Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

von Oliver Meier

Am 17. und 18. Oktober haben mehr als 50 ExpertInnen aus den USA, Rußland und anderen europäischen Staaten in Berlin über »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit« beraten. Das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) hatte den internationalen Workshop in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert, um den Umgang mit den nuklearen Altlasten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR aus umwelt-und sicherheitspolitischer Sicht zu diskutieren.

Die TeilnehmerInnen nahmen zunächst eine Bestandsaufnahme der ökologischen Probleme und der Lage der Atomwaffen vor. Die ReferentInnen aus Deutschland, Norwegen und den USA sowie Vitaly Shelest (Berater der russischen Duma) stellten einmütig fest, daß die sichere Verwahrung von Atommüll und Sprengköpfen nicht gewährleistet ist und immer noch dringender Handlungsbedarf besteht. Alexander Nikitin (Direktor des Center for Political and International Studies in Moskau) und Igor Sutyagin (USA and Canada Institut, Moskau) verdeutlichten anschließend, daß außerdem die Gefahr einer Wiederaufwertung von Atomwaffen droht.

Danach evaluierten die TeilnehmerInnen die vorhandenen internationalen Hilfsprogramme. Auch sechs Jahre nach dem Ende der Sowjetunion bestehen erhebliche Defizite bei der Umsetzung solcher Hilfsprogramme. Dies liegt zum einen an den politischen Strukturen in Rußland selbst, wie Ulrich Albrecht von der Freien Universität darlegte. Phil Rogers von der Central European University in Budapest untermauerte diese These indem er schilderte, daß Bürgerbewegungen nur sehr begrenzten Einfluß auf die Politik der Regierung hätten.

Zum anderen werden internationale Hilfsprogramme häufig am eigentlichen Bedarf in Rußland vorbei geplant. In den USA drohen die Mittel zudem der innenpolitischen Auseinandersetzung über den richtigen Kurs gegenüber Rußland zum Opfer zu fallen, wie Jo Husbands von der amerikanischen Akademie der Wissenschaften beklagte. Annette Schaper von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bewertete anschließend die von ihrem Umfang her wesentlich bescheideneren Hilfsprogramme der Europäischen Union.

Defizite wurden auch in der nuklearen Abrüstungspolitik konstatiert. Botschafter a.D. Thomas Graham mahnte die Nuklearwaffenstaaten, ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung ernster zu nehmen und forderte, endgültig auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten. Diskutiert wurde dann unter anderem, wie die Gefahr eines versehentlichen Abschusses von Atomwaffen oder eines Unfalls verringert werden kann. In der Abschlußdiskussion wurden Alternativen zu den bestehenden Politikansätzen erörtert. Dabei wurde klar, daß es dringend einer engeren Verknüpfung von sicherheits- und umweltpolitischen Fragestellungen bei der Konzipierung von Hilfsprogrammen bedarf.

Einen stimmungsgerechten Ausklang der Tagung erlebten die Teilnehmer bei einem gemeinsamen Ausflug zu einem ehemaligen sowjetischen Atomwaffenlager in der Nähe von Berlin.

Ein Konferenzreader mit den Beiträgen der ReferentInnen kann gegen einen Unkostenbeitrag bestellt werden über das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS), Rykestr. 13, 10405 Berlin, Tel.: (030) 441 0220, FAX (020) 441 0221, e-mail: meier@zedat.fu-berlin.de

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) und Lehrbeauftragter am Fachbereich Politische Wissenschaften der FU Berlin.

Offener Himmel über Bosnien

Offener Himmel über Bosnien

Politische Perspektiven und technische Optionen

von Hartwig Spitzer

Die Idee des offenen Himmels ist einfach und zukunftsweisend zugleich. Jedes beteiligte Land öffnet seinen gesamten Luftraum für Bildüberflüge der anderen Seite und zeigt damit, daß es nichts zu verbergen hat. Die Flüge werden kooperativ durchgeführt. Kopien der aufgenommenen Luftbilder stehen allen beteiligten Staaten zur Verfügung. All das trägt dazu bei, daß Vertrauen durch Offenheit und Transparenz auf Regierungsebene gestärkt wird – im Gegensatz zur Praxis beim Umgang mit den Bildern militärischer Aufklärungssatelliten.

Ungarn und Rumänien haben sich bereits 1991 auf ein gegenseitiges Open-Skies-Abkommen verständigt. Seit 1992 werden jährlich je drei bis vier gegenseitige Überflüge von militärischen und anderen Einrichtungen durchgeführt. Die Militärs beider Länder schauen sich also auch nach der Wende gegenseitig in die Karten: Die Flüge haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen beider Länder niemals bis auf die militärische Ebene eskalierten, sondern eher abgebaut wurden.

