Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

Ruhr Universität Bochum 14.09.1988

Ergebnisse beweisen: Tests können überwacht werden

von Redaktion

Fernüberwachung als wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Erneut gemeinsameramerikanisch-sowjetischer Atombombentest

Pünktlich acht Minuten nach der unterirdischen Zündung der Bombe in der asiatischenSowjetrepublik Kasachstan erreichten heute früh die seismischen Wellen das Ruhrgebiet undwurden vom Erdbebennetz der Ruhr-Universität Bochum erfaßt. Im Vergleich zuramerikanischen Sprengung am 17. August erzeugte die russische Kernexplosion wesentlichdeutlichere Ausschläge aller Seismographen des Bochumer Netzes, die nicht nur auf demGelände der Ruhr-Universität installiert sind, sondern auch an unterirdischenMeßplätzen im Raum Hamm (ca. 900 m unter NN) und im Raum Moers (ca. 600 m unter NN). Ausdiesen Aufzeichnungen kann man abschätzen, daß die Explosion eine Stärke von 100 – 150Kilotonnen hatte. Die genaue Ladungsstärke soll später im Rahmen des Datenaustauscheszwischen den Supermächten publiziert werden. Für die Seismologen in aller Welt, derenInstrumente beide Explosionen registrierten, ergibt sich damit die Möglichkeit, ihreAufzeichnungen zu vergleichen, um zukünftig die Ladungsstärken derartiger Explosionenbesser abschätzen zu können: Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer weiterenVerringerung und letztlich der völligen Abschaffung atomarer Bombentests.

Die Bochumer Messungen am frühen Morgen (4.00 Uhr Weltzeit, 6.00 Uhr MEZ) beweisenerneut: Atomtests sind auch durch Fernmessungen kontrollierbar. Bereits am 17. Augusthatte Prof. Dr. Hans-Peter Harjes, Geophysiker an der Fakultät für Geowissenschaften derRuhr-Universität Bochum, die von amerikanischen und sowjetischen Technikern gemeinsamdurchgeführte unterirdische Atomwaffenexplosion aufgezeichnet, mit der die Einhaltung vonObergrenzen für die Stärke unterirdischer Kernwaffentests gegenseitig zuverlässigüberwacht werden soll. Die Kernexplosion in Semipalatinsk ist – nach der in Nevada– der zweite Test, den die Experten beider Mächte nach dem »GemeinsamenVerifikations-Experiment«-Vertrag (JVE) zwischen US-Außenminister Shultz und seinemsowjetischen Kollegen Schewardnadse vom April 1988 durchgeführt haben. Zwischen beidenLändern war vereinbart worden, die Möglichkeiten zur Überwachung von“Test-Schwellenabkommen« effektiv zu erkunden. Die Geophysiker um Prof. Harjes an derRuhr-Universität haben durch ihre Forschungen maßgeblich dazu beigetragen, das Know-howund die technischen Möglichkeiten zur Fernerfassung von unterirdischen Tests zuerarbeiten.

Prof. Harjes diente auch diese Kernexplosion als Eichexperiment, das Daten fürzukünftige Überwachungsaufgaben liefern soll. In Ergänzung zu den lokalenhydrodynamischen Meßmethoden amerikanischer und sowjetischer Techniker schlägt er dieFernüberwachung von Atomteststopp-Verträgen vor. Sie ist nach seiner Meinung nicht nurtechnisch möglich, sondern auch eine besonders vertrauensbildende Maßnahme. Alsseismologischer Experte ist der Bochumer Geophysiker Harjes seit 1976 Berater derBundesregierung bei den Genfer Abrüstungsgesprächen. In dieser Eigenschaft hatte erbereits 1986 dem Internationalen Friedensforscher Kongreß zum Thema »Ways out of theArms Race« ein Memorandum mit dem Titel „The Verification of a Comprehensive TestBan“ vorgelegt. Dieser Vorschlag wurde in die Genfer Abrüstungsgesprächeeingebracht. Darin skizziert Harjes ein Überwachungssystem für Teststoppabkommen durchein weltumspannendes Netz seismischer Beobachtungszentren. Dieses sollte aus etwa 50 bis100 über die ganze Welt verteilten sogenannten »Arrays« bestehen, die einheitlich mitden modernsten Instrumenten ausgestattet sein müßten. Arrays sind mehrere, zentralzusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern.

Nach Aussage von Prof. Harjes ist der Vorteil eines solchen Netzes gegenüber denlokalen hydrodynamischen Erfassungsmethoden der Sowjets und der Amerikaner die flexibleMeßgenauigkeit. Während z.B. »Corrtex«, das hydrodynamische Meßgerät der Amerikaner,direkt vor Ort installiert und hauptsächlich für Explosionen um 150 Kilotonnen verwendetwird, gelingt einem teleseismologischen Netz bereits der Nachweis unterirdisch gezündeternuklearer Ladungen bis hinab zu zehn Kilotonnen TNT.

Ein solches Netz basiert auf Erfahrungen von Erdbebenmessungen. Atomexplosionenerzeugen Erdstöße ähnlich denen von Erdbeben, wobei Seismologen heute genauunterscheiden können, ob es sich um ein Erdbeben oder um eine unterirdische Atomexplosionhandelt. Im Unterschied zu Erdbeben, bei denen das Gestein auf einer ebenen Fläche vongelegentlich mehreren Kilometern bricht, wirkt der Überdruck von Atomexplosionengleichstark in alle Richtungen, so daß man in diesen Fällen von »punktförmigenQuellen« spricht. Die charakteristischen Ausschläge von Erdbeben und Kernexplosionenlassen sich daher im seismologischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.Auch die Stärke einer Sprengung können seismologische Experten nach den registriertenAusschlägen abschätzen. Selbst getarnte Versuche sind durch sie richtig erfaßbar, weilden Geologen genaue Informationen über Gesteinsarten und ihre Verteilung in der Weltvorliegen und weil ihnen die infrage kommenden Orte bekannt sind, wo die Zündungunterirdischer Atomtests möglich ist.

START oder Fehlzündung? Abrüstung oder Umrüstung?

START oder Fehlzündung? Abrüstung oder Umrüstung?

von Randolph Nikutta

Nach dem Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow in Washington im Dezember 1987 konzentrierte sich die politische Aufmerksamkeit und das öffentliche Interesse verstärkt auf den Bereich der strategischen Nuklearrüstung und eine mögliche neue Rüstungskontroll-Vereinbarung. Das INF-Abkommen weckte Hoffnungen, daß Rüstungskontrolle in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu weiteren Abrüstungsschritten führen könnte. Präsident Reagan sprach gar von der Aussicht auf einen neuen historischen „Vertrag“. Unter dem Gesichtspunkt der Abrüstung war Rüstungskontrolle in der Vergangenheit jedoch wenig erfolgreich.

In den SALT-Verhandlungen (Strategic Arms Limitation Talks) der 70er Jahre kam eine reale Abrüstung bei den strategischen Waffensystemen nicht zustande. Vielmehr versuchten beide Weltmächte in SALT-I und SALT-II, ihre asymmetrischen strategischen Rüstungspotentiale durch in etwa gleiche Obergrenzen bei den Trägersystemen, die aber relativ hoch angesetzt wurden, auszubalancieren. Reduzierungen sollten späteren Verhandlungen vorbehalten bleiben. Somit regulierte SALT 1 primär den quantitativen Rüstungszuwachs zwischen den beiden führenden Weltmächten.

Die Reagan-Administration trat im Januar 1981 mit dem politischen Vorsatz an, daß zuerst das militärische Potential der USA erheblich aufgestockt werden müsse, um dann anschließend mit der Sowjetunion aus einer Position der Stärke heraus über Rüstungskontrolle verhandeln zu können. Dieser Maxime gemäß wurden die amerikanischen Militärausgaben stark erhöht und umfangreiche strategische Aufrüstungs- und Modernisierungsprogramme in Gang gesetzt. Erst im Juni 1982 nahmen dann die USA und die UdSSR Wiederverhandlungen über strategische Rüstungskontrolle auf. Als neues Ziel amerikanischer Rüstungskontrollpolitik kündigte die Reagan-Regierung an, nunmehr einschneidende und militärisch signifikante Reduzierungen im strategischen Nuklearwaffenarsenal anzustreben. Um diesen neuen Ansatz nach außen hin sichtbar zu machen, wurde SALT in START (Strategie Arms Reduction Talks = Gespräche über die Verminderung strategischer Waffen) umbenannt.

Der Kern der amerikanischen Ausgangsposition bei START bestand darin, Abrüstung durch tiefe Einschnitte (deep Cuts) ausschließlich „bei den am meisten destabilisierenden Nuklearsystemen“, nämlich ballistischen, speziell landgestützten Raketen und ihren nuklearen Gefechtsköpfen, zu suchen. Drastische Einschnitte bei den sowjetischen landgestützten ICBMs (Inter Continental Ballistic Missiles) hatte die damalige konservative Opposition im Zusammenhang mit der Ablehnung des SALT-II-Vertrages gefordert, durch den sie einseitig sowjetische Vorteile gefördert sah. Von sowjetischer Seite wurde der mit dieser Zielrichtung in die Verhandlungen eingebrachte amerikanische Ausgangsvorschlag als unannehmbar zurückgewiesen. Hauptsächliche Gründe für die Ablehnung waren vor allem die Ausklammerung der Bomber und Marschflugkörper sowie der Sachverhalt, daß die UdSSR im Gegensatz zu den USA die Struktur ihres strategischen Arsenals einschneidend hätte verändern müssen, wenn sie den amerikanischen Reduzierungsvorstellungen nachgekommen wäre. Außerdem wäre es den USA auf der Grundlage ihres Verhandlungsvorschlages möglich gewesen, ihre geplanten strategischen Modernisierungsprogramme (MX-ICBM und TRIDENT-SLBM = Sea Launched Ballistic Missiles) ohne große Abstriche innerhalb der vorgesehenen Obergrenzen weiter durchzuziehen.

Zwar wurden im Verlauf der Zeit Positionsannäherungen in Teilbereichen erreicht, aber substantielle Fortschritte blieben aus, weil beiden Seiten der politische Wille zum Kompromiß fehlte. Die Gründe dafür lagen in dem allgemein durch erhöhte Spannungen gekennzeichneten bilateralen Verhältnis, welches vor allem durch die drastische Aufrüstung sowie die Kalte-Krieg-Rhetorik der Reagan-Administration belastet wurde und dem Scheitern der INF-Verhandlungen. Aus Protest gegen den Beginn der Stationierung neuer amerikanischer INF-Flugkörper in Westeuropa unterbrach die Sowjetunion schließlich die Rüstungskontrollverhandlungen mit den USA für unbestimmte Zeit.

Im März 1985 nahmen beide Weltmächte wieder Verhandlungen in Genf auf. Im Gegensatz zur vorherigen Situation sind die Gespräche über Verminderungen strategischer Offensivwaffen diesmal ein Bestandteil eines übergreifenden Verhandlungsforums, welches unter der Bezeichnung „Nuclear and Space Arms Talks“ (Verhandlungen über Nuklear- und Weltraumwaffen) eingerichtet wurde. Zu diesem gehören noch die 1987 erfolgreich abgeschlossenen Gespräche über die INF-Waffen sowie die Verhandlungen über Verteidigungs- und Weltraumwaffen. Der Grund für die Ausweitung des Verhandlungsmandats über die strategischen Offensivwaffen hinweg liegt in dem amerikanischen SDI-Projekt. Für die UdSSR besteht zwischen offensiven und defensiven Systemen ein elementarer Zusammenhang. In der Sicht der sowjetischen Führung stellt SDI den Versuch der USA dar, das existierende Rüstungskontrollregime in der Form des ABM- und des allerdings nicht ratifizierten SALT-II-Vertrages zu verlassen, um dann über die Dislozierung von BMD-Systemen (Ballistic Missile Defense) und die gleichzeitige vertragliche Beschränkung der Anzahl ballistischer Raketen vermittels START sowie die zulässige Modernisierung von anderen Typen von Offensivwaffen (primär Bomber und Marschflugkörper) einen militärstrategischen Vorteil gegenüber der UdSSR zu erlangen. Aufgrund dieser Befürchtungen will die Sowjetunion SDI vertraglichen Beschränkungen unterwerfen, welche die Dislozierung eines strategischen Raketenabwehrsystems unterbinden oder doch zumindest zeitlich verlangsamen.

Bei ihrem ersten Gipfeltreffen in Genf im November 1985 haben sich Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow allgemein auf das Prinzip einer 50prozentigen Reduktion der Nuklearwaffen im Rahmen von START verständigt. Seitdem haben beide Seiten zwar eine Reihe ihrer Differenzen verringert oder beigelegt, doch bei etlichen Schlüsselpunkten, wie etwa der Frage der Zulässigkeit oder vertraglichen Einbindung von Raketenabwehrsystemen, liegen die Auffassungen noch weit auseinander. Nach dem Gipfeltreffen von Reykjavik spezifizierten die USA und die UdSSR in einem gemeinsamen Arbeitsdokument die Punkte der Übereinstimmung und Abweichung zu Schlüsselbereichen der Verhandlungen. Auf dieser Grundlage legten dann beide Weltmächte 1987 schriftliche Vertragsentwürfe vor. Bei dem Washingtoner Gipfeltreffen und danach konnten zwar einige weitere Verhandlungspunkte geklärt werden, aber nach Ansicht vieler Rüstungskontrollexperten befinden sich die Verhandlungen immer noch in einer tiefen Sackgasse, die primär durch grundlegend verschiedene Ansichten über die Rolle von strategischen Offensiv- und Defensivwaffen geprägt ist.2

Nachfolgend sollen eine Übersicht über den aktuellen Verhandlungsstand bei START (April 1988) gegeben sowie die Aussichten und die möglichen Folgen eines Abkommens erörtert werden. Insbesondere geht es dabei um die beiden Aspekte ob START tatsächlich zu einer allgemeinen 50prozentigen Reduzierung sämtlicher Nuklearwaffen und zu einer Eindämmung der qualitativen Rüstungsdynamik führen wird.3

Verhandlungsstand – Punkte der Übereinstimmung

Strategische Trägersysteme: Begrenzung der strategischen nuklearen Trägersysteme auf 1.600 Waffen, die eine Reduzierung der Anzahl von ICBMs, SLBMs und schweren Bombern einschließt. Jedoch bleibt ein Problem im Rahmen dieses Gesamtplafonds noch zu lösen: die USA wollen die Raketen zählen, während die Sowjets mehr für eine Zählung der Abschußgestelle sind. Das Problem der Nachladungen für Abschußgestelle soll als ein getrennter Gegenstand verhandelt werden und gilt nicht als ein größeres Hindernis. Fallengelassen hat die UdSSR inzwischen ihre Forderung nach einer Einbeziehung der sogenannten „Forward Based Systeme“, wodurch amerikanische INF-Systeme, Mittelstreckenbomber sowie Flugzeugträger miteinbezogen worden wären, die von der amerikanischen Administration nicht als strategische Systeme eingestuft werden.

Gefechtsköpfe: Beide Seiten vermindern die Anzahl ihrer strategischen Nukleargefechtsköpfe auf jeweils 6.000 Stück. Voraussetzung für diese Einigung war eine Absprache über die sogenannten Zählregeln (vgl. unten) für die Nukleargefechtsköpfe.

Untergrenzen: Bei ihrem Washingtoner Gipfeltreffen verständigten sich die USA und UdSSR auf eine Untergrenze von 4.900 Nukleargefechtsköpfen auf ballistischen Raketen – ICMBs und SLBMs – im Rahmen des Gesamtplafonds von 6.000. Innerhalb dieser Untergrenze haben die Sowjets einer weiteren Untergrenze von 1.540 Gefechtsköpfen auf 154 sogenannten schweren ICBMs zugestimmt. Dies würde auf sowjetischer Seite eine Halbierung der Anzahl von Gefechtsköpfen in dieser Kategorie von ICBMs (SS 18) bedeuten.

Zählregeln: Verständigt haben sich die Unterhändler inzwischen auch auf die Zählregeln,

Über welche die Anzahl des vorhandenen Gesamtbestandes an Gefechtsköpfen jeder Seite festgelegt wird, von der aus dann die vereinbarten Reduzierungen vorgenommen werden sollen. Diese Kriterien sind sehr wichtig, weil moderne ballistische Raketen eine große Anzahl von einzelnen Gefechtsköpfen tragen und strategische Bomber eine breit diversifizierte Waffenzuladung aufweisen können. Es ist äußerst schwierig, die tatsächliche Anzahl von Gefechtsköpfen oder Waffenzuladung auf diesen Trägersystemen jederzeit zu verifizieren. Aus diesem Grund basieren die Verhandlungsparteien ihre Reduzierungsberechnungen auf solchen Zählregeln.

Bezüglich ballistischer Raketen ist die Berechnungsgrundlage die Zahl der Gefechtsköpfe, mit denen ein bestimmter Typ bislang getestet worden ist. So ist z.B. für die neue amerikanische SLBM, die TRIDENT II, eine Anrechnung von 8 Gefechtsköpfen vereinbart worden. Jedoch hat die US Navy ursprünglich geplant, diese Rakete während des Washingtoner Gipfeltreffens auch in einer Version mit 12 Gefechtsköpfen zu testen. Würden nun 12 Gefechtsköpfe für diese Rakete als neue Zählregel vereinbart, dann müßten die USA die Anzahl von TRIDENT II SLBMs im Rahmen eines START-Abkommens vermindern, selbst wenn die Zahl der aktuell dislozierten Gefechtsköpfe auf diesem Raketentyp niedriger ausfällt.

Auch für strategische Bomber erzielten beide Seiten eine prinzipielle Einigung. Moderne strategische Bomber können drei verschiedeneTypen von Nuklearwaffen tragen: Bomben, Luft-Boden-Raketen (ASMs) und luftgestützte Marschflugkörper (ALCMs). Die USA und die Sowjetunion verständigten sich darauf, daß alle Bomben und ASMs an Bord eines Bombers als ein Gefechtskopf innerhalb der Gesamtobergrenzen von 6.000 zählen. So würde einem strategischen Bomber, der eine Waffenzuladung von 24 Bomben/ASMs hat, nur ein Gefechtskopf, und nicht 24 angerechnet. Dagegen zählt jeder ALCM als ein Gefechtskopf. Ein Bomber, bestückt mit 8, 12 oder 22 ALCMs, würde daher mit der entsprechenden gleichen Anzahl von Gefechtsköpfen in die Gesamtrechnung eingehen. Schwierigkeiten gibt es jedoch noch bei der genauen Festlegung, wieviele ALCM einem spezifischen Bomber angerechnet werden sollen. So haben die Sowjets amerikanische Vorschläge zurückgewiesen, der B-52 oder B-1 erheblich weniger als die 12 oder respektive 22 ALCMs anzurechnen, die sie tatsächlich als Waffenzuladung aufnahmen können.

Seegestützte Marschflugkörper: Bei dieser Waffenkategorie konnten sich beide Weltmächte bislang nur darauf verständigen, daß es prinzipiell eine Obergrenze für diese Waffen geben sollten, die aber außerhalb des anvisierten Gesamtplafonds von 1.600 Trägersystemen und 6.000 Gefechtsköpfen liegen wird.

Verifikation: Fortschritt haben die USA und UdSSR, vor allem beim Gipfeltreffen in Washington, in der Festlegung des prinzipiellen Umfangs und der Art von Verifikationsmaßnahmen erzielt. Die vorgesehenen Verifikationsmaßnahmen bauen auf dem INF-Vertrag auf, gehen aber weit über diesen hinaus. Sie haben im Rahmen von START auch ein größeres Gewicht. Während bei den zur Verschrottung vorgesehenen INF-Flugkörpern nur zu kontrollieren ist, daß keine Seite künftig mehr solche Systeme besitzt, würden bei den strategischen Waffen trotz der vereinbarten Reduzierungen weiterhin Systeme sämtlicher Kategorien stationiert sein. Im einzelnen wurde vereinbart: 1) Datenaustausch vor Unterzeichnung des Vertrages; 2) Inspektionen zur Datenüberprüfung unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrages; 3) Vor-Ort-Inspektionen bei der Eliminierung strategischer Waffen; 4) ständige Vor-Ort-Beobachtung an den Zugängen wichtiger Produktions- und Unterstützungseinrichtungen für strategische Waffen; 5) kurzfristige Vor-Ort-Inspektionen von im Vertrag deklarierten Einrichtungen; 6) das Recht zu kurzfristigen Vor-Ort-Inspektionen auch an anderen Stellen, wenn der Verdacht einer Vertragsverletzung besteht; 7)Verbot der Verschlüsselung von telemetrischen Signalen bei Raketentests; 8) kooperative Maßnahmen, die insbesondere den Einsatz der nationalen technischen Mittel zur Verifikation, z.B. Satellitenbeobachtung, effektivieren. Dies schließt z.B. die Zurschaustellung von Raketen, Bombern und U-Booten im Freien auf ihren Basen ein, wenn eine Vertragspartei ein entsprechendes Verlangen äußert.

Bereiche differierender Positionen

Verknüpfung START und SDI/ABM-Vertrag: Die Bereitschaft zum Abschluß eines START-Vertrages verbindet die sowjetische Seite mit der nicht verhandelbaren Bedingung, Reduzierungen von strategischen Offensivwaffen nur mit einer verbindlichen amerikanischen Zusicherung der weiteren Einhaltung des 1972 geschlossenen und weiterhin gültigen ABM-Vertrages (Anti-Ballistic Missile) vorzunehmen. Dabei geht es konkret um die Vereinbarkeit von SDI mit einem START-Abkommen. Die UdSSR argumentiert, daß ohne eine vertraglich verbindliche Verständigung über strategische Defensivsysteme im Kontext von START die Verminderung ihrer strategischen Raketen für sie keinen Sinn ergebe. Für die Sowjetunion sind ihre strategischen Raketen, insbesondere die ICBMs, das wichtigste Faustpfand für das Einfordern einer solchen „Linkage“ in den Verhandlungen.

Ungeklärt ist zwischen beiden Verhandlungsparteien, wie lange und auf welche Weise sie den ABM-Vertrag einhalten wollen. Die Sowjetunion fordert zehn Jahre, die USA bieten sieben Jahre an. Jedoch verständigten sich der amerikanische Präsident und der sowjetische Generalsekretär bei ihrem letzten Gipfeltreffen darauf, nicht später als drei Jahre vor dem Ende der noch zu bestimmenden Gültigkeitsdauer des ABM

Vertrages „intensive Diskussionen über strategische Stabilität“ aufzunehmen.

Falls während dieser drei Jahre keine Vereinbarung über das weitere Vorgehen bezüglich weltraumgestützter Defensivsysteme erzielt werden kann, soll es jeder Seite freistehen, über ihr künftiges Handeln in diesem Bereich selbst zu entscheiden. Danach könnten die USA also ein strategisches Raketenabwehrsystem stationieren.

Zwar wurde beim Washingtoner Gipfeltreffen auch verabredet, den ABM-Vertrag wie 1972 unterzeichnet zu beachten, jedoch ist strittig, was dieser Vertrag nun genau an Forschung, Entwicklung und Erprobung von BMD-Komponenten erlaubt. Die UdSSR sieht hier sehr enge Grenzen gezogen („restriktive Auslegung“), während die USA die sogenannte weite Interpretation für gerechtfertigt halten. Allerdings deuteten die sowjetischen Unterhändler eine gewisse Kompromißbereitschaft an, indem sie vorschlugen, eine Liste zu erstellen, in der festgelegt wird, welche Arten von BMD-Technologien und Tests genau erlaubt sein sollen.

Untergrenzen: Ein weiterer Streitpunkt bezieht sich auf das Problem, wie die als Höchstgrenze vereinbarten 6.000 Nukleargefechtsköpfe auf den verschiedenen Kategorien von strategischen Offensivwaffen verteilt sein sollen. Auf gewisse Untergrenzen haben sich beide Seiten inzwischen schon weiter verständigt (4.900 Sprengköpfe auf ballistischen Raketen sowie innerhalb dieser Untergrenze 1.540 Sprengköpfe auf den schweren sowjetischen ICBMs; siehe oben). Darüber hinaus haben jedoch sowohl die USA als auch die UdSSR im Laufe der Zeit verschiedene weitere spezifische Untergrenzen vorgeschlagen und sich dabei gegenseitig beschuldigt, über dieses Mittel den anderen zu einer vollständigen Umstrukturierung seines strategischen Nukleararsenals zu zwingen und dies zum eigenen Vorteil vertraglich festzuschreiben. Die strategischen Potentiale beider Seiten sind sehr asymmetrisch aufgebaut: So haben die USA den Großteil ihrer Nukleargefechtsköpfe in ihrer strategischen Triade auf U-Boote und auch ihre schweren Bomber verteilt (ICBM: 18 %; SLBM: 43 %; Bombergestützt [ALCM/SRAM/Bomben]: 39 %), während der Großteil sowjetischer Sprengköpfe sich auf landgestützten, ICBMs befindet (ICBM: 61 %; SLBM: 29 %; Bombergestützt: 10%).

Den USA geht es bei START vor allem um die weitere Begrenzung sowjetischer ICBMs. Innerhalb der Untergrenze von 4.900 Gefechtsköpfen auf ballistischen Raketen streben sie eine weitere von 3.300 Gefechtsköpfen für ICBMs an. Eine weitere geforderte Untergrenze bei schweren ICBMs hat sich durch das sowjetische Einverständnis einer Halbierung ihres Bestands in dieser Kategorie bereits erledigt. Da der amerikanische Vorschlag direkte Untergrenzen für den see- und bombergestützten Teil der strategischen Triade nicht vorsieht, wäre es den USA erlaubt, erheblich weniger als die 3.300 erlaubten Gefechtsköpfe auf ICBMs zu dislozieren und den dort eingesparten Anteil auf SLBMs, Bombern oder ALCMs zu verschieben. Im Extremfall könnten die USA sogar ganz auf ICMBs verzichten. Eine derartige Umstrukturierung des strategischen Potentials soll nach amerikanischer Auffassung jedoch nur einmal möglich sein. Mit diesem Vorschlag versuchen die USA, ihren seit Mitte der 80er Jahre ohnehin im Gang befindlichen Umrüstungsprozeß ihres strategischen Arsenals, der langfristig eine Verlagerung der militärischen Konkurrenz auf Bomber und Marschflugkörper anstrebt, wo relative rüstungstechnologische Vorteile der USA gegenüber der Sowjetunion bestehen, rüstungskontrollpolitisch abzusichern.

Die Sowjetunion hat demgegenüber weitere Untergrenzen vorgeschlagen, welche die Struktur ihres strategischen Potentials weitgehend erhalten und zugleich amerikanische Vorteile im Rüstungswettlauf begrenzen helfen. Sie will das von den USA geforderte Limit bei ICBM-Gefechtsköpfen jedoch nur akzeptieren, wenn die amerikanische Seite die Zahl ihrer Sprengköpfe auf den strategischen U-Booten in dem gleichen Rahmen halten. Allerdings möchte die UdSSR lieber Untergrenzen bei Gefechtsköpfen für alle drei Komponenten der strategischen Triade setzen:

  • 3.000–3.300 auf ICBMs,
  • 1.800–2.000 auf SLBMs und
  • 800–900 auf ALCMs.

Dadurch werden Grenzen für eine Umschichtung der Gefechtsköpfe auf andere Träger gesetzt. Die Vorgabe einer maximalen Höhe von Nukleargefechtsköpfen auch auf SLBMs und ALCMs bedeutet konkret, daß die USA je nach Vereinbarung zwischen 3.000–3.300 Sprengköpfe auf ICBMs dislozieren müssen, wenn sie den vereinbarten Gesamtplafond von 6.000 Gefechtsköpfen ausfüllen möchten. Für die USA würde die Annahme dieses Vorschlags implizieren, daß sie nur 10 strategische U-Boote mit SLBMs einsetzen könnten und gezwungen wären, ihrem ICBM-Arsenal 1.000 nicht gewünschte Gefechtsköpfe hinzuzufügen.

Mobile landgestützte ICBM: Dem amerikanischen START-Vertragsentwurf zufolge sollen mobile ICBMs verboten sein, während die sowjetische Version diese Waffenkategorie zuläßt. Im Gegensatz zu den USA baut und stationiert die UdSSR gegenwärtig mobile ICBMs (SS-24 und SS-25). Auf sowjetischer Seite wird argumentiert, daß mobile Raketen die strategische Stabilität mehr fördern würden als statische, in Silos dislozierte ICBMs, weil erstere sicherer vor einem überraschenden Erstschlag seien und die betroffene Seite nicht vor das „use them or lose them“-Syndrom stellen. Die Reagan-Administration hält schlicht dagegen, daß mobile ICBMs nicht verifizierbar seien. Jedoch könnte sich die amerikanische Haltung zu dieser Frage ändern, weil es einerseits im US-Kongreß starke Unterstützung für eine mobile ICBM mit einem Gefechtskopf (Midgetman) gibt und andererseits die Regierung momentan ernsthaft die Dislozierung einer auf Eisenbahnwaggons mobilen Version der MX erwägt. Der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt darin, ob sich beide Seiten auf akzeptable Verifikationsprozeduren sowie auf Obergrenzen für mobile ICBMs einigen können. Bezüglich des Verifikationsproblems hat die sowjetische Seite angeregt, mobile ICBMs auf vorher festgelegte Dislozierungsräume zu beschränken. Zum letzteren Aspekt hat die UdSSR inzwischen ihre Bereitschaft zu einem Limit von 800 mobilen Raketen erklärt.

Seegestützte Marschflugkörper: Die Entwicklung von Marschflugkörpern im allgemeinen und von SLCMs im besonderen hat für die Rüstungskontrolle eine Reihe von erheblichen Schwierigkeiten aufgeworfen. Zwar sind sich beide Verhandlungsparteien darin einig, Obergrenzen für nuklearbestückte SLCMs langer Reichweite außerhalb des 6.000 Gefechtskopf-Limits zu suchen. Doch von einer Verständigung über die SLCM-Obergrenzen und ein Verifikationsregime sind die USA und die UdSSR noch weit entfernt.. Die sowjetische Seite hat eine Begrenzung von 400 SLCMs vorgeschlagen, die auf zwei verschiedenen Typen von U-Booten sowie einer Klasse von Überwasser-Kriegsschiffen stationiert sein dürfen. Gleichzeitig strebt sie auch eine Limitierung fr die mit konventionellen Gefechtsköpfen bestückten SLCMs auf 600 Stück an. Zur Verifikation der Unterscheidung zwischen nuklearen und konventionellen SLCMs unterbreitete die UdSSR den Plan, Inspektoren an den Produktionseinrichtungen und den Stützpunkten zu stationieren, wo die Gefechtsköpfe auf die Marschflugkörper aufgesetzt werden. Angeregt wurde auch die Anbringung von Siegeln an den Gefechtsköpfen oder die Überwachung mit Hilfe von radiologischen Gerätschaften. Vor-Ort-Inspektionen der U-Boote oder Schiffe sollten nur bei Bedarf vorgenommen werden. Der sowjetische Chefunterhändler Karpow hat jüngst deutlich betont, daß es ohne verifizierbare Restriktionen für SLCMs kein START-Abkommen geben wird. Er schloß auch ein Tauschgeschäft der Art aus, SLMCs und mobile ICBMs im Austausch gegenseitig vollständig abzurüsten. Innerhalb der amerikanischen Administration herrscht gegenwärtig eine heftige Debatte, welche Obergrenzen für nukleare SLCMs und welche Art von Verifikationsmaßnahmen akzeptabel sein könnten. Limits fr konventionell bestückte SLCMs als auch ALCMs kommen für die Reagan-Regierung in keinerweise in Frage, denn diese Version der Marschflugkörper ist ein fest eingeplanter Bestandteil der Aufrüstung und Modernisierung des eigenen militärischen Potentials. Auch im amerikanischen Kongreß sind einflußreiche Stimmen für die Aufrechterhaltung der Option einer umfangreichen Dislozierung von konventionellen SLCMs und ALCMs vorhanden.

Reichweite von Marschflugkörpern: Erhebliche Differenzen bestehen zwischen beiden Verhandlungsseiten auch hinsichtlich der bedeutenden Frage, ab welcher Reichweite Marschflugkörper als strategische Waffensysteme eingestuft werden sollen. Die USA wollen Marschlugkörper erst mit einer Reichweite ab 1.500 km als strategisch zählen, während die Sowjetunion hier auf einer Schwelle von 600 km beharrt. Dieser Reichweitenstreit gewinnt seine eminent militärische Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit der von den USA als erforderlich angesehenen kompensierenden Nuklearrüstung, die vorrangig auf ALCMs und SLCMs unterhalb der strategischen Ebene abhebt, für Westeuropa im Gefolge des INF-Abkommens. Aber auch wegen möglicher Einsätze von Marschflugkörpern bei Interventionen in der Dritten Welt wollen die USA die Reichweite, ab der diese Systeme als strategisch gelten sollen, relativ hoch angesiedelt wissen.

Modernisierung der strategischen Arsenale: Die Modernisierung strategischer Waffensysteme innerhalb der vertraglich gesetzten numerischen Grenzen soll zwar erlaubt sein, doch sollen nach amerikanischer Ansicht neue schwere ICBMs nicht zulässig sein. Zudem bestehen die USA noch auf geeigneten Verifikationsprozeduren für ein Modernisierungsverbot schwerer ICBMs.

Zeitdauer der Reduzierungen: Die USA schlagen einen Zeitraum von sieben Jahren für die Realisierung der vereinbarten Reduzierung im Rahmen von START vor, während die sowjetische Seite hier eine Spanne von fünf Jahren anstrebt. Darüber hinaus möchte die UdSSR die Gegenseite darauf verpflichten, anschließend Verhandlungen über weitere Reduzierung zu führen.

Verifikationen: Die noch zu lösenden Schlüsselpunkte bei der Verifikationsfrage betreffen die Art und Weise der Überwachung der noch zu vereinbarenden Limits bei mobilen ICBMs und SLCMs. Hier ist gegenwärtig wenig Fortschritt zu verzeichnend

Abrüstungspolitische Folgen von START

Legt man den gegenwärtigen Verhandlungsstand und den sich abzeichnenden Rahmen eines START-Abkommens zugrunde, so ist Skepsis angebracht, ob dadurch tatsächlich ein Weg zu allgemeiner Abrüstung geöffnet wird.

Entgegen dem von der amerikanischen als auch sowjetischen Seite verbreiteten Eindruck, ein START-Abkommen würde zu einer 50prozentigen Reduzierung auf gleiche Obergrenzen bei den strategischen Offensivwaffen führen, sieht die rüstungskontrollpolitische Realität anders aus. Ein START-Vertrag würde weder die strategischen Trägersysteme, die Gesamtzahl der strategischen Nukleargefechtsköpfe noch die Gefechtsköpfe auf ballistischen Raketen halbieren. So hat das „Natural Resources Defense Council“ in einer Studie ausgerechnet, daß bei den strategischen Trägersystemen die USA lediglich um 26 % und die UdSSR um 35 % ihren jetzigen Bestand reduzieren würden. Der einzige Bereich, in dem wirklich eine Bestandshalbierung stattfinden würde, wären die Nukleargefechtsköpfe auf den sowjetischen ballistischen Raketen (von ungefähr 9.400 auf 4.900), während die USA hier um 40 % vermindern würden.4

Zieht man jedoch die Gesamtzahl der Gefechtsköpfe vor und nach einem Vertrag heran, dann wird jede Seite faktisch über mehr als die 6.000 Gefechtsköpfe verfügen, die als Gesamtobergrenze für START in Aussicht genommen sind. Der Hauptgrund dafür liegt in den Zählregeln für die Waffenzuladung strategischer Bomber (s.o.). Da die Bomber mehr an Waffen mitführen können, als ihnen voraussichtlich angerechnet wird, werden die realen Verminderungen bezogen auf diesen für das strategische Kräfteverhältnis wichtigen Indikator vor allem für die USA deutlich geringer ausfallen. Nach den Berechnungen des „Natural Resources Defense Council“ wird die amerikanische Seite ihren Gesamtbestand an strategischen Nukleargefechtsköpfen nur um 30 % reduzieren. Nach einem START-Abkommen verbleiben den USA tatsächlich rund 9.000 Gefechtsköpfe. Die Sowjetunion würde ihr Arsenal um ca. 30 % auf rund 7.000 Gefechtsköpfe vermindern. Weil die UdSSR einen großen Teil ihrer Gefechtsköpfe auf ICBMs disloziert hat profitiert sie von den Zählregeln für Bombe; nicht in dem Maße wie die USA. Insgesamt würde sich das strategische Arsenal an Gefechtsköpfen beider Weltmächte zusammengenommen lediglich um rund ein Drittel vermindern.5

Im Rahmen eines START-Vertrages müßten beide Seiten ein beträchtliches Maß an Systemen aus ihrem strategischen Potential aussondern und verschrotten. Dabei wird die UdSSR eine größere Anzahl an Waffensystemen und auch eine höhere Zahl an neueren Raketen zu eliminieren haben. Da jedoch die Verschrottung frühestens 1989 und auch nicht auf einmal, sondern verteilt auf einen Zeitraum von 5-7 Jahren stattfinden würde, fällt der Zeitpunkt der Aussonderung in vielen Fällen ohnehin mit dem Ende der Nutzungsdauer der betroffenen Waffensysteme zusammen. Ein START-Abkommen würde daher mit den Austausch- und Modernisierungszyklen der vorhandenen strategischen Waffensysteme nicht groß konfligieren. So wurden z.B. die gegenwärtig 28 strategischen U-Boote der Lafayette/Franklin Klasse der USA zwischen 1963 und 1967 eingeführt. Ihre Aussonderung und Ersetzung durch U-Boote der Ohio-Klasse ist für den Zeitraum zwischen 1993 und 1999 vorgesehen. Der amerikanische B-52G Bomber wurde von 1958 bis 1960 und das B-52H Modell zwischen 1960 und 1962 gebaut. Diese Bomber werden gegenwärtig durch die B-1B ersetzt und ab 1992 soll der ganze Bomberbestand auf den „Advanced Technology Bomber“ mit „Stealth“-Technik umgerüstet werden. Die sowjetischen Militärs müßten z.B. teilweise oder ganz ICBMs der Typen SS-17, SS-18 und SS-19 verschrotten, die erst zwischen 1975 und 1980 disloziert und darüber hinaus kürzlich modifiziert und verbessert worden sind.6

Die vorhergehenden Ausführungen deuten bereits an, daß ein START-Vertrag einer Modernisierung der strategischen Offensivpotentiale beider Seiten nicht sonderlich im Weg stehen würde. Sowohl die USA als auch die UdSSR können mit sämtlichen in der Forschung, Entwicklung, Erprobung oder Stationierung befindlichen strategischen Offensivwaffen fortfahren (USA: B-1B; SRAM II; Advanced Technology Bomber; TRIDENT II D5 SLBM; Advanced Cruise Missile; Advanced Strategic Missile etc.; UdSSR: SS-24 und SS-25 ICBMs; Typhoon und Delta IV U-Boote; SS-N-20 und SS-N-23 SLBMs; der Black-Jack-Bomber; AS-15 ALCM etc.). Gegenwärtig produzierte Systeme könnten unter START mit ihren geplanten Stückzahlen entweder vollständig oder mit kleineren Abstrichen disloziert werden (z.B. USA: 100 B-1B Bomber; 17 Trident U-Boote mit Trident II SLBMs anstelle von 20).7

Die unter einem START-Abkommen kaum eingeschränkten Modernisierungsmöglichkeiten der strategischen Arsenale werden daher in der Folge zu einer Fortsetzung der technologischen Rüstungsdynamik wie bei SALT führen. Für die abgerüsteten Systemen werden die Militärs als Kompensation noch leistungsfähigere Offensivwaffen fordern. Beim technologischen Rüstungswettlauf im Bereich der strategischen Offensivwaffen stehen vier Schlüsselbereiche im Vordergrund: „Zero/Near Zero Circular Error Probable Reentry Vehicies“, „Manuevering Reentry Vehicies“, „Earth Penetrator“-Gefechtsköpfe sowie Nuklearwaffen der „Dritten Generation“ (z.B. Strahlenwaffen, die ihre Energie aus einer Nuklearexplosion gewinnen).8 Diese von einem START-Vertrag mit Sicherheit beschleunigten rüstungstechnologischen Entwicklungslinien werden neue gravierende Probleme für das militärischen Kräfteverhältnis zwischen den beiden führenden Weltmächten aufwerfen und dürften wohl kaum zu einer höheren strategischen Stabilität, zu einer Verminderung des nuklearen Kriegsrisikos, führen.

Eines der von den Verhandlungsparteien deklarierten Ziele der START-Verhandlungen soll die Verbesserung strategischer Krisenstabilität sein. Dabei geht es um die Verminderung des Anreizes für jede Seite, in einer ernsthaften Krise zuerst zuzuschlagen. Quellen von Instabilität sind die potentielle Verwundbarkeit von strategischen Waffensystemen oder Führungs- und Kontrollsystemen einer Seite durch einen Angriff, auch wenn beide Kontrahenten über eine sogenannte gesicherte Zweitschlagsfähigkeit verfügen. Sollte eine Seite einen gewichtigen Teil ihrer strategischen Waffensysteme in einer verwundbaren Stationierungsart aufgestellt haben, dann wird die Versuchung zu präemptiven Aktionen groß sein, wenn ein Krieg für unmittelbar bevorstehend gehalten wird. Um dieses Risiko zu vermindern, könnten einerseits wirksame, von beiden Seiten akzeptierte politische Lösungsmechanismen und Prozeduren entwickelt werden, die das Umschlagen einer Krise in Krieg verhindern, und so langfristig einen Verzicht auf nukleare Abschreckung ermöglichen könnten. Andererseits sind auf der militärischen Ebene rüstungskontrollpolitische Schritte denkbar, welche die Verwundbarkeit strategischer Waffensysteme sowie der Führungs- und Kontrollsysteme durch Präemptionsschläge herabsetzen.

In seiner bisherigen Anlage wird ein START-Abkommen die strategische Krisenstabilität kaum nachhaltig verbessern, sondern vielleicht sogar verschlechtern. Die Reagan-Administration bezeichnet die landgestützten ICBMs als die destabilisierendsten Systeme, da sie einerseits aufgrund ihrer Genauigkeit und Schnelligkeit relativ sicher gehärtete Ziele wie Raketensilos zerstören können, andererseits aber selbst sehr verwundbar durch einen Angriff sind. Mit entsprechenden Regelungen könnte START durchaus das Problem der Verwundbarkeit von ICBMs lösen helfen. Durch Modernisierungs- und Erprobungsbeschränkungen, die Verbesserungen der Zielgenauigkeit von ballistischen Raketen verhindern oder verlangsamen, ließen sich die Möglichkeiten für eine Zerstörung festverbunkerter ICBMs reduzieren. Eine weitere denkbare Maßnahme könnte in der erheblichen Reduzierung von ICBMs mit Mehrfachsprengkopf (MIRV)-Technik bestehen, die für die Gegenseite

zuerst lohnenswerte Ziele darstellen. Mobilität ist ein weiterer Lösungszugang. Insbesondere durch den Übergang zu relativ unverwundbaren mobilen ICBMs könnten nicht nur die Krisenstabilität im bestehenden nuklearen Abschreckungssystem deutlich verbessert, sondern auch der Weg zu weiteren tiefen Einschnitten in das gesamte strategische Arsenal beider Seiten geöffnet werden.

Sowjetische Wissenschaftler haben im vergangenen Jahr eine leider bislang im Westen wenig beachtete Studie vorgelegt, in der sie verschiedene Optionen für radikale nukleare Rüstungsreduzierungen und die dabei erforderlichen Bedingungen für die Wahrung strategischer Stabilität näher untersucht haben.9 In dieser Studie wird auch die Möglichkeit einer 95prozentigen Reduzierung der nuklearen Potentiale der beiden führenden Weltmächte erörtert. Die sowjetischen Experten schlagen bei dieser radikalen Reduzierungsvariante faktisch ein Modell einer nuklearen Minimalabschreckung vor, bei der jede Seite über ein Potential verfügt, welches nur zu einem einzigen Vergeltungsschlag fähig ist und dem potentiellen Aggressor unakzeptablen Schaden androhen kann. Unter den verschiedenen Rüstungsoptionen bei dieser Variante sehen sie diejenige zur Gewährleistung wechselseitiger Sicherheit als optimal an, bei der jede Seite über ein Potential von ungefähr 600 leichten, mit jeweils einem Gefechtskopf bestückten ICBMs verfügt, von denen ein Teil mobil stationiert sein sollte. An die Realisierung einer solchen auf radikalen Reduzierungen basierenden nuklearen Minimalabschreckung sind jedoch verschiedene Bedingungen geknüpft: die USA und die UdSSR verzichten auf sämtliche andere Typen von strategischen Offensivwaffensystemen (Bomber, Marschflugkörper, SLBMs etc.), die taktischen Nuklearwaffen beider Seiten werden gänzlich eliminiert, die Nuklearwaffen der anderen Nuklearmächte müssen proportional reduziert oder vollständig abgeschafft werden, der ABM-Vertrag ist weiterhin gültig, es existiert ein Stationierungsverbot für weltraumgestützte Waffen und ASAT-Systeme jeglicher Art, ein vollständiger und allgemeiner Nuklearteststopp-Vertrag ist in Kraft und die Herstellung von Spaltmaterial zum Bau von Nuklearwaffen ist untersagt.

Der gegenseitige Übergang zu mit einem Gefechtskopf bestückten ICBMs, von denen ein Teil ständig mobil gehalten wird, würde jeder Seite praktisch die Möglichkeit nehmen, einen entwaffnenden Erstschlag mit Aussicht auf Erfolg zu führen, da die Anzahl der Gefechtsköpfe und der militärischen strategischen Hartziele gleich und ein Teil des Potentials durch seine Mobilität nahezu unverwundbar ist. Eine derartige Situation würde das Vertrauen beider Seite in strategische Stabilität stärken. Nach Ansicht der sowjetischen Experten sind ICBMs SLBMs in bezug auf eine Verbesserung strategischer Stabilität u.a. deshalb vorzuziehen, weil erstere über wesentlich zuverlässigere Führungs

und Kontrollverbindungen verfügen. Dadurch fällt auch die Wahrscheinlichkeit eines nicht autorisierten Abschusses, d.h. eines zufälligen Nuklearkriegs aufgrund eines technischen Fehlers oder Irrtums erheblich geringer aus. Als durchaus lösbar wird auch das Problem einer zuverlässigen Verifikation insbesondere der mobilen ICBMs angesehen.

Den Ergebnissen der sowjetischen Studie zufolge wird die weitere Modernisierung und Diversifizierung der strategischen Nukleararsenale beider Seiten, selbst wenn die numerische Parität dabei gewahrt bleibt, zu einer deutlich weniger stabilen militärstrategischen sowie militärpolitischen Situation führen. Die amerikanischen Reduktionsvorschläge bei START und ihre Implikationen verhindern eine solche Entwicklung nicht, sondern fördern sie im Gegenteil eher. Ihr Kern besteht darin, einerseits Abrüstung durch tiefe Einschnitte nur bei bestimmten Waffensystemen, nämlich ballistischen, speziell landgestützten Raketen und ihren Gefechtsköpfen zu suchen. Auf der anderen Seite soll parallel dazu die sowjetisch-amerikanische Rüstungskonkurrenz durch eine verstärkte Umrüstung der strategischen Arsenale auf vorgeblich stabilitätserhöhende, weniger verwundbare seegestützte Raketen sowie langsamfliegende Bomber und Marschflugkörper verlagert werden. Konkret geht es jedoch für die USA darum, die inzwischen veralteten, verwundbaren, weniger treffgenauen und nicht gegen gehärtete Ziele einsetzbaren ballistischen Raketen mittel- und langfristig durch neue Systeme zu ersetzen, die basieren auf neuen (Unterstützungs-) Technologien genau diese Defizite beheben. Zugleich soll die militärische Konkurrenz in einen Bereich relativer rüstungstechnologischer Vorteile der USA verschoben werden.

Stellt man in Rechnung, daß in einer stabilen militär-strategischen Situtation keine Seite einen Anreiz zu einem präemptiven Gebrauch von Nuklearwaffen (Shoot or lose them-Syndrom) sowie die Fähigkeit zu einem entwaffnenden Erstschlag haben sollte und daß der größte Teil des sowjetischen strategischen Potentials auf landgestützten ICBMs ruht, dann wirkt der amerikanische START-Ansatz kontraproduktiv. So soll z.B. die neue Trident 2 D-5 SLBM, deren erste Dislozierung für Ende 1989 geplant ist, aufgrund einer erheblich gesteigerten Treffgenauigkeit über die Eigenschaft verfügen, gehärtete, festverbunkerte Raketenstellungen zerstören zu können.10 Dadurch wird sich die bisherige militärische Funktion des seegestützten Teils der strategischen Triade erheblich ändern. Die Verwendung von strategischen Bombern und Marschflugkörpern in einer Erstschlagsrolle ist trotz ihrer Langsamflugeigenschaften keineswegs ausgeschlossen. Die extreme Treffgenauigkeit von Marschflugkörpern verschafft neue Optionen. So stellt die Modernisierung ihrer strategischen Bomberstreitmacht („Advanced Strategic Bomber“, „Advanced Cruise Missile“, „Advanced Short-Range Attack Missile“) für die USA ein Schlüsselelement dar, um künftig vor allem die zunehmenden landgestützten mobilen ICBMs der sowjetischen strategischen Streitkräfte zu bekämpfen.11 Dadurch würde ein wichtiger Teil künftiger nuklearer Abschreckungsmacht der UdSSR nachhaltig gefährdet. Im Ergebnis wird eine Realisierung der amerikanischen START-Konzeption in Verbindung mit der einhergehenden Rüstungsverlagerung und gesteigerten qualitativen Rüstungsdynamik aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Zunahme von Instabilitäten führen.

Aussichten für ein Abkommen und weitere Abrüstung

Der Textentwurf eines START-Abkommens soll zur Zeit rund 350 Seiten umfassen und ca. 1.200 „Klammern“ mit ungelösten und strittigen Fragen enthalten. Wie dem Verhandlungsstand entnommen werden kann, sind noch mindestens sechs Grundsatzprobleme zu lösen, die den Kern der sicherheitspolitischen Konzepte und der strategischen Arsenale beider Weltmächte berühren. In der gemeinsamen Erklärung des Moskauer Gipfeltreffens wurden die bisherigen Übereinstimmungen festgeschrieben und konkretisiert. Weiter heißt es dort:

„Bei der Erörterung der strategischen Offensivwaffen auf dem jetzigen Treffen in Moskau ist es gelungen, die Bereiche der Übereinstimmung wesentlich zu erweitern insbesondere in der Frage der luftgestützten Flügelraketen und in bezug auf die Versuche, eine Lösung für das Problem der Kontrolle mobiler Interkontinentalraketen zu finden und möglichst zu vereinbaren.“

Auf größere Probleme deutet folgende Passage hin: „Die Seiten erörterten ferner die Begrenzung der stationierten seegestützten Flügelraketen großer Reichweite, die mit Kernladungen bestückt sind.“12

Im April dieses Jahres hat Paul Nitze, Hauptberater des amerikanischen Außenministers in Rüstungskontrollfragen, öffentlich einen Vorschlag zur Diskussion gestellt, der wesentlich zur Lösung eines Grundsatzproblems beitragen könnte. Er regte an, daß die USA und UdSSR auf seegestützte Marschflugkörper mit Nuklearsprengkopf ebenso verzichten sollten wie auf nuklear bestückte Seeminen und Torpedos sowie auf von Flugzeugträgern mitgeführte Atombomben. Durch solch einen Verzicht könnte der Streit um die SLCMs ansatzweise gelöst werden. Allerdings bleibt weiterhin das Problem bestehen, wie mit den konventionell bestückten SLCMs verfahren werden soll. Nitzes Anregung hat in der Reagan-Administration einen heftigen Streit in Gang gesetzt. Starke Opposition kommt vor allem von den Vereinigten Generalstabschefs. Für die amerikanische Marine stellen die SLCMs, von denen sie 4.000 Stück sowohl nuklear als auch konventionell ausgerüstet beschaffen will, die Waffen der Zukunft dar. Angesichts dieser starken Interessen ist Skepsis angebracht, ob diese Empfehlung von Nitze als ein offizieller Verhandlungsvorschlag bei START eingebracht wird. So hat die amerikanische Regierung auch jüngst ein von der UdSSR vorgeschlagenes gemeinsames Verifikationsexperiment zur Unterscheidung zwischen nuklearen und konventionellen SLCMs abgelehnt.13

Ein START-Abkommen allein wird den Rüstungswettlauf nicht eindämmen und den Weg zu weiteren radikalen Abrüstungsschritten und einer nuklearwaffenfreien Welt öffnen. Dafür hat ein eventueller Vertrag noch zu viele Mängel. Darüber hinaus verbinden sich mit START recht gegensätzliche politische und militärische Verhandlungsinteressen beider Seiten. Allerdings würde ein solches Abkommen die Legitimationsbasis für künftige Aufrüstung weiter erheblich schmälern.

Ein reales Interesse an gleichgewichtigen Verminderungen aller strategischen Waffensysteme ist in der Reagan-Administration trotz aller öffentlichen Abrüstungsrethorik nie vorhanden gewesen. Ihr rüstungskontrollpolitischer Ansatz läuft darauf hinaus, Rüstungssteuerung und die Modernisierung des eigenen strategischen Potentials durch eine Mixtur aus Abrüstungs- und Umrüstungsmaßnahmen zu verbinden. Mit ihrer vorrangigen Konzentration auf die Reduzierung der ballistischen Raketen grenzt sich die Reagan-Administration in ihrer Rüstungskontrollpolitik von Konzepten einer allgemeinen 50prozentigen Abrüstung sämtlicher strategischer Nuklearwaffen ab. Ihrer Bedrohungsperzeption entsprechend strebt die US-Administration keine generelle nukleare Abrüstung an, sondern primär eine Verminderung oder gar Beseitigung von bestimmten, als bedrohlich empfundenen militärischen Fähigkeiten der UdSSR. Vom militärischen Kalkül her gesehen zielt die von den USA angestrebte erhebliche Reduzierung ballistischer, gegen gehärtete Ziele einsetzbarer Raketen der UdSSR in Verbindung mit der geplanten Rüstungsverlagerung auf überlebensfähigere und auch zielgenauere strategische Offensivsysteme (vor allem Bomber und Marschflugkörper) auf eine deutliche Erschwerung sowjetischer Zielplanungen. Aus amerikanischer Interessensicht soll durch die Umrüstung auf einen stärker diversifizierten und weniger verwundbaren strategischen Waffenmix ein höherer Grad an flexiblen und selektiven Kriegsführungsoptionen sichergestellt und so Eskalationskontrolle gewährleistet werden.14

Noch deutlicher wird das hinter START stehende militärstrategische Kalkül, wenn man die Verbindung zu SDI herstellt. So erkannte die Reagan-Administration, daß sich über ein unilaterales Modernisierungs- und Aufrüstungsprogramm im Bereich strategischer Offensivwaffen alleine keine grundlegende Änderung des Kräfteverhältnisses gegenüber der UdSSR erzielen läßt, selbst wenn sich die Zielrichtung der Aufrüstung auf die qualitative Dimension der Rüstungskonkurrenz konzentriert. Einen Ausweg aus diesem strategischen Dilemma sah Reagan durch die Besinnung auf die traditionelle amerikanische Überlegenheit an technologischer Innovationsfähigkeit. Über ihre „Initiative zur strategischen Verteidigung“ erhofft sich die amerikanische US-Regierung eine rüstungstechnologische Lösung des sicherheitspolitischen Problems, wie sowjetische Einsatzoptionen militärisch erheblich reduziert werden können.

Entgegen der offiziell deklarierten Aufgabenstellung von SDI, mittels eines umfassenden Schutzschirms Nuklearwaffen allgemein obsolet werden zu lassen, zielt dieses Programm primär auf eine weitgehende Neutralisierung sowjetischer zielgenauer und MIRV-fähiger ICBMs in Verbindung mit einer Punktzielverteidigung amerikanischer ICBM-Stellungen und C3I-Einrichtungen. Damit soll die sowjetische Zielplanung mit einem weiteren großen Unsicherheitsfaktor belastet werden. Eine signifikante Reduzierung sowjetischer ICBMs und eine vertraglich gesicherte Festschreibung dieses Potentials auf einem niedrigeren Niveau im Rahmen von START könnte den militärisch erfolgreichen Einsatz eines Raketenabwehrsystems in den Bereich des Realisierbaren rücken und würde damit einen deutlichen strategischen Vorteil der USA gegenüber der Sowjetunion bedeuten. Diesen innigen Zusammenhang zwischen START und SDI formulierte jüngst Botschafter Rowny, der Präsident Reagan und Außenminister Shultz in Rüstungskontrollangelegenheiten berät, explizit: „a good S.TA.R.T. treaty supports our goals for SDI. It's as simple as realizing that fewer offensive ballistic missile warheads – a smaller threat – make the defensive job that much easier. This is another reason we pursue a S.T.A.R.T treaty – and why we reject the Soviet offer to kill or cripple the Strategic Defense Initiative as the price of that deal.“15

Zwar hat auch Reagan öffentlich angekündigt eine nuklearwaffenfreie Welt anzustreben doch sucht er keine politische Lösung des Problems. Vielmehr setzt die Verwirklichung dieser Utopie für ihn die Stationierung von strategischen Defensivsystemen als eine Art Versicherungspolice voraus. Hinter solchen rüstungstechnologischen Lösungen von Sicherheitsproblemen verbirgt sich immer noch ein großes politisches Mißtrauen gegenüber der anderen Seite.

Für Gorbatschow ist hingegen der amerikanische Verzicht auf SDI eine notwendige Voraussetzung für allgemeine nukleare Abrüstung. Das Streben der USA nach umfassender strategischer Verteidigung wird von sowjetischer Seite als grundsätzlich destabilisierend angesehen, weil diese bei einer schrittweisen nuklearen Abrüstung den USA ein Erstschlagspotential an die Hand geben könnte. Gorbatschow hat der Abrüstung in der Formulierung sowjetischer Sicherheitsinteressen eine weitaus höhere Priorität eingeräumt, als dies jemals seit der Chruschtschow-Periode der Fall gewesen ist. Gleichzeit hat er einige bedeutende innovative Denkansätze zur Neubewertung von Sicherheitsbelangen im Atomzeitalter vorgetragen. So hat der sowjetische Generalsekretär nachdrücklich betont, daß es weder im Wettrüsten noch in einem Nuklearkrieg Sieger geben werde. Das Streben nach militärischer Überlegenheit bringe niemandem politischen Gewinn. Auch die Parität gilt ihm nicht mehr als eine Garantie für militärpolitische Zurückhaltung. Gerade die neue Einschätzung der Funktion von Nuklearwaffen und Folgen eines Nuklearkrieges ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der sicherheitspolitischen Neuorientierung der UdSSR.

Zwischen der politischen und militärischen Elite in der UdSSR hat sich offensichtlich Konsens über den abnehmenden militärischen Nutzen von Nuklearwaffen herausgebildet. Dieser Konsens läuft darauf hinaus, daß Nuklearwaffen nicht mehr länger für irgendwelche rationale militärische und damit gleichzeitig auch politische Ziele eingesetzt werden können. Ogarkow, vormals Chef des sowjetischen Generalstabs, hat z.B. die Unmöglichkeit betont, einen Nuklearkrieg begrenzt zu halten. Seiner Ansicht nach würde jeder begrenzte Einsatz von Nuklearwaffen unweigerlich zum sofortigen Einsatz des gesamten nuklearen Potentials der Kriegsgegner führen. Aufgrund der Anzahl und Mannigfaltigkeit der nuklearen Waffensysteme könne außerdem keine Seite hoffen, einen erfolgreichen nuklearen Erstschlag zur Entwaffnung des Gegners zu führen. Jeder Versuch, Nuklearwaffen anzuwenden, werde unvermeidlich in einem Weltkrieg und einer globalen Katastrophe enden, bei der die Existenz der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht. Das vorhandene nukleare Arsenal der beiden führenden Weltmächte sei daher vom militärischen Standpunkt aus absurd und jeder weitere Aufbau schlicht sinnlos. Da der primäre Hauptauftrag für die sowjetischen Streitkräfte in der Abschreckung eines nuklearen Angriffs auf ihr Land besteht, würde die UdSSR keine Nuklearwaffen brauchen, wenn die USA keine hätten. Kokoschin, stellvertretender Direktor des Instituts für USA- und Kanada-Studien, betonte jüngst ausdrücklich, daß das für die sowjetische Militärdoktrin neue maßgebliche Prinzip einer „vernünftigen Hinlänglichkeit“ der Rüstungspotentiale in letzter Konsequenz die Verpflichtung zu einer vollständigen Abrüstung der Nuklearwaffen bedeute.16

Für die jetzige politische Führung der UdSSR scheint offensichtlich die Erkenntnis handlungsleitend zu sein, daß Sicherheit nicht mehr mit militärischen Mitteln zu erlangen ist, sondern daß die Gewährleistung von Sicherheit eine prinzipiell politische Aufgabe ist. Hinter der gegenwärtigen sowjetischen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik stehen somit im deutlichen Gegensatz zu den USA genuin politische Antriebsmotive, welche die Logik des Wettrüstens brechen, die Risiken des die Existenz der gesamten Menschheit bedrohenden nuklearen Abschreckungssystems sowie schließlich Krieg als Mittel der Politik überwinden wollen.

Solange sich jedoch die USA nicht auf eine derartig politisch bestimmte Vision einer nuklearwaffenfreien Welt einlassen und die tatsächlich vorhandene sowjetische Bereitschaft zu einem radikalen Rüstungsabbau nicht ernsthaft prüfen, wird die herrschende Rüstungskontrollpolitik wie bei START unweigerlich in eine Sackgasse führen.

Anmerkungen

1 SALT wurde jedoch nie vom amerikanischen Kongreß ratifiziert.

2 Für einen genaueren Überblick über die Verhandlungsgeschichte von START vgl. Eckhard Lübkemeier, Stichwort „SALT/START“, in: Wichard Woyke, Handwörterbuch Internationale Politik, Bonn (Bundeszentrale für Politische Bildung), Aktualisierter Nachdruck 1987, S. 404-416; Hans Heinrich Weise, START – Die Verhandlungen zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen, in: Soldat und Technik, 31 (3) 1988, S. 122-127; Ronald Lehmann, Die Verhandlungen über die Venringerung der strategischen Waffen: Ein Vertrag gewinnt Gestalt, in: NATO-Brief, 35 (4) Juli-August 1987, S.21 25  Zurück

3 Die Darstellung des Verhandlungsstands basiert im wesentlichen auf folgenden Quellen: The Arms Control Reporter; Douglas Clarke, A Primer on the Strategic Arms Reduction Talks, in: Radio Free Europe Research, RAD Background ReporU236, 10.12.1987; ders., Movement at the Washington Summit on Strategic Arms Accord, in: Radio Free Europe Research, RAD Background Report l245, 22.12.1987, ders., Restructuring of Another Kind: Strategic Forces, Radio Free Europe Research RAD Background Report/228, 1.12.1987, Tony Banks, Obstacles Still Facing the STMT Agreement, in: Jane's Defence Weekly, 9 (9) 1987; Disagreement on ABM, START Continues in Ninth Round of Talks, in: Arms Control Today, 18 (2) March 1988, S. 22; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Author: Steven A Hildreth), Arms Control: Negotiations to Reduce Strategic Offensive Nuciear Weapons, Issue Brief (IB86051), Washington D.C., Updated 2.2.1988; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Author: Steven A. Hildreth), Arms Control: Overview of the Geneva Talks, Issue Brief (IB85157), Washington D.C., Updated 2.2.1988; U.S. Congress, Congressional Research Service, Foreign Affairs and National Defense Division (Stanley R. Sloan, Issue Coordinator), Arms Control: Issues for Congress, Washington D.C., Updated 17.2.1988, Shultz, Shevardnadze Set Summit, But Make Little Progress on START, in: Arms Control Today,18 (4) May 1988, S. 19, 27

4 Vgl. Robert S. Nonris/William M. Arkin/Thomas B. Cochran, START and Strategic Modernization, Nuciear Weapons Databook Working Papers NWD 872, Natural Resources Defense Council, New York, December 1987, S. 12/13 Zurück

5 Vgl. Norris u.a.1987, S. 13 Zurück

6 Vgl. Norris u.a.1987, S. 17-20 Zurück

7 Vgl. USA – Sowjetunion: Nuklearstrategische Rüstung, in: Österreichische MilitärischeZeitschrift,25 (5) 1987, S. 462-465 Zurück

8 Vgl. Kosta Tsipis, Third-Generation Nuclear Weapons, in: World Armaments and Disarmament, SIPRI Yearbook 1985, London u. Philadelphia 1985, S. 83-106 Zurück

9 Vgl. Committee Soviet Scientists for Peace, Against the Nuciear Threat, Strategic Stability Under the Conditions of Radical Nuclear Arms Reductions, Report on a Study (Abridged), Moscow, April 1987 Zurück

10 Vgl. John D. Morrocco, START Talks Pose Questions on Strategic Modernization, in: Aviation Week & Space Technology vom 14.3.1988, S. 36 Zurück

11 Vgl. Morrocco 1988, S. 36 Zurück

12 Dokumentation in unsere Zeit v.4.6.1988, S.9 vgl.: Amerika-Dienst Nr. 22,8.6.1988, S. 5 Zurück

13 Vgl. Die „flexible response“ bleibt wirksam, in: FAZ vom 9.4.1987 und Arms Control Today,18 (4) May 1988, S. 19 Zurück

14 Vgl. für eine ausführlichere Analyse der amerikanischen Verhandlungsmotive bei START Michael Paul, Zur START-Politik der Reagan-Administration: Rüstungsverlagenung durch „Deep Cuts“? in: Beiträge zur Konfliktforschung, 18 (1) 1988, S. 31 Zurück

15 Rowny Contrats U.S. and Soviet Strategic Defense Programs, in: U.S. Policy Information and Texts, No. 51 vom 14.3.1988, S. 15 Zurück

16 Vgl. ausführlicher Michael McGwire, Why the Soviets Want Arms Control, in: Technology Review,40 (2) 1987, S. 36-45; Mary C. FitzGerald, Marshal Ogarkov and the New Revolution in Soviet Military Affairs, in: Defence Analysis,3. Jg., Nr.1/1987, S.37; Andrei A. Kokoshin, A. Soviet view on radical wespons cuts, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 44 (2) March 1988, S.17; Randolph Nikutta, Warum will die UdSSR Rüstungskontrolle?, in: Vorgänge, Heft 5 (Nr.89), September 1987, S. 49-64 Zurück

Randolph Nikutta arbeitet bei der Berghof-Stiftung für Konfliktforschung, Berlin.

Abschluß eines Abkommens zur Abrüstung von chemischen Waffen in Gefahr

Abschluß eines Abkommens zur Abrüstung von chemischen Waffen in Gefahr

von Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler-Initiative

In Genf liegt nach 20 Verhandlungsjahren das Abkommen zur Beseitigung der Chemiewaffen nahezu unterschriftsreif vor. Als um die Erhaltung des Friedens besorgte Naturwissenschaftler sehen wir die Gefahr, daß diese, C-Waffen-Konvention wieder in die Ferne zu rücken droht.

Seit Dezember vergangenen Jahres werden in den USA Granaten auf der Basis der neuen Binärtechnologie für Nervengase hergestellt. Jüngst wurden außerdem die Mittel für die binäre Sprühbombe „Bigeye“ freigegeben. Die neuen binären Chemiewaffen werden als gering giftige Vorstufen produziert. Erst im Flug entsteht beim Durchmischen das hochgiftige Nervengas. So lassen sich die Vorstufen der Kampfstoffe gefahrlos produzieren, lagern, transportieren und, zumindest im Prinzip, auch unbemerkt in Stellung bringen und verstecken. Die vorgesehenen Kontrollen als Bestandteil eines Abrüstungsvertrages werden dadurch außerordentlich erschwert.

Der US-Kongreß hatte die Produktion von Binärwaffen ausdrücklich von der Zustimmung der NATO abhängig gemacht. Die Bundesregierung hat mit Signalwirkung für die NATO-Partner zunächst in einer Vereinbarung mit Präsident Reagan der Produktion der Binärwaffen zugestimmt, bevor diese auf der Tagung des NATO-Verteidigungsrates im Mai 1986 zum „Streitkräfteziel“ erklärt wurden. Diese Zustimmung, ohne die nach dem Beschluß des US-Kongresses die Produktion der Binärwaffen nicht aufgenommen worden wäre, erweist sich nun immer mehr als verhängnisvoll.

Die neue Aufrüstung steht dem Abschluß der C-Waffen-Konvention im Wege. Das Haupthindernis bei der im chemischen Bereich sehr schwierigen Kontrolle der Einhaltung des Vertrages ist durch die Bereitschaft der UdSSR ausgeräumt worden vor Ort Inspektionen, auch unangemeldet, zuzulassen. Dagegen wird Die Verifikation eines C-Waffen-Sperrvertrages durch das Aufkommen der Binärwaffen behindert und Ansätze zur Vertrauensbildung werden auf diesem sensiblen Gebiet gefährdet.

Mit den Binärwaffen droht daher die Gefahr einer nicht mehr umkehrbaren Rüstungsentwicklung. Weil andererseits Giftwaffen relativ billig sind und ihre Abrüstung zu lang hinausgeschoben wurde, haben sich immer mehr Länder solche Waffen verschafft. Auch deshalb darf für chemische Abrüstung keine weitere Zeit mehr verloren werden. Die kontrollierte Abrüstung von C-Waffen ist technisch möglich. Der Gefahr einer heimlichen Produktion, insbesondere von Binärwaffen, läßt sich durch nichts wirksamer vorbeugen, als durch den Kontrollapparat, der mit dem Abschluß der C-Waffen-Konvention in Gang gesetzt werden soll. Allerdings kommt es darauf an, daß dieser Kontrollapparat seine Arbeit aufnimmt, noch bevor Binärwaffen in größerem Umfange vorhanden sind. Auch die Weiterverbreitung der Giftwaffen wird sich am ehesten eindämmen lassen, wenn sich die Industrienationen zu einem raschen Abschluß der C-Waffen-Konvention entschließen und mit der Abrüstung beginnen.

Als ein weiteres Hindernis für Abrüstung erweisen sich kürzlich bekannt gewordene Bedenken des europäischen Verbandes der chemischen Industrie (CEFIC) gegen einzelne Bestimmungen des in Genf ausgehandelten Entwurfs der C-Waffen-Konvention. Besonders befremdlich ist, daß dies in der Abschlußphase von Verhandlungen geschieht, an denen zumindest die westdeutsche Industrie durch Berater beteiligt war. Diese hatten bisher den nützlichen Modellcharakter der in der Bundesrepublik vom Rüstungskontrollamt der Westeuropäischen Union vorgenommenen Kontrollen betont und damit eine sehr förderliche Rolle bei den Genfer Verhandlungen gespielt.

Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihrer Forderung nach einem baldigen Abschluß der C-Waffen-Konvention. Wegen ihrer besonderen Mitverantwortung für den Produktionsbeginn der binären C-Waffen sollte die Bundesregierung nach unserer Ansicht jedoch noch weiter gehen und ihre Zustimmung zur Integration von C-Waffen in das für Europa bestimmte Waffenarsenal insgesamt zurückziehen. Die Verweigerung einer Stationierung der Binärwaffen in der Bundesrepublik in Friedenszeiten sollte auf Krisenzeiten erweitert werden. Damit entfiele der Hauptgrund für das neue Binärprogramm.

Die Bundesrepublik kann als potentielles Stationierungsland in den Prozeß um die chemische Abrüstung eine Schlüsselfunktion ausüben. In diesem Sinne haben wir gleichzeitig mit der vorliegenden Erklärung den Bundeskanzler gebeten, sich aktiv für die Abschaffung der barbarischen Giftwaffen einzusetzen.

Köln, den 24. Februar 1988

Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen

von John Pike

Spätestens seit Reykjavik ist der Zusammenhang zwischen der Abrüstung strategischer Nuklearwaffen und der Begrenzung von Raketenabwehrsystemen deutlich geworden. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht der ABM-Vertrag von 1972, der angesichts neuer technischer Entwicklungen und politisch motivierter Interpretationsversuche ernsten Belastungsproben ausgesetzt ist. Um diesen Vertrag zu erhalten und zu stärken, wurde u.a. auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß und dem Moskauer Friedensforum ein Kompromiß zwischen beiden Seiten gefordert, der den Weg zur nuklearen Abrüstung öffnet. Die bislang konkretesten Vorschläge für eine mögliche Einigung wurden Anfang 1987 von John Pike von der Federation of American Scientists ausgearbeitet und in einem mehr als 100seitigen Papier mit zahlreichen quantitativen Grenzwerten und Tabellen zusammengefaßt, das in Auszügen in den Proceedings zum Hamburger Verifikationsworkshop erschienen ist. Angesichts der Verhandlungen zwischen USA und UdSSR sowie zwischen US-Kongreß und US-Regierung über Grenzen für SDI-Versuche geben wir einige übersetzte Auszüge aus der Einleitung zu diesem Papier wieder.

Neue Entwicklungen bei Raketenabwehrtechnologien (BMD: Ballistic Missile Defense) stellen eine große Herausforderung für den Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag von 1972 dar. Um einem Dilemma vorzubeugen, wurde eine Reihe verschiedener konzeptueller Ansätze vorgeschlagen, den ABM-Vertrag an die Entwicklung der BMD-Technologie anzupassen. Aber die Schwierigkeit, die richtigen Antworten auf diese Probleme zu finden, läßt vermuten, daß wir die falschen Fragen stellen. Eine neue Art des Denkens über den ABM-Vertrag und über ballistische Raketenabwehrtechnoloqie ist notwendig.

Über die letzten zwei Jahre hinweg hat sich die Diskussion auf die Debatte über die breite Auslegung des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration konzentriert, nach der der Vertrag nicht das Testen von exotischen BMD-Technologien begrenzen würde. Es wird in wachsendem Maße deutlich, daß diese Interpretation des Vertrages ohne rechtlichen oder praktischen Wert ist und nicht eingeführt werden wird.

Die Auflösung der Debatte über die breite Interpretation wird jedoch nicht den Konflikt zwischen der permissiven und der restriktiven Lesart der traditionellen Interpretation des ABM-Vertrages lösen. Der Vertrag verbietet Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Komponenten, die weltraumgestützt, luftgestützt, seegestützt oder mobil landgestützt sind. Der Vertrag gibt mehrere Kriterien dafür an, welche Anlagen Gegenstand dieser Begrenzungen sind:

  1. die Komponenten von ABM-Systemen zur Zeit der Unterzeichnung des Vertrages, nämlich Interzeptoren, Startanlagen und Radaranlagen;
  2. Anlagen, die „in einem ABM-Modus getestet“ worden sind (d.h. gegen strategische ballistische Raketen oder ihre Komponenten auf der Flugbahn);
  3. Anlagen, die „ABM-Fähigkeiten“ haben oder „fähig zur Substitution von“ ABM-Komponenten sind.

Die Reagan-Administration versichert, das SDI-Programm sei konstistent mit dem Vertrag mit der Begründung, SDI entwickle keine Komponenten und würde Tests nicht in einem ABM-Modus durchführen oder ABM-Fähigkeiten aufzeigen; somit seien die in SDI demonstrierten Technologien nicht zur Substitution von ABM-Komponenten fähig. Eine restriktivere Lesart des Vertrages führt jedoch zu dem Schluß, daß viele der Tests von SDI mit dem Vertrag unvereinbar sind. Unglücklicherweise gibt der Vertrag nur unzureichende Richtlinien für die Auswahl der geeigneten Auslegung dieser Begriffe.

Das Kernproblem

Das zentrale Problem ist, daß das Fort schreiten der Technologie die Interpretation der Vertragsbegriffe kompliziert hat. 1972 war die Verifikation von Tests im ABM-Modus ein relativ einfacher Prozeß. Der Betrieb einer Radaranlage konnte durch elektronische Aufklärungssatelliten beobachtet werden, der Start einer Abwehrrakete und der Flug eines Ziel-Eintrittsflugkörpers konnten durch verschiedene Mittel verfolgt werden. Diese Aktivitäten lieferten eine ziemlich unzweifelhafte Basis für die Definition von „im ABM-Modus getestet“.

Aber für die Festlegung, ob eine Verrichtung „im ABM-Modus getestet“ wurde, bedeuten die neuen BMD-Technologien eine größere Herausforderung. Passive Sensoren wie Teleskope, die zur Verfolgung von Zielen verwendet werden können, senden keine Signale ab, und ihr Zusammenwirken mit einem Raketenabwehrtest kann schwierig festzustellen sein. Langreichweitige Abwehrraketen können gegen Satellitenziele getestet. werden, die die Charakteristiken strategischer ballistischer Raketen nachahmen.

Unglücklicherweise ist es auch sehr schwierig zu bestimmen, ob ein Gerät fähig ist, eine ABM-Komponente zu ersetzen oder ob es ABM-Fähigkeiten hat, insbesondere wenn das Gerät auf neuen physikalischen Prinzipien beruht. Der ABM-Vertrag enthält eine präzise quantitative Definition, was eine Radaranlage mit ABM-Fähigkeiten darstellt, aber der Vertrag liefert keine Richtlinie, an welchem Punkt ein Bahnverfolgungs-Teleskop fähig ist, ein ABM-Radar zu ersetzen.

Eine Einigung auf quantitative, numerische Definitionen von ABM-Fähigkeiten könnte dieses Problem lösen. Es mag Fragen darüber geben, was eine „ABM-Komponente“ ist oder was „Entwicklung“ bedeutet, aber es sollte mit einer akzeptablen Fehlerspanne möglich sein zu bestimmen, ob ein Spiegel größer als zwei Meter im Durchmesser ist oder nicht. Diese quantitativen Grenzen würden eine weniger mehrdeutige operationale Definition liefern für die „Entwicklung“ einer „ABM-Komponente“, die „ABM-Fähigkeiten“ hat oder „in einem ABM-Modus getestet“ wurde.

Spezifische Begrenzungen

Ein System zur Abwehr ballistischer Raketen besteht aus vier Elementen – Waffen, Waffenstartanlagen, Sensoren und Gefechtsführung (battle Management). Es wird allgemein anerkannt, daß battle management die größte technische Herausforderung für die Vollendung eines Raketenabwehrsystems bedeutet und daß Sensoren größere technische Anforderungen stellen als Waffen und Waffenstartanlagen. Ein Raketenabwehrsystem erfordert das Funktionieren aller vier Elemente, und bei Abwesenheit eines dieser Elemente sind die anderen nur von begrenzter Bedeutung.

Es ist ein unglückliches Paradoxon, daß der technisch anspruchsvollste Aspekt von BMD-Systemen (battle management) zugleich die größten Anforderungen an die Verifikation stellt, während die am wenigsten anspruchsvollen Teile des Problems (Waffen) die geringsten Anforderungen an die Verifikation stellen. Der ABM-Vertrag setzt keine Begrenzungen für Battle-Management-Systeme fest, da von beiden Seiten erkannt wurde, daß solche Begrenzungen schwierig, wenn nicht unmöglich zu verifizieren sein würden.

Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des ABM-Vertrages waren BMD-Sensoren sehr große Radaranlagen, die mehrere Jahre zur Konstruktion benötigten und daher leicht zu verifizieren waren, so daß der Vertrag ein strenges Regime von Begrenzungen für die Stationierung solcher Radare aufstellte. Aber zukünftige Systeme, die passive Sensoren verwenden, wären viel schwieriger zu verifizieren. Das bedeutet nicht, daß solche zukünftigen Sensorsysteme unmöglich zu verifizieren sein werden, oder daß sie von der Begrenzung ausgenommen werden sollten. Allerdings könnten stringentere Einschränkungen von Waffentests notwendig sein, um die Schwierigkeiten bei der Begrenzung von Sensoren zu kompensieren.

Es gibt wahrscheinlich mehrere Dutzend mögliche Leistungsparameter, die ABM-Fähigkeiten definieren könnten. Aber bereits wenige Hauptparameter – Geschwindigkeit, Höhe, relative Geschwindigkeit, Helligkeit und Öffnung – legen die wichtigsten ABM-Fähigkeiten fest; solche Parameter sind zudem ziemlich einfach zu definieren und zu überwachen. Die Begrenzung eines halben Dutzend der kritischsten Leistungsparameter innerhalb eines Regimes quantitativer Grenzwerte dürfte ausreichend sein und würde den Verhandlungsprozeß nicht unnötig verlängern oder belasten.

Fünf quantitative Grenzen sind besonders aussichtsreich:

Waffen

  1. Eine Grenze für die Helligkeit von Lasern;
  2. Grenzwerte für die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Versuchen mit Abfangraketen;

Sensoren

  1. Spezifizierungen für die Zahl und den Ort zugelassener Konstruktionen von großen phasengesteuerten Radaranlagen
  2. Begrenzungen für die Öffnungsweite von Spiegeln oder Fenstern weltraum- oder luftgestützter Teleskopsensoren; Sensoren & Waffen
  3. Grenzen für die thermische Leistung von Nuklearreaktoren im Weltraum.

Eine Schranke für Tests, die besonders vielversprechend aussieht, ist eine Grenze für die Helligkeit von Lasern, die eine Funktion der Wellenlänge des Lasers, der Leistung des Lasers und des Durchmessers des Laserhauptspiegels ist. Die Verifizierung solch einer Grenze würde wahrscheinlich die Verwendung von Überwachungsanlagen in der Nähe von identifizierten oder vermuteten Lasereinrichtungen erfordern.

Im Bereich der Waffen mit kinetischer Energie (kinetic energy weapons) sollten wir vielleicht die Festlegung einer spezifischen Grenze betrachten, unterhalb der es erlaubt wäre, Abfangraketen zu testen, und oberhalb der Versuche verboten würden. Solche Tests würden definiert durch die maximale Geschwindigkeit, mit der eine Rakete oder ein Interzeptor in großer Nähe an einem Ziel vorbeifliegen könnten. So würde der Test einer Abfangrakete oberhalb von 40 Kilometern Höhe und innerhalb von 10 Kilometern Abstand zu einem Ziel mit einer Relativgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Sekunde als Entwicklung einer ABM-Komponente mit ABM-Fähigkeiten angesehen werden, die in einem ABM-Modus getestet wird. Dies würde Befürchtungen über taktische Raketenabwehrsysteme abschwächen. Und wenn alle Versuche oberhalb von 40 Kilometern verboten wären, würde dies alle Besorgnisse über Anti-Satelliten-Waffen auflösen.

Die Festlegung, daß alle großen phasengesteuerten Radaranlagen nicht weiter als 350 Kilometer von den Landesgrenzen entfernt gebaut werden dürften und daß jedes Land nicht mehr als 15 solcher Transmitter stationieren kann, würde eine Wiederholung des Krasnoyarsk/Fylingdales-Streit verhindern. Eine Senkung der Vertragsschwelle für ein ABM-Radar um einen Faktor von zehn würde Sorgen über die taktische Raketenabwehr verringern.

Grenzen für die Öffungsweite passiver Teleskopsensoren würden die BMD-Anwendungen solcher Geräte einschränken. Sensorsatelliten zur Raketenabwehr erfordern viel größere optische Systeme als einfache Frühwarnsatelliten. Und flugzeuggestützte Teleskope benötigen viel größere Fensteröffnungen im Flugzeug, als für Astronomie und Aufklärungszwecke notwendig sind.

Begrenzungen für die thermische Leistung weltraumgestützter Reaktoren könnten indirekt Technologien beschränken, die andernfalls schwierig zu begrenzen wären.

Solch ein Grenzwert könnte verizifiert werden durch die Überwachung der Abfallwärme, die durch den Radiator des Reaktors angestrahlt wird. Multimegawatt-Reaktoren würden notwendig sein, um bestimmte Typen von Raketenabwehr-Waffensystemen mit Energie zu versorgen, wie etwa Generatoren neutraler Teilchenstrahlen. Reaktoren mit einigen zehn oder hundert Kilowatt Leistung wären die Voraussetzung fr den Betrieb mehrerer Raketenabwehr-Sensorsysteme.

Wenn die Verifizierung von Grenzen der thermischen Reaktorleistung sich als zu schwierig erweisen sollte, könnte ein ähnliches Ziel erreicht werden durch ein Startverbot für große Anlagen zur Erzeugung von Nuklearenergie. Die Anwesenheit einer großen Menge von nuklearem Brennstoff könnte entdeckt werden durch die Inspektion eines jeden Satelliten unmittelbar vor seinem Start in den Weltraum.

Literatur

John Pike, Quantitative Limits on Anti-Missile-Systems – A Preliminary Assessment, Fourth Draft, 22 May 1987, Federation of American Scientists,123 Seiten; wesentliche Auszüge sind abgedruckt in: Proceedings of the Workshop „Scientific Aspects of the Verification of Arms Control Treaties“, Part II, S. 137-198, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Vol. 19, Hamburg, June 1987

Weitere aktuelle Literatur zur Diskussion um den ABM-Vertrag ist im Reader der Naturwissenschaftler-Initiative – „SDI und der ABM-Vertrag“ enthalten, zusammengestellt von J. Scheffran im August 1987. Die folgenden Quellen zur ABM-Debatte nach Reykjavik ergänzen eine frühere Literaturliste.

– Erklärung von Generalsekretär Michail Gorbatschow auf der Pressekonferenz in Reykjavik am 12. Oktober 1986, „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 11/86, S. 1297-1303; Ronald Reagans Fernsehansprache vom 13.10.1986, „Abrüstungsinfo“, 11/1986, S. 19-21

– Briefing Book on the ABM Treaty and Related Issues, National Campaign to Save the ABM Treaty, Washington 1986; Analysis of the President's Report on Soviet Noncompliance with Arms Control Agreements, „Arms Control Today“, April 1987

– L. Wieland, Testen und Stationieren – Reagan vor heiklen Entscheidungen über SDI, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) vom 7.2.1987; R. Dolzer, Wo endet Forschen, beginnt das Erproben?, „FAZ“ vom 17.2.87; Streit um die weite Auslegung des ABM-Vertrages, „FAZ“ vom 9.2.87; An eine „weite“ Auslegung war nicht gedacht, „FAZ“ vom 18.2.87

– S. Nunn, ABM Reinterpretation, Fundamentally Flawed, „Arms Control Today (ACT)“, April 1987, S. 8-14; Nunn vs. Sofaer, „ACT“, June 1987, S. 9-10; L. N. Cutler, Keeping the Treaty Alive; What Congress Can Do. „ACT“, April 1987, S. 10-11; Six Former Defense Secretaries Support Traditional Interpretation of the ABM Treaty, „ACT“, April 1987; M. Bunn, Kinetic Energy Weapons and the ABM Treaty, „ACT“, March 1987, S. 12, 13, 17; Weinberger Propose Tests Beyond Strict Treaty Interpretation, „ACT“, June 1987, S. 24

– J. B. Rhinelander, J. P. Rubin, Mission Accomplished – An Insider's Account of the ABM Treaty Negotiating Record „ACT“, September 1987, S. 3-14; R. Garthoff, History Confirms the Traditional Meaning, „ACT“, September 1987, S. 15-19; Sofaer´s Last Stand?, „ACT“, October 1987, S. 14-17; M. A. Bryar, Arms Control Legislation Stalls Over SDI Testing and Treaty, „ACT“, November 1987, S. 21; T. K. Longstreth, Latest ABM ploy – old is new, „Bulletin of the Atomic Scientists“, Vol. 43, No. 10, December 1987 S. 3-4; M. Bunn, Shultz Sidesteps ABM Issue, „ACT“ January/Febnuary 1988, S. 24, M. Bunn, Space Laser Raises ABM Treaty Compliance Questions, „ACT“, January/Febnuary 1988, S. 27

John Pike arbeitet bei der Federation of American Scientists

Abschluß der C-Waffen-Konvention: Eine Frage des politischen Willens

Abschluß der C-Waffen-Konvention: Eine Frage des politischen Willens

von Werner Dosch

Die Mittelstreckenraketen waren die zentrale Rüstungsbastion, gegen die die Friedensbewegung angerannt ist. Freuen wir uns, diese Bastion wird geschleift werden! Gewiß, mit der beschlossenen Verschrottung der Raketen entfällt ein Druckpunkt und damit vorübergehend auch ein Stück Orientierung der Friedensbewegung. Von jetzt an muß Abrüstung in Bewegung bleiben, weil sie von jetzt an auf Bewegung angewiesen ist. Die vier Prozent Gefechtsköpfe weniger machen nur Sinn, wenn sie der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses sind, bei dem die Menschheit Waffe um Waffenart auf ihre Selbstvernichtung verzichtet. Um diesen Weg durchzustehen, bedarf es notwendiger denn je des Auftriebs einer neuen Friedensbewegung, die sich neu formieren muß, gerade auch durch noch stärkere Ausweitung über die Staats- und Blockgrenzen hinweg. Hier läßt sich nichts erzwingen. Die Selbstorganisation von Menschen zu einer großen politischen Kraft muß sich immer wieder in den einzelnen Köpfen vorbereiten.

Mit dem Abbau eines Teils der Mittelstrekkenraketen rücken in Europa jetzt die konventionellen und die chemischen Waffen stärker in den Mittelpunkt. Der Abschluß der C-Waffenkonvention ist nach 19 Genfer Verhandlungsjahren kaum mehr als eine Frage des politischen Willens. Was hier noch strittig ist, sollte sich nach dem Vorbild der abschließenden INF-Verhandlungen von den Außenministern der USA und UdSSR an einem Wochenende wegverhandeln lassen.

Es kann aber auch ganz anders kommen: Das Credo der Abrüster, die Forderung nach möglichst lückenloser Verifikation, ist besonders schwer zu erfüllen, wenn es um Chemie geht. Kampfstoffchemie läßt sich kontrollmäßig gerade noch fassen, solange sie auf Grund ihrer besonderen Gefährlichkeit als solche erkennbar bleibt. Wenn jetzt ein neuer Typ von sogenannten binären C-Waffen produziert wird, werden diese verräterischen Indikatoren entfallen.

Daher muß die Forderung lauten: Chemische Abrüstung jetzt – solange sie machbar ist! Die Entscheidung für Auf- oder Abrüstung von C-Waffen steht derzeit auf der Kippe. Die Entscheidung zum Frieden braucht Anstöße. Die Friedensbewegung ist aufgerufen!

C-Waffen-Vorräte

Im April haben die Außenminister der USA und der UdSSR Inspektionen der jeweiligen Vernichtungslager für chemische Waffen verabredet. Die Amerikaner hatten schon einmal 1983 ihre Verbrennungsanlage in dem Armee-Depot Tooele, Utah, einer internationalen Inspektion geöffnet, an der sich die Sowjetunion jedoch noch nicht beteiligte. In diesem Jahr haben beide Großmächte ihre chemischen Arsenale gezeigt. Den Anfang machte die Sowjetunion, die im Oktober in Schichany, Bezirk Saratow, 19 verschiedene Typen chemischer Munition vorführte und zeigte, wie Nervenkampfstoffe vernichtet werden. Im November folgte die Bundesrepublik mit der Vorführung der technisch besonders schwierigen Vernichtung von Altkampfstoffen unterschiedlicher Zusammensetzungen in Münster. Im gleichen Monat führten die Amerikaner ihr inzwischen verbessertes Verfahren der Kampfstoffverbrennung in Tooele vor, zugleich aber auch schon Prototypen der geplanten binären C-Waffen. Die Konstruktionsmerkmale von mindestens 11 der noch aktuellen (unitären) US-Waffen waren bereits früher bekanntgegeben worden.1 Jetzt steht noch ein Besuch des britischen Giftzentrums Porton Down aus. Ebenso wie die Bundesrepublik verfügt Großbritannien nicht (mehr) über eigene C-Waffen. Der gewiß aufschlußreiche Einblick in das französische C-Potential wird kaum möglich sein. Frankreich, das bereits C-Waffen besitzt, hat sich in diesem Jahr für eine neue chemische Aufrüstung, offenbar mit Binärwaffen, entschieden.

Das makabre Vorzeigen der schändlichen Giftwaffen ist eine Geste der Abrüstungsbereitschaft. Gerade für die Sowjetunion, die vor wenigen Jahren noch nicht einmal den Besitz chemischer Waffen zugegeben hatte, muß die Demonstration von Schichany ein schwerer Entschluß gewesen sein.

I Vorräte tödlicher Kampfstoffe
USA (Schätzungen nach offenen Angaben) 2
a)Nervenkampfstoffe
8.800 t GB + 4.336 t VX = 13.316 t (munitioniert)zusätzlich 3.538 t in bereits
veralteter Munition

b) Andere tödliche Kampfstoffe:
14.878 t S-Lost und weitere Kampfstoffe, z.B. Lewisit

Die bekannten Kampfstoffe sind in bekannten Munitionstypen bzw. in Containern in 10
Depots gelagert: 8 davon in den USA, 1 auf Johnston Island (Pazifik) und in der
Bundesrepublik. In der BRD befinden sich ca. 435 t Nervenkampfstoffe GB und VX in ca.
145.000 Artillerie-Granaten.

UdSSR Unbekannte Mengen aller Kampfstoffarten in
mindestens 19 verschiedenen Munitionstypen an unbekannten Orten.
Frankreich Unbekannte (kleinere) Mengen und Typen
chemischer Munition. Aufrüstung mit vermutlich binären CW 1987 beschlossen.
Proliferation Mindestens 15 weitere Staaten verfügen
über CW. „CW = die Atombombe des kleinen Mannes“

In Kasten 1 ist zusammengefaßt, was über C-Potentiale bekannt ist. Das Informationsmonopol der Vereinigten Staaten spiegelt sich darin wider, daß hier plausible Schätzungen der grundsätzlich geheimgehaltenen Kampfstoffmengen überhaupt möglich sind. Auch die Vereinigten Staaten geben also keine offiziellen Informationen über ihre Vorräte. Sie haben aber bekannt gemacht, welche Kampfstoffe in welchen Munitionsarten und in welcher prozentualen Verteilung über die 8 bekannten kontinentalen US-Lager verteilt sind.3

Amerikanische Schätzungen der sowjetischen Kampfstoffvorräte gehen bis weit über das 10-fache der US-Bestände hinaus und sind offenbar im Sinne von „worst case“-Annahmen überhöht.

Wegen unterschiedlicher biologischer Wirkungen und dazu erforderlicher Giftmengen lassen sich Kampfstoffe nicht ohne weiteres vergleichen. Nervenkampfstoffe sind mit Abstand am gefährlichsten. Bei Spekulationen über Tonnagen ist weiterhin zu beachten, daß die Waffen rund 10 mal so viel wiegen wie das darin gespeicherte Gift.

Ein ernstes Problem ist die zunehmende Weiterverbreitung (Proliferation) gerade auch bei C-Waffen. Nach US-Angaben 4 ist bei 4 Staaten der Besitz von C-Waffen evident: Frankreich, Irak, Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. 11 weitere Staaten werden verdächtigt, daß sie über solche Waffen verfügen: Ägypten, Äthiopien, Burma, China, Israel, Nordkorea, Libyen, Syrien, Taiwan, Thailand und Vietnam. Als Schwellenländer werden außerdem der Iran und Südkorea eingeschätzt.

Proliferation erschwert und verunsichert Abrüstung und wirkt wie eine heimtückische Zeituhr. Eine besondere Destruktivität geht von Frankreich aus, das bei quantitativ geringem Einsatz mit eigenen Mittelstreckenraketen, der Neutronenbombe und jetzt auch modernisierten C-Waffen Abrüstungshindernisse aufbaut. Die genannten Waffen bedrohen auf Grund ihrer begrenzten Reichweiten auch die befreundete Bundesrepublik.

Wirkung und militärischer Einsatz von C-Waffen

Seit dem vorigen Jahrhundert wird versucht, die Greuel des industrialisierten Krieges durch völkerrechtliche Normen zu begrenzen. Innerhalb des Kriegsvölkerrechts soll das „Haager Recht“ dafür sorgen, daß den Kriegsführenden „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes“ zusteht. Das „Genfer Recht“ will dagegen bestimmte Personengruppen, vor allem die Zivilbevölkerung, vor Kriegseinwirkungen bewahren.5 In der Realität nimmt aber das Verhältnis von ermordeten Zivilisten zu Soldaten von einem Krieg zum nächsten zu.

Nervenkampfstoffe töten in geringsten Mengen durch Atmung, Hautkontakt und Nahrungsaufnahme. Zivilisten sind unter den Bedingungen eines modernen Krieges vor Giftgas nicht zu schützen. Soldaten verfügen dagegen über die erforderlichen Schutzmittel: Maske, Kampfanzug, gasdichte Fahrzeuge und dergleichen. Sie werden dazu trainiert, innerhalb von Sekunden, die hier zählen, diesen Schutz zu aktivieren. Der Einsatz von Giftgas hat in bisherigen Kriegen zu entsetzlichem Leid und Sterben geführt. Aber durch keinen dieser barbarischen Akte wurden jemals Schlachten oder gar Kriege entschieden. In den letzten Jahren haben Befürworter der C-Waffen angeführt, daß diese dazu benutzt werden könnten, das Leben beispielsweise auf einem frontnahen Flugplatz auszurotten, den der Aggressor im Zuge einer „Vorwärtsverteidigung“ anschließend einnehmen und selbst nutzen möchte. Eine andere Vorstellung ist die, daß sich im Chaos eines Krieges so etwas wie eine Eskalationsfolge der Waffenarten einhalten ließe – konventionell, chemisch, atomar -, wobei die chemischen Massenvernichtungsmittel die „atomare Schwelle“ anheben sollen. Beide Vorstellungen sind militärisch höchst fragwürdig.

Die Unsinnigkeit und Widersprüchlichkeit einer Waffe, die bei dem geringsten Einsatz schon große Teile der Zivilbevölkerung umbringen würde, deren militärischer Effekt aber selbst bei massivstem Einsatz ungewiß bleibt, ist in Kasten 2 veranschaulicht.

Chemischer Krieg in Europa: 98 % der Opfer Zivilisten – militärischer Effekt fragwürdig?
1. Aspekt: C-Waffen töten in geringsten Mengen

Unter der (unrealistischen) Annahme einer 3 Meter hohen tödlichen Wolke mit dem Nervenkampfstoff VX
und eintägiger Einwirkung:
Gebiet km2 tödl. VX-Menge in t* % der Vorräte** x-facher Overkill
BRD 248.103 5 0,02 5.803
Mitteleuropa 1.132.103 24 0.08 1.272
Welt (Landmasse) 149.106 3.104 10 3
Annahmen: * LCt50VX = 10 mg x min x m-3 6, hochgerechnet auf
1 Tag | ** US-Vorräte = SU-Vorräte = jeweils ca. 15.000 t
2. Aspekt: Der militärische C-Einsatz wird im Tonnenmaßstab geplant
Bei Kampfhandlungen werden 0,1- 10t Kampfstoffe pro Hektar oder pro Ziel verschossen.
(10 t/ha ist 5 Millionen mal mehr als nötig um zu töten). Dieser ungeheure Oberschuß
wird für erforderlich gehalten
– weil Soldaten sich gegen C-Waffen schützen können
– und wegen das Einflusses von Wind und Wetter

Bei dem hypothetischen Modell der tödlichen Wolke wurde der seßhafte Kampfstoff VX angenommen. Die Giftmengen, die sich rechnerisch ergeben, würden sich im Falle der gedachten Kontamination der Bundesrepublik und selbst noch von Mitteleuropa mit einem Lastwagen transportieren lassen. Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:

1. C-Waffen sind Unsinnswaffen.. Sie töten Zivilisten, ihre militärische Bedeutung hängt von der Überraschung ab 7 und beruht letztlich darauf, daß Soldaten durch die Ungefüge Schutzkleidung bei ihrem Handwerk behindert werden.

2. Die vorhandenen Nervenkampfstoffe sind bereits so giftig, daß es von untergeordneter Bedeutung ist, ob zu den bekannten noch neue Gifte entwickelt werden oder nicht. Aus dem gleichen Grund sind auch die wahren (geheimen) C-Vorräte der Supermächte zweitrangig: Sie sind auf jeden Fall zu groß!

3. Der Vorbehalt einiger Unterzeichnerstaaten des Genfer Protokolls, C-Waffen als „Repressalie“ (Vergeltungskapazität) für den Fall zu benötigen, daß sie mit C-Waffen angegriffen werden 8 überzeugt nicht: C-Waffen morden auch als Repressalie Zivilisten und sind militärisch obsolet.

Ächtung der C-Waffen: Welche Chancen hat die C-Konvention?

Das Verbot der C-Waffen, über das in Genf seit 1968 unter Beteiligung von 40 UN-Mitgliedsstaaten und zusätzlich (mit Unterbrechungen) auch bilateral zwischen den USA und der UdSSR verhandelt wird, muß umfassen: Die Kontrolle der Beständevernichtung und der Nichtherstellung chemischer Waffen.9 Der Rahmen des Abkommens – Definitionen, Richtlinien für die zu schaffende Verifikationsbehörde und -prozeduren, Fristen und Formalitäten – war im Prinzip, wenn auch noch mit alternativen Formulierungen, bereits 1984 fertig (CD/539; vgl. auch 10). Seitdem hängt der Vertrag kaum noch von Verhandlungsdurchbrüchen ab, auch nicht in der Verifikationsfrage. Es fehlt, daß er endlich beschlossen wird.

Eine lückenlose Erfassung eventueller verbotener C-Aktivitäten ist nicht möglich. Abrüstung ist stets auf eine Mischung von Kontrolle und Vertrauen angewiesen und kann kaum mehr behindert werden, als durch die Forderung nach absoluter Verifikation. Der wichtige quantitative Aspekt des Problems der C-Abrüstung ist in Kasten 3 dargestellt: Zu einem C-Potential gehört eine Mindestmenge an Waffen. Die vorhandenen Instrumente der Kontrolle und der chemischen Spurenanalytik sind zu empfindlich, als daß es ein Staat wagen könnte, das C-Verbot zu unterlaufen.

Läßt sich die Abrüstung von C-Waffen kontrollieren?

Weil Kampfstoffe heimlich produziert werden könnten, gibt es Zweifel, ob ein Totalverbot
verfiziert werden kann.

In der Tat – ein Chemiestudent, der es darauf anlegt, ist kaum daran zu hindern, einen
Kampfstoff in Mengen von 1 oder 2 Litern herzustellen. Ebenso wenig läßt sich
verhindern, daß Gifte zu kriminellen oder terroristischen Zwecken mißbraucht werden.

Für militärische Zwecke werden jedoch Vorräte in der Größenordnung von 10.000
Tonnen Kampfstoffen benötigt. Dies entspricht etwa 100.000 Tonnen chemischer Waffen
(Granaten, Bomben oder dgl.).

Es ist ausgeschlossen, daß sich Vorräte auch weit unterhalb dieser Mengen (in
speziellen Lagern) vor den nationalen und internationalen Instrumenten der Verifikation
verbergen lassen.

Veränderte Situation nach den Binaries

Die Entwicklung binärer C-Waffen wird in den USA seit 1954 betrieben.11 Präsident Reagan forderte seit 1982 die Produktion dieser Waffen, konnte sich aber nur schrittweise gegen den Kongreß durchsetzen, der die Mittelfreigabe immer wieder verzögerte. Senator Mike O. Hatfield, Vorsitzender des Bewilligungsausschusses, richtete ebenfalls schon 1982 einen dringenden Appell an die Europäer, die für Europa bestimmten neuen Giftwaffen nicht zu akzeptieren. Am 19. Dezember 1985 genehmigte der Kongreß schließlich die Produktion von geplanten 1,2 Millionen Haubitzengranaten vom Kaliber 155 mm mit jeweils 4,4 kg des binären Nervenkampfstoffes Sarin, band die Genehmigung jedoch an folgende Auflagen an den Präsidenten: Dieser mußte dafür sorgen, daß die NATO den neuen C-Waffen als Streitkräfteziel zustimmt und Stationierungspläne sowie Einsatzrichtlinien für diese Waffen erläßt.

Die Zustimmung zu dem neuen Streitkräfteziel kam am 22. Mai 1986 zustande, allerdings nicht auf der vom Kongreß vorgeschriebenen hohen Ebene der Außenminister, sondern nur der des Nordatlantikrates, und sie wurde ohne Vorbehalte auch nur von der Bundesrepublik, England und der Türkei gegeben.10 US-Senatoren erhoben daraufhin Einspruch bei dem Generalsekretär der NATO, Lord Carrington, wegen des niedrigen Ranges der Entscheidung und der fragwürdigen Konsensbildung. Am 18.10.1987 hat der Präsident in Erfüllung einer letzten Kongreßauflage formell versichert, daß die Produktion der (binären) „C-Waffen im Interesse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten und der Interessen der anderen NATO-Mitglieder notwendig“ sei. C-Waffen sind zwar ohne jede Bedeutung für die amerikanische Landesverteidigung; mit der Erklärung des Präsidenten war aber die letzte Hürde, die der Kongreß vor die neuen Giftwaffen gesetzt hatte, im Prinzip, wenn auch nicht in guter Form, genommen. Bereits 1987 durften Bestandteile der Binärgranaten gefertigt werden, nur der Zusammenbau war bis zum 1. Dezember 1987 verwehrt. Zur Stunde dieses Schreibens ist es noch ungewiß, ob der US-Kongreß die Produktion jetzt zuläßt. Ebenfalls unklar ist der Stand des Genehmigungsverfahrens bei der zweiten Binärwaffe, der Gleitbombe „Bigeye“. Geplant sind 44.000 dieser Bomben mit jeweils 226 kg binärem VX, das während des Fluges versprüht werden soll. Die Entscheidung über diese Waffe war wegen gravierender Funktionsmngel 1985 zurückgestellt worden.

Die Veränderung der Kontrollsituation bei C-Waffen durch das mögliche Auftreten von Binärwaffen ist in Kasten 4 dargestellt. Das Prinzip der Binärwaffen beruht bekanntlich darauf, daß 2 oder mehr Chemikalien (sogenannte Prekursor) erst nach dem Abschuß der Waffe in einer schnellen chemischen Reaktion den Kampfstoff bilden. Beispielsweise entsteht binäres Sarin gemäß

Methylphosphonsäure-difluorid + Isopropanol Sarin + Flußsäure
„Schlüssel“perkursor 2. Perkursor Nervenkampfstoff Beiprodukt (Ballast)
flüssig flüssig flüssig Gas

Die US-Army hatte eine Zeitlang nach „kleinen Fabriken mit spezieller Erfahrung“ gesucht, für die die Produktion der Schlüsselkomponenten eine „goldene Gelegenheit“12 sein könnten Bei einem C-Verbot wäre es schwierig, solche Fabriken ausfindig zu machen. Isopropanol ist eine allgemein verfügbare Chemikalie, die nicht speziell hergestellt werden muß und die auch nicht reglementiert werden kann. Anstelle von Sarin kann der Nervenkampfstoff Soman binär hergestellt werden, wenn Pinakolyl-Alkohol als zweitem Prekursor eingesetzt wird. Auch Gifte, die sich z.B. wegen begrenzter Lagerbeständigkeit nicht als Kampfstoff eignen, sind u.U. binär zugänglich: Als Beispiel ließe sich Phenyl-Sarin anführen, das mit Phenol als 2. Prekursor entsteht.

Die Binärreaktion wird dadurch ausgelöst daß Behälter mit den beiden Komponenten beim Abschuß der Granate platzen und die Geschoßdrehung eine intensive Durchmischung der Flüssigkeiten bewirkt. Der Alkoholkanister darf grundsätzlich erst unmittelbar vor dem Abschoß in die Granate eingesetzt werden. Der US-Kongreß hat sogar vorgeschrieben, daß Granate und zweiter Kanister in verschiedenen US-Bundesstaaten aufbewahrt werden müssen, solange sich die Waffen in den USA befinden. Dies alles unterstreicht den Bausteincharakter der Binärwaffen. Wenn die kennzeichnende Beschriftung weggelassen wird, ist die chemische Granate nicht von anderen Granaten des in der NATO verbreiteten Kalibers 155 mm zu unterscheiden. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Binärwaffen nicht unbedingt in speziellen Lagern untergebracht werden müssen.

Die oben formulierte „Sarin-Gleichung“ zeigt nur einen der Wege, auf denen binär ein Kampfstoff entstehen kann, und die Reaktion ist stark vereinfacht geschrieben. Tatsächlich enthält der Kanister mit dem phosphororganischen Prekursor noch 2 % N,N-diisopropylcarbodiimid und der andere Kanister ein Gemisch aus 72 % Isopropanol und 28 % Isopropylamin (als Reaktionsbeschleuniger).13 Während des Flugs der Granate soll die Ausbeute an Sarin 80 % betragen. Wegen der Anwesenheit von Zusatzstoffen und der Bildung von Flußsäure entspricht dies aber nur etwa 60 % Sarin bezogen auf die mitgeführten Chemikalien.

Veränderte Situation nach den Binaries
Gegenwärtige (unitäre) C-Waffen binäre C-Waffen
Produktion Spezialfabriken umgeben von Sicherheitszonen in gewöhnlichen Fabriken möglich
vh I
Transport gefährlich, spezielleSicherheitsvorkehrungen kein besonderes Risiko, Perkursoren werden getrennt
transportiert und gelagert.Logistische probleme?
h I
Lagerung spezielle Lager, erkennbar an Sicherheitsmaßnahmen ähnlich
A-Lager
spezielle Lager nicht unbedingt erforderlich
vh I
Handhabung Gefährlichb auch für den Agressor keine besonderen Risiken
Wahrscheinlichkeit der
Entdeckung: vh = sehr hoch, h = hoch, l = gering

Die erwähnten Eigenschaften machen gemäß Kasten 4 die Kontrolle von Binärwaffen sehr viel schwieriger als die der Unitaren C-Waffen. C-Abrüstung muß daher beschlossen werden, bevor Binärwaffen, zumindest in nennenswerten Mengen, in die Welt gesetzt sind.

Der Vertrag über die Abrüstung der Mittelstreckenraketen hat gerade deutlich gemacht, bis in welche Tiefen bisheriger Militärgeheimnisse Kontrolle vordringen muß. Es kann durchaus nützlich sein, daß sich die Kontrahenten so intensiv beobachten müssen. Je realistischer die Basis der gegenseitigen Einschätzung wird, desto weniger können aufgeblasene Feindbilder die Realität ersetzen; Kontrolle kann ausgebrochen vertrauensbildend wirken. Überzogene Kontrolle wird aber Mißtrauen fördern. Die gerade noch günstigen Verifikationspfade sind schmal und kostbar, Kontrollvereinbarungen sollten so abgestimmt werden, daß sie effizient sind und Vertrauen eher schaffen als verbrauchen. Für die C-Konvention bedeutet dies: Sie muß auf der Basis der bisherigen, Unitaren C-Waffen abgeschlossen werden, man darf nicht warten, bis diese Basis durch die aufkommenden Binärwaffen zerrüttet wird. Nach 19 Verhandlungsjahren über die Abschaffung der alten C-Waffen haben sich die Staaten damit vertraut gemacht, was an Kontrolle auf sie zukommt. Die Vernichtung dieser Waffen wird als gemeinsamer Erfolg empfunden werden und kann die alleinige Basis schaffen, von der aus sich mögliche künftige Verstöße, unitär oder binär, im Keine ersticken lassen und auch das durch Proliferation zustande gekommene Giftgas wieder aus der Welt geschafft werden kann.

Abkürzungen

Kampfstoffe:

GB = SARIN = Methylfluorphosphonsäureisopropylester;

GD = Soman = Methylfluorphosphonsäurepinakolinester,

VX = Ethyl-S-diisopropylaminethylmethylphosphonsäureethiolat,

S-Lost = HD = Yperit = Senfgas = 2-dichlordiethylsulfid,

Lewisit = 2-Chlor = Vinylarsindichlorid.

LCT50 = „Habersches Tödlichkeitsprodukt“: Giftmenge, die beim Binatmen bei 50% der Betroffenen zum Tode führt in mg x min x m-3.

Anmerkungen

1 Chemical Stockpile Disposal Program. Draft Programmatic Fnvironmental Impact Statement (DPEIS). Office of the secretary of Defense. wa shington D.C. 20301. Juli 1986 Zurück

2 Perry Robinson J. P. in SIPRI Yearbook 1986, Oxford University Press, s. 168 wie Zitat Zurück

3 Wie Zitat 1 Zurück

4 Arms Control Today September 1986 Zurück

5 Däubler, W., Stationierung und Grundgesetz, rororo aktuell 1982 Zurück

6 WHO, Health Aspects of Chemical and Biological Weapons. Genf 1970 Zurück

7 Field Manual 100-5, Headquarter, Department of the Army, Washington D.C., 20. August 1982, 7-12 Zurück

8 Bundesminister für Verteidigung, Weißbuch 1983 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland Bonn 1983, Abschnitt 288 Zurück

9 Hoffmann, H. in Dosch, W., Herrlich, R. (Hrsg.) Ächtung der Giftwaffen, Fischer 1985, 57-72 Zurück

10 wie 9 (Einleitung) 29-31 Zurück

11 Weltföderation der Wissenschaftler: Chemische Waffen und die Folgen ihrer Anwendung. Studie des Abrüstungsausschusses 1986, S. 41 Zurück

12 Ember, L. R., Chemistry and Engeneering News, Washington D.C., August 1982, 32-34 Zurück

13 Stöhr, R. Mitteilungsblatt Chemische Gesellschaft DDR, April 1987, S. 80 Zurück

Dr. Werner Dosch ist Professor am Institut für Geowissenschaften der Universität Mainz.

Der B-Waffenvertrag nach der II. Reviewkonferenz: Einen biologischen Rüstungswettlauf verhindern!

Der B-Waffenvertrag nach der II. Reviewkonferenz: Einen biologischen Rüstungswettlauf verhindern!

von Helmut Weigel

Die ungeahnten Möglichkeiten durch die neuen Methoden der Gentechnologie nähren die alten Hoffnungen der Militärs: Die Liste der Nachteile von einst wurde längst zum „Wunschkatalog“ an die Gentechniker von heute (siehe Kasten). Es wird wieder intensiv geforscht. Dabei verbietet der 1972 für die B-Waffen abgeschlossene Vertrag nicht nur ihren Einsam, sondern auch ihre Entwicklung, Herstellung und Lagerung. Es ist bis heute der einzige Vertrag, der eine gesamte Waffengattung umfaßt. Von daher ist es gerade heute von höchster Wichtigkeit, alles daran zu sehen, daß dieses Übereinkommen seinen ursprünglichen Absichten auch zukünftig gerecht wird. Es dürfte die einzige mögliche Alternative sein, um heute einen neuen biologischen „Rüstungswettlauf“ einzudämmen.

Dieser Aufgaben sahen sich die diplomatischen Vertreter von 67 Nationen im vergangenen Herbst gegenübergestellt, als sie sich zu einer Konferenz in Genf trafen, um die B-Waffen-Konvention auf Mängel hin zu überprüfen. Fest steht heute, daß die mit dieser Konferenz verbundenen Erwartungen, die schließlich nach zähem Ringen erzielten und in einer gemeinsamen Abschlußerklärung zusammengefaßten Ergebnisse und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen erst noch in den politischen Alltag eingebunden werden müssen. Das seht voraus, daß die Stimmen der aktiv Beteiligten nicht im diplomatischen Dschungel verhallen. Ihre, naturgemäß die eigene Sichtweise hervorhebende, Kommentierung der Konferenz ist jüngst in „Disarmement“ erschienen.1

Alle Teilnehmer waren sich der Herausforderung bewußt, den in Schwierigkeiten geratenen Vertrag zu stärken. Sie konnten seine Anfechtbarkeit nicht länger mehr ignorieren, zu offensichtlich sind inzwischen die gewaltigen Mißbrauchsmöglichkeiten von Bio- und Gentechnologie. Noch auf der 1. Konferenz zur Überprüfung des B-Waffen-Vertrages glaubte man, daß der Vertrag ausreichend umfassend sei, um neue Entwicklungen abzudecken. Das genügte diesmal nicht mehr.

Dazu trug ganz wesentlich eine SIPRI-Studie bei, die zu Beginn der Konferenz an alle Delegationen verteilt wurde und schonungslos die Vertragsschwächen bloßlegte. Diese von dem Virologen und Mitglied der DDR-Delegation, Erhard Geissler, herausgegebene Studie wurde wegen ihrer konkreten, von einer internationalen Wissenschaftler- und Expertengruppe unterstützten Vorschläge gelobt. „Biological and Toxin Weapons Today“, so der Titel der Studie, erkannte aber auch die Grenzen: Eine vollständige Beseitigung aller B- und Toxinwaffen wird wohl nur durch ein Verbot von C-Waffen erreicht werden können. Geissler war übrigens der einzige aktive, international anerkannte Biowissenschaftler auf der Konferenz.

Nicht ohne Einfluß auf die schließlich erzielten Fortschritte dürfte das damals bevorstehende Gipfeltreffen in Reykjavik gewesen sein. Die üblichen amerikanischen Anschuldigungen an die Adresse der Sowjetunion fielen vergleichsweise moderat aus. Lynn M. Hansen, Assistenzdirektor für multilaterale Angelegenheiten bei der amerikanischen Rüstungskontrollbehörde, bezeichnete in seiner Konferenzkommentierung das Vorgehen der US-Delegation als „kritisch, aber konstruktiv“.9 Offensichtlich wollte man, auch mit Rücksicht auf die neutralen Staaten, Kooperationsbereitschaft demonstrieren und das Thema in dieser Runde nicht allzusehr hochspielen.

Mehr noch überraschte die Sowjetunion. Gleich zu Konferenzbeginn bot sie an, alle Fragen bezüglich vorhandener Zweifel an ihrer Vertragstreue zu beantworten. Der sowjetische Vertreter sagte, sein Land wäre bereit, alle Informationen zu geben, welche die amerikanische Delegation haben möchte, um ihre Zweifel ausräumen zu können, und fing von sich aus an, über die Milzbrandepidemie von Swerdiowsk im Jahre 1979 zu berichten. Er führte Beweise an, die die US-Behauptung, es handle sich um die Folgen eines Unfalls in einer geheimen Fabrik für biologische Kampfstoffe, widerlegten. Das wirkte überzeugend. Ein europäischer Delegierter warnte: der Westen könnte noch von einer Informationsflut aus dem Osten überrascht werden.

Sichtlich bemüht um die Stärkung des B-Waffen-Vertrages schlug die Gruppe der sozialistischen Staaten im Laufe der Generaldebatte die Ausarbeitung eines Ergänzungsprotokolls zur Klärung von Kontrollmaßnahmen und ein Expertentreffen vor, das eine gesonderte Konferenz zur rechtsverbindlichen Annahme des ausgearbeiteten Protokolls vorbereiten sollte, fand damit Anforderungen an militärisch einsetzbare pathogene Mikroorganismen, Viren und Toxine aber keine Mehrheit, da sich die Mehrheit der Delegation schon zu Beginn der Konferenz darauf verständigt hatte, daß ein formeller Ergänzungsantrag nicht in der Zuständigkeit dieser Konferenz liege. Der Vorschlag war dennoch bemerkenswert, denn nach wie vor gab und gibt es sehr unterschiedliche Meinungen darüber, wie eine verbindliche Änderung des Vertrages eingeleitet werden sollte.

(US Department of Army and Air Force, 1964) 2:

– stark schädigendeWirkung

– eingeschränkte Abwehrmöglichkeiten

– Möglichkeit effizienter Verbreitung (Versprühen als Aerosol, Stabilität, Kontrollierbarkeit)

– Herstellbarkeit in großen Mengen

Vom Pentagon durch Gentechnik zukünftig als realisierbar eingeschätzt (US Department of Defense Biological Defense Program, 1986) 3:

– in Minuten wirkende Toxine; maßgeschneiderte, physiologisch aktive Peptide

– Organismen mit neuen Immuncharakeristiken, die sich einem Impfschutz oder dem menschlichen Immunsystem entziehen

– Impfstoffe, Diagnoseverfahren; umweltstabile Toxine

– in großen Mengen herstellbare Pflanzen- und Pilztoxine

Vor allem Schweden und den neutralen Staaten war es zu verdanken, daß man mit dem Problem einer besseren Vertragsüberwachung weiterkam. Der schwedische Vorschlag lief darauf hinaus, verstärkt Informationen auszutauschen. Denn nur absolute Offenheit kann jene Verdächtigungen verhindern, die den Vorwand für eskalierende militärische Verteidigungsantworten liefern. Man einigte sich auf wichtige vertrauensbildende Maßnahmen zur Stärkung des Vertrages. Zukünftig sollen die Standorte der sogenannten Hochsicherheitslabore, sowie Umfang und Art der dort betriebenen Forschung, ebenso bekannt gemacht werden, wie das Auftreten ungewöhnlicher Krankheitsausbrüche irgendwo auf der Welt. Darüberhinaus sollen auf wissenschaftlicher Ebene Kontakte ausgebaut und gemeinsame Forschungsprogramme gefördert werden.

Freilich ist damit noch immer ungeklärt, wie mit einer vorgebrachten Anschuldigung, den Vertrag zu verletzen, verfahren werden soll. Man kann sich zwar an den UN-Sicherheitsrat wenden, jedoch genügte bisher stets ein Veto, um es erst gar nicht zur Einberufung einer Untersuchungskommission kommen zu lassen. Der Versuch der USA, den Sicherheitsrat zu umgehen, indem sie beispielsweise ihre Anschuldigungen über sowjetische Vertragsverletzungen vor die Generalversammlung brachten, hatte auch nicht mehr Erfolg. Denn unabhängig davon, wer letztlich eine Expertengruppe einberuft, zur tatsächlichen Aufklärung braucht man zuerst ein von allen akzeptiertes Überprüfungsverfahren, welches insbesondere Vor-Ort-Untersuchungen regelt. Ohne abgestimmte Verifikationsprozeduren leidet nämlich die Glaubwürdigkeit einer wie auch immer zusammengesetzten Untersuchungskommission, ja sogar ihr Mißbrauch kann nicht ausgeschlossen werden. Hier ist von allen Beteiligten noch einige Arbeit zu leisten.

Ungeachtet dessen wurde erneut, wie schon auf der ersten Zusammenkunft, der ziemlich unklare Vorschlag eines „Konsultativmeetings“ eingebracht, das jeder Staat jederzeit fordern könne und in dem kein Staat ein Vetorecht haben dürfe. Als die Konferenz hierzu beschloß, ein solches Konsultativmeeting erst einmal klarer zu definieren und seine Aufgaben besser zu präzisieren, entsprach das nicht ganz den Erwartungen vieler westlicher Delegationen. Viele wünschten sich, den UNO

Generalsekretär mit der Einberufung eines derartigen Meetings zu betrauen, wie es im Falle des Iran-Irak-Konflikt zur Prüfung eines unerlaubten C-Waffen-Einsatzes bereits einmal geschehen ist.

Die überaus rasche Entwicklung auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnologie, so der peruanische Botschafter Jorge M. Pando in seiner Konferenzbewertung,4 bereitet den Dritte-Welt-Staaten zunehmend Sorge. Sie warnen vor einer rapide größer werdenden Kluft zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern bei der friedlichen Nutzung der Gen- und Biotechnologie und fordern deshalb neue institutionelle Wege, die eine bessere Zusammenarbeit gewährleisten sollen. Die sozialistischen Staaten unterstützen zwar dieses Verlangen, aber noch gibt es kaum Fortschritte. Auch die in der Abschlußerklärung der B-Waffen-Konferenz formulierte Forderung, ökonomische und soziale Entwicklung in den Entwicklungsländern zu fördern, bleibt ohne Wirkung, solange lediglich auf andere diplomatische Gesprächskreise verwiesen wird und konkrete Lösungsansätze fehlen. Man war ganz offensichtlich froh, das Problem auf die UNO-Konferenz über zusammenhängende zwischen Abrüstung und Entwicklung, die im Herbst dieses Jahres stattfand, vertagen zu können.

Unter dem Eindruck der Pannen in Fort Detrick 5, die unmittelbar vor Konferenzbeginn bekannt wurden, aber auch aus Furcht vor denkbaren terroristischen Absichten, drängten die Konferenzteilnehmer auf nationale Gesetze zur Laborsicherheit. Jeder Staat solle die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen ergreifen, um den Verbleib pathogener und toxischer Materialien zu überwachen. Es bleibt abzuwarten, ob das Gefährdungspotential militärisch interessanter „Agenzien“ per Gesetz überhaupt angemessen kontrollierbar ist. Nicht wenige Wissenschaftler sind vielmehr der Meinung, daß eine Kontrolle neuer Agenzien sehr viel schwieriger sei als ihre Entwicklung.

Eine gravierende Schwäche des Vertrages ist sein Geltungsbereich. Durch die stürmische Entwicklung der Biotechnologien läuft der Vertrag Gefahr, überholt zu werden. Noch vor wenigen Jahren eindeutig als biologisch eingestufte „Agenzien“ lassen sich heute zu Substanzen reduzieren, für die der Vertrag nicht mehr gilt. Die bisherige Definition von B- und Toxinwaffen müßte daher unbedingt erweitert und präzisiert werden. In einer zwischen den Hauptantagonisten direkt ausgehandelten Formulierung ist nochmals eindringlich die Gültigkeit des Vertrages für alle relevanten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen unter ausdrücklicher Einbeziehung zukünftiger Entwicklungen wiederholt worden.6

Eine international anerkannte Definition für Toxine fehlt jedoch. Damit existiert nach wie vor eine Grauzone zwischen dem vorhandenen B-Waffen-Vertrag und dem ausstehenden C-Waffen-Übereinkommen. Diese Situation unterstreicht abermals die Wichtigkeit eines umfassenden Verbots chemischer Waffen.

Nach Abschluß der Generaldebatte lagen insgesamt 49 Vorschläge für die Abschlußerklärung auf dem Tisch. Dennoch schaffte man es, in nur 4 Tagen einen konsensfähigen Entwurf abzufassen. Diese Meisterleistung war einmal möglich, weil in der ersten Konferenzwoche der erfolgreiche Abschluß der Stockholmer Konferenz Verhandlungsbereitschaft signalisierte, freilich aber auch, weil die Angst vor einem neuerlichen Rückschlag sehr groß war. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Abschlußerklärung enthält Konkreteres als vergleichbare Texte so mancher anderen Konferenz. Den zu verhandelnden Stoff für das nächste Treffen, das nicht später als 1991 stattfinden soll, hat man sich gleich mit aufgegeben. Vorgesehen ist u.a. die weitere wissenschaftlich-technische Entwicklung der Biotechnologie, die Wirksamkeit eingeleiteter vertrauensbildender Maßnahmen und rechtsverbindliche Verbesserungen des Vertrages zu beraten.

Obwohl mit der Formulierung von Verhandlungsthemen für die nächste Untersuchungskonferenz wichtige Entscheidungen zunächst hinausgeschoben wurden, bleibt als politisches Ergebnis, die offenen Punkte (Definitionsfragen, Überprüfbarkeit und Verbindlichkeit der getroffenen Vereinbarungen) benannt zu haben und die Absicht, sie einer Lösung zuführen zu wollen. Zwar haben die Gegner rechtsverbindlicher Erklärungen noch einmal Zeit gewonnen, jedoch kann es sich kein Staat mehr leisten, auf den ursprünglichen Vertragstext zurückzufallen. Ausschlaggebend für diese Vorgehensweise war die nicht unbegründete Hoffnung vieler Konferenzteilnehmer, daß noch vor Ende der 80er Jahre ein Vetrag über chemische Waffen zum Abschluß komme. Sobald ein solcher Vertrag unterzeichnet ist, so glaubt man, dürfe die Befürwortung einer Vertragsergänzung oder -änderung sehr viel wahrscheinlicher sein. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Verifikation für biologische Waffen sehr viel schwieriger sein wird als für chemische Waffen.

Das eigentliche Problem des B-Waffen-Vertrages, die Erlaubnis von Forschung zu Verteidigungszwecken, bleibt ungelöst. Wer immer in den Militärlabors mit Krankheitserregern und Bakterien geotechnisch probiert – und biologische Agenzien und Toxine sind heute leicht und schnell herstellbar – wird seine Arbeit als erlaubte Forschung im Sinne des B-Waffen-Vertrages verstehen. Was nützt aber ein Entwicklungsverbot für offensive Zwecke, wenn Nachweis und Schutzgeräte mit echtem B-Kampfstoff getestet und nach Impfstoffen für ausgefallene Krankheiten gesucht wird? Die Forschung zum Schutz vor B-Waffen ist vollkommen identisch mit der Forschung zur Herstellung einer B-Waffe. Auch wird von vielen Wissenschaftlern bezweifelt, daß Impfstoffe für Verteidigungszwecke geeignet sind. Ohne vorherige Warnung, so ihr Argument, gibt es keine Möglichkeit, die gesamte Bevölkerung vor einer Vielzahl entwickelbarer, ungewöhnlicher Infektionskeime zu schützen. Immunisierung diene daher nur einem Aggressor, der den B-Waffen-Einsatz plant. Eine Entwicklung und Herstellung neuer hochgefährlicher Pathogene unter dem Etikett „Defensivmaßnahme“ ist auch dann nicht zu rechtfertigen, wenn die Keime als Waffen nutzlos sind. Allein ihr Vorhandensein stellt eine Lebensbedrohung dar. Daher müssen Schritte gegen derartige Vorhaben so früh wie möglich unternommen werden.

Noch sind nicht alle so konsequent in ihrer Haltung wie beispielsweise die US-Wissenschaftler Novick oder Lewitt. Beide lehnen B-Waffen-Forschung ab. Richard P. Novick ist Direktor des New Yorker Forschungsinstituts für öffentliche Gesundheit. Er arbeitet z.Zt. mit Staphylococcus-Bakterien, die eine schlimme Form von Lebensmittelvergiftung verursachen. An ihn trat das Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID), ein Forschungsinstitut der US-Armee in Fort Detrick, mit dem Angebot, für seine Forschungen Geldmittel bei ihnen zu beantragen.7 Warum, so fragte er sich, interessiert sich das Pentagon für meine Forschung? Das Ansinnen erschien ihm sehr bedenklich und höchst sonderbar; er lehnte kurzerhand ab. Lewitt forschte früher selbst am militärmedizinischen Institut in Fort Detrick. Heute beschuldigt er die amerikanischen Streitkräfte schwerer Versäumnisse bei ihrem Biological Defense Program.8

Die Zahl der Biologen, denen vom amerikanischen Verteidigungsministerium Forschungsgelder und Jobs angeboten werden, hat in letzter Zeit erheblich zugenommen. Die meisten Wissenschaftler haben nach wie vor keine Bedenken, im Auftrag des US

Verteidigungsministeriums zu forschen. 90 Millionen Dollar hat das Pentagon allein 1986 für sein Biological Defense Research Program ausgegeben. Seit 1981 haben sich die Ausgaben versechsfacht – die Millionen für eine B-Waffen-Testanlage in Dugway/Utah nicht mitgerechnet. Das Hauptinteresse gilt seltenen Krankheitseregern und Toxinen. Mehrere Universitäten clonieren gleichzeitig im Auftrag des USAMRIID für ein toxinempfindliches Frühwarnsystem. Auch wenn dieses Jahre die Mittel auf 62 Millionen US-Dollar gekürzt worden find, das Forschungsprogramm wurde davon nicht betroffen. Und: Der Plan für ein neues Hochsicherheitslabor für B-Waffen-Tests auf dem Militärgelände bei Dugway/Utah ist trotz eines gerichtlich verfügten Baustopps keineswegs fallengelassen. Die Diskussion ist vergleichbar jener über Atomwaffen. Der Gedanke an biotechnisch produzierte Waffen ist mindestens ebenso schrecklich wie der eines Atompilzes!

Gerade die junge und um ihr Image besorgte amerikanische Bio-Industrie hat großes Interesse an der Einhaltung des B-Waffen-Vertrages. Das letzte, was sie nämlich gebrauchen kann, ist ein öffentliches Meinungsbild von gentechnisch erzeugten Produkten, die von Forschern stammen könnten, die auch in der Lage sind, Monstermikroben zusammenzubrauen. Die Industrie unterstützt daher einen Gesetzesentwurf, wonach der B-Waffen-Vertrag in den USA auch auf private Aktivitäten Anwendung finden soll.

Für die künftige Entwicklung des B-Waffen-Vertrages wird viel davon abhängen, wie sich die Scientific Community verhält und inwieweit alle Staaten bereit sind, vertrauensbildende Programme tatsächlich zu unterstützen und Transparenz zuzulassen. Je mehr Wissenschaftler und Politiker erkennen, daß B-Waffen-Forschung – auch zu Verteidigungszwecken – äußerst fragwürdig und gar nicht patriotisch ist, umso eher wird die Welt sich von der Geißel biologischer Waffen befreien können. Verantwortungsvolle Forschung bedeutet heute, Grenzen zu ziehen. Erst wenn ein Forschungsprojekt nicht mehr unter eine bestimmte kritische Schwelle gehen kann, wird der Reiz verloren gehen, es realisieren zu wollen. Ähnliches gilt für eine friedensstiftende Politik. Sie muß sich endlich aus den Fesseln überzogener Bedrohungsanalysen lösen.

Ausgaben für B-Waffenforschung in den USA 1981-1987 (Mio. $)
1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
15 22 38 60 67 66 73

Anmerkungen

1 Second Review Conference of the Biological Weapons Convention. Disarmement, Vol. X, Nr. 1 (1987), S. 43-77 Zurück

2 E. Geissler, SIPRI Yearbook 1984, Taylor & Francis, London (1984), S. 426Zurück

3 S. Wright, Bulletin of the Atomic Scientists, Jan/Feb 1987Zurück

4 J.M. Pando, a.a.O., S. 52-58 Zurück

5 Anfang der 80er Jahre verschwanden erhebliche Mengen Chikungunya-Virus aus Fort Detrick, ohne bis heute jemals gefunden zu werden. Chik, wie die militärforscher das Virus nennen, verursacht plötzlich ausbrechende schwere Gelenkschmerzen in den Gliedmaßen und in der Wirbelsäule, die den Betroffenen innerhalb von Stunden inaktivieren.Zurück

6 Die neue umfassendere Definition in der gemeinsamen Abschlußerklärung lautet jetzt: „Die Konvention gilt eindeutig für alle natürlichen oder künstlich hergestellten mikrobiologischen oder anderen biologischen Agenzien oder Toxinen ungeachtet ihres Ursprungs oder ihrer Herstellungsmethode. Pflanzliche, tierische und mikrobiologische Toxine (auf Protein- und Nichtproteinbasis) einschließlich ihrer synthetisch erzeugten Analoge werden von der Konvention erfaßt.“ Disarmement Vol. IX, Nr. 3 (1986) Zurück

7 Business Week, 10.8.87, S. 66 Zurück

8 In einer 26-seitigen Anklageschrift beschuldigt Nell Lewitt die US-Army u.a. weder die Umstände des Verschwindens von Chikungunya-Vinus aus Fort Detrick noch deren Verbleib ermittelt, dem Kongreß jahrelang nicht bestandene Sicherheitstests verschwiegen und Untersuchungen möglicherweise kontaminierten Zellmaterials versäumt zu haben. Bulletin of the Atomic Scientists, Jan/Feb 1987, S. 45 Zurück

9 L. M. Hansen, a.a.O., S. 59-65 Zurück

Dr. Helmut Weigel ist Diplom-Chemiker in Hamburg.

ABM-Vertrag

ABM-Vertrag

von Jürgen Scheffran

Spätestens seit dem Abbruch der Gipfelgespräche zwischen dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan in der isländischen Hauptstadt Reykjavik am 12. Oktober 1986 wurde der Weltöffentlichkeit klar, welche Bedeutung der ABM-Vertrag für die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten hat. Während eine Einigung bei der Reduzierung der Nuklearwaffen möglich erschien, ergaben sich hinsichtlich der Interpretation des ABM-Vertrages erhebliche Unterschiede. Ob die bisher gültige „restriktive“ und von Gorbatschow vertretene Auslegung des ABM-Vertrages, die SDI enge Grenzen auferlegen würde, während des Abbaus von Atom Waffen gültig sein soll, oder die von der Reagan-Administration vorgeschlagene „weite“ Auslegung ohne konkrete Grenzen für SDI, das war der wesentliche Streitpunkt in Reykjavik, der eine Einigung verhinderte.

Dies zeigt, wie wichtig es für die Friedensbewegung ist, sich mit dem ABM-Vertrag zu beschäftigen, ohne die Friedensdiskussionen auf rein rechtliche Fragen reduzieren zu wollten. Ohne diesen Vertrag wäre die „Büchse der Pandora“ neuer Waffensysteme im Weltraum völlig offen. Mit der Zukunft dieses Vertrages steht und fällt der Erfolg des Rüstungskontrollprozesses.

Struktur und Begriffe des ABM-Vertrages

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketenabwehr-Systeme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentiert die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell zu teuer und politisch strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung und das wichtigste Abkommen zur Rüstungsbegrenzung.

Mit Artikel I verbietet der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr zur Landesverteidigung. Unter ABM (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr)-Systemen werden nach Art. II generell alle Systeme zur „Bekämpfung anfliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden und als „gegenwärtige Komponenten“ bezeichnet werden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in dem zentralen Art. V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihren Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen untersagen, Nicht ABM-Systeme mit einer „ABM-Fähigkeit“ auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien bzw. technischer Konstruktionsbeschreibungen in andere Staaten (Art. IX und Interpretation G). Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste die Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein sollen, „um die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen, keine ABM-Systeme oder deren Komponenten zu stationieren“. Für die mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, hat jedoch eine Rücktrittsklausel.

Wie andere Verträge auch enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen, insbesondere die Begriffe „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Grauzonen und neue Waffentechnologien

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen. Taktische Raketenabwehrsysteme (ATM: Anti Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Ober den „Umweg“ von ATM und ASAT-Technologien könnten zugleich auch neue ABM-Technologien entwickelt werden. Neue Waffentechnologien, die mehreren Funktionen dienen können und schwierig zu unterscheiden sind, stellen eine ernste Herausforderung für Rüstungskontrolle und Verifikation dar und können die strategische Stabilität gefährden. Dies macht vorbeugende Kontrollmaßnahmen wichtig, die eine Waffentechnik bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung begrenzen. Nach Abschluß des ABM-Vertrages hatte es einige Streitfälle zur Vertragseinhaltung gegeben ( so bei Tests sowjetischer Luftabwehrraketen oder beim „Low Altitude Defense System“ (LoADS) der USA), die jedoch in der Ständigen Beratenden Kommission (SBK) weitgehend geklärt werden konnten. Bei entsprechendem politischen Willen könnten auch die genannten Problembereiche, die sich z.T. seit Jahren abzeichnen, gelöst werden . Es gibt bereits ausgearbeitete Begrenzungsvorschläge, die zur Ergänzung (nicht Änderung) des ABM-Vertrages und in Erfüllung der Interpretation D gemeinsam vereinbart werden könnten. Möglich wären insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Das geeignete Forum für die Diskussion solcher Fragen sind die Genfer Verhandlungen. Konkreter Anlaß könnte die Überprüfungskonferenz zum ABM-Vertrag 1987 sein.

Eine neue Qualität erreichen die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbots im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogrammm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch eine Kollision zerstörten. Durch solche Ereignisse, die eher den Charakter von „kosmischen Zauberkunststücken“ als von wissenschaftlichen Experimenten haben, wird der ABM-Vertrag durchlöchert. Weitere Versuche verzögerten sich wegen der Challenger-Katastrophe. Hierzu zählen Programmnamen wie AOA, ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS u.a., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Einer der ersten Versuche, der an die Substanz des ABM-Vertrages geht, wird der Test des „Airborne Optical Adjunct“ (AOA) sein, eines luftgestützten Infrarotsensors für die Ortung von Gefechtsköpfen in der Wiedereintrittsphase, der die Funktion einer ABM-Komponente übernehmen könnte.

Vorwürfe und Interpretationen

Um den Gegensatz zwischen SDI und dem ABM-Vertrag abzuschwächen, versucht die Reagan-Administration zum einen, die Sowjetunion öffentlich der Vertragsverletzung zu beschuldigen, wie im Falle der Radaranlage von Krasnoyorsk. Diese wirft wegen ihrer Lage im Inneren der Sowjetunion vertragsrechtliche Probleme auf, die Gegenstand der SBK sind. Die Sowjetunion hat die Lösung des Problems in Aussicht gestellt, wenn die USA ebenfalls zur Klärung ansprechender Fragen bei ihren Radaranlagen in Fylingdales (England) und Thule (Grönland) bereit ist. Als Vorwand für einen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag ist Krasnoyarsk nicht geeignet, noch weniger gilt dies für andere Vorwürfe.

Zum anderen bemüht sich die Reagan-Regierung, SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darzustellen. So werden im SDI-Report des Pentagon unklare Vertragsbegriffe ausgeschöpft und neu bewertet, um eine Zuordnung der SDI-Projekte zu drei vertragskonformen Kategorien zu ermöglichen. Es wird unterschieden zwischen Labortests, Feldtests von ABM-Subkomponenten und Feldtests von festen landgestützen Komponenten. Eine klare Grenzlinie zwischen Forschung und Entwicklung wird nicht gezogen, so daß ein weiter Ermessensspielraum für die SDI-Entwicklungen bleibt. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, werden die SDI-Großversuche lediglich als Tests von nicht definierten „Subkomponenten“ bezeichnet, ein Terminus, der bei Abfassung des Vertrages keine Rolle gespielt hat.

Darüber hinaus unternahm im Oktober 1985 der damalige Sicherheitsberater Reagans, Robert McFarlane, gestützt auf Überlegungen des Rechtsberaters des Außenministeriums, Abraham Sofaer, den Versuch einer „weiten“ Interpretation des ABM-Vertrages, im Unterschied zur bis dahin gültigen „engen“ bzw. „traditionellen“ Auslegung. Unter Berufung auf Interpretation D sollen danach Entwicklungen und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zulässig sein. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration selbst), wonach neue ABM-Technologien verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden.

Streitpunkte und Kompromisse

Sollte sich die Neuinterpretation durchsetzen, könnte der ABM-Vertrag rasch zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages wären dann auch die Möglichkeiten für Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen stark eingeschränkt: einschneidende Abrüstung bei Atomwaffen bei gleichzeitiger Entwicklung und Aufbau von Abwehrsystemen kann stark destabilisierend wirken. Dies erklärt die Abneigung der Sowjetunion in Reykjavik, von einer engen Vertragsauslegung abzuweichen, und ihre Forderung nach einer „Stärkung“ des ABM-Vertrages, die seine Erosion wirkungsvoll aufhalten und den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnen würde.

Nie zuvor waren derart weitreichende Abrüstungsziele wie die Abschaffung aller Atomwaffen in zehn Jahren auf höchster Ebene erörtert worden. Konkret schien in Reykjavik eine Einigung zum Greifen nah, die tiefe Einschnitte (deep Cuts) bei den nuklearstrategischen Offensivwaffen auf 50 % und darunter sowie eine Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen vorsah, was bei Realisierung ein „historisch sensationeller Einbruch in den Rüstungswettlauf" wäre. Während sich beide Seiten in diesem Ziel noch einig schienen, ergaben sich die entscheidenden Differenzen bei der Vereinbarkeit von SDI mit dem ABM-Vertrag.

Zwar erklärten sich beide Seiten für zehn Jahre bereit, den ABM-Vertrag einzuhalten. Während Gorbatschow jedoch auf der Einhaltung der bislang gültigen engen Auslegung des Vertrages in der Abrüstungsphase bestand, die Tests von Abwehrsystemen im Weltraum verboten hätte, schlug Reagan die weite Auslegung vor, die solche Tests erlauben würde und darüber hinaus nach Ablauf der zehn Jahre die Möglichkeit einer Stationierung von SDI offenhielt. Dementsprechend lastete er in seiner Fernsehrede unmittelbar nach Reykjavik der Sowjetunion das „Scheitern“ des Gipfels an, da sie an einem „14 Jahre alten“ Vertrag festhalte.

Eine Realisierung des von Reagan vorgestellten „Pakets von Reykjavik“ wurde von der Sowjetunion als riskant und destabilisierend beurteilt. Es hätte sie aus ihrer Sicht der atomaren Abschreckungsmittel gegen eine mit SDI nach Überlegenheit strebende USA beraubt An irgendeinem Punkt der Abrüstung und des Aufbaus von SDI wäre der Zeitpunkt gekommen, wo eine Seite einerseits noch genügend Atomwaffen besitzen würde, um die andere Seite zu vernichten, aber andererseits schon genügend Abwehrsysteme, um sich vor einem begrenzten Gegenschlag zu schützen. Die Sicherheit beider Seiten in einer solchen destabilisierenden Übergangsphase würde dadurch entschieden, wer bei den Abwehrtechnologien führt oder die Abwehrsysteme der anderen Seite unwirksam macht. Für beide Seiten stellen sich schwierige Fragen: für die Reagan-Regierung, ob sie den durch nukleare Abrüstung geschaffenen öffentlichen Erwartungsdruck vom SDI-Programm ablenken kann, um langfristig militärische Überlegenheit anzustreben, fr die Sowjetunion, ob die Verbesserung der politischen Beziehungen das militärische Risiko von weiteren Zugeständnissen bei SDI wert ist. Bei den Mittelstreckenraketen bot sich eine Entkopplung von SDI an, so daß der Weg für die Null-Lösung frei wurde. Schwieriger ist es bei den strategischen Atomwaffen wegen des engen Zusammenhangs mit SDI. Hier wäre eine Einigung nur im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Bewertung des ABM-Vertrages sinnvoll.

Von verschiedenen Seiten wurde im Gefolge von Reykjavik auch hier ein Kompromiß zwischen den verhärteten Fronten gefordert, um damit den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte zu öffnen, so auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß am 14./16. November 1986 und dem Moskauer Friedensforum im Februar 1987. Die Sowjetunion hat ihre prinzipielle Bereitschaft dazu erklärt. Wissenschaftler wie John Pike von der Federation of American Scientists schlugen Grenzen für ABM-Technologien und SDI-Tests im Weltraum vor, die destabilisierende Entwicklungen einschränken würden, so etwa bei der Zahl der Tests, bei der Relativgeschwindigkeit zwischen Raumflugkörpern oder bei technischen Leistungsparametern der Waffensysteme (z.B. von Lasern). Für Laserwaffen wurden konkrete Grenzen bereits von dem Physiker Jürgen Altmann ausgearbeitet.

Mit solchen quantitativen Grenzen für neue Waffentechnologien entstehen hohe Anforderungen an die Verifikation, die ein gewisses Maß an Kooperation voraussetzen. Sie müßten zur Konkretisierung und Festigung des ABM-Vertrages beitragen und verhindern, daß die Reagan-Administration sich immer weiter vom ABM-Vertrag entfernt, während die Sowjetunion hinter der wechselnden US-Interpretation „hinterherläuft“ (J. Pike), die dem jeweiligen technischen Stand des SDI-Programms angepaßt wird. Grundlage solcher Vorschläge ist die Einschätzung, daß SDI-Systeme noch geraume Zeit von ihrer Realisierung entfernt sind und ihre Entwicklung begrenzt werden kann. Trotz der komplizierten Materie dürfte die Machbarkeit eines Kompromisses vor allem von der Bereitschaft der US-Regierung abhängen, das lange Zeit als unantastbar erklärte SDI-Programm für Verhandlungen freizugeben.

Testen und Stationieren

Diese lehnte jedoch nach Reykjavik trotz sowjetischer Angebote jede Einschränkung für das SDI-Programm ab und verstärkte ihre Anstrengungen zur Neuinterpretation durch weitere Gutachten Sofaers, die auf einer Sichtung der bis dahin geheimgehaltenen Verhandlungs- und Ratifizierungsprotokolle zum ABM-Vertrag basierten. Außerdem wurde unmittelbar nach dem Gipfel von rechtsstehenden Kreisen mit Forderungen wie „Deploy Now“ für eine beschleunigte Entwicklung und Stationierung von SDI geworben. Solche Konzeptionen einer vorgezogenen Stationierung (early deployment) beruhten auf Vorschlägen von Rüstungsforschern aus den Waffenlabors sowie des privaten George C. Marshall Instituts, die stark an die High-Frontier-Idee von 1982 erinnerten. Innerhalb von wenigen Jahren (bis 1994) sollte zu Kosten von „nur“ 121 Mrd. $ ein dreischichtiges Abwehrsystem installiert werden, bestehend aus konventionellen Boden-Raketen für die Endphasenabwehr innerhalb und außerhalb der Atmosphäre sowie aus 2000 Kampfstationen im Weltraum mit je fünf kleinen Abfangraketen. Das Pentagon benutzte diese Studie trotz einer Vielzahl fragwürdiger technischer und ökonomischer Annahmen als politisches Druckmittel im US-Kongreß, um für das Haushaltsjahr 1988 höhere SDI-Mittel zu erreichen.

Im Unterschied zu Reagans langfristiger – SDI-Vision, Atomwaffen „unwirksam und überflüssig“ zu machen, setzt diese kurzfristige Option eher auf begrenzte Abwehr, die zur Stärkung der Abschreckung beitragen soll, ohne die langfristige Option aufzugeben. Während der strategische und ökonomische Sinn der „early deployment“-Konzepte umstritten ist, wird von Kritikern vermutet, der Hauptzweck sei eine möglichst frühe Zerstörung des ABM-Vertrages sowie das SDI-Programm auch über die Reagan-Ära hinaus unaufhaltsam zu machen. Solche Pläne können selbst durch eine Neuinterpretation des ABM-Vertrages nicht mehr vertragskonform gemacht werden. Ihre Realisierung hätte eine Abkehr vom ABM-Vertrag zur Folge, die einer Aufkündigung gleichkommt. Folgerichtig drohte US-Verteidigungsminister Weinberger auch damit, den ABM-Vertrag ganz aufzukündigen, wenn der US-Kongreß nicht höhere Mittel für SDI bereitstelle und der weiten Vertragsauslegung zustimme.

Der Verfassungskonflikt mit dem Kongreß

Hier stieß die Reagan-Administration jedoch auf heftigen Widerstand der liberalkonservativen „arms control community“ (Rüstungskontrollschule), denen die „visionären“ Vorschläge von Reykjavik ohnehin zu weit gingen, und die „rationale“ Rüstungskontrolle einer politisch motivierten Abrüstung vorzogen. Für diese politischen Kräfte waren die Vorschläge beider Seiten in Reykjavik, die auf die Abschaffung der Atomwaffen bzw. deren Bekämpfung zielten, unrealistisch und auch nicht wünschenswert, da sie die durch Atomwaffen garantierte Abschreckung untergruben. Sie kritisierten die Reagan-Rüstung als zu wenig „effektiv“ und drängten auf eine Sicherheitspolitik, die militärische Stärke mit Verhandlungen über Rüstungskontrolle verbindet. Spätestens Reykjavik war für sie ein Signal, daß die militärische Sicherheit der USA bei Reagan in unsicheren Händen war. Ein Hinweis darauf ist die vergleichsweise scharfe Reaktion vom konservativen Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses Sam Nunn sowie anderen Kongreßabgeordneten und Senatoren wie Carl Levin auf die weite Auslegung des ABM-Vertrages. In ausführlichen Studien und Reden im Frühjahr 1987 griff Nunn die Gutachten Sofaers an und begründete, daß der Kongreß den ABM-Vertrag 1972 in seiner engen Auslegung ratifiziert habe. Er wies anhand teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumenten nach, daß der US-Senat zum Zeitpunkt der Ratifizierung nicht an eine weite Auslegung gedacht hatte. Forschung an neuen Raketenabwehrtechnologien wurde zwar Eis erlaubt angesehen, nicht aber Erprobung und Stationierung, außer im begrenzten Umfang bei fest landgestützten Systemen. Damit sind insbesondere Weltraumtechnologien ausgeschlossen. Dem Sofaer-Gutachten warf Nunn vor, sie seien „fundamental fehlerhaft“, würden sich in allen wichtigen Punkten irren und durch bewußtes Weglassen i wichtiger Zitate den wirklichen Ratifizierungsprozeß verdrehen. Eine einseitige Abkehr der US-Regierung von der traditionellen Interpretation würde zu einem „Verfassungskonflikt“ mit dem Kongreß führen, der die letzte gesetzgeberische Kompetenz besitze.

Dies zeigt, daß ein rein rechtlicher Streit über den ABM-Vertrag nicht ausreicht, um sein Überleben sichern. Entscheidend ist die politische Unterstützung der bisherigen Interpretation. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA seit Jahren die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Expräsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftlern und Friedensgruppen, dem „Irrsinn des Vertragsbruchs" entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu drängen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Die Mitverantwortung Westeuropas

Eine wichtige Mitverantwortung für die Zukunft des ABM-Vertrages haben auch die NATO-Verbündeten der USA. Obwohl sie nicht Mitunterzeichner dieses Vertrages sind und ihnen der Vorsitzende des US-Abrüstungsausschusses Adelman in dieser Frage die „Kompetenz“ absprach, haben westeuropäische Regierungen offiziell stets die bedeutende Rolle des ABM-Vertrages für Rüstungskontrolle und Entspannung gewürdigt.

Solche Erklärungen wirken jedoch nur dann glaubwürdig, wenn Westeuropa sich nicht selbst direkt oder in Form einer „Europäischen Verteidigungsinitiative“ (EVI) am SDI-Programm beteiligt. Durch den Aufbau eines eigenen Systems zur Abwehr taktischer Raketen und anderer Flugkörper (ATM: Anti Tactical Missiles) oder einen Transfer entsprechender Technologien könnte Westeuropa mit zur Untergrabung des ABM-Vertrages beitragen.

Durch die Artikel VI und IX sowie die Interpretation G wird ein Austausch zwischen ATM- und SDI-Technologien in beiden Richtungen stark eingeschränkt. Dennoch wurde von US-Regierungsvertretern die Absicht geäußert, SDI auf dem „legalen Umweg“ über ATM voranzutreiben, Westeuropa zum ersten Versuchsfeld für SDI zu machen und damit den ABM-Vertrag zu umgehen. Dies geschieht zum Teil mit Unterstützung westeuropäischer Rüstungskonzerne bzw. einiger Regierungsvertreter, die sich auf diesem Weg den Einstieg in das SDI-Rüstungsgeschäft sowie erweiterte politische und militärische Optionen erhoffen. Für sie ist der ABM-Vertrag „zur heiligen Kuh der Rüstungskontrolldogmatiker und Raketenabwehrgegner geworden, in den fast nach Belieben hineininterpretiert wird“ (T. Enders). Der Schwarze Peter für eine Untergrabung des ABM-Vertrages wird schon im Voraus der Sowjetunion angelastet, falls sie als Vertragsunterzeichner die ATM-Entwicklung der nicht direkt an den Vertrag gebundenen Westeuropäer mitmachen sollte.

Ein erster Prüfstein ist hier die Aufrüstung der Luftabwehr-Rakete Patriot für die Raketenabwehr und ihre Stationierung in Westeuropa. Die Entwicklung dieser Rakete war bereits ein Grund für die damalige Ablehnung der US-Regierung, den ABM-Vertrag auch auf taktische Raketen auszudehnen. Während diese Rakete von der US-Regierung als vereinbar mit dem Transferverbot angesehen wird, richtet sie Vorwürfe an die Sowjetunion, sie unterlaufe den ABM-Vertrag, indem sie planmäßig an der Erweiterung ihrer Luftabwehr arbeite, um auch Raketen abfangen zu können. Genannt werden hier die sowjetischen Luftabwehrraketen SA-10 und SA-X-12, deren Leistungsfähigkeit von der US-Regierung von Jahr zu Jahr als bedrohlicher eingeschätzt wird, ohne daß sich an den Waffen selbst etwas wesentliches geändert hätte. Solche übertriebenen Bedrohungsperzeptionen könnten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, wenn die Sowjetunion den durch die Patriot-Rakete vorgezeichneten Weg tatsächlich mitmacht. Mit Fortschreiten der technischen Entwicklung wird es schwieriger, eine eindeutige Grenze zwischen der ABM-, ATM- und Luftabwehr-Funktion zu ziehen.

Weitere Literatur zum ABM-Vertrag

Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation, „Europa-Archiv“, Folge 17/1972, S. D. 392-405
H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for International Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986 (detaillierte technische Analyse)
A. B. Sherr, A Legal Analysis of the New Interpretation ot the Anti Ballistic Missiles Treaty, Report for the Lawyers Alliance for Nuclear Arms Control, Boston. M.A., 1986
R. Bulkeley, The ,McFarlane Reading of the ABM Treaty, in: Wege aus dem Wettrüsten, S. 379-382, Marburg 1987
W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paperforthe Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986
McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents Choice: Star Wars or Arms Control, „Foreign Affairs“, Vol. 63, No.2, 1985: auf deutsch: „Blätter“ 5/85, S. 614-624
Compliance of the Strategic Defense Initiative with the ABM Treaty, Appendix D of: Report to the Congress on the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, April 1987; s. auch die SDIO-Reports 1985, 1986
Abram Chayes, Antonia Chayes, The Future of the ABM Treaty, „Arms Control Today“, January/February 1987, pp.2-4
ABM-Treaty, „Arms Control Reporter“, Chronology 1985, 1986
B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt, S. 3
H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985
T. Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

Zur Diskussion über Reykjavik und den ABM-Vertrag s.:

W. Bruckmann, Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik, „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“, 2/87, S. 7-11; W. Zellner, Abschreckungsmanagement oder Abschreckungskritisch?, „Informationsdienst", 2/87, S. 12-14
C. Levin, Administration wrong on ABM Treaty, „Bulletin of the Atomic Scientists“, April 1987, S. 30-33
Bruce B. Auster, Treaty Reinterpretation Under Attack „Arms Control Today", January/February 1987, S. 11
James, Nunn Senate Move On ABM Treaty Interpretation, „Arms Control Today“, April 1987, S. 27-28;
B. Taylor, Republicans Filibuster as Senators Try to Prevent ABM Reinterpretation, „Arms Control Today“, June 1987, S. 20;
State Department Releases Portions of ABM Treaty Record, „Arms Control Today“, June 1987, S. 21;
P. Mann, Nunn Threatens INF Pact With Link to ABM Treaty, „Aviation Week & Space Technology“ (AWST), May 11, 1987, S. 30;
Nine SDI Tests Planned in 1988-89, „AWST“, April 6, S. 28

Jürgen Scheffran, Physiker und Friedensforscher an der Universität Marburg

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

TESTSTOPP – Neue Hoffnung auf einen Kernwaffenteststoppvertrag?

von Uwe Reichert

Um den Reportern „etwas zum Beißen zu geben“ – so der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums Gerassimow – wurde am 18. September im Anschluß an das Treffen der Außenminister Shultz und Schewardnadse, das die „prinzipielle“ Einigung über einen INF-Vertrag brachte, die Aufnahme von Verhandlungen über einen atomaren Teststopp angekündigt. Voraussichtlich Anfang Dezember sollen diese Verhandlungen beginnen. Es wäre das erste Mal seit sieben Jahren, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion formell über die Einstellung von Kernwaffentests verhandeln.1 Die damaligen Verhandlungen, die unter Carter und Breshnjew bemerkenswerte Fortschritte gebracht hatten, waren nach der Wahl Reagans zum Präsidenten auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Im Juli 1982 hatte die Reagan-Administration offiziell erklärt, die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen zu wollen.

Das veränderte Klima in den Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, das dem Streben nach weiteren Rüstungskontrollvereinbarungen geprägt zu sein scheint, läßt hoffen. Sollte es denn wirklich nach über vierzig Jahren – in denen die Kernwaffenstaaten zusammengenommen knapp 1700 nukleare Explosionen mit einer Gesamtsprengkraft von schätzungsweise 700 Megatonnen (!) durchgeführt haben – endlich zum Abschluß eines Teststoppvertrages kommen?

Es ist zu hoffen, daß die Bereitschaft der USA, Verhandlungen über einen Teststopp aufzunehmen, mehr ist als eine einlenkende Geste im Vorfeld eines neuen Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow. Hoffnungen können aber allzu leicht an den politischen Gegebenheiten scheitern. Vertreter der jetzigen amerikanischen Regierung haben bisher stets erklärt, daß umfassender Kernwaffenteststopp zwar ein langfristiges Ziel der US-Politik bleibe, gegenwärtig aber nicht im Sicherheitsinteresse der Vereinigten Staaten liege. So heißt es zum Beispiel: „Ein umfassender Teststopp bleibt ein langfristiges Ziel der Vereinigten Staaten. Solange aber die Vereinigten Staaten und ihre Freunde und Alliierte sich zur Abschreckung eines Angriffs auf Kernwaffen stützen müssen, wird ein gewisses Maß an Kernwaffentests erforderlich sein. Wir glauben, daß ein solcher Teststopp im Zusammenhang mit einer Zeit gesehen werden muß, in der wir nicht auf nukleare Abschreckung angewiesen sind, um die internationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, und wenn wir weitreichende, tiefgreifende und überprüfbare Reduzierungen von Waffensystemen, erheblich verbesserte Verifikationsfähigkeiten, erweiterte vertrauensbildende Maßnahmen und ein größeres Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte erreicht haben.“2 Und weiter: „Ein sorgfältig strukturiertes nukleares Testprogramm ist notwendig, um zu garantieren, daß unsere Waffen sicher, effektiv, zuverlässig und überlebensfähig sind.“3 Mit anderen Worten heißt dies, daß mit dem Abschluß eines Vertrags über einen umfassenden Teststopp vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag nicht zu rechnen ist.

Der Standpunkt der USA ist das Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses, an dem Vertreter der Regierung, der Waffenlabors und des Energie- und des Verteidigungsministeriums beteiligt waren. Der Einfluß der Waffenlabors, die an einer Einstellung der Kernwaffenversuche kaum interessiert sind, ist dabei nicht zu übersehen.

Ein ganz wesentlicher Grund für die Ablehnung eines Teststopps sind die laufenden Entwicklungsarbeiten an einer neuen Generation von Kernwaffen, der sogenannten dritten Generation, die ohne nukleare Versuchsexplosionen nicht möglich wären. Am bekanntesten ist wohl der Röntgenlaser, für dessen Erprobung bereits mehrere Nukleartests durchgeführt wurden.4 Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Konzepte für solche hochentwickelten Kernwaffen, die sich qualitativ erheblich von den bisher existierenden Kernwaffen unterscheiden würden.5 So wird von dem Test „Hazebrook“ den die USA am 3. Februar 1987 durchführten – berichtet, daß er zur Entwicklung einer Kernwaffe diente, die Geschosse mit der hundertfachen Geschwindigkeit von Gewehrkugeln erzeugen soll.6 Eine solche Waffe wäre ein äußerst wirkungsvolles Instrument, um Objekte im Weltraum zu zerstören.

Da die Kernwaffen der dritten Generation zum Teil auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, ist ihre Entwicklung allein aufgrund theoretischer Überlegungen und Computersimulationen nicht möglich, sondern nur mit Hilfe von nuklearen Tests, mit denen experimentelle Daten gewonnen werden können. Amerikanische Waffenexperten sind sich darüber einig – auch wenn dies nicht immer öffentlich geäußert wird -, daß allein zur Entwicklung des Röntgenlasers bis weit in die neunziger Jahre hinein Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von nuklearen Tests nötig sein werden.

Ein umfassender Kernwaffenteststopp wäre damit ein sicheres Mittel, diesen qualitativen Sprung in der Kernwaffentechnologie zu verhindern und die Büchse der Pandora geschlossen zu halten. Solange die USA aber nicht bereit sind, zumindest auf die nukleare Komponente ihres SDI-Projekts zu verzichten, werden sie wohl kaum bereit sein, einem umfassenden Verbot von Nukleartests zuzustimmen. Hier müßten sich die USA aber ernsthaft fragen lassen, ob es ihnen wichtiger ist, über solche hochentwickelten Kernwaben, die zu neuen Bedrohungen und möglicherweise zu Instabilitäten führen werden, zu verfügen oder ob es im Interesse ihrer eigenen Sicherheit nicht besser sein sollte, durch Abschluß eines Teststoppabkommens auch die Sowjetunion an der Entwicklung solcher Kernwaffen zu hindern.

Ein weiteres Argument der amerikanischen Waffenlabors gegen einen Teststopp ist die Behauptung, nukleare Tests seien zur Überprüfung der Zuverlässigkeit stationierter Kernwaffen unerläßlich. Die Direktoren der Labors in Los Alamos und Livermore haben vor Ausschüssen des amerikanischen Kongresses erklärt, daß in der Vergangenheit zwar einige Probleme mit der nuklearen Komponente von Sprengköpfen durch konventionelle Oberprüfungen entdeckt wurden, daß aber die wichtigsten Defekte nur mit Hilfe von Nukleartests entdeckt und behoben werden konnten. Seit Frühjahr letzten Jahres erklären Vertreter des Pentagons wiederholt, daß bei über einem Drittel der amerikanischen Sprengkopfdesigns, die nach 1958 in das Kernwaffenarsenal eingegliedert wurden, Zuverlässigkeitsprobleme aufgetreten seien. Von diesen Problemen seien 75 Prozent nur mit Hilfe nuklearer Tests entdeckt und behoben worden.7

Diese Erklärung stellt ein sehr gewichtiges Argument gegen einen Teststopp dar. Sollten Alterungseffekte, die die Funktionstüchtigkeit von Kernwaffen nachteilig beeinflussen, ohne nukleare Tests nicht behebbar sein, so würde unter einem Teststopp das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der vorhandenen Kernwaffen mit der Zeit abnehmen. Die Abschreckungswirkung der Kernwaffen wäre damit in Frage gestellt.

Zur Unterstützung der These, daß auf nukleare Tests zur Überprüfung der Zuverlässigkeit von Sprengköpfen nicht verzichtet werden könne, wurden Details zu den Defekten, die bei sechs verschiedenen Sprengköpfen nach deren Stationierungsbeginn aufgetreten waren, in dem sogenannten Rosengren-Report veröffentlicht.8 Diese Defekte betreffen vor allem Korrosionserscheinungen am Spaltmaterial, das Klemmen von mechanischen Armierungs- und Sicherungssystemen sowie Veränderungen an chemischen Sprengstoffen. Die Tatsache, daß der Rosengren-Report mehrmals in Anhörungen vor Kongreßausschüssen benutzt wurde, um gegen einen Teststopp Stellung zu nehmen, veranlaßte den Abgeordneten Edward Markey dazu, den Livermore-Physiker Ray Kidder zu bitten, diesen Report zu analysieren und eine eigene Stellungnahme abzugeben. Die Frage, der Kidder in seinem daraufhin angefertigten Bericht nachgegangen ist, lautet: „Stützen die Beispiele, die in dem Rosengren-Report erwähnt werden, die These, daß nukleare Testexplosionen notwendig sind, um das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des bestehenden amerikanischen Arsenals von sorgfältig getesteten Kernwaffen aufrechtzuerhalten?“ Sein Resümee: „Es ist unsere Schlußfolgerung, daß keines dieser Beispiele eine solche These unterstützt.“9

Die im Rosengren-Report zitierten Beispiele sind allerdings nicht vollzählig. Außer den sechs Sprengkopftypen, die der Report erwähnt, waren auch andere Sprengköpfe von Problemen betroffen gewesen. Diese Probleme waren aus Geheimhaltungsgründen im Rosengren-Report nicht erwähnt worden. Mittlerweile sind jedoch alle 14 Sprengkopftypen bekannt, an denen nach Beginn der Stationierung Probleme bzw. Defekte aufgetreten waren und zu deren Behebung nukleare Tests durchgeführt wurden. An der ursprünglichen Schlußfolgerung von Kidder änderte sich jedoch nichts, weil die meisten der Probleme darauf zurückzuführen sind, daß die betreffenden Sprengköpfe vor Beginn ihrer Stationierung nicht ausreichend getestet worden waren. Entweder wurden die ersten Sprengköpfe schon vor Abschluß aller nötigen Tests produziert und in das Kernwaffenarsenal aufgenommen (so z.B. während des Testmoratoriums in den Jahren 1958-61, als man noch bestehende Mängel nicht mit Hilfe von nuklearen Tests hatte beheben können) oder die Sprengköpfe waren nicht in der Version getestet worden, in der sie schließlich stationiert wurden. In den anderen Fällen waren nukleare Tests durchgeführt worden, weil die Waffenlabors Modifizierungen an den Sprengkopfdesigns vorgenommen hatten, anstatt beschädigte Teile durch Neukonstruktionen zu ersetzen.

Das Ergebnis der Kidder-Analyse deckt sich mit den schon bekannten Erklärungen mehrerer ehemaliger Direktoren und Mitarbeitern der Waffenlabors, daß keine nuklearen Tests nötig seien, um Defekte an vorhandenen Sprengköpfen zu beheben.10 Sollte die US-Regierung an ihrem bisherigen Standpunkt festhalten, so dürfte sie zunehmend in Argumentationsschwierigkeiten geraten. Auch könnte ihre Haltung unter Umständen dann so verstanden werden, daß auch heute noch Kernwaffen im Arsenal vorhanden sind, die wegen ungenügender Tests nicht zuverlässig sind. Dann müßte sie sich fragen lassen, warum sie die Produktion und Stationierung unzureichend getesteter und daher unzuverlässiger Kernwaffen zugelassen hat.

Für das Verständnis der Themenkomplexe, die bei den Verhandlungen über einen Teststopp eine Rolle spielen, sind zwei Punkte besonders wichtig: die Leistungsfähigkeit der seismischen Verifikation und die militärische Bedeutung von Tests, die entweder nicht mehr zuverlässig nachgewiesen werden könnten oder die unter einer eventuellen Testschwellen-Regelung erlaubt wären. Beide Punkte sollen hier anhand der Nukleartests, die die Vereinigten Staaten von 1980 bis 1984 durchgeführt haben, erläutert werden.

Abb. 1 zeigt die Verteilung der Ladungsstärken der amerikanischen Nukleartests innerhalb dieses 5 Jahres-Zeitraums. Das Diagramm enthält sowohl die angekündigten als auch die nicht angekündigten Tests. Dargestellt ist die relative Häufigkeit der Tests in Abhängigkeit von ihrer Sprengkraft. Die in Wirklichkeit diskreten Werte sind durch Überlagerung einer Verteilungsfunktion verschmiert, so daß sich eine geglättete Struktur ergibt. Diese Kurve wurde von R. Kidder erstellt und veröffentlicht.11

Das amerikanische Energieministerium (DoE) hat für diesen 5 Jahres-Zeitraum 82 Nukleartests bekanntgegeben. Eine Auswertung der Abb. 1 und ein Vergleich mit den Angaben des DoE zeigt jedoch, daß die USA von Anfang 1980 bis Ende 1984 genau 100 Tests durchgeführt haben müssen..12 Das heißt, 18 Tests waren nicht angekündigt worden.

Wie Mitglieder des Natural Resources Defense Council (NRDC) zeigen konnten, waren acht dieser nicht angekündigten Tests von jeweils mindestens zehn seismischen Stationen des US Geological Survey (USGS) registriert und ihre seismischen Daten veröffentlicht worden. Von diesen wiederum waren fünf auch von dem seismischen Observatorium im schwedischen Hagfors entdeckt und als Nukleartests gekennzeichnet worden.13 Das USGS dagegen, das nicht speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests eingerichtet ist publiziert lediglich die Daten seismischer Ereignisse, ohne sie als Nukleartests oder Erdbeben zu kennzeichnen.

Die Tatsache, daß die seismischen Daten von zehn Tests der USA nicht von dem USGS veröffentlicht wurden, zeigt mit Hilfe von Abb.1, daß die Grenze, bis zu der seismische Ereignisse vom USGS publiziert werden, einer Sprengkraft von 1-1,5 Kilotonnen im Bereich des amerikanischen Testgeländes entspricht. Das Hagfors-Observatorium kann Tests in Nevada oberhalb einer Ladungsstärke von 2-3 Kilotonnen nachweisen.

Moderne seismische Stationen, die speziell zum Nachweis unterirdischer Nukleartests entwickelt wurden, können weit schwächere Versuchsexplosionen nachweisen. Die aus 26 Seismometern bestehende Station in Norwegen zum Beispiel kann sowjetische Tests, die im 4200 km entfernten Testgebiet in der Nähe von Semipalatinsk durchgeführt werden, bis herab zu etwa 0,5 Kilotonnen nachweisen.13

Stationen, die innerhalb des sowjetischen Territoriums aufgestellt wären, könnten die Nachweisgrenze auf etwa 0,1 Kilotonnen reduzieren. Solche Stationen innerhalb der Sowjetunion wären zur Überwachung eines umfassenden Teststopps unerläßlich. Bereits in den Teststoppverhandlungen unter Carter und Breschnjew hatte die Sowjetunion der Errichtung seismischer Stationen auf ihrem Territorium zugestimmt. Seit Juli letzten Jahres schließlich sind aufgrund der privaten Übereinkunft zwischen dem NRDC und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften mehrere von amerikanischen Wissenschaftlern betriebene Seismometer in der UdSSR in Betrieb. (Seitdem die Sowjetunion ihr Testmoratorium im Februar dieses Jahres beendet hat, müssen diese Geräte allerdings während der Durchführung von Tests kurzzeitig abgeschaltet werden.)

Aus wissenschaftlicher Sicht wäre damit die Überwachung eines Vertrages, der Testexplosionen mit einer Sprengkraft von mehr als einer Kilotonne verbietet, unter den heutigen Umständen gewährleistet. Die Vereinbarung eines umfassenden Teststopps dagegen würde weitergehende Maßnahmen erfordern (z.B. dichteres Überwachungsnetz, erweiterte Auswertkapazitäten, unangekündigte Vor-Ort-Inspektionen etc.), um auch kleinste Tests entdecken zu können. Über solche Maßnahmen müßten die beiden Supermächte während der Verhandlungen reden, die in Kürze beginnen sollen.

Im Zusammenhang mit einer Nachweisschwelle für nukleare Tests bzw. mit einer eventuellen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen ist es wichtig zu wissen, welche militärische Bedeutung den unterschiedlichen Sprengkraftbereichen zukommt. Abb.1 gibt hierzu ebenfalls nützliche Hinweise.

Die einzige Einschränkung, der unterirdische Kernwaffentests gegenwärtig unterliegen, ist die Limitierung der Sprengkraft auf 150 Kilotonnen durch den Testschwellenvertrag von 1974. Unterhalb dieser Grenze kann die Sprengkraft für einen Test frei gewählt werden; auch unterliegen die Tests keiner zahlenmäßigen Beschränkung. Man kann deshalb annehmen, daß die Häufigkeitsverteilung in Abb.1 ein gewisses Bild der militärischen Signifikanz vermittelt, die den verschiedenen Sprengkraftbereichen zugemessen wird.

Auffallend ist das Maximum im Bereich zwischen 5 und 20 Kilotonnen; 44 % aller Tests wurden in diesem Sprengkraftbereich durchgeführt. Die meisten dieser Tests stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Spaltzündern für thermonukleare Waffen.

Die hohe Zahl von Tests direkt unterhalb der 150-Kilotonnen-Grenze ist zum Teil auf das Testen von strategischen Sprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft zurückzuführen; in vollständiger Konfiguration würden die Ladungsstärken dieser Sprengköpfe dieses Testlimit bis zu einem Faktor 2-3 übersteigen. Der Testschwellenvertrag von 1974 hat damit kaum eine Auswirkung auf die Entwicklung von Sprengköpfen gehabt.

Die bisher bekannten Angaben deuten darauf hin, daß die meisten der Tests, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Röntgenlasers durchgeführt wurden, im Bereich zwischen etwa 50 und 100 Kilotonnen liegen.

Dreizehn Prozent aller Tests hatten eine Ladungsstärke zwischen 1 und 5 Kilotonnen. Vermutlich 2 Tests wurden bei etwa 0,025 Kilotonnen, 2 weitere bei etwa 0,12 Kilotonnen durchgeführt.

Wäre in der Zeit von 1980 bis 1984 die Sprengkraft der Nukleartests auf 10 Kilotonnen anstatt auf 150 Kilotonnen begrenzt gewesen, hätten etwa 60 % dieser Tests nicht durchgeführt werden können. Eine Testschwelle von 5 Kilotonnen hätte etwa 80 %, eine solche von 1 Kilotonne 95 % aller Tests unmöglich gemacht. Ein Testschwellenvertrag, der die Ladungsstärke auf 1 Kilotonne begrenzt, würde nicht nur die Entwicklung und Modernisierung strategischer, sondern auch die vieler taktischer Sprengköpfe unterbinden. Die Entwicklung thermonuklearer Sprengköpfe, mit Ausnahme solcher mit sehr kleiner Sprengkraft (z.B. Neutronenbombe), wäre unmöglich.

Von besonderer Bedeutung ist der Bereich unterhalb einer Kilotonne. Welche Entwicklungen lassen sich in diesem Bereich durchführen? Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

– Experimente zur grundlegenden Physik von Kernwaffen,

– Tests von Hohlraumtargets für die Trägheitseinschlußfusion,

– Untersuchung der Wirkungen von Kernwaffen,

– Durchführung sogenannter „One-point-safety“-Tests, mit denen überprüft wird, ob im Falle eines Unfalles mit einer Kernwaffe eine unbeabsichtigte Nuklearexplosion ausgelöst werden kann oder nicht,

– Entwicklung von taktischen Kernwaffen (z.B. Anti-U-Boot-Waffe, Atomminen),

– Erprobung von Konzepten für Kernwaffen der dritten Generation.

Insbesondere der letzte Punkt verdient Beachtung. Wegen der Energiebündelung, die bei Kernwaffen der dritten Generation beabsichtigt ist, kann in vielen Fällen bei gleichbleibender oder sogar noch erhöhter Reichweite die Sprengkraft der Waffe gesenkt werden. Allerdings erscheint unter der Beschränkung eines 1-Kilotonnen-Limits – vorausgesetzt, ein solcher Vertrag träte in absehbarer Zeit in Kraft – die Entwicklung von einsatzfähigen Kernwaffen der dritten Generation äußerst unwahrscheinlich. Die Entwicklung des Röntgenlasers z.B. wäre wegen der relativ hohen benötigten Sprengkraft ausgeschlossen. Allerdings scheinen Kernwaffen, die ihre Explosionsenergie in kinetische Energie von festen Geschossen oder Flüssigkeitsstrahlen umwandeln, durchaus machbar zu sein. So soll der oben erwähnte Test „Hazebrook“ eine Sprengkraft von nur 40 Tonnen gehabt haben. Inwieweit andere Konzepte für Kernwaffen der dritten Generation durch eine 1-Kilotonnen-Testschwelle betroffen sein würden, ist zur Zeit noch unklar.

Es ist davon auszugehen, daß auch unterhalb einer Testschwelle von einer Kilotonne Neuentwicklungen von Kernspaltungswaffen möglich sein würden. Das qualitative Wettrüsten im Nuklearbereich wäre damit zwar stark behindert, aber nicht völlig unterbunden. Weiterhin ist zu beachten, daß in dem hypothetischen Falle einer 1-Kilotonnen-Testschwelle die Bedeutung von Tests mit sehr kleinen Ladungsstärken stark zunehmen würde. Daran gehindert, Waffen mit größerer Sprengkraft zu entwickeln, würden die Kernwaffenkonstrukteure ihren Einfallsreichtum voll auf den Bereich unterhalb einer Kilotonne konzentrieren. Von daher ist die in Abb. 1 dargestellte Häufigkeitsverteilung auf die militärische Signifikanz einer Testschwelle nur bedingt anwendbar.

Aus dem hier gesagten folgt, daß im Interesse einer wirkungsvollen Rüstungskontrolle ein Verbot aller Nukleartests einer niedrigeren Testschwelle von z.B. einer Kilotonne vorzuziehen ist. Allerdings könnte es aus praktischen Gründen sinnvoll sein, sich über Testschwellenvereinbarungen einem umfassenden Teststopp schrittweise anzunähern – so wie es auch der Vorschlag der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft vorsieht. Ein klar vorgegebener Zeitraum von z.B. drei oder vier Jahren sollte es ermöglichen, während der stufenweisen Reduzierung der Testschwelle von gegenwärtig 150 Kilotonnen auf zunächst 5, dann 1 und schließlich Null Kilotonnen das seismische Überwachungsnetz so weit auszubauen, daß auch kleinste nukleare Tests mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit entdeckt werden können. Die Politiker sind hier aufgefordert, Vorgaben für die gewünschte Nachweisgenauigkeit zu machen und die politischen und finanziellen Voraussetzungen für den zügigen Ausbau des Überwachungsnetzes zu schaffen.

Verteilung der Ladungsstärke aller amerikanischer Nukleartests, die von Anfang 1980 bis Ende 1984 im Testgebiet in Nevada durchgeführt wurden. Die vertikale Skala ist so gewählt daß die Fläche unterhalb der dargestellten Kurve den Wert 1 ergibt. f (Y) gibt den Anteil der Tests mit einer Ladungsstärke kleiner als Y an.

Anmerkungen

1 Seit Ende Juli 1986 fanden in Genf mehrmals offiziell als „Unterredungen“ bezeichnete Gespräche zwischen amerikanischen und sowjetischen Experten im Zusammenhang mit der Teststopp-Problematik statt. Die Gesprächsteilnehmer hatten jedoch kein Mandat, über einen umfassenden Teststopp zu verhandeln, sondern die Gespräche hatten den Sinn, den eigenen Standpunkt hinsichtlich Verifikationsfragen darzulegen und den Standpunkt der Gegenseite anzuhören.Zurück

2 U.S. Department of State, „U.S. Policy Regarding Limitations on Nuclear Testing“, Special Report No. 150, August 1986, S. 3.Zurück

3 a.a.O., S. 1.Zurück

4 Nachweislich sind 5 Nukleartests bekannt, die die USA zur Entwicklung des Röntgenlasers durchführten (siehe: T. B. Cochran, W. M. Arkin, R. S. Norris, M. M. Hoenig, „Nuclear Weapons Databook, Vol. II: U.S. Nuclear Warhead Production“, Cambridge, Mass., 1987, S. 23). Die tatsachliche Zahl liegt hoher, vermutlich in der Gegend von fünfzehn. Zurück

5 T. B. Taylor, „Kernwaffen der dritten Generation“, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1987, S. 38; K. Tsipis, „Third-Generation Nuclear Weapons“, in: World Armaments and Disarmaments, SIPRI Yearbook 1985, London 1985, S. 83. Zurück

6 M. D. Lemonick, „A Third Generation of Nukes“, Time, May 25, 1987, S. 35. Zurück

7 So z.B. Frank Gaffney und Robert Barker während eines Vortrages vor Vertretern europäischer NATO Staaten (Text abgedruckt in: „The National Security Implications of a Comprehensive Test Ban“, Defense Issues, Vol. 1, No. 40, June 26, 1986). Die Formulierung geht zurück auf eine Antwort des Direktors des Livermore-Laboratoriums, Roger Batzel, auf eine entsprechende Frage von Senator Kennedy während einer Anhörung vor dem Senate Armed Services Committee im April 1986. Zurück

8 J. W. Rosengren, „Some Little-Publicized Difficulties with a Nuclear Freeze, R&D Associates, Report RDA-TR-122116-001, October 1983. Zurück

9 R. Kidder, „Evaluation of the 1983 Rosengren Report from the Standpoint of a Comprehensive Test Ban (CTB), Report UCID-20804, June 17, 1986. Zurück

10 Brief von R. Garwin, N. Bradbury und J. Carson Mark an Präsident Jimmy Carter, 15. August 1978; Brief von H. Bethe, N. Bradbury, R. Garwin, S. Keeny, W. Panofsky, G. Rathjens H. Scoville und P. Warnke an den Kongreßabgeordneten D. Fascell, 14. Mai 1985. Zurück

11 R. Kidder, „Military Significant Nucisar Explosive Yields“, FAS Public Interest Report, Vol. 38, No. 7, September 1985, S. 1.Zurück

12 U. Reichert, „Nuclear Testing and a Comprehensive Nuclear Test Ban – Background and Issues“, in Vorbereitung. Zurück

13 T. B. Cochran, R. S. Norris W. M. Arkin und M. M. Hoenig, „Unannounced U.S. Nuclear Weapons Tests, 1980-1984“, Nuclear Weapons Databook Working Paper 86/1, Januar 1986. Zurück

Dr. Uwe Reichert, Stipendiat der Stiftung Volkswagenwerk, Diplomphysiker an der TH Darmstadt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Der Versuch der Reagan-Administration, den ABM-Vertrag neu zu interpretieren

von Jürgen Scheffran

Die Sowjetunion hat im Juni 1986 vorgeschlagen, den ABM-Vertrag auf weitere 15 Jahre zu bekräftigen und SDI auf reine Grundlagenforschung zu beschränken, um so den Weg für nukleare Abrüstung freizumachen. Reagan antwortete darauf mit dem Vorschlag, den ABM-Vertrag bis zur Stationierung von SDI im Jahre 1994 einhalten zu wollen (was Entwicklung und Tests nicht ausschließen solle), um ihn danach aufkündigen zu dürfen. Dies ist nur das letzte Glied in einer Kette von Versuchen, durch eine Neuinterpretation den ABM-Vertrag auf den Kopf zu stellen und damit zu einem „wertlosen Fetzen Papier“ zu machen.

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketen-Abwehrsysteme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentierte die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell teuer und politisch-strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr verbietet (Artikel I) und damit in direktem Gegensatz zur Intention des SDI-Programms steht. Unter ABM Systemen (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr) werden nach Art. II. generell alle Systeme zur „Bekämpfung aufliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in den zentralen Artikeln V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihrer Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen verbieten eine „ABM-Fähigkeit“ für andere Systeme (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologie in andere Staaten (Art. IX.) Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit andern physikalischen Prinzipien Gegenstand von Gesprächen sein sollen. Für solche und andere mit dem ABM-Vertrag zusammenhängende Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, enthält jedoch eine Rücktrittsklausel.

Interpretationslücken?

Wie andere Verträge auch, enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen. Hierzu zählen „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT-Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte Radaranlagen, die Taktische Raketenabwehr (ATM: Anti-Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Es ist ein erklärtes Ziel der US-Regierung, über den „Umweg“ von ATM- und ASAT-Technologien zugleich auch neue ABM-Technologien zu entwickeln, was wegen der Multifunktionalitat dieser Systeme auch in gewissem Umfang möglich ist. Sollte die Bundesregierung daran gehen, ein europäisches Raketenabwehrsystem in Ergänzung zum SDI-Programm aufzubauen, wie von Verteidigungsminister Wörner gefordert, so könnte sie mit zum „Totengräber des ABM-Vertrages“ werden (H. G. Brauch), obwohl Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung zu SDI vom April 1985 die Einhaltung des ABM-Vertrages gefordert hatte.

Die genannten Problembereiche sind bereits seit Jahren bekannt und ließen sich bei ausreichendem politischen Willen durch zusätzliche Beschränkungen wie ein Verbot von Weltraumwaffen sicherlich lösen. Eine neue Qualität erreichen jedoch die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbotes im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Hierzu zählen so wohlklingende Programmnamen wie ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS usw., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Durch immer neue kosmische Zauberkunststücke wird der ABM-Vertrag durchlöchert wie ein Schweizer-Käse. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch Kollision zerstörten.

Die Erfindung eines neuen Terminus: „Subkomponenten“

Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag ist auch den SDI-Befürwortern klar. Daher versuchen sie zum einen, die Sowjetunion eigener Vertragsverletzungen zu beschuldigen (wie im Falle Krasnoyarsk), zum anderen, die Basis dieses Vertrages schrittweise zu untergraben, indem sie SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darstellen. Dabei scheuen sie nicht vor einer einseitigen Neuinterpretation des. Vertrages zurück, indem sie unklare Begriffe in ihr Gegenteil verkehren. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, behauptet der Pentagonbericht zum ABM-Vertrag, es handele sich bei den zahlreichen SDI-Großversuchen lediglich um Tests von nicht definierten „Subkomponenten“, ein Terminus, auf den bei Abfassung des Vertrages wohl niemand gekommen wäre.

Darüber hinaus unternahm der damalige Sicherheitsberater Reagans, McFarlane, im Oktober 1985 den Vorstoß, unter Berufung auf Interpretation D Entwicklung und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zuzulassen. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration), wonach auch neue ABM-Technologien generell verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden. Trotz eines mittleren Aufstandes innerhalb der NATO scheint die Reagan-Adminstration diese Interpretation nach wie vor durchsetzen zu wollen und darauf zu vertrauen, daß sich alle an den Wandel gewöhnen werden.

Damit könnte der ABM-Vertrag (wie auch der SALT II Vertrag) tatsächlich zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden (so Gerard Smith), was von jeher ein Wunschtraum der Gegner des Rüstungskontrollprozesses in den USA gewesen ist, die sich Mitte der siebziger Jahre um das „Committee on the Present Danger“ gruppiert hatten. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages dürften dann auch Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen ausgeschlossen sein.

Dies zeigt, daß ein solcher Vertrag alleine nicht ausreicht, um die Rüstung aufhalten zu können. Es gibt keine internationale juristische Instanz, die über die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge wacht, außer der Weltöffentlichkeit selbst. Entscheidend ist die politische Unterstützung, die ein Vertrag genießt. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Ex-Präsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftler und Friedensgruppen, dem Irrsinn des Vertragsbruches entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu zwingen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Hierzu gehören insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie langfristige Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Mit solchen Maßnahmen würde die Erosion des ABM-Vertrages wirkungsvoll aufgehalten und der Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnet.

Literaturauswahl zum ABM-Vertrag

  • Eine ausführliche und aktualisierte Darstellung zum ABM-Vertrag findet sich in: D. Engels, J. Scheffran. E. Sieker, Die Front im All, 3. überarbeitete Fassung, Köln 1986.
  • Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation: Europa-Archiv, Nr. 17/1972, S. D. 392-405.
  • Die umfassendste Analyse zum ABM-Vertrag geben: T. K. Longstreth, J. E. Pike, J. B. Rhinelander, The Impact of Ballistic Missile Defense Programs on the ABM Treaty, A Report for the National Campaign to Save the ABM Treaty, March 1985.
  • Die detailierteste Analyse der mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden technischen Probleme gibt: H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for international Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986.
  • Ballistic Missile Defense and the ABM Treaty, Appendix A of: Ballistic Missile Defense Technologies, Office of Technology Assessment, OTA-ISC-254, p. 263.
  • W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paper for the Conference on New Approaches to Arms Control, Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986.
  • Der grundlegende Gegensatz zwischen SDI und ABM-Vertrag wird herausgearbeitet in: McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents´ Choice: Star Wars or Arms Control, Foreign Affairs, Vol. 63, No. 2, 1985; auf deutsch: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/85, S. 614-624.
  • Die Winkelzüge, mit denen das Pentagon SDI vertragskonform macht, wurden entwickelt in: The Strategic Defense Initiative (SDI) and the ABM Treaty (Pentagon-Bericht zum ABM-Vertrag) Appendix B of: Report to the Congress an the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, 1985.
  • Eine Darstellung der Versuche zur Neuinterpretation gibt: B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt S. 3.
  • Die Auswirkungen eines europäischen ATM-Systems untersucht: H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense – Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985.
  • Eine polemische Abrechnung mit den Anhängern des ABM-Vertrages aus bundesdeutscher Sicht versucht: Thomas Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65

       

Jürgen Scheffran, Physiker, Arbeitsgebiet Rüstungskontrolle im Weltraum.

Atomteststopp

Atomteststopp

von Barbara Sabel, Michael Kalman

Der Kalte Krieg scheint zu Ende. In den osteuropäischen Staaten wurden die kommunistischen Regime gestürzt. Mehrparteiensysteme nach westlichem Vorbild etablieren sich. Der Warschauer Pakt ist militärisch nicht mehr funktionsfähig. In der DDR desertieren NVA-Soldaten scharenweise. Der große Frieden ist in Europa ausgebrochen. Meint man. Und doch wird ein Relikt der neuesten Kriegsgeschichte diesen historischen Umbruch des Jahres 1989 noch lange überdauern: die atomaren Massenvernichtungsmittel, die nach wie vor in Ost und West nicht nur gehortet, sondern immer weiter modernisiert und perfektioniert werden. Nukleare Versuchsexplosionen zur Entwicklung neuer Kernwaffen werden von den Regierungen der Atommächte weiter für nötig befunden. Ein weltweites Ende der Atomtests ist nicht in Sicht.

I. Historischer Rückblick

Am 16. Juli 1945 gelang in der Wüste Alamogordo (New Mexico, USA) der erste Atomtest. Damit fand eine Vernichtungswaffe mit bis dahin nicht gekannter Zerstörungswirkung Eingang in eine von tiefgreifenden Machtgegensätzen und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Staatenwelt. Schon der zweite und dritte »Test« brachten besonders »authentische« Ergebnisse. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 töteten mindestens 156.000 Menschen auf der Stelle.

Trotz warnender Stimmen wurde die neue Waffe rasch Bestandteil der raison d'etre internationaler Politik. Das angebrochene Nuklearzeitalter offenbarte eine erschreckende Ungleichzeitigkeit zwischen dem traditionellen Politikverständnis der Staatsmänner und der völlig neuen Qualität der Kernwaffen. Herkömmliche Ziel-Mittel-Analysen, das überkommene Denken in Sieg und Niederlage, der selbstverständliche Grundsatz, Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – all diese klassischen Überzeugungen und Methoden internationaler Politik und Diplomatie hätten eigentlich eine tiefgreifende Revision erfahren müssen. Die Chancen, der atomaren Rüstungsdynamik wirksam Einhalt zu gebieten, sind jedoch schon in den Kindertagen des Nuklearzeitalters verspielt worden. Die USA nutzte ihr Kernwaffenmonopol als Mittel »atomarer Diplomatie« gegen die Sowjetunion im Zuge des sich allmählich herausbildenden Kalten Krieges. Wie in einer Art Vorspiel zur globalen Eindämmungspolitik (Containment) gegen den – so sahen es die wichtigsten amerikanischen Politiker – aggressiven und expansionistischen Weltkommunismus “entschied sich die Truman-Administration 1946 definitiv, der Sicherung durch Wahrung des Atomwaffen-Monopols Priorität vor der Vermeidung atomaren Wettrüstens einzuräumen” (Wilfried Loth, Die Teilung der Welt, München 1985, S. 136).

Der Kalte Krieg: Entfesselung der Rüstungsdynamik

Auch »gutgemeinte« amerikanische Vorschläge zur Eliminierung des drohenden nuklearen Aufrüstungsprozesses waren vor dem Hintergrund des immer deutlicher hervortretenden gegenseitigen Mißtrauens im Ost-West-Verhältnis zum Scheitern verurteilt. Der bekannte Baruch-Plan etwa sah eine Internationalisierung der Atombombe (besser Kernenergie) in drei Schritten nach folgendem Muster vor: nach dem Austausch aller wissenschaftlichen Informationen sollte eine supranationale Behörde unter Aufsicht des UN-Sicherheitsrats nach und nach alle mit Atomfragen befaßten wissenschaftlichen Einrichtungen kontrollieren. Danach sollte alles spaltbare Material kaserniert und auf die ausschließliche Verwendung zu friedlichen Zwecken hin kontrolliert werden. Diese an sich vernünftige Vorgehensweise war jedoch von den Sowjets nicht akzeptiert worden, da nicht ausgeschlossen werden konnte, daß die USA aus dem Plan einseitige Vorteile hätte ziehen können. Denn bis zur vollständigen Errichtung eines Kontrollsystems behielt sich Washington das Recht vor, weiter Bomben zu bauen. Die Sowjetunion hingegen – die 1946 noch keine Atomwaffen besaß – wäre bei ihrem Atomprogramm blockiert gewesen, was im Fall eines möglichen Scheiterns des Plans erhebliche Rückschläge für Moskau bedeutet hätte. So wie dieser Abrüstungsinitiative sollte es noch vielen gehen: die atomaren Massenvernichtungswaffen in einer von Machtrivalitäten der Blöcke geprägten Welt konnten nicht mehr eliminiert werden, weil jeder Vorschlag in diese Richtung von der Gegenseite nur als Täuschungsmanöver und als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretiert wurde. Als Konsequenz aus diesem Dilemma wurden Atomwaffen zum sich selbst reproduzierenden fait accompli; sie wurden und werden gefährlicherweise wie früher Gewehre und Schwerter in traditionelle Kosten-Nutzen-Kalküle der internationalen Politik einbezogen. Damit war und ist einer entfesselten nuklearen Rüstungsdynamik Tür und Tor geöffnet.

Die USA begannen mit dem Ausbau ihrer nuklearen Infrastruktur, der forciert wurde, als die Berlin-Blockade den Kalten Krieg auf einen neuen Höhepunkt trieb. Das Lawrence Livermore Laboratorium wurde eingerichtet, als man nach dem Bruch des amerikanischen Atomwaffenmonopols durch die Sowjetunion (Oktober 1949) – zu Beginn der Kommunisten-Hysterie der McCarthy-Ära – glaubte, die »Superbombe« entwickeln zu müssen. Die 1952 erstmals gezündete Wasserstoffbombe überstieg die Zerstörungskraft der A-Bomben noch um ein Vielfaches. Gleichzeitig wurden die Nuklearwaffen nach und nach in die Teilstreitkräfte – vor allem die Luftwaffe – integriert. Zu Beginn der fünfziger Jahre war die UdSSR durch einen Ring amerikanischer Militärstützpunkte umschlossen, auf denen B-29 (später B-52)-Bomber des SAC (Strategic Air Command) rund um die Uhr in Bereitschaft gehalten wurden. Sie alle waren in der Lage, jeden Punkt der Sowjetunion mit Atombombern zu bedrohen.

Diese militärische Option forderte zusammen mit der Entwicklung und Verbesserung der H-Bombe einen steigenden Testbedarf. Die Gegenseite schlief – wie zu erwarten war – nicht. Der sowjetische Ministerpräsident Malenkov konnte schon im August 1953 den erfolgreichen Test einer sowjetischen H-Bombe bekanntgeben. Schon in den »Kindertagen« des Nuklearzeitalters ist also ganz deutlich geworden, daß es aussichtslos ist, mit der Weiterentwicklung der Nuklearwaffen einseitige Vorteile zu erzielen.

Gleichwohl erhielt sich diese Illusion weiter am Leben – gekoppelt mit einem geradezu mythischen Vertrauen in die Segnungen des technischen Fortschritts. Im Hinblick darauf bildeten die beiden Supermächte in Ost und West tatsächlich eine Art »unheilige Allianz«. Und schon kündigte sich eine ganz neue Gefahr an: die Proliferation. Im Oktober 1952 gelang Großbritannien der erste erfolgreiche Nukleartest. 1957 konnte die erste britische Wasserstoffbombe gezündet werden.

Wachsende Kritik an Atomtests

Aber das Bewußtsein um die menschheitsbedrohende Wirkung der Nuklearwaffen wuchs. Die zahlreichen Tests, besonders der USA, begannen die kritische Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu wecken. Bis 1957 fanden alle Versuche oberirdisch statt – mit zum Teil verheerenden Folgen für Gesundheit und Umwelt.

Unter dem Eindruck des verheerenden Wasserstoffbomben-Tests »Bravo« im Pazifik, der zahlreichen Insulanern und 23 japanischen Fischern Gesundheit oder Leben kostete, appellierte der indische Premierminister Nehru am 2. April 1954 an die Kernwaffenmächte, ihre Nuklearversuche einzustellen. 1954 wurde auch die internationale Wissenschaftler-Organisation Pugwash und die britische »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) gegründet.

Allmählich fand die Testproblematik auch Eingang in die Abrüstungsinitiativen der Atommächte. Am 10. Mai 1955 legte die Sowjetunion dem Unterausschuß der UNO-Abrüstungskommission ein ganzes Bündel von Abrüstungsvorschlägen vor, wobei dem Kernwaffenteststopp eine vorrangige Bedeutung zukam. Der umfassende Abrüstungansatz, den Moskau in den Folgejahren immer wieder in abgewandelter Form vortrug, war jedoch wegen seiner Vielschichtigkeit und Ausgedehntheit nicht konsensfähig. Er enthielt immer wieder zu viele Punkte, die der Westen als Versuch einseitiger Vorteilsnahme interpretierte. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vollzog sich die allmähliche Separierung des »test ban issue« von den umfassenden Ansätzen, ein Prozeß, der einen allgemeinen Paradigmenwechsel in der internationalen Sicherheitspolitik deutlich machte: Ansätze vollständiger Abrüstung resignierten zur Rüstungskontrolle voneinander isolierter Rüstungsbereiche. Damit kann man zwar eher Übereinkünfte erzielen, der entfesselten Rüstungsdynamik wird aber keinerlei Einhalt geboten, weil nur Symptome, nicht aber Ursachen beachtet werden.

Die Vorgeschichte des Partiellen Teststoppvertrages (1958-1963)

Im Jahre 1958 bewegten sich die Atommächte aufeinander zu. Am 31. März 1958 wählte Moskau erstmals das Mittel eines einseitigen Teststopp-Moratoriums, um die Sache voranzubringen. Chruschtschow forderte die Atommächte im Westen auf, seinem Beispiel zu folgen, andernfalls würde er “sich der übernommenen Verpflichtung zur Einstellung der Kernwaffenversuche für enthoben … betrachten” (zit. nach Franz Seiler, Die Abrüstung. Eine Dokumentation der Abrüstungsbemühungen seit 1945, München 1974, S. 98). Eisenhower lehnte die sowjetische Initiative zunächst ab. Nach dem Insistieren Chruschtschows schlug der amerikanische Präsident jedoch immerhin eine Expertenkonferenz zur Möglichkeit der Verifizierung eines Teststopps vor. Schließlich wurde diese Konferenz vom 1. Juli bis 21. August 1958 unter Teilnahme von acht Ländern – vier West, vier Ost – auch tatsächlich abgehalten. Das Ergebnis war bemerkenswert. Durch ein weltweites Netz von 160 bis 180 Kontrollposten, die seismische, akustische und Radiosignale im Zusammenhang mit Atomexplosionen entdecken und radioaktive Trümmer sammeln sollten, sei man in der Lage, selbst kleinere Explosionen von 1-5 Kilotonnen (Kt) zu registrieren. Kritisch sei die Kontrolle vor allem bei sorgfältig verborgenen tiefen unterirdischen Tests.

Relativ rasch konnten sich die Atommächte auf dreiseitige Verhandlungen einigen, die im November 1958 in Genf begannen und von einem Moratorium begleitet wurden. Damit ist die direkte Vorgeschichte zum »Partiellen Teststoppvertrag« (Partial Test Ban Treaty, ptbt) eingeleitet worden, der 1963 geschlossen wurde.

Die folgenden vier Jahre jedoch waren immer wieder überschattet von Krisen, die die Verhandlungen zum Stocken brachten oder unterbrachen. Durch den Abschuß des amerikanischen Aufklärungsflugzeugs U-2 über sowjetischem Territorium im Mai 1960 lagen die Gespräche bis zum Amtsantritt Präsident Kennedys, Anfang 1961, auf Eis. Die Berlin-Krise im August 1961 hatte schließlich den Abbruch des dreiseitigen Moratoriums zur Folge. Die Sowjetunion führte dann in der kurzen Zeit bis Ende 1961 sage und schreibe 50 oberirdische Tests durch, wovon einer die ungewöhnliche Ladungsstärke von 50-60 Mt erreichte! Die radioaktive Belastung der Umwelt durch Atomversuche erreichte in diesen Jahren ihren absoluten Höhepunkt.

Die Kuba-Krise im Oktober 1962 führte jedoch den politischen Entscheidungsträgern und der Weltöffentlichkeit die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zwischen Moskau und Washington drastisch vor Augen. Schon 1959 hatte man sich im Grundsatz darauf geeinigt, alle unterirdischen Tests mit einem Ausschlag über 4,75 auf der Richter-Skala zu verbieten; dies entspricht einer Schwelle von 20 kt.

Der PTBT von 1963

Am 5. August 1963 konnte nun tatsächlich nach nur 20-tägiger Verhandlungsdauer in Moskau der »Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser« (Partieller Teststopp-Vertrag, Partial Test Ban Treaty, PTBT) zwischen den USA, der UdSSR und GB unterzeichnet werden. Dies war ein großes Hoffnungszeichen – welches allerdings aus der Retrospektive betrachtet praktisch alle Probleme der ungehemmten nuklearen Aufrüstung ungelöst ließ. Denn zum einen konnte man sich nicht auf einen Umfassenden Teststopp-Vertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) einigen – Moskau hätte dabei nur drei Vor-Ort-Inspektionen gebilligt, die westlichen Vertragspartner forderten aber sieben – zum anderen beherrschten die USA bereits seit 1957, die UdSSR seit 1962 die Technik unterirdischer Atomversuche. Zudem mußte Präsident Kennedy dem Kongreß als Gegenleistung zu dessen Ratifikation des PTBT eine drastische Erhöhung des unterirdischen Testprogramms versprechen. Es läßt sich unschwer rekonstruieren, daß die Sprengköpfe fast des gesamten strategischen Nuklearraketenprogramms beider Supermächte in unterirdischen Versuchsreihen nach 1963 entwickelt wurden. Sämtliche noch folgende nukleartechnologische Revolutionen wie Mehrfachsprenköpfe (MIRV, MARV) sollten auf Tests zurückgehen, die vom ptbt unberührt blieben. Die Präambel des begrenzten Teststopp-Abkommens hatte nicht umsonst die rasche Verwirklichung eines CTBT eingefordert.

Das Problem der Weiterverbreitung der Kernwaffen

Die Weiterverbreitung von Kernwaffen (Proliferation) konnte nun ungezügelt weitergehen. Frankreich konnte seine erste Atombombe bereits 1960 zünden. China zog 1964 nach, was angesichts der verbalaggressiven Nukleardoktrin Pekings nicht gerade beruhigend wirkte. Was aber, wenn nun immer mehr Staaten nach der Bombe griffen? Wie sollten die Atommächte den »nuklearen Habenichtsen« erklären, daß sie gefälligst auf Nuklearwaffen zu verzichten hätten, sie selbst aber unablässig weitertesten? Kein Zweifel: nun zeigte sich der Zusammenhang zwischen einem Umfassenden Teststopp und einer wirksamen Vorkehrung gegen nukleare Proliferation. Aber Frankreich und China traten noch nicht einmal dem PTBT bei. Immerhin kam 1968 der Nichtweiterverbreitungsvertrag (Non-Proliferations-Treaty, NPT) zustande. Auch dieses Abkommen betonte die Notwendigkeit eines umfassenden Teststopps. Sein Regime bleibt jedoch bis heute bedroht. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Schwellenländern, die die technologische Fähigkeit der Kernspaltung besitzen.

Keine Fortschritte (1963-1974)

Die Jahre nach Abschluß des begrenzten Teststopp-Abkommens brachten in Bezug auf einen CTBT keine Annäherungen. Von 1962 bis 1969 wurde die Frage eines Umfassenden Teststopps Jahr um Jahr im Achtzehn-Nationen-Ausschuß für Abrüstungsfragen in Genf behandelt. Doch die unterirdischen Versuche warfen – wie oben bereits angedeutet – auch neue Verifikationsprobleme auf. In der Kontrollfrage wurde der Dissens zwischen der USA und der Sowjetunion denn auch am deutlichsten. Moskau vertrat den altvertrauten Standpunkt, daß staatliche Aufklärungsmittel (National Technical Means, NTM) zur Überwachung völlig ausreichten. Vor-Ort-Inspektionen wurden als überflüssig erachtet. Die USA und Großbritannien wollten jedoch gerade auf diese Inspektionen unter keinen Umständen verzichten, da die seismischen Meßmethoden trotz Verbesserung nicht ausreichten. Die unterschiedliche Interpretation der Wirksamkeit von Meßverfahren war selbstverständlich nur vordergründig eine wissenschaftliche Kontroverse; sie war und ist eine Agentur politischer Interessen und Ängste. Das wirkliche Interesse an einer Beendigung der Tests war bei den Atommächten wohl sehr gering. Die Denkvorstellung und die Struktur nuklearer Abschreckung hatte sich im Westen eingeschliffen; man bemühte keinerlei politische Phantasie für eine alternative Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund einer Beendigung der Tests. Das Mißtrauen Moskaus gegenüber westlicher Spionage war die Hauptursache für die notorische Ablehnung der Vor-Ort-Kontrollen. Vermittelnde und abgestufte Verifikationsvorschläge von Nichtkernwaffenstaaten wie Schweden blieben praktisch ohne Resonanz.

Die Verträge von 1974 – eher kontraproduktiv

In den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der ersten Ost-West-Entspannungsperiode, konnte im Juli 1974 auch ein sogenannter Test-Bann-Schwellenvertrag (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) geschlossen werden. Diese Übereinkunft verbietet den Parteien (USA, UdSSR) Tests mit einer Ladungsstärke von über 150 kt. Ergänzt wurde dieses Abkommen durch den »Vertrag über Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken« (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET), der 1976 paraphiert wurde. Beide Verträge sind bis heute nicht ratifiziert worden. Gleichwohl haben sich die beiden Supermächte im Großen und Ganzen bis heute daran gehalten. Vom Standpunkt des verbal immer wieder beschworenen Endziels CTBT haben sich die Schwellenverträge jedoch eher als kontraproduktiv erwiesen. Der breiten Öffentlichkeit wurde eine aktive Rüstungskontrollpolitik suggeriert, die in Wirklichkeit alles beim Alten ließ. Der nuklearstrategische Trend in Richtung »kleinere«, dafür treffgenauere Sprengköpfe war auch ohne Schwellenvertrag längst beschritten.

Neue Impulse unter Jimmy Carter

Die internationalen Abrüstungsperspektiven erhielten jedoch neue Impulse als Jimmy Carters Präsidentschaft begann. In einem Interview am 23. Januar 1977 bekannte er: “Ich möchte rasch und energisch mit einem umfassenden Versuchsverbotsvertrag vorankommen; ich bin für die Einstellung der Erprobung aller Kernwaffensprengsätze, und zwar sofort und völlig”. (Heinrich Siegler, Dokumente zur Abrüstung 1977, S.7) So konnten im Juli 1977 Verhandlungen über den CTBT zwischen USA, Großbritannien und UdSSR beginnen. Am 30. Juli 1980 wurde dem Abrüstungsausschuß (Comitee on Disarmament, CD) ein entsprechender Plan vorgelegt. In Fragen der Kontrolle eines dementsprechenden Abkommens wurden bemerkenswerte Fortschritte und Übereinkünfte erzielt. So sollten zehn seismische Meßstationen auf dem Gebiet der Gegenseite installiert werden. Sogar Vor-Ort-Inspektionen wurden prinzipiell eingeschlossen. Den Vertragsparteien blieb aber ein Verweigerungsrecht derartiger Kontrollen noch zugestanden. Im November 1980 vertagten sich die Gesprächspartner.

Reagans Politik der Stärke und Gorbatschows Moratorium

Mit Ronald Reagan folgte Carter ein Mann ins Weiße Haus, der den Gedanken einer Politik der Stärke mit der Vision verband, das bestehende nukleare Abschreckungssystem durch eine weltraumstationierte Raketenabwehr zu ersetzen. Es war nur folgerichtig, daß der neue Präsident keine Neigung verspürte, die trilaterale Verhandlungsrunde neu zu beleben. Im Juli 1982 erklärte die US-Administration offiziell, die Verhandlungen über einen CTBT nicht wiederaufnehmen zu wollen. Im März 1983 teilte Reagan der Welt seine »Vision« einer friedlichen Welt, gestützt auf eine Raketenabwehr im Weltraum mit. Diese »Strategic Defense Initiative« (SDI), deren Kern die Entwicklung von Nuklearwaffen der sogenannten »Dritten Generation« ist, erfordert einen riesigen Testbedarf. Ein Report der US-Rüstungskontroll- und Abrüstungsbehörde (ACDA) sprach sich 1983 denn auch für Atomtests auf unbeschränkte Zeit aus. Bis Gorbatschows Amtsantritt als Generalsekretär im März 1985 gab es keinerlei Bewegung beim test ban issue, obwohl sich der internationale Druck für einen CTB vergrößerte. Der neue Generalsekretär Gorbatschow bediente sich im ersten Jahr seiner »Amtszeit« eines alten-neuen Mittels, um Bewegung in die Testbann-Frage zu bringen. Am 29. Juli 1985 verkündete er ein einseitiges Moratorium, beginnend mit dem 40. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August 1985. Dieses Moratorium, zu dem der Generalsekretär die USA einlud, beizutreten, war bis zum 31. Dezember 1985 befristet. Die amerikanische Administration weigerte sich jedoch, ebenfalls die Tests einzustellen. Im Jahre 1986 verlängerte Gorbatschow diese einseitige Maßnahme daher noch dreimal. Die USA blieben bei ihrer ablehnenden Haltung. Im Januar 1987 schließlich kündigte die Sowjetunion an, sie werde nach dem ersten amerikanischen Versuch ihre Tests wieder aufnehmen. Mit dem 26. Februar 1987 war dann tatsächlich das Ende des sowjetischen Moratoriums markiert.

Die USA bedienten sich unterschiedlicher Argumente, um ihre Position vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen. Nach Gorbatschows erster Ankündigung sprach Reagan von “reiner Propaganda”, lud jedoch als Zeichen guten Willens immerhin sowjetische Spezialisten ein, amerikanische Tests in Nevada vor Ort zu beobachten. Im Laufe des Jahres 1986 war aus amerikanischen Regierungskreisen zu hören, ein umfassender Teststopp, worauf Gorbatschows Moratorium abzielte, sei überhaupt nicht verifizierbar. Dieses Argument wurde selbst von Testbefürwortern als ungeschickt qualifiziert (siehe z.B. Thomas Enders, Verbot von Kernwaffen-Versuchen – nützlich oder schädlich für die Sicherheit?, Europäische Wehrkunde 10/1985), da die Experten in ihrer überwältigenden Mehrheit bereits eine ausreichende Kontrolle der Einhaltung eines CTBT für möglich halten.

Schließlich wurde Washington deutlicher: die Tests seien für die Sicherheit der Vereinigten Staaten unerläßlich, da ohne sie die Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung nicht garantiert werden könne.

Die Fronten geraten in Bewegung – aber noch kein Teststopp in Sicht (1986-1990)

Trotzdem gingen vom Moratorium vertrauensbildende und rüstungskontrollpolitische Impulse aus. Denn der Druck in der Weltöffentlichkeit wie auch innerhalb der Vereinigten Staaten zur Beendigung der Tests wuchs. Bereits Ende 1985 hatten 30 Kongreßmitglieder gegen einen Atomversuch protestiert, der der Erprobung eines nuklear »gepumpten« Röntgenlasers diente. Anfang 1986 forderten bereits 63 Kongreßmitglieder (darunter viele Republikaner) eine Verschiebung des ersten Tests jenes Jahres – er wurde gleichwohl am 24. März 1986 durchgeführt. Im Mai 1986 wurde ein informelles Abkommen zwischen der US-Umweltschutzorganisation »Natural Resources Defense Council« (NRDC) und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften über die gegenseitige Beobachtung und seismische Kontrolle der Tests geschlossen. Bald darauf durften amerikanische Seismologen in der Umgebung des Testgebietes von Semipalatinsk (Kasachstan) ihre Meßgeräte zur Kontrolle des Moratoriums aufstellen. Das Abkommen wurde im Juni 1987 verlängert. Im Juli 1986 konnten bilaterale Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über alle Aspekte der Kernwaffentests beginnen. Freilich gab es kein Mandat zur Aushandlung eines Abkommens. 1986 und bis weit in das Folgejahr hinein versuchte die sowjetische Diplomatie durch Herstellung bestimmter Junktims die USA von ihrer orthodoxen Haltung in der Teststoppfrage abzubringen. Nach der Kernreaktor-Katastrophe von Tschernobyl wurde eine verstärkte internationale Zusammenarbeit bei Reaktorunfällen von Fortschritten in der Teststoppfrage abhängig gemacht. 1987 wurde ein ähnlicher Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (INF) hergestellt. Die USA ließen sich im Kern aber darauf nicht ein. Im Frühjahr 1987 erklärten sie, daß die Fortsetzung der Versuche für die vorhersehbare Zeit unerläßlich sei.

Gleichwohl konnte Reagan die trotz ihres Scheiterns überaus wirkungsvolle sowjetische Abrüstungsoffensive kontern. Er lenkte das Augenmerk auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge von 1974 und 1976.

Im Dezember 1987 kam es tatsächlich zu bilateralen Verhandlungen mit dem einvernehmlich formulierten “Endziel” eines “vollständigen Verzichts auf Nukleartests als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses.” Das klang gut, war aber im Prinzip eine »Niederlage« für die Sowjetunion und ihre proklamierte Linie eines direkten Zusteuerns auf einen Umfassenden Teststopp.

Der Dissens zwischen beiden Parteien über die angeblich notwendige Verbesserung der Verifikation führte zu einem Gemeinsamen Verifizierungsexperiment (Joint Verification Experiment, JVE), das vorsah, je einen nuklearen Sprengsatz auf den test-sites beider Länder in Nevada und Kasachstan zu Überprüfung der Meßmethoden zu zünden.

Diese Testexplosionen wurden im August und September 1988 durchgeführt. Der »symbolische« und vertrauensbildende Aspekt solcher Art von Zusammenarbeit sollte nicht unterschätzt werden und wurde vor allem von US-Seite breit ausgeschlachtet. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das »Endziel« wieder einmal aus dem Blick geriet.

Anfang 1990 zeichnet sich die Ratifikation der Schwellenverträge ab. Aber was hat die Ratifizierung von Abkommen, die rüstungskontrollpolitisch (oder sagen wir deutlicher: abrüstungspolitisch) schon zum Zeitpunkt ihrer Paraphierung überholt waren, für einen Sinn? Selbst die positive Ausstrahlung eines formellen Inkrafttretens der Schwellenverträge für die Erreichung eines CTB muß eher als gering eingestuft werden. Denn die von den Amerikanern favorisierte CORRTEX-Methode, deren Überprüfung im JVE soviel Zeit und Geld gekostet hat, ist für niedrige Ladungsstärken ungeeignet.

II. Atomtests und aktuelle Rüstungsdynamik

Die nuklearen Arsenale der beiden Supermächte haben sich in den letzten 40 Jahren in erheblichem Maße ausdifferenziert. Heute werden die 22.500 amerikanischen Sprengköpfe aus 27 verschiedenen Typen gebildet (U.S. nuclear weapons stockpile, in: Bulletin of the Atomic Scientists, fortan zitiert: BAS; June 1989, S. 49). In der Sowjetunion verteilen sich gar über 50 verschiedene Sprengköpfe auf 67 nukleare Waffensysteme; die 32.000 sowjetischen Sprengköpfe übersteigen das amerikanische Arsenal um 45 % (Estimated Soviet nuclear stockpile, July 1989, in: BAS, July/August 1989, S. 56). In diesen »nuklearen Wucherungen« hat sich der Kalte Krieg als (ehemaliger) Kampf zweier einander ausschließender Weltordnungsmodelle materialisiert. Die fortlaufende Modernisierung und Perfektionierung dieser Arsenale wird jedoch auch zu Beginn der neunziger Jahre mit strategischer Analytik rationalisiert. Es ist bei den Atommächten kein Trend zur dauerhaften Einstellung der Tests erkennbar.

Den USA fiel mit Einschränkungen die Vorreiterrolle bei der Entwicklung immer modernerer nuklearer Waffensysteme zu. Die nuklearen Fähigkeiten haben in den letzten Jahrzehnten in Ost und West immens zugenommen. Aufgrund der jahrzehntelangen Testerfahrung hat sich das Know-How über atomare Sprengköpfe in den USA, der UdSSR, aber auch in Frankreich, Großbritannien und selbst in China außerordentlich verbessert. Seit langem sind die gesamten Verteidigungsstrukturen in Ost und West nuklearisiert, greifen nukleare und konventionelle Waffensysteme in den Großverbänden nahtlos ineinander über. Auf bundesdeutschem Boden ist ein breites Sprengkopfsortiment gelagert, beginnend mit der notfalls von einem Soldaten zu transportierenden »Rucksack«-Bombe mit 0,1 kt Sprengkraft (die allerdings in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wieder abgezogen wurde) bis zur Atombombe im Megatonnenbereich. Sämtliche dieser für den Einsatz auf dem mitteleuropäischen Gefechtsfeld bestimmten Gefechtsköpfe sind auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada getestet worden.

Die Strategien und aus ihnen abgeleitete taktisch-operative Einsatzpläne formulieren Anforderungen an die nuklearen Waffensysteme, die einen erheblichen Atomtestbedarf mitbedingen. Die NATO-Doktrin der flexible response erfordert eine nukleare »Reaktionsfähigkeit« auf allen Ebenen eines bewaffneten Konflikts, von dem »nuklearen Warnschuß« über atomare Schläge gegen Truppenkonzentrationen des Warschauer Pakts bis zur »allgemeinen nuklearen Reaktion«.

Die Relation des Sprengkopfs zu seinem Träger wird in zunehmend zielsicheren Versionen erprobt. Anfang der fünfziger Jahre gab es nur einen Trägertyp, den strategischen Atombomber, wie die amerikanische B-29. Durch die Entwicklung ballistischer Mittel- und Langstreckenraketen kamen bodengestützte Abschußrampen hinzu. 1960 wurde in den USA das erste mit seegestützten Nuklearraketen ausgerüstete Unterseeboot in Dienst gestellt.

Atomare Sprengköpfe in der Bundesrepublik
Sprengkopf Sprengkraft Entwicklung Einführung System
W 31 1 kt NIKE
W 33 1-12 kt (2 Versionen) 1954 1956 Haubitzen 203 mm
W 45 1-15 kt (3 Versionen) seit 1956 (LANL) 1965 MADM
W 48 0,1 kt 1957 1963 Haubitze 155 mm
W 54 0,01-1 kt (LANL) seit 1960 1964 SADM
W 70 1-100 kt (4 Versionen) 1969 1973 LANCE
W 79 1981 Haubitzen 203 mm
W 82 2/1990 Haubitze 155 mm
B 57 unter 20 kt 1960 1964 Bombe
B 61 u. 1-345 kt 1975 Bombe
Durch den INF-Vertrag wieder abgezogen:
W 50 60-200 kt (3 Versionen) Pershing 1A
W 84 0,2-150 kt CM
W 85/W 80 0,3-80 kt Pershing II
Abkürzungen:
MADM – Medium Atomic Demolition Munition (Mittlere Atommine)
LANL – Los Alamos National Laboratory
SADM – Spezielle Atommine »Tornister- oder Rucksackbombe«, sind in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abgezogen worden.
NIKE HERCULES MIM 14 B – in der Nuklearversion (Luftabwehrrakete); die W 31 ist 1984 abgezogen worden.
W 79 – ist ein Neutronensprengkopf und in den USA gelagert.
W 70 – gibt es als A- und Neutronensprengkopf.

Laut Mechtersheimer/Barth, a.a.O., S. 370 besitzen die verschiedenen in der Bundesrepublik
gelagerten Atombomben eine Sprengkraft zwischen 5 und 1.450 kt (= 1,45 Mt oder die
120fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe!).
Das Jahr der Entwicklung bezeichnet das Jahr der ersten Planungs- und Designphase (Phase I
und II). Die eigentliche Atomtestphase (III) schließt sich ungefähr ein bis zwei Jahre
später daran an.

Quelle: Cochran, Arkin, Hoenig, Nuclear Weapons Databook, Vol. I U.S. Nuclear forces
and Capabilities, Cambridge (Mass.) 1984; Mechtersheimer, Barth, Militarisierungsatlas der
Bundesrepublik, Neuwied, Berlin 1988 (3. Auflage); Bulletin of the Atomic Scientists,
verschiedene Ausgaben 1989

Konsequenz der Abschreckung: Diversifizierung der Atomwaffenprofile

Schon die unterschiedlichen Trägersysteme erzwingen unterschiedliche Sprengkopfprofile, deren Entwicklung Atomtests erforderlich machen. Die Ausdifferenzierung allein des Raketenarsenals erfordert weitere Sprengkopfvarianten. Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen unterscheiden sich mindestens hinsichtlich fünf Kriterien:

1. Wurfgewicht. Die Nutzlast der Raketen. Sie definiert sich als Summe der Gewichte aus Gefechtsköpfen (Wiedereintrittsflugkörper, Re-Entry-Vehicles, RV), Einrichtungen zur Freigabe, zum Ausstoß oder der Flugführung der RV's und Eindringhilfen. Das Wurfgewicht der strategischen bodengestützten Interkontinentalrakete Minuteman III mit ihrem aus 3 W-78-Sprengköpfen bestehenden MK-12A Mehrfachsprengkopf beträgt über eine Tonne (1.087,2 kg). Die modernere MX-Rakete erreicht durch ihren Zehnfachsprengkopf MK-21, W 87, hingegen 3.578,7 kg, die Kurzstreckenrakete Lance mit einem Gefechtskopf 211 kg.

2. Flugbahn. Die Wiedereintrittsflugkörper einer ICBM werden nach dem Brennschluß der Startrakete von einem sogenannten Bus herausgestoßen und erreichen während der Hauptflugphase eine Höhe von 1.200 km weit oberhalb der Atmosphäre. Lance-Raketen haben eine viel niedrigere Flugbahn und erreichen je nach Reichweite eine Flughöhe zwischen 1.350 und 45.700 Metern.

3. Reichweite. Lance 5-125 km, Minuteman III über 14.000 km, Trident II D 5 7.400 km

4. Einfallswinkel. Nach der maximal nur 60 Sekunden dauernden Zielanflugphase treffen die Raketen-Gefechtsköpfe je nach Art der Flugbahn bzw. der Reichweite in unterschiedlichen Einfallswinkeln am Erdboden auf. Cruise Missiles haben im Gegensatz dazu noch einmal prinzipiell andere Auftreffwinkel, weil sie anders als Raketen in Bodennähe fliegen und ihren Flugweg nach vorprogrammierten Landmarken korrigieren. CM's sind auch erheblich langsamer als ballistische Flugkörper und erreichen ca. 1.000 km/h. Auch (strategische) Bomben verlangen völlig andere Sprengkopfprofile, da sie über feindlichem Territorium abgeworfen werden und nach freiem Fall auftreffen.

5. Geschwindigkeit. Lance 3 Mach, Minuteman III nach Brennschluß 19,7 Mach oder 24.000 km/h, Pershing II 8 Mach.

Die Innovationsschübe in der Sprengkopftechnologie werden mit der angeblichen Notwendigkeit gerechtfertigt, die Zweitschlagfähigkeit zu verbessern. Dieser second-strike-capability wird eine stabilitätsfördernde und kriegsverhindernde Wirkung zugeschrieben. Der extrem dynamische Charakter der nuklearen Rüstungsentwicklung mit seinen unentwirrbaren Prozessen der Vor- und Nachrüstung gibt dieser Rechtfertigung einen zweifelhaften Charakter: jede »stabilisierende« Rüstungsentscheidung ist auch als Versuch der Verbesserung der Erstschlagkapazität interpretierbar.

Dem extensiv und offensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff der NATO gemäß dürfen keine »Sanktuarien« auf dem Gebiet der Sowjetunion entstehen. Jedes strategisch wichtige Ziel soll bedroht werden können. Was der amerikanische Luftwaffenminister Aldridge auf den sogenannten »Tarnkappen-Bomber« Stealth münzte, gilt auch für neue Sprengkopftypen, die jetzt in Nevada getestet werden: mobile und gehärtete Ziele in der Sowjetunion sollen “unter Risiko” gehalten werden (zitiert nach: Ulrich Albrecht, Stealth, Dossier Nr. 2, Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, 1989). Verteidigungsminister Carlucci hat gegen Ende seiner Amtszeit die Entwicklung von Erddurchdringungssprengköpfen (»earth penetrating warheads«) mit bislang unerreichter Durchschlagskraft genehmigt (National Resource Defense Council -NRDC-, Phasing Out Nuclear Weapons Tests. A Report to the President and Congress from Belmont Conference on Nuclear Test Ban Policy, o.O. 1989, S. 27). Der neue Sprengkopf soll sich nach dem Abwurf in die Erde bohren können, um erst dann zu explodieren. Seine “Wirkung solle so verheerend sein, daß…(er) die Wände der tiefsten unterirdischen Bunker durchdringen und im Kriegsfall die gesamte sowjetische Führung auslöschen” könnte (FAZ, 24.7.1989). Es sind aber die anderen anvisierten Eigenschaften dieses Sprengkopfes (möglicherweise vom Typ B-61, model 7, siehe Kasten), die einen nicht geringen Testbedarf erfordern werden: reduzierte Druck- und Hitzeeffekte.

Die neue Waffe dürfte zum Einsatzprofil des B-2-Bombers passen, der im Tiefflug weit ins sowjetische Territorium eindringen und neben Kommandozentralen die mobilen Interkontinentalraketenstellungen der SS-24 und SS-25 bekämpfen soll. Dies wird den Waffenspezialisten in den drei US-Waffenlaboratorien noch eine weitere Leistung abverlangen: die Entwicklung eines verzögerten Zündsatzes, der bewerkstelligen soll, daß die Detonation erst dann erfolgt, wenn der tieffliegende B-2-Bomber schon in sicherer Entfernung ist (Holger Mey, Europa-Archiv Nr. 6/1988).

Die modernsten Sprengköpfe des amerikanischen Arsenals
Sprengkopf Sprengkraft Spezifikation
B-61 1-500 kt Strategische Bombe
B-83 u. 1-1.200 kt Strategische Bombe
W-80-1 5-150 kt ALCM
W-84 0,2-150 kt GLCM
W-87 300 kt MX
W-88   Trident II
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben die USA mindestens sechs verschiedene Sprengkopftypen entwickelt, die 1988, den einschlägigen Hearings des Kongresses zufolge, produziert wurden:

Derzeit werden mindestens drei Sprengkopftypen getestet:

  • B-90 Nuclear Depth Bomb (Anti-Submarine Warfare Standoff Weapon, ASW/SOW). Diese Abstandswaffe zur U-Boot-Bekämpfung soll im Haushaltsjahr 1993 in das Arsenal aufgenommen werden (BAS, Juli 1989)
  • SRAM-2 (Short-Range Attack Missile), ein luftgestützter Abstandsflugkörper.
  • B-61 (model 7). Diese Bombe ist seit Anfang der siebziger Jahre in verschiedenen Versionen im amerikanischen Nukleararsenal. Die jetzt getestete Version ist wahrscheinlich ein Erddurchdringungssprengkopf.

Modernisierung der Arsenale

Die Testserien in Nevada dienen jedoch nicht nur der zukünftigen Modernisierung der strategischen Nukleararsenale; sie betreffen auch in den neunziger Jahren geplante Nuklearsysteme für Europa. Einschlägige Militärexperten bestätigen, daß die verbliebenen Kernwaffenkräfte der NATO einer Modernisierung bedürften, um den Erfordernissen der »Flexible Response« gerecht zu werden. Die Sprengköpfe folgender Waffensysteme werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren auf der NTS getestet:

  • Nachfolgemodell Kurzstreckenrakete Lance, evtl. als Army Tactical Missile System (ATACMS) in der Nuklearversion, von Mehrfachraketenwerfern (MLRS) abzuschießen.
  • Entwicklung einer Luft-Boden-Abstandswaffe SRAM-T könnte in Europa die abzuziehenden Pershing II und Cruise Missiles ersetzen.
  • Modernisierung nuklearer Artilleriegranaten mit W-82-Sprengköpfen
  • Modernisierung Nuklearbomben der dual capable Kampfflugzeuge (siehe ami 1/90, S. 3).

Im Haushaltsjahr 1988 gaben die USA 618,9 Mio. $ für die Atomtests aus. Im fiscal year (FY) 1989 betrug die Summe 524,2 Mio. $. Im laufenden Haushaltsjahr 1990 sind Mittel in Höhe von 511,7 Mio. $ vorgesehen. Trotz leichten Rückgangs stehen auch aktuell alle Finanzmittel zur Verfügung, um die Modernisierung und Neuentwicklung von Nuklearwaffen voranzutreiben.

III. Atomtests, SDI und kein Ende

Mit Präsident Reagans Vision einer lückenlosen, weltraumgestützten Raketenabwehr (Strategic Defense Initiative, SDI) sind neue Begründungen für die Aufrechterhaltung der Atomtests in die Diskussion gekommen. SDI strebt Laserwaffen an, die gestartete sowjetische Interkontinentalraketen bereits in der Anfangsphase zerstören sollen. Drei Laserarten benötigen zu ihrer Erzeugung die Energie von nuklearen Detonationen:

  • Atomlaser zur Bekämpfung von Aufklärungs- und Fernmeldesatelliten des militärischen Gegners.
  • Weltraumgestützte Mikrowellenwaffen zur Zerstörung der elektronischen Infrastruktur auf der Erdoberfläche.
  • Röntgenlaser zur Zerstörung anfliegender ballistischer Interkontinentalraketen.

Der Röntgenlaser

Der Röntgenlaser ist die anspruchsvollste »Atomwaffe der dritten Generation«. Dieses System besteht aus einem nuklearen Sprengsatz, der von einem zylindrischen Bündel sehr dünner metallischer Fasern umgeben ist. Bei der Nuklearexplosion bewirken die freiwerdenden Röntgenstrahlen in der kurzen Phase vor der Selbstzerstörung des Systems, daß ein Puls sekundärer Röntgenstrahlen sich in Richtung der Metallfasern ausbreitet. Eine Studie der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft kam schon vor drei Jahren zu dem Schluß, daß die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten fast unüberwindlich sind. Am Beispiel des Röntgenlasers wurde ausgeführt: “Da die Atmosphäre Röntgenstrahlen absorbiert, müßte eine entsprechende Einrichtung in mehr als 80 Kilometer Höhe stationiert werden – möglicherweise mittels irgendeiner Art Katapult-System. Notwendig wäre auch eine Methode, die Bündel von Röntgenstrahlen zu fokussieren und auf ein vorgegebenes Ziel zu richten. Auch müßte man eine Reihe anderer physikalischer Konzepte auf ihre Wirksamkeit untersuchen, ehe man abschließend beurteilen könnte, ob nuklear gepumpte Röntgenlaser in der strategischen Verteidigung anwendbar seien” (Kumar N. Patel, Nicolaas Bloembergen, SDI und Waffen mit gerichteter Energie, Spektrum der Wissenschaft, November 1987). Trotz solcher Vorbehalte hatte die Regierung Reagan seit 1984 nahezu 17 Mrd. US-Dollar für SDI ausgegeben. Der Etat für Kernwaffenversuche hatte sich von 201 Mio. $ (FY 1981) auf 388 Mio. $ im Haushaltsjahr 1984 verdoppelt (SZ, 31.1.1984). Der erste unterirdische Atomtest im Rahmen eines Röntgenlaser-Versuchs (Code: Dauphin) wurde unter der Zuständigkeit des Lawrence Livermore Laboratoriums am 14. November 1980, also noch vor Reagans »Star Wars«-Rede, auf der Nevada Test Site durchgeführt. 1983 und 1985 folgten je zwei weitere Tests des »X-Ray-Lasers« (NRDC, Known U.S. Nuclear Tests July 1945 to 31 December 1985). Es ist gesichert, daß zwischen Mitte 1985 und Mitte 1988 sechs weitere Atomversuche zur Erforschung nukleargetriebener SDI-Waffen durchgeführt wurden (FR, 10.8.1988). Die Anzahl der SDI-bedingten Atomversuche seit 1983 dürfte jedoch noch höher liegen, weil die US-Administration seit Januar 1984 nach einer Aussage des damaligen Stabschefs des Weißen Hauses, James Baker, dazu übergegangen war, nicht mehr alle unterirdischen Atomtests anzugeben (SZ, 31.1.1984). Experten vermuten, daß es sich bei diesen Versuchen um Tests von Atomwaffen der dritten Generation handelt.

Kontinuität unter Bush

Die Bush-Administration sieht in SDI nicht mehr ihre militärpolitische Priorität. Der amerikanische Präsident hält im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger einen vollkommenen Schutz gegen ballistische Raketen für unrealistisch. Das heißt jedoch nicht, daß SDI bald »begraben« wird – im Gegenteil. Der Haushaltsentwurf für das fiscal year 1991 sieht wieder eine Steigerung der SDI-Ausgaben auf 4,8 Mrd. $ vor (FY 1990: 3,8 Mrd. $, SZ, 30.9.1989). Dies bedeutet aber, daß auch in Zukunft weiterhin Atomtests zur Erforschung von Atomwaffen der dritten Generation durchgeführt werden. Der Kongreß hat in diesem Zusammenhang 110 Mio. $ für das Haushaltsjahr 1990 bewilligt. Bei den Kosten von 20 bis 30 Mio. $ pro Test dürften im Jahre 1990 4-6 Atomversuche im Zusammenhang mit SDI stehen. Allein die Entwicklung einer Atomwaffe der dritten Generation wird nach Aussagen von Wissenschaftlern des Los Alamos Laboratoriums zwischen 100 und 200 Tests erforderlich machen (Josephine Anne Stein, Nuclear tests means new weapons, BAS, Nov. 1986, S. 8).

Die UdSSR zieht nach

Die Konzentration auf die USA zur Exemplifizierung der atomtestbedingten Rüstungsdynamik darf nicht vergessen machen, daß die Sowjetunion alle sprengkopftechnologischen Trends der USA mit- oder nachvollzogen hat. Ende der 50er Jahre wurden die Sprengköpfe für die erste sowjetische Interkontinentalrakete SS-6 getestet, die 1960 in Dienst gestellt wurde. Die Gefechtsköpfe für U-Boot-gestützte Raketen dürften in der ersten Hälfte der sechziger Jahre entwickelt worden sein. Der erste erfolgreiche Raketenstart von einem getauchten sowjetischen U-Boot aus erfolgte im Jahr 1962. Die erste U-Boot gestützte Nuklearrakete schließlich wurde 1968 auf dem Unterseeboot Yankee stationiert.

Auch in der Mehrfachsprengkopftechnologie holte die Sowjetunion bald die USA ein: Anfang der 70er Jahre wurden jene MIRV's getestet, die 1974 auf der SS-18 oder SS-19 montiert und stationiert wurden. Wie die amerikanische Kontroverse um die Entwicklung einer neuen, besonders zielgenauen und beweglichen »kleinen« Interkontinentalrakete Midgetman zeigt, wird die amerikanische Entscheidung zur Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen heute aus eben diesem Grund vielfach kritisiert; das selbst für US-Kongreßmitglieder irritierende Schema amerikanischer Vorrüstung und sowjetischer Nachrüstung wird an der Geschichte der MIRV's daher besonders deutlich. Mit vergleichbarem Unbehagen registrieren selbst republikanische Politiker in den USA heute die Midgetman, deren Gesamtkosten mit Stationierung von 500 Raketen 39 Mrd. $ betragen soll. Der Trend zur mobilen ICBM wird auch von der Sowjetunion nachvollzogen. Selbst einzeln lenkbare, zur nachträglichen Kurskorrektur fähige MARV-Sprengköpfe sind bereits produziert worden. Derzeit testet die UdSSR einen Gefechtskopf, der offensichtlich zu einem sowjetischen Midgetman-Äquivalent gehören soll.

Frankreich

Seit Jahrzehnten erhält Frankreichs Nuklearrüstung ca. 30 % des Verteidigungshaushalts. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hat Frankreich die Sprengköpfe von mindestens drei Raketensystemen getestet, die gemäß des Haushalts 1990 sofort oder später beschafft werden sollen:

  • M-4 SLBM
  • M-5 SLBM
  • Hades

Am umstrittensten ist die Kurzstreckenrakete Hades, von der jetzt wahrscheinlich nur noch 60 statt ursprünglich 120 Stück beschafft werden (ami 2/90, S.11). Ihre Reichweite von 350 km bedroht niemand außer die Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR. Der militärische Sinn dieses Waffensystems wird auch von Militärexperten angezweifelt. Hades ersetzt den Boden-Boden-Flugkörper Pluton, der einen Sprengkopf von ca. 20 kt hat und im Elsaß stationiert ist.

Mit der U-Boot-gestützten M-4-Rakete wurde Mitte der achtziger Jahre erstmals ein Mehrfachsprengkopf in das französische Arsenal aufgenommen. Er wurde zwischen 1983 und 1985 ausgiebig im Pazifik getestet (Die Welt, 10.8.1983). Zum französischen Nuklearpotential gehören insgesamt mindestens sieben verschiedene Sprengkopftypen (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, S. 53).

China

Die Volksrepublik China führt nicht einmal annährend so viele Atomtests auf ihrem Versuchsgelände in Lop Nor durch wie die beiden großen Atommächte. Dennoch konnte die Volksrepublik in über 30 Tests seit 1964 ein begrenztes Atomsprengkopfarsenal schaffen, das zu folgenden Raketensystemen gehört:

  • CSS-NX-3, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-NX-4, seegestützte Rakete (SLBM)
  • CSS-5 Interkontinentalrakete (ICBM)

(Quelle: William M. Arkin, Richard W. Fieldhouse, »Nuclear Battlefields«. Der Atomwaffen-Report, Frankfurt/M 1986, S. 193)

Insgesamt unterhält China ähnlich viele Sprengkopftypen wie Frankreich (siehe BAS, Juni 1989).

Großbritannien

Großbritannien lehnt sich bei seiner Nuklearbewaffnung eng an die Vereinigten Staaten an; sämtliche britische SLBM's sind in den USA entwickelt und gebaut worden.

Atomwaffentests dienen vier Zwecken:

  • Entwicklung neuer Waffen
  • Untersuchung von Kernwaffenwirkungen
  • Überprüfung der Zuverlässigkeit der Arsenalwaffen
  • Entwicklung von Systemen gegen Mißbrauch und Unfälle

Die Entwicklung neuer Sprengkopfprofile ist nach wie vor unumgänglich mit der Durchführung von Atomtests verbunden. Weder die computergestützte Simulation noch sogenannte Labortests können eine atomare Detonation so exakt abbilden, daß sie Atomversuche ersetzen könnten.

Testserien dieser Art werden immer in vertikalen Bohrlöchern von 300 bis 2.000 Metern Tiefe durchgeführt.

Da Waffen, Geräte und sonstige Systeme auch unter Nuklearkriegsbedingungen möglichst noch funktionieren sollen, werden ein bis zweimal im Jahr die Kernwaffenwirkungen untersucht. Zu diesem Zweck wird ein horizontaler Tunnel in den Felsen getrieben. In diesen Stollen werden die zu testenden Geräte – z.B. Satelliten, Raketenstufen – zusammen mit dem nuklearen Sprengsatz, verschiedenen Detektoren und Meßgeräten in einer bestimmten Anordnung plaziert. Nach Registrierung der Meßwerte (z.B. der Neutronenstrahlung) sorgen in Millisekunden schließende Tore dafür, daß die Meßgeräte vor der zerstörerischen Wirkung der Druckwelle geschützt werden.

Die am meisten kontroversen Diskussionen haben sich bei der Frage ergeben, ob die Zuverlässigkeit von stationierten Nuklearwaffen von Zeit zu Zeit durch Atomtests überprüft werden müssen. Renommierte Experten wie Glenn T. Seaborg weisen jedoch schon seit einigen Jahren darauf hin, das in der Entwicklungsphase ausreichend getestete Sprengköpfe die beste Gewähr für die Zuverlässigkeit bieten und weitere Tests nach der Stationierung überflüssig seien.

Um die Atomwaffen vor Unfällen zu schützen, müssen Sicherungssysteme entwickelt werden, die einen Testbedarf erfordern. Ein solches Sicherungssystem sind zum Beispiel spezielle Explosionsstoffe, die die Kettenreaktion in Gang setzen sollen, aber gegen Unfälle und Stöße unempfindlicher sind als alte Mixturen chemischer Explosionsstoffe: Intensitive High Explosive (IHE)

Bei Tests sind folgende Namen zu unterscheiden: der Name der Testserie, z.B. »Crossroads« im Sommer 1946 in Bikini, eine Serie von 2 Explosionen und der Name des Tests und der Bombe/des Sprengkopfs, wobei Test und Waffe nicht genau unterschieden werden; bei »Crossroads« sind dies »Able« und als zweiter Test »Baker«. Prinzipiell sind offizielle Codenamen und interne Spitznamen zu unterscheiden. Hier werden generell Codenamen untersucht; die wenigen Spitznamen werden extra gekennzeichnet.

IV. Die Waffenlaboratorien

Die fünf Atommächte der Welt betreiben und erweitern für die Planung und Durchführung ihrer Atomtests eine weitverzweigte und kostspielige nukleare Infrastruktur, zu denen u.a. Großforschungseinrichtungen und ausgedehnte Testgelände gehören.

Die Vereinigten Staaten

In den USA sind drei Forschungslaboratorien mit der Entwicklung von Atomsprengköpfen befaßt. Das Los Alamos National Laboratory (LANL) ist das Älteste. Es wurde im Jahre 1943 gegründet und hatte den Auftrag, die erste Atombombe zu entwickeln und zu bauen. Einige 10.000 hochqualifizierte Wissenschaftler arbeiteten für dieses Ziel rund um die Uhr. Die ersten »erfolgreich getesteten« Atomsprengsätze – »Trinity« und die Hiroshima-/Nagasakibomben – wurden ebenso in Los Alamos entwickelt, wie sämtliche Sprengköpfe, die bis 1958 in das amerikanische Arsenal aufgenommen wurden. 1952 wurde unter der Leitung dieses Laboratoriums der erste H-Bomben-Test im Pazifik durchgeführt. Von den 71 Sprengkopftypen, die bis 1984 entwickelt wurden, stammen 53 aus Los Alamos. Vor allem die Abteilung »Weapons Development Programs« ist hier mit den Atomtests befaßt; die Abteilung »Defense Research Programs« ist für SDI-Technologien zuständig.

Die Bedeutung von Los Alamos ist in den letzten 20 Jahren vom Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) erreicht, wenn nicht übertroffen worden. Mindestens die Hälfte aller zu Beginn der neunziger Jahre im US-Arsenal befindlichen Nuklearsprengkopftypen sind in diesem kalifornischen »lab« entwickelt worden. Die wichtigsten Labortests zur Entwicklung von Sprengkopfkomponenten, die zunehmend Aufgaben von unterirdischen Atomtests übernehmen, werden hier durchgeführt. LLNL wurde im Jahre 1952, nicht zuletzt auf Betreiben von Ernest O. Lawrence und Edward Teller, gegründet. Im Haushaltsjahr 1953 wurden 3,5 Mio. $ für LLNL veranschlagt. Mitte der achtziger Jahre überschritt das Budget die 700 Mio. $-Grenze. Über 8.000 Mitarbeiter sind heute in Lawrence Livermore beschäftigt. In der Abteilung »Defense Systems« werden die nuclear warheads von der ersten Planungs- und Designphase (Phase 1 und 2) über die eigentliche Testphase (Phase 3/3a/3b) bis hin zur Einpassung in die jeweilige Trägerumgebung (landgestützte Abschußrampe, Flugzeug, Schiff, U-Boot), sowie die Einführung in das Arsenal (Phasen 4 bis 7) entwickelt. Wie Los Alamos ist auch Lawrence Livermore mit SDI-Forschung und Lasertechnologie befaßt.

Die Sandia National Laboratories gingen 1945 aus den nahegelegenen Los Alamos-Forschungsstätten hervor. Aus einigen wenigen Gebäuden ist eine Großeinrichtung geworden mit fast 9.000 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über 1 Mrd. $. Sandia ist mit allen nicht-nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen (z.B. Elektronik, Kommando- und Kontrolleinrichtungen, konventionelle Zünder der Sprengköpfe) befaßt.

Die drei Laboratorien unterstehen dem amerikanischen Energieministerium (Department of Energy, DOE) und beschäftigen zusammen über 23.000 Mitarbeiter. An der unmittelbar atomtestrelevanten Waffenentwicklung arbeiten in Los Alamos und Lawrence Livermore über 8.000 hochqualifizierte Beschäftigte, häufig Physiker. Diese Spezialisten bilden eine einflußreiche Lobby gegen einen umfassenden Atomteststopp oder sonstige Testbeschränkungen. Die Methoden der Einflußnahme im Kongreß sind subtil. Immer wenn sich im Repräsentantenhaus oder im Senat eine Mehrheit für Testrestriktionen abzeichnet, werden die Lobbyisten – häufig indirekt von der Regierung »beauftragt« – aktiv. So 1987, als das »House« ein einjähriges Verbot für alle Tests über 1 kt beschloß. Eine u.a. aus Mitarbeitern der labs gebildete Gruppe (»Arms Control Working Group«) schickte unter dem Wohlwollen des Energieministeriums Argumentpakete mit »Pro-Test-Informationen« an die Senatoren und House-members. Die zahlreichen Briefings hatten Erfolg: das sogenannte Hatfield-Kennedy amendment über eine zweijährige Periode von erheblichen Testbeschränkungen passierte am 24.9.1987 den Senat nicht (F.A.S. Public Interest Report, Nov. 1987, No. 9). Der primäre Beschäftigungseffekt gilt neben den Naturwissenschaftlern in den Labors noch für die 11.000 Mitarbeiter auf dem amerikanischen Testgelände, der Nevada Test Site (NTS) und den dazugehörigen Verwaltungsbüros in Las Vegas. Auf dem test site selbst sind in erster Linie Bauarbeiter, Bergleute, Schlosser, Schweißer, Elektriker und Dreher beschäftigt. Auf dem verdorrten Wüstengelände, das dreißig Prozent größer als das Saarland ist, werden diese qualifizierten Facharbeiter gebraucht, da vertikale oder horizontale Bohrlöcher in den Felsen- bzw. Wüstenboden getrieben und dann Rohr- und Stromleitungen verlegt werden müssen. Das Energieministerium ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte Arbeitgeber in Las Vegas – nach der Unterhaltungsindustrie (FAZ, 14.7.1987).

Großbritannien

Bereits seit den fünfziger Jahren testet auch Großbritannien seine Nuklearsprengköpfe auf der Nevada Test site. Ein britisches Labor, das Atomic Weapons Research Establishment in Aldermaston, Südengland, ist für die Sprengkopfentwicklung zuständig. Es untersteht der Abteilung »Forschung und Entwicklung nuklearer Programme« des britischen Verteidigungsministeriums.

UdSSR

Wie die USA hat auch die Sowjetunion eine ausgedehnte und komplexe nukleare Infrastruktur, zu deren wichtigsten Bestandteilen die Planung und Durchführung von Atomtests gehört. Allerdings gibt es hierzu im Westen auch im Zeichen Gorbatschows nur lückenhafte Kenntnisse. “Bei der Kernwaffenforschung gibt es in der Sowjetunion keine Glasnost”, klagte ein sowjetischer Wissenschaftler auf einer Tagung über »Neue Atomwaffenkonzepte«, Anfang 1990 in Darmstadt (FR, 23.1.1990). Die Sowjetunion hat ihre Sprengköpfe bis in die siebziger Jahre hinein auf über 20 verschiedenen Testgeländen erprobt. Heute werden noch die Gelände bei Semipalatinsk (Kasachstan) und auf der Nordmeerinsel Nowaya Semlja benutzt. Darüber hinaus führt die Sowjetunion sogenannte Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken im Ural, in Teilen der europäischen UdSSR, am Kaspischen Meer, am Baikalsee und in vier anderen Gebieten Sibiriens durch. Die Produktionsanlagen und die Sprengkopfentwicklung unterstanden lange Zeit dem Ministerium für mittelschweren Maschinenbau. Seit Dezember 1989 ist die oberste Behörde für die sowjetischen Atomtests das Ministerium für Atomenergie. Die beiden wichtigsten Laboratorien für die Sprengkopfentwicklung liegen im Ural: eine Forschungseinrichtung in Kyschtym und das Radiologische Institut in Sungul.

Frankreich

Auch Frankreich hat als nukleare Mittelmacht eine beachtliche nukleare Infrastruktur. Oberste Behörde für die Sprengkopfentwicklung ist die CEA (Commisariat a l'Énergie Atomique). Der CEA-Abteilung für militärische Anwendung unterstehen u.a. alle relevanten Labors, z.B. Limeil-Valenton in Val-de-Marne. Auch die Atomforschungszentren in Saclay und Grenoble könnten dazugehören.

China

Die wenigsten Informationen gibt es über die infrastrukturellen Voraussetzungen der chinesischen Atomtests. Die Nuklearversuche selbst werden in Lop Nor durchgeführt. Ungefähr vierzig Anlagen gelten als Produktionsstätten zur Urangewinnung und-anreicherung.

V. Atomtests und Sprache

Die Herrschaft eines bestimmten, nur strategischen Rationalitätsbegriffs läßt sich unter anderem am Gebrauch der Sprache im militärischen Bereich zeigen.

Die Namen der Testreihen, Tests und Bomben verraten schon viel.

Amerikanische und britische Waffennamen bieten sich aufgrund des leichter zugänglichen Materials an. Namen ohne Angabe sind hier amerikanisch, britische werden extra gekennzeichnet. (Vielleicht ist im Rahmen von Glasnost demnächst auch ein ähnlicher Artikel über russische Namen möglich.)

Warum erhalten Tests und Waffen Namen?

Zunächst wundert man sich, daß totes Material überhaupt benannt wird. Warum wurde die MX-Rakete von US-Präsident Reagan mit dem Namen »Erhalter des Friedens« bedacht? Warum gab man dem Test »Baker« am 25.7.1946 auf den Marshall-Inseln nicht einfach die Ziffer 2/46 – der zweite Test des Jahres 46?

Namen sind natürlich auch funktional, sie dienen als Gedächtnisstütze, vereinfachen den sprachlichen Umgang mit Waffen und Tests und erleichtern das Unterscheiden der Tests und Testserien.

Sieht man sich die Namen aber genauer an, so merkt man, daß sie noch weit wichtigere Bedeutung haben.

Das Flugzeug »Enola Gay« und die Uranbombe mit dem Spitznamen »Little Boy« verwüsteten Hiroshima. Der Nagasaki-Bombe hatte man den Spitznamen »Fat Man« gegeben. Mit »Fat Man« (20Kt=20.000 TNT Sprengkraft) wurden 64.000 Menschen ermordet. Viele weitere Opfer litten und leiden an Spätfolgen.

»Ermorden« – »Opfer« – das sind nur unsere Wörter. In der militärisch-strategischen Sprache kommen sie so nicht vor. Angriffe gegen Bevölkerungszentren heißen in der Planung nicht »Massenmord« sondern »Gegenwertangriffe« (»counter-value-attacks«) im Unterschied zu »counterforce-Schlägen«, die »nur« gegen feindliche Anlagen gerichtet sind. Die Bombenangriffe auf die beiden japanischen Städte werden in der amerikanischen Statistik als Test 2 und 3 geführt. Besonders der Hiroshima-Test war sehr gelungen – d.h. er lief nach militärischer Planung – nur waren eben 136.000 Menschen unfreiwillige Bestandteile dieses Tests. »Begleitschaden« ist ein oft verwendeter Terminus für den Tod von Menschen! (s. Carol Cohn, Artikel »Death and Sex«, 2 Teile, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 5 u. 6 1988, hier Teil I, S. 20)

Wir möchten betonen, daß wir den militärischen Quellen dabei keine besondere Grausamkeit an Menschen entnehmen. »Menschen« erscheinen sprachlich ja kaum, und wenn, dann nicht als Opfer. Was Nicht-Militärs zynisch vorkommt, hört sich in der militärstrategischen Sprache ganz sachlich an. Das evidenteste Beispiel für diese Beobachtung ist der Terminus »anti-personnel-bombs«. Dies sind Waffen speziell gegen Menschen (die Neutronenbombe), wobei alles nicht Lebendige intakt bleiben soll. »Personal« generalisiert, läßt den Einzelnen verschwinden und erhöht gleichzeitig die Bedeutung der Waffen, denen das »Personal« zugeordnet wird.

Namhafte Bomben und namenlose Menschen

»Fat Man« tötete 64.000 Einwohner Nagasakis. »Bravo« (1.3.54) verseuchte die Bikini-Inseln und untergrub langfristig die Gesundheit von 236 Inselbewohnern, Soldaten und 23 japanischen Fischern, von denen einer nach 6 Monaten starb. Der wohlklingende Liebesname »Romeo« ist nichts anderes als der Name der Nachfolgerbombe von »Bravo«, am 27. März 54 gezündet. Ein Ergebnis: mißgebildete und lebensunfähige Kinder. »Smoky« (31.8.57) sorgte für vermehrte Leukämie bei den live beobachtenden Soldaten etc. etc.

Bomben und Tests tragen Namen, die Menschen nicht. Der Name unterscheidet die Waffen sogar als einmalige Wesen: »Fat Man« ist eben von »Small Boy« (1 Kt, 1.10.61 in Nevada) oder »Mike« (1.11.52 in Enewetok, 10,4 Mt) verschieden, auch wenn es sich in Wirklichkeit um lebloses Waffenmaterial zur Vernichtung lebender Menschen und ihrer Werke handelt. Durch die Namen werden die Waffen denkbar wie lebende Wesen und erhalten sogar einen bestimmten Gefühlswert. Wer denkt bei »Kätzchen« (kleinerer bitischer Test 1953 in Südaustralien) oder »Easy« (47 Kt, 21.4.51 in Nevada) nicht an etwas Nettes, Gutes?

»Buffalo« (britische Testserie Sept-Okt. 1956 in Maralinga) oder »Buster Jungle« (Serie von 8 Tests 51 in Nevada) bringen ein wenig Abenteuer, während »Buggy« (März 68 in Nevada) und »Grapple« (britische Testserie Mai 57-Sept. 58, Weihnachtsinsel) eher lustig klingen. »Buggy« bedeutet etwa altes, klappriges Auto, »grapple« ist ein Handgemenge, eine Kabbelei.

Durch die Namensgebung werden viele Waffen sprachlich »lebendig«. Das Verhältnis zwischen fühlenden Menschen ohne Namen und leblosen, aber niedlich oder herzhaft benannten Waffen und Tests wird also verkehrt. Gewinner sind die Letzteren. Sie »beherrschen« die militärische Szene.

Schönheit und Humor gegen den Tod

Sicherlich haben zu allen Zeiten Soldaten versucht, den Schrecken ihrer Aufgabe erträglich zu machen, indem sie ihm beschönigende Namen gaben. Der schon erwähnte Bomber über Hiroshima trug z.B. den Frauennamen »Enola Gay«. Im Mittelalter hieß eine ziemlich tödliche Eisenkugel mit Eisenzacken ringsherum, an einer langen Kette und einem Prügel befestigt, »Morgenstern« – wer den sieht, sieht den Abendstern nicht mehr, so hieß es.

Entscheidend ist, daß Namen es den beteiligten Wissenschaftlern und Militärs erleichtern, an Vernichtungspotential und -strategien weiterzuarbeiten, mit ihm zu leben und gegebenenfalls eigene Opfer zu bringen, ohne an die menschlichen Folgen ihres Tuns zu denken. Und auch den (interessierten) potentiellen Opfern bleibt der Schrecken in so süßen Sprachformen annehmbar. Letzteres resultiert freilich mehr aus der »Entmenschlichung« der Opfer als aus der »Vermenschlichung« der Waffen. Zur Anteilnahme brauchen wir eben Namen. Hört man abends im Fernsehen, daß etwa beim Test »Midas Myth« (Nevada 1984) 12 Arbeiter schwer verletzt wurden (einer davon starb) oder daß in Nevada allein in den Jahren von 1951 bis 1958 etwa 200.000 Soldaten und die umwohnende Zivilbevölkerung gesundheitlich belastet wurden, so ordnet man das zwar sofort als »Unglück« ein, die Zahl bleibt aber abstrakt, und besonders bei den »Medienunglück-Versierten« will sich nicht so recht Mitleiden entwickeln.

Erfährt man jedoch, daß es John Wayne war, der infolge ausgiebiger Dreharbeiten in atomverseuchtem Nevadasand an Leukämie gestorben sein soll, oder daß es der Lehrer Billiet Edmond und seine Kinder waren, die gerade ihr Frühstück vorbereiteten, als die Katastrophe des Tests »Bravo« über sie hereinbrach, so kann man sich identifizieren, leidet mit – und empört sich.

Die Planung eines Atomkriegs erfordert Abstraktion

Eben dieses Mitleiden, die Empörung, das Bewußtwerden schrecklichen Tuns darf in der militärisch-strategischen Sprache keinen Platz finden. Rationelles Denken zur Planung eines Atomkriegs oder einer »Kriegsführungsabschreckung« erfordert Abstraktion.

Die Sprache der amerikanischen Verteidigungsstrategen z.B. hat, wie Carol Cohn anschaulich berichtete, viele nur der eingeweihten Elite verständliche Abkürzungen, wie z.B. MAD (Mutual Assured Destruction – gegenseitig gesicherte Zerstörung). »MAD« spricht sich gut, und bei niemand werden Assoziationen der folgenden Art geweckt: Ich sah “auf der Straße eine Gestalt auf mich zustolpern. Sie war nackt, schmutzig und voller Blut. Ihr Körper war stark geschwollen. Fetzen hingen an ihr herunter. (…) Eine dunkle Flüssigkeit tropfte von den Fetzen herab. Die Fetzen waren Haut, die schwarzen Tropfen waren Blut. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, ein Soldat oder eine Zivilperson.” (Shuntaro Hida, Der Tag an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes, dt. Ausg. Bremen 1989, S. 76)

Die Testnamen sehen auf spezielle Weise von den Menschenopfern ab. Kürzel finden sich hier – so weit zu überblicken ist – nicht; vielleicht deshalb, weil diese Namen auch vielen »Nichtstrategen« dienen müssen.

Bomben und Raketchen im Haushalt

Dr H-Bombentest »Mike« (1952) wurde intern scherzhaft »Kühlschrank« genannt, wegen der bis zur Explosion erforderlichen niedrigen Temperaturen. 1955 wurde in Nevada die Testserie »Teapot« durchgeführt, mit wahrscheinlich wenig gemütlichen 14 Sprengungen. Am 31.10.52 wurde auf dem Pazifikatoll Enewetok der Test »Greenhouse« durchgeführt. »Greenhouse« bedeutet eigentlich Glashaus für Pflanzen. Schon im 2. Weltkrieg wurde der Name von der englischen Luftwaffe für das Glas des Cockpits am Flugzeug verwendet, welches hier nicht Pflanzen, sondern Piloten schützt – schon damals ein humorvoller, etwas liebevoller Name. Seriöser klingt »Nadelstreifen« (25.4.66 in Nevada), der 350.000 Curie Radioaktivität freisetzte. Noch im Ostkaukasus und in Nebraska wurde radioaktives Jod in Milch und menschlichen Schilddrüsen gefunden.

Humorvolle Vernichtung

Der Name des schon erwähnten »Kätzchen«-Tests setzt diese niedlichen Tierchen und ihre kleinen Krallen in Kontrast zur ungeheuren Zerstörungskraft der Atomwaffe – das ist wahrhaft schwarzer englischer Humor! Die Diskrepanz bringt Lachen oder zumindest Schmunzeln hervor – ein probates Mittel gegen Angst und Schrecken! (Ähnlich wirkt z.B. ein interner Name für das Attentatskommando des CIA: »Kommittee zur Veränderung der Gesundheit«!) Lachen, aber auch warme Mutter- bzw. Vatergefühle beschert »Baby«. So hießen gleich mehrere Bomben, darunter die H-Bombe »Mike«, die »Teller's Baby« war. Der winzige Säugling hatte 10,4 Megatonnen und zischte einen Pilz von etwa 40 km in die Luft!

Schlicht und einfach »shots« heißen die Testexplosionen, ein vieltausendmal verwendeter Ausdruck.

Euphemistische Phantasie blüht hier neben Galgenhumor.

Naturhafte Waffen

»Adler« (12.12.63 in Nevada), »Mächtige Eiche« (10.4.86 in Nevada), »Hurricane« (brit., 3.10.52, Monte-Bello-Inseln), »Giftbeere« (18.12.70, Nevada, 10 Kt) – all dies sind Codenamen für Testexplosionen, wobei »Mächtige Eiche« der Wolkenform nach und »Giftbeere« der Wirkung nach wenigstens minimal angemessene Namen sind. (»Giftbeere« entließ eine Wolke von 3 Millionen Curie; bei dem unterirdischen Test war ein Loch im Wüstenboden entstanden.)

Des weiteren begegnet man einem ganzen Zoo: »Zebra« (15.5.48), »Hund« (8.4.51), »Ratten«, »Füchsinnen« – »vixens« (kleinere brit. Tests in Südaustr.), wobei »vixens« auch von Männern gefürchtete Frauen, Xanthippen, bedeuten kann. (Sonst tragen Waffen anscheinend selten Frauennamen – Waffen und ihre »Herren« sind wohl ausschließlich männlich, was Carol Cohns Übrlegungen zu einem unterschwelligen sexuellen Potenzwettbewerb der Strategen unterstützen könnte.)

Bäuerlich-friedliche Tests

Das »Pflugschar«-Programm mit 49 Explosionen (insg. von 1958 bis 1970), die unter anderem der »Kraterforschung« dienen sollten, galt angeblich der zivilen Nutzung atomarer Sprengkraft – etwa für Flußberichtigungen, Häfen, Kanäle – ein neuer Panamakanal war 1961 geplant. Edward Teller wollte mit Kraterexplosionen in Alaska seine Utopie einer nach Wunsch formbaren Geographie erproben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als ein Teststopp nicht mehr unwahrscheinlich erschien. Die »friedlichen« Tests sollten jedoch nach Vorstellung der amerikanischen Wissenschaftler davon ausgenommen werden. Sind friedliche Tests unschädlich und werden sie in jedem Fall nur zivil genutzt? Das ist wohl kaum anzunehmen! Der beschönigende Name und die dahinterstehende gedankliche Konzeption wirkten hier durchaus gefährlich irreführend. Teller schlug den Verantwortlichen in Alaska eine zuvor von seinen Wissenschaftlern bestimmte Stelle an der Nord-West-Küste Alaskas vor, Cape Thompson, wo er mit Hilfe von 6 Atomsprengsätzen einen künstlichen Hafen formen wollte. Die anwesenden Alaskaner zeigten sich zunächst angetan von der »Idee« (die sich später als versuchtes Diktat herausstellen sollte), nur der Ort paßte ihnen nicht. Das Projekt wurde später still und unauffällig eingestellt, als sich der Widerstand der in der Nähe wohnenden Eskimos und Anderer als zu stark erwies. Tellers Idee der »Geographie-Architektur« setzte sich insgesamt nicht durch, anders als ähnliche Pläne in der UdSSR, wo in der Tat z.B. die Umleitung des Kalonga-Flusses mithilfe der Atomkraft geschah. (s. Bulletin of the Atomic Scientists, Dez. 89, S.28 ff.)

Einige wenige Namen verraten etwas über die »Waffennatur«

Nur wenige Namen sind halbwegs angemessen für Atomwaffen und deren Tests: »hurricane« z.B. – man denke an den Sturm, etwa nach der »Bravo«-Explosion auf Bikini; »red hot« (5.3.66 in Nevada) paßt zu der überwältigenden Hitze und der glühenden Gaskugel, aus der der »Pilz« austritt. Einer der größten angekündigten unterirdischen Tests hieß »Boxcar« (April 68 in Nevada, 1,2 Mt=1,2 Mill. Tonnen TNT). Eigentlich bedeutet »boxcar« in Amerika »geschlossener Güterwagen«; denselben Namen trug ein Bomber im 2. Weltkrieg. Passender aber scheint eine dritte Version: von den hohen Zahlen auf den Güterwagen leitete man die Bedeutung »Glücksspiel mit viel Geldeinsatz und hohem Risiko« ab. Und genau das stellen die Atomtests mit ihren vielen Unfällen dar!

Die Unfälle selbst – wen wundert's – tragen wieder sehr romantische beschönigende Namen: »zerbrochener Pfeil« läßt an Indianerromane denken, »verbogener Speer« und »stumpfes Schwert« an mittelalterliche Artusabenteuer. Uneingeweihte kämen nicht darauf, daß es sich hier um Unfälle wie z.B. den Brand oder sogar die Explosion einer Atomwaffe handelt. Diese altertümlichen Namen passen übrigens erstaunlich gut – nur sprachlich ? – zur Form des alten und heutigen Freund-Feind-Denkens.

Der Sinn von Sprachanalysen

Gewöhnlich achtet man bei militärischen Studien gleich welcher Art keinesfalls auf die Bedeutung von Namen. Bezeichnungen der Waffen, besonders auffällige, dienen der besseren Erinnerung und ermöglichen einen von schädlichen Emotionen ungetrübten Diskurs. So verbleiben auch die Friedensforscher im sprachlichen System der Kriegsplaner.

Zu Anfang dieses Kapitels war von einem eingeschränkten, nur militärisch-strategischen Rationalitätsbegriff die Rede, von einer Logik also, die nur innerhalb eines bestimmten Systems gilt: die Logik des Sieg-Denkens in heutiger Variante, die Rationalität der Abschreckung.

Sprachanalyse bietet nun eine Chance, aus diesem Denksystem auszusteigen, es von außen zu betrachten.

Carol Cohn schließt ihren Artikel über Atomsprache mit den Forderungen nach Sprachanalyse zur Demontage des technostrategischen Diskurses und nach alternativen Vorstellungen von Rationalität. Ihrer ersten Forderung versuchten wir für den Bereich »Atomtests und Sprache« nachzukommen. Eine alternative Rationalität zu entwickeln ist natürlich ungleich schwieriger als die »Sprachdemontage« ex negativo. Sie soll aber dennoch angedeutet werden.

Skizze einer alternativen Rationalität

Die Kritik der Sprachverwendung allein hat wohl wenig direkte Folgen. Ob »Kätzchen« oder »Test einer Vernichtungswaffe«, ob »Neutronenbombe«, »Anti-Personal-Bombe«, »Saubere Bombe« oder »Massenvernichtungsmittel« – Bedrohung und Wirkung bleiben ebenso wie der Preis, der schon im Frieden gezahlt wird.

Betrachten wir aber noch einmal die »Personal-Bombe«. »Personal« ist gesichtslos gleichmachend. Dichter zeigen die Gleichmacherei im Krieg noch besser als Strategen: “Soldaten sind sich alle gleich, ob lebendig oder als Leich'!” (Refrain des bekannten Liedes von Wolf Biermann). Indem das Wort »Personal-Bombe« isoliert betrachtet wird, zeigt sich der Schrecken mit seinem wahren Namen: Tod – Vernichtung – Krankheit. Mit Carol Cohns Worten wechselt man so die Perspektive vom Täter zum Opfer. (Auch Täter sind im Atomzeitalter Opfer, nur verrät die Sprache ihnen das nicht; für beides s. Carol Cohn, Teil II, S. 18).

Erst jetzt kann man in eine andere Rationalität »einsteigen«: Massenvernichtungswaffen verhindern per se, schon in ihrer Planung, was sie zu schützen vorgeben: die besonders in den USA so gefeierte freiheitliche Individualität des Menschen. Nach der neuen Logik eine Absurdität.

Tests haben aber durchaus eigene »absurde Qualitäten«:

Am 19. Mai 1953 wurde in Nevada »Harry« oberirdisch gezündet (32 Kt. »Harry« schickte eine riesige radioaktive Wolke über Farmen und Kleinstädte in Nevada, Utah und Arizona. Nach John May (s. 118 f.) informierte die Atomic Energy Commission die Anwohner bewußt nicht. “Als die Tests in Nevada 1951 begannen, beschwichtigte die Kommission die amerikanische Öffentlichkeit mit der Behauptung, es bestehe kein Grund zur Besorgnis, da die im Abwind liegenden Gebiete praktisch nicht bewohnt seien.” Kommentar eines Journalisten der »San Francisco Chronicle«: “Dies schafft eine interessante neue Klasse von Bürgern: »praktische Nichtbewohner«. Ihre Stimmen fallen bei Wahlen nicht ins Gewicht.” (s. May. S.118)

Auch für die Urangesellschaft Canada, 100%ige Tochter der (bundesdeutschen) Urangesellschaft Frankfurt, gibt es diese Spezies: die Inuit-Eskimos, die in Nord-West-Kanada auf dem geplanten Uran-Abbaugelände wohnen, sind in der Planung kaum vorhanden (s. FR, 5.1.90). Atomtests sind angeblich für eine glaubhafte Abschreckung des Feindes notwendig. Abschreckung garantiert das Bestehen des freien Westens, die bisherige Lebensform. Aus der Sicht der Opfer heißt das hier: Atomtests sind auch zur Sicherung des freien Farmerdaseins da. Atomtests sind aber gleichzeitig schon im Frieden gegen ihre Gesundheit (s. folgendes Kap.), und gerade das für die USA typische freie Siedlerleben in kleinen Verbänden brachte (und bringt) ihnen Verhängnis!

Man sieht, Namen haben nicht nur unterhaltende Funktion.

Exkurs: Atomtest,Gesundheit, Umwelt, Ethnien

Der Kurs einiger Atommächte und Militärbündnisse, ihre Sicherheit mit auf dem modernsten Stand gehaltenen nuklearen Massenvernichtungsmitteln zu gewährleisten, hat zu Belastungen für die Umwelt und die Gesundheit zahlreicher Menschen geführt, die weit über das Maß hinzunehmender »Nebenwirkungen« hinausgehen. Allein die hunderte von oberirdischen Tests, die die drei ersten Atommächte (USA, UdSSR, Großbritannien) bis zur Paraphierung des PTBT 1963 durchführten, haben die weltweite Radioaktivität über lange Zeit steigen lassen. Die Messungen der Betastrahlen durch die Münchner Universität ergaben 1963 einen Spitzenwert von etwa 52.000 Becquerel (Bq) pro Quadratmeter.

Wie gefährlich ist radioaktive Strahlung?

Die genaue Schädlichkeit von Radioaktivität war und ist umstritten. Nur über die akute Strahlenkrankheit, wie sie z.B. bei den Einwohnern von Hiroshima und Nagasaki eintrat, aber auch bei den Aborigines Australiens infolge der britischen Atomtests und bei nicht wenigen anderen Testteilnehmern, herrscht relative Einigkeit: Vom Körper absorbierte Strahlendosen ab etwa 3-5 Sievert (SV) aufwärts führen innerhalb von Tagen bis Monaten zum Tod. Die genaue Gefahr niedriger Strahlendosen, z.B. durch geringeren radioaktiven Fallout verursacht, ist aber unklar. Das liegt oft an der Länge des zu prüfenden Untersuchungszeitraums, an der Schwierigkeit, einzelne Untersuchungsergebnisse zu vergleichen und vielleicht auch, vorsichtig formuliert, an dem fehlenden Interesse finanzstarker Wissenschaft.

Besonders problematisch sind Aussagen über die Niedrigstradioaktivität, wie sie z.B. auch die BRD infolge der Atomtests und Reaktorunfälle betrifft. Generell weisen heute viele Wissenschaftler darauf hun, daß gerade die Gefahren der Niedrigstrahlung bisher weit unterschätzt wurden. Der amerikanische Radiobiologe Ernest Sternglass erläutert das anhand des Vergleichs mit Röntgenstrahlung: “Wenn eine Brustdurchleuchtung vorgenommen worden ist und die Röntgenmaschine abgeschaltet ist, dann befindet sich keine Radioaktivität mehr in dem bestrahlten Körper. Aber wenn Sie ein Glas Milch trinken, das Strontium 90 enthält, werden seine Atome Sie für den Rest ihres Lebens begleiten, indem sie in ihren Knochen und innerhalb wichtiger Organe Radioaktivität in einer Intensität abgeben, wie es kein Röntgenapparat je könnte.” (FR, 7.7.86, S. 14) So kann erklärt werden, warum die Bomben von Hiroshima und Nagasaki nicht nur in Japan ein Ansteigen der Krebsrate bewirkten, sondern auch in den USA! Die Wolken der Bomben zogen über Hawaii dorthin. (ebd.)

Der Experte für Radiologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung in München, Herwig Paretzke, warnte, daß statt der bisher angenommenen 125 zusätzlichen Krebsfälle pro Million Bundesbürger 300-500 Krebsfälle mehr anzunehmen seien, wenn die Strahlendosis über die gesamte Lebenszeit eines Menschen um 1 Rem (=1000 Millirem) ansteige. (s. FR, 8.1.88, S. 4; s.a. SZ, 8.1.88, S. 1)

Eine direkte Umrechnung von Bq in Gray und Sv ist nur bei exakter Kenntnis der einzelnen Strahlungsarten, die den jeweiligen Menschen oder Stoff getroffen haben, möglich. Die genaue Gefahr durch Radioaktivität isat schon dadurch schwerer vorstellbar. Die Richtwerte können aber helfen, Einzelangaben anschaulich zu machen.

Die atomare Verseuchung durch oberirdische Tests

Vor allem in den fünfziger Jahren wurden zahlreiche Erkrankungen und nicht wenige Todesfälle durch lokale radioaktive Niederschläge von atmosphärischen Kernwaffentests verursacht. Eines der traurigsten und bekanntesten Beispiele hierfür ist der Atomtest »Bravo«, der am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll (Marshall-Inseln) gezündet wurde. Diese Wasserstoffbombe erreichte mit ihren 15 Mt mehr als das Tausendfache der Sprengkraft,die Hiroshima zerstörte. Da die Pilzwolke von »Bravo« höher stieg als man erwartet hatte, wurde sie durch hochgelegene Luftströmungen nicht nach Westen, sondern nach Osten getrieben. Der »weiße Schnee« radioaktiven Fallouts ging auf die bewohnten Nachbarinseln von Bikini, Rongelap und Utirik nieder (160 und 500 km entfernt). Ein Gebiet von 530 km Länge und 100 km Breite wurde verstrahlt. Die nicht gewarnten Bewohner und das dortige amerikanische Militärpersonal wurden erst 56 Stunden nach der Detonation evakuiert. Zu dieser Zeit zeigten sich schon erste Strahlensymptome bei den Menschen: Übelkeit, Verbrennungen der Haut, Durchfall, Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Verfärbungen der Haut und allgemeine Erschöpfung. In der Folge verloren die Menschen ihre Fingernägel, die Haare fielen ihnen aus etc. Die genaue Strahlendosis, die sie erhalten haben ist unbekannt; sie könnte bei den Bewohnern Utiriks 11 Rem betragen, bei denen Rongelaps 190 Rem pro Person. (s. John May, Das Greenpeace-Handbuch des Atomzeitalters, München 1989, S. 138)

Bereits nach einem halben bzw. drei Jahren ließ man die Einwohner in ihre Heimat zurückgehen, obwohl die Atolle trotz einer notdürftigen Säuberungsaktion verseucht blieben, wie das US-Energieministerium aber erst nach 20 Jahren aufgrund erneuter radiologischer Untersuchungen auf den Inseln zugab. (May S. 137 f. und Streich S. 67 ff.)

Die Einwohner der genannten Inseln erlitten infolge der Atomversuche der USA nicht nur zahlreiche Krankheiten, es gab auch eine hohe Kindersterblichkeit, groteske Mißbildungen bei Neugeborenen, und nicht zuletzt die soziale Entwurzelung durch das unfreiwillige atomare Exil.

Schon seit 1951 führten die USA ihre Kernwafffenversuche größtenteils in der Wüste Nevadas durch. “Die (auf dem Nevada Test Site) von 1951 bis 1962 gezündeten oberirdischen Bomben mit einer Größenordnung von insgesamt 500 Kilotonnen haben dazu geführt, daß allein im benachbarten Bundesstaat Utah schätzungsweise 28 Kilogramm unterschiedliche radioaktive Stoffe als Niederschlag heruntergekommen sind. (…) Bei mindestens 87 der 121 Nuklearwaffen zwischen 1951 und 1958 gelangte Radioaktivität außerhalb des Testgeländes.” (Bernd W. Kubbig, Die unsichtbare Radioaktivität hat lange Schatten geworfen, FR vom 17.1.90)

Infolge der Verschleierungspolitik der zuständigen Atomic Energy Commission sind nur unzureichende Untersuchungen über die regionale Strahlenbelastung durchgeführt worden. So wurde vor allem die Verstrahlung der Luft gemessen, die gemeinhin geringere Werte aufweist als die des Bodens. Auch sollen wiederholt Meßwerte der Öffentlichkeit vorenthalten worden sein. 1980 wurde eine umfassende und unabhängige Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen des radioaktiven Fallouts auf die Bevölkerung rund um das Nevada Test Site durchgeführt. Man konzentrierte sich auf die Mormonen West-Utahs, ein Gebiet, das 1951 bis 1962 besonders betroffen war. Die Sekte der Mormonen war generell wegen ihrer enthaltsamen Lebensweise durch eine besonders niedrige Krebsrate ausgezeichnet. Der Vergleich einer Population, die einer erhöhten Strahlendosis ausgesetzt war mit einer wenig betroffenen ergab, daß 61% aller Krebsfälle in der ersten Gruppe vorkamen. (Carl F. Johnson, Chernobyl and Nuclear Weapons Tests: Estimating the Potential of Fallout to Induce Effects on Health; Manuskript o.O., 1988, S.7)

Besonders in den Städten Cedar City und St. George kam es neben hohen Krebsraten zu Mißbildungen bei Neugeborenen. Mit Entschädigungsforderungen an die US-Regierung hatten die Bewohner jedoch ebensowenig Erfolg, wie die US-Veteranen der US-Army, die bei atmosphärischen Tests zusehen mussten. Sie waren nur mit Stahlhelm, Plane und gelegentlich einem Filmdosimeter ausgerüstet, der sich schwärzt, wenn ihn Röntgenstrahlen treffen. (s. taz, 13.8.87, S. 7 und Zeitmagazin, Die ZEIT, 4.8.89, S. 10 ff.)

VI. Atomteststopp und Verifikation

Seit über einen Atomteststopp verhandelt und diskutiert wird, stehen Verifikationsfragen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Genau zu der Zeit, als sich die Atommächte anschickten, über ein umfassendes Versuchsverbot zu verhandeln, wurden mit der amerikanischen Fähigkeit, unterirdische Tests durchzuführen, zusätzliche Kontrollprobleme aufgeworfen. Ende der fünfziger Jahre war es noch nicht möglich, unterirdische Kernexplosionen von Erdbeben zu unterscheiden. Schließlich wurden beim Abschluß des »Partiellen Teststopp-Vertrages« von 1963 die unterirdischen Tests ausgeklammert. Die amerikanische Forderung nach Vor-Ort-Inspektionen (On-Site-Inspection, OSI) als ergänzende Verifikationsmaßnahme war damals sinnvoll, wurde allerdings von den mißtrauischen Sowjets beständig als »Versuch der Spionage« zurückgewiesen. Mit zunehmender Verbesserung seismischer Meßmethoden wurde das amerikanische Insistieren auf »OSI's« jedoch immer sinnloser. 1971 kam ein Bericht der Pentagon-Institution »Advanced Research Projects Agency« (ARPA) an den Kongreß nach jahrelangen Untersuchungen zu dem Schluß, daß Vor-Ort-Inspektionen für die Verifikation eines Teststopp-Abkommens nicht erforderlich seien (Siehe Jack Evernden, Lies that stopped a test ban, Bulletin of the Atomic Scientists, Oct. 1988). Es scheint, als ob die USA in der Nach-Kennedy-Ära die Forderungen nach einem so weitgehenden Kontrollregime für die Fortsetzung der Tests instrumentalisieren wollten.

Bereits 1969 waren sich die Seismologen einer Fachkonferenz in Woods Hole, Massachusetts, einig, daß ein Teststopp-Abkommen mit einer extrem niedrigen Schwelle (Very Low Threshold Test Ban Treaty, VLTTBT) von 1-10 Kt (Nevada) bzw. ca. 1 Kt (Semipalatinsk) mit seismischen Meßmethoden verifizierbar sei (Evernden, a.a.O., S. 22). Selbst wenn die Atommächte erst damals – sechs Jahre nach dem Abschluß des Partiellen Teststoppabkommens – einen derartigen Vertrag ausgehandelt hätten, so wären der Menschheit zahlreiche Neuentwicklungen von Nuklearwaffen erspart geblieben. Denn die Schwelle eines VLTTBT liegt deutlich unter der Sprengkraft der meisten heutigen Arsenalwaffen.

Fortschritte der Seismologie und Blockaden unter Reagan

In den letzten zwanzig Jahren hat die Seismologie viele Verbesserungen bei ihren Kontroll- und Meßmethoden erreicht. Mittlerweile ist sich die scientific community weltweit in der überwiegenden Mehrzahl einig, daß ein umfassender Atomteststopp lückenlos und vollständig verifizierbar ist. Nur einige entscheidende Repräsentanten der Arms Control-Diplomatie sprechen noch von der Nicht-Kontrollierbarkeit eines CTB. Mit dieser Behauptung betreiben sie eine »Verifikationspolitik«, die scheinbar beliebig die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren kann. Besonders die Vereinigten Staaten haben sich in den letzten Jahren in dieser Politik hervorgetan. Nachdem Washington durch das sowjetische Testmoratorium von August 1985 bis Februar 1987 in die Defensive gedrängt worden war, gelang es der Reagan-Administration die Aufmerksamkeit auf die noch nicht ratifizierten Schwellenverträge aus den Jahren 1974 bzw. 1976 zu lenken. In diesem Zusammenhang beschuldigte Reagan die Sowjetunion, die 150 Kt-Schwelle bei einigen ihrer Tests überschritten zu haben. Im Jahre 1987 konnte ein renommierter amerikanischer Geophysiker, Charles Archambeau, jedoch nachweisen, daß die regierungsamtlichen Schätzungen der sowjetischen Ladungsstärken unrealistisch hoch lagen. Im Testgelände von Semipalatinsk liegt ein viel härterer Untergrund aus kaltem Granitgestein vor, der bei Kerndetonationen unverhältnismäßig stärkere Wellen erzeugt, als vergleichbare Sprengsätze in den USA. Der geologische Untergrund der Nevada Test Site besteht aus einem porösen Gestein, das vulkanisch aktiv und relativ heiß ist; dadurch werden Erderschütterungen besser absorbiert. Mittlerweile hatte auch die US-Regierung die von Archambeau ermittelten Korrekturterme für die sowjetischen Tests übernommen; damit waren die Vorwürfe hinsichtlich einer sowjetischen Verletzung der Testschwelle endgültig gegenstandslos.

Der »Partielle Teststopp-Vertrag« (Partial Test Ban Treaty) 1963

Vertrag über ein Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Partial Test Ban Treaty, PTBT) 1963

Präambel: Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, hiernach als “Die ursprünglichen Vertragspartner” bezeichnet, die es als ihr Hauptziel verkünden, schnellstmöglich ein Abkommen über eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen zu erreichen, das dem Wettrüsten ein Ende machen und den Anreiz zur Produktion und zur Erprobung aller Arten von Waffen, einschließlich von Kernwaffen, beseitigen würde und die die Einstellung aller Versuchsexplosionen nuklearer Waffen für alle Zeiten zu erreichen suchen, entschlossen, die diesbezüglichen Verhandlungen fortzusetzen , und von dem Wunsche beseelt, der Vergiftung der Umwelt des Menschen durch radioaktive Substanzen ein Ende zu setzen, haben folgendes vereinbart:

Art.I: 1. Jeder der Partner dieses Vertrages verpflichtet sich, keine Kernexplosion an irgendeinem unter seiner Jurisdiktion oder Kontrolle stehenden Platz durchzuführen, sie zu verbieten und zu verhindern: a) In der Atmosphäre , auch jenseits ihrer Grenze – einschließlich des Weltraums – oder unter Wasser – einschließlich der territorialen Gewässer oder auf hoher See – oder

b) in irgendwelchen anderen Bereichen, falls eine solche Explosion bewirkt, daß radioaktive Rückstände außerhalb der territorialen Grenzen des Staates auftreten, unter dessen Jurisdiktion oder Kontrolle eine derartige Explosion ausgeführt wird. In diesem Zusammenhang versteht es sich, daß die Bestimmungen dieses Unterabschnittes den Abschluß eines Vertrages nicht präjudizieren, der zu einem ständigen Verbot aller nuklearer Versuchsexplosionen, einschließlich aller derartigen Explosionen unter der Erde führt, dessen Abschluß – wie die Partner in der Präambel dieses Vertrages erklären – sie zu erreichen versuchen. (…)

Art. II: 1. Jeder der Partner kann Zusätze zu diesem Vertrag vorschlagen. Der Wortlaut jedes vorgeschlagenen Zusatzes soll den Depositar-Regierungen unterbreitet werden, die ihn an alle Partner dieses Vertrages weitergeben werden. Danach sollen die Depositarregierungen, sofern dies von einem Drittel oder mehr der Partner gewünscht wird, eine Konferenz zur Erörterung eines solchen Zusatzes einberufen, zu der alle Partner eingeladen werden sollen.

2. Jeder Zusatz zu diesem Vertrag muß von einer Stimmenmehrheit aller Partner dieses Vertrages, einschließlich der Stimmen aller ursprünglichen Partner, gebilligt werden. Der Zusatz soll für alle Partner mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch eine Mehrheit aller Partner, einschließlich der Ratifikationsurkunden aller ursprünglichen Partner, in Kraft treten.

Art. III: 1. Dieser Vertrag soll allen Staaten zur Unterzeichnung offen stehen.(…)

Art IV: Dieser Vertrag soll von unbegrenzter Dauer sein. (…)

Art V: (…) Gegeben in dreifacher Ausfertigung in Moskau am 25. Tage des Juli Eintausendneunhundertdreiundsechzig.

Moskau, 31. Juli 1963

Quelle: Archiv der Gegenwart

Mittlerweile sind 116 Staaten dem Vertrag beigetreten. China und Frankreich haben ihn nicht paraphiert. Beide Mächte haben noch bis 1980 bzw. 1974 oberirdisch getestet. Die sogenannten Schwellenmächte Argentinien und Pakistan paraphierten das Abkommen zwar 1963, haben es aber nicht ratifiziert.

Da die sowjetische Diplomatie auch nach Beendigung des einseitigen Testmoratoriums auf einen Umfassenden Teststopp drängte, warf die Reagan-Administration neue Verifikationsprobleme auf. Zwar verständigte sich der US-Präsident 1988 mit Generalsekretär Gorbatschow auf das »Endziel« eines CTB, favorisierte aber für die Kontrolle der zu ratifizierenden Schwellenverträge eine hydrodynamische Meßmethode mit der Bezeichnung CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiment). Die Sowjets standen zwar auf dem Standpunkt, daß seismische Meßmethoden zur Verifikation eines CTB ausreichen, willigten aber dennoch ein, die Genauigkeit von CORRTEX durch ein »Gemeinsames Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) zu testen. Im August und September 1988 wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz gezündet. Dabei wurde auch die seismische Meßmethode anhand des hydrodynamischen Verfahrens kalibriert (geeicht). Das JVE wurde als eine durchaus löbliche vertrauensbildende Maßnahme angesehen. Vom Standpunkt eines direkten und entschlossenen Zusteuerns auf einen CTB mußte es jedoch wie eine geschickte Verzögerungstaktik erscheinen. Denn CORRTEX ist allenfalls für die exakte Bestimmung von Ladungsstärken über 100 Kt geeignet. Zudem ist die Methode äußerst kostspielig. Die Auswertung des Verifikationsexperiments hat zu Beginn des Jahres 1990 1 1/2 Jahre gedauert. Die Paraphierung der Verifikationsprotokolle zu den beiden Schwellenverträgen aus den Jahren 1974 und 1976 steht zwar bevor, die amerikanische Delegation verließ jedoch den Verhandlungstisch. Die US-Administration sah (wieder einmal) Schwierigkeiten bei der Verifikation: “Es sei wichtig, eine Periode zu haben, in der beide Seiten die Umsetzung der ausgehandelten Protokolle beobachteten, um so Gelegenheit zur Überprüfung der neuen Überprüfungsmaßnahmen zu haben”, so hieß es (SZ, 26.1.1990). Damit stellt sich die jetzige amerikanische Regierung gegen eine frühere Ankündigung Präsident Reagans, direkt weiterverhandeln zu wollen.

Dieses Zaudern erscheint unverständlich, seit selbst das Office of Technology Assessment (OTA), eine Wissenschaftsinstitution des amerikanischen Kongresses, in einem Bericht 1988 festgestellt hat, daß die USA durch ein dutzend seismischer »Arrays« entlang der sowjetischen Grenze »unterirdische Tests mit Ladungsstärken unter einer Kilotonne entdecken und identifizieren kann, falls keine Täuschungsversuche begangen würden” (The Defense Monitor 1/1989, S. 3, Übersetzung d. Verf.).

Möglichkeiten der Täuschung

Über die Möglichkeit solcher »Täuschungsversuche« ist jahrzehntelang diskutiert worden. So wurde argumentiert, daß eine der Supermächte ihre Sprengköpfe in riesigen unterdischen Kavernen oder Salzstöcken zünden könne. Die Schockwellen dieser sogenannten »entkoppelten Tests« würden so stark gedämpft, daß sie nicht mehr eindeutig zu entdecken wären. Diese Befürchtungen haben sich schon seit Jahren als haltlos erwiesen. Zwei von den USA in Norwegen installierte Überwachungssysteme (NORESS und NORSAR), die über Hochfrequenz-Seismometer verfügen, können nicht nur sowjetische Explosionen mit der Sprengkraft eines Bruchteils einer Kilotonne über 2.800 km hinweg präzise registrieren, sie sind auch in der Lage, entkoppelte Tests zu verifizieren (siehe Oliver Thränert, Ein umfassendes nukleares Teststopabkommen – ein wirkungsvolles Instrument zu Begrenzung der Rüstungsdynamik?, Bonn 1986, S. 9). Der Bochumer Geophysiker Harjes hat in seiner Eigenschaft als Berater der Bundesregierung für Verifikationsfragen bei der Abrüstungskonferenz in Genf 1985 zusammen mit drei anderen Experten eine Studie vorgelegt, die allen verbleibenden Schwierigkeiten bei der Detektion, Ortung und Identifikation von unterirdischen Atomtests Rechnung trägt. Das von Harjes vorgeschlagene weltweite seismische Kontrollnetz ist geeignet, alle Testexplosionen oberhalb 1 kt Sprengkraft zu registrieren (siehe unten)

CORRTEX

Auf ihrem Moskauer Gipfeltreffen paraphierten US-Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow am 31. Mai 1988 eine Vereinbarung über die Durchführung eines Gemeinsamen Verifizierungsexperiments (Joint Verification Experiment, JVE). Am 17. August 1988 und am 14. September 1988 wurde auf den Testgeländen von Nevada und Semipalatinsk je ein atomarer Sprengsatz unter Beteiligung amerikanischer und sowjetischer Wissenschaftler gezündet. Der Sinn dieses Unternehmens lag in der Überprüfung einer hydrodynamischen Meßmethode, welche die USA seit Jahren für die Verifikation der Atomtest-Schwellenverträge favorisieren: CORRTEX (Continuous Reflectometry for Radius versus Time Experiments). Diese Meßmethode wurde vom Los Alamos National Laboratory von 1976 bis 1982 entwickelt und mehr als zweihundert Mal getestet.

Technische Grundelemente eines globalen seismischen Überwachungssystems

  • “Es wird aus fünfzig bis hundert möglichst gleichmäßig über die Erde verteilten Beobachtungsstationen bestehen. Diese müssen an günstigen Orten, das heißt abseits von Industrie und Besiedlung oder in Bohrlöchern, installiert werden, um die Bodenunruhe auf einem niedrigen Pegel zu halten. Weiterhin sollte die Instrumentierung einheitlich und auf dem höchsten Stand der Technik sein, so daß alle seismischen Signale über einen weiten Amplituden- und Frequenzbereich unverzerrt aufgezeichnet werden können.
  • Um jederzeit Zugriff zu den Aufzeichnungen dieser Instrumente zu haben, müssen die Stationen durch ein Kommunikationssystem miteinander verbunden sein. Dazu stehen heute sowohl Satellitensysteme wie INTELSAT als auch Datenleitungsnetze wie DATEX zur Verfügung.
  • Datenzentren müssen errichtet werden, die die Stationsdetektionen assoziieren, das heißt die zugehörigen Ereignisse lokalisieren. Die Hauptaufgabe dieser Datenzentren besteht in der Erstellung von Ereignislisten und der Archivierung der Seismogramme. Die Zentren liefern diese Daten an die Vertragsstaaten.”

Das seismische Überwachungsnetz muß den geologischen Bedingungen angepaßt sein; eine Stationsverdichtung ist in Gebieten vorzunehmen, in denen unterirdische Kavernen möglich sind. Durch diese Maßnahmen können sogenannte »entkoppelte« Tests – etwa in dämpfenden unterirdischen Salzstöcken – verhindert werden. Ferner kann von der geologischen Umgebung bestimmter Tests besser auf die Ladungsstärken zurückgeschlossen werden.

Nach: Hans-Peter Harjes, Die Hindernisse sind politischer Natur. Zur seismischen Überwachung eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen, in: Altmann/Gonsior (Hgg.), Welt ohne Angst, 1987

Erweiterungskonferenz zum CTBT (Amendment)

Der Partielle Teststopp-Vertrag verpflichtet die drei Depositarstaaten (USA, UdSSR, GB) ebenso wie die anderen beigetretenen Staaten, ein Umfassendes Teststopp-Abkommen auszuhandeln. Auch die bilateralen Schwellenverträge von 1974 und 1976 verpflichten sich auf das Ziel einer vollständigen Einstellung aller Atomversuche. In den achtziger Jahren wurde es nicht nur von der weltweiten Friedensbewegung, sondern auch von etablierten Politikern und Staatsmännern angemahnt.

1984 traten sechs Staats- und Regierungschefs aus vier Kontinenten mit einer gemeinsamen Erklärung an die Weltöffentlichkeit. Raul Alfonsin (Argentinien), Indira Gandhi (Indien), Miguel de la Madrid (Mexiko), Julius K. Nyerere (Kenia), Olof Palme (Schweden) und Andreas Papandreou (Griechenland) appellierten an die Kernwaffenstaaten, alle Atomwaffentests sowie die Produktion und Stationierung von Atomwaffen und ihren Trägersystemen sofort einzustellen und ihre nuklearen Streitkräfte wesentlich zu reduzieren. Dieser Appell fand weltweit ein großes Echo: die Four Continent Peace Initiative (heute Six Nations Peace Initiative) war geboren. Bald fand sich die internationale Parlamentariergruppe (Parliamentarians for Global Action, PGA) bereit, die Six Nations Peace Initiative international zu koordinieren. PGA arbeitete ein Konzept zur Erweiterung des PTBT zu einem CTBT aus. Dieses ist bereits im Vertragswerk des PTBT als Möglichkeit angelegt (siehe Kasten »Der Partielle Teststopp-Vertrag«, Art. II). Im Dezember 1985 forderte Mexiko gemeinsam mit anderen blockfreien Staaten in einer UN-Resolution, mit Hilfe einer Konferenz der 116 Vertragsstaaten den PTBT zu einem Vertrag über ein vollständiges Atomtestverbot umzuwandeln. Um eine solche Konferenz einzuberufen, müssen ein Drittel der PTBT-Vertragsstaaten dies förmlich von den Depositarstaaten fordern. Im März 1989 hat der 39. Staat eine solche Forderung in London, Washington und Moskau hinterlegt. Die drei Regierungen sind nun verpflichtet, eine Amendment-Konferenz einzuberufen. Sie könnte noch in der ersten Jahreshälfte 1990 stattfinden. Wenn sich eine Mehrheit der Konferenzteilnehmer für eine Umwandlung des PTBT in einen Umfassenden Teststopp-Vertrag aussprechen sollte, so müßte dem stattgegeben werden. Allerdings haben die drei Ursprungsstaaten des PTBT de facto ein Vetorecht, da ihr Votum gemäß Artikel 2, Absatz 2 PTBT für jeden »Zusatz« zwingend erforderlich ist.

Dennoch dürfte allein schon die Abhaltung der Erweiterungskonferenz ein Erfolg sein, auch wenn ein CTBT dadurch nicht erreicht wird. Die durch die politischen Ereignisse in (Mittel-) Europa in Beschlag genommene Öffentlichkeit würde endlich wieder auf ein altes und wesentliches Rüstungkontrollproblem aufmerksam gemacht. Die zeitliche Nähe zur ebenfalls 1990 stattfindenden Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages von Atomwaffen (Nonproliferations-Treaty, NPT) ist dabei äußerst sinnvoll. Das NPT-Regime wird nicht zuletzt dadurch unterwandert, weil die Atommächte nicht zur Einstellung ihrer Tests zu bewegen sind. Die amerikanische Delegation verließ die bilateralen Atomtestverhandlungen Anfang 1990; es ist unklar, wann die Gespräche wieder augenommen werden (SZ, 26.1.1990).

VII. CTB – eine sinnvolle Ein- Punkt-Kampagne?

Ein-Punkt-Kampagnen in der Friedenspolitik haben den Vorteil, daß aus der Vielzahl relevanter Themen und Zusammenhänge ein Sachverhalt herausgewählt und hervorgehoben wird. Die Massenmobilisierung der Friedensbewegungen Anfang der achtziger Jahre war nicht zuletzt deswegen möglich, weil man sich gegen die Stationierung einer nuklearen Waffenkategorie wandte. Diese Bestrebungen hatten ein konkretes Ziel; Reduktion von Komplexität kann politisch sehr wirksam sein.

Ein-Punkt-Kampagnen haben aber auch etwas Verzweifeltes. Sie greifen einen mehr oder weniger wichtigen Aspekt aus der breiten Palette nuklearer Rüstung heraus und vernachlässigen notwendig andere. So gerinnt politisch an sich lobenswertes Engagement zum Motto »Schlagen wir der nuklearen Hydra einen Arm ab, so wächst er an anderer Stelle wieder nach – womöglich doppelt und dreifach«.

Dennoch bleibt ein Umfassender Teststopp sinnvoll. Er verhindert zuverlässig Rüstungsdynamik bei jenen Atomwaffen dritter Generation, die nur durch Nuklearexplosionen entwickelt werden können (z.B. Röntgenlaser). Zum zweiten bedeutet die weltweite Einstellung der Tests eine Entlastung der Umwelt, da auch unterirdische Tests durch »Ausbläser« Radioaktivität freisetzen können. Eine Beendigung insbesondere der französischen Tests würde der Gefahr begegnen, daß die Hohlräume des Mururoa-Atolls so brüchig werden, daß riesige Mengen Radioaktivität austreten. Drittens würde ein globaler CTBT dem »nuklearen Rassismus« ein Ende bereiten. Die (Menschen-) Rechte der Western Shoshone und der Bewohner Französisch-Polynesiens würden endlich wieder eingesetzt.

Ein Atomteststopp würde aber nicht die »Sündenfälle« aus über vierzig Jahren Atomzeitalter ungeschehen machen. Ein gewaltiges Sprengkopfarsenal kann jederzeit reproduziert werden. Alle diese »nukes« haben – weil ehedem ausreichend getestet – eine hinreichende »stockpile reliability«. Selbst die Verbesserung der Zielgenauigkeit von nuklearen Einsatzmitteln hängt nicht oder nur zweitrangig von Atomtests ab. Eine Perfektionierung der Leitsysteme für ballistische Raketen ist hierfür viel maßgeblicher. Beide Supermächte entwickeln und installieren Satelliten-Navigationssysteme im Weltraum (USA: NAVSTAR, UdSSR: GLONAS). Ein streichholzgroßer Satellitenempfänger an den Wiedereintritts-Flugkörpern kann alle nötigen Informationen zum optimalen Zielanflug empfangen und verarbeiten. Werden diese Navigationssysteme einmal angebracht sein, so werden die ICBM's in Ost und West eine Zielgenauigkeit von unter 10 Metern erreichen. Wesentlich für diese verbesserten Fähigkeiten sind auch Raketentests (siehe Udo Schelb, Teststopp für Interkontinentalraketen, Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1989).

Auch die »earth-penetrating-weapons« bedürfen nicht notwendig der Atomtests, weil die Fähigkeit, sich tief in die Erde zu bohren, von mechanischen Vorrichtungen um den äußeren Sprengkopfmantel abhängt, nicht vom Sprengkopf selber.

Der rüstungskontrollpolitische Sinn eines Umfassenden Teststopps wird auch von der laufend verbesserten Fähigkeit geschmälert, immer mehr Sprengkopfkomponenten im Labor zu testen. Auf diesem Gebiet sind die USA führend. Zwar werden unterirdische Atomtests wohl nie völlig bei der Entwicklung neuer Waffen ersetzt werden können; ein CTBT würde dem Ziel der Präventiven Drosselung der Rüstungsdynamik jedoch erheblich besser gerecht werden, wenn er von wesentlichen flankierenden Maßnahmen begleitet würde:

  1. Navigationssatelliten-Entwicklungs-Stopp
  2. Raketenteststopp
  3. Forschungsstopp in Labors, gegenseitige Transparenz und Inspektion
  4. Produktionsstopp Plutonium/angereichertes Uran.

Radioaktivität: Maßeinheiten, Richt- und Grenzwerte

Das Strahlensyndrom äußert sich folgendermaßen: schon Strahlendosen ab 1 Sievert führen unmittelbar zu Übelkeit und Erbrechen; danach erholt sich der Körper oft; aber je nach Art und Intensität der Strahlen, persönlicher Verfassung und Erbgut kann sich das Leiden nach längerer Zeit durch Krebs, Leukämie u.a. fortsetzen.

3-5 Sv: 50% der Menschen sterben innerhalb von 2 Monaten an Schädigung des Knochenmarks (die blutbildenden Zellen vermehren sich nicht mehr).

10-50 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

100 Sv: Tod nach 1-2 Wochen

Meßeinheiten:

Vom Spaltprodukt ausgehende Radioaktivität:

1 Becquerel (Bq)=1 Zerfall pro Sekunde

1 Curie (ci)=Zerfallseinheit von 1 Gramm Radium=37 Milliarden Bq

Bsp.: Plutonium mit einer Aktivität von 2000 Megabecquerel emittiert 2000 Millionen Aplhateilchen pro Sekunde

Vom Stoff aufgenommene Energie: 1 Gray=Energiedosis von 1 Joule pro Kilo

1 Gray=100 Rad (alte Einheit)

Die Strahlenarten sind unterschiedlich gefährlich. Je nach Strahlungsrat wird aufgrund von Gray ein Wert errechnet (die »Äquivalentdosis«), der die genaue Schädlichkeit in Sievert oder in Rem angibt: 1 Sievert (Sv)=100 Rem. Bei Gammastrahlen z.B. ist Gray=Sievert, bei Alphastrahlen, die inkorporiert besonders gefährlich sind für den Menschen, wird die in Gray errechnete Dosis mit dem Faktor 20 multipliziert, um Sievert zu erhalten.

Richtwerte und Höchstgrenzen für Radioaktivität (Auswahl) Luft: Als normal werden 3 Bq pro Kubikmeter angesehen. (Tschernobyl bewirkte zwischen 10-70 Bq)

In Rem und Gray: die empfohlene Höchstbelastung pro Stunde ist 114 Nanogray (= 0,000 000 114 Gray), das entspricht 100 Millirem pro Jahr.

Eine US-Bestimmung für Kernkraftwerksunfälle besagt, daß die Bevölkerung eine Dosis von 100 Rad bei einem Unfall erhalten darf.

Die Innenministerkonferenz gab 1988 in den »Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung technischer Anlagen« einen Wert von 400 Millionen Becquerel pro Quadratmeter als kritsche Grenze an. Eine Dekontamination solle aber erst ab 4000 Mill. Bq stattfinden. Arbeitern in Uranminen mutet man eine Ganzkörperdosis von 50 Millisievert pro Jahr zu, der übrigen Bevölkerung 5 Millisievert. Beschäftigte in Atomanlagen dürfen 5 Rem erhalten.

Barbara Sabel ist Germanistin;

Michael Kalman ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Starnberg.