besuchen das sowjetische Testgebiet bei Semipalatinsk.

24. – 30.01.88 Gegenbesuch sowjetischer Experten auf dem US-Testgelände in Nevada.

15.02. – 28.06.88 Zweite Runde der NTT in Genf.

9.03.88 Die US-Delegation legt in Genf den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor, der den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

18.03.88 Die sowjetische Delegation legt ihrerseits den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Testschwellenvertrag vor.

31.03.88 Die US- Delegation legt den Entwurf eines Verifizierungsprotokolls für den Vertrag über die friedliche Nutzung von Kernexplosionen (PNET) vor, der ebenfalls den routinemäßigen Einsatz von CORRTEX vorsieht.

April 88 Bohren der für die hydrodynamischen Experimente benötigten Satellitenschächte in den Testgebieten.

24.05.88 Die UdSSR legt ihren Entwurf des Verifizierungsprotokolls für den PNET vor.

31.05.88 Die Außenminister Shultz und Schewardnadse unterzeichnen während des Moskauer Gipfeltreffens ein Abkommen über das gemeinsame Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE).

28.06.88 Die USA und die UdSSR tauschen Daten über die Stärke von je fünf früheren Kernwaffentests im Bereich zwischen 100 und 150 Kilotonnen aus. Der Datenaustausch beinhaltet auch seismische Registrierungen dieser Tests und Angaben über die geophysikalische Beschaffenheit der Testorte.

17.08.88 Nukleartest in Nevada unter Beteiligung sowjetischer Experten

29.08.88 Beginn der 3. Runde der NTT

14.09.88 Nukleartest in Semipalatinsk unter Beteiligung amerikanischer Experten.

Quelle: ACDA, Arms Control Reporter

Dr. Uwe Reichert, Interdisziplinäre Forschungsgruppe zu naturwissenschaftlich-technischen Aspekten der Sicherheitspolitik an der TH Darmstadt