Parallel dazu ist von 1990 bis 1992 ein multilateraler Open-Skies-Vertrag ausgehandelt worden. Dem Vertrag sind inzwischen 27 Staaten beigetreten, darunter alle 16 NATO-Staaten (nach dem Stand von 1992), sowie Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Georgien und Kirgistan. Bemerkenswert ist dabei, daß praktisch das ganze Gebiet der Teilnehmerstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für Beobachtungsflüge offen ist. Anfangs kommen fotografische und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 cm zum Einsatz, später auch Wärmebildkameras und Radarbildsysteme. Damit läßt sich unverdecktes, großes militärisches Gebiet dem Typ nach ohne weiteres erkennen.

Der Vertrag ist allerdings noch nicht in Kraft, weil die Ratifizierung durch die Parlamente in Moskau, Kiew und Minsk noch aussteht. Trotzdem wurden bereits zahlreiche bilaterale Versuchsflüge durchgeführt. Deutschland hat als einziges westliches Land 1995 einen Beobachtungsflug über Sibirien mit einer Gesamtlänge von 6 500 km durchgeführt.

Open-Skies für Bosnien

Einer der Väter der beiden Open-Skies-Verträge ist der ungarische Botschafter Marton Krasznai. Krasznai wurde 1996 zum persönlichen Beauftragten des Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Umsetzung von Teilbereichen des Dayton-Abkommens in Bosnien ernannt. Das Dayton-Abkommen verpflichtet die drei bosnischen »Parteien« zu einer Bekanntgabe und Begrenzung der Bestände ihrer konventionellen Waffensysteme. Die OSZE hat seit 1996 zahlreiche Vor-Ort-Inspektionen organisiert, bei denen Militärvertreter der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten die deklarierten Militärstandorte der jeweils anderen Seiten inspizieren. Mitarbeiter der OSZE müssen dabei die Vertreter der drei Parteien durch das geteilte Land eskortieren. Denn ein bosnisch-serbischer Offizier wagt es heute (trotz der vereinbarten Bewegungsfreiheit) immer noch nicht, im eigenen Wagen in die nichtserbischen Landesteile zu fahren.

Das Dayton-Abkommen sieht zusätzlich weitere vertrauensbildende Maßnahmen auf freiwilliger Basis vor. Botschafter Krasznai brachte nun die Idee eines offenen Himmels über Bosnien ins Spiel. Mit diplomatischem Geschick wurde ein schrittweises Vorgehen inszeniert. Zunächst wurden im Oktober 1996 Militärvertreter der drei bosnischen Parteien, aber auch aus Zagreb und Belgrad zu einem amerikanisch-ungarischen Open-Skies-Übungsflug über Ungarn eingeladen. Ich hatte Gelegenheit, an diesem Flug teilzunehmen. Das viertägige Programm bot viele gute Gelegenheiten für praktische Erfahrungen und informelle Kontakte zwischen den verschiedenen Parteien.

Als nächstes hat die OSZE im Februar dieses Jahres ein zweitägiges Seminar in Sarajevo durchgeführt. Thema waren regionale vertrauensbildende Maßnahmen und die Praxis des offenen Himmels. Die politischen und militärischen Führungen der drei bosnischen Parteien sowie die Regierungen in Belgrad und Zagreb waren durch hochrangige Delegationen vertreten. Die Idee des offenen Himmels begann Fuß zu fassen. Die Parteien sehen dabei natürlich zunächst ihre eigenen Interessen. Denn der Luftraum über Bosnien ist für militärische Flüge und damit auch für Bildflüge der drei Parteien weiterhin gesperrt.

Der erste Vorführflug

Im März haben sich dann Ungarn und Rumänien darauf verständigt, einen gemeinsamen Open-Skies-Vorführflug über Bosnien anzubieten. Das Angebot ging formal an die Regierung der Republik von Bosnien und Herzegowina. Aber erst nach komplizierten Verhandlungen mit den Militärführungen der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten konnte eine Einigung erzielt werden. Die SFOR, die den Luftraum über Bosnien kontrolliert, gab ebenfalls ihre Einwilligung und Unterstützung.

Im Juni war es dann so weit. Das ungarische Open-Skies-Flugzeug landete bei bestem Sommerwetter in Sarajevo. Das Flugteam wurde von einer stattlichen Zahl internationaler Beobachter, Pressevertreter und Militärs aus den drei bosnischen Kantonen empfangen.

Der Einflug nach Sarajevo hat immer noch etwas Atemberaubendes. Südlich des Flughafens ragen hohe Berge in den Himmel. Vor zwei Jahren schossen von dort noch die Geschütze. Auf der anderen Seite des Flughafens liegt das total zerschossene Olympia-Dorf fast leblos da. Der Flughafen gleicht mit Stacheldrahtverhauen und Behelfsbauten eher einem Militärlager. Irgendwo auf der Ankunftsbaracke weht eine Trikolore, und ein handbemaltes Schild zeigt eine »Rue des Champs Elysées« an. Im babylonischen Sprachengewirr der an- und abreisenden SFOR-Truppen sorgen französische Militärpolizisten für Ordnung.

Die internationalen Beobachter wurden teils im serbischen Kanton, teils im kroatischen Kanton untergebracht. Ich fuhr mit nach Kiseljak im bosnisch-kroatischen Teil, eine Autostunde von Sarajevo entfernt. In dem üppig grünen Tal und seinen ansehnlichen Ortschaften konnte man kaum Kriegsspuren entdecken. Erst als ich mich in Kiseljak genauer umsah, entdeckte ich eine zerstörte Moschee und eine abgesperrte orthodoxe Kirche. Vor dem Krieg machten die Kroaten hier 52 Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es 95 Prozent.

Im Hotel war für uns eine martialische Bewachung aufgezogen. Auf jeder Etage standen Tag und Nacht zwei Soldaten der bosnisch-kroatischen Armee (HVO). Das war offensichtlich als Machtdemonstration gedacht. Denn aus Sicherheitsgründen wäre es nicht nötig gewesen. Die bosnisch-kroatische Armee ist zwar die kleinste im ganzen Land, sie scheint aber am besten ausgerüstet zu sein und am besten bezahlt zu werden. Ein Sergeant erzählte mir, daß er 1200 Mark im Monat verdiene, weit mehr als die ungarischen und rumänischen Offiziere im Open-Skies-Team. Die muslimischen und serbischen Landesteile und ihre Armeen haben dagegen massive Finanzierungsprobleme.

An den beiden folgenden Tagen wurde dann je ein Bildflug durchgeführt. An Bord waren Vertreter der bosnischen Parteien und internationale Beobachter. Die SFOR hatte aus Sicherheitsgründen eine Flughöhe von 5000 Metern vorgeschrieben. Der Flug führte über Mostar und Tuzla auf einer Gesamtlänge von 800 Kilometern. Die vereinbarten Fotoziele waren vier Militärstandorte im muslimischen Kanton, drei im serbischen und zwei im kroatischen. Durch eine Mehrfach-Aufnahmetechnik konnten mehrere Bilder derselben Objekte aufgenommen werden. Am Ende erhielten der Staat Bosnien-Herzegowina und die Militärführungen der drei Parteien je einen Bildsatz. Das heißt, jeder weiß, was der andere sieht. Abschließend fand ein Empfang im Dom Armija statt, einem Offiziersclub mit üppigen Fresken, die noch aus der Zeit der österreichischen Herrschaft stammen. Dabei war zu spüren, wie sich die Atmosphäre – trotz tiefer Gegensätze in anderen Fragen – gelockert hatte.

Weitere Flüge

In den folgenden Monaten fanden zwei Open-Skies-Flüge über Bosnien statt. Deutschland hatte schon früh Interesse gezeigt. Nach dem Erfolg des ungarisch-rumänischen Fluges wurde ein Flugtermin für Ende August vereinbart. Der Flug führte von Split auf einer Zick-Zack-Route praktisch über jeden Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Es wurden insgesamt 120 Orte fotografiert – davon die Hälfte mit ausschließlich zivilen Anlagen. Die Zielgebiete waren von den Konfliktparteien selbst vorgeschlagen und abgestimmt worden. Jede der Parteien erhielt einen kompletten Satz von Bildkopien. Deutschland behielt die Originale.

Mit dem deutschen Flug ist eine neue Qualität erreicht worden. Die Bilder haben nicht nur symbolischen Charakter, sondern – dank guter Qualität (Bodenauflösung ca. 30 cm) und großer Zahl der Zielgebiete – operationellen Nutzen für die beteiligten bosnischen Parteien. Die Bilder der zivilen Anlagen sollten auch dem zivilen Wiederaufbau und der Regionalplanung zugute kommen.

Der jüngste Flug über Bosnien wurde am 5. und 6. November 1997 gemeinsam von den USA und Rußland mit einer russischen Maschine vom Typ Antonov-30 durchgeführt. Dieser Flug unterstrich auch die Kooperationsbereitschaft der beiden Mächte bei der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Bosnien.

Ratifzierungsaussichten

Die Aussichten für eine baldige Ratifizierung des multilateralen Open-Skies-Vertrages durch die russische Duma sind inzwischen deutlich gestiegen. Auch kommunistische und nationalistische Duma-Abgeordnete haben begriffen, daß die Aufklärungmöglichkeiten durch Open-Skies-Flüge angesichts der NATO-Osterweiterung im ureigensten russischen Interesse liegen. Bereits im Sommer dieses Jahres konnten Duma-Abgeordnete an einem russischen Open-Skies-Probeflug in den USA teilnehmen und den kooperativen Charakter des Vertrages persönlich kennenlernen. