Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

Ruhr Universität Bochum 14.09.1988

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

von Redaktion

Fernüberwachung als wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Erneut gemeinsameramerikanisch-sowjetischer Atombombentest

Pünktlich acht Minuten nach der unterirdischen Zündung der Bombe in der asiatischenSowjetrepublik Kasachstan erreichten heute früh die seismischen Wellen das Ruhrgebiet undwurden vom Erdbebennetz der Ruhr-Universität Bochum erfaßt. Im Vergleich zuramerikanischen Sprengung am 17. August erzeugte die russische Kernexplosion wesentlichdeutlichere Ausschläge aller Seismographen des Bochumer Netzes, die nicht nur auf demGelände der Ruhr-Universität installiert sind, sondern auch an unterirdischenMeßplätzen im Raum Hamm (ca. 900 m unter NN) und im Raum Moers (ca. 600 m unter NN). Ausdiesen Aufzeichnungen kann man abschätzen, daß die Explosion eine Stärke von 100 – 150Kilotonnen hatte. Die genaue Ladungsstärke soll später im Rahmen des Datenaustauscheszwischen den Supermächten publiziert werden. Für die Seismologen in aller Welt, derenInstrumente beide Explosionen registrierten, ergibt sich damit die Möglichkeit, ihreAufzeichnungen zu vergleichen, um zukünftig die Ladungsstärken derartiger Explosionenbesser abschätzen zu können: Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer weiterenVerringerung und letztlich der völligen Abschaffung atomarer Bombentests.

Die Bochumer Messungen am frühen Morgen (4.00 Uhr Weltzeit, 6.00 Uhr MEZ) beweisenerneut: Atomtests sind auch durch Fernmessungen kontrollierbar. Bereits am 17. Augusthatte Prof. Dr. Hans-Peter Harjes, Geophysiker an der Fakultät für Geowissenschaften derRuhr-Universität Bochum, die von amerikanischen und sowjetischen Technikern gemeinsamdurchgeführte unterirdische Atomwaffenexplosion aufgezeichnet, mit der die Einhaltung vonObergrenzen für die Stärke unterirdischer Kernwaffentests gegenseitig zuverlässigüberwacht werden soll. Die Kernexplosion in Semipalatinsk ist – nach der in Nevada– der zweite Test, den die Experten beider Mächte nach dem »GemeinsamenVerifikations-Experiment«-Vertrag (JVE) zwischen US-Außenminister Shultz und seinemsowjetischen Kollegen Schewardnadse vom April 1988 durchgeführt haben. Zwischen beidenLändern war vereinbart worden, die Möglichkeiten zur Überwachung von“Test-Schwellenabkommen« effektiv zu erkunden. Die Geophysiker um Prof. Harjes an derRuhr-Universität haben durch ihre Forschungen maßgeblich dazu beigetragen, das Know-howund die technischen Möglichkeiten zur Fernerfassung von unterirdischen Tests zuerarbeiten.

Prof. Harjes diente auch diese Kernexplosion als Eichexperiment, das Daten fürzukünftige Überwachungsaufgaben liefern soll. In Ergänzung zu den lokalenhydrodynamischen Meßmethoden amerikanischer und sowjetischer Techniker schlägt er dieFernüberwachung von Atomteststopp-Verträgen vor. Sie ist nach seiner Meinung nicht nurtechnisch möglich, sondern auch eine besonders vertrauensbildende Maßnahme. Alsseismologischer Experte ist der Bochumer Geophysiker Harjes seit 1976 Berater derBundesregierung bei den Genfer Abrüstungsgesprächen. In dieser Eigenschaft hatte erbereits 1986 dem Internationalen Friedensforscher Kongreß zum Thema »Ways out of theArms Race« ein Memorandum mit dem Titel „The Verification of a Comprehensive TestBan“ vorgelegt. Dieser Vorschlag wurde in die Genfer Abrüstungsgesprächeeingebracht. Darin skizziert Harjes ein Überwachungssystem für Teststoppabkommen durchein weltumspannendes Netz seismischer Beobachtungszentren. Dieses sollte aus etwa 50 bis100 über die ganze Welt verteilten sogenannten »Arrays« bestehen, die einheitlich mitden modernsten Instrumenten ausgestattet sein müßten. Arrays sind mehrere, zentralzusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern.

Nach Aussage von Prof. Harjes ist der Vorteil eines solchen Netzes gegenüber denlokalen hydrodynamischen Erfassungsmethoden der Sowjets und der Amerikaner die flexibleMeßgenauigkeit. Während z.B. »Corrtex«, das hydrodynamische Meßgerät der Amerikaner,direkt vor Ort installiert und hauptsächlich für Explosionen um 150 Kilotonnen verwendetwird, gelingt einem teleseismologischen Netz bereits der Nachweis unterirdisch gezündeternuklearer Ladungen bis hinab zu zehn Kilotonnen TNT.

Ein solches Netz basiert auf Erfahrungen von Erdbebenmessungen. Atomexplosionenerzeugen Erdstöße ähnlich denen von Erdbeben, wobei Seismologen heute genauunterscheiden können, ob es sich um ein Erdbeben oder um eine unterirdische Atomexplosionhandelt. Im Unterschied zu Erdbeben, bei denen das Gestein auf einer ebenen Fläche vongelegentlich mehreren Kilometern bricht, wirkt der Überdruck von Atomexplosionengleichstark in alle Richtungen, so daß man in diesen Fällen von »punktförmigenQuellen« spricht. Die charakteristischen Ausschläge von Erdbeben und Kernexplosionenlassen sich daher im seismologischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.Auch die Stärke einer Sprengung können seismologische Experten nach den registriertenAusschlägen abschätzen. Selbst getarnte Versuche sind durch sie richtig erfaßbar, weilden Geologen genaue Informationen über Gesteinsarten und ihre Verteilung in der Weltvorliegen und weil ihnen die infrage kommenden Orte bekannt sind, wo die Zündungunterirdischer Atomtests möglich ist.

START oder Fehlzündung? Abrüstung oder Umrüstung?

START oder Fehlzündung? Abrüstung oder Umrüstung?

von Randolph Nikutta

Nach dem Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow in Washington im Dezember 1987 konzentrierte sich die politische Aufmerksamkeit und das öffentliche Interesse verstärkt auf den Bereich der strategischen Nuklearrüstung und eine mögliche neue Rüstungskontroll-Vereinbarung. Das INF-Abkommen weckte Hoffnungen, daß Rüstungskontrolle in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu weiteren Abrüstungsschritten führen könnte. Präsident Reagan sprach gar von der Aussicht auf einen neuen historischen „Vertrag“. Unter dem Gesichtspunkt der Abrüstung war Rüstungskontrolle in der Vergangenheit jedoch wenig erfolgreich.

In den SALT-Verhandlungen (Strategic Arms Limitation Talks) der 70er Jahre kam eine reale Abrüstung bei den strategischen Waffensystemen nicht zustande. Vielmehr versuchten beide Weltmächte in SALT-I und SALT-II, ihre asymmetrischen strategischen Rüstungspotentiale durch in etwa gleiche Obergrenzen bei den Trägersystemen, die aber relativ hoch angesetzt wurden, auszubalancieren. Reduzierungen sollten späteren Verhandlungen vorbehalten bleiben. Somit regulierte SALT 1 primär den quantitativen Rüstungszuwachs zwischen den beiden führenden Weltmächten.

Die Reagan-Administration trat im Januar 1981 mit dem politischen Vorsatz an, daß zuerst das militärische Potential der USA erheblich aufgestockt werden müsse, um dann anschließend mit der Sowjetunion aus einer Position der Stärke heraus über Rüstungskontrolle verhandeln zu können. Dieser Maxime gemäß wurden die amerikanischen Militärausgaben stark erhöht und umfangreiche strategische Aufrüstungs- und Modernisierungsprogramme in Gang gesetzt. Erst im Juni 1982 nahmen dann die USA und die UdSSR Wiederverhandlungen über strategische Rüstungskontrolle auf. Als neues Ziel amerikanischer Rüstungskontrollpolitik kündigte die Reagan-Regierung an, nunmehr einschneidende und militärisch signifikante Reduzierungen im strategischen Nuklearwaffenarsenal anzustreben. Um diesen neuen Ansatz nach außen hin sichtbar zu machen, wurde SALT in START (Strategie Arms Reduction Talks = Gespräche über die Verminderung strategischer Waffen) umbenannt.

Der Kern der amerikanischen Ausgangsposition bei START bestand darin, Abrüstung durch tiefe Einschnitte (deep Cuts) ausschließlich „bei den am meisten destabilisierenden Nuklearsystemen“, nämlich ballistischen, speziell landgestützten Raketen und ihren nuklearen Gefechtsköpfen, zu suchen. Drastische Einschnitte bei den sowjetischen landgestützten ICBMs (Inter Continental Ballistic Missiles) hatte die damalige konservative Opposition im Zusammenhang mit der Ablehnung des SALT-II-Vertrages gefordert, durch den sie einseitig sowjetische Vorteile gefördert sah. Von sowjetischer Seite wurde der mit dieser Zielrichtung in die Verhandlungen eingebrachte amerikanische Ausgangsvorschlag als unannehmbar zurückgewiesen. Hauptsächliche Gründe für die Ablehnung waren vor allem die Ausklammerung der Bomber und Marschflugkörper sowie der Sachverhalt, daß die UdSSR im Gegensatz zu den USA die Struktur ihres strategischen Arsenals einschneidend hätte verändern müssen, wenn sie den amerikanischen Reduzierungsvorstellungen nachgekommen wäre. Außerdem wäre es den USA auf der Grundlage ihres Verhandlungsvorschlages möglich gewesen, ihre geplanten strategischen Modernisierungsprogramme (MX-ICBM und TRIDENT-SLBM = Sea Launched Ballistic Missiles) ohne große Abstriche innerhalb der vorgesehenen Obergrenzen weiter durchzuziehen.

Zwar wurden im Verlauf der Zeit Positionsannäherungen in Teilbereichen erreicht, aber substantielle Fortschritte blieben aus, weil beiden Seiten der politische Wille zum Kompromiß fehlte. Die Gründe dafür lagen in dem allgemein durch erhöhte Spannungen gekennzeichneten bilateralen Verhältnis, welches vor allem durch die drastische Aufrüstung sowie die Kalte-Krieg-Rhetorik der Reagan-Administration belastet wurde und dem Scheitern der INF-Verhandlungen. Aus Protest gegen den Beginn der Stationierung neuer amerikanischer INF-Flugkörper in Westeuropa unterbrach die Sowjetunion schließlich die Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA für unbestimmte Zeit.

Im März 1985 nahmen beide Weltmächte wieder Verhandlungen in Genf auf. Im Gegensatz zur vorherigen Situation sind die Gespräche über Verminderungen strategischer Offensivwaffen diesmal ein Bestandteil eines übergreifenden Verhandlungsforums, welches unter der Bezeichnung „Nuclear and Space Arms Talks“ (Verhandlungen über Nuklear- und Weltraumwaffen) eingerichtet wurde. Zu diesem gehören noch die 1987 erfolgreich abgeschlossenen Gespräche über die INF-Waffen sowie die Verhandlungen über Verteidigungs- und Weltraumwaffen. Der Grund für die Ausweitung des Verhandlungsmandats über die strategischen Offensivwaffen hinweg liegt in dem amerikanischen SDI-Projekt. Für die UdSSR besteht zwischen offensiven und defensiven Systemen ein elementarer Zusammenhang. In der Sicht der sowjetischen Führung stellt SDI den Versuch der USA dar, das existierende Rüstungskontrollregime in der Form des ABM- und des allerdings nicht ratifizierten SALT-II-Vertrages zu verlassen, um dann über die Dislozierung von BMD-Systemen (Ballistic Missile Defense) und die gleichzeitige vertragliche Beschränkung der Anzahl ballistischer Raketen vermittels START sowie die zulässige Modernisierung von anderen Typen von Offensivwaffen (primär Bomber und Marschflugkörper) einen militärstrategischen Vorteil gegenüber der UdSSR zu erlangen. Aufgrund dieser Befürchtungen will die Sowjetunion SDI vertraglichen Beschränkungen unterwerfen, welche die Dislozierung eines strategischen Raketenabwehrsystems unterbinden oder doch zumindest zeitlich verlangsamen.

Bei ihrem ersten Gipfeltreffen in Genf im November 1985 haben sich Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow allgemein auf das Prinzip einer 50prozentigen Reduktion der Nuklearwaffen im Rahmen von START verständigt. Seitdem haben beide Seiten zwar eine Reihe ihrer Differenzen verringert oder beigelegt, doch bei etlichen Schlüsselpunkten, wie etwa der Frage der Zulässigkeit oder vertraglichen Einbindung von Raketenabwehrsystemen, liegen die Auffassungen noch weit auseinander. Nach dem Gipfeltreffen von Reykjavik spezifizierten die USA und die UdSSR in einem gemeinsamen Arbeitsdokument die Punkte der Übereinstimmung und Abweichung zu Schlüsselbereichen der Verhandlungen. Auf dieser Grundlage legten dann beide Weltmächte 1987 schriftliche Vertragsentwürfe vor. Bei dem Washingtoner Gipfeltreffen und danach konnten zwar einige weitere Verhandlungspunkte geklärt werden, aber nach Ansicht vieler Rüstungskontrollexperten befinden sich die Verhandlungen immer noch in einer tiefen Sackgasse, die primär durch grundlegend verschiedene Ansichten über die Rolle von strategischen Offensiv- und Defensivwaffen geprägt ist.2

Nachfolgend sollen eine Übersicht über den aktuellen Verhandlungsstand bei START (April 1988) gegeben sowie die Aussichten und die möglichen Folgen eines Abkommens erörtert werden. Insbesondere geht es dabei um die beiden Aspekte ob START tatsächlich zu einer allgemeinen 50prozentigen Reduzierung sämtlicher Nuklearwaffen und zu einer Eindämmung der qualitativen Rüstungsdynamik führen wird.3

Verhandlungsstand – Punkte der Übereinstimmung

Strategische Trägersysteme: Begrenzung der strategischen nuklearen Trägersysteme auf 1.600 Waffen, die eine Reduzierung der Anzahl von ICBMs, SLBMs und schweren Bombern einschließt. Jedoch bleibt ein Problem im Rahmen dieses Gesamtplafonds noch zu lösen: die USA wollen die Raketen zählen, während die Sowjets mehr für eine Zählung der Abschußgestelle sind. Das Problem der Nachladungen für Abschußgestelle soll als ein getrennter Gegenstand verhandelt werden und gilt nicht als ein größeres Hindernis. Fallengelassen hat die UdSSR inzwischen ihre Forderung nach einer Einbeziehung der sogenannten „Forward Based Systeme“, wodurch amerikanische INF-Systeme, Mittelstreckenbomber sowie Flugzeugträger miteinbezogen worden wären, die von der amerikanischen Administration nicht als strategische Systeme eingestuft werden.

Gefechtsköpfe: Beide Seiten vermindern die Anzahl ihrer strategischen Nukleargefechtsköpfe auf jeweils 6.000 Stück. Voraussetzung für diese Einigung war eine Absprache über die sogenannten Zählregeln (vgl. unten) für die Nukleargefechtsköpfe.

Untergrenzen: Bei ihrem Washingtoner Gipfeltreffen verständigten sich die USA und UdSSR auf eine Untergrenze von 4.900 Nukleargefechtsköpfen auf ballistischen Raketen – ICMBs und SLBMs – im Rahmen des Gesamtplafonds von 6.000. Innerhalb dieser Untergrenze haben die Sowjets einer weiteren Untergrenze von 1.540 Gefechtsköpfen auf 154 sogenannten schweren ICBMs zugestimmt. Dies würde auf sowjetischer Seite eine Halbierung der Anzahl von Gefechtsköpfen in dieser Kategorie von ICBMs (SS 18) bedeuten.

Zählregeln: Verständigt haben sich die Unterhändler inzwischen auch auf die Zählregeln,

Über welche die Anzahl des vorhandenen Gesamtbestandes an Gefechtsköpfen jeder Seite festgelegt wird, von der aus dann die vereinbarten Reduzierungen vorgenommen werden sollen. Diese Kriterien sind sehr wichtig, weil moderne ballistische Raketen eine große Anzahl von einzelnen Gefechtsköpfen tragen und strategische Bomber eine breit diversifizierte Waffenzuladung aufweisen können. Es ist äußerst schwierig, die tatsächliche Anzahl von Gefechtsköpfen oder Waffenzuladung auf diesen Trägersystemen jederzeit zu verifizieren. Aus diesem Grund basieren die Verhandlungsparteien ihre Reduzierungsberechnungen auf solchen Zählregeln.

Bezüglich ballistischer Raketen ist die Berechnungsgrundlage die Zahl der Gefechtsköpfe, mit denen ein bestimmter Typ bislang getestet worden ist. So ist z.B. für die neue amerikanische SLBM, die TRIDENT II, eine Anrechnung von 8 Gefechtsköpfen vereinbart worden. Jedoch hat die US Navy ursprünglich geplant, diese Rakete während des Washingtoner Gipfeltreffens auch in einer Version mit 12 Gefechtsköpfen zu testen. Würden nun 12 Gefechtsköpfe für diese Rakete als neue Zählregel vereinbart, dann müßten die USA die Anzahl von TRIDENT II SLBMs im Rahmen eines START-Abkommens vermindern, selbst wenn die Zahl der aktuell dislozierten Gefechtsköpfe auf diesem Raketentyp niedriger ausfällt.

Auch für strategische Bomber erzielten beide Seiten eine prinzipielle Einigung. Moderne strategische Bomber können drei verschiedeneTypen von Nuklearwaffen tragen: Bomben, Luft-Boden-Raketen (ASMs) und luftgestützte Marschflugkörper (ALCMs). Die USA und die Sowjetunion verständigten sich darauf, daß alle Bomben und ASMs an Bord eines Bombers als ein Gefechtskopf innerhalb der Gesamtobergrenzen von 6.000 zählen. So würde einem strategischen Bomber, der eine Waffenzuladung von 24 Bomben/ASMs hat, nur ein Gefechtskopf, und nicht 24 angerechnet. Dagegen zählt jeder ALCM als ein Gefechtskopf. Ein Bomber, bestückt mit 8, 12 oder 22 ALCMs, würde daher mit der entsprechenden gleichen Anzahl von Gefechtsköpfen in die Gesamtrechnung eingehen. Schwierigkeiten gibt es jedoch noch bei der genauen Festlegung, wieviele ALCM einem spezifischen Bomber angerechnet werden sollen. So haben die Sowjets amerikanische Vorschläge zurückgewiesen, der B-52 oder B-1 erheblich weniger als die 12 oder respektive 22 ALCMs anzurechnen, die sie tatsächlich als Waffenzuladung aufnahmen können.

Seegestützte Marschflugkörper: Bei dieser Waffenkategorie konnten sich beide Weltmächte bislang nur darauf verständigen, daß es prinzipiell eine Obergrenze für diese Waffen geben sollten, die aber außerhalb des anvisierten Gesamtplafonds von 1.600 Trägersystemen und 6.000 Gefechtsköpfen liegen wird.

Verifikation: Fortschritt haben die USA und UdSSR, vor allem beim Gipfeltreffen in Washington, in der Festlegung des prinzipiellen Umfangs und der Art von Verifikationsmaßnahmen erzielt. Die vorgesehenen Verifikationsmaßnahmen bauen auf dem INF-Vertrag auf, gehen aber weit über diesen hinaus. Sie haben im Rahmen von START auch ein größeres Gewicht. Während bei den zur Verschrottung vorgesehenen INF-Flugkörpern nur zu kontrollieren ist, daß keine Seite künftig mehr solche Systeme besitzt, würden bei den strategischen Waffen trotz der vereinbarten Reduzierungen weiterhin Systeme sämtlicher Kategorien stationiert sein. Im einzelnen wurde vereinbart: 1) Datenaustausch vor Unterzeichnung des Vertrages; 2) Inspektionen zur Datenüberprüfung unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrages; 3) Vor-Ort-Inspektionen bei der Eliminierung strategischer Waffen; 4) ständige Vor-Ort-Beobachtung an den Zugängen wichtiger Produktions- und Unterstützungseinrichtungen für strategische Waffen; 5) kurzfristige Vor-Ort-Inspektionen von im Vertrag deklarierten Einrichtungen; 6) das Recht zu kurzfristigen Vor-Ort-Inspektionen auch an anderen Stellen, wenn der Verdacht einer Vertragsverletzung besteht; 7)Verbot der Verschlüsselung von telemetrischen Signalen bei Raketentests; 8) kooperative Maßnahmen, die insbesondere den Einsatz der nationalen technischen Mittel zur Verifikation, z.B. Satellitenbeobachtung, effektivieren. Dies schließt z.B. die Zurschaustellung von Raketen, Bombern und U-Booten im Freien auf ihren Basen ein, wenn eine Vertragspartei ein entsprechendes Verlangen äußert.

Bereiche differierender Positionen

Verknüpfung START und SDI/ABM-Vertrag: Die Bereitschaft zum Abschluß eines START-Vertrages verbindet die sowjetische Seite mit der nicht verhandelbaren Bedingung, Reduzierungen von strategischen Offensivwaffen nur mit einer verbindlichen amerikanischen Zusicherung der weiteren Einhaltung des 1972 geschlossenen und weiterhin gültigen ABM-Vertrages (Anti-Ballistic Missile) vorzunehmen. Dabei geht es konkret um die Vereinbarkeit von SDI mit einem START-Abkommen. Die UdSSR argumentiert, daß ohne eine vertraglich verbindliche Verständigung über strategische Defensivsysteme im Kontext von START die Verminderung ihrer strategischen Raketen für sie keinen Sinn ergebe. Für die Sowjetunion sind ihre strategischen Raketen, insbesondere die ICBMs, das wichtigste Faustpfand für das Einfordern einer solchen „Linkage“ in den Verhandlungen.

Ungeklärt ist zwischen beiden Verhandlungsparteien, wie lange und auf welche Weise sie den ABM-Vertrag einhalten wollen. Die Sowjetunion fordert zehn Jahre, die USA bieten sieben Jahre an. Jedoch verständigten sich der amerikanische Präsident und der sowjetische Generalsekretär bei ihrem letzten Gipfeltreffen darauf, nicht später als drei Jahre vor dem Ende der noch zu bestimmenden Gültigkeitsdauer des ABM

Vertrages „intensive Diskussionen über strategische Stabilität“ aufzunehmen.

Falls während dieser drei Jahre keine Vereinbarung über das weitere Vorgehen bezüglich weltraumgestützter Defensivsysteme erzielt werden kann, soll es jeder Seite freistehen, über ihr künftiges Handeln in diesem Bereich selbst zu entscheiden. Danach könnten die USA also ein strategisches Raketenabwehrsystem stationieren.

Zwar wurde beim Washingtoner Gipfeltreffen auch verabredet, den ABM-Vertrag wie 1972 unterzeichnet zu beachten, jedoch ist strittig, was dieser Vertrag nun genau an Forschung, Entwicklung und Erprobung von BMD-Komponenten erlaubt. Die UdSSR sieht hier sehr enge Grenzen gezogen („restriktive Auslegung“), während die USA die sogenannte weite Interpretation für gerechtfertigt halten. Allerdings deuteten die sowjetischen Unterhändler eine gewisse Kompromißbereitschaft an, indem sie vorschlugen, eine Liste zu erstellen, in der festgelegt wird, welche Arten von BMD-Technologien und Tests genau erlaubt sein sollen.

Untergrenzen: Ein weiterer Streitpunkt bezieht sich auf das Problem, wie die als Höchstgrenze vereinbarten 6.000 Nukleargefechtsköpfe auf den verschiedenen Kategorien von strategischen Offensivwaffen verteilt sein sollen. Auf gewisse Untergrenzen haben sich beide Seiten inzwischen schon weiter verständigt (4.900 Sprengköpfe auf ballistischen Raketen sowie innerhalb dieser Untergrenze 1.540 Sprengköpfe auf den schweren sowjetischen ICBMs; siehe oben). Darüber hinaus haben jedoch sowohl die USA als auch die UdSSR im Laufe der Zeit verschiedene weitere spezifische Untergrenzen vorgeschlagen und sich dabei gegenseitig beschuldigt, über dieses Mittel den anderen zu einer vollständigen Umstrukturierung seines strategischen Nukleararsenals zu zwingen und dies zum eigenen Vorteil vertraglich festzuschreiben. Die strategischen Potentiale beider Seiten sind sehr asymmetrisch aufgebaut: So haben die USA den Großteil ihrer Nukleargefechtsköpfe in ihrer strategischen Triade auf U-Boote und auch ihre schweren Bomber verteilt (ICBM: 18 %; SLBM: 43 %; Bombergestützt [ALCM/SRAM/Bomben]: 39 %), während der Großteil sowjetischer Sprengköpfe sich auf landgestützten, ICBMs befindet (ICBM: 61 %; SLBM: 29 %; Bombergestützt: 10%).

Den USA geht es bei START vor allem um die weitere Begrenzung sowjetischer ICBMs. Innerhalb der Untergrenze von 4.900 Gefechtsköpfen auf ballistischen Raketen streben sie eine weitere von 3.300 Gefechtsköpfen für ICBMs an. Eine weitere geforderte Untergrenze bei schweren ICBMs hat sich durch das sowjetische Einverständnis einer Halbierung ihres Bestands in dieser Kategorie bereits erledigt. Da der amerikanische Vorschlag direkte Untergrenzen für den see- und bombergestützten Teil der strategischen Triade nicht vorsieht, wäre es den USA erlaubt, erheblich weniger als die 3.300 erlaubten Gefechtsköpfe auf ICBMs zu dislozieren und den dort eingesparten Anteil auf SLBMs, Bombern oder ALCMs zu verschieben. Im Extremfall könnten die USA sogar ganz auf ICMBs verzichten. Eine derartige Umstrukturierung des strategischen Potentials soll nach amerikanischer Auffassung jedoch nur einmal möglich sein. Mit diesem Vorschlag versuchen die USA, ihren seit Mitte der 80er Jahre ohnehin im Gang befindlichen Umrüstungsprozeß ihres strategischen Arsenals, der langfristig eine Verlagerung der militärischen Konkurrenz auf Bomber und Marschflugkörper anstrebt, wo relative rüstungstechnologische Vorteile der USA gegenüber der Sowjetunion bestehen, rüstungskontrollpolitisch abzusichern.

Die Sowjetunion hat demgegenüber weitere Untergrenzen vorgeschlagen, welche die Struktur ihres strategischen Potentials weitgehend erhalten und zugleich amerikanische Vorteile im Rüstungswettlauf begrenzen helfen. Sie will das von den USA geforderte Limit bei ICBM-Gefechtsköpfen jedoch nur akzeptieren, wenn die amerikanische Seite die Zahl ihrer Sprengköpfe auf den strategischen U-Booten in dem gleichen Rahmen halten. Allerdings möchte die UdSSR lieber Untergrenzen bei Gefechtsköpfen für alle drei Komponenten der strategischen Triade setzen:

  • 3.000–3.300 auf ICBMs,
  • 1.800–2.000 auf SLBMs und
  • 800–900 auf ALCMs.

Dadurch werden Grenzen für eine Umschichtung der Gefechtsköpfe auf andere Träger gesetzt. Die Vorgabe einer maximalen Höhe von Nukleargefechtsköpfen auch auf SLBMs und ALCMs bedeutet konkret, daß die USA je nach Vereinbarung zwischen 3.000–3.300 Sprengköpfe auf ICBMs dislozieren müssen, wenn sie den vereinbarten Gesamtplafond von 6.000 Gefechtsköpfen ausfüllen möchten. Für die USA würde die Annahme dieses Vorschlags implizieren, daß sie nur 10 strategische U-Boote mit SLBMs einsetzen könnten und gezwungen wären, ihrem ICBM-Arsenal 1.000 nicht gewünschte Gefechtsköpfe hinzuzufügen.

Mobile landgestützte ICBM: Dem amerikanischen START-Vertragsentwurf zufolge sollen mobile ICBMs verboten sein, während die sowjetische Version diese Waffenkategorie zuläßt. Im Gegensatz zu den USA baut und stationiert die UdSSR gegenwärtig mobile ICBMs (SS-24 und SS-25). Auf sowjetischer Seite wird argumentiert, daß mobile Raketen die strategische Stabilität mehr fördern würden als statische, in Silos dislozierte ICBMs, weil erstere sicherer vor einem überraschenden Erstschlag seien und die betroffene Seite nicht vor das „use them or lose them“-Syndrom stellen. Die Reagan-Administration hält schlicht dagegen, daß mobile ICBMs nicht verifizierbar seien. Jedoch könnte sich die amerikanische Haltung zu dieser Frage ändern, weil es einerseits im US-Kongreß starke Unterstützung für eine mobile ICBM mit einem Gefechtskopf (Midgetman) gibt und andererseits die Regierung momentan ernsthaft die Dislozierung einer auf Eisenbahnwaggons mobilen Version der MX erwägt. Der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt darin, ob sich beide Seiten auf akzeptable Verifikationsprozeduren sowie auf Obergrenzen für mobile ICBMs einigen können. Bezüglich des Verifikationsproblems hat die sowjetische Seite angeregt, mobile ICBMs auf vorher festgelegte Dislozierungsräume zu beschränken. Zum letzteren Aspekt hat die UdSSR inzwischen ihre Bereitschaft zu einem Limit von 800 mobilen Raketen erklärt.

Seegestützte Marschflugkörper: Die Entwicklung von Marschflugkörpern im allgemeinen und von SLCMs im besonderen hat für die Rüstungskontrolle eine Reihe von erheblichen Schwierigkeiten aufgeworfen. Zwar sind sich beide Verhandlungsparteien darin einig, Obergrenzen für nuklearbestückte SLCMs langer Reichweite außerhalb des 6.000 Gefechtskopf-Limits zu suchen. Doch von einer Verständigung über die SLCM-Obergrenzen und ein Verifikationsregime sind die USA und die UdSSR noch weit entfernt.. Die sowjetische Seite hat eine Begrenzung von 400 SLCMs vorgeschlagen, die auf zwei verschiedenen Typen von U-Booten sowie einer Klasse von Überwasser-Kriegsschiffen stationiert sein dürfen. Gleichzeitig strebt sie auch eine Limitierung fr die mit konventionellen Gefechtsköpfen bestückten SLCMs auf 600 Stück an. Zur Verifikation der Unterscheidung zwischen nuklearen und konventionellen SLCMs unterbreitete die UdSSR den Plan, Inspektoren an den Produktionseinrichtungen und den Stützpunkten zu stationieren, wo die Gefechtsköpfe auf die Marschflugkörper aufgesetzt werden. Angeregt wurde auch die Anbringung von Siegeln an den Gefechtsköpfen oder die Überwachung mit Hilfe von radiologischen Gerätschaften. Vor-Ort-Inspektionen der U-Boote oder Schiffe sollten nur bei Bedarf vorgenommen werden. Der sowjetische Chefunterhändler Karpow hat jüngst deutlich betont, daß es ohne verifizierbare Restriktionen für SLCMs kein START-Abkommen geben wird. Er schloß auch ein Tauschgeschäft der Art aus, SLMCs und mobile ICBMs im Austausch gegenseitig vollständig abzurüsten. Innerhalb der amerikanischen Administration herrscht gegenwärtig eine heftige Debatte, welche Obergrenzen für nukleare SLCMs und welche Art von Verifikationsmaßnahmen akzeptabel sein könnten. Limits fr konventionell bestückte SLCMs als auch ALCMs kommen für die Reagan-Regierung in keinerweise in Frage, denn diese Version der Marschflugkörper ist ein fest eingeplanter Bestandteil der Aufrüstung und Modernisierung des eigenen militärischen Potentials. Auch im amerikanischen Kongreß sind einflußreiche Stimmen für die Aufrechterhaltung der Option einer umfangreichen Dislozierung von konventionellen SLCMs und ALCMs vorhanden.

Reichweite von Marschflugkörpern: Erhebliche Differenzen bestehen zwischen beiden Verhandlungsseiten auch hinsichtlich der bedeutenden Frage, ab welcher Reichweite Marschflugkörper als strategische Waffensysteme eingestuft werden sollen. Die USA wollen Marschlugkörper erst mit einer Reichweite ab 1.500 km als strategisch zählen, während die Sowjetunion hier auf einer Schwelle von 600 km beharrt. Dieser Reichweitenstreit gewinnt seine eminent militärische Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit der von den USA als erforderlich angesehenen kompensierenden Nuklearrüstung, die vorrangig auf ALCMs und SLCMs unterhalb der strategischen Ebene abhebt, für Westeuropa im Gefolge des INF-Abkommens. Aber auch wegen möglicher Einsätze von Marschflugkörpern bei Interventionen in der Dritten Welt wollen die USA die Reichweite, ab der diese Systeme als strategisch gelten sollen, relativ hoch angesiedelt wissen.

Modernisierung der strategischen Arsenale: Die Modernisierung strategischer Waffensysteme innerhalb der vertraglich gesetzten numerischen Grenzen soll zwar erlaubt sein, doch sollen nach amerikanischer Ansicht neue schwere ICBMs nicht zulässig sein. Zudem bestehen die USA noch auf geeigneten Verifikationsprozeduren für ein Modernisierungsverbot schwerer ICBMs.

Zeitdauer der Reduzierungen: Die USA schlagen einen Zeitraum von sieben Jahren für die Realisierung der vereinbarten Reduzierung im Rahmen von START vor, während die sowjetische Seite hier eine Spanne von fünf Jahren anstrebt. Darüber hinaus möchte die UdSSR die Gegenseite darauf verpflichten, anschließend Verhandlungen über weitere Reduzierung zu führen.

Verifikationen: Die noch zu lösenden Schlüsselpunkte bei der Verifikationsfrage betreffen die Art und Weise der Überwachung der noch zu vereinbarenden Limits bei mobilen ICBMs und SLCMs. Hier ist gegenwärtig wenig Fortschritt zu verzeichnend

Abrüstungspolitische Folgen von START

Legt man den gegenwärtigen Verhandlungsstand und den sich abzeichnenden Rahmen eines START-Abkommens zugrunde, so ist Skepsis angebracht, ob dadurch tatsächlich ein Weg zu allgemeiner Abrüstung geöffnet wird.

Entgegen dem von der amerikanischen als auch sowjetischen Seite verbreiteten Eindruck, ein START-Abkommen würde zu einer 50prozentigen Reduzierung auf gleiche Obergrenzen bei den strategischen Offensivwaffen führen, sieht die rüstungskontrollpolitische Realität anders aus. Ein START-Vertrag würde weder die strategischen Trägersysteme, die Gesamtzahl der strategischen Nukleargefechtsköpfe noch die Gefechtsköpfe auf ballistischen Raketen halbieren. So hat das „Natural Resources Defense Council“ in einer Studie ausgerechnet, daß bei den strategischen Trägersystemen die USA lediglich um 26 % und die UdSSR um 35 % ihren jetzigen Bestand reduzieren würden. Der einzige Bereich, in dem wirklich eine Bestandshalbierung stattfinden würde, wären die Nukleargefechtsköpfe auf den sowjetischen ballistischen Raketen (von ungefähr 9.400 auf 4.900), während die USA hier um 40 % vermindern würden.4

Zieht man jedoch die Gesamtzahl der Gefechtsköpfe vor und nach einem Vertrag heran, dann wird jede Seite faktisch über mehr als die 6.000 Gefechtsköpfe verfügen, die als Gesamtobergrenze für START in Aussicht genommen sind. Der Hauptgrund dafür liegt in den Zählregeln für die Waffenzuladung strategischer Bomber (s.o.). Da die Bomber mehr an Waffen mitführen können, als ihnen voraussichtlich angerechnet wird, werden die realen Verminderungen bezogen auf diesen für das strategische Kräfteverhältnis wichtigen Indikator vor allem für die USA deutlich geringer ausfallen. Nach den Berechnungen des „Natural Resources Defense Council“ wird die amerikanische Seite ihren Gesamtbestand an strategischen Nukleargefechtsköpfen nur um 30 % reduzieren. Nach einem START-Abkommen verbleiben den USA tatsächlich rund 9.000 Gefechtsköpfe. Die Sowjetunion würde ihr Arsenal um ca. 30 % auf rund 7.000 Gefechtsköpfe vermindern. Weil die UdSSR einen großen Teil ihrer Gefechtsköpfe auf ICBMs disloziert hat profitiert sie von den Zählregeln für Bombe; nicht in dem Maße wie die USA. Insgesamt würde sich das strategische Arsenal an Gefechtsköpfen beider Weltmächte zusammengenommen lediglich um rund ein Drittel vermindern.5

Im Rahmen eines START-Vertrages müßten beide Seiten ein beträchtliches Maß an Systemen aus ihrem strategischen Potential aussondern und verschrotten. Dabei wird die UdSSR eine größere Anzahl an Waffensystemen und auch eine höhere Zahl an neueren Raketen zu eliminieren haben. Da jedoch die Verschrottung frühestens 1989 und auch nicht auf einmal, sondern verteilt auf einen Zeitraum von 5-7 Jahren stattfinden würde, fällt der Zeitpunkt der Aussonderung in vielen Fällen ohnehin mit dem Ende der Nutzungsdauer der betroffenen Waffensysteme zusammen. Ein START-Abkommen würde daher mit den Austausch- und Modernisierungszyklen der vorhandenen strategischen Waffensysteme nicht groß konfligieren. So wurden z.B. die gegenwärtig 28 strategischen U-Boote der Lafayette/Franklin Klasse der USA zwischen 1963 und 1967 eingeführt. Ihre Aussonderung und Ersetzung durch U-Boote der Ohio-Klasse ist für den Zeitraum zwischen 1993 und 1999 vorgesehen. Der amerikanische B-52G Bomber wurde von 1958 bis 1960 und das B-52H Modell zwischen 1960 und 1962 gebaut. Diese Bomber werden gegenwärtig durch die B-1B ersetzt und ab 1992 soll der ganze Bomberbestand auf den „Advanced Technology Bomber“ mit „Stealth“-Technik umgerüstet werden. Die sowjetischen Militärs müßten z.B. teilweise oder ganz ICBMs der Typen SS-17, SS-18 und SS-19 verschrotten, die erst zwischen 1975 und 1980 disloziert und darüber hinaus kürzlich modifiziert und verbessert worden sind.6

Die vorhergehenden Ausführungen deuten bereits an, daß ein START-Vertrag einer Modernisierung der strategischen Offensivpotentiale beider Seiten nicht sonderlich im Weg stehen würde. Sowohl die USA als auch die UdSSR können mit sämtlichen in der Forschung, Entwicklung, Erprobung oder Stationierung befindlichen strategischen Offensivwaffen fortfahren (USA: B-1B; SRAM II; Advanced Technology Bomber; TRIDENT II D5 SLBM; Advanced Cruise Missile; Advanced Strategic Missile etc.; UdSSR: SS-24 und SS-25 ICBMs; Typhoon und Delta IV U-Boote; SS-N-20 und SS-N-23 SLBMs; der Black-Jack-Bomber; AS-15 ALCM etc.). Gegenwärtig produzierte Systeme könnten unter START mit ihren geplanten Stückzahlen entweder vollständig oder mit kleineren Abstrichen disloziert werden (z.B. USA: 100 B-1B Bomber; 17 Trident U-Boote mit Trident II SLBMs anstelle von 20).7

Die unter einem START-Abkommen kaum eingeschränkten Modernisierungsmöglichkeiten der strategischen Arsenale werden daher in der Folge zu einer Fortsetzung der technologischen Rüstungsdynamik wie bei SALT führen. Für die abgerüsteten Systemen werden die Militärs als Kompensation noch leistungsfähigere Offensivwaffen fordern. Beim technologischen Rüstungswettlauf im Bereich der strategischen Offensivwaffen stehen vier Schlüsselbereiche im Vordergrund: „Zero/Near Zero Circular Error Probable Reentry Vehicies“, „Manuevering Reentry Vehicies“, „Earth Penetrator“-Gefechtsköpfe sowie Nuklearwaffen der „Dritten Generation“ (z.B. Strahlenwaffen, die ihre Energie aus einer Nuklearexplosion gewinnen).8 Diese von einem START-Vertrag mit Sicherheit beschleunigten rüstungstechnologischen Entwicklungslinien werden neue gravierende Probleme für das militärischen Kräfteverhältnis zwischen den beiden führenden Weltmächten aufwerfen und dürften wohl kaum zu einer höheren strategischen Stabilität, zu einer Verminderung des nuklearen Kriegsrisikos, führen.

Eines der von den Verhandlungsparteien deklarierten Ziele der START-Verhandlungen soll die Verbesserung strategischer Krisenstabilität sein. Dabei geht es um die Verminderung des Anreizes für jede Seite, in einer ernsthaften Krise zuerst zuzuschlagen. Quellen von Instabilität sind die potentielle Verwundbarkeit von strategischen Waffensystemen oder Führungs- und Kontrollsystemen einer Seite durch einen Angriff, auch wenn beide Kontrahenten über eine sogenannte gesicherte Zweitschlagsfähigkeit verfügen. Sollte eine Seite einen gewichtigen Teil ihrer strategischen Waffensysteme in einer verwundbaren Stationierungsart aufgestellt haben, dann wird die Versuchung zu präemptiven Aktionen groß sein, wenn ein Krieg für unmittelbar bevorstehend gehalten wird. Um dieses Risiko zu vermindern, könnten einerseits wirksame, von beiden Seiten akzeptierte politische Lösungsmechanismen und Prozeduren entwickelt werden, die das Umschlagen einer Krise in Krieg verhindern, und so langfristig einen Verzicht auf nukleare Abschreckung ermöglichen könnten. Andererseits sind auf der militärischen Ebene rüstungskontrollpolitische Schritte denkbar, welche die Verwundbarkeit strategischer Waffensysteme sowie der Führungs- und Kontrollsysteme durch Präemptionsschläge herabsetzen.

In seiner bisherigen Anlage wird ein START-Abkommen die strategische Krisenstabilität kaum nachhaltig verbessern, sondern vielleicht sogar verschlechtern. Die Reagan-Administration bezeichnet die landgestützten ICBMs als die destabilisierendsten Systeme, da sie einerseits aufgrund ihrer Genauigkeit und Schnelligkeit relativ sicher gehärtete Ziele wie Raketensilos zerstören können, andererseits aber selbst sehr verwundbar durch einen Angriff sind. Mit entsprechenden Regelungen könnte START durchaus das Problem der Verwundbarkeit von ICBMs lösen helfen. Durch Modernisierungs- und Erprobungsbeschränkungen, die Verbesserungen der Zielgenauigkeit von ballistischen Raketen verhindern oder verlangsamen, ließen sich die Möglichkeiten für eine Zerstörung festverbunkerter ICBMs reduzieren. Eine weitere denkbare Maßnahme könnte in der erheblichen Reduzierung von ICBMs mit Mehrfachsprengkopf (MIRV)-Technik bestehen, die für die Gegenseite

zuerst lohnenswerte Ziele darstellen. Mobilität ist ein weiterer Lösungszugang. Insbesondere durch den Übergang zu relativ unverwundbaren mobilen ICBMs könnten nicht nur die Krisenstabilität im bestehenden nuklearen Abschreckungssystem deutlich verbessert, sondern auch der Weg zu weiteren tiefen Einschnitten in das gesamte strategische Arsenal beider Seiten geöffnet werden.

Sowjetische Wissenschaftler haben im vergangenen Jahr eine leider bislang im Westen wenig beachtete Studie vorgelegt, in der sie verschiedene Optionen für radikale nukleare Rüstungsreduzierungen und die dabei erforderlichen Bedingungen für die Wahrung strategischer Stabilität näher untersucht haben.9 In dieser Studie wird auch die Möglichkeit einer 95prozentigen Reduzierung der nuklearen Potentiale der beiden führenden Weltmächte erörtert. Die sowjetischen Experten schlagen bei dieser radikalen Reduzierungsvariante faktisch ein Modell einer nuklearen Minimalabschreckung vor, bei der jede Seite über ein Potential verfügt, welches nur zu einem einzigen Vergeltungsschlag fähig ist und dem potentiellen Aggressor unakzeptablen Schaden androhen kann. Unter den verschiedenen Rüstungsoptionen bei dieser Variante sehen sie diejenige zur Gewährleistung wechselseitiger Sicherheit als optimal an, bei der jede Seite über ein Potential von ungefähr 600 leichten, mit jeweils einem Gefechtskopf bestückten ICBMs verfügt, von denen ein Teil mobil stationiert sein sollte. An die Realisierung einer solchen auf radikalen Reduzierungen basierenden nuklearen Minimalabschreckung sind jedoch verschiedene Bedingungen geknüpft: die USA und die UdSSR verzichten auf sämtliche andere Typen von strategischen Offensivwaffensystemen (Bomber, Marschflugkörper, SLBMs etc.), die taktischen Nuklearwaffen beider Seiten werden gänzlich eliminiert, die Nuklearwaffen der anderen Nuklearmächte müssen proportional reduziert oder vollständig abgeschafft werden, der ABM-Vertrag ist weiterhin gültig, es existiert ein Stationierungsverbot für weltraumgestützte Waffen und ASAT-Systeme jeglicher Art, ein vollständiger und allgemeiner Nuklearteststopp-Vertrag ist in Kraft und die Herstellung von Spaltmaterial zum Bau von Nuklearwaffen ist untersagt.

Der gegenseitige Übergang zu mit einem Gefechtskopf bestückten ICBMs, von denen ein Teil ständig mobil gehalten wird, würde jeder Seite praktisch die Möglichkeit nehmen, einen entwaffnenden Erstschlag mit Aussicht auf Erfolg zu führen, da die Anzahl der Gefechtsköpfe und der militärischen strategischen Hartziele gleich und ein Teil des Potentials durch seine Mobilität nahezu unverwundbar ist. Eine derartige Situation würde das Vertrauen beider Seite in strategische Stabilität stärken. Nach Ansicht der sowjetischen Experten sind ICBMs SLBMs in bezug auf eine Verbesserung strategischer Stabilität u.a. deshalb vorzuziehen, weil erstere über wesentlich zuverlässigere Führungs

und Kontrollverbindungen verfügen. Dadurch fällt auch die Wahrscheinlichkeit eines nicht autorisierten Abschusses, d.h. eines zufälligen Nuklearkriegs aufgrund eines technischen Fehlers oder Irrtums erheblich geringer aus. Als durchaus lösbar wird auch das Problem einer zuverlässigen Verifikation insbesondere der mobilen ICBMs angesehen.

Den Ergebnissen der sowjetischen Studie zufolge wird die weitere Modernisierung und Diversifizierung der strategischen Nukleararsenale beider Seiten, selbst wenn die numerische Parität dabei gewahrt bleibt, zu einer deutlich weniger stabilen militärstrategischen sowie militärpolitischen Situation führen. Die amerikanischen Reduktionsvorschläge bei START und ihre Implikationen verhindern eine solche Entwicklung nicht, sondern fördern sie im Gegenteil eher. Ihr Kern besteht darin, einerseits Abrüstung durch tiefe Einschnitte nur bei bestimmten Waffensystemen, nämlich ballistischen, speziell landgestützten Raketen und ihren Gefechtsköpfen zu suchen. Auf der anderen Seite soll parallel dazu die sowjetisch-amerikanische Rüstungskonkurrenz durch eine verstärkte Umrüstung der strategischen Arsenale auf vorgeblich stabilitätserhöhende, weniger verwundbare seegestützte Raketen sowie langsamfliegende Bomber und Marschflugkörper verlagert werden. Konkret geht es jedoch für die USA darum, die inzwischen veralteten, verwundbaren, weniger treffgenauen und nicht gegen gehärtete Ziele einsetzbaren ballistischen Raketen mittel- und langfristig durch neue Systeme zu ersetzen, die basieren auf neuen (Unterstützungs-) Technologien genau diese Defizite beheben. Zugleich soll die militärische Konkurrenz in einen Bereich relativer rüstungstechnologischer Vorteile der USA verschoben werden.

Stellt man in Rechnung, daß in einer stabilen militär-strategischen Situtation keine Seite einen Anreiz zu einem präemptiven Gebrauch von Nuklearwaffen (Shoot or lose them-Syndrom) sowie die Fähigkeit zu einem entwaffnenden Erstschlag haben sollte und daß der größte Teil des sowjetischen strategischen Potentials auf landgestützten ICBMs ruht, dann wirkt der amerikanische START-Ansatz kontraproduktiv. So soll z.B. die neue Trident 2 D-5 SLBM, deren erste Dislozierung für Ende 1989 geplant ist, aufgrund einer erheblich gesteigerten Treffgenauigkeit über die Eigenschaft verfügen, gehärtete, festverbunkerte Raketenstellungen zerstören zu können.10 Dadurch wird sich die bisherige militärische Funktion des seegestützten Teils der strategischen Triade erheblich ändern. Die Verwendung von strategischen Bombern und Marschflugkörpern in einer Erstschlagsrolle ist trotz ihrer Langsamflugeigenschaften keineswegs ausgeschlossen. Die extreme Treffgenauigkeit von Marschflugkörpern verschafft neue Optionen. So stellt die Modernisierung ihrer strategischen Bomberstreitmacht („Advanced Strategic Bomber“, „Advanced Cruise Missile“, „Advanced Short-Range Attack Missile“) für die USA ein Schlüsselelement dar, um künftig vor allem die zunehmenden landgestützten mobilen ICBMs der sowjetischen strategischen Streitkräfte zu bekämpfen.11 Dadurch würde ein wichtiger Teil künftiger nuklearer Abschreckungsmacht der UdSSR nachhaltig gefährdet. Im Ergebnis wird eine Realisierung der amerikanischen START-Konzeption in Verbindung mit der einhergehenden Rüstungsverlagerung und gesteigerten qualitativen Rüstungsdynamik aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Zunahme von Instabilitäten führen.

Aussichten für ein Abkommen und weitere Abrüstung

Der Textentwurf eines START-Abkommens soll zur Zeit rund 350 Seiten umfassen und ca. 1.200 „Klammern“ mit ungelösten und strittigen Fragen enthalten. Wie dem Verhandlungsstand entnommen werden kann, sind noch mindestens sechs Grundsatzprobleme zu lösen, die den Kern der sicherheitspolitischen Konzepte und der strategischen Arsenale beider Weltmächte berühren. In der gemeinsamen Erklärung des Moskauer Gipfeltreffens wurden die bisherigen Übereinstimmungen festgeschrieben und konkretisiert. Weiter heißt es dort:

„Bei der Erörterung der strategischen Offensivwaffen auf dem jetzigen Treffen in Moskau ist es gelungen, die Bereiche der Übereinstimmung wesentlich zu erweitern insbesondere in der Frage der luftgestützten Flügelraketen und in bezug auf die Versuche, eine Lösung für das Problem der Kontrolle mobiler Interkontinentalraketen zu finden und möglichst zu vereinbaren.“

Auf größere Probleme deutet folgende Passage hin: „Die Seiten erörterten ferner die Begrenzung der stationierten seegestützten Flügelraketen großer Reichweite, die mit Kernladungen bestückt sind.“12

Im April dieses Jahres hat Paul Nitze, Hauptberater des amerikanischen Außenministers in Rüstungskontrollfragen, öffentlich einen Vorschlag zur Diskussion gestellt, der wesentlich zur Lösung eines Grundsatzproblems beitragen könnte. Er regte an, daß die USA und UdSSR auf seegestützte Marschflugkörper mit Nuklearsprengkopf ebenso verzichten sollten wie auf nuklear bestückte Seeminen und Torpedos sowie auf von Flugzeugträgern mitgeführte Atombomben. Durch solch einen Verzicht könnte der Streit um die SLCMs ansatzweise gelöst werden. Allerdings bleibt weiterhin das Problem bestehen, wie mit den konventionell bestückten SLCMs verfahren werden soll. Nitzes Anregung hat in der Reagan-Administration einen heftigen Streit in Gang gesetzt. Starke Opposition kommt vor allem von den Vereinigten Generalstabschefs. Für die amerikanische Marine stellen die SLCMs, von denen sie 4.000 Stück sowohl nuklear als auch konventionell ausgerüstet beschaffen will, die Waffen der Zukunft dar. Angesichts dieser starken Interessen ist Skepsis angebracht, ob diese Empfehlung von Nitze als ein offizieller Verhandlungsvorschlag bei START eingebracht wird. So hat die amerikanische Regierung auch jüngst ein von der UdSSR vorgeschlagenes gemeinsames Verifikationsexperiment zur Unterscheidung zwischen nuklearen und konventionellen SLCMs abgelehnt.13

Ein START-Abkommen allein wird den Rüstungswettlauf nicht eindämmen und den Weg zu weiteren radikalen Abrüstungsschritten und einer nuklearwaffenfreien Welt öffnen. Dafür hat ein eventueller Vertrag noch zu viele Mängel. Darüber hinaus verbinden sich mit START recht gegensätzliche politische und militärische Verhandlungsinteressen beider Seiten. Allerdings würde ein solches Abkommen die Legitimationsbasis für künftige Aufrüstung weiter erheblich schmälern.

Ein reales Interesse an gleichgewichtigen Verminderungen aller strategischen Waffensysteme ist in der Reagan-Administration trotz aller öffentlichen Abrüstungsrethorik nie vorhanden gewesen. Ihr rüstungskontrollpolitischer Ansatz läuft darauf hinaus, Rüstungssteuerung und die Modernisierung des eigenen strategischen Potentials durch eine Mixtur aus Abrüstungs- und Umrüstungsmaßnahmen zu verbinden. Mit ihrer vorrangigen Konzentration auf die Reduzierung der ballistischen Raketen grenzt sich die Reagan-Administration in ihrer Rüstungskontrollpolitik von Konzepten einer allgemeinen 50prozentigen Abrüstung sämtlicher strategischer Nuklearwaffen ab. Ihrer Bedrohungsperzeption entsprechend strebt die US-Administration keine generelle nukleare Abrüstung an, sondern primär eine Verminderung oder gar Beseitigung von bestimmten, als bedrohlich empfundenen militärischen Fähigkeiten der UdSSR. Vom militärischen Kalkül her gesehen zielt die von den USA angestrebte erhebliche Reduzierung ballistischer, gegen gehärtete Ziele einsetzbarer Raketen der UdSSR in Verbindung mit der geplanten Rüstungsverlagerung auf überlebensfähigere und auch zielgenauere strategische Offensivsysteme (vor allem Bomber und Marschflugkörper) auf eine deutliche Erschwerung sowjetischer Zielplanungen. Aus amerikanischer Interessensicht soll durch die Umrüstung auf einen stärker diversifizierten und weniger verwundbaren strategischen Waffenmix ein höherer Grad an flexiblen und selektiven Kriegsführungsoptionen sichergestellt und so Eskalationskontrolle gewährleistet werden.14

Noch deutlicher wird das hinter START stehende militärstrategische Kalkül, wenn man die Verbindung zu SDI herstellt. So erkannte die Reagan-Administration, daß sich über ein unilaterales Modernisierungs- und Aufrüstungsprogramm im Bereich strategischer Offensivwaffen alleine keine grundlegende Änderung des Kräfteverhältnisses gegenüber der UdSSR erzielen läßt, selbst wenn sich die Zielrichtung der Aufrüstung auf die qualitative Dimension der Rüstungskonkurrenz konzentriert. Einen Ausweg aus diesem strategischen Dilemma sah Reagan durch die Besinnung auf die traditionelle amerikanische Überlegenheit an technologischer Innovationsfähigkeit. Über ihre „Initiative zur strategischen Verteidigung“ erhofft sich die amerikanische US-Regierung eine rüstungstechnologische Lösung des sicherheitspolitischen Problems, wie sowjetische Einsatzoptionen militärisch erheblich reduziert werden können.

Entgegen der offiziell deklarierten Aufgabenstellung von SDI, mittels eines umfassenden Schutzschirms Nuklearwaffen allgemein obsolet werden zu lassen, zielt dieses Programm primär auf eine weitgehende Neutralisierung sowjetischer zielgenauer und MIRV-fähiger ICBMs in Verbindung mit einer Punktzielverteidigung amerikanischer ICBM-Stellungen und C3I-Einrichtungen. Damit soll die sowjetische Zielplanung mit einem weiteren großen Unsicherheitsfaktor belastet werden. Eine signifikante Reduzierung sowjetischer ICBMs und eine vertraglich gesicherte Festschreibung dieses Potentials auf einem niedrigeren Niveau im Rahmen von START könnte den militärisch erfolgreichen Einsatz eines Raketenabwehrsystems in den Bereich des Realisierbaren rücken und würde damit einen deutlichen strategischen Vorteil der USA gegenüber der Sowjetunion bedeuten. Diesen innigen Zusammenhang zwischen START und SDI formulierte jüngst Botschafter Rowny, der Präsident Reagan und Außenminister Shultz in Rüstungskontrollangelegenheiten berät, explizit: „a good S.TA.R.T. treaty supports our goals for SDI. It's as simple as realizing that fewer offensive ballistic missile warheads – a smaller threat – make the defensive job that much easier. This is another reason we pursue a S.T.A.R.T treaty – and why we reject the Soviet offer to kill or cripple the Strategic Defense Initiative as the price of that deal.“15

Zwar hat auch Reagan öffentlich angekündigt eine nuklearwaffenfreie Welt anzustreben doch sucht er keine politische Lösung des Problems. Vielmehr setzt die Verwirklichung dieser Utopie für ihn die Stationierung von strategischen Defensivsystemen als eine Art Versicherungspolice voraus. Hinter solchen rüstungstechnologischen Lösungen von Sicherheitsproblemen verbirgt sich immer noch ein großes politisches Mißtrauen gegenüber der anderen Seite.

Für Gorbatschow ist hingegen der amerikanische Verzicht auf SDI eine notwendige Voraussetzung für allgemeine nukleare Abrüstung. Das Streben der USA nach umfassender strategischer Verteidigung wird von sowjetischer Seite als grundsätzlich destabilisierend angesehen, weil diese bei einer schrittweisen nuklearen Abrüstung den USA ein Erstschlagspotential an die Hand geben könnte. Gorbatschow hat der Abrüstung in der Formulierung sowjetischer Sicherheitsinteressen eine weitaus höhere Priorität eingeräumt, als dies jemals seit der Chruschtschow-Periode der Fall gewesen ist. Gleichzeit hat er einige bedeutende innovative Denkansätze zur Neubewertung von Sicherheitsbelangen im Atomzeitalter vorgetragen. So hat der sowjetische Generalsekretär nachdrücklich betont, daß es weder im Wettrüsten noch in einem Nuklearkrieg Sieger geben werde. Das Streben nach militärischer Überlegenheit bringe niemandem politischen Gewinn. Auch die Parität gilt ihm nicht mehr als eine Garantie für militärpolitische Zurückhaltung. Gerade die neue Einschätzung der Funktion von Nuklearwaffen und Folgen eines Nuklearkrieges ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der sicherheitspolitischen Neuorientierung der UdSSR.

Zwischen der politischen und militärischen Elite in der UdSSR hat sich offensichtlich Konsens über den abnehmenden militärischen Nutzen von Nuklearwaffen herausgebildet. Dieser Konsens läuft darauf hinaus, daß Nuklearwaffen nicht mehr länger für irgendwelche rationale militärische und damit gleichzeitig auch politische Ziele eingesetzt werden können. Ogarkow, vormals Chef des sowjetischen Generalstabs, hat z.B. die Unmöglichkeit betont, einen Nuklearkrieg begrenzt zu halten. Seiner Ansicht nach würde jeder begrenzte Einsatz von Nuklearwaffen unweigerlich zum sofortigen Einsatz des gesamten nuklearen Potentials der Kriegsgegner führen. Aufgrund der Anzahl und Mannigfaltigkeit der nuklearen Waffensysteme könne außerdem keine Seite hoffen, einen erfolgreichen nuklearen Erstschlag zur Entwaffnung des Gegners zu führen. Jeder Versuch, Nuklearwaffen anzuwenden, werde unvermeidlich in einem Weltkrieg und einer globalen Katastrophe enden, bei der die Existenz der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht. Das vorhandene nukleare Arsenal der beiden führenden Weltmächte sei daher vom militärischen Standpunkt aus absurd und jeder weitere Aufbau schlicht sinnlos. Da der primäre Hauptauftrag für die sowjetischen Streitkräfte in der Abschreckung eines nuklearen Angriffs auf ihr Land besteht, würde die UdSSR keine Nuklearwaffen brauchen, wenn die USA keine hätten. Kokoschin, stellvertretender Direktor des Instituts für USA- und Kanada-Studien, betonte jüngst ausdrücklich, daß das für die sowjetische Militärdoktrin neue maßgebliche Prinzip einer „vernünftigen Hinlänglichkeit“ der Rüstungspotentiale in letzter Konsequenz die Verpflichtung zu einer vollständigen Abrüstung der Nuklearwaffen bedeute.16

Für die jetzige politische Führung der UdSSR scheint offensichtlich die Erkenntnis handlungsleitend zu sein, daß Sicherheit nicht mehr mit militärischen Mitteln zu erlangen ist, sondern daß die Gewährleistung von Sicherheit eine prinzipiell politische Aufgabe ist. Hinter der gegenwärtigen sowjetischen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik stehen somit im deutlichen Gegensatz zu den USA genuin politische Antriebsmotive, welche die Logik des Wettrüstens brechen, die Risiken des die Existenz der gesamten Menschheit bedrohenden nuklearen Abschreckungssystems sowie schließlich Krieg als Mittel der Politik überwinden wollen.

Solange sich jedoch die USA nicht auf eine derartig politisch bestimmte Vision einer nuklearwaffenfreien Welt einlassen und die tatsächlich vorhandene sowjetische Bereitschaft zu einem radikalen Rüstungsabbau nicht ernsthaft prüfen, wird die herrschende Rüstungskontrollpolitik wie bei START unweigerlich in eine Sackgasse führen.

Anmerkungen

1 SALT wurde jedoch nie vom amerikanischen Kongreß ratifiziert.

2 Für einen genaueren Überblick über die Verhandlungsgeschichte von START vgl. Eckhard Lübkemeier, Stichwort „SALT/START“, in: Wichard Woyke, Handwörterbuch Internationale Politik, Bonn (Bundeszentrale für Politische Bildung), Aktualisierter Nachdruck 1987, S. 404-416; Hans Heinrich Weise, START – Die Verhandlungen zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen, in: Soldat und Technik, 31 (3) 1988, S. 122-127; Ronald Lehmann, Die Verhandlungen über die Venringerung der strategischen Waffen: Ein Vertrag gewinnt Gestalt, in: NATO-Brief, 35 (4) Juli-August 1987, S.21 25  Zurück

3 Die Darstellung des Verhandlungsstands basiert im wesentlichen auf folgenden Quellen: The Arms Control Reporter; Douglas Clarke, A Primer on the Strategic Arms Reduction Talks, in: Radio Free Europe Research, RAD Background ReporU236, 10.12.1987; ders., Movement at the Washington Summit on Strategic Arms Accord, in: Radio Free Europe Research, RAD Background Report l245, 22.12.1987, ders., Restructuring of Another Kind: Strategic Forces, Radio Free Europe Research RAD Background Report/228, 1.12.1987, Tony Banks, Obstacles Still Facing the STMT Agreement, in: Jane's Defence Weekly, 9 (9) 1987; Disagreement on ABM, START Continues in Ninth Round of Talks, in: Arms Control Today, 18 (2) March 1988, S. 22; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Author: Steven A Hildreth), Arms Control: Negotiations to Reduce Strategic Offensive Nuciear Weapons, Issue Brief (IB86051), Washington D.C., Updated 2.2.1988; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Author: Steven A. Hildreth), Arms Control: Overview of the Geneva Talks, Issue Brief (IB85157), Washington D.C., Updated 2.2.1988; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Stanley R. Sloan, Issue Coordinator), Arms Control: Issues for Congress, Washington D.C., Updated 17.2.1988, Shultz, Shevardnadze Set Summit, But Make Little Progress on START, in: Arms Control Today,18 (4) May 1988, S. 19, 27

4 Vgl. Robert S. Nonris/William M. Arkin/Thomas B. Cochran, START and Strategic Modernization, Nuciear Weapons Databook Working Papers NWD 872, Natural Resources Defense Council, New York, December 1987, S. 12/13 Zurück

5 Vgl. Norris u.a.1987, S. 13 Zurück

6 Vgl. Norris u.a.1987, S. 17-20 Zurück

7 Vgl. USA – Sowjetunion: Nuklearstrategische Rüstung, in: Österreichische MilitärischeZeitschrift,25 (5) 1987, S. 462-465 Zurück

8 Vgl. Kosta Tsipis, Third-Generation Nuclear Weapons, in: World Armaments and Disarmament, SIPRI Yearbook 1985, London u. Philadelphia 1985, S. 83-106 Zurück

9 Vgl. Committee Soviet Scientists for Peace, Against the Nuciear Threat, Strategic Stability Under the Conditions of Radical Nuclear Arms Reductions, Report on a Study (Abridged), Moscow, April 1987 Zurück

10 Vgl. John D. Morrocco, START Talks Pose Questions on Strategic Modernization, in: Aviation Week & Space Technology vom 14.3.1988, S. 36 Zurück

11 Vgl. Morrocco 1988, S. 36 Zurück

12 Dokumentation in unsere Zeit v.4.6.1988, S.9 vgl.: Amerika-Dienst Nr. 22,8.6.1988, S. 5 Zurück

13 Vgl. Die „flexible response“ bleibt wirksam, in: FAZ vom 9.4.1987 und Arms Control Today,18 (4) May 1988, S. 19 Zurück

14 Vgl. für eine ausführlichere Analyse der amerikanischen Verhandlungsmotive bei START Michael Paul, Zur START-Politik der Reagan-Administration: Rüstungsverlagenung durch „Deep Cuts“? in: Beiträge zur Konfliktforschung, 18 (1) 1988, S. 31 Zurück

15 Rowny Contrats U.S. and Soviet Strategic Defense Programs, in: U.S. Policy Information and Texts, No. 51 vom 14.3.1988, S. 15 Zurück

16 Vgl. ausführlicher Michael McGwire, Why the Soviets Want Arms Control, in: Technology Review,40 (2) 1987, S. 36-45; Mary C. FitzGerald, Marshal Ogarkov and the New Revolution in Soviet Military Affairs, in: Defence Analysis,3. Jg., Nr.1/1987, S.37; Andrei A. Kokoshin, A. Soviet view on radical wespons cuts, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 44 (2) March 1988, S.17; Randolph Nikutta, Warum will die UdSSR Rüstungskontrolle?, in: Vorgänge, Heft 5 (Nr.89), September 1987, S. 49-64 Zurück

Randolph Nikutta arbeitet bei der Berghof-Stiftung für Konfliktforschung, Berlin.

Abschluß eines Abkommens zur Abrüstung von chemischen Waffen in Gefahr

Abschluß eines Abkommens zur Abrüstung von chemischen Waffen in Gefahr

von Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler-Initiative

In Genf liegt nach 20 Verhandlungsjahren das Abkommen zur Beseitigung der Chemiewaffen nahezu unterschriftsreif vor. Als um die Erhaltung des Friedens besorgte Naturwissenschaftler sehen wir die Gefahr, daß diese, C-Waffen-Konvention wieder in die Ferne zu rücken droht.

Seit Dezember vergangenen Jahres werden in den USA Granaten auf der Basis der neuen Binärtechnologie für Nervengase hergestellt. Jüngst wurden außerdem die Mittel für die binäre Sprühbombe „Bigeye“ freigegeben. Die neuen binären Chemiewaffen werden als gering giftige Vorstufen produziert. Erst im Flug entsteht beim Durchmischen das hochgiftige Nervengas. So lassen sich die Vorstufen der Kampfstoffe gefahrlos produzieren, lagern, transportieren und, zumindest im Prinzip, auch unbemerkt in Stellung bringen und verstecken. Die vorgesehenen Kontrollen als Bestandteil eines Abrüstungsvertrages werden dadurch außerordentlich erschwert.

Der US-Kongreß hatte die Produktion von Binärwaffen ausdrücklich von der Zustimmung der NATO abhängig gemacht. Die Bundesregierung hat mit Signalwirkung für die NATO-Partner zunächst in einer Vereinbarung mit Präsident Reagan der Produktion der Binärwaffen zugestimmt, bevor diese auf der Tagung des NATO-Verteidigungsrates im Mai 1986 zum „Streitkräfteziel“ erklärt wurden. Diese Zustimmung, ohne die nach dem Beschluß des US-Kongresses die Produktion der Binärwaffen nicht aufgenommen worden wäre, erweist sich nun immer mehr als verhängnisvoll.

Die neue Aufrüstung steht dem Abschluß der C-Waffen-Konvention im Wege. Das Haupthindernis bei der im chemischen Bereich sehr schwierigen Kontrolle der Einhaltung des Vertrages ist durch die Bereitschaft der UdSSR ausgeräumt worden vor Ort Inspektionen, auch unangemeldet, zuzulassen. Dagegen wird Die Verifikation eines C-Waffen-Sperrvertrages durch das Aufkommen der Binärwaffen behindert und Ansätze zur Vertrauensbildung werden auf diesem sensiblen Gebiet gefährdet.

Mit den Binärwaffen droht daher die Gefahr einer nicht mehr umkehrbaren Rüstungsentwicklung. Weil andererseits Giftwaffen relativ billig sind und ihre Abrüstung zu lang hinausgeschoben wurde, haben sich immer mehr Länder solche Waffen verschafft. Auch deshalb darf für chemische Abrüstung keine weitere Zeit mehr verloren werden. Die kontrollierte Abrüstung von C-Waffen ist technisch möglich. Der Gefahr einer heimlichen Produktion, insbesondere von Binärwaffen, läßt sich durch nichts wirksamer vorbeugen, als durch den Kontrollapparat, der mit dem Abschluß der C-Waffen-Konvention in Gang gesetzt werden soll. Allerdings kommt es darauf an, daß dieser Kontrollapparat seine Arbeit aufnimmt, noch bevor Binärwaffen in größerem Umfange vorhanden sind. Auch die Weiterverbreitung der Giftwaffen wird sich am ehesten eindämmen lassen, wenn sich die Industrienationen zu einem raschen Abschluß der C-Waffen-Konvention entschließen und mit der Abrüstung beginnen.

Als ein weiteres Hindernis für Abrüstung erweisen sich kürzlich bekannt gewordene Bedenken des europäischen Verbandes der chemischen Industrie (CEFIC) gegen einzelne Bestimmungen des in Genf ausgehandelten Entwurfs der C-Waffen-Konvention. Besonders befremdlich ist, daß dies in der Abschlußphase von Verhandlungen geschieht, an denen zumindest die westdeutsche Industrie durch Berater beteiligt war. Diese hatten bisher den nützlichen Modellcharakter der in der Bundesrepublik vom Rüstungskontrollamt der Westeuropäischen Union vorgenommenen Kontrollen betont und damit eine sehr förderliche Rolle bei den Genfer Verhandlungen gespielt.

Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihrer Forderung nach einem baldigen Abschluß der C-Waffen-Konvention. Wegen ihrer besonderen Mitverantwortung für den Produktionsbeginn der binären C-Waffen sollte die Bundesregierung nach unserer Ansicht jedoch noch weiter gehen und ihre Zustimmung zur Integration von C-Waffen in das für Europa bestimmte Waffenarsenal insgesamt zurückziehen. Die Verweigerung einer Stationierung der Binärwaffen in der Bundesrepublik in Friedenszeiten sollte auf Krisenzeiten erweitert werden. Damit entfiele der Hauptgrund für das neue Binärprogramm.

Die Bundesrepublik kann als potentielles Stationierungsland in den Prozeß um die chemische Abrüstung eine Schlüsselfunktion ausüben. In diesem Sinne haben wir gleichzeitig mit der vorliegenden Erklärung den Bundeskanzler gebeten, sich aktiv für die Abschaffung der barbarischen Giftwaffen einzusetzen.

Köln, den 24. Februar 1988

Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

von John Pike

Spätestens seit Reykjavik ist der Zusammenhang zwischen der Abrüstung strategischer Nuklearwaffen und der Begrenzung von Raketenabwehrsystemen deutlich geworden. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht der ABM-Vertrag von 1972, der angesichts neuer technischer Entwicklungen und politisch motivierter Interpretationsversuche ernsten Belastungsproben ausgesetzt ist. Um diesen Vertrag zu erhalten und zu stärken, wurde u.a. auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß und dem Moskauer Friedensforum ein Kompromiß zwischen beiden Seiten gefordert, der den Weg zur nuklearen Abrüstung öffnet. Die bislang konkretesten Vorschläge für eine mögliche Einigung wurden Anfang 1987 von John Pike von der Federation of American Scientists ausgearbeitet und in einem mehr als 100seitigen Papier mit zahlreichen quantitativen Grenzwerten und Tabellen zusammengefaßt, das in Auszügen in den Proceedings zum Hamburger Verifikationsworkshop erschienen ist. Angesichts der Verhandlungen zwischen USA und UdSSR sowie zwischen US-Kongreß und US-Regierung über Grenzen für SDI-Versuche geben wir einige übersetzte Auszüge aus der Einleitung zu diesem Papier wieder.

Neue Entwicklungen bei Raketenabwehrtechnologien (BMD: Ballistic Missile Defense) stellen eine große Herausforderung für den Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag von 1972 dar. Um einem Dilemma vorzubeugen, wurde eine Reihe verschiedener konzeptueller Ansätze vorgeschlagen, den ABM-Vertrag an die Entwicklung der BMD-Technologie anzupassen. Aber die Schwierigkeit, die richtigen Antworten auf diese Probleme zu finden, läßt vermuten, daß wir die falschen Fragen stellen. Eine neue Art des Denkens über den ABM-Vertrag und über ballistische Raketenabwehrtechnoloqie ist notwendig.

Über die letzten zwei Jahre hinweg hat sich die Diskussion auf die Debatte über die breite Auslegung des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration konzentriert, nach der der Vertrag nicht das Testen von exotischen BMD-Technologien begrenzen würde. Es wird in wachsendem Maße deutlich, daß diese Interpretation des Vertrages ohne rechtlichen oder praktischen Wert ist und nicht eingeführt werden wird.

Die Auflösung der Debatte über die breite Interpretation wird jedoch nicht den Konflikt zwischen der permissiven und der restriktiven Lesart der traditionellen Interpretation des ABM-Vertrages lösen. Der Vertrag verbietet Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Komponenten, die weltraumgestützt, luftgestützt, seegestützt oder mobil landgestützt sind. Der Vertrag gibt mehrere Kriterien dafür an, welche Anlagen Gegenstand dieser Begrenzungen sind:

  1. die Komponenten von ABM-Systemen zur Zeit der Unterzeichnung des Vertrages, nämlich Interzeptoren, Startanlagen und Radaranlagen;
  2. Anlagen, die „in einem ABM-Modus getestet“ worden sind (d.h. gegen strategische ballistische Raketen oder ihre Komponenten auf der Flugbahn);
  3. Anlagen, die „ABM-Fähigkeiten“ haben oder „fähig zur Substitution von“ ABM-Komponenten sind.

Die Reagan-Administration versichert, das SDI-Programm sei konstistent mit dem Vertrag mit der Begründung, SDI entwickle keine Komponenten und würde Tests nicht in einem ABM-Modus durchführen oder ABM-Fähigkeiten aufzeigen; somit seien die in SDI demonstrierten Technologien nicht zur Substitution von ABM-Komponenten fähig. Eine restriktivere Lesart des Vertrages führt jedoch zu dem Schluß, daß viele der Tests von SDI mit dem Vertrag unvereinbar sind. Unglücklicherweise gibt der Vertrag nur unzureichende Richtlinien für die Auswahl der geeigneten Auslegung dieser Begriffe.

Das Kernproblem

Das zentrale Problem ist, daß das Fort schreiten der Technologie die Interpretation der Vertragsbegriffe kompliziert hat. 1972 war die Verifikation von Tests im ABM-Modus ein relativ einfacher Prozeß. Der Betrieb einer Radaranlage konnte durch elektronische Aufklärungssatelliten beobachtet werden, der Start einer Abwehrrakete und der Flug eines Ziel-Eintrittsflugkörpers konnten durch verschiedene Mittel verfolgt werden. Diese Aktivitäten lieferten eine ziemlich unzweifelhafte Basis für die Definition von „im ABM-Modus getestet“.

Aber für die Festlegung, ob eine Verrichtung „im ABM-Modus getestet“ wurde, bedeuten die neuen BMD-Technologien eine größere Herausforderung. Passive Sensoren wie Teleskope, die zur Verfolgung von Zielen verwendet werden können, senden keine Signale ab, und ihr Zusammenwirken mit einem Raketenabwehrtest kann schwierig festzustellen sein. Langreichweitige Abwehrraketen können gegen Satellitenziele getestet. werden, die die Charakteristiken strategischer ballistischer Raketen nachahmen.

Unglücklicherweise ist es auch sehr schwierig zu bestimmen, ob ein Gerät fähig ist, eine ABM-Komponente zu ersetzen oder ob es ABM-Fähigkeiten hat, insbesondere wenn das Gerät auf neuen physikalischen Prinzipien beruht. Der ABM-Vertrag enthält eine präzise quantitative Definition, was eine Radaranlage mit ABM-Fähigkeiten darstellt, aber der Vertrag liefert keine Richtlinie, an welchem Punkt ein Bahnverfolgungs-Teleskop fähig ist, ein ABM-Radar zu ersetzen.

Eine Einigung auf quantitative, numerische Definitionen von ABM-Fähigkeiten könnte dieses Problem lösen. Es mag Fragen darüber geben, was eine „ABM-Komponente“ ist oder was „Entwicklung“ bedeutet, aber es sollte mit einer akzeptablen Fehlerspanne möglich sein zu bestimmen, ob ein Spiegel größer als zwei Meter im Durchmesser ist oder nicht. Diese quantitativen Grenzen würden eine weniger mehrdeutige operationale Definition liefern für die „Entwicklung“ einer „ABM-Komponente“, die „ABM-Fähigkeiten“ hat oder „in einem ABM-Modus getestet“ wurde.

Spezifische Begrenzungen

Ein System zur Abwehr ballistischer Raketen besteht aus vier Elementen – Waffen, Waffenstartanlagen, Sensoren und Gefechtsführung (battle Management). Es wird allgemein anerkannt, daß battle management die größte technische Herausforderung für die Vollendung eines Raketenabwehrsystems bedeutet und daß Sensoren größere technische Anforderungen stellen als Waffen und Waffenstartanlagen. Ein Raketenabwehrsystem erfordert das Funktionieren aller vier Elemente, und bei Abwesenheit eines dieser Elemente sind die anderen nur von begrenzter Bedeutung.

Es ist ein unglückliches Paradoxon, daß der technisch anspruchsvollste Aspekt von BMD-Systemen (battle management) zugleich die größten Anforderungen an die Verifikation stellt, während die am wenigsten anspruchsvollen Teile des Problems (Waffen) die geringsten Anforderungen an die Verifikation stellen. Der ABM-Vertrag setzt keine Begrenzungen für Battle-Management-Systeme fest, da von beiden Seiten erkannt wurde, daß solche Begrenzungen schwierig, wenn nicht unmöglich zu verifizieren sein würden.

Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des ABM-Vertrages waren BMD-Sensoren sehr große Radaranlagen, die mehrere Jahre zur Konstruktion benötigten und daher leicht zu verifizieren waren, so daß der Vertrag ein strenges Regime von Begrenzungen für die Stationierung solcher Radare aufstellte. Aber zukünftige Systeme, die passive Sensoren verwenden, wären viel schwieriger zu verifizieren. Das bedeutet nicht, daß solche zukünftigen Sensorsysteme unmöglich zu verifizieren sein werden, oder daß sie von der Begrenzung ausgenommen werden sollten. Allerdings könnten stringentere Einschränkungen von Waffentests notwendig sein, um die Schwierigkeiten bei der Begrenzung von Sensoren zu kompensieren.

Es gibt wahrscheinlich mehrere Dutzend mögliche Leistungsparameter, die ABM-Fähigkeiten definieren könnten. Aber bereits wenige Hauptparameter – Geschwindigkeit, Höhe, relative Geschwindigkeit, Helligkeit und Öffnung – legen die wichtigsten ABM-Fähigkeiten fest; solche Parameter sind zudem ziemlich einfach zu definieren und zu überwachen. Die Begrenzung eines halben Dutzend der kritischsten Leistungsparameter innerhalb eines Regimes quantitativer Grenzwerte dürfte ausreichend sein und würde den Verhandlungsprozeß nicht unnötig verlängern oder belasten.

Fünf quantitative Grenzen sind besonders aussichtsreich:

Waffen

  1. Eine Grenze für die Helligkeit von Lasern;
  2. Grenzwerte für die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Versuchen mit Abfangraketen;

Sensoren

  1. Spezifizierungen für die Zahl und den Ort zugelassener Konstruktionen von großen phasengesteuerten Radaranlagen
  2. Begrenzungen für die Öffnungsweite von Spiegeln oder Fenstern weltraum- oder luftgestützter Teleskopsensoren; Sensoren & Waffen
  3. Grenzen für die thermische Leistung von Nuklearreaktoren im Weltraum.

Eine Schranke für Tests, die besonders vielversprechend aussieht, ist eine Grenze für die Helligkeit von Lasern, die eine Funktion der Wellenlänge des Lasers, der Leistung des Lasers und des Durchmessers des Laserhauptspiegels ist. Die Verifizierung solch einer Grenze würde wahrscheinlich die Verwendung von Überwachungsanlagen in der Nähe von identifizierten oder vermuteten Lasereinrichtungen erfordern.

Im Bereich der Waffen mit kinetischer Energie (kinetic energy weapons) sollten wir vielleicht die Festlegung einer spezifischen Grenze betrachten, unterhalb der es erlaubt wäre, Abfangraketen zu testen, und oberhalb der Versuche verboten würden. Solche Tests würden definiert durch die maximale Geschwindigkeit, mit der eine Rakete oder ein Interzeptor in großer Nähe an einem Ziel vorbeifliegen könnten. So würde der Test einer Abfangrakete oberhalb von 40 Kilometern Höhe und innerhalb von 10 Kilometern Abstand zu einem Ziel mit einer Relativgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Sekunde als Entwicklung einer ABM-Komponente mit ABM-Fähigkeiten angesehen werden, die in einem ABM-Modus getestet wird. Dies würde Befürchtungen über taktische Raketenabwehrsysteme abschwächen. Und wenn alle Versuche oberhalb von 40 Kilometern verboten wären, würde dies alle Besorgnisse über Anti-Satelliten-Waffen auflösen.

Die Festlegung, daß alle großen phasengesteuerten Radaranlagen nicht weiter als 350 Kilometer von den Landesgrenzen entfernt gebaut werden dürften und daß jedes Land nicht mehr als 15 solcher Transmitter stationieren kann, würde eine Wiederholung des Krasnoyarsk/Fylingdales-Streit verhindern. Eine Senkung der Vertragsschwelle für ein ABM-Radar um einen Faktor von zehn würde Sorgen über die taktische Raketenabwehr verringern.

Grenzen für die Öffungsweite passiver Teleskopsensoren würden die BMD-Anwendungen solcher Geräte einschränken. Sensorsatelliten zur Raketenabwehr erfordern viel größere optische Systeme als einfache Frühwarnsatelliten. Und flugzeuggestützte Teleskope benötigen viel größere Fensteröffnungen im Flugzeug, als für Astronomie und Aufklärungszwecke notwendig sind.

Begrenzungen für die thermische Leistung weltraumgestützter Reaktoren könnten indirekt Technologien beschränken, die andernfalls schwierig zu begrenzen wären.

Solch ein Grenzwert könnte verizifiert werden durch die Überwachung der Abfallwärme, die durch den Radiator des Reaktors angestrahlt wird. Multimegawatt-Reaktoren würden notwendig sein, um bestimmte Typen von Raketenabwehr-Waffensystemen mit Energie zu versorgen, wie etwa Generatoren neutraler Teilchenstrahlen. Reaktoren mit einigen zehn oder hundert Kilowatt Leistung wären die Voraussetzung fr den Betrieb mehrerer Raketenabwehr-Sensorsysteme.

Wenn die Verifizierung von Grenzen der thermischen Reaktorleistung sich als zu schwierig erweisen sollte, könnte ein ähnliches Ziel erreicht werden durch ein Startverbot für große Anlagen zur Erzeugung von Nuklearenergie. Die Anwesenheit einer großen Menge von nuklearem Brennstoff könnte entdeckt werden durch die Inspektion eines jeden Satelliten unmittelbar vor seinem Start in den Weltraum.

Literatur

John Pike, Quantitative Limits on Anti-Missile-Systems – A Preliminary Assessment, Fourth Draft, 22 May 1987, Federation of American Scientists,123 Seiten; wesentliche Auszüge sind abgedruckt in: Proceedings of the Workshop „Scientific Aspects of the Verification of Arms Control Treaties“, Part II, S. 137-198, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Vol. 19, Hamburg, June 1987

Weitere aktuelle Literatur zur Diskussion um den ABM-Vertrag ist im Reader der Naturwissenschaftler-Initiative – „SDI und der ABM-Vertrag“ enthalten, zusammengestellt von J. Scheffran im August 1987. Die folgenden Quellen zur ABM-Debatte nach Reykjavik ergänzen eine frühere Literaturliste.

– Erklärung von Generalsekretär Michail Gorbatschow auf der Pressekonferenz in Reykjavik am 12. Oktober 1986, „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 11/86, S. 1297-1303; Ronald Reagans Fernsehansprache vom 13.10.1986, „Abrüstungsinfo“, 11/1986, S. 19-21

– Briefing Book on the ABM Treaty and Related Issues, National Campaign to Save the ABM Treaty, Washington 1986; Analysis of the President's Report on Soviet Noncompliance with Arms Control Agreements, „Arms Control Today“, April 1987

– L. Wieland, Testen und Stationieren – Reagan vor heiklen Entscheidungen über SDI, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) vom 7.2.1987; R. Dolzer, Wo endet Forschen, beginnt das Erproben?, „FAZ“ vom 17.2.87; Streit um die weite Auslegung des ABM-Vertrages, „FAZ“ vom 9.2.87; An eine „weite“ Auslegung war nicht gedacht, „FAZ“ vom 18.2.87

– S. Nunn, ABM Reinterpretation, Fundamentally Flawed, „Arms Control Today (ACT)“, April 1987, S. 8-14; Nunn vs. Sofaer, „ACT“, June 1987, S. 9-10; L. N. Cutler, Keeping the Treaty Alive; What Congress Can Do. „ACT“, April 1987, S. 10-11; Six Former Defense Secretaries Support Traditional Interpretation of the ABM Treaty, „ACT“, April 1987; M. Bunn, Kinetic Energy Weapons and the ABM Treaty, „ACT“, March 1987, S. 12, 13, 17; Weinberger Propose Tests Beyond Strict Treaty Interpretation, „ACT“, June 1987, S. 24

– J. B. Rhinelander, J. P. Rubin, Mission Accomplished – An Insider's Account of the ABM Treaty Negotiating Record „ACT“, September 1987, S. 3-14; R. Garthoff, History Confirms the Traditional Meaning, „ACT“, September 1987, S. 15-19; Sofaer´s Last Stand?, „ACT“, October 1987, S. 14-17; M. A. Bryar, Arms Control Legislation Stalls Over SDI Testing and Treaty, „ACT“, November 1987, S. 21; T. K. Longstreth, Latest ABM ploy – old is new, „Bulletin of the Atomic Scientists“, Vol. 43, No. 10, December 1987 S. 3-4; M. Bunn, Shultz Sidesteps ABM Issue, „ACT“ January/Febnuary 1988, S. 24, M. Bunn, Space Laser Raises ABM Treaty Compliance Questions, „ACT“, January/Febnuary 1988, S. 27

John Pike arbeitet bei der Federation of American Scientists

Abschluß der C-Waffen-Konvention: Eine Frage des politischen Willens

Abschluß der C-Waffen-Konvention: Eine Frage des politischen Willens

von Werner Dosch

Die Mittelstreckenraketen waren die zentrale Rüstungsbastion, gegen die die Friedensbewegung angerannt ist. Freuen wir uns, diese Bastion wird geschleift werden! Gewiß, mit der beschlossenen Verschrottung der Raketen entfällt ein Druckpunkt und damit vorübergehend auch ein Stück Orientierung der Friedensbewegung. Von jetzt an muß Abrüstung in Bewegung bleiben, weil sie von jetzt an auf Bewegung angewiesen ist. Die vier Prozent Gefechtsköpfe weniger machen nur Sinn, wenn sie der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses sind, bei dem die Menschheit Waffe um Waffenart auf ihre Selbstvernichtung verzichtet. Um diesen Weg durchzustehen, bedarf es notwendiger denn je des Auftriebs einer neuen Friedensbewegung, die sich neu formieren muß, gerade auch durch noch stärkere Ausweitung über die Staats- und Blockgrenzen hinweg. Hier läßt sich nichts erzwingen. Die Selbstorganisation von Menschen zu einer großen politischen Kraft muß sich immer wieder in den einzelnen Köpfen vorbereiten.

Mit dem Abbau eines Teils der Mittelstrekkenraketen rücken in Europa jetzt die konventionellen und die chemischen Waffen stärker in den Mittelpunkt. Der Abschluß der C-Waffenkonvention ist nach 19 Genfer Verhandlungsjahren kaum mehr als eine Frage des politischen Willens. Was hier noch strittig ist, sollte sich nach dem Vorbild der abschließenden INF-Verhandlungen von den Außenministern der USA und UdSSR an einem Wochenende wegverhandeln lassen.

Es kann aber auch ganz anders kommen: Das Credo der Abrüster, die Forderung nach möglichst lückenloser Verifikation, ist besonders schwer zu erfüllen, wenn es um Chemie geht. Kampfstoffchemie läßt sich kontrollmäßig gerade noch fassen, solange sie auf Grund ihrer besonderen Gefährlichkeit als solche erkennbar bleibt. Wenn jetzt ein neuer Typ von sogenannten binären C-Waffen produziert wird, werden diese verräterischen Indikatoren entfallen.

Daher muß die Forderung lauten: Chemische Abrüstung jetzt – solange sie machbar ist! Die Entscheidung für Auf- oder Abrüstung von C-Waffen steht derzeit auf der Kippe. Die Entscheidung zum Frieden braucht Anstöße. Die Friedensbewegung ist aufgerufen!

C-Waffen-Vorräte

Im April haben die Außenminister der USA und der UdSSR Inspektionen der jeweiligen Vernichtungslager für chemische Waffen verabredet. Die Amerikaner hatten schon einmal 1983 ihre Verbrennungsanlage in dem Armee-Depot Tooele, Utah, einer internationalen Inspektion geöffnet, an der sich die Sowjetunion jedoch noch nicht beteiligte. In diesem Jahr haben beide Großmächte ihre chemischen Arsenale gezeigt. Den Anfang machte die Sowjetunion, die im Oktober in Schichany, Bezirk Saratow, 19 verschiedene Typen chemischer Munition vorführte und zeigte, wie Nervenkampfstoffe vernichtet werden. Im November folgte die Bundesrepublik mit der Vorführung der technisch besonders schwierigen Vernichtung von Altkampfstoffen unterschiedlicher Zusammensetzungen in Münster. Im gleichen Monat führten die Amerikaner ihr inzwischen verbessertes Verfahren der Kampfstoffverbrennung in Tooele vor, zugleich aber auch schon Prototypen der geplanten binären C-Waffen. Die Konstruktionsmerkmale von mindestens 11 der noch aktuellen (unitären) US-Waffen waren bereits früher bekanntgegeben worden.1 Jetzt steht noch ein Besuch des britischen Giftzentrums Porton Down aus. Ebenso wie die Bundesrepublik verfügt Großbritannien nicht (mehr) über eigene C-Waffen. Der gewiß aufschlußreiche Einblick in das französische C-Potential wird kaum möglich sein. Frankreich, das bereits C-Waffen besitzt, hat sich in diesem Jahr für eine neue chemische Aufrüstung, offenbar mit Binärwaffen, entschieden.

Das makabre Vorzeigen der schändlichen Giftwaffen ist eine Geste der Abrüstungsbereitschaft. Gerade für die Sowjetunion, die vor wenigen Jahren noch nicht einmal den Besitz chemischer Waffen zugegeben hatte, muß die Demonstration von Schichany ein schwerer Entschluß gewesen sein.

I Vorräte tödlicher Kampfstoffe
USA (Schätzungen nach offenen Angaben) 2
a)Nervenkampfstoffe
8.800 t GB + 4.336 t VX = 13.316 t (munitioniert)zusätzlich 3.538 t in bereits
veralteter Munition

b) Andere tödliche Kampfstoffe:
14.878 t S-Lost und weitere Kampfstoffe, z.B. Lewisit

Die bekannten Kampfstoffe sind in bekannten Munitionstypen bzw. in Containern in 10
Depots gelagert: 8 davon in den USA, 1 auf Johnston Island (Pazifik) und in der
Bundesrepublik. In der BRD befinden sich ca. 435 t Nervenkampfstoffe GB und VX in ca.
145.000 Artillerie-Granaten.

UdSSR Unbekannte Mengen aller Kampfstoffarten in
mindestens 19 verschiedenen Munitionstypen an unbekannten Orten.
Frankreich Unbekannte (kleinere) Mengen und Typen
chemischer Munition. Aufrüstung mit vermutlich binären CW 1987 beschlossen.
Proliferation Mindestens 15 weitere Staaten verfügen
über CW. „CW = die Atombombe des kleinen Mannes“

In Kasten 1 ist zusammengefaßt, was über C-Potentiale bekannt ist. Das Informationsmonopol der Vereinigten Staaten spiegelt sich darin wider, daß hier plausible Schätzungen der grundsätzlich geheimgehaltenen Kampfstoffmengen überhaupt möglich sind. Auch die Vereinigten Staaten geben also keine offiziellen Informationen über ihre Vorräte. Sie haben aber bekannt gemacht, welche Kampfstoffe in welchen Munitionsarten und in welcher prozentualen Verteilung über die 8 bekannten kontinentalen US-Lager verteilt sind.3

Amerikanische Schätzungen der sowjetischen Kampfstoffvorräte gehen bis weit über das 10-fache der US-Bestände hinaus und sind offenbar im Sinne von „worst case“-Annahmen überhöht.

Wegen unterschiedlicher biologischer Wirkungen und dazu erforderlicher Giftmengen lassen sich Kampfstoffe nicht ohne weiteres vergleichen. Nervenkampfstoffe sind mit Abstand am gefährlichsten. Bei Spekulationen über Tonnagen ist weiterhin zu beachten, daß die Waffen rund 10 mal so viel wiegen wie das darin gespeicherte Gift.

Ein ernstes Problem ist die zunehmende Weiterverbreitung (Proliferation) gerade auch bei C-Waffen. Nach US-Angaben 4 ist bei 4 Staaten der Besitz von C-Waffen evident: Frankreich, Irak, Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. 11 weitere Staaten werden verdächtigt, daß sie über solche Waffen verfügen: Ägypten, Äthiopien, Burma, China, Israel, Nordkorea, Libyen, Syrien, Taiwan, Thailand und Vietnam. Als Schwellenländer werden außerdem der Iran und Südkorea eingeschätzt.

Proliferation erschwert und verunsichert Abrüstung und wirkt wie eine heimtückische Zeituhr. Eine besondere Destruktivität geht von Frankreich aus, das bei quantitativ geringem Einsatz mit eigenen Mittelstreckenraketen, der Neutronenbombe und jetzt auch modernisierten C-Waffen Abrüstungshindernisse aufbaut. Die genannten Waffen bedrohen auf Grund ihrer begrenzten Reichweiten auch die befreundete Bundesrepublik.

Wirkung und militärischer Einsatz von C-Waffen

Seit dem vorigen Jahrhundert wird versucht, die Greuel des industrialisierten Krieges durch völkerrechtliche Normen zu begrenzen. Innerhalb des Kriegsvölkerrechts soll das „Haager Recht“ dafür sorgen, daß den Kriegsführenden „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes“ zusteht. Das „Genfer Recht“ will dagegen bestimmte Personengruppen, vor allem die Zivilbevölkerung, vor Kriegseinwirkungen bewahren.5 In der Realität nimmt aber das Verhältnis von ermordeten Zivilisten zu Soldaten von einem Krieg zum nächsten zu.

Nervenkampfstoffe töten in geringsten Mengen durch Atmung, Hautkontakt und Nahrungsaufnahme. Zivilisten sind unter den Bedingungen eines modernen Krieges vor Giftgas nicht zu schützen. Soldaten verfügen dagegen über die erforderlichen Schutzmittel: Maske, Kampfanzug, gasdichte Fahrzeuge und dergleichen. Sie werden dazu trainiert, innerhalb von Sekunden, die hier zählen, diesen Schutz zu aktivieren. Der Einsatz von Giftgas hat in bisherigen Kriegen zu entsetzlichem Leid und Sterben geführt. Aber durch keinen dieser barbarischen Akte wurden jemals Schlachten oder gar Kriege entschieden. In den letzten Jahren haben Befürworter der C-Waffen angeführt, daß diese dazu benutzt werden könnten, das Leben beispielsweise auf einem frontnahen Flugplatz auszurotten, den der Aggressor im Zuge einer „Vorwärtsverteidigung“ anschließend einnehmen und selbst nutzen möchte. Eine andere Vorstellung ist die, daß sich im Chaos eines Krieges so etwas wie eine Eskalationsfolge der Waffenarten einhalten ließe – konventionell, chemisch, atomar -, wobei die chemischen Massenvernichtungsmittel die „atomare Schwelle“ anheben sollen. Beide Vorstellungen sind militärisch höchst fragwürdig.

Die Unsinnigkeit und Widersprüchlichkeit einer Waffe, die bei dem geringsten Einsatz schon große Teile der Zivilbevölkerung umbringen würde, deren militärischer Effekt aber selbst bei massivstem Einsatz ungewiß bleibt, ist in Kasten 2 veranschaulicht.

Chemischer Krieg in Europa: 98 % der Opfer Zivilisten – militärischer Effekt fragwürdig?
1. Aspekt: C-Waffen töten in geringsten Mengen

Unter der (unrealistischen) Annahme einer 3 Meter hohen tödlichen Wolke mit dem Nervenkampfstoff VX
und eintägiger Einwirkung:
Gebiet km2 tödl. VX-Menge in t* % der Vorräte** x-facher Overkill
BRD 248.103 5 0,02 5.803
Mitteleuropa 1.132.103 24 0.08 1.272
Welt (Landmasse) 149.106 3.104 10 3
Annahmen: * LCt50VX = 10 mg x min x m-3 6, hochgerechnet auf
1 Tag | ** US-Vorräte = SU-Vorräte = jeweils ca. 15.000 t
2. Aspekt: Der militärische C-Einsatz wird im Tonnenmaßstab geplant
Bei Kampfhandlungen werden 0,1- 10t Kampfstoffe pro Hektar oder pro Ziel verschossen.
(10 t/ha ist 5 Millionen mal mehr als nötig um zu töten). Dieser ungeheure Oberschuß
wird für erforderlich gehalten
– weil Soldaten sich gegen C-Waffen schützen können
– und wegen das Einflusses von Wind und Wetter

Bei dem hypothetischen Modell der tödlichen Wolke wurde der seßhafte Kampfstoff VX angenommen. Die Giftmengen, die sich rechnerisch ergeben, würden sich im Falle der gedachten Kontamination der Bundesrepublik und selbst noch von Mitteleuropa mit einem Lastwagen transportieren lassen. Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:

1. C-Waffen sind Unsinnswaffen.. Sie töten Zivilisten, ihre militärische Bedeutung hängt von der Überraschung ab 7 und beruht letztlich darauf, daß Soldaten durch die Ungefüge Schutzkleidung bei ihrem Handwerk behindert werden.

2. Die vorhandenen Nervenkampfstoffe sind bereits so giftig, daß es von untergeordneter Bedeutung ist, ob zu den bekannten noch neue Gifte entwickelt werden oder nicht. Aus dem gleichen Grund sind auch die wahren (geheimen) C-Vorräte der Supermächte zweitrangig: Sie sind auf jeden Fall zu groß!

3. Der Vorbehalt einiger Unterzeichnerstaaten des Genfer Protokolls, C-Waffen als „Repressalie“ (Vergeltungskapazität) für den Fall zu benötigen, daß sie mit C-Waffen angegriffen werden 8 überzeugt nicht: C-Waffen morden auch als Repressalie Zivilisten und sind militärisch obsolet.

Ächtung der C-Waffen: Welche Chancen hat die C-Konvention?

Das Verbot der C-Waffen, über das in Genf seit 1968 unter Beteiligung von 40 UN-Mitgliedsstaaten und zusätzlich (mit Unterbrechungen) auch bilateral zwischen den USA und der UdSSR verhandelt wird, muß umfassen: Die Kontrolle der Beständevernichtung und der Nichtherstellung chemischer Waffen.9 Der Rahmen des Abkommens – Definitionen, Richtlinien für die zu schaffende Verifikationsbehörde und -prozeduren, Fristen und Formalitäten – war im Prinzip, wenn auch noch mit alternativen Formulierungen, bereits 1984 fertig (CD/539; vgl. auch 10). Seitdem hängt der Vertrag kaum noch von Verhandlungsdurchbrüchen ab, auch nicht in der Verifikationsfrage. Es fehlt, daß er endlich beschlossen wird.

Eine lückenlose Erfassung eventueller verbotener C-Aktivitäten ist nicht möglich. Abrüstung ist stets auf eine Mischung von Kontrolle und Vertrauen angewiesen und kann kaum mehr behindert werden, als durch die Forderung nach absoluter Verifikation. Der wichtige quantitative Aspekt des Problems der C-Abrüstung ist in Kasten 3 dargestellt: Zu einem C-Potential gehört eine Mindestmenge an Waffen. Die vorhandenen Instrumente der Kontrolle und der chemischen Spurenanalytik sind zu empfindlich, als daß es ein Staat wagen könnte, das C-Verbot zu unterlaufen.

Läßt sich die Abrüstung von C-Waffen kontrollieren?

Weil Kampfstoffe heimlich produziert werden könnten, gibt es Zweifel, ob ein Totalverbot
verfiziert werden kann.

In der Tat – ein Chemiestudent, der es darauf anlegt, ist kaum daran zu hindern, einen
Kampfstoff in Mengen von 1 oder 2 Litern herzustellen. Ebenso wenig läßt sich
verhindern, daß Gifte zu kriminellen oder terroristischen Zwecken mißbraucht werden.

Für militärische Zwecke werden jedoch Vorräte in der Größenordnung von 10.000
Tonnen Kampfstoffen benötigt. Dies entspricht etwa 100.000 Tonnen chemischer Waffen
(Granaten, Bomben oder dgl.).

Es ist ausgeschlossen, daß sich Vorräte auch weit unterhalb dieser Mengen (in
speziellen Lagern) vor den nationalen und internationalen Instrumenten der Verifikation
verbergen lassen.

Veränderte Situation nach den Binaries

Die Entwicklung binärer C-Waffen wird in den USA seit 1954 betrieben.11 Präsident Reagan forderte seit 1982 die Produktion dieser Waffen, konnte sich aber nur schrittweise gegen den Kongreß durchsetzen, der die Mittelfreigabe immer wieder verzögerte. Senator Mike O. Hatfield, Vorsitzender des Bewilligungsausschusses, richtete ebenfalls schon 1982 einen dringenden Appell an die Europäer, die für Europa bestimmten neuen Giftwaffen nicht zu akzeptieren. Am 19. Dezember 1985 genehmigte der Kongreß schließlich die Produktion von geplanten 1,2 Millionen Haubitzengranaten vom Kaliber 155 mm mit jeweils 4,4 kg des binären Nervenkampfstoffes Sarin, band die Genehmigung jedoch an folgende Auflagen an den Präsidenten: Dieser mußte dafür sorgen, daß die NATO den neuen C-Waffen als Streitkräfteziel zustimmt und Stationierungspläne sowie Einsatzrichtlinien für diese Waffen erläßt.

Die Zustimmung zu dem neuen Streitkräfteziel kam am 22. Mai 1986 zustande, allerdings nicht auf der vom Kongreß vorgeschriebenen hohen Ebene der Außenminister, sondern nur der des Nordatlantikrates, und sie wurde ohne Vorbehalte auch nur von der Bundesrepublik, England und der Türkei gegeben.10 US-Senatoren erhoben daraufhin Einspruch bei dem Generalsekretär der NATO, Lord Carrington, wegen des niedrigen Ranges der Entscheidung und der fragwürdigen Konsensbildung. Am 18.10.1987 hat der Präsident in Erfüllung einer letzten Kongreßauflage formell versichert, daß die Produktion der (binären) „C-Waffen im Interesse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten und der Interessen der anderen NATO-Mitglieder notwendig“ sei. C-Waffen sind zwar ohne jede Bedeutung für die amerikanische Landesverteidigung; mit der Erklärung des Präsidenten war aber die letzte Hürde, die der Kongreß vor die neuen Giftwaffen gesetzt hatte, im Prinzip, wenn auch nicht in guter Form, genommen. Bereits 1987 durften Bestandteile der Binärgranaten gefertigt werden, nur der Zusammenbau war bis zum 1. Dezember 1987 verwehrt. Zur Stunde dieses Schreibens ist es noch ungewiß, ob der US-Kongreß die Produktion jetzt zuläßt. Ebenfalls unklar ist der Stand des Genehmigungsverfahrens bei der zweiten Binärwaffe, der Gleitbombe „Bigeye“. Geplant sind 44.000 dieser Bomben mit jeweils 226 kg binärem VX, das während des Fluges versprüht werden soll. Die Entscheidung über diese Waffe war wegen gravierender Funktionsmngel 1985 zurückgestellt worden.

Die Veränderung der Kontrollsituation bei C-Waffen durch das mögliche Auftreten von Binärwaffen ist in Kasten 4 dargestellt. Das Prinzip der Binärwaffen beruht bekanntlich darauf, daß 2 oder mehr Chemikalien (sogenannte Prekursor) erst nach dem Abschuß der Waffe in einer schnellen chemischen Reaktion den Kampfstoff bilden. Beispielsweise entsteht binäres Sarin gemäß

Methylphosphonsäure-difluorid + Isopropanol Sarin + Flußsäure
„Schlüssel“perkursor 2. Perkursor Nervenkampfstoff Beiprodukt (Ballast)
flüssig flüssig flüssig Gas

Die US-Army hatte eine Zeitlang nach „kleinen Fabriken mit spezieller Erfahrung“ gesucht, für die die Produktion der Schlüsselkomponenten eine „goldene Gelegenheit“12 sein könnten Bei einem C-Verbot wäre es schwierig, solche Fabriken ausfindig zu machen. Isopropanol ist eine allgemein verfügbare Chemikalie, die nicht speziell hergestellt werden muß und die auch nicht reglementiert werden kann. Anstelle von Sarin kann der Nervenkampfstoff Soman binär hergestellt werden, wenn Pinakolyl-Alkohol als zweitem Prekursor eingesetzt wird. Auch Gifte, die sich z.B. wegen begrenzter Lagerbeständigkeit nicht als Kampfstoff eignen, sind u.U. binär zugänglich: Als Beispiel ließe sich Phenyl-Sarin anführen, das mit Phenol als 2. Prekursor entsteht.

Die Binärreaktion wird dadurch ausgelöst daß Behälter mit den beiden Komponenten beim Abschuß der Granate platzen und die Geschoßdrehung eine intensive Durchmischung der Flüssigkeiten bewirkt. Der Alkoholkanister darf grundsätzlich erst unmittelbar vor dem Abschoß in die Granate eingesetzt werden. Der US-Kongreß hat sogar vorgeschrieben, daß Granate und zweiter Kanister in verschiedenen US-Bundesstaaten aufbewahrt werden müssen, solange sich die Waffen in den USA befinden. Dies alles unterstreicht den Bausteincharakter der Binärwaffen. Wenn die kennzeichnende Beschriftung weggelassen wird, ist die chemische Granate nicht von anderen Granaten des in der NATO verbreiteten Kalibers 155 mm zu unterscheiden. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Binärwaffen nicht unbedingt in speziellen Lagern untergebracht werden müssen.

Die oben formulierte „Sarin-Gleichung“ zeigt nur einen der Wege, auf denen binär ein Kampfstoff entstehen kann, und die Reaktion ist stark vereinfacht geschrieben. Tatsächlich enthält der Kanister mit dem phosphororganischen Prekursor noch 2 % N,N-diisopropylcarbodiimid und der andere Kanister ein Gemisch aus 72 % Isopropanol und 28 % Isopropylamin (als Reaktionsbeschleuniger).13 Während des Flugs der Granate soll die Ausbeute an Sarin 80 % betragen. Wegen der Anwesenheit von Zusatzstoffen und der Bildung von Flußsäure entspricht dies aber nur etwa 60 % Sarin bezogen auf die mitgeführten Chemikalien.

Veränderte Situation nach den Binaries
Gegenwärtige (unitäre) C-Waffen binäre C-Waffen
Produktion Spezialfabriken umgeben von Sicherheitszonen in gewöhnlichen Fabriken möglich
vh I
Transport gefährlich, spezielleSicherheitsvorkehrungen kein besonderes Risiko, Perkursoren werden getrennt
transportiert und gelagert.Logistische probleme?
h I
Lagerung spezielle Lager, erkennbar an Sicherheitsmaßnahmen ähnlich
A-Lager
spezielle Lager nicht unbedingt erforderlich
vh I
Handhabung Gefährlichb auch für den Agressor keine besonderen Risiken
Wahrscheinlichkeit der
Entdeckung: vh = sehr hoch, h = hoch, l = gering

Die erwähnten Eigenschaften machen gemäß Kasten 4 die Kontrolle von Binärwaffen sehr viel schwieriger als die der Unitaren C-Waffen. C-Abrüstung muß daher beschlossen werden, bevor Binärwaffen, zumindest in nennenswerten Mengen, in die Welt gesetzt sind.

Der Vertrag über die Abrüstung der Mittelstreckenraketen hat gerade deutlich gemacht, bis in welche Tiefen bisheriger Militärgeheimnisse Kontrolle vordringen muß. Es kann durchaus nützlich sein, daß sich die Kontrahenten so intensiv beobachten müssen. Je realistischer die Basis der gegenseitigen Einschätzung wird, desto weniger können aufgeblasene Feindbilder die Realität ersetzen; Kontrolle kann ausgebrochen vertrauensbildend wirken. Überzogene Kontrolle wird aber Mißtrauen fördern. Die gerade noch günstigen Verifikationspfade sind schmal und kostbar, Kontrollvereinbarungen sollten so abgestimmt werden, daß sie effizient sind und Vertrauen eher schaffen als verbrauchen. Für die C-Konvention bedeutet dies: Sie muß auf der Basis der bisherigen, Unitaren C-Waffen abgeschlossen werden, man darf nicht warten, bis diese Basis durch die aufkommenden Binärwaffen zerrüttet wird. Nach 19 Verhandlungsjahren über die Abschaffung der alten C-Waffen haben sich die Staaten damit vertraut gemacht, was an Kontrolle auf sie zukommt. Die Vernichtung dieser Waffen wird als gemeinsamer Erfolg empfunden werden und kann die alleinige Basis schaffen, von der aus sich mögliche künftige Verstöße, unitär oder binär, im Keine ersticken lassen und auch das durch Proliferation zustande gekommene Giftgas wieder aus der Welt geschafft werden kann.

Abkürzungen

Kampfstoffe:

GB = SARIN = Methylfluorphosphonsäureisopropylester;

GD = Soman = Methylfluorphosphonsäurepinakolinester,

VX = Ethyl-S-diisopropylaminethylmethylphosphonsäureethiolat,

S-Lost = HD = Yperit = Senfgas = 2-dichlordiethylsulfid,

Lewisit = 2-Chlor = Vinylarsindichlorid.

LCT50 = „Habersches Tödlichkeitsprodukt“: Giftmenge, die beim Binatmen bei 50% der Betroffenen zum Tode führt in mg x min x m-3.

Anmerkungen

1 Chemical Stockpile Disposal Program. Draft Programmatic Fnvironmental Impact Statement (DPEIS). Office of the secretary of Defense. wa shington D.C. 20301. Juli 1986 Zurück

2 Perry Robinson J. P. in SIPRI Yearbook 1986, Oxford University Press, s. 168 wie Zitat Zurück

3 Wie Zitat 1 Zurück

4 Arms Control Today September 1986 Zurück

5 Däubler, W., Stationierung und Grundgesetz, rororo aktuell 1982 Zurück

6 WHO, Health Aspects of Chemical and Biological Weapons. Genf 1970 Zurück

7 Field Manual 100-5, Headquarter, Department of the Army, Washington D.C., 20. August 1982, 7-12 Zurück

8 Bundesminister für Verteidigung, Weißbuch 1983 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland Bonn 1983, Abschnitt 288 Zurück

9 Hoffmann, H. in Dosch, W., Herrlich, R. (Hrsg.) Ächtung der Giftwaffen, Fischer 1985, 57-72 Zurück

10 wie 9 (Einleitung) 29-31 Zurück

11 Weltföderation der Wissenschaftler: Chemische Waffen und die Folgen ihrer Anwendung. Studie des Abrüstungsausschusses 1986, S. 41 Zurück

12 Ember, L. R., Chemistry and Engeneering News, Washington D.C., August 1982, 32-34 Zurück

13 Stöhr, R. Mitteilungsblatt Chemische Gesellschaft DDR, April 1987, S. 80 Zurück

Dr. Werner Dosch ist Professor am Institut für Geowissenschaften der Universität Mainz.

Der B-Waffenvertrag nach der II. Reviewkonferenz: Einen biologischen Rüstungswettlauf verhindern!

Der B-Waffenvertrag nach der II. Reviewkonferenz: Einen biologischen Rüstungswettlauf verhindern!

von Helmut Weigel

Die ungeahnten Möglichkeiten durch die neuen Methoden der Gentechnologie nähren die alten Hoffnungen der Militärs: Die Liste der Nachteile von einst wurde längst zum „Wunschkatalog“ an die Gentechniker von heute (siehe Kasten). Es wird wieder intensiv geforscht. Dabei verbietet der 1972 für die B-Waffen abgeschlossene Vertrag nicht nur ihren Einsam, sondern auch ihre Entwicklung, Herstellung und Lagerung. Es ist bis heute der einzige Vertrag, der eine gesamte Waffengattung umfaßt. Von daher ist es gerade heute von höchster Wichtigkeit, alles daran zu sehen, daß dieses Übereinkommen seinen ursprünglichen Absichten auch zukünftig gerecht wird. Es dürfte die einzige mögliche Alternative sein, um heute einen neuen biologischen „Rüstungswettlauf“ einzudämmen.

Dieser Aufgaben sahen sich die diplomatischen Vertreter von 67 Nationen im vergangenen Herbst gegenübergestellt, als sie sich zu einer Konferenz in Genf trafen, um die B-Waffen-Konvention auf Mängel hin zu überprüfen. Fest steht heute, daß die mit dieser Konferenz verbundenen Erwartungen, die schließlich nach zähem Ringen erzielten und in einer gemeinsamen Abschlußerklärung zusammengefaßten Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen erst noch in den politischen Alltag eingebunden werden müssen. Das seht voraus, daß die Stimmen der aktiv Beteiligten nicht im diplomatischen Dschungel verhallen. Ihre, naturgemäß die eigene Sichtweise hervorhebende, Kommentierung der Konferenz ist jüngst in „Disarmement“ erschienen.1

Alle Teilnehmer waren sich der Herausforderung bewußt, den in Schwierigkeiten geratenen Vertrag zu stärken. Sie konnten seine Anfechtbarkeit nicht länger mehr ignorieren, zu offensichtlich sind inzwischen die gewaltigen Mißbrauchsmöglichkeiten von Bio- und Gentechnologie. Noch auf der 1. Konferenz zur Überprüfung des B-Waffen-Vertrages glaubte man, daß der Vertrag ausreichend umfassend sei, um neue Entwicklungen abzudecken. Das genügte diesmal nicht mehr.

Dazu trug ganz wesentlich eine SIPRI-Studie bei, die zu Beginn der Konferenz an alle Delegationen verteilt wurde und schonungslos die Vertragsschwächen bloßlegte. Diese von dem Virologen und Mitglied der DDR-Delegation, Erhard Geissler, herausgegebene Studie wurde wegen ihrer konkreten, von einer internationalen Wissenschaftler- und Expertengruppe unterstützten Vorschläge gelobt. „Biological and Toxin Weapons Today“, so der Titel der Studie, erkannte aber auch die Grenzen: Eine vollständige Beseitigung aller B- und Toxinwaffen wird wohl nur durch ein Verbot von C-Waffen erreicht werden können. Geissler war übrigens der einzige aktive, international anerkannte Biowissenschaftler auf der Konferenz.

Nicht ohne Einfluß auf die schließlich erzielten Fortschritte dürfte das damals bevorstehende Gipfeltreffen in Reykjavik gewesen sein. Die üblichen amerikanischen Anschuldigungen an die Adresse der Sowjetunion fielen vergleichsweise moderat aus. Lynn M. Hansen, Assistenzdirektor für multilaterale Angelegenheiten bei der amerikanischen Rüstungskontrollbehörde, bezeichnete in seiner Konferenzkommentierung das Vorgehen der US-Delegation als „kritisch, aber konstruktiv“.9 Offensichtlich wollte man, auch mit Rücksicht auf die neutralen Staaten, Kooperationsbereitschaft demonstrieren und das Thema in dieser Runde nicht allzusehr hochspielen.

Mehr noch überraschte die Sowjetunion. Gleich zu Konferenzbeginn bot sie an, alle Fragen bezüglich vorhandener Zweifel an ihrer Vertragstreue zu beantworten. Der sowjetische Vertreter sagte, sein Land wäre bereit, alle Informationen zu geben, welche die amerikanische Delegation haben möchte, um ihre Zweifel ausräumen zu können, und fing von sich aus an, über die Milzbrandepidemie von Swerdiowsk im Jahre 1979 zu berichten. Er führte Beweise an, die die US-Behauptung, es handle sich um die Folgen eines Unfalls in einer geheimen Fabrik für biologische Kampfstoffe, widerlegten. Das wirkte überzeugend. Ein europäischer Delegierter warnte: der Westen könnte noch von einer Informationsflut aus dem Osten überrascht werden.

Sichtlich bemüht um die Stärkung des B-Waffen-Vertrages schlug die Gruppe der sozialistischen Staaten im Laufe der Generaldebatte die Ausarbeitung eines Ergänzungsprotokolls zur Klärung von Kontrollmaßnahmen und ein Expertentreffen vor, das eine gesonderte Konferenz zur rechtsverbindlichen Annahme des ausgearbeiteten Protokolls vorbereiten sollte, fand damit Anforderungen an militärisch einsetzbare pathogene Mikroorganismen, Viren und Toxine aber keine Mehrheit, da sich die Mehrheit der Delegation schon zu Beginn der Konferenz darauf verständigt hatte, daß ein formeller Ergänzungsantrag nicht in der Zuständigkeit dieser Konferenz liege. Der Vorschlag war dennoch bemerkenswert, denn nach wie vor gab und gibt es sehr unterschiedliche Meinungen darüber, wie eine verbindliche Änderung des Vertrages eingeleitet werden sollte.

(US Department of Army and Air Force, 1964) 2:

– stark schädigendeWirkung

– eingeschränkte Abwehrmöglichkeiten

– Möglichkeit effizienter Verbreitung (Versprühen als Aerosol, Stabilität, Kontrollierbarkeit)

– Herstellbarkeit in großen Mengen

Vom Pentagon durch Gentechnik zukünftig als realisierbar eingeschätzt (US Department of Defense Biological Defense Program, 1986) 3:

– in Minuten wirkende Toxine; maßgeschneiderte, physiologisch aktive Peptide

– Organismen mit neuen Immuncharakeristiken, die sich einem Impfschutz oder dem menschlichen Immunsystem entziehen

– Impfstoffe, Diagnoseverfahren; umweltstabile Toxine

– in großen Mengen herstellbare Pflanzen- und Pilztoxine

Vor allem Schweden und den neutralen Staaten war es zu verdanken, daß man mit dem Problem einer besseren Vertragsüberwachung weiterkam. Der schwedische Vorschlag lief darauf hinaus, verstärkt Informationen auszutauschen. Denn nur absolute Offenheit kann jene Verdächtigungen verhindern, die den Vorwand für eskalierende militärische Verteidigungsantworten liefern. Man einigte sich auf wichtige vertrauensbildende Maßnahmen zur Stärkung des Vertrages. Zukünftig sollen die Standorte der sogenannten Hochsicherheitslabore, sowie Umfang und Art der dort betriebenen Forschung, ebenso bekannt gemacht werden, wie das Auftreten ungewöhnlicher Krankheitsausbrüche irgendwo auf der Welt. Darüberhinaus sollen auf wissenschaftlicher Ebene Kontakte ausgebaut und gemeinsame Forschungsprogramme gefördert werden.

Freilich ist damit noch immer ungeklärt, wie mit einer vorgebrachten Anschuldigung, den Vertrag zu verletzen, verfahren werden soll. Man kann sich zwar an den UN-Sicherheitsrat wenden, jedoch genügte bisher stets ein Veto, um es erst gar nicht zur Einberufung einer Untersuchungskommission kommen zu lassen. Der Versuch der USA, den Sicherheitsrat zu umgehen, indem sie beispielsweise ihre Anschuldigungen über sowjetische Vertragsverletzungen vor die Generalversammlung brachten, hatte auch nicht mehr Erfolg. Denn unabhängig davon, wer letztlich eine Expertengruppe einberuft, zur tatsächlichen Aufklärung braucht man zuerst ein von allen akzeptiertes Überprüfungsverfahren, welches insbesondere Vor-Ort-Untersuchungen regelt. Ohne abgestimmte Verifikationsprozeduren leidet nämlich die Glaubwürdigkeit einer wie auch immer zusammengesetzten Untersuchungskommission, ja sogar ihr Mißbrauch kann nicht ausgeschlossen werden. Hier ist von allen Beteiligten noch einige Arbeit zu leisten.

Ungeachtet dessen wurde erneut, wie schon auf der ersten Zusammenkunft, der ziemlich unklare Vorschlag eines „Konsultativmeetings“ eingebracht, das jeder Staat jederzeit fordern könne und in dem kein Staat ein Vetorecht haben dürfe. Als die Konferenz hierzu beschloß, ein solches Konsultativmeeting erst einmal klarer zu definieren und seine Aufgaben besser zu präzisieren, entsprach das nicht ganz den Erwartungen vieler westlicher Delegationen. Viele wünschten sich, den UNO

Generalsekretär mit der Einberufung eines derartigen Meetings zu betrauen, wie es im Falle des Iran-Irak-Konflikt zur Prüfung eines unerlaubten C-Waffen-Einsatzes bereits einmal geschehen ist.

Die überaus rasche Entwicklung auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnologie, so der peruanische Botschafter Jorge M. Pando in seiner Konferenzbewertung,4 bereitet den Dritte-Welt-Staaten zunehmend Sorge. Sie warnen vor einer rapide größer werdenden Kluft zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern bei der friedlichen Nutzung der Gen- und Biotechnologie und fordern deshalb neue institutionelle Wege, die eine bessere Zusammenarbeit gewährleisten sollen. Die sozialistischen Staaten unterstützen zwar dieses Verlangen, aber noch gibt es kaum Fortschritte. Auch die in der Abschlußerklärung der B-Waffen-Konferenz formulierte Forderung, ökonomische und soziale Entwicklung in den Entwicklungsländern zu fördern, bleibt ohne Wirkung, solange lediglich auf andere diplomatische Gesprächskreise verwiesen wird und konkrete Lösungsansätze fehlen. Man war ganz offensichtlich froh, das Problem auf die UNO-Konferenz über zusammenhängende zwischen Abrüstung und Entwicklung, die im Herbst dieses Jahres stattfand, vertagen zu können.

Unter dem Eindruck der Pannen in Fort Detrick 5, die unmittelbar vor Konferenzbeginn bekannt wurden, aber auch aus Furcht vor denkbaren terroristischen Absichten, drängten die Konferenzteilnehmer auf nationale Gesetze zur Laborsicherheit. Jeder Staat solle die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen ergreifen, um den Verbleib pathogener und toxischer Materialien zu überwachen. Es bleibt abzuwarten, ob das Gefährdungspotential militärisch interessanter „Agenzien“ per Gesetz überhaupt angemessen kontrollierbar ist. Nicht wenige Wissenschaftler sind vielmehr der Meinung, daß eine Kontrolle neuer Agenzien sehr viel schwieriger sei als ihre Entwicklung.

Eine gravierende Schwäche des Vertrages ist sein Geltungsbereich. Durch die stürmische Entwicklung der Biotechnologien läuft der Vertrag Gefahr, überholt zu werden. Noch vor wenigen Jahren eindeutig als biologisch eingestufte „Agenzien“ lassen sich heute zu Substanzen reduzieren, für die der Vertrag nicht mehr gilt. Die bisherige Definition von B- und Toxinwaffen müßte daher unbedingt erweitert und präzisiert werden. In einer zwischen den Hauptantagonisten direkt ausgehandelten Formulierung ist nochmals eindringlich die Gültigkeit des Vertrages für alle relevanten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen unter ausdrücklicher Einbeziehung zukünftiger Entwicklungen wiederholt worden.6

Eine international anerkannte Definition für Toxine fehlt jedoch. Damit existiert nach wie vor eine Grauzone zwischen dem vorhandenen B-Waffen-Vertrag und dem ausstehenden C-Waffen-Übereinkommen. Diese Situation unterstreicht abermals die Wichtigkeit eines umfassenden Verbots chemischer Waffen.

Nach Abschluß der Generaldebatte lagen insgesamt 49 Vorschläge für die Abschlußerklärung auf dem Tisch. Dennoch schaffte man es, in nur 4 Tagen einen konsensfähigen Entwurf abzufassen. Diese Meisterleistung war einmal möglich, weil in der ersten Konferenzwoche der erfolgreiche Abschluß der Stockholmer Konferenz Verhandlungsbereitschaft signalisierte, freilich aber auch, weil die Angst vor einem neuerlichen Rückschlag sehr groß war. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Abschlußerklärung enthält Konkreteres als vergleichbare Texte so mancher anderen Konferenz. Den zu verhandelnden Stoff für das nächste Treffen, das nicht später als 1991 stattfinden soll, hat man sich gleich mit aufgegeben. Vorgesehen ist u.a. die weitere wissenschaftlich-technische Entwicklung der Biotechnologie, die Wirksamkeit eingeleiteter vertrauensbildender Maßnahmen und rechtsverbindliche Verbesserungen des Vertrages zu beraten.

Obwohl mit der Formulierung von Verhandlungsthemen für die nächste Untersuchungskonferenz wichtige Entscheidungen zunächst hinausgeschoben wurden, bleibt als politisches Ergebnis, die offenen Punkte (Definitionsfragen, Überprüfbarkeit und Verbindlichkeit der getroffenen Vereinbarungen) benannt zu haben und die Absicht, sie einer Lösung zuführen zu wollen. Zwar haben die Gegner rechtsverbindlicher Erklärungen noch einmal Zeit gewonnen, jedoch kann es sich kein Staat mehr leisten, auf den ursprünglichen Vertragstext zurückzufallen. Ausschlaggebend für diese Vorgehensweise war die nicht unbegründete Hoffnung vieler Konferenzteilnehmer, daß noch vor Ende der 80er Jahre ein Vetrag über chemische Waffen zum Abschluß komme. Sobald ein solcher Vertrag unterzeichnet ist, so glaubt man, dürfe die Befürwortung einer Vertragsergänzung oder -änderung sehr viel wahrscheinlicher sein. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Verifikation für biologische Waffen sehr viel schwieriger sein wird als für chemische Waffen.

Das eigentliche Problem des B-Waffen-Vertrages, die Erlaubnis von Forschung zu Verteidigungszwecken, bleibt ungelöst. Wer immer in den Militärlabors mit Krankheitserregern und Bakterien geotechnisch probiert – und biologische Agenzien und Toxine sind heute leicht und schnell herstellbar – wird seine Arbeit als erlaubte Forschung im Sinne des B-Waffen-Vertrages verstehen. Was nützt aber ein Entwicklungsverbot für offensive Zwecke, wenn Nachweis und Schutzgeräte mit echtem B-Kampfstoff getestet und nach Impfstoffen für ausgefallene Krankheiten gesucht wird? Die Forschung zum Schutz vor B-Waffen ist vollkommen identisch mit der Forschung zur Herstellung einer B-Waffe. Auch wird von vielen Wissenschaftlern bezweifelt, daß Impfstoffe für Verteidigungszwecke geeignet sind. Ohne vorherige Warnung, so ihr Argument, gibt es keine Möglichkeit, die gesamte Bevölkerung vor einer Vielzahl entwickelbarer, ungewöhnlicher Infektionskeime zu schützen. Immunisierung diene daher nur einem Aggressor, der den B-Waffen-Einsatz plant. Eine Entwicklung und Herstellung neuer hochgefährlicher Pathogene unter dem Etikett „Defensivmaßnahme“ ist auch dann nicht zu rechtfertigen, wenn die Keime als Waffen nutzlos sind. Allein ihr Vorhandensein stellt eine Lebensbedrohung dar. Daher müssen Schritte gegen derartige Vorhaben so früh wie möglich unternommen werden.

Noch sind nicht alle so konsequent in ihrer Haltung wie beispielsweise die US-Wissenschaftler Novick oder Lewitt. Beide lehnen B-Waffen-Forschung ab. Richard P. Novick ist Direktor des New Yorker Forschungsinstituts für öffentliche Gesundheit. Er arbeitet z.Zt. mit Staphylococcus-Bakterien, die eine schlimme Form von Lebensmittelvergiftung verursachen. An ihn trat das Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID), ein Forschungsinstitut der US-Armee in Fort Detrick, mit dem Angebot, für seine Forschungen Geldmittel bei ihnen zu beantragen.7 Warum, so fragte er sich, interessiert sich das Pentagon für meine Forschung? Das Ansinnen erschien ihm sehr bedenklich und höchst sonderbar; er lehnte kurzerhand ab. Lewitt forschte früher selbst am militärmedizinischen Institut in Fort Detrick. Heute beschuldigt er die amerikanischen Streitkräfte schwerer Versäumnisse bei ihrem Biological Defense Program.8

Die Zahl der Biologen, denen vom amerikanischen Verteidigungsministerium Forschungsgelder und Jobs angeboten werden, hat in letzter Zeit erheblich zugenommen. Die meisten Wissenschaftler haben nach wie vor keine Bedenken, im Auftrag des US

Verteidigungsministeriums zu forschen. 90 Millionen Dollar hat das Pentagon allein 1986 für sein Biological Defense Research Program ausgegeben. Seit 1981 haben sich die Ausgaben versechsfacht – die Millionen für eine B-Waffen-Testanlage in Dugway/Utah nicht mitgerechnet. Das Hauptinteresse gilt seltenen Krankheitseregern und Toxinen. Mehrere Universitäten clonieren gleichzeitig im Auftrag des USAMRIID für ein toxinempfindliches Frühwarnsystem. Auch wenn dieses Jahre die Mittel auf 62 Millionen US-Dollar gekürzt worden find, das Forschungsprogramm wurde davon nicht betroffen. Und: Der Plan für ein neues Hochsicherheitslabor für B-Waffen-Tests auf dem Militärgelände bei Dugway/Utah ist trotz eines gerichtlich verfügten Baustopps keineswegs fallengelassen. Die Diskussion ist vergleichbar jener über Atomwaffen. Der Gedanke an biotechnisch produzierte Waffen ist mindestens ebenso schrecklich wie der eines Atompilzes!

Gerade die junge und um ihr Image besorgte amerikanische Bio-Industrie hat großes Interesse an der Einhaltung des B-Waffen-Vertrages. Das letzte, was sie nämlich gebrauchen kann, ist ein öffentliches Meinungsbild von gentechnisch erzeugten Produkten, die von Forschern stammen könnten, die auch in der Lage sind, Monstermikroben zusammenzubrauen. Die Industrie unterstützt daher einen Gesetzesentwurf, wonach der B-Waffen-Vertrag in den USA auch auf private Aktivitäten Anwendung finden soll.

Für die künftige Entwicklung des B-Waffen-Vertrages wird viel davon abhängen, wie sich die Scientific Community verhält und inwieweit alle Staaten bereit sind, vertrauensbildende Programme tatsächlich zu unterstützen und Transparenz zuzulassen. Je mehr Wissenschaftler und Politiker erkennen, daß B-Waffen-Forschung – auch zu Verteidigungszwecken – äußerst fragwürdig und gar nicht patriotisch ist, umso eher wird die Welt sich von der Geißel biologischer Waffen befreien können. Verantwortungsvolle Forschung bedeutet heute, Grenzen zu ziehen. Erst wenn ein Forschungsprojekt nicht mehr unter eine bestimmte kritische Schwelle gehen kann, wird der Reiz verloren gehen, es realisieren zu wollen. Ähnliches gilt für eine friedensstiftende Politik. Sie muß sich endlich aus den Fesseln überzogener Bedrohungsanalysen lösen.

Ausgaben für B-Waffenforschung in den USA 1981-1987 (Mio. $)
1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
15 22 38 60 67 66 73

Anmerkungen

1 Second Review Conference of the Biological Weapons Convention. Disarmement, Vol. X, Nr. 1 (1987), S. 43-77 Zurück

2 E. Geissler, SIPRI Yearbook 1984, Taylor & Francis, London (1984), S. 426Zurück

3 S. Wright, Bulletin of the Atomic Scientists, Jan/Feb 1987Zurück

4 J.M. Pando, a.a.O., S. 52-58 Zurück

5 Anfang der 80er Jahre verschwanden erhebliche Mengen Chikungunya-Virus aus Fort Detrick, ohne bis heute jemals gefunden zu werden. Chik, wie die militärforscher das Virus nennen, verursacht plötzlich ausbrechende schwere Gelenkschmerzen in den Gliedmaßen und in der Wirbelsäule, die den Betroffenen innerhalb von Stunden inaktivieren.Zurück

6 Die neue umfassendere Definition in der gemeinsamen Abschlußerklärung lautet jetzt: „Die Konvention gilt eindeutig für alle natürlichen oder künstlich hergestellten mikrobiologischen oder anderen biologischen Agenzien oder Toxinen ungeachtet ihres Ursprungs oder ihrer Herstellungsmethode. Pflanzliche, tierische und mikrobiologische Toxine (auf Protein- und Nichtproteinbasis) einschließlich ihrer synthetisch erzeugten Analoge werden von der Konvention erfaßt.“ Disarmement Vol. IX, Nr. 3 (1986) Zurück

7 Business Week, 10.8.87, S. 66 Zurück

8 In einer 26-seitigen Anklageschrift beschuldigt Nell Lewitt die US-Army u.a. weder die Umstände des Verschwindens von Chikungunya-Vinus aus Fort Detrick noch deren Verbleib ermittelt, dem Kongreß jahrelang nicht bestandene Sicherheitstests verschwiegen und Untersuchungen möglicherweise kontaminierten Zellmaterials versäumt zu haben. Bulletin of the Atomic Scientists, Jan/Feb 1987, S. 45 Zurück

9 L. M. Hansen, a.a.O., S. 59-65 Zurück

Dr. Helmut Weigel ist Diplom-Chemiker in Hamburg.

ABM-Vertrag

ABM-Vertrag

von Jürgen Scheffran

Spätestens seit dem Abbruch der Gipfelgespräche zwischen dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan in der isländischen Hauptstadt Reykjavik am 12. Oktober 1986 wurde der Weltöffentlichkeit klar, welche Bedeutung der ABM-Vertrag für die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten hat. Während eine Einigung bei der Reduzierung der Nuklearwaffen möglich erschien, ergaben sich hinsichtlich der Interpretation des ABM-Vertrages erhebliche Unterschiede. Ob die bisher gültige „restriktive“ und von Gorbatschow vertretene Auslegung des ABM-Vertrages, die SDI enge Grenzen auferlegen würde, während des Abbaus von Atom Waffen gültig sein soll, oder die von der Reagan-Administration vorgeschlagene „weite“ Auslegung ohne konkrete Grenzen für SDI, das war der wesentliche Streitpunkt in Reykjavik, der eine Einigung verhinderte.

Dies zeigt, wie wichtig es für die Friedensbewegung ist, sich mit dem ABM-Vertrag zu beschäftigen, ohne die Friedensdiskussionen auf rein rechtliche Fragen reduzieren zu wollten. Ohne diesen Vertrag wäre die „Büchse der Pandora“ neuer Waffensysteme im Weltraum völlig offen. Mit der Zukunft dieses Vertrages steht und fällt der Erfolg des Rüstungskontrollprozesses.

Struktur und Begriffe des ABM-Vertrages

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketenabwehr-Systeme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentiert die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell zu teuer und politisch strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung und das wichtigste Abkommen zur Rüstungsbegrenzung.

Mit Artikel I verbietet der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr zur Landesverteidigung. Unter ABM (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr)-Systemen werden nach Art. II generell alle Systeme zur „Bekämpfung anfliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden und als „gegenwärtige Komponenten“ bezeichnet werden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in dem zentralen Art. V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihren Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen untersagen, Nicht ABM-Systeme mit einer „ABM-Fähigkeit“ auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien bzw. technischer Konstruktionsbeschreibungen in andere Staaten (Art. IX und Interpretation G). Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste die Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein sollen, „um die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen, keine ABM-Systeme oder deren Komponenten zu stationieren“. Für die mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, hat jedoch eine Rücktrittsklausel.

Wie andere Verträge auch enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen, insbesondere die Begriffe „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Grauzonen und neue Waffentechnologien

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen. Taktische Raketenabwehrsysteme (ATM: Anti Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Ober den „Umweg“ von ATM und ASAT-Technologien könnten zugleich auch neue ABM-Technologien entwickelt werden. Neue Waffentechnologien, die mehreren Funktionen dienen können und schwierig zu unterscheiden sind, stellen eine ernste Herausforderung für Rüstungskontrolle und Verifikation dar und können die strategische Stabilität gefährden. Dies macht vorbeugende Kontrollmaßnahmen wichtig, die eine Waffentechnik bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung begrenzen. Nach Abschluß des ABM-Vertrages hatte es einige Streitfälle zur Vertragseinhaltung gegeben ( so bei Tests sowjetischer Luftabwehrraketen oder beim „Low Altitude Defense System“ (LoADS) der USA), die jedoch in der Ständigen Beratenden Kommission (SBK) weitgehend geklärt werden konnten. Bei entsprechendem politischen Willen könnten auch die genannten Problembereiche, die sich z.T. seit Jahren abzeichnen, gelöst werden . Es gibt bereits ausgearbeitete Begrenzungsvorschläge, die zur Ergänzung (nicht Änderung) des ABM-Vertrages und in Erfüllung der Interpretation D gemeinsam vereinbart werden könnten. Möglich wären insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Das geeignete Forum für die Diskussion solcher Fragen sind die Genfer Verhandlungen. Konkreter Anlaß könnte die Überprüfungskonferenz zum ABM-Vertrag 1987 sein.

Eine neue Qualität erreichen die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbots im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogrammm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch eine Kollision zerstörten. Durch solche Ereignisse, die eher den Charakter von „kosmischen Zauberkunststücken“ als von wissenschaftlichen Experimenten haben, wird der ABM-Vertrag durchlöchert. Weitere Versuche verzögerten sich wegen der Challenger-Katastrophe. Hierzu zählen Programmnamen wie AOA, ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS u.a., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Einer der ersten Versuche, der an die Substanz des ABM-Vertrages geht, wird der Test des „Airborne Optical Adjunct“ (AOA) sein, eines luftgestützten Infrarotsensors für die Ortung von Gefechtsköpfen in der Wiedereintrittsphase, der die Funktion einer ABM-Komponente übernehmen könnte.

Vorwürfe und Interpretationen

Um den Gegensatz zwischen SDI und dem ABM-Vertrag abzuschwächen, versucht die Reagan-Administration zum einen, die Sowjetunion öffentlich der Vertragsverletzung zu beschuldigen, wie im Falle der Radaranlage von Krasnoyorsk. Diese wirft wegen ihrer Lage im Inneren der Sowjetunion vertragsrechtliche Probleme auf, die Gegenstand der SBK sind. Die Sowjetunion hat die Lösung des Problems in Aussicht gestellt, wenn die USA ebenfalls zur Klärung ansprechender Fragen bei ihren Radaranlagen in Fylingdales (England) und Thule (Grönland) bereit ist. Als Vorwand für einen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag ist Krasnoyarsk nicht geeignet, noch weniger gilt dies für andere Vorwürfe.

Zum anderen bemüht sich die Reagan-Regierung, SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darzustellen. So werden im SDI-Report des Pentagon unklare Vertragsbegriffe ausgeschöpft und neu bewertet, um eine Zuordnung der SDI-Projekte zu drei vertragskonformen Kategorien zu ermöglichen. Es wird unterschieden zwischen Labortests, Feldtests von ABM-Subkomponenten und Feldtests von festen landgestützen Komponenten. Eine klare Grenzlinie zwischen Forschung und Entwicklung wird nicht gezogen, so daß ein weiter Ermessensspielraum für die SDI-Entwicklungen bleibt. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, werden die SDI-Großversuche lediglich als Tests von nicht definierten „Subkomponenten“ bezeichnet, ein Terminus, der bei Abfassung des Vertrages keine Rolle gespielt hat.

Darüber hinaus unternahm im Oktober 1985 der damalige Sicherheitsberater Reagans, Robert McFarlane, gestützt auf Überlegungen des Rechtsberaters des Außenministeriums, Abraham Sofaer, den Versuch einer „weiten“ Interpretation des ABM-Vertrages, im Unterschied zur bis dahin gültigen „engen“ bzw. „traditionellen“ Auslegung. Unter Berufung auf Interpretation D sollen danach Entwicklungen und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zulässig sein. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration selbst), wonach neue ABM-Technologien verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden.

Streitpunkte und Kompromisse

Sollte sich die Neuinterpretation durchsetzen, könnte der ABM-Vertrag rasch zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages wären dann auch die Möglichkeiten für Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen stark eingeschränkt: einschneidende Abrüstung bei Atomwaffen bei gleichzeitiger Entwicklung und Aufbau von Abwehrsystemen kann stark destabilisierend wirken. Dies erklärt die Abneigung der Sowjetunion in Reykjavik, von einer engen Vertragsauslegung abzuweichen, und ihre Forderung nach einer „Stärkung“ des ABM-Vertrages, die seine Erosion wirkungsvoll aufhalten und den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnen würde.

Nie zuvor waren derart weitreichende Abrüstungsziele wie die Abschaffung aller Atomwaffen in zehn Jahren auf höchster Ebene erörtert worden. Konkret schien in Reykjavik eine Einigung zum Greifen nah, die tiefe Einschnitte (deep Cuts) bei den nuklearstrategischen Offensivwaffen auf 50 % und darunter sowie eine Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen vorsah, was bei Realisierung ein „historisch sensationeller Einbruch in den Rüstungswettlauf" wäre. Während sich beide Seiten in diesem Ziel noch einig schienen, ergaben sich die entscheidenden Differenzen bei der Vereinbarkeit von SDI mit dem ABM-Vertrag.

Zwar erklärten sich beide Seiten für zehn Jahre bereit, den ABM-Vertrag einzuhalten. Während Gorbatschow jedoch auf der Einhaltung der bislang gültigen engen Auslegung des Vertrages in der Abrüstungsphase bestand, die Tests von Abwehrsystemen im Weltraum verboten hätte, schlug Reagan die weite Auslegung vor, die solche Tests erlauben würde und darüber hinaus nach Ablauf der zehn Jahre die Möglichkeit einer Stationierung von SDI offenhielt. Dementsprechend lastete er in seiner Fernsehrede unmittelbar nach Reykjavik der Sowjetunion das „Scheitern“ des Gipfels an, da sie an einem „14 Jahre alten“ Vertrag festhalte.

Eine Realisierung des von Reagan vorgestellten „Pakets von Reykjavik“ wurde von der Sowjetunion als riskant und destabilisierend beurteilt. Es hätte sie aus ihrer Sicht der atomaren Abschreckungsmittel gegen eine mit SDI nach Überlegenheit strebende USA beraubt An irgendeinem Punkt der Abrüstung und des Aufbaus von SDI wäre der Zeitpunkt gekommen, wo eine Seite einerseits noch genügend Atomwaffen besitzen würde, um die andere Seite zu vernichten, aber andererseits schon genügend Abwehrsysteme, um sich vor einem begrenzten Gegenschlag zu schützen. Die Sicherheit beider Seiten in einer solchen destabilisierenden Übergangsphase würde dadurch entschieden, wer bei den Abwehrtechnologien führt oder die Abwehrsysteme der anderen Seite unwirksam macht. Für beide Seiten stellen sich schwierige Fragen: für die Reagan-Regierung, ob sie den durch nukleare Abrüstung geschaffenen öffentlichen Erwartungsdruck vom SDI-Programm ablenken kann, um langfristig militärische Überlegenheit anzustreben, fr die Sowjetunion, ob die Verbesserung der politischen Beziehungen das militärische Risiko von weiteren Zugeständnissen bei SDI wert ist. Bei den Mittelstreckenraketen bot sich eine Entkopplung von SDI an, so daß der Weg für die Null-Lösung frei wurde. Schwieriger ist es bei den strategischen Atomwaffen wegen des engen Zusammenhangs mit SDI. Hier wäre eine Einigung nur im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Bewertung des ABM-Vertrages sinnvoll.

Von verschiedenen Seiten wurde im Gefolge von Reykjavik auch hier ein Kompromiß zwischen den verhärteten Fronten gefordert, um damit den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte zu öffnen, so auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß am 14./16. November 1986 und dem Moskauer Friedensforum im Februar 1987. Die Sowjetunion hat ihre prinzipielle Bereitschaft dazu erklärt. Wissenschaftler wie John Pike von der Federation of American Scientists schlugen Grenzen für ABM-Technologien und SDI-Tests im Weltraum vor, die destabilisierende Entwicklungen einschränken würden, so etwa bei der Zahl der Tests, bei der Relativgeschwindigkeit zwischen Raumflugkörpern oder bei technischen Leistungsparametern der Waffensysteme (z.B. von Lasern). Für Laserwaffen wurden konkrete Grenzen bereits von dem Physiker Jürgen Altmann ausgearbeitet.

Mit solchen quantitativen Grenzen für neue Waffentechnologien entstehen hohe Anforderungen an die Verifikation, die ein gewisses Maß an Kooperation voraussetzen. Sie müßten zur Konkretisierung und Festigung des ABM-Vertrages beitragen und verhindern, daß die Reagan-Administration sich immer weiter vom ABM-Vertrag entfernt, während die Sowjetunion hinter der wechselnden US-Interpretation „hinterherläuft“ (J. Pike), die dem jeweiligen technischen Stand des SDI-Programms angepaßt wird. Grundlage solcher Vorschläge ist die Einschätzung, daß SDI-Systeme noch geraume Zeit von ihrer Realisierung entfernt sind und ihre Entwicklung begrenzt werden kann. Trotz der komplizierten Materie dürfte die Machbarkeit eines Kompromisses vor allem von der Bereitschaft der US-Regierung abhängen, das lange Zeit als unantastbar erklärte SDI-Programm für Verhandlungen freizugeben.

Testen und Stationieren

Diese lehnte jedoch nach Reykjavik trotz sowjetischer Angebote jede Einschränkung für das SDI-Programm ab und verstärkte ihre Anstrengungen zur Neuinterpretation durch weitere Gutachten Sofaers, die auf einer Sichtung der bis dahin geheimgehaltenen Verhandlungs- und Ratifizierungsprotokolle zum ABM-Vertrag basierten. Außerdem wurde unmittelbar nach dem Gipfel von rechtsstehenden Kreisen mit Forderungen wie „Deploy Now“ für eine beschleunigte Entwicklung und Stationierung von SDI geworben. Solche Konzeptionen einer vorgezogenen Stationierung (early deployment) beruhten auf Vorschlägen von Rüstungsforschern aus den Waffenlabors sowie des privaten George C. Marshall Instituts, die stark an die High-Frontier-Idee von 1982 erinnerten. Innerhalb von wenigen Jahren (bis 1994) sollte zu Kosten von „nur“ 121 Mrd. $ ein dreischichtiges Abwehrsystem installiert werden, bestehend aus konventionellen Boden-Raketen für die Endphasenabwehr innerhalb und außerhalb der Atmosphäre sowie aus 2000 Kampfstationen im Weltraum mit je fünf kleinen Abfangraketen. Das Pentagon benutzte diese Studie trotz einer Vielzahl fragwürdiger technischer und ökonomischer Annahmen als politisches Druckmittel im US-Kongreß, um für das Haushaltsjahr 1988 höhere SDI-Mittel zu erreichen.

Im Unterschied zu Reagans langfristiger – SDI-Vision, Atomwaffen „unwirksam und überflüssig“ zu machen, setzt diese kurzfristige Option eher auf begrenzte Abwehr, die zur Stärkung der Abschreckung beitragen soll, ohne die langfristige Option aufzugeben. Während der strategische und ökonomische Sinn der „early deployment“-Konzepte umstritten ist, wird von Kritikern vermutet, der Hauptzweck sei eine möglichst frühe Zerstörung des ABM-Vertrages sowie das SDI-Programm auch über die Reagan-Ära hinaus unaufhaltsam zu machen. Solche Pläne können selbst durch eine Neuinterpretation des ABM-Vertrages nicht mehr vertragskonform gemacht werden. Ihre Realisierung hätte eine Abkehr vom ABM-Vertrag zur Folge, die einer Aufkündigung gleichkommt. Folgerichtig drohte US-Verteidigungsminister Weinberger auch damit, den ABM-Vertrag ganz aufzukündigen, wenn der US-Kongreß nicht höhere Mittel für SDI bereitstelle und der weiten Vertragsauslegung zustimme.

Der Verfassungskonflikt mit dem Kongreß

Hier stieß die Reagan-Administration jedoch auf heftigen Widerstand der liberalkonservativen „arms control community“ (Rüstungskontrollschule), denen die „visionären“ Vorschläge von Reykjavik ohnehin zu weit gingen, und die „rationale“ Rüstungskontrolle einer politisch motivierten Abrüstung vorzogen. Für diese politischen Kräfte waren die Vorschläge beider Seiten in Reykjavik, die auf die Abschaffung der Atomwaffen bzw. deren Bekämpfung zielten, unrealistisch und auch nicht wünschenswert, da sie die durch Atomwaffen garantierte Abschreckung untergruben. Sie kritisierten die Reagan-Rüstung als zu wenig „effektiv“ und drängten auf eine Sicherheitspolitik, die militärische Stärke mit Verhandlungen über Rüstungskontrolle verbindet. Spätestens Reykjavik war für sie ein Signal, daß die militärische Sicherheit der USA bei Reagan in unsicheren Händen war. Ein Hinweis darauf ist die vergleichsweise scharfe Reaktion vom konservativen Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses Sam Nunn sowie anderen Kongreßabgeordneten und Senatoren wie Carl Levin auf die weite Auslegung des ABM-Vertrages. In ausführlichen Studien und Reden im Frühjahr 1987 griff Nunn die Gutachten Sofaers an und begründete, daß der Kongreß den ABM-Vertrag 1972 in seiner engen Auslegung ratifiziert habe. Er wies anhand teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumenten nach, daß der US-Senat zum Zeitpunkt der Ratifizierung nicht an eine weite Auslegung gedacht hatte. Forschung an neuen Raketenabwehrtechnologien wurde zwar Eis erlaubt angesehen, nicht aber Erprobung und Stationierung, außer im begrenzten Umfang bei fest landgestützten Systemen. Damit sind insbesondere Weltraumtechnologien ausgeschlossen. Dem Sofaer-Gutachten warf Nunn vor, sie seien „fundamental fehlerhaft“, würden sich in allen wichtigen Punkten irren und durch bewußtes Weglassen i wichtiger Zitate den wirklichen Ratifizierungsprozeß verdrehen. Eine einseitige Abkehr der US-Regierung von der traditionellen Interpretation würde zu einem „Verfassungskonflikt“ mit dem Kongreß führen, der die letzte gesetzgeberische Kompetenz besitze.

Dies zeigt, daß ein rein rechtlicher Streit über den ABM-Vertrag nicht ausreicht, um sein Überleben sichern. Entscheidend ist die politische Unterstützung der bisherigen Interpretation. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA seit Jahren die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Expräsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftlern und Friedensgruppen, dem „Irrsinn des Vertragsbruchs" entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu drängen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Die Mitverantwortung Westeuropas

Eine wichtige Mitverantwortung für die Zukunft des ABM-Vertrages haben auch die NATO-Verbündeten der USA. Obwohl sie nicht Mitunterzeichner dieses Vertrages sind und ihnen der Vorsitzende des US-Abrüstungsausschusses Adelman in dieser Frage die „Kompetenz“ absprach, haben westeuropäische Regierungen offiziell stets die bedeutende Rolle des ABM-Vertrages für Rüstungskontrolle und Entspannung gewürdigt.

Solche Erklärungen wirken jedoch nur dann glaubwürdig, wenn Westeuropa sich nicht selbst direkt oder in Form einer „Europäischen Verteidigungsinitiative“ (EVI) am SDI-Programm beteiligt. Durch den Aufbau eines eigenen Systems zur Abwehr taktischer Raketen und anderer Flugkörper (ATM: Anti Tactical Missiles) oder einen Transfer entsprechender Technologien könnte Westeuropa mit zur Untergrabung des ABM-Vertrages beitragen.

Durch die Artikel VI und IX sowie die Interpretation G wird ein Austausch zwischen ATM- und SDI-Technologien in beiden Richtungen stark eingeschränkt. Dennoch wurde von US-Regierungsvertretern die Absicht geäußert, SDI auf dem „legalen Umweg“ über ATM voranzutreiben, Westeuropa zum ersten Versuchsfeld für SDI zu machen und damit den ABM-Vertrag zu umgehen. Dies geschieht zum Teil mit Unterstützung westeuropäischer Rüstungskonzerne bzw. einiger Regierungsvertreter, die sich auf diesem Weg den Einstieg in das SDI-Rüstungsgeschäft sowie erweiterte politische und militärische Optionen erhoffen. Für sie ist der ABM-Vertrag „zur heiligen Kuh der Rüstungskontrolldogmatiker und Raketenabwehrgegner geworden, in den fast nach Belieben hineininterpretiert wird“ (T. Enders). Der Schwarze Peter für eine Untergrabung des ABM-Vertrages wird schon im Voraus der Sowjetunion angelastet, falls sie als Vertragsunterzeichner die ATM-Entwicklung der nicht direkt an den Vertrag gebundenen Westeuropäer mitmachen sollte.

Ein erster Prüfstein ist hier die Aufrüstung der Luftabwehr-Rakete Patriot für die Raketenabwehr und ihre Stationierung in Westeuropa. Die Entwicklung dieser Rakete war bereits ein Grund für die damalige Ablehnung der US-Regierung, den ABM-Vertrag auch auf taktische Raketen auszudehnen. Während diese Rakete von der US-Regierung als vereinbar mit dem Transferverbot angesehen wird, richtet sie Vorwürfe an die Sowjetunion, sie unterlaufe den ABM-Vertrag, indem sie planmäßig an der Erweiterung ihrer Luftabwehr arbeite, um auch Raketen abfangen zu können. Genannt werden hier die sowjetischen Luftabwehrraketen SA-10 und SA-X-12, deren Leistungsfähigkeit von der US-Regierung von Jahr zu Jahr als bedrohlicher eingeschätzt wird, ohne daß sich an den Waffen selbst etwas wesentliches geändert hätte. Solche übertriebenen Bedrohungsperzeptionen könnten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, wenn die Sowjetunion den durch die Patriot-Rakete vorgezeichneten Weg tatsächlich mitmacht. Mit Fortschreiten der technischen Entwicklung wird es schwieriger, eine eindeutige Grenze zwischen der ABM-, ATM- und Luftabwehr-Funktion zu ziehen.

Weitere Literatur zum ABM-Vertrag

Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation, „Europa-Archiv“, Folge 17/1972, S. D. 392-405
H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for International Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986 (detaillierte technische Analyse)
A. B. Sherr, A Legal Analysis of the New Interpretation ot the Anti Ballistic Missiles Treaty, Report for the Lawyers Alliance for Nuclear Arms Control, Boston. M.A., 1986
R. Bulkeley, The ,McFarlane Reading of the ABM Treaty, in: Wege aus dem Wettrüsten, S. 379-382, Marburg 1987
W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paperforthe Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986
McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents Choice: Star Wars or Arms Control, „Foreign Affairs“, Vol. 63, No.2, 1985: auf deutsch: „Blätter“ 5/85, S. 614-624
Compliance of the Strategic Defense Initiative with the ABM Treaty, Appendix D of: Report to the Congress on the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, April 1987; s. auch die SDIO-Reports 1985, 1986
Abram Chayes, Antonia Chayes, The Future of the ABM Treaty, „Arms Control Today“, January/February 1987, pp.2-4
ABM-Treaty, „Arms Control Reporter“, Chronology 1985, 1986
B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt, S. 3
H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985
T. Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

Zur Diskussion über Reykjavik und den ABM-Vertrag s.:

W. Bruckmann, Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik, „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“, 2/87, S. 7-11; W. Zellner, Abschreckungsmanagement oder Abschreckungskritisch?, „Informationsdienst", 2/87, S. 12-14
C. Levin, Administration wrong on ABM Treaty, „Bulletin of the Atomic Scientists“, April 1987, S. 30-33
Bruce B. Auster, Treaty Reinterpretation Under Attack „Arms Control Today", January/February 1987, S. 11
James, Nunn Senate Move On ABM Treaty Interpretation, „Arms Control Today“, April 1987, S. 27-28;
B. Taylor, Republicans Filibuster as Senators Try to Prevent ABM Reinterpretation, „Arms Control Today“, June 1987, S. 20;
State Department Releases Portions of ABM Treaty Record, „Arms Control Today“, June 1987, S. 21;
P. Mann, Nunn Threatens INF Pact With Link to ABM Treaty, „Aviation Week & Space Technology“ (AWST), May 11, 1987, S. 30;
Nine SDI Tests Planned in 1988-89, „AWST“, April 6, S. 28

Jürgen Scheffran, Physiker und Friedensforscher an der Universität Marburg

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

von Uwe Reichert

Um den Reportern „etwas zum Beißen zu geben“ – so der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums Gerassimow – wurde am 18. September im Anschluß an das Treffen der Außenminister Shultz und Schewardnadse, das die „prinzipielle“ Einigung über einen INF-Vertrag brachte, die Aufnahme von Verhandlungen über einen atomaren Teststopp angekündigt. Voraussichtlich Anfang Dezember sollen diese Verhandlungen beginnen. Es wäre das erste Mal seit sieben Jahren, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion formell über die Einstellung von Kernwaffentests verhandeln.1 Die damaligen Verhandlungen, die unter Carter und Breshnjew bemerkenswerte Fortschritte gebracht hatten, waren nach der Wahl Reagans zum Präsidenten auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Im Juli 1982 hatte die Reagan-Administration offiziell erklärt, die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen zu wollen.

Das veränderte Klima in den Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, das dem Streben nach weiteren Rüstungskontrollvereinbarungen geprägt zu sein scheint, läßt hoffen. Sollte es denn wirklich nach über vierzig Jahren – in denen die Kernwaffenstaaten zusammengenommen knapp 1700 nukleare Explosionen mit einer Gesamtsprengkraft von schätzungsweise 700 Megatonnen (!) durchgeführt haben – endlich zum Abschluß eines Teststoppvertrages kommen?

Es ist zu hoffen, daß die Bereitschaft der USA, Verhandlungen über einen Teststopp aufzunehmen, mehr ist als eine einlenkende Geste im Vorfeld eines neuen Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow. Hoffnungen können aber allzu leicht an den politischen Gegebenheiten scheitern. Vertreter der jetzigen amerikanischen Regierung haben bisher stets erklärt, daß umfassender Kernwaffenteststopp zwar ein langfristiges Ziel der US-Politik bleibe, gegenwärtig aber nicht im Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten liege. So heißt es zum Beispiel: „Ein umfassender Teststopp bleibt ein langfristiges Ziel der Vereinigten Staaten. Solange aber die Vereinigten Staaten und ihre Freunde und Alliierte sich zur Abschreckung eines Angriffs auf Kernwaffen stützen müssen, wird ein gewisses Maß an Kernwaffentests erforderlich sein. Wir glauben, daß ein solcher Teststopp im Zusammenhang mit einer Zeit gesehen werden muß, in der wir nicht auf nukleare Abschreckung angewiesen sind, um die internationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, und wenn wir weitreichende, tiefgreifende und überprüfbare Reduzierungen von Waffensystemen, erheblich verbesserte Verifikationsfähigkeiten, erweiterte vertrauensbildende Maßnahmen und ein größeres Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte erreicht haben.“2 Und weiter: „Ein sorgfältig strukturiertes nukleares Testprogramm ist notwendig, um zu garantieren, daß unsere Waffen sicher, effektiv, zuverlässig und überlebensfähig sind.“3 Mit anderen Worten heißt dies, daß mit dem Abschluß eines Vertrags über einen umfassenden Teststopp vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag nicht zu rechnen ist.

Der Standpunkt der USA ist das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses, an dem Vertreter der Regierung, der Waffenlabors und des Energie- und des Verteidigungsministeriums beteiligt waren. Der Einfluß der Waffenlabors, die an einer Einstellung der Kernwaffenversuche kaum interessiert sind, ist dabei nicht zu übersehen.

Ein ganz wesentlicher Grund für die Ablehnung eines Teststopps sind die laufenden Entwicklungsarbeiten an einer neuen Generation von Kernwaffen, der sogenannten dritten Generation, die ohne nukleare Versuchsexplosionen nicht möglich wären. Am bekanntesten ist wohl der Röntgenlaser, für dessen Erprobung bereits mehrere Nukleartests durchgeführt wurden.4 Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Konzepte für solche hochentwickelten Kernwaffen, die sich qualitativ erheblich von den bisher existierenden Kernwaffen unterscheiden würden.5 So wird von dem Test „Hazebrook“ den die USA am 3. Februar 1987 durchführten – berichtet, daß er zur Entwicklung einer Kernwaffe diente, die Geschosse mit der hundertfachen Geschwindigkeit von Gewehrkugeln erzeugen soll.6 Eine solche Waffe wäre ein äußerst wirkungsvolles Instrument, um Objekte im Weltraum zu zerstören.

Da die Kernwaffen der dritten Generation zum Teil auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, ist ihre Entwicklung allein aufgrund theoretischer Überlegungen und Computersimulationen nicht möglich, sondern nur mit Hilfe von nuklearen Tests, mit denen experimentelle Daten gewonnen werden können. Amerikanische Waffenexperten sind sich darüber einig – auch wenn dies nicht immer öffentlich geäußert wird -, daß allein zur Entwicklung des Röntgenlasers bis weit in die neunziger Jahre hinein Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von nuklearen Tests nötig sein werden.

Ein umfassender Kernwaffenteststopp wäre damit ein sicheres Mittel, diesen qualitativen Sprung in der Kernwaffentechnologie zu verhindern und die Büchse der Pandora geschlossen zu halten. Solange die USA aber nicht bereit sind, zumindest auf die nukleare Komponente ihres SDI-Projekts zu verzichten, werden sie wohl kaum bereit sein, einem umfassenden Verbot von Nukleartests zuzustimmen. Hier müßten sich die USA aber ernsthaft fragen lassen, ob es ihnen wichtiger ist, über solche hochentwickelten Kernwaben, die zu neuen Bedrohungen und möglicherweise zu Instabilitäten führen werden, zu verfügen oder ob es im Interesse ihrer eigenen Sicherheit nicht besser sein sollte, durch Abschluß eines Teststoppabkommens auch die Sowjetunion an der Entwicklung solcher Kernwaffen zu hindern.

Ein weiteres Argument der amerikanischen Waffenlabors gegen einen Teststopp ist die Behauptung, nukleare Tests seien zur Überprüfung der Zuverlässigkeit stationierter Kernwaffen unerläßlich. Die Direktoren der Labors in Los Alamos und Livermore haben vor Ausschüssen des amerikanischen Kongresses erklärt, daß in der Vergangenheit zwar einige Probleme mit der nuklearen Komponente von Sprengköpfen durch konventionelle Oberprüfungen entdeckt wurden, daß aber die wichtigsten Defekte nur mit Hilfe von Nukleartests entdeckt und behoben werden konnten. Seit Frühjahr letzten Jahres erklären Vertreter des Pentagons wiederholt, daß bei über einem Drittel der amerikanischen Sprengkopfdesigns, die nach 1958 in das Kernwaffenarsenal eingegliedert wurden, Zuverlässigkeitsprobleme aufgetreten seien. Von diesen Problemen seien 75 Prozent nur mit Hilfe nuklearer Tests entdeckt und behoben worden.7

Diese Erklärung stellt ein sehr gewichtiges Argument gegen einen Teststopp dar. Sollten Alterungseffekte, die die Funktionstüchtigkeit von Kernwaffen nachteilig beeinflussen, ohne nukleare Tests nicht behebbar sein, so würde unter einem Teststopp das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der vorhandenen Kernwaffen mit der Zeit abnehmen. Die Abschreckungswirkung der Kernwaffen wäre damit in Frage gestellt.

Zur Unterstützung der These, daß auf nukleare Tests zur Überprüfung der Zuverlässigkeit von Sprengköpfen nicht verzichtet werden könne, wurden Details zu den Defekten, die bei sechs verschiedenen Sprengköpfen nach deren Stationierungsbeginn aufgetreten waren, in dem sogenannten Rosengren-Report veröffentlicht.8 Diese Defekte betreffen vor allem Korrosionserscheinungen am Spaltmaterial, das Klemmen von mechanischen Armierungs- und Sicherungssystemen sowie Veränderungen an chemischen Sprengstoffen. Die Tatsache, daß der Rosengren-Report mehrmals in Anhörungen vor Kongreßausschüssen benutzt wurde, um gegen einen Teststopp Stellung zu nehmen, veranlaßte den Abgeordneten Edward Markey dazu, den Livermore-Physiker Ray Kidder zu bitten, diesen Report zu analysieren und eine eigene Stellungnahme abzugeben. Die Frage, der Kidder in seinem daraufhin angefertigten Bericht nachgegangen ist, lautet: „Stützen die Beispiele, die in dem Rosengren-Report erwähnt werden, die These, daß nukleare Testexplosionen notwendig sind, um das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des bestehenden amerikanischen Arsenals von sorgfältig getesteten Kernwaffen aufrechtzuerhalten?“ Sein Resümee: „Es ist unsere Schlußfolgerung, daß keines dieser Beispiele eine solche These unterstützt.“9

Die im Rosengren-Report zitierten Beispiele sind allerdings nicht vollzählig. Außer den sechs Sprengkopftypen, die der Report erwähnt, waren auch andere Sprengköpfe von Problemen betroffen gewesen. Diese Probleme waren aus Geheimhaltungsgründen im Rosengren-Report nicht erwähnt worden. Mittlerweile sind jedoch alle 14 Sprengkopftypen bekannt, an denen nach Beginn der Stationierung Probleme bzw. Defekte aufgetreten waren und zu deren Behebung nukleare Tests durchgeführt wurden. An der ursprünglichen Schlußfolgerung von Kidder änderte sich jedoch nichts, weil die meisten der Probleme darauf zurückzuführen sind, daß die betreffenden Sprengköpfe vor Beginn ihrer Stationierung nicht ausreichend getestet worden waren. Entweder wurden die ersten Sprengköpfe schon vor Abschluß aller nötigen Tests produziert und in das Kernwaffenarsenal aufgenommen (so z.B. während des Testmoratoriums in den Jahren 1958-61, als man noch bestehende Mängel nicht mit Hilfe von nuklearen Tests hatte beheben können) oder die Sprengköpfe waren nicht in der Version getestet worden, in der sie schließlich stationiert wurden. In den anderen Fällen waren nukleare Tests durchgeführt worden, weil die Waffenlabors Modifizierungen an den Sprengkopfdesigns vorgenommen hatten, anstatt beschädigte Teile durch Neukonstruktionen zu ersetzen.

Das Ergebnis der Kidder-Analyse deckt sich mit den schon bekannten Erklärungen mehrerer ehemaliger Direktoren und Mitarbeitern der Waffenlabors, daß keine nuklearen Tests nötig seien, um Defekte an vorhandenen Sprengköpfen zu beheben.10 Sollte die US-Regierung an ihrem bisherigen Standpunkt festhalten, so dürfte sie zunehmend in Argumentationsschwierigkeiten geraten. Auch könnte ihre Haltung unter Umständen dann so verstanden werden, daß auch heute noch Kernwaffen im Arsenal vorhanden sind, die wegen ungenügender Tests nicht zuverlässig sind. Dann müßte sie sich fragen lassen, warum sie die Produktion und Stationierung unzureichend getesteter und daher unzuverlässiger Kernwaffen zugelassen hat.

Für das Verständnis der Themenkomplexe, die bei den Verhandlungen über einen Teststopp eine Rolle spielen, sind zwei Punkte besonders wichtig: die Leistungsfähigkeit der seismischen Verifikation und die militärische Bedeutung von Tests, die entweder nicht mehr zuverlässig nachgewiesen werden könnten oder die unter einer eventuellen Testschwellen-Regelung erlaubt wären. Beide Punkte sollen hier anhand der Nukleartests, die die Vereinigten Staaten von 1980 bis 1984 durchgeführt haben, erläutert werden.

Abb. 1 zeigt die Verteilung der Ladungsstärken der amerikanischen Nukleartests innerhalb dieses 5 Jahres-Zeitraums. Das Diagramm enthält sowohl die angekündigten als auch die nicht angekündigten Tests. Dargestellt ist die relative Häufigkeit der Tests in Abhängigkeit von ihrer Sprengkraft. Die in Wirklichkeit diskreten Werte sind durch Überlagerung einer Verteilungsfunktion verschmiert, so daß sich eine geglättete Struktur ergibt. Diese Kurve wurde von R. Kidder erstellt und veröffentlicht.11

Das amerikanische Energieministerium (DoE) hat für diesen 5 Jahres-Zeitraum 82 Nukleartests bekanntgegeben. Eine Auswertung der Abb. 1 und ein Vergleich mit den Angaben des DoE zeigt jedoch, daß die USA von Anfang 1980 bis Ende 1984 genau 100 Tests durchgeführt haben müssen..12 Das heißt, 18 Tests waren nicht angekündigt worden.

Wie Mitglieder des Natural Resources Defense Council (NRDC) zeigen konnten, waren acht dieser nicht angekündigten Tests von jeweils mindestens zehn seismischen Stationen des US Geological Survey (USGS) registriert und ihre seismischen Daten veröffentlicht worden. Von diesen wiederum waren fünf auch von dem seismischen Observatorium im schwedischen Hagfors entdeckt und als Nukleartests gekennzeichnet worden.13 Das USGS dagegen, das nicht speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests eingerichtet ist publiziert lediglich die Daten seismischer Ereignisse, ohne sie als Nukleartests oder Erdbeben zu kennzeichnen.

Die Tatsache, daß die seismischen Daten von zehn Tests der USA nicht von dem USGS veröffentlicht wurden, zeigt mit Hilfe von Abb.1, daß die Grenze, bis zu der seismische Ereignisse vom USGS publiziert werden, einer Sprengkraft von 1-1,5 Kilotonnen im Bereich des amerikanischen Testgeländes entspricht. Das Hagfors-Observatorium kann Tests in Nevada oberhalb einer Ladungsstärke von 2-3 Kilotonnen nachweisen.

Moderne seismische Stationen, die speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests entwickelt wurden, können weit schwächere Versuchsexplosionen nachweisen. Die aus 26 Seismometern bestehende Station in Norwegen zum Beispiel kann sowjetische Tests, die im 4200 km entfernten Testgebiet in der Nähe von Semipalatinsk durchgeführt werden, bis herab zu etwa 0,5 Kilotonnen nachweisen.13

Stationen, die innerhalb des sowjetischen Territoriums aufgestellt wären, könnten die Nachweisgrenze auf etwa 0,1 Kilotonnen reduzieren. Solche Stationen innerhalb der Sowjetunion wären zur Überwachung eines umfassenden Teststopps unerläßlich. Bereits in den Teststoppverhandlungen unter Carter und Breschnjew hatte die Sowjetunion der Errichtung seismischer Stationen auf ihrem Territorium zugestimmt. Seit Juli letzten Jahres schließlich sind aufgrund der privaten Übereinkunft zwischen dem NRDC und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften mehrere von amerikanischen Wissenschaftlern betriebene Seismometer in der UdSSR in Betrieb. (Seitdem die Sowjetunion ihr Testmoratorium im Februar dieses Jahres beendet hat, müssen diese Geräte allerdings während der Durchführung von Tests kurzzeitig abgeschaltet werden.)

Aus wissenschaftlicher Sicht wäre damit die Überwachung eines Vertrages, der Testexplosionen mit einer Sprengkraft von mehr als einer Kilotonne verbietet, unter den heutigen Umständen gewährleistet. Die Vereinbarung eines umfassenden Teststopps dagegen würde weitergehende Maßnahmen erfordern (z.B. dichteres Überwachungsnetz, erweiterte Auswertkapazitäten, unangekündigte Vor-Ort-Inspektionen etc.), um auch kleinste Tests entdecken zu können. Über solche Maßnahmen müßten die beiden Supermächte während der Verhandlungen reden, die in Kürze beginnen sollen.

Im Zusammenhang mit einer Nachweisschwelle für nukleare Tests bzw. mit einer eventuellen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen ist es wichtig zu wissen, welche militärische Bedeutung den unterschiedlichen Sprengkraftbereichen zukommt. Abb.1 gibt hierzu ebenfalls nützliche Hinweise.

Die einzige Einschränkung, der unterirdische Kernwaffentests gegenwärtig unterliegen, ist die Limitierung der Sprengkraft auf 150 Kilotonnen durch den Testschwellenvertrag von 1974. Unterhalb dieser Grenze kann die Sprengkraft für einen Test frei gewählt werden; auch unterliegen die Tests keiner zahlenmäßigen Beschränkung. Man kann deshalb annehmen, daß die Häufigkeitsverteilung in Abb.1 ein gewisses Bild der militärischen Signifikanz vermittelt, die den verschiedenen Sprengkraftbereichen zugemessen wird.

Auffallend ist das Maximum im Bereich zwischen 5 und 20 Kilotonnen; 44 % aller Tests wurden in diesem Sprengkraftbereich durchgeführt. Die meisten dieser Tests stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Spaltzündern für thermonukleare Waffen.

Die hohe Zahl von Tests direkt unterhalb der 150-Kilotonnen-Grenze ist zum Teil auf das Testen von strategischen Sprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft zurückzuführen; in vollständiger Konfiguration würden die Ladungsstärken dieser Sprengköpfe dieses Testlimit bis zu einem Faktor 2-3 übersteigen. Der Testschwellenvertrag von 1974 hat damit kaum eine Auswirkung auf die Entwicklung von Sprengköpfen gehabt.

Die bisher bekannten Angaben deuten darauf hin, daß die meisten der Tests, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Röntgenlasers durchgeführt wurden, im Bereich zwischen etwa 50 und 100 Kilotonnen liegen.

Dreizehn Prozent aller Tests hatten eine Ladungsstärke zwischen 1 und 5 Kilotonnen. Vermutlich 2 Tests wurden bei etwa 0,025 Kilotonnen, 2 weitere bei etwa 0,12 Kilotonnen durchgeführt.

Wäre in der Zeit von 1980 bis 1984 die Sprengkraft der Nukleartests auf 10 Kilotonnen anstatt auf 150 Kilotonnen begrenzt gewesen, hätten etwa 60 % dieser Tests nicht durchgeführt werden können. Eine Testschwelle von 5 Kilotonnen hätte etwa 80 %, eine solche von 1 Kilotonne 95 % aller Tests unmöglich gemacht. Ein Testschwellenvertrag, der die Ladungsstärke auf 1 Kilotonne begrenzt, würde nicht nur die Entwicklung und Modernisierung strategischer, sondern auch die vieler taktischer Sprengköpfe unterbinden. Die Entwicklung thermonuklearer Sprengköpfe, mit Ausnahme solcher mit sehr kleiner Sprengkraft (z.B. Neutronenbombe), wäre unmöglich.

Von besonderer Bedeutung ist der Bereich unterhalb einer Kilotonne. Welche Entwicklungen lassen sich in diesem Bereich durchführen? Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

– Experimente zur grundlegenden Physik von Kernwaffen,

– Tests von Hohlraumtargets für die Trägheitseinschlußfusion,

– Untersuchung der Wirkungen von Kernwaffen,

– Durchführung sogenannter „One-point-safety“-Tests, mit denen überprüft wird, ob im Falle eines Unfalles mit einer Kernwaffe eine unbeabsichtigte Nuklearexplosion ausgelöst werden kann oder nicht,

– Entwicklung von taktischen Kernwaffen (z.B. Anti-U-Boot-Waffe, Atomminen),

– Erprobung von Konzepten für Kernwaffen der dritten Generation.

Insbesondere der letzte Punkt verdient Beachtung. Wegen der Energiebündelung, die bei Kernwaffen der dritten Generation beabsichtigt ist, kann in vielen Fällen bei gleichbleibender oder sogar noch erhöhter Reichweite die Sprengkraft der Waffe gesenkt werden. Allerdings erscheint unter der Beschränkung eines 1-Kilotonnen-Limits – vorausgesetzt, ein solcher Vertrag träte in absehbarer Zeit in Kraft – die Entwicklung von einsatzfähigen Kernwaffen der dritten Generation äußerst unwahrscheinlich. Die Entwicklung des Röntgenlasers z.B. wäre wegen der relativ hohen benötigten Sprengkraft ausgeschlossen. Allerdings scheinen Kernwaffen, die ihre Explosionsenergie in kinetische Energie von festen Geschossen oder Flüssigkeitsstrahlen umwandeln, durchaus machbar zu sein. So soll der oben erwähnte Test „Hazebrook“ eine Sprengkraft von nur 40 Tonnen gehabt haben. Inwieweit andere Konzepte für Kernwaffen der dritten Generation durch eine 1-Kilotonnen-Testschwelle betroffen sein würden, ist zur Zeit noch unklar.

Es ist davon auszugehen, daß auch unterhalb einer Testschwelle von einer Kilotonne Neuentwicklungen von Kernspaltungswaffen möglich sein würden. Das qualitative Wettrüsten im Nuklearbereich wäre damit zwar stark behindert, aber nicht völlig unterbunden. Weiterhin ist zu beachten, daß in dem hypothetischen Falle einer 1-Kilotonnen-Testschwelle die Bedeutung von Tests mit sehr kleinen Ladungsstärken stark zunehmen würde. Daran gehindert, Waffen mit größerer Sprengkraft zu entwickeln, würden die Kernwaffenkonstrukteure ihren Einfallsreichtum voll auf den Bereich unterhalb einer Kilotonne konzentrieren. Von daher ist die in Abb. 1 dargestellte Häufigkeitsverteilung auf die militärische Signifikanz einer Testschwelle nur bedingt anwendbar.

Aus dem hier gesagten folgt, daß im Interesse einer wirkungsvollen Rüstungskontrolle ein Verbot aller Nukleartests einer niedrigeren Testschwelle von z.B. einer Kilotonne vorzuziehen ist. Allerdings könnte es aus praktischen Gründen sinnvoll sein, sich über Testschwellenvereinbarungen einem umfassenden Teststopp schrittweise anzunähern – so wie es auch der Vorschlag der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft vorsieht. Ein klar vorgegebener Zeitraum von z.B. drei oder vier Jahren sollte es ermöglichen, während der stufenweisen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen auf zunächst 5, dann 1 und schließlich Null Kilotonnen das seismische Überwachungsnetz so weit auszubauen, daß auch kleinste nukleare Tests mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit entdeckt werden können. Die Politiker sind hier aufgefordert, Vorgaben für die gewünschte Nachweisgenauigkeit zu machen und die politischen und finanziellen Voraussetzungen für den zügigen Ausbau des Überwachungsnetzes zu schaffen.

Verteilung der Ladungsstärke aller amerikanischer Nukleartests, die von Anfang 1980 bis Ende 1984 im Testgebiet in Nevada durchgeführt wurden. Die vertikale Skala ist so gewählt daß die Fläche unterhalb der dargestellten Kurve den Wert 1 ergibt. f (Y) gibt den Anteil der Tests mit einer Ladungsstärke kleiner als Y an.

Anmerkungen

1 Seit Ende Juli 1986 fanden in Genf mehrmals offiziell als „Unterredungen“ bezeichnete Gespräche zwischen amerikanischen und sowjetischen Experten im Zusammenhang mit der Teststopp-Problematik statt. Die Gesprächsteilnehmer hatten jedoch kein Mandat, über einen umfassenden Teststopp zu verhandeln, sondern die Gespräche hatten den Sinn, den eigenen Standpunkt hinsichtlich Verifikationsfragen darzulegen und den Standpunkt der Gegenseite anzuhören.Zurück

2 U.S. Department of State, „U.S. Policy Regarding Limitations on Nuclear Testing“, Special Report No. 150, August 1986, S. 3.Zurück

3 a.a.O., S. 1.Zurück

4 Nachweislich sind 5 Nukleartests bekannt, die die USA zur Entwicklung des Röntgenlasers durchführten (siehe: T. B. Cochran, W. M. Arkin, R. S. Norris, M. M. Hoenig, „Nuclear Weapons Databook, Vol. II: U.S. Nuclear Warhead Production“, Cambridge, Mass., 1987, S. 23). Die tatsachliche Zahl liegt hoher, vermutlich in der Gegend von fünfzehn. Zurück

5 T. B. Taylor, „Kernwaffen der dritten Generation“, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1987, S. 38; K. Tsipis, „Third-Generation Nuclear Weapons“, in: World Armaments and Disarmaments, SIPRI Yearbook 1985, London 1985, S. 83. Zurück

6 M. D. Lemonick, „A Third Generation of Nukes“, Time, May 25, 1987, S. 35. Zurück

7 So z.B. Frank Gaffney und Robert Barker während eines Vortrages vor Vertretern europäischer NATO Staaten (Text abgedruckt in: „The National Security Implications of a Comprehensive Test Ban“, Defense Issues, Vol. 1, No. 40, June 26, 1986). Die Formulierung geht zurück auf eine Antwort des Direktors des Livermore-Laboratoriums, Roger Batzel, auf eine entsprechende Frage von Senator Kennedy während einer Anhörung vor dem Senate Armed Services Committee im April 1986. Zurück

8 J. W. Rosengren, „Some Little-Publicized Difficulties with a Nuclear Freeze, R&D Associates, Report RDA-TR-122116-001, October 1983. Zurück

9 R. Kidder, „Evaluation of the 1983 Rosengren Report from the Standpoint of a Comprehensive Test Ban (CTB), Report UCID-20804, June 17, 1986. Zurück

10 Brief von R. Garwin, N. Bradbury und J. Carson Mark an Präsident Jimmy Carter, 15. August 1978; Brief von H. Bethe, N. Bradbury, R. Garwin, S. Keeny, W. Panofsky, G. Rathjens H. Scoville und P. Warnke an den Kongreßabgeordneten D. Fascell, 14. Mai 1985. Zurück

11 R. Kidder, „Military Significant Nucisar Explosive Yields“, FAS Public Interest Report, Vol. 38, No. 7, September 1985, S. 1.Zurück

12 U. Reichert, „Nuclear Testing and a Comprehensive Nuclear Test Ban – Background and Issues“, in Vorbereitung. Zurück

13 T. B. Cochran, R. S. Norris W. M. Arkin und M. M. Hoenig, „Unannounced U.S. Nuclear Weapons Tests, 1980-1984“, Nuclear Weapons Databook Working Paper 86/1, Januar 1986. Zurück

Dr. Uwe Reichert, Stipendiat der Stiftung Volkswagenwerk, Diplomphysiker an der TH Darmstadt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Der Versuch der Reagan-Administration, den ABM-Vertrag neu zu interpretieren

von Jürgen Scheffran

Die Sowjetunion hat im Juni 1986 vorgeschlagen, den ABM-Vertrag auf weitere 15 Jahre zu bekräftigen und SDI auf reine Grundlagenforschung zu beschränken, um so den Weg für nukleare Abrüstung freizumachen. Reagan antwortete darauf mit dem Vorschlag, den ABM-Vertrag bis zur Stationierung von SDI im Jahre 1994 einhalten zu wollen (was Entwicklung und Tests nicht ausschließen solle), um ihn danach aufkündigen zu dürfen. Dies ist nur das letzte Glied in einer Kette von Versuchen, durch eine Neuinterpretation den ABM-Vertrag auf den Kopf zu stellen und damit zu einem „wertlosen Fetzen Papier“ zu machen.

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketen-Abwehrsysteme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentierte die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell teuer und politisch-strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr verbietet (Artikel I) und damit in direktem Gegensatz zur Intention des SDI-Programms steht. Unter ABM Systemen (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr) werden nach Art. II. generell alle Systeme zur „Bekämpfung aufliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in den zentralen Artikeln V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihrer Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen verbieten eine „ABM-Fähigkeit“ für andere Systeme (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologie in andere Staaten (Art. IX.) Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit andern physikalischen Prinzipien Gegenstand von Gesprächen sein sollen. Für solche und andere mit dem ABM-Vertrag zusammenhängende Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, enthält jedoch eine Rücktrittsklausel.

Interpretationslücken?

Wie andere Verträge auch, enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen. Hierzu zählen „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT-Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte Radaranlagen, die Taktische Raketenabwehr (ATM: Anti-Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Es ist ein erklärtes Ziel der US-Regierung, über den „Umweg“ von ATM- und ASAT-Technologien zugleich auch neue ABM-Technologien zu entwickeln, was wegen der Multifunktionalitat dieser Systeme auch in gewissem Umfang möglich ist. Sollte die Bundesregierung daran gehen, ein europäisches Raketenabwehrsystem in Ergänzung zum SDI-Programm aufzubauen, wie von Verteidigungsminister Wörner gefordert, so könnte sie mit zum „Totengräber des ABM-Vertrages“ werden (H. G. Brauch), obwohl Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung zu SDI vom April 1985 die Einhaltung des ABM-Vertrages gefordert hatte.

Die genannten Problembereiche sind bereits seit Jahren bekannt und ließen sich bei ausreichendem politischen Willen durch zusätzliche Beschränkungen wie ein Verbot von Weltraumwaffen sicherlich lösen. Eine neue Qualität erreichen jedoch die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbotes im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Hierzu zählen so wohlklingende Programmnamen wie ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS usw., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Durch immer neue kosmische Zauberkunststücke wird der ABM-Vertrag durchlöchert wie ein Schweizer-Käse. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch Kollision zerstörten.

Die Erfindung eines neuen Terminus: „Subkomponenten“

Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag ist auch den SDI-Befürwortern klar. Daher versuchen sie zum einen, die Sowjetunion eigener Vertragsverletzungen zu beschuldigen (wie im Falle Krasnoyarsk), zum anderen, die Basis dieses Vertrages schrittweise zu untergraben, indem sie SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darstellen. Dabei scheuen sie nicht vor einer einseitigen Neuinterpretation des. Vertrages zurück, indem sie unklare Begriffe in ihr Gegenteil verkehren. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, behauptet der Pentagonbericht zum ABM-Vertrag, es handele sich bei den zahlreichen SDI-Großversuchen lediglich um Tests von nicht definierten „Subkomponenten“, ein Terminus, auf den bei Abfassung des Vertrages wohl niemand gekommen wäre.

Darüber hinaus unternahm der damalige Sicherheitsberater Reagans, McFarlane, im Oktober 1985 den Vorstoß, unter Berufung auf Interpretation D Entwicklung und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zuzulassen. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration), wonach auch neue ABM-Technologien generell verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden. Trotz eines mittleren Aufstandes innerhalb der NATO scheint die Reagan-Adminstration diese Interpretation nach wie vor durchsetzen zu wollen und darauf zu vertrauen, daß sich alle an den Wandel gewöhnen werden.

Damit könnte der ABM-Vertrag (wie auch der SALT II Vertrag) tatsächlich zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden (so Gerard Smith), was von jeher ein Wunschtraum der Gegner des Rüstungskontrollprozesses in den USA gewesen ist, die sich Mitte der siebziger Jahre um das „Committee on the Present Danger“ gruppiert hatten. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages dürften dann auch Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen ausgeschlossen sein.

Dies zeigt, daß ein solcher Vertrag alleine nicht ausreicht, um die Rüstung aufhalten zu können. Es gibt keine internationale juristische Instanz, die über die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge wacht, außer der Weltöffentlichkeit selbst. Entscheidend ist die politische Unterstützung, die ein Vertrag genießt. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Ex-Präsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftler und Friedensgruppen, dem Irrsinn des Vertragsbruches entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu zwingen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Hierzu gehören insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie langfristige Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Mit solchen Maßnahmen würde die Erosion des ABM-Vertrages wirkungsvoll aufgehalten und der Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnet.

Literaturauswahl zum ABM-Vertrag

  • Eine ausführliche und aktualisierte Darstellung zum ABM-Vertrag findet sich in: D. Engels, J. Scheffran. E. Sieker, Die Front im All, 3. überarbeitete Fassung, Köln 1986.
  • Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation: Europa-Archiv, Nr. 17/1972, S. D. 392-405.
  • Die umfassendste Analyse zum ABM-Vertrag geben: T. K. Longstreth, J. E. Pike, J. B. Rhinelander, The Impact of Ballistic Missile Defense Programs on the ABM Treaty, A Report for the National Campaign to Save the ABM Treaty, March 1985.
  • Die detailierteste Analyse der mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden technischen Probleme gibt: H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for international Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986.
  • Ballistic Missile Defense and the ABM Treaty, Appendix A of: Ballistic Missile Defense Technologies, Office of Technology Assessment, OTA-ISC-254, p. 263.
  • W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paper for the Conference on New Approaches to Arms Control, Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986.
  • Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag wird herausgearbeitet in: McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents´ Choice: Star Wars or Arms Control, Foreign Affairs, Vol. 63, No. 2, 1985; auf deutsch: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/85, S. 614-624.
  • Die Winkelzüge, mit denen das Pentagon SDI vertragskonform macht, wurden entwickelt in: The Strategic Defense Initiative (SDI) and the ABM Treaty (Pentagon-Bericht zum ABM-Vertrag) Appendix B of: Report to the Congress an the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, 1985.
  • Eine Darstellung der Versuche zur Neuinterpretation gibt: B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt S. 3.
  • Die Auswirkungen eines europäischen ATM-Systems untersucht: H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985.
  • Eine polemische Abrechnung mit den Anhängern des ABM-Vertrages aus bundesdeutscher Sicht versucht: Thomas Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

       

Jürgen Scheffran, Physiker, Arbeitsgebiet Rüstungskontrolle im Weltraum.

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE)

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

von Ingo Arend und Michael Kalman

In Wien verhandeln seit dem 9. März 1989 die Mitgliedsstaaten von Warschauer Pakt und NATO in der seit langem aussichtsreichsten Abrüstungskonferenz zwischen Ost und West über die Reduzierung konventioneller Rüstung in Europa. Zusammen mit dem INF-Abkommen könnten diese »Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa« (VKSE) einen Wendepunkt markieren, steht doch erstmals nahezu das gesamte Militärpotential in Europa zur Verhandlung an. Für Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat deshalb “das Jahr 1989 gute Aussichten, ein entscheidendes Jahr der Abrüstung zu werden” (WDR-Interview vom 16.1.1989). Selbst NATO-Oberbefehlshaber General John Galvin betrachtet die Wiener Verhandlungen als “die wichtigsten für Europa”. (FAZ vom 21.1.1989)
Trotz der neuen Aufrüstungsversuche seitens der NATO durch die sogenannte »Modernisierung« scheint nämlich nicht nur die politische, sondern auch die militärische Rivalität in Europa ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Für den sowjetischen Außenminister Schewardnadse geht es denn auch bei den Abrüstungsverhandlungen “nicht nur um die Beseitigung von Waffen, sondern um die Überwindung der Teilung Europas”. (Rede auf der Schlußberatung der Wiener KSZE-Folgekonferenz am 19. Januar 1989) Fortgesetzten, konsequenten öffentlichen Druck auf den weiteren Abrüstungsprozeß vorausgesetzt, könnte sich aus dieser chancenreichen politischen Situation des alten Kontinents das Modell einer anderen Entwicklungslogik in den internationalen Beziehungen herausbilden: Echte Abrüstung und die Ersetzung des Abschreckungssystems. Wird es gelingen, die militärische Konfrontation zu beenden, Kriege und militärische Angriffe in Europa unmöglich zu machen, die europäische Nachkriegsordnung in eine entmilitarisierte europäische Friedensordnung umzugestalten und die Periode des Kalten Krieges endgültig hinter sich zu lassen?

I. Konventionelle Abrüstung und die Sicherheit in Europa

Pulverfass Europa – Glacis Bundesrepublik

Militärische Rivalität und Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt haben die in Friedenszeiten größte militärische Konzentration in der Geschichte hervorgebracht. Europa gleicht einem Waffenlager ohnegleichen. Rund 14 Millionen aktive Soldaten und Reservisten stehen im Dienst auf beiden Seiten unter Waffen. Dazu kommen über 200 stehende Divisionen Bodentruppen und über einhundert Reserve-Divisionen. Zu den ständig in Europa stationierten Truppen zählen: ca. 75.000 schwere Kampfpanzer, 60.000 Artilleriegeschütze, 30.000 Schützenpanzer und 12.000 Kampfflugzeuge. Dazu kommen noch ca. 1000 Kriegsschiffe und U-Boote. Zählt man die Ausgaben beider Bündnisse zusammen, verzehrt die militärische Konfrontation in Europa ungefähr zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für Streitkräfte von einer Billion Dollar jährlich. Die Verteidigungsausgaben verschlingen ca. 5 Prozent des Bruttosozialproduktes der NATO-Staaten und ca. 10 Prozent desjenigen der Warschauer-Pakt-Staaten.(vgl.: Götz Neuneck: Strukturelle Angriffsunfähigkeit und konventionelle Rüstungskontrolle. Wege zur Entmilitarisierung des Ost-West-Verhältnisses. Heft 35 der Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH, Dezember 1988, S. 1-7)

Allein in der mit 280 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Bundesrepublik – die gerade mal so groß ist wie der US-Bundesstaat Oregon – sind etwa 900.000 Soldaten und 10.000 Panzer stationiert. Mit insgesamt über vier Millionen Flügen pro Jahr hat die Bundesrepublik den dichtesten Luftverkehr der Welt. 580.000 davon sind militärisch. Mehr als zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik sind Tieffluggebiete. Denkt man sich den Besatz an Kernkraftwerken und chemischer Industrie hinzu, wird deutlich, daß bereits ein mit wenig aufwendigen Mitteln konventionell geführter Krieg das Ende ganz Europas und insbesondere der Bundesrepublik bedeuten würde. Die liberale Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« resümiert die waffenstarrende Situation: “Dies ist absurd in einer Zeit, in der die Spannung zwischen den Blöcken nachgelassen hat.” (Theo Sommer: Raketen – wider deutschen Willen?, Die Zeit, Nr. 18 vom 28.4.1989).

Ziele konventioneller Abrüstung

Diese Zahlen und die geschilderte Situation machen nicht nur die Dringlichkeit des Problems konventioneller Abrüstung, sondern auch seine Komplexität deutlich. Die bisherigen Ansätze, etwa im Bereich der MBFR-Verhandlungen, haben sich jedoch als untauglich erwiesen, dieser Problemstellung gerecht zu werden. Sie scheiterten am mangelnden politischen Interesse beider Seiten und an der Datenfrage. (Vgl. ausführlich Kapitel II. – MBFR)

In den von der Bundeswehr und NATO vorgelegten Kräftevergleichen wird in der Regel nur mit der Zahl der Divisionen gearbeitet. Das Weißbuch 1985 und die 1988 von der Hardthöhe präsentierten Zahlen beharren auf einer Drei-zu-Eins-Überlegenheit des Warschauer-Paktes bei Waffen und Divisionen und wurden selbst von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als unnötige Gruselstory abgetan, deren “Waffenzählen nicht gerade nach Adam Riese” gestrickt worden sei (FAZ vom 23.2.1988). Ein bis auf drei Stellen hinter dem Komma exakter Kräftevergleich ist im übrigen auch gar nicht so wichtig, solange man die Datenfrage nicht zur alles entscheidenden Voraussetzung macht. Dahinter steckte bislang in der Regel das Bemühen, den fehlenden politischen Willen zur Abrüstung zu verschleiern. Allerdings ist die prinzipielle Offenheit in der Datenfrage eine wichtige Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsabsichten. Und bis Anfang 1989 trug auch die Warschauer-Pakt-Seite mit ihrer traditionellen Geheimniskrämerei dazu nicht gerade bei.

Im Gegensatz zur atomaren Abrüstung mit der klaren Zielstellung der restlosen Beseitigung atomarer und natürlich auch chemischer Massenvernichtungsmittel auf Null, kurz: Denuklearisierung, läßt sich angesichts der Größenordnung und Vielschichtigkeit des Übermaßes an konventionellen Rüstungen und Streitkräften für diesen Bereich der Abrüstung als konkretes Verhandlungsziel nicht so ohne weiteres die Forderung vollständiger Demilitarisierung West- und Osteuropas aufstellen.

Ein umsetzbarer Ansatz für die Einleitung eines Prozesses konventioneller Abrüstung, an dessen Ende die Demilitarisierung stehen könnte, wird erst sichtbar, wenn man sich die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien einer neuen europäischen Sicherheitspolitik vergegenwärtigt. Diese basieren auf der Annahme, daß Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam mit politischen Mitteln erreicht werden kann. Eigene Sicherheit muß dabei stets auch die Sicherheit des Nachbarn oder des Gegenüber berücksichtigen, zumal auch Gefahren und Krisen wie Umweltverschmutzung, zivile Reaktorunfälle, von den Folgen eines Atomkrieges ganz zu schweigen, nicht vor Grenzen haltmachen. Die Grundprinzipien einer so verstandenen Sicherheitspolitik müssen demnach lauten:

  • Beseitigung des militärischen Faktors als Mittel der Politik durch Abrüstung auf allen Ebenen
  • Schaffung kriegsverhindernder, vertrauensbildender und entspannungsfreundlicher Strukturen
  • Abrüstung muß Mittel zum Zweck, das heißt zur Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes und die Umformung dieser Systemauseinandersetzung in einen friedlichen Wettbwerb sein
  • Durchsetzung umfassender und systemübergreifender Kooperation zur Lösung der globalen Probleme (Abrüstung, Entwicklung, Ökosphäre, Ressourcen, Menschenrechte)

Daraus lassen sich dann drei Hauptziele für den militärischen Bereich ableiten:

Überwindung der atomaren Abschreckung, das heißt Abschaffung der Massenvernichtungswaffen und C-Waffen Herstellung konventioneller Stabilität durch nichtoffensive Verteidigung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit dauerhafte Senkung der Rüstungsausgaben

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und konventionelle Abrüstung

Auch in dem Mandat über die VKSE-Verhandlungen (siehe Kapitel III.) kehrt der Begriff der »konventionellen Stabilität» wieder. Was er schließlich konkret bedeuten, wie er in konkrete gegenseitige Schritte der Abrüstung und Umstrukturierung umgesetzt werden soll, darüber wird in den nächsten Jahren zäh verhandelt werden.

Militärexperten, Friedensforscher und Sicherheitspolitiker haben in den letzten Jahren eine Fülle von Konzepten zur konventionellen Stabilisierung entwickelt. (Ein Überblick bei: Karsten D. Voigt, Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte.In: aus politik und zeitgeschichte B 18/1988). Diese Vorschläge stellen vor allem militärische Lösungsansätze dar. Ihre Einordnung in übergreifende politische Konzeptionen wie in die Konturen einer Neuen Europäischen Friedensordnung oder dem Gemeinsamen Haus Europa geschieht allerdings selten. Ihre Wirksamkeit ergibt sich also erst im Rahmen des geschilderten politischen Gesamtkonzepts. Gleichwohl haben sich um den Begriff »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit» (StruNa), der Anfang der achtziger Jahre aufkam (vgl. Hans-Peter Dürr, Albrecht A.C. von Müller, NATO am Scheideweg. In: Frankfurter Rundschau, 1.+ 3.7.1983) Konzepte gruppiert, die aus realpolitischer Sicht sinnvolle Vorschläge enthalten. Sie stellen sozusagen die verteidigungs- und militärstrategische Ebene der politischen Konzeption Gemeinsame Sicherheit dar.

In diesem Zusammenhang von Militärstrategie und Politik soll das Stabilitätsziel durch die Orientierung an folgenden Kriterien erreicht werden:

  • Angriffsunfähigkeit: alle offensiven Optionen (sei es die Fähigkeit zu raumbesetzenden Operationen oder zu tiefen Schlägen – deep strikes – in gegnerisches Hinterland) müssen unmöglich gemacht werden. Damit würde ein signifikanter Abbau von Bedrohungen und Bedrohungsvorstellungen einhergehen.
  • Verteidigungsfähigkeit durch ein Potential zur strikten und effizienten Abhaltung eines gegnerischen Angriffs verlangt gegenseitige Verteidigerüberlegenheit. Die defensiven Mittel der beiden Kontrahenten müssen ihre Angriffspotentiale bei weitem übertreffen.
  • Abrüstung: aus der konzeptionellen Funktionslosigkeit von Offensivpotentialen ergeben sich weitreichende Perspektiven der Abrüstung.
  • Strukturveränderung: Streitkräfte und Bewaffnung müssen so angeordnet und gestaffelt sein, daß ihr defensiver Charakter deutlich wird.

(vgl.: E. Bahr / D. S. Lutz (Hg.), Gemeinsame Sicherheit Dimensionen u. Disziplinen, Baden Baden 1986-1987, Band I-III).

Dementsprechend definieren der ehemalige NATO-General Gerd Schmückle und der Starnberger Militärexperte Albrecht A.C. von Müller konventionelle Stabilität als “den Zustand einer robusten, wechselseitigen Verteidigerdominanz. Hier geht es also um ein militärisches Kräfteverhältnis, bei dem die nicht durch Überraschungsschläge zu gefährdende Verteidigungsfähigkeit beider Seiten deutlich größer ist als die Angriffsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers. Die Verwirklichung eines derartigen Zustandes setzt die bewußte Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitigem Abbau von Angriffsfähigkeit in Ost und West voraus.” (Schmückle/von Müller: Das Konzept der “Stabilen Abhaltung”, Manuskript, Starnberg, April 1988)

Schwachpunkt der »StruNa«-Konzepte ist die Nuklearfrage. StruNa strebt zunächst keine vollständige Denuklearisierung an. Das verwandte Konzept der »stabilen Abhaltung« will eine nukleare Minimalabschreckung durch einige hundert Sprengköpfe mit politischem Demonstrationscharakter. Außerdem birgt StruNa die Gefahr der Verlagerung eines Rüstungswettlaufs auf den Bereich defensiver Waffensysteme.

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist, und hier wird die gemeinsame Sicherheit sozusagen »sinnfällig«, dann gegeben, wenn alle darin übereinstimmen, daß sie gegeben ist. Mit ihr werden die materiellen Voraussetzungen für Blockauflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung geschaffen.

In dieser Perspektive hat sie bereits Eingang in konkrete Politik gefunden. Vordenkerarbeit in dieser Hinsicht haben die SPD und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) geleistet. Mit der Vorlage des gemeinsamen Papiers für vertrauensschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa hatten die Sozialdemokraten den Rahmen ihrer “zweiten Phase der Entspannungspolitik” nach den gemeinsamen Erklärungen mit der KPdSU und der SED um ein weiteres Stück vervollständigt. Diese Positionen finden sich inzwischen großenteils in den offiziellen Verhandlungszielen wieder.

Das Papier knüpft an die Warschauer-Pakt-Vorschläge von 1986 (Budapest) und 1987 (Ost-Berlin) sowie an den Jaruzelski-Plan von 1987 an (vgl. Teil II des Dossiers). Die Thesen fassen Vorschläge, “Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa” zusammen.

Aus ihm lassen sich Kriterien für eine solche Umorientierung ableiten:

  • gleiche Obergrenzen für Waffen, Verbände und Soldaten
  • drastische Reduzierung der Truppenstärken
  • Reduzierung durch weitgehende Abrüstung von Waffen und Verbänden auf ein niedrigeres Niveau als vorher
  • Beseitigung der Offensivfähigkeiten
  • Durchsetzung vertrauensbildender Maßnahmen und Verfikationsmodelle
  • Verbote und Beseitigungen bestimmter Waffen und Technologien
  • beidseitiges Vorgehen unter Einschluß eigenständiger Initiativen
  • paralleles Vorgehen auf allen Feldern mit Vorrang bei den atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen. (Gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe SPD/PVAP über Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa, Bonn 1988).
  • Bündnisimmanenz des Prozesses. Die existierenden Militärbündnisse, sind eine unausweichbare Realität, die nur aus den Bündnissen heraus überwunden werden kann. Statt der isolierten und sterilen Diskussionen über die Frage einer abstrakten Blockzugehörigkeit, geht es beim Konzept Gemeinsamer Sicherheit auch darum, “die Bündnisse auf der Grundlage eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu einem aktiven Faktor beim Umbau der Ost-West-Beziehungen zu machen”, wie es der Starnberger Friedensforscher Albrecht von Müller (auf dessen Forschungen das Wortungetüm Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zurückgeht) und der ehemalige Bundeswehr- und NATO-General Gerd Schmückle forderten.

Nach Ansicht der Sicherheitsexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, Katrin Fuchs, sind Abrüstung und Beseitigung besonders der offensivfähigen Waffen die Voraussetzung, um eine wirklich einschneidende Reduzierung der Militärausgaben zu erreichen, die wiederum dringend gebraucht wird, wenn der Menschheit ihre vielfältigen Probleme nicht endgültig über den Kopf wachsen sollen. Dies hatte schon der Nürnberger SPD-Parteitag gefordert.(Parteitag der SPD in Nürnberg, 25.-29.8.1986, Beschlüsse, S. 861-897).

Konventionelle und nukleare Abrüstung hängen in diesem Prozeß eng zusammen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht darum die Auseinandersetzung über die nuklearen Kurzstreckenraketen. An dieser Frage scheinen alle Widersprüche der nuklearen Abschreckungsstrategie wie in einem Brennglas auf. Aufgrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und deren Rückwirkungen auf die NATO-Strategie sieht der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer die NATO in einer “Existenzkrise”. (Rede im Deutschen Bundestag, 28.4.1989) Zugleich werden – im Lichte der Erfahrungen von Reykjavik, als “die Supermächte bereit waren, die Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit einzureißen und über die Köpfe ihrer Verbündeten hinweg die nukleare Abschreckung zur Disposition zu stellen” (Günther Nonnenmacher, FAZ vom 29.4.1989) – die Befürchtungen über eine unkontrollierbare Veränderung des sicherheitspolitischen status quo zu Lasten Europas und der Deutschen laut, die zu einer psychologischen Hemmschwelle für den Abrüstungsprozeß werden könnten.

Insgesamt steht fest, daß mit den Wiener Verhandlungen aufgrund ihres Zusammenhanges in die bevorstehende Entscheidung über das NATO-Gesamtkonzept der Gesamtzusammenhang aller Fragen von Abrüstung, Rüstungskontrolle und politischer Kooperation auf der Tagesordnung steht. Für die realistischen Konservativen stellt sich folgerichtig die Frage einer “verläßlichen Ordnung für einen zerbrechlichen Kontinent”, in der die militärische Sicherheitskomponente “nicht mehr allein das gestaltende Element sein” kann. (Michael Stürmer, FAZ vom 29.4.1989). Sie warnen deshalb davor, Chancen zu verpassen: “Die NATO muß dort auf Gorbatschow eingehen, wo es für eine Neuordnung der europäischen Sicherheit nötig ist. Sie muß begreifen, daß die Nachkriegszeit zu Ende ist und die im kalten Krieg erstarrten Fronten in Bewegung geraten sind.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 18.4.1989)

Im Unterschied zu den INF-Verhandlungen ist die Bundesrepublik diesmal bei den VKSE-Verhandlungen als direkt beteiligter Verhandlungspartner gefordert. Damit wird ihre Schlüsselrolle an der Nahtstelle der Systeme noch deutlicher. Hier wird sich besonders klar zeigen, ob die Bundesregierung dafür sorgen wird, daß einschneidende konventionelle Abrüstungsschritte möglich werden, damit ein weitergehender Abrüstungsprozeß ermöglicht wird.

II. Die Entwicklung der Positionen zur konventionellen Abrüstung 1986-1989.

Der Gorbatschow-Plan

Am 15.1.1986 legte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau einen Plan zur phasenweisen Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor, den sogenannten Gorbatschow-Plan.

Den Beginn dieser Entwicklung sollte die 50prozentige Reduzierung aller strategischen Waffen machen. Gleichzeitig sollten USA und Sowjetunion auf die Entwicklung von Weltraumwaffen und weitere Atomwaffenversuche verzichten.

Als weitere Vorschläge enthielt der Gorbatschow-Plan die Bereitschaft der UdSSR, alle Abkommen, auch vor Ort, der Verifikation (Kontrolle) zu unterwerfen. Gorbatschow sprach sich darin in sehr allgemeiner Form auch für Fortschritte bei der konventionellen Rüstungskontrolle aus. Er erklärt außerdem die Bereitschaft, durch Abrüstung die Entwicklung der Dritten Welt zu fördern.

Mit diesem Vorschlag – man mag es drehen und wenden wie man es will – hatte die Sowjetunion auch ganz offiziell als erste konsequent mit der atomaren Abschreckungsideologie gebrochen und ihre Bereitschaft verkündet, einen Umwandlungsprozeß analog zu den genannten Kriterien Gemeinsamer Sicherheit einzuleiten.

Bewegung in die Frage konventioneller Abrüstung kam erst durch eine neue Initiative des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow auf dem SED-Parteitag am 18. April 1986 in Ost-Berlin. In seinem Vorstoß schlug er “bedeutende Reduzierungen aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Fliegerkräfte bei Auflösung der jeweiligen reduzierten Truppenteile und Vernichtung oder nationaler Lagerung der Rüstungen” vor. Diese sollten verknüpft werden mit dem “Abbau nuklearer Rüstungen operativ-taktischer Bestimmung”. Die Reduzierungen sollten in einer von beiden Seiten kontrollierten Weise vorgenommen werden. Dazu zählte Gorbatschow auch internationale Überprüfungsformen, z.B. Vor-Ort-Inspektionen. Als Reduzierungsraum schlug Gorbatschow erstmals – und damit verließ er den Ansatz der bisherigen MBFR-Gespräche – das Gebiet “vom Atlantik bis zum Ural”, also ganz Europa unter Einbeziehung der westlichen UdSSR-Militärbezirke. vor. Gorbatschow begründete seine Initiative darüberhinaus mit dem Wunsch, westliche Einwände gegen weitergehende Schritte auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung aus dem Weg zu räumen.

Die NATO reagierte auf diesen Vorschlag und die neue Situation, die durch ihn entstanden war auf ihrer Frühjahrstagung im Mai 1986 im kanadischen Halifax mit der Einsetzung einer »High Level Task Force« (HLTF), die die Vorschläge überprüfen sollte. (Arms Control Reporter, 1/1989, 407.A.3; FAZ vom 30.6.1986)

Budapester Appell – Brüsseler Erklärung

Gorbatschows Vorschlag wurde auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschußes des Warschauer-Paktes am 11. Juni 1986 in Budapest aufgenommen und als »Budapester Appell» verkündet. In ihm näherte sich der Warschauer Pakt noch weiter an die westlichen Vorstellungen an.

Der Appell sah als ersten Schritt vor, “eine einmalige Reduzierung der Truppenstärken der Staaten der beiden einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse innerhalb von ein bis zwei Jahren um 100.000 bis 150.000 Mann auf jeder Seite vorzunehmen… Bei entsprechender Bereitschaft der Länder des nordatlantischen Bündnisses würden dadurch Anfang der 90er Jahre die Landstreitkräfte beider Bündnisse in Europa um ca. 25 Prozent des heutigen Niveaus reduziert werden.” Es handelte sich also um einen Vorschlag, der symmetrische Reduzierungen in beiderseits gleichem Umfang und den prozentualen Abbau von einem gegebenen Niveau vorsah und mit diesem Element noch keine wesentliche Neuerung bedeutete.

Außerdem wurde die Notwendigkeit der Umstellung der Militärdoktrinen auf “Verteidigungsprinzipien” festgestellt. Maßnahmen zur Vermeidung eines Überraschungsschlages und von Offensivoperationen sollten eingeleitet werden. Zur weiteren Erörterung der Vorschläge zur konventionellen Rüstung sollte ein “spezielles Forum” oder eine erweiterte MBFR-Runde diskutieren.

Im Appell heißt es weiter: “Die durch entsprechende Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen freiwerdenden Mittel dürfen nicht für die Schaffung neuer Waffenarten oder für andere militärische Zwecke eingesetzt, sondern müssen für die ökonomische und soziale Entwicklung verwendet werden.” (Appell der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages an die Mitgliedstaaten der NATO, an alle europäischen Länder zur Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa. TASS-APN, Dokumente, Nr. 54/86, Köln 12.6.1986)

In Reaktion auf diese Entwicklung verabschiedeten die NATO-Außenminister am 12. Dezember 1986 die »Brüsseler Erklärung», in der sie dem Warschauer Pakt vorschlugen im Rahmen und unter dem Dach des KSZE-Prozesses neue Verhandlungen über ein Mandat für Verhandlungen über die Konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) neben den weiterzuführenden MBFR– und KVAE-Verhandlungen aufzunehmen und deren Geltungsbereich ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural umfassen sollte. Die Brüsseler Erklärung verlangte weiter den einseitigen Abbau des von des NATO wahrgenommenen Übergewichts des Warschauer-Paktes im konventionellen Bereich. Die vorgeschlagenen Mandatsverhandlungen begannen schließlich am 17. Februar 1987 im Rahmen des KSZE-Folgetreffens in Wien. (FAZ, 12.12.1986; vgl. auch: Sigurd Boysen: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural. In: aus politik und zeitgeschichte, B 44/87, S. 24ff)

Asymmetrie-Zugeständnis in Prag

Ein weiteres Einschwenken auf westliche Forderungen zeigte sich schließlich erneut in einer Rede Gorbatschows am 10. April 1987 in Prag, als er erstmals existierende Ungleichgewichte im konventionellen Bereich des Ostens zugab und asymmetrische Reduzierungen akzeptierte. Gorbatschow erklärte, die Sowjetunion sei für “die Beseitigung irgendwelcher Elemente der Ungleichheit, der Asymmetrie, wenn es diese bei diesen Waffen tatsächlich gibt.”

In dem wiederum dieser Rede folgenden Beschlüssen des Warschauer Paktes von Ostberlin vom 28./29. Mai 1987 wurden “Konsultationen über entstandene Ungleichgewichte bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach ihrer Beseitigung”, also Verhandlungen zur “Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.” Damit war quasi vorgeschlagen, gemeinsam auf die Herstellung einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit hinzuwirken. Wiederum wird die Auflösung von WVO und NATO im Falle der Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit vorgeschlagen und zum ersten Mal werden Konsultationen zu Fragen der Militärdoktrinen vorgeschlagen. Die Konferenzteilnehmer erteilten jedem militärischem Angriff gegen ein Staatenbündnis eine Absage.

Zusätzliche Zielstellungen tauchten in Form der Schaffung von “Zonen verringerter Rüstungskonzentration” auf, an deren Frontlinie an der Nahtstelle der Bündnissysteme die Rüstungs- und Streitkräftekonzentration verringert werden solle. (Europa-Archiv, 1987, 14, S. D 392-394)

Vorausgegangen war diesem Vorschlag am 8. Mai 1987 die Präsentation des sogenannten Jaruzelski-Plans, der, auf den polnischen Plänen für eine nuklearwaffenfreie Zone und das Einfrieren der atomaren Rüstungen aufbauenden Vorschläge zur atomaren und konventionellen Rüstungsverminderung im MBFR-Gebiet machte und vorschlug, die Waffen allmählich abzuziehen, die für einen Überraschungsangriff besonders gut geeignet sind. Außerdem sieht der Jaruzelski-Plan blockübergreifende Gespräche über den Charakter der Militärdoktrinen vor.

Die NATO reagiert auf die östlichen Vorschläge auf ihrer Außenministertagung in Reykjavik am 12. Juni 1987 mit der Forderung nach der “Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung” (Europa-Archiv, Nr. 14/1988, S. D 382f.).

Ende 1987 einigten sich die 23 Verhandlungspartner bei den KRK-Mandatsverhandlungen auf eine Liste der künftigen Verhandlungsgegenstände, die sich im wesentlichen an der Brüsseler Erklärung der NATO von 1986 orientierte und

  • die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts bei den konventionellen Truppen und Waffensystemen,
  • den Abbau der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zu großräumigen Offensiven,
  • die Beseitigung von Disparitäten, die sich nachteilig auf die Stabilität und Sicherheit auswirken
  • sowie regionale Differenzierungen hinsichtlich der Obergrenzen der verbleibenden Potentiale umfasste. (Arms Control Reporter, 1-89, 407.A.3/Mutz, in: Friedensgutachten 1988, S. 124)

Brüsseler Erklärung: “Der Weg nach vorn”

Im März 1988 versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO erneut in Brüssel zu einem Gipfeltreffen, um die Ergebnisse der Wiener Mandatsverhandlungen zu würdigen. Die NATO-Führer erklärten in ihrer Deklaration “Der Weg nach vorn” ihre Bereitschaft zu Gesprächen über konventionelle Rüstungsreduzierung, allerdings nur im Rahmen eines noch auszuarbeitenden Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Gespräche sollen der “Herstellung eines stabilen und sicheren Niveaus konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten in ganz Europa” dienen. Die NATO wandte sich wegen der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes in Europa gegen jede Denuklearisierung. Eine gesonderte Erklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle wiederholt die Ziele der NATO bei den VKSE-Mandatsverhandlungen Ende 1987.

Die Erklärung stellte fest: “Das Bestehen eines konventionellen Ungleichgewichts zugunsten des Warschauer Paktes ist nicht der einzige Grund für die Anwesenheit von Kernwaffen in Europa. Die Bündnisstaaten sind und werden von sowjetischen nuklearen Streitkräften verschiedener Reichweiten bedroht. Obwohl ein konventionelles Gleichgewicht für die (Gesamt-)Stabilität wichtige Vorteile schaffen würde, kann nur die nukleare Komponente einen Angreifer vor unannehmbare Risiken stellen. Deshalb benötigt die Abschreckung für die übersehbare Zukunft eine zureichende Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften.”

Die NATO verlangte, einen “hohen, asymmetrischen Abbau des Ostens, der beispielsweise den Abzug von Zehntausenden von Waffen des Warschauer Paktes beinhaltet, die für Überraschungsangriffe dienen können.”(Europa-Archiv, Nr. 7/1988, D201-208)

Auf seiner Außenministertagung am 6.4.1988 in Sofia ließ der Warschauer Pakt die Forderung nach einer Koppelung von VKSE-Verhandlungen mit Gesprächen über die taktischen Nuklearwaffen und Systemen mit doppelter Verwendungsfähigkeit fallen und befürwortet separate Verhandlungen.

Warschau: Drei-Stufen-Plan

Am 8. Juni 1988 stellte der sowjetische Außenminister Schewardnadse vor der UN-Generalversammlung in New York einen Drei-Stufen-Plan zur konventionellen Abrüstung in Europa vor, der auf einer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer-Paktes am 15. und 16. Juli 1988 in Warschau konkretisiert und verkündet wurde. Ziel dieses Plans war es, einen solchen “Zustand herbeizuführen, bei dem die Länder der NATO und des Warschauer Vertrages Kräfte und Mittel behalten, die für die Verteidigung erforderlich sind, jedoch für einen Überraschungsangriff und für Angriffsoptionen nicht ausreichen.”

In der ersten Etappe dieses Plans soll die “beiderseitige Liquidierung der Ungleichgewichte und Asymmetrien” und die Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen erreicht werden. In der zweiten Etappe “würden die Streitkräfte jeder Seite um ungefähr 25 Prozent (ca. 500.000 Mann) mit ihrer strukturmäßigen Bewaffnung reduziert”, in der dritten Phase schließlich “würden weitere Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen erfolgen und die Streitkräfte beider Seiten strikten Verteidigungscharakter annehmen.” Dazu gehört auch der Austausch von Ausgangsdaten über das Ausmaß der konventionellen Rüstung noch vor Verhandlungsbeginn. Außerdem sollen entlang der Berührungslinie der beiden militärisch-politischen Bündnisse Zonen verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden. Mit dieser Tagung hatte der Warschauer Pakt offiziell und eindeutig die Position eingenommen, daß zuerst die Asymmetrien zwischen den Paktsystemen abgebaut und die weiteren Reduktionen dann in gleich großen Schritten unternommen werden müssen. (Europa-Archiv, Nr. 15, D420-429)

UNO-Initiative Gorbatschows

Am 7. Dezember 1988 legte Michail Gorbatschow auf der 43. UNO-Vollversammlung noch einmal nach und verkündete einen weitreichenden einseitigen Rüstungsschnitt. Danach wird in den Jahren 1989 und 1990 der Personalbestand der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann verringert, zugleich werden aus der DDR, der CSSR und Ungarn 50.000 Mann, 10.000 Panzer 8.500 Systeme der Artillerie, 800 Kampfflugzeuge abgezogen, sechs sowjetische Panzerdivisionen aufgelöst. Die verbliebenen Truppen im europäischen Teil der Sowjetunion werden erheblich verringert und die bei den Verbündeten verbliebenen Truppen werden neu, d.h. defensiv umstrukturiert. Von bloß symbolischer Effekthascherei konnte bei diesem Vorschlag eigentlich keine Rede sein: “Gorbatschows Vorschlag kommt einer Reduzierung der besten und modernsten sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa und in den westlichen Militärbezirken Rußlands um ein Drittel gleich.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 9.12.1988).

(Rede Michail Gorbatschows vor der UNO in New York, Sowjetunion heute, Nr. 1, Januar 1989).

Genau einen Tag später reagierte die NATO: Am 8.12.1988 legten die Außenminister noch vor der Verabschiedung des von der High-Level-Task-Force erarbeiteten Dokuments für das Verhandlungsmandat in Wien eine Erklärung mit eigenen Abrüstungseckdaten vor. Kernpunkt der Forderung des westlichen Bündnisses blieb die Forderung nach asymmetrischer Abrüstung. Nach ihrem Vorschlag soll kein Staat zwischen Atlantik und Ural mehr als 12.000 Kampfpanzer unterhalten dürfen. Die Gesamtzahl der Panzer auf beiden Seiten soll eine Obergrenze von 40.000 nicht überschreiten. “Dies würde eine Reduzierung für den Warschauer Pakt um mehr als 60 Prozent bedeuten, die NATO müßte zehn Prozent abbauen… Diese Forderung hat vor allen Dingen für die Sowjetunion und ihre großen Panzerbestände Bedeutung. Ihr blieben, wie allen anderen Staaten auch, nur höchstens 12.000 Panzer. Einschränkungen sollen vor allem für die außerhalb des eigenen Landes stationierten Streitkräfte wirksam werden. Dabei sollen auch Untergrenzen eingeführt werden, damit die Streitkräfte-Konzentration in Schlüsselregionen Europas unmöglich werde.” (Jan Reifenberg in: FAZ vom 9.12.1988)

Auf der Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages im Januar 1989 gibt der Warschauer Pakt – noch vor Beginn der Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa – einen offiziellen Kräftevergleich der konventionellen Streitkräfte in Europa heraus.

Darin gibt er “eine Überlegenheit bei Panzern, Startrampen für taktische Raketen, Kampf-Abfangflugzeugen der Truppen der Luftverteidigung sowie bei Schützenpanzern, Schützenpanzerwagen und Artillerie” zu. (vgl. FAZ vom 31.1.1989; Süddeutsche Zeitung vom 8.2.1989).

III. Mandat und Ausgangslage bei den Wiener Verhandlungen

Das Mandat

Am 15. Januar 1989 wurde in Wien das Abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, das am 4. November 1986 begonnen hatte und am 19. Januar 1989 beendet worden ist, verabschiedet. Es enthält im Anhang u.a. auch das Mandat für die “Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa”, auf das sich die Verhandlungsdelegationen am 16. Januar 1989 im Wiener Palais Liechtenstein nach fast 23monatiger Verhandlungsdauer geeinigt hatten.

Die VKSE-Runden, die im Rahmen der Verhandlungen der 35 KSZE-Mitgliedsstaaten und parallel zu den Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Verifikation (KVAE) stattfinden, sollen die nach 15jähriger Verhandlungsdauer nahezu ergebnislos verlaufenden MBFR-“Verhandlungen über einen beiderseitigen, ausgewogenen Truppenabbau” in Europa ersetzen. Die VKSE-Verhandlungen der 23 und die KSZE-Folgekonferenzen sollen durch »eine enge bilaterale Kooperation und Information« gekoppelt werden. Das schließt eine Pflicht der Unterrichtung der 23 am KSZE-Prozeß Teilnehmenden gegenüber den Neutralen und Nichtpaktgebundenen Staaten durch die Vertreter der 23 ein. Die VKSE-Verhandlungen bleiben jedoch nach den gemeinsamen Verfahrensregeln eine selbstständige Konferenz: “Die Ergebnisse der Verhandlungen werden nur von den Teilnehmern bestimmt.”

Verhandelt werden soll über die Abrüstung konventioneller Waffen und Streitkräfte in dem “gesamten Landterritorium der Teilnehmer in Europa vom Atlantik bis zum Ural.” Ziel der Verhandlungen ist

  • “die Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte…auf niedrigerem Niveau”
  • “die Beseitigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für Stabilität und Sicherheit sind” und “als vorrangige Angelegenheit”
  • “die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung grossangelegter offensiver Handlungen”.

Als Methoden zur Erreichung dieser Ziele nennt das Mandat “Reduzierungen, Begrenzungen, Bestimmungen zu Umdislozierungen, gleiche Obergrenzen” und auch “regionale Differenzierungen, um Ungleichgewichte innerhalb des Anwendungsgebietes zu beseitigen.”

Als Verhandlungsgegenstand werden ausschließlich “die auf Land stationierten konventionellen Streitkräfte” benannt. Damit sind die Luftstreitkräfte von NATO und Warschauer Pakt grundsätzlich im Mandat enthalten. Kernwaffen, Seestreitkräfte und chemische Waffen sind von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Ein wichtiger strittiger Punkt der Vorverhandlungen waren die doppelt verwendbaren Waffensysteme. Der Warschauer Pakt hatte auf einer Einbeziehung bestanden, Frankreich dagegen war von Anfang an dagegen, um seinen Atomstatus nicht zu gefährden und indirekt in den NATO-Zusammenhang hineingezogen zu werden. Das Mandat sieht einen Kompromiß vor. Es bestimmt: “Keine konventionelle Bewaffnung oder Ausrüstung wird als Verhandlungsgegenstand ausgeschlossen, weil sie neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben kann. Solche Bewaffnung oder Ausrüstung wird nicht als gesonderte Kategorie herausgestellt.” Mit diesem auf den bundesdeutschen Außenminister Genscher zurückgehenden Kompromiß, diese Systeme nicht zu erwähnen, sollte zunächst gesichert werden, daß die Verhandlungen überhaupt aufgenommen werden können. Später soll dann konkret entschieden werden, welche Waffen zu welcher Zeit behandelt werden. (Der Spiegel, 40/1988, S. 22). Damit behält sich aber jede Seite das Recht vor, zu gegebener Zeit einzelne Waffensysteme und Streitpunkte solcher Art zu benennen. Für den Westen wären das dann Truppenstärken, Panzer und Kanonen, bei denen die NATO den Warschauer Pakt überlegen wähnt. Erst wenn diese “so weit abgebaut wären, daß sie nur noch Verteidigungszwecken dienen könnten” (FAZ vom 19.7.1988) könnte es dann für den Osten möglich sein die Kampfflugzeuge, bei denen er ein westliches Übergewicht sieht, einzubringen.

Darüberhinaus fordert das gemeinsame Mandat ein “wirksames und striktes Verifikationsregime” sowie das “Recht auf Vor-Ort-Inspektionen”. Jede Veränderung des Verhandlungsmandats kann nur mit Übereinstimmung aller Teilnehmer erfolgen: “Die erzielten Abkommen sollen international verbindlich sein. Über die Art ihres Inkrafttretens wird während der Verhandlung entschieden.”

Insgesamt gesehen ist das Mandat ein Erfolg der USA, da die Frage der taktischen Nuklearwaffen, die die Sowjetunion in die Verhandlungen einbezogen wissen wollte, nicht im Mandat enthalten sind. Wann parallele Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollen, ist derzeit noch unklar. In einer Verlautbarung der NATO in Brüssel im April wurde betont, daß für die NATO die Wiener Verhandlungen Vorrang vor möglichen Verhandlungen über die taktischen Nuklearwaffen haben. “Der Westen habe trotz der Aufforderung der Außenminister des Warschauer Pakts in Ost-Berlin, gleichzeitig über Kurzstreckenwaffen zu verhandeln, keinen Anlaß, von dem Ziel abzugehen, die Invasionsfähigkeit des Ostens und damit die unmittelbare Gefährdung Westeuropas zu beseitigen und Stabilität zwischen Atlantik und Ural herzustellen.” Damit will sich die NATO eine Modernisierungsoption vor allem deshalb offenhalten, um der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr der Denuklearisierung Europas zu entgehen, also nicht von der nuklearen Abschreckungsdoktrin abgehen zu müssen. (FAZ vom 14.4.1988).

Der westliche Verhandlungsvorschlag

In der Substanz umfasst der westliche Verhandlungsvorschlag nur die drei Waffensysteme, in denen er die Ungleichgewichte zugunsten des Ostens vermutet: Kampfpanzer, Artillerie, und gepanzerte Infanterie-Kampffahrzeuge. Hier sollen vor allem durch Vereinbarung gemeinsamer Obergrenzen Reduzierungen auf ca. 90% der Waffenbestände der NATO erreicht werden. Vorschläge für die Kampfflugzeuge liegen keine vor. Ihre Einbeziehung wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Der Westen will sie erst später in die Verhandlungen einbeziehen und darüber “erst nach Abschluß der ersten Verhandlungsphase mit der Verringerung der drei Hauptwaffenkategorien der konventionellen Rüstung reden.” (dpa, 6.3.1989).

Nach dem Willen des Westens soll

  • der Gesamtbestand im Vertragsgebiet zwischen Atlantik und Ural auf 40.000 Panzer, 33.000 Artilleriegeschütze und 56.000 Infanterie-Kampffahrzeuge reduziert werden. Das hieße, daß der Warschauer Pakt wie die NATO jeweils 20.000 Kampfpanzer, 16.500 Artilleriegeschütze und 28.000 Infanterie-Kampffahrzeuge besitzen dürfe.
  • kein Land soll – im Sinne der “Hinlänglichkeit (Suffizienz)” – dann in Europa mehr als dreißig Prozent dieser Gesamtzahl dieser drei Kategorien beibehalten, d.h. jeweils 12.000 Kampfpanzer, 10.000 Artilleriegeschütze und 16.800 Infanterie-Kampffahrzeuge.
  • bei den Bündnisstaaten, die Streitkräfte auf dem Territorium von Partnern unterhalten, soll bei den aktiven Verbänden die Zahl 3200 Panzer, 1700 Geschütze und 6000 Infanterie-Kampffahrzeuge nicht übersteigen.

Im Vorschlag der NATO ist der Gesamtraum der Reduzierungen in verschiedene ineinander verschachtelte Unterzonen untergliedert, in denen sukzessive die Verminderungen vorgenommen werden sollen. Es handelt sich um die Gebiete:

  • In der Zone 1: Vom Atlantik bis zum Ural sollen beide Pakt-Systeme in aktiven Verbänden nicht mehr als 11.300 Panzer, 9000 Artilleriegeschütze und 20.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten.
  • Die Zone 2: von Frankreich bis Weißrußland sollen in aktiven Einheiten nicht mehr als 10.300 Panzer, 7600 Artilleriegeschütze und 18.000 Infanterie-Kampffahrzeuge vorhanden sein.
  • Die Zone 3: umfasst nach NATO-Vorstellung die alte MBFR-Zone Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, die DDR, Polen und die CSSR. Hier sollen in den aktiven Einheiten nicht mehr als 8.000 Kampfpanzer, 4.500 Artilleriegeschütze und 11.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten werden.

(Quelle: NATO-Vorschlag zu Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), Stichworte zur Sicherheitspolitik des Bundespresseamtes, Bonn, März 1989).

Darüberhinaus enthält der westliche Vorschlag weitere “Maßnahmen im Hinblick auf Stabilität, Verifikation und den Ausschluß einer Umgehung von Reduzierungsmaßnahmen” für notwendig: Transparenz-, Notifizierungs- und Beschränkungsmaßnahmen für die Dislozierung konventioneller Streitkräfte; Verifikationen und Vor-Ort-Inspektionen. Als “längerfristige Perspektive” der Verhandlungen nennt er

  • weitere Reduzierungen oder Begrenzungen konventioneller Waffen und Ausrüstung sowie
  • die Umstrukturierung von Streitkräften mit dem Ziel, ihre defensiven Fähigkeiten zu stärken und die offensiven Fähigkeiten weiter zu verringern.

Der Verhandlungsvorschlag des Ostens

Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse legte auf der Eröffnungssitzung der Wiener Konferenz für den Warschauer Pakt ein »Arbeitspapier» mit dem Titel “Konzeptioneller Ansatz zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa” vor. Nach diesem Vorschlag soll die Abrüstung in Europa in drei Etappen vor sich gehen:

  • Erste Etappe: (1991-94): Hier sollen die Asymmetrien zwischen den beiden Bündnissen, sowohl hinsichtlich der zahlenmäßigen Stärke, als auch der wichtigsten Rüstungsarten beseitigt werden. Außerdem soll mit dem Abbau der Offensivwaffen begonnen werden: Kampfflugzeuge, Panzer, Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und Artillerie. In dieser Etappe sollen die Streitkräfte auf gleiche gemeinsame Höchstgrenzen reduziert werden, die bei jeder Waffenart um 10 bis 15 Prozent niedriger liegen als das jetzige niedrigste Niveau eines der beiden Bündnisse.
    Dabei sollen auch Berechnungsregeln für einen einheitlichen Datenaustausch festgelegt werden. Ebenfalls in dieser ersten Etappe sollen entlang der Berührungslinie der beiden Bündnisse Gebiete eines verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden, aus denen die gefährlichsten Waffenarten entweder abgezogen oder begrenzt werden. Der Umfang, die Tiefe dieser Gebiete soll unter der Berücksichtigung geostrategischer und andere Faktoren erfolgen.
  • Zweite Etappe (1994-97): Darin sollen auf der Grundlage der dann bereits erreichten gleichen Höchstgrenzen beider Bündnisse weitere Reduzierungen vorgenommen werden. Die Streitkräfte mit ihrer Bewaffnung sollen um etwa 25 Prozent, das wären auf jeder Seite ca. 500.000 Mann verringert werden. Der Abbau der Offensivpotentiale soll in dieser Etappe weitergeführt werden und z.B. die im Mandat nicht genannten Rüstungskategorien, wie Seestreitkräfte erfasst werden. Gleichzeitig sollen Schritte auf eine defensive Umorientierung der Streitkräfte eingeleitet werden.
  • Dritte Etappe (1997-2000): Hier werden die Reduzierungen fortgesetzt bis zu dem Stand, wo keine Seite mehr die Mittel für einen Angriff besitzt. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch alle Rüstungskategorien von der Abrüstung erfasst sein. Zur Kontrolle der Vereinbarungen schlägt die Sowjetunion ein umfassendes System vor, einschließlich von Inspektionen vor Ort, auf dem Land und in der Luft und zwar ohne ein Recht auf Verweigerung. Kontrollpunkte sollen innerhalb der Reduzierungszone geschaffen werden, außerdem eine internationale Kontrollkommission mit umfassenden Vollmachten, der Vertreter aller Teilnehmerstaaten angehören.

Der sowjetische Vorschlag ist von Offenheit und Flexibilität geprägt. Während der Westen mit genauen numerischen Höchstgrenzen und einem detaillierten Regionalkonzept operiert, nennt der Osten nur Prozentzahlen, bekundete aber im Prinzip auch die Bereitschaft, Höchstgrenzen zuzustimmen. Generell ist der Vorschlag der Sowjetunion auch deutlich offener für tiefere Rüstungsschnitte, während die NATO nur unwesentlich (95%) unter ihr derzeitiges Niveau gehen möchte. Der SPD-Politiker Andreas von Bülow nennt den NATO-Ansatz deswegen “timide”. Er wolle Abrüstung nur in Form »homöopathischer Dosen» verabreichen. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Indem der Osten die Nennung konkreter Zahlen zunächst umging, weigerte er sich implizit einem rein quantitativen Kräftevergleich zuzustimmen und brachte damit die technologische Überlegenheit des Westens auf die Agenda der Konferenz in Wien. Die FAZ urteilt:“ Als besonders auffallend wertet man in westlichen Verhandlungskreisen die Tatsache, daß der Osten seinen Vorschlag so allgemein formuliert hat. Man zögert, dies als einen Mangel zu bewerten, sondern hält es für möglich, daß dahinter die Absicht steht, sich die Möglichkeit des Eingehens auf konkrete Vorschläge der anderen Seite zu belassen.” (FAZ vom 11.3.1989) Damit hält sich die sowjetische Seite offensichtlich auch die Möglichkeit offen, im kommenden Verhandlungs- und Diskussionsverlauf den Gang der Auseinandersetzung mit weiteren einseitigen Aktionen zu begleiten. Das Interesse der UdSSR nach einem dynamischen Verhandlungsprozeß wird auch daran deutlich, daß der sowjetische Außenminister Schewardnadse vorgeschlagen hat, zweimal im Jahr eine Außenministerkonferenz in den Verhandlungsprozeß zu integrieren, damit das “Feuer” der Verhandlungsführung erhalten bleibe.

(Quelle: Monitor-Dienst, Stimme der DDR, 10.3.1989; FAZ vom 11.3.1989; Kurier (Wien), vom 9.3.1989, Süddeutsche Zeitung vom 7.3.1989).

Nach dem Ende der ersten Verhandlungsperiode wird die sowjetische Absicht deutlich, nun bereits die Kampfflugzeuge, bei denen der Osten eine Überlegenheit der NATO vermutet, in ein erstes Abkommen mit einbeziehen zu wollen. Die westlichen Staaten befürworten dies erst nach erfolgter Einigung bei der Abrüstung der übrigen Kategorien: “Die sowjetischen Sprecher, der Verhandlungsführer Grinevski und sein militärischer Berater, General Tatarnikov, machten in Wien deutlich, daß ihre Regierung auf die Einbeziehung bestimmter Kategorien von Kampfflugzeugen, nämlich von Jagdbombern, in ein erstes Abkommen dringt.” Der Westen bezweifelte die östlichen Zahlenangaben in dieser Kategorie und lehnt außerdem die von der UdSSR bevorzugte Ausklammerung der der Heimatverteidigung dienenden sowjetischen Kampfflugzeuge ab. Die indirekte Einbeziehung dieser Kategorie in die Verhandlungen dadurch, daß sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden, war ein Kompromiß innerhalb der westlichen Staaten. Zwar bleibt, wie die FAZ berichtet, (auf westlicher Seite unbestritten, daß die Flugzeuge, obwohl deren hohe Beweglichkeit sie zu einer Sonderkategorie macht, die nicht zur direkten »Invasionsfähigkeit« beider Seiten zählt, auf die Dauer nicht aus den VKSE-Verhandlungen ausgeschlossen werden können.” (Jan Reifenberg: Ernsthafte Abrüstungsgespräche in Wien, FAZ vom 25.3.1989) Die sowjetische Absicht wird hier nun aber als Versuch gewertet, die Einigkeit des Bündnisses zu erproben und so die Verhandlungen früh zu gefährden, wiewohl unbestritten ist, daß Kampfflugzeuge eindeutig ebenso offensive Fähigkeiten besitzen wie Panzer usw. (Karl Feldmeyer: Moskau hat den Hebel angesetzt, in: FAZ vom 7.4.1989).

In der letzten Verhandlungsrunde Anfang Mai in Wien hat der Warschauer Pakt ein eigenes Regionalkonzept vorgelegt. Darin spricht er von einer Verhandlungszone mit einem nördlichen und südlichen Teil, in dem jeweils eigene Teilobergrenzen der Reduzierung gelten sollen. Die Zone erstreckt sich vom Nordkap bis zum Kaukasus.

Würden nur einige der Ziele der Verhandlungen erreicht und Angriffshandlungen unmöglich gemacht, würde erstmals ein qualitativer Übergang von der konventionellen Rüstungskontrolle zur konventionellen Abrüstung erreicht. Wenn also auch die verkündete “Hoffnung auf ein neues Zeitalter” (Christoph Bertram in: Die Zeit, Nr. 11 vom 10.3.1989) ein wenig verfrüht erscheinen mag, so sehen doch selbst konservative Interpreten die Chancen dieser Entwicklung. Für sie bestehe sie immerhin darin, einen “Prozeß einzuleiten, der zu Vereinbarungen in Gestalt eines Sicherheitssystems auf Gegenseitigkeit führt.” (Wolfram von Raven in: Europäische Wehrkunde, 2/1989, S. 94). Der Bonner Verhandlungsleiter bei der VKSE-Runde Heydrich ergänzt: “Der Westen hat noch gar nicht richtig verstanden, was in Wien wirklich geschieht. Bisher haben wir alles unter Konfrontations-Aspekten gesehen. Hier aber entsteht ein gemeinsames Kooperations- und Kontrollsystem, das alle Voraussetzungen der politischen Arbeit verändert.” (Bonner Generalanzeiger, 23. 3. 1989). Das wäre dann in der Tat ein wichtiger Schritt hin auf ein “Neues Europa”, wie es der sowjetische Außenminister Schewardnadse zur Eröffnung der VKSE beschwor. (Die Welt vom 6.3.1989)

Es wäre angesichts der fast unentwirrbaren Menge von Streitkräften, Ausrüstungen und Waffensystemen in Europa aber illusionär zu glauben, daß sich die 23 Delegationen in Wien bald zu konkreten Abrüstungsschritten einigen könnten. Bei allen Annäherungen gibt es nach wie vor außerordentlich schwer zu überbrückende Differenzen, die sich vor allem auf die gegenseitige Gesamtbeurteilung des Kräfteverhältnisses, unterschiedliche Perzeptionen der geostrategischen Lage, verschiedene Einschätzungen der Reduzierungsankündigungen des Warschauer Paktes, der Militärdoktrinen und vor allem der taktischen Nuklearwaffen beziehen. Bonn, aber auch offensichtlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse rechnen mit ersten notifizierbaren Erfolgen wohl frühestens in drei Jahren. (FAZ vom 2.3.1989; SZ vom 7.3.1989).

IV. Probleme konventioneller Rüstung in Europa

NATO-Strategie und Rolle der Nuklearwaffen

Die taktischen Nuklearwaffen in Europa sind nicht Verhandlungsgegenstand in Wien, werden aber in besonderer Weise Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz mitbestimmen.

Die NATO sieht in der Existenz von taktischen Nuklearwaffen auch für die absehbare Zukunft einen Garanten westlicher Sicherheit. Deshalb plädierte auch NATO-Generalsekretär Manfred Wörner dafür, ständig “ein Minimum” an Nuklearwaffen “auf dem neuesten Stand” zu halten. (Süddeutsche Zeitung vom 8.3.1989)

Ein ständiger Modernisierungsbedarf ist also auch weiterhin programmiert.

Die NATO verfolgt mit ihren atomaren Systemen in Europa mindestens zwei zentrale (Abschreckungs-)Ziele:

  1. “Ankopplung” an den “Schutzschild” des nuklearstrategischen Potentials der USA durch einen lückenlosen “Eskalationsverbund”.
  2. Kompensation der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes durch Androhung nuklearen Ersteinsatzes im Krisenfall, Schläge gegen hohe gegnerische Truppenkonzentrationen und nukleare “Warnschläge”.

Die nukleare Abschreckungsdoktrin der NATO hat jedoch zu einem überdimensionierten Atomwaffenarsenal geführt, das strukturell und technisch in einer unentwirrbaren Weise mit der konventionellen Rüstung verkoppelt ist. Beides – die zahlreichen doppelt (atomar und konventionell) verwendungsfähigen (dual capable) Trägersysteme wie Flugzeuge, Artillerie und Raketen und die laufenden Modernisierungen werden die Perspektiven konventioneller Abrüstung beeinträchtigen:

  1. Die Verifikation der doppelt verwendbaren Systeme wird erschwert, wenn nur eine Kategorie abgerüstet werden soll.
  2. Die NATO hat ein zusätzliches Interesse, Flugzeuge und Raketen als atomare Trägersysteme möglichst lange aus den Wiener Gesprächen herauszuhalten. Das führt zu einer unfruchtbaren Verhandlungsposition, wenn zunächst nur die überlegenen Landstreitkräfte des WP, die offensiven Optionen der NATO hingegen erst später behandelt werden sollen. Wie soll den WP-Staaten plausibel gemacht werden, daß prioritär ihre Panzer abzubauen seien, die dann einer atomar aufgerüsteten NATO gegenüberstünden, deren Luftflotte um keinen Deut vermindert wäre.
  3. Atomare “Modernisierungen” und Aufrüstungsvorhaben, die durch die “dual-capables” auch konventionelle Systeme betreffen würden, wirken lähmend auf den gesamten Abrüstungsprozeß.

Dennoch verstärkt sich innerhalb der NATO der Druck der Modernisierungsbefürworter. Ende April drang aus militärischen Kreisen um den NATO-Oberbefehlshaber Europa, Galvin, drohend durch, daß die Vereinigten Staaten ihre Truppen in der Bundesrepublik nur dann belassen werde, “wenn ihnen das gesamte Spektrum zur Abschreckung notwendiger Waffen, also auch atomare Kurzstreckenwaffen, zur Verfügung stünde.” (FAZ, 29.4.89) Man sieht in Brüssel und Washington die Gefahr einer Demontierung der gültigen Strategien “Vorneverteidigung” und “flexible response”, die solange gültig bleiben müßten, bis die “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Paktes beseitigt sei. Ein solch zähes Festhalten an nuklearen Angriffsoptionen, die mit angeblichen Verteidigungserfordernissen begründet werden, dokumentiert den “überproportionalen Einfluß des Denkens der U.S. Army, die eine starke Neigung zu offensiven, siegorientierten Optionen zeigt.” (HSFK, Modernisierung und kein Ende?, HSFK-Report 1-2/1989, April 1989, S. 52). Der Verdacht liegt heute näher denn je, daß Nuklearsysteme ganz konkrete Kriegsführungsoptionen wahrnehmen sollen. Selbst der Chef des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, Flottillenadmiral Schmähling räumt angesichts der jüngsten Erfahrung mit der Wintex-Cimex-Übung ein: “Der Widerspruch zwischen militärischer und politischer Rollenzuweisung an Nuklearwaffen tritt in Europa immer deutlicher zutage.” (Der Spiegel, 1. Mai 1989)

Angesichts solcher Gefahren unterstrich der sowjetische Außenminister Schewardnadse auf der Wiener KSZE-Schlußberatung am 19. Januar 1989 und ähnlich auf der Eröffnung der Wiener VKSE-Konferenz die seit langem bekannte sowjetische Position mit den Worten: “Wir gehen eindeutig von der Prämisse aus, daß Nuklearraketenmodernisierung einen Schritt rückwärts und nicht nach vorne darstellt. … und ich bekräftige: die Sowjetunion ist nicht dabei, ihre taktischen Nuklearraketen zu modernisieren”, (zitiert nach: Frieden und Abrüstung Nr. 1/1989).

Unterschiedliche Perzeption des konventionellen Kräfteverhältnisses

Ein weiterer Stolperstein: Die gravierenden Unterschiede in der Einschätzung des konventionellen Kräfteverhältnisses.

Im November 1988 und Januar 1989 legten NATO und Warschauer Pakt ihre offiziellen Versionen des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa vor.

Anhand der beiden Kräftevergleiche lassen sich Möglichkeiten und Grenzen der Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle bereits erahnen.

Die NATO zählt aussschließlich Land- und Luftstreitkräfte, was durchaus in Einklang mit dem Wiener Mandat steht. Der Warschauer Pakt betont in seiner Gegenüberstellung hingegen die Bedeutung der westlichen Seestreitkräfte für die Nachschublinien aus den USA. Dies ist aus seiner geostrategischen Perspektive verständlich; gleichwohl bleibt die maritime Komponente aus den Wiener Verhandlungen ausgeklammert.

Durch diese unterschiedliche Sichtweise kommt es etwa bei der Einschätzung der Streitkräfte-Personalstärke auch zu differierenden Zahlen. Während der WP hier von einer Parität ausgeht (WP: 3,57 Mio. / NATO: 3,66 Mio.), konstatiert die NATO ein deutliches Übergewicht von 1,4 : 1 zugunsten des Warschauer Pakts (WP: 3,09 Mio. / NATO: 2,21 Mio.). Noch extremer liegen die Werte bei den Kampfflugzeugen auseinander. Die WVO sieht sich hier nur minimal im Vorteil (WP: 7876 / NATO: 7130, Verhältnis 1,1: 1). Die NATO hingegen ermittelt eine doppelte Überlegenheit des östlichen Bündnisses (WP: 8250 / NATO: 3977).

Die meisten anderen Vergleichswerte mit extrem unterschiedlicher Ausprägung resultieren aus differierenden Zählkriterien – Beispiel: (Kampf-)Panzer. Die NATO kommt hier zu einer dreieinhalbfachen WP-überlegenheit (WP: 51500 / NATO: 16424). Der Warschauer Pakt subsummiert unter die unspezifischere Kategorie “Panzer” lediglich ein Verhältnis 1,9 : 1 (WP: 59470 / NATO: 30690). Ähnliches gilt für die Artillerie; die NATO zählt hier nur schwere Geschütze und Mörser über 100mm Kaliber, der WP hingegen berechnet auch Geschütze ab 75mm und Mörser ab 50mm. So nimmt es nicht wunder, daß verschiedene Werte deklariert werden NATO: WP 43400 / NATO 14458 (3 : 1): WP: WP 71560 / NATO 57060 (1,3 : 1). Gleichwohl fällt hier auf, daß die extreme Spanne der auseinanderliegenden Zahlen dennoch nicht erklärbar ist. Auch einige andere Differenzen entziehen sich der Deutung. In der ersten VKSE-Runde wird es daher eine Menge zu tun geben, alle Daten kontrolliert und exakt zu ermitteln. Insgesamt erweist es sich, daß der Warschauer Pakt mit seinem Kräftevergleich die alte These von einer generellen Parität mit der NATO stützen wollte. Dies hat das westliche Bündnis immer bestritten (SZ, 1.2.89).

Zweierlei bleibt aber positiv anzumerken:

  1. Der Warschauer Pakt hat erstmals einen Kräftevergleich der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Dies ist eine glaubwürdige Geste im Rahmen von Glasnost auch in den Streitkräften.
  2. Dieser Kräftevergleich ist durchaus ernstzunehmen und gibt ein konstruktives politisches Signal, weil er spezifische Überlegenheiten des Warschauer Paktes zugibt. Bei 11 von den 26 Zählkategorien konzediert der WP Asymmetrien zu seinen Gunsten. Aus westlicher Sicht besonders erfreulich sind die Zahlen zu den “Startrampen für taktische Raketen” (WP: 1608 / NATO: 136, Verhältnis 11,8 : 1).
  3. Auch bei den zentralen Großkampfgeräten wie Panzern und Artillerie sieht sich die WVO vorn (siehe SZ, 8.2.89)

Die Kompliziertheit der militärischen Materie endet natürlich nicht bei numerischen Zahlenverhältnissen, dem berüchtigten und politisch mißbrauchbaren “Erbsenzählen”. Qualitative, strukturelle, geographische und geostrategische Dimensionen vielfältigster Art und Bezugspunkte kommen hinzu, um die Kampfkraft von Streitkräften zu beurteilen. Je nach Gewichtung solcher Faktoren können im Extremfall numerische Relationen auf den Kopf gestellt werden.

Beispiel: Kampfpanzer. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Paktes ist mittlerweile in Ost wie West unstrittig (siehe oben). Man braucht jedoch aus den vielen zusätzlichen und notwendigen Beurteilungskriterien nur eines herauszunehmen, um zu völlig veränderten Ergebnissen zu kommen. Beispiel: Herstellungsjahr der Panzer. Über 90% aller WP-Panzer sind vor 1975 erbaut worden, sie sind also nach dem neuesten technischen Stand völlig überaltert. Von den Panzern, die seit 1975 erbaut wurden, besitzt die NATO eine dreifache Überlegenheit (9095 zu 2950) (siehe Carl Levin, Beyond the Bean Count, Bericht an den Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses des U.S. Senats, Sam Nunn, 1988, zit. nach “Frieden und Abrüstung”, Nr. 28, Schluß mit der Erbsenzählerei, S. 52)

Auch wenn die SU-Panzer nachgebessert werden, bleibt aber zwischen einem hochmodernen NATO-Kampfpanzer und einem lediglich modernisierten WP-“Veteran” nicht zuletzt auf Grund westlicher technologischer Überlegenheit ein riesiger Unterschied. Zwei renommierte Verteidigungsexperten, Malcolm Chalmers und Lutz Unterseher kamen bereits 1987 in der Studie “Is there a tank gap?” unter Berücksichtigung sehr vieler qualitativer, szenariengebundener Aspekte gar zum Schluß, daß die NATO eine leichte Kampfpanzerüberlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt in Mitteleuropa hat (Siehe: Chalmers, Unterseher, Is there a tank gap? A comparative assessment of the tank fleets of NATO and the Warsaw Pact, Oktober 1987)!

Auch wer dieses Ergebnis für unrealistisch hält, muß zugestehen, daß bei der Gegenüberstellung von Kräfteverhältnissen immer wieder die falsche Vergleichsgrundlage gewählt wird; so ist es allemal fragwürdig Kampfpanzer mit Kampfpanzer aufzurechnen. Das offensive Kampfsystem des WP sollte man zunächst nur in Beziehung setzen zu dem entsprechenden Defensivsystem der NATO. Gerade bei den Panzerabwehrwaffen, deren panzerbrechende Fähigkeiten selbst das modernste Kettenfahrzeug des Warschauer Pakts fürchten muß, erfreut sich das westliche Bündnis aber einer beachtlichen (nicht nur technischen) Überlegenheit (Siehe z.B. Admiral (ret.) Antoine Sanguinetti, Einseitiges Übergewicht oder Gleichgewicht der beiden Blöcke im Konventionellen Bereich, Occasional Papers Nr. 3, Generals for Peace and Disarmament, 1987/88 S.3f.).

Diese Diskussion könnte man bis in die entlegensten militärischen Details im Für und Wider weiterführen. Dies wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß es kein Monopol für die Beurteilung militärischer Kräfteverhältnisse gibt. Dieses können weder die NATO noch die WP-spezialisten für sich in Anspruch nehmen. Die konkrete zahlenmäßige Gestalt von militärischen Stärkerelationen ist immer auf die Interessengebundenheit ihrer Urheber, sowie ihrer politischen Zielsetzungen hin zu analysieren. Wichtig ist es, daß in Wien gemeinsame Zählkriterien vereinbart werden können.

Invasionsfähigkeit?

Die WP-Fähigkeit zu großangelegten Offensiven – in der Bundesrepublik hat sogar der Begriff “Invasionsfähigkeit” Karriere gemacht – scheint von maßgeblichen NATO-Kreisen hingegen vielfach überschätzt zu werden. Denn der Zeitfaktor spielt hier eine andere Rolle als beim Überraschungsangriff. Je länger eine WP-Offensive dauerte, desto stärker würden sich die überlegenen Eigenschaften der NATO-Streitkräfte wie Einsatzfähigkeit, Ausbildungsstand und Qualität der Waffensysteme auswirken. (Es erscheint daher überzogen, von einer “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Pakts zu sprechen. Denn dieser Begriff entstammt nicht etwa dem militärischen Vokabular, sondern wurde vor einigen Jahren aus Bonner Regierungskreisen politisch lanciert (siehe die Studie des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung von Wulf Lapins, Besitzt der Warschauer Pakt eine “Invasionsfähigkeit”?, Bonn 1987). Er überhöht die konventionelle Bedrohung durch den Warschauer Pakt. Mit einer “Invasion” verbindet man das feindliche Einrücken von Truppen in fremdes Gebiet (als raumbesetzende Operation); damit weckt dieser Terminus auch Vorstellungen einer irreversiblen Okkupation.

Einseitige SU-Reduzierungen

Von den 5300 Panzern, die Gorbatschow unilateral aus Ostmitteleuropa abziehen will, müßten nach Auflösung von sechs Panzerdivisionen und Rückverlegung von fünf Panzerausbildungsregimentern immerhin 2860 Panzer durch die Defensivstrukturierung der übrigen 24 sowjetischen Divisionen (10 Panzer- und 14 Mot-Schützendivisionen) frei werden. General Batenin konkretisierte dies im Februar 1989 gegenüber einer SPD-Delegation in Moskau. Nach einem bestimmten Modus sollen in den Mot. Schützendivisionen und Panzerdivisionen Panzerregimenter mit 95 Panzern durch Mot. Schützenregimenter mit 40 Panzern ersetzt werden. Zusammen mit dem Austausch bestimmter Panzerbataillone durch Mot. Schützenbataillone in ausgewählten Panzerregimentern der Panzerdivisionen ergibt sich in der Tat die von Gorbatschow angekündigte Gesamtgrößenordnung von 5300 Panzern (FR, 24.2.89, sowie antimilitarismus information, ami, Nr. 5/89, S. 5).

Zu diesen sowjetischen Maßnahmen kommen die Ankündigungen einseitiger Reduzierungen aus den meisten anderen WVO-Staaten. Die DDR z.B. baut ihre Streitkräfte um 10.000 Mann ab, löst 6 Panzerregimenter auf, reduziert 600 Panzer, 50 Kampfflugzeuge und ihren Verteidigungsetat um 10%.

Diese Initiativen werden im Westen zwar fast durchweg positiv, gleichwohl unterschiedlich bewertet. Es ist strittig, ob die sowjetischen Maßnahmen allein einen signifikanten Verlust an Offensivfähigkeit bedeuten oder nur eine “notwendige Anpassung an die veränderten Gefechtsfeldrahmenbedingungen” (FAZ, 6.3.89) darstellen. Nicht wenige Experten argumentieren, daß der Kampfkraftverlust der Streitkräfte auf dem Territorium der Sowjetunion eher gering ist.

Hans-Joachim Schmidt von der HSFK kommt aber insgesamt zum Schluß, daß die “Fähigkeit (des Warschauer Paktes) zum Angriff nach kurzer Vorbereitungszeit … weiter signifikant abgebaut und die Zeitdauer für die Mobilisierung erhöht” worden ist. Das östliche konventionelle Übergewicht sei zwar noch nicht abgebaut, aber “bedeutsam reduziert” (FR 24.2.89). Aber die NATO will nicht wahrhaben, was sich ändert.

Militärdoktrinen und Defensivität

“Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes hat ausschließlich Verteidigungscharakter” – so steht es in einem Dokument des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes vom 28./29. Mai 1987. An anderer Stelle heißt es: “Die Streitkräfte der verbündeten Staaten werden in einer Gefechtsbereitschaft gehalten, die ausreicht, um nicht überrascht zu werden. Falls dennoch ein Angriff gegen sie verübt wird, werden sie dem Aggressor eine vernichtende Abfuhr erteilen.” In welcher Form? Durch Gegenangriffe auf feindliches Territorium? Offensive Optionen innerhalb seines Verteidigungskonzepts schien der Warschauer Pakt nicht auszuschließen, wenn man u.a. liest: “Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind.” Diese Formulierung ließ zumindest offen, ob nicht auch offensive Operationen gegen feindliches Territorium durchgeführt werden sollen. Pauschale westliche Stellungnahmen, an dem offensiven Charakter der sowjetischen Militärdoktrin habe sich nichts geändert, reflektieren allerdings nicht die Implikationen der “eigenen” Doktrin und übersehen zudem die beachtlichen östlichen Zugeständnisse im militärischen Denken; denn die Sowjetunion hat in den letzten zwei Jahren viel unternommen, um ihrer Doktrin einen strikteren Defensivcharakter zu verleihen.

  1. Erstmals wurde die östliche Militärdoktrin vom Warschauer Pakt offiziell festgeschrieben (am 28./29. Mai 1987 auf der Tagung des Politschen Beratenden Ausschusses in Berlin).
  2. Zusätzlich wurden der NATO Gespräche über den Vergleich beider Doktrinen vorgeschlagen. Dabei soll gemeinsam der Charakter der Doktrinen und ihre zukünftige Ausrichtung erörtert werden. Der WP sieht seinen Vorstoß als vertrauensbildende Maßnahme, indem er zu einem besseren Verständnis der beiderseitigen Absichten beitragen und gewährleisten könnte, daß die Militärkonzeptionen und -doktrinen beider Militärblöcke und ihrer Teilnehmer auf Verteidigungsprinzipien beruhen. Ein Treffen der Verteidigungsminister Carlucci und Jasow im März 1988 in Bern diente diesem Zweck.
  3. Die qualitativen Veränderungen im sowjetischen militärischen Denken in den letzten Jahren sind beträchtlich. Zwei Punkte seien herausgegriffen:
  4. Die Führung von Präventivschlägen, um einem Angreifer zuvorzukommen, wird nicht mehr gefordert.
  5. Neue Definition des Begriffes »Aggression«; darunter wird nicht mehr die “Absicht zu einem Überfall” verstanden, was ja erhebliche Interpretationsspielräume zuließe, sondern nur noch der reale Beginn der feindlichen Operationen.

Neuerdings soll eine Verteidigung aufgebaut werden, die einen Angriff auf das Territorium der Warschauer-Vertrags-Staaten lediglich abwehrt und die nicht über Paktgrenzen hinausgeht. Auch die Lehrmittel und Instruktionen für die Ausbildung der Offiziere sind bereits im Hinblick auf eine defensive Ausrichtung der Doktrin umgestellt worden (Erklärung der SPD-Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs und Gernot Erler vom 14. Februar 1989 nach einer Informationsreise in die Sowjetunion). Die Tatsache, daß die östliche Dialogbereitschaft nun auch das Thema Militärdoktrinen nicht ausklammert, sollte vom Westen entschlossen genutzt werden.

Denn auch die NATO hat genügend Grund ihre eigenen offensiven Optionen zu reflektieren. Die Bundeswehr-Strategie der Vorneverteidigung, die amerikanische Heeresdoktrin Air Land Battle (ALB) und die NATO-Strategie Follow-on-Forces-Attack (FOFA) sehen im Fall eines WP-Angriffs innerhalb der “flexible response” massive Schläge gegen feindliches Hinterland und andere Formen offensiver Kriegsführung vor. Im Weißbuch 1985 steht der auch heute gültige Grundsatz: “Verteidigung kann nicht bedeuten, daß der Angreifer sein Territorium als Sanktuarium betrachten und das Schadensrisiko allein dem Angegriffenen aufbürden kann. Die Fähigkeit zur Bekämpfung des Gegners mit Waffenwirkung in der Tiefe ist schon seit langem Bestandteil der Strategie der Flexiblen Reaktion.” (BMVG, Weißbuch 1985, S. 28f.).

Hemmnisse: altes Denken, neues Denken

Die vielfach zu beobachtende Skepsis und Zurückhaltung westlicher Fachleute über die deklarierte Defensivorientierung der sowjetischen Militärdoktrin (siehe z.B. Gerhard Wettig in Aussenpolitik II/1988, S. 172ff.) nährt sich aus nicht überwundenem Mißtrauen gegenüber einer angeblich ungebrochenen aggressiven Tendenz des Kommunismus.

Der »Leitfaden« des Hardthöhen-Generalinspekteurs Wellershoff nimmt hier eine Extremposition ein. Dieses Kompendium war als interne militärpolitische Argumentationshilfe gedacht und ging Mitte März 1989 an alle Kommandeure der Bundeswehr. Dort heißt es zum Beispiel: “Es zeichnet sich keine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik ab. Geändert haben sich vor allem Stil, Taktik und Klima der politischen Auseinandersetzung” (zit. nach Stuttgarter Zeitung, 16. März 1989). “Auch »Friedliche Koexistenz« und Abrüstungsverhandlungen bedeuten nicht etwa Stillstand oder Abbruch der Auseinandersetzung, sondern lediglich eine Phase, die zur Schwächung des Gegners genutzt werden soll, z.B. durch verstärkten ideologischen Kampf.” (zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 15.3.1989). Wellershoff kommt zum Schluß, “daß sich am grundlegenden Ziel, dem “Sieg des Kommunismus” im Weltmaßstab nichts geändert habe (siehe auch taz, Express v. 15.3.89).

Gegen eine solche Sichtweise sprechen die programmatisch-ideologischen Neuerungen der »Perestroika» für die Außenpolitk:

  1. Verzicht auf eine finale geschichtsphilosophische Perspektive, die von Lenin bis Breschnew das östliche staatskommunistische Denken prägte. Die Geschichte ist offen. Die Behauptung eines Sieges des Kommunismus im Weltmaßstab wird nicht mehr weiter aufrechterhalten.
  2. Damit verliert auch die »Friedliche Koexistenz« ihren “janusköpfigen Charakter”. Dieses Prinzip ist nicht mehr einem geschichtsnotwendigen “Meisterplan zur Weltrevolution” verpflichtet, ist nicht mehr lediglich eine “Atempause” im mörderischen Kampf mit dem “kapitalistischen Lager”. “Die Konzeption der Friedlichen Koexistenz wird im »Neuen Denken« vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck weiterentwickelt”, der sich nur noch der friedlichen Gestaltung der Gegenwart verpflichtet ist. Sie wird zu einer den Status quo achtenden “neuen Theorie des Friedens” (Karsten Voigt in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 4/1989, S. 308f.).
  3. Betonung und Begrüßung der Vielfalt der Welt. Damit verbunden eine Absage an Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das gilt auch für die eigenen Verbündeten: der auch früher zumindest deklaratorisch geltende Grundsatz von den “verschiedenen Wegen des/zum Sozialismus” wird heute voll umgesetzt. Moskau läßt den ungarischen Kurs hin zu einem demokratischen Mehrparteiensystem ebenso gewähren wie den dogmatischen Kurs der DDR. Nie war das alte Wort vom Polyzentrismus zutreffender als heute.
  4. Verzicht auf “Revolutionsexport”. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan ist das spektakulärste Beleg dafür, daß Moskau nicht mehr in alten Kategorien des Bipolarismus denkt. Infiltrationen, Okkupationen und Stellvertreterkriege in der »Dritten Welt« für zweifelhafte Geländegewinne im Ost-West-Konflikt gehören der Vergangenheit an.
  5. Ebenso die Vorstellung von der Weltpolitik als globalisierter Klassenkampf. Im Neuen Denken ist der zentrale Bezugspunkt nicht mehr eine Klasse, sondern die Menschheit als Ganzes. “Der weitere Friedensprozeß ist jetzt nur über den Weg eines allgemeinmenschlichen Konsenses zur Schaffung einer neuen Weltordnung möglich”, sagte Gorbatschow in seiner UN-Rede vom 7. Dezember 1988.

Diese zentralen Aspekte des außenpolitischen Credos der Perestroika werden in überzeugender Weise durch die bahnbrechenden innersowjetischen Reform- und Demokratisierungsprozesse beglaubigt.

Wer diese gravierenden und komplexen Entwicklungen in der UdSSR ignoriert, verrät einen erschreckenden Mangel an (real)politischer Phantasie und Konzeptlosigkeit. Er flüchtet in (irreale) rückwärtsgewandte Negativutopien des hochgerüsteten Blockantagonismus aus Zeiten des Kalten Krieges. “Zum ersten Mal in der Geschichte des (NATO) Bündnisses droht sein potentieller Gegner oder Feind, die Bedrohung wegzunehmen.” (Egon Bahr auf der 26. Wehrkundetagung in München, zit. nach Manuskript, 12.1.89). Das kann doch nun nicht heißen, das die derzeitige militärische Gestalt der NATO quasi zeitlos gültig und unangetastet bleibt.

Die Perestroika ist ein Angebot, gemeinsam mit dem Westen das internationale Staatensystem zu reformieren. Diese Offerte sollte nach eingehender Prüfung energisch genutzt werden. Eine Voraussetzung hierfür aber ist die Bereitschaft der NATO, sich auf die antizipierte Logik neuer kooperativer Formen der Weltpolitik einzulassen.

V. Die Diskussion und der politische Prozess in der Bundesrepublik

Abrüstung-Militär-Akzeptanz-Öffentlichkeit

Die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und die Diskussion, die um die konventionelle wie die weitere nukleare Abrüstung geführt werden, unterscheiden sich wesentlich von der Stimmungslage, wie sie die Auseinandersetzung um die Pershing II und die Cruise Missiles kennzeichnete. 1988/1989 ist nicht 1983. Es gibt heute neue Ideen, veränderte Kräfteverhältnisse, drängende globale Notwendigkeiten und durch die Friedensbewegung eine neue Form der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Politik von Glasnost und Perestroika hat zu einem Schwinden der Bedrohungsgefühle gegenüber den osteuropäischen Staaten geführt. Das alte Feindbild schwindet, gleichzeitig verliert die Politik der militärischen Stärke und der Androhung wechselseitiger nuklearer Selbstvernichtung an Akzeptanz. In Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verstärken sich angesichts der Perzeption einer zunehmenden Verwundbarkeit unserer hochindustrialisierten Zivilisation die Zweifel an jeder Art von militärischer Verteidigungspolitik. Fast alle Entscheidungen der Bonner Regierungskoalition in Sachen Militär, Abrüstung und Rüstungskontrolle waren von diesen Rahmenbedingungen geprägt. Das gilt für die halbherzige Kanzlerentscheidung zum Verzicht auf die Pershing IA wie für die Rücknahme der umstrittenen Wehrdienstverlängerung auf 18 Monate. Die Dominanz einer antinuklearen Stimmung in der Bevölkerung ist offensichtlich und schafft andere Voraussetzungen für die Zuspitzung der Diskussion um die anstehenden Abrüstungsperspektiven.

Auch die innenpolitischepolitische Diskussion in der Bundesrepublik um die konventionelle Abrüstung spiegelt diese veränderten Bedingungen. Sie oszilliert zwischen atavistischen Rückfällen in nukleares Stärkedenken, Versuchen durch symbolische Akte dem antinuklearen und antimilitaristischen Trend die Spitze zu nehmen und kompromißhafter Hilflosigkeit im Hinblick auf die eigenständige Formulierung von Abrüstungsinteressen der Bundesrepublik vor allem gegenüber den USA in einer Phase tiefgreifenden europäischen Wandels. Die Rangeleien um den jüngsten Koalitionskompromiß zur Frage der Bonner Haltung in der »Modernisierungs“frage vor dem Brüsseler NATO-Gipfel sind ein Beispiel dafür. Dem Umbruch in der Sowjetunion steht noch kein gleichwertiges Äquivalent im Westen oder in der Bundesrepublik gegenüber. Die innenpolitische Situation zeigt zudem eine große Asymmetrie der treibenden Kräfte für ein Konzept konventioneller Abrüstung. Um heute jedoch – im Gegensatz zu dem Ziel der Verhinderung einer qualitativ hochwertigen Aufrüstungsmaßnahme – das anspruchsvollere positive Ziel einer weitergehenden und tiefergreifenden konventionellen Abrüstung in ganz Europa durchzusetzen bedarf es aber eines umfassenderen gesellschaftlichen Konsenses (Wolfgang Zellner, Das Mandat von Wien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/1989).

Die weitestgehende Position in der Bundesrepublik vertritt die

SPD: Überwindung der Abschreckung…

In ihrem Parteitagsbeschluß von Münster fordert sie im Rahmen ihres Willens zur Überwindung der Abschreckung, “in Europa einen Zustand des gesicherten Friedens durch strukturelle Angriffsunfähigkeit beider Seiten auf möglichst niedrigem Niveau der Streitkräfte zu schaffen”. Gleichzeitig fordert sie explizit einen über das Genfer Mandat hinausgehenden Verhandlungsbereich: “Die Verhandlungen…sollten das Ziel haben, die Streitkräfte so zu vermindern, daß sie verteidigungsfähig, aber strukturell zu einem Angriff unfähig sind. Dabei müssen selbstverständlich auch die Luftstreitkräfte von Anfang an einbezogen werden.” Die Sozialdemokraten fordern “die Halbierung der heutigen NATO-Streitkräfte und eine darüber hinausgehende Verminderung der offensiven Waffensysteme, verbunden mit Stationierungsbeschränkungen zur Verhinderung angriffsfähiger Konzentrationen” als “Maßstab gleicher Obergrenzen mit den Streitkräften des Warschauer Paktes”. Diese gleichen Obergrenzen in Höhe von etwa 50 Prozent der heutigen NATO-Bestände sollen für schwere Kampfpanzer und Artilleriesysteme (Geschütze und Werfer) gelten, verbunden mit einer Dichtebeschränkung, die angriffsgeeignete Truppenkonzentrationen verhindert. Gleiche Obergrenzen von ca. 50 Prozent sollen auch für die NATO-Bestände für Kampfflugzeuge und für Kampfhubschrauber gelten. Diese Reduzierung um 50% ist als Übergang zu weiterer Abrüstung gedacht. Zusätzlich sollen Munitionsvorräte und offensiv nutzbares Brückengerät beschränkt werden. Die SPD verlangt zudem “eine Reichweitenbeschränkung auf ca. 50 km für alle unbemannten Flugkörper mit konventionellen Sprengköpfen”. In dem vom Parteitag angenommenen Leitantrag wird die Einsetzung einer gemeinsamen “High Level Task Force” von NATO und Warschauer Pakt empfohlen, “die den Auftrag erhält, innerhalb eines Jahres die Details für ein Kräfteverhältnis struktureller Angriffsunfähigkeit zu erarbeiten und die Militärdoktrin und Strategien aufeinander abzustimmen.” Außerdem wird die Entfernung aller schweren angriffsfähigen Waffen aus dem von der Palme-Kommission vorgeschlagenen Korridor entlang der Blockgrenzen vorgeschlagen.

(Parteitag der SPD in Münster, 30.8.-2.9.1988, Beschlüsse, Antrag A1, Parteivorstand, Frieden und Abrüstung in Europa, S. 695ff.) Ferner sprechen sich die Sozialdemokraten für drei weitere Null-Lösungen bei atomaren Gefechtsfeldwaffen (Artillerie) Kurzstreckenraketen und luftgestützten atomaren Mittelsystemen aus.

…und dritte Null-Lösung

Zu Beginn der Wiener Abrüstungsverhandlungen präzisierte SPD-Präsidiumsmitglied Egon Bahr die Haltung seiner Partei und forderte, “parallel zu den konventionellen Verhandlungen möglichst noch in diesem Jahr Verhandlungen über Atomwaffen mit der Reichweite von weniger als 500 Kilometer” aufzunehmen. Es sei “unakzeptabel”, so Bahr, “eine neue Grauzone zu schaffen, auf die sich neue Aufrüstungsbemühungen der Beteiligten konzentrieren, sei es durch eine neue Rakete als Lance-Nachfolger oder eine sowjetische Antwort darauf…Das Ziel der Verhandlungen sollte ein niedriges Niveau der konventionellen Streitkräfte sein, etwa die Hälfte dessen, was die NATO heute hat, bei Vorteilen für den Verteidiger.” Mit diesen Verhandlungszielen seien aber für die SPD im Hinblick auf die Ausrichtung der NATO-Strategie weitergehende Zielvorstellungen verknüpft, da diese Reduktionen notwendig “Strukturveränderungen” zur Folge hätten, “also Ausdünnungen mit unausweichlichen Änderungen der bisherigen strategischen Überlegungen.

Zwischen Modernisierungsverhinderung…

Auf der außerparlamentarischen Seite der Opposition, auf Seiten der Friedensbewegung gibt es außer einem ganz allgemein gehaltenen Bekenntnis zur konventionellen Abrüstung und zu “tiefgreifenden, einseitigen Abrüstungsschritten auf Seiten der NATO” (Aufruf zur Demonstration der Friedensbewegung am 10. Juni in Berlin: Das Denken modernisieren – Gerechtigkeit und Frieden brauchen Abrüstung, Flugblatt, Bonn 1989) keine weitergehende Befassung mit der Problematik. Die Friedensbewegung richtet ihre Aktionen fast nur gegen die »Modernisierung« der NATO.

und einseitigen Abrüstungsforderungen…

Auch die GRÜNEN haben bislang außer einem abstrakten Bekenntnis zur vollständigen Entmilitarisierung, Demobilisierungsforderungen und dem Verlangen nach einseitiger Abrüstung keine umfassende Gesamtkonzeption von Entmilitarisierung und Denuklearisierung aufzubieten, die – unter Einschluß einseitiger Schritte – darauf orientiert – die beiden Blöcke in einem wechselseitig aufeinanderbezogenen Prozeß zu einer neuen Friedensstruktur kommen zu lassen.

Die sozialdemokratischen Konzepte zur konventionellen Abrüstung und zur defensiven Umorientierung stammen in der Regel aus den Reihen der Friedensforschung. Hervorgetreten im Vorfeld der Wiener Verhandlungen sind erneut der ehemalige Bundeswehr-General Gerd Schmückle und der Starnberger Forscher Albrecht von Müller, die in einem neuen Abrüstungskonzept für die NATO zu der Auffassung gelangt sind, daß eine Obergrenze von 10.000 Panzern auf beiden Seiten und 5000 Artilleriegeschütze eine ausreichende Bewaffnung darstellen. Dabei soll jeweils nur die Hälfte dieser Systeme im zentraleuropäischen Raum stationiert sein.

Der SPD-Politiker Andreas von Bülow hatte bereits für die Minimalmarge von 5.000 Panzern pro Bündnissystem plädiert. (Interview in »frontal«-Magazin, April 1988) Dieser klaren abrüstungspolitischen Orientierung auf Seiten der Sozialdemokraten steht ein schwankendes und uneinheitliches Bild der die Bundesregierung tragenden Kräfte gegenüber.

Bundeskanzler Kohl sprach noch zu Beginn der VKSE-Konferenz – ohne weitere konkrete Perspektiven aufzuzeigen – ungenau von einer historischen Chance und einem “Markstein” zu einer Friedensordnung, warnte aber zugleich vor zu großen Erwartungen (Bonner Generalanzeiger vom 6.3.1989).

Die Kontrahenten: Genscher – Scholz

Die eigentlichen Kontrahenten im Regierungslager waren jedoch bis zur Kabinettsumbildung im April 1989 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der damalige Verteidigungsminister Prof. Rupert Scholz (CDU). Der Außenminister ist seit einigen Jahren nicht müde, die Veränderungen der Positionen und der Taten in der UdSSR zu loben. Genscher beharrt auf der Position, die “neue sowjetische Offenheit beherzt und entschlossen nutzen” (FAZ vom 29.4.1989). Für die Umbruchperiode im Ost-West-Verhältnis hatte er immer wieder zum Ärger der Unionsrechten den Begriff »Gezeitenwechsel» gefunden. Genscher lobte die Perestroika, die eine “Vertrauensbildung und eine Stabilisierung der internationalen Beziehungen auf kooperativer Grundlage” bei gleichzeitigem Abschied von dem Kampf der Systeme und einer Absage an die Ideologisierung der sowjetischen Außenpolitik gebracht habe. Die Vorgänge in der Sowjetunion nannte er “unumkehrbar”. Genscher mit Blick auf seinen sicherheitspolitischen Widersacher: “Diese Entwicklung liegt in unserem Interesse. Wir sollten ihr mit einer konstruktiven Grundhaltung begegnen. Abwarten und Skepsis würden unsere eigenen Interessen schädigen, würden uns zum Statisten der Weltgeschichte machen, anstatt uns in die Lage zu versetzen, die historische Chance einer durchgreifenden Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses beherzt zu nutzen (Süddeutsche Zeitung vom29. 7. 1988).

Abschreckung erhalten

Scholz dagegen sprach in der Regel von Hoffnungen, denen Realitäten erst noch folgen müssten. Gorbatschows Politik müsse in “ihren tatsächlichen Auswirkungen und ihren Entwicklungsperspektiven für das Ost-West-Verhältnis noch sehr genau und sehr sorgfältig beobachtet und untersucht werden …dieser Weg ist noch mit vielen Ungewißheiten und offenen Fragen gepflastert.” (Rede auf der 6. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für die NATO nahm er ohne jede Abstriche in Anspruch, sowohl strikt defensiv zu sein, als auch “kein Feindbild, das wir nie hatten”, abbauen zu müssen. Scholz beharrte – in deutlichem Gegensatz zu Genschers Formel, daß die Abschreckung zumindest ein zweites Sicherheitsnetz benötige, – klar auf der Abschreckung und qualifizierte die Gorbatschowsche Politik des Ausstiegs aus der Abschreckung groteskerweise als Ziele ab, “die keineswegs einem neuen Denken zu entspringen scheinen.” Trotz der bis dahin überreichlich vorhandenen Vorschläge des Warschauer Paktes zum Abbau von Asymmetrien beharrte er auf der Einschätzung, es sei “offensichtlich daß eine Erfüllung dieser Forderungen die vorhandene militärische Überlegenheit des Warschauer Paktes noch mehr zur Wirkung bringen würde.”

“Das operative Minimum”

In Anlehnung an sozialdemokratische Begriffsbildungen kreierte Scholz zwar das “Konzept gegenseitiger Sicherheit”, daß “von keiner Seite mehr als den Verzicht auf absolute militärische Sicherheit” verlange, mithin “die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit einzuräumen.” Eine Abrüstungsperspektive sucht man aber in diesem Konzept vergeblich, da der Minister für die NATO behauptete, daß im Rahmen der “klassischen Defensivausrichtung ihrer Strategie der Umfang ihrer Streitkräfte für die grenznahe Vorneverteidigung zu gering sei. Schon das notwendige “operative Minimum ist bereits größer, als die NATO heute an präsenten, rasch verfügbaren Kräften bereitstellen kann.” (Sicherheit in Europa, Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung am 12. September 1988, Bulletin der Bundesregierung, Nr.114 vom 15. 9. 1988). Wenig später relativierte er zwar die 95-Prozentorientierung bei den Reduzierungsvorschlägen der NATO für die VKSE-Verhandlungen, die gegebenenfalls “kein Dogma” sein dürften, sprach aber vor Beginn der Verhandlungen wiederum von “dem gigantischen Militärpotential, das die Sowjetunion gerade in Europa aufgetürmt hat” und lehnte mit Blick auf die Gorbatschow-Initiative vor der UNO einseitige Vorleistungen des Westens strikt ab (Zum Beginn der VKSE, Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989).

Demgegenüber verfolgte Außenminister Genscher eine konstruktivere Linie. In einem vielbeachteten Namensartikel in der »Frankfurter Rundschau« vom 7.4.1988 forderte er die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und eine Absage an den Gedanken, konventionelle Ungleichgewichte mit taktischen Nuklearwaffen ausgleichen zu wollen. Genscher verlangte in dem vom Bundessicherheitsrat abgesegneten Gesetz Verhandlungen über den asymmetrischen Abbau der Waffengattungen, die die Sowjetunion begünstigten: Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie mit dem Ziel “gleiche Obergrenzen nur leicht unter dem Niveau der schwächeren Seite durchzusetzen. In einer langfristigen Perspektive sollten dann weitergehende Reduzierungen erfolgen. (Konventionelle Stabilität-Kernproblem europäischer Sicherheit, Frankfurter Rundschau vom 7.4.1989).

Rühe auf SPD-Kurs

Ebenso für ein flexibleres, längerfristig angelegtes Konzept plädierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, mit dem er die im Wettstreit um Konzepte zur konventionellen Abrüstung erklärtermaßen zumindest öffentlich in die Defensive geratene NATO wieder in eine Initiativposition manövrieren wollte. Rühe schlug eine weitere Halbierung des bereits auf gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau (85% des NATO-Niveaus) reduzierten kampfentscheidenden Großgeräts vor und die Überführung des herausgelösten Materials in Depots: “Die Verhandlungsformel für diesen Schritt heißt also: gleiche Obergrenzen minus 50 Prozent”. Dies seien, so Rühe “deutliche Opfer und Einschnitte”. (Als Ziel ein Europa mit weniger Panzern, Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1988) Damit war Rühe mit ein paar rhetorischen Verrenkungen und Windungen schließlich bei dem schon skizzierten Konzept des SPD-Parteitages von Münster angekommen. Ein Unterschied freilich bleibt bestehen. Rühe will keinen Verzicht auf die atomare Abschreckung. Voraussetzung bleibt auch für ihn die Aufrechterhaltung der Abschreckung, “die auf einem Mindestmaß an Nuklearwaffen besteht.”

Damit wird der enge Zusammenhang der konventionellen Abrüstung mit der nuklearen »Modernisierungs«-Diskussion deutlich. Da das Kriterium für den Verzicht auf nukleare Kurzstreckensysteme die Herstellung konventioneller Stabilität sei, so der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Lamers, gehe es bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung nicht nur um konventionelle, sondern zugleich um atomare Waffen. Damit markierte er zugleich eine verhaltene Positionsbestimmung zugunsten einer dritten Null-Lösung. (Karl Lamers: Konventionelle Abrüstung in Europa. In: aus politik und zeitgeschichte, B18/1988, 29.4.1988)

An dem damit angesprochenen Punkt der taktischen Nuklearwaffen wird das ganze zerrissene Dilemma der Bonner Politik der “manifesten Panik” (FAZ vom 20.4.1989) zwischen nuklearer Nibelungentreue zum Bündnis, zwischen dem öffentlichen Druck der stärker an Unterstützung gewinnenden politischen Perspektive einer von Atomwaffen befreiten Welt und der Betroffenheit als potentieller Kriegsschauplatz in der Mitte Europas deutlich. Diese halbherzige Position führt im Effekt dazu, daß substantielle Abrüstungsziele auch im konventionellen Bereich entweder nicht formuliert werden können oder nicht formuliert werden wollen.

Dregger: Verminderung der taktischen Nuklearwaffen

Die Interessenlage im konservativen Lager ist dabei alles andere als eindeutig. Selbst Alfred Dregger treibt die Erkenntnis, daß “die dichtbesiedelte Bundesrepublik atomar vernichtet, aber nicht atomar verteidigt werden ” kann. Noch im April 1989 erneuerte Dregger die Forderung, das Gesamtkonzept der NATO mit einer Abrüstungsinitiative des Westens bei atomaren Kurzstreckenraketen zu verbinden. (Alfred Dregger: Entwurf einer Sicherheitspolitik zur Selbstbehauptung Europas. Europäische Wehrkunde, 12/1987, FAZ vom 10.4.1989). Demgegenüber behauptete der Kanzler noch fest: “Eine wirksame Abschreckung ist ohne auf dem zu verteidigenden Territorium stationierte Nuklearsysteme nicht glaubwürdig.” (Die Welt vom 14.12.1988)

Galvin: auf keine Aufrüstung verzichten

Der NATO-Oberkommandierende General Galvin machte denn auch schon deutlich wohin die defensive und alles andere als abrüstungsorientierte Diskussion weist. Nämlich auf eine Erneuerung des taktischen Nuklearpotentials auch dann nicht zu verzichten, wenn die Sowjetunion von ihrem konventionellen Übergewicht entscheidend herabrüste. (Interview in Die Zeit vom 23.9.1988) Welche politischen Ziele hinter dieser Haltung stehen, hatte bereits 1987 der damalige Bundesverteidigungsminister Wörner formuliert: “Die abschreckende Wirkung taktischer Nuklearwaffen ist um so größer, je tiefer diese Waffen in den Warschauer Pakt hineinreichen. Das heißt, zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.” (FAZ vom 30.6.1987)

Der Koalitionskompromiß

Der kurz nach der letzten Kabinettsumbildung gefasste Koalitionskompromiß enthält beide Elemente der widerstrebenden Auffassungen zu diesem Problem: Aufrüstungs- und Abrüstungsbereitschaft. Er erfüllt so hervorragend die Funktion, sich weiterreichende Perspektiven zugunsten einer Abrüstungsoption im nuklearen Kurzstreckenbereich offenzuhalten- dies auch aus Gründen populistischer Anbiederung – offenzuhalten, zugleich aber die Sowjetunion mit dem Offenhalten einer Aufrüstungsoption politisch unter Druck zu halten.

Zwischen diesen Polen schwankt die Bundesregierung. Kanzler Kohl sprach in seiner Regierungserklärung vom 27.4.1989 zwar von der Möglichkeit von “Verhandlungen über die nuklearen Kurzstreckenraketen…mit dem Ziel…die bestehenden Ungleichgewichte durch drastische Reduzierungen und gleiche Obergrenzen abzubauen”, verblieb aber damit ebenfalls im Rahmen der Abschreckung, da er die Formulierung der Null-Lösung vermied. (Bulletin, 28.4.1989) Die unnachgiebige Haltung machte der CSU-Abgeordnete Graf Huyn in der Debatte über die Regierungserklärung deutlich, als er “sich für eine Modernsierung und gegen Verhandlungen vor einem Vollzug konventioneller Abrüstung” aussprach (FAZ vom 29.4.1989) Dahinter steckt die Vorstellung, die Sowjetunion in ihrem Willen nach Abrüstung mit der Ablehnung der Dritten Null-Lösung unter Druck zu halten und so konventionell entwaffnen zu können: “Aus militärischer Sicht ist daher das Ziel von KRK etwas konkreter zu formulieren. Es gilt, die Streitkräfte des Warschauer Paktes unter das Invasionsminimum zu reduzieren, der NATO jedoch das Verteidigungsminimum zu erhalten.” (Karl-Heinz Kamp: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural – Sachstand und Probleme. aus politik und zeitgeschichte, b8/89 vom 17.2.1989). Wobei ja bereits Verteidigungsminister Scholz festgestellt hatte, das das “operative Minimum” der NATO schon jetzt gefährdet sei. Bewußt offen bleibt dabei natürlich, wie diese Begriffe konkret zu füllen sind.

Da die USA ihre Position aber offenkundig im Bündnis unter allen Umständen durchsetzen wollen, sah die FAZ bereits das Horrorbild einer ihrer nationalen Souveränitäten beraubten Staatenallianz heraufschimmern und prophezeite: “Die Zeichen stehen auf Sturm.” (FAZ vom 20.4.1989) Der Koalitionskompromiß steht auch insofern für gewachsene Konfliktbereitschaft der Bundesregierung nationale Interessen im Bündnis stärker zu vertreten. Hieran gilt es anzuknüpfen.

Im Banne der Abschreckungsparadoxie

Hinter dieser verkeilten Interessenlage steht nichts anderes als die zunehmende Unverantwortbarkeit einer Militärstrategie, die das, was sie zu verteidigen vorgibt, gleichzeitig aber ständig als Verfügungsmasse möglicher Vernichtung kalkuliert.

Eine friedenspolitische Perspektive der Entmilitarisierung und Denuklearisierung vermag und will sich die NATO jedoch trotz der Tatsache, daß sie mit der Abschreckung in die Sackgasse geraten ist, nicht vorstellen. Noch immer windet sie sich in dem nur noch semantisch auflösbaren Dilemma, die Verteidigung der USA mit der Europas verkoppeln zu wollen: Der ausgeschiedene Verteidigungsminister Scholz konnte als Antwort auf die Frage nach der Strategie der Zukunft nur ein “weiter so” formulieren: “Es ist eine permanente Aufgabe der militärstrategischen Konzeption der NATO, die Spannung zwischen den Maximen der Konflikteindämmung und der Risikoausweitung zu überbrücken.” (“Europäische Sicherheit” –Rede auf der 26. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für den SPD-Politiker Andreas von Bülow ist die hinter dieser Position stehende Sichtweise, Frieden nur als Resultat nuklearer Abschreckung definieren zu können, ein “Entmündigungsbescheid”, bei dem nur diejenigen, die den nuklearen Schirm spannen, zu bestimmen hätten. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Bei diesen Positionen ist es nicht verwunderlich, daß die NATO auch keine eigenständige Antwort jenseits der Abschreckung auf die entscheidende Zukunftsfrage zu formulieren vermag: “Wie sollte sicherheitspolitisch Europa im Jahre 2000 aussehen?…Jetzt könnte erstmalig eine Krise der Glaubwürdigkeit entstehen, wenn nämlich seine Bürger den Eindruck gewinnen würden, das Bündnis sei nicht abrüstungswillig oder -fähig.” (Egon Bahr. Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989)

VI. Druck auf tiefergehende Abrüstungsschnitte

In der Fachdiskussion wie in der öffentlichen Meinung verstärkt sich allerdings der Druck auf ein umfassendes Abrüstungskonzept im konventionellen Bereich. Annäherungen an die von einer fortschrittlichen, europäischen, weiterreichende Abrüstungsschnitte befürwortende Sichtweise war bereits 1987 in den Vereinigten Staaten durch eine Studie des Forschungsdienstes des US-Kongresses zum Ausdruck gekommen. Ein für den demokratischen Abgeordneten Stephen Solarz verfasster Bericht gelangt zu dem Resultat, daß die Aussichten auf eine Stärkung der konventionellen Streitkräfte, wie sie die USA seit langem von den westeuropäischen NATO-Mitgliedern fordern, sehr gering sind.

Als Alternative schlugen sie vor, daß in den anstehenden Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung die NATO zunächst auf die Entfernung und Zerstörung aller amerikanischen und sowjetischen nuklearen, chemischen und konventionellen Kurzstreckenraketen aus dem Reduktionsgebiet dringen solle und auch die Kampfbomber daraus entfernen solle. Damit solle die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf die NATO reduziert werden. Neu an der Studie war, daß die amerikanische Demokratische Partei die atomare Abrüstung offensichtlich nicht weiter mit der konventionellen Rüstungsverstärkung koppeln will. Damit wurden erste Anklänge an das SPD-Konzept der »strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« sichtbar. (Congressional Research Service/Library of Congress (CRS): Report for Congress. Conventional Arms Control and Military Stability in Europe. Washington, Oktober 1987)

Bereits Anfang 1988 hatte der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr nach Beratungen der sogenannten „Skandi-Lux-Gruppe» in Bonn, einem informellen Gremium sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien Norwegens, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs für die Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich eine so weitgehende Abrüstung vorgeschlagen, daß die auf beiden Seiten verbleibenden konventionellen Waffen die Anwesenheit landgestützter amerikanischer Atomwaffen in Europa nicht mehr rechtfertigten. (FAZ vom 1.3.1988)

Reduzierung um 50 Prozent

In der Zwischenzeit hat sich der frühere NATO-Oberkommandierende in Europa, US-General Goodpaster in die Diskussion um die konventionelle Abrüstung eingeschaltet und mit einem eigenen Vorschlag den Finger in die Wunde des marginalen NATO-Lösungsansatzes gelegt. Goodpaster “hat auf eine Halbierung der Truppen der NATO und des Warschauer Paktes gedrängt und damit im US-Senat beträchtliches Aufsehen erregt. Beide Bündnisse sollten bis Mitte der 90er Jahre in Europa auf die Hälfte ihrer derzeitigen Stärke abrüsten und eine von schweren Waffen freie Zone schaffen, sagte Goodpaster… vor dem Streitkräfteausschuß des Senats. Die nach einer Halbierung verbleibenden Waffen sollten umgruppiert werden. Das Angebot der NATO, die Zahl ihrer Panzer und Artillerie um bis zu zehn Prozent zu verringern, sei nur als Ausgangspunkt angemessen. Wenn die NATO nicht weiter gehe, würde dies nicht den Interessen der westlichen Länder dienen.” (Kölner Stadt-Anzeiger, 8./9. 4. 1989).

Ein weiterer in dieselbe Richtung zielender Vorschlag wurde kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt. In einem “Alternativen Gesamtkonzept für Verteidigung und Abrüstung der NATO” schlugen so bekannte Forscher und Politiker wie die früheren SIPRI-Chefs Frank Blackaby und Frank Barnaby, der frühere CIA-Chef William Colby, der deutsche Admiral Elmar Schmähling sowie der ehemalige Chef der US-Abrüstungsbehörde, Paul Warnke am Vorabend der Präsentation des offiziellen Gesamtkonzeptes der NATO zeitgleich in Brüssel, Bonn, Washington und London “langfristig ein Europa (vor), in dem die internationalen Beziehungen demilitarisiert worden sind.” Das vom British-American-Security-Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group in Großbritannien und dem Committee of National Security in den USA entwickelte Konzept spricht angesichts des Prozesses in der Sowjetunion im Gegensatz zu dem vor Jahren immer benutzten Begriff vom “Fenster der Verwundbarkeit” von einem “Fenster der Möglichkeiten”. Die Studie schlägt der NATO vor, mit dem Tabu der einseitigen Abrüstung zu brechen und parallel zu den Wiener Verhandlungen mit der Verschrottung der atomaren Artillerie zu beginnen. Ziel der Verhandlungen soll ein System gemeinsamer Sicherheit sein, am Ende des Abrüstungsprozesses müsse eine Umstrukturierung beider Militärblöcke zu Defensivbündnissen stehen. Dazu biete sich auch eine Defensivzone ohne Angriffswaffen entlang der Blockgrenze an. (The »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO from Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989)

Zu den anstehenden Verhandlungen in Wien hat auch die Sachverständigengruppe Sicherheitspolitik der Deutschen Kommission Justitia et Pax ein ausführliches Gutachten beigesteuert. Die sicherheitspolitischen Berater der katholischen Kirche fassen darin ihre Vorschläge in mehreren Empfehlungen für beiderseitiges kooperatives Vorgehen zusammen, die die Beseitigung der konventionellen Offensivfähigkeiten beinhaltet. Dabei gehe es vorrangig um die Beseitigung von Übergewichten, Reduzierung der Streitkräfte sowie deren Umstrukturierung im Sinne einer wirksamen Einschränkung der Offensivfähigkeiten und nicht um die bloße Herstellung von Parität. Die katholischen Experten fordern gleichzeitig die Reduzierung der nukleartaktischen Potentiale. (Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa, Kommission Justitia et Pax, Bonn 1989)

VII. Schlussfolgerungen

  1. Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte bieten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa die Chance zu weitreichenden Rüstungsschnitten und zur Einleitung eines Prozesses defensiver Umwandlung der militärischen Blockkonfrontation, an dessen Ende der Aufbau einer politischen Friedensordnung stehen könnte.
  2. Das Verhandlungsmandat läßt eine große Übereinstimmung in den Kriterien und Bereichen für diese Umwandlung und damit politischen Willen für diesen Prozeß erkennen.
  3. Die Staaten des Warschauer Paktes haben bereits einseitig mit Reduzierungen begonnen, beginnen ihre Militärdoktrinen defensiv umzustellen und haben einen Verhandlungsvorschlag vorgelegt, der offen ist für weitergehende Schnitte in allen Rüstungsbereichen.
  4. Mit dem Vorschlag, auf ca.95 Prozent des jetzigen Niveaus der NATO-Streitkräfte herabzurüsten, steht dem ein marginaler, defensiver Lösungsansatz der NATO gegenüber, der im wesentlichen auf dem status quo beharrt. Zudem läßt sie keinerlei kritische Überprüfung und Änderung ihrer bisherigen Militärstruktur erkennen.
  5. Das Konzept der NATO zielt im weiteren auf eine Kombination von Abrüstung (im konventionellen Bereich) und Aufrüstung (im nuklearen Bereich). Ziel ist eine erhebliche konventionelle Entwaffnung der Sowjetunion, gleichzeitig soll auf westlicher Seite die Abschreckung auf qualitativ verbessertem Niveau neu installiert werden. Damit wird der Prozeß konventioneller Abrüstung behindert. Als größtes Hindernis, den Abrüstungsprozeß vertraglich voranzutreiben, stellt sich die Weigerung der NATO dar, auf die Modernisierung ihres taktischen Nuklearpotentials zu verzichten.
  6. Aufgrund der Kompliziertheit der Verhandlungsmaterie, der Vielzahl der beteiligten Interessen und Verhandlungsteilnehmer besteht die Gefahr einer über lange Jahre sich hinziehenden Verzögerung und Verwässerung des Prozesses und eines Erlahmens des öffentlichen Interesses und des politischen Willens an diesem Prozess.
  7. Gleichzeitig gibt es eine sich verschärfende Akzeptanzkrise für die Abschreckungsstrategie der NATO und die Strategie militärischer »Verteidigung« generell. Die Auseinandersetzung um die konventionelle Abrüstung war aber bislang eher ein weißer Fleck im programmatischen Konzept der Friedensbewegung. Die Wiener Verhandlungen sind ebenfalls nicht in ausreichendem Maße im allgemeinen öffentlichen Interesse präsent.
  8. Die Friedensbewegung muß bei ihrer Arbeit, die sich bisher fast ausschließlich gegen die »Modernisierung« richtete, dialektisch vorgehen. Da die (taktischen) Nuklearwaffen und die konventionellen Streitkräfte in der NATO-Strategie unauflöslich zusammenhängen, muß sie gegen die nukleare Aufrüstungsrunde der NATO und für weitergehendere konventionelle Abrüstung, als es das NATO-Konzept vorsieht, eintreten. Sie muß deutlich machen, daß das Festhalten an atomarer Abschreckung die konventionelle Abrüstung behindert und daß ein gesellschaftliches Klima und gesellschaftlicher Druck gegen Atomwaffen auch Erfolge bei der konventionellen Abrüstung wahrscheinlicher machen kann.
  9. Die Friedensbewegung muß Druck auf die Bundesregierung ausüben, bei den Wiener Verhandlungen die Forderung nach einer 50prozentigen Reduzierung des konventionellen Rüstungspotentials als offizieller Forderung der Bundesrepublik im Verhandlungsprozeß zu erheben. Sie muß angesichts der sich ausweitenden Diskussion um konventionelle Abrüstungskonzepte für diese Forderung einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zustandebringen. Gleichzeitig sollte sie die sofortige Aufnahme von parallel zu den Wiener Verhandlungen stattfindenden Gesprächen über eine dritte Null-Lösung bei den taktischen Nuklearraketen fordern.
  10. Darüberhinaus sollten zur Verhinderung neuer Aufrüstungsschritte und zur Durchsetzung künftiger abrüstungsfördernder Strukturen die Forderungen nach einem Einfrieren des Rüstungshaushalts und die Durchsetzung einseitiger Abrüstungsschritte der Bundesrepublik erhoben werden: Verzicht auf die atomare Artillerie, Herabsetzung der Bundeswehrstärke beispielsweise durch Auflösung einer Bundeswehrdivision und der Verzicht auf offensive Militärstrategien wie FOFA und ALB-Konzepte.
  11. Der Prozeß der Abrüstung sollte programmatisch mit Forderungen zu ökonomischen Alternativen für einen ökologischen und sozialen Umbau verknüpft werden: Für einen nationalen Rüstungskonversionsplan, Stop neuer Aufrüstungsprogramme, Stop der Entwicklung neuer Waffensysteme. Verhinderung der bundesdeutschen Beteiligung an westeuropäischen Rüstungsprogrammen und -industrie (MBB/Daimler-Benz).

Redaktion: Stillstand bei MBFR – ein warnendes Beispiel

Schon einmal gab es Ost-West-Verhandlungen über konventionelle Rüstung in Europa: MBFR (Mutual Balanced Force Reduction) oder Verhandlungen über “Gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Fragen in Mitteleuropa”. Diese Konferenz begann am 30. Oktober 1973 in Wien noch auf dem Höhepunkt der ersten Phase der Entspannungspolitik und stand unter schlechteren Vorzeichen als die aktuellen VKSE-Verhandlungen. Keines der beiden Bündnisse hatte nämlich ein ernsthaftes Interesse an echter konventioneller Abrüstung.

Der Warschauer Pakt schien nur deswegen in die Aufnahme der Wiener Gespräche einzuwilligen, um ihren Zugang zum KSZE-Prozeß nicht zu verbauen; die NATO hatte zuvor den Beginn der Helsinki-Konferenz von der Eröffnung der MBFR-Verhandlungen abhängig gemacht.

Der Westen hingegen konnte mit MBFR jahrelangen Bestrebungen des US-Senators Mansfield um einen einseitigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa entgegenwirken. Denn während der multilateralen Verhandlungsrunden verboten sich unilaterale Maßnahmen von selbst (Ernst Jung, Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa im Licht der MBFR-Erfahrungen, in: Außenpolitik II/1988, S. 154).

Aber auch sonst unterschied sich MBFR in mannigfaltiger Hinsicht von seinem viel ambitionierteren “Nachfolgeprojekt”:

Das Verhandlungsgebiet war nur auf Mitteleuropa beschränkt. Das Gebiet Frankreichs blieb ebenso ausgeklammert wie die westlichen Militärbezirke der UdSSR. Es wurde immer wieder kritisiert, daß dieser Ansatz selbst bei drastischen Reduzierungen in der »Zentralregion« angesichts der kurzen Nachschubwege für sowjetische Truppen und Waffen aus der Ukraine nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bedinge. Das sehr viel größere VKSE-Anwendungsgebiet nimmt solchen geostrategischen Befürchtungen ihre Relevanz.

  • Teilnehmer waren lediglich die Staaten des Verhandlungsgebiets und Länder mit ausländischer Militärpräsenz, also die Sowjetunion, die USA, Kanada und Großbritannien. Frankreich hielt sich abseits. Ganz anders die VKSE-Konferenz, wo sämtliche Mitglieder beider Militärbündnisse unter Einschluß Frankreichs teilnehmen.
  • Das Verhandlungsziel war noch viel unkonkreter formuliert als im VKSE-Mandat: “Die Teilnehmer … kamen überein, während der Verhandlungen die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen in Mitteleuropa zu erörtern … es (wird) das allgemeine Ziel der Verhandlungen sein …, zu stabileren Beziehungen und zur Festigung von Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen.” (Abschlußkommunique der vorbereitenden Konsultationen vom 28. Juni 1973, Europa-Archiv 1973, D 514). De facto verengte sich der Blickwinkel in den folgenden fruchtlosen Verhandlungsjahren nur noch auf die Truppenstärken. Eine Einigung auf ein konkret anzustrebendes Verhandlungsziel konnte hier immerhin Mitte 1978 erzielt werden: Beschränkung der Landstreitkräfte beider Bündnisse auf je 700.00 Mann. Bewaffnung, gar strukturelle Probleme blieben völlig außer Acht. West wie Ost boten immer wieder nur das marginale Ziel einer linearen Reduzierung um 10 bis 15 Prozent an.
  • Nicht einmal unter diesen vereinfachten Bedingungen konnte eine Einigung erzielt werden. Die Datenfrage wurde nämlich zu keinem Zeitpunkt gelöst. Moskau lehnte Vor-Ort-Inspektionen kategorisch ab und trug mit seiner traditionellen Geheimniskrämerei in dieser Frage zum Mißerfolg bei. Die Folge war, daß die Verhandlungen 15 Jahre vor sich hin dümpelten und außer der berühmten Konferenzkrawatte keinerlei Ergebnis erbrachten.
  • Die wechselseitigen Perzeptionen des konventionellen Kräfteverhältnisses gingen extremer auseinander als heute. Da die UdSSR ohne Differenzierungen von einer Parität ausging, forderte sie notorisch symmetrische Reduzierungen und ein Einfrieren der Rüstungen auf einem niedrigeren Niveau von numerischer Parität. Die westliche Seite hingegen konstatierte eine extreme östliche Überlegenheit und forderte dementsprechend starke asymmetrische Verminderungen zu ihren Gunsten.

Am 2. Februar 1989 wurden die MBFR-Verhandlungen nach über 15 Jahren »begraben«. Sie sind für VKSE Warnung und Hoffnung zugleich: Datenstreitigkeiten durch absolute Transparenz ausräumen und nicht zum Vehikel mangelnden politischen Abrüstungswillens zu machen.

Ingo Arend, M.A., Politologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V., (IWIF) und des Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden in Bonn. Er ist Mitglied des Bundesvorstandes der Jungsozialisten in der SPD und Mitglied der Kommission für Sicherheitspolitik beim SPD-Parteivorstand.
Michael Kalman, M.A., Politologe, arbeitet als Mitarbeiter der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) in Bonn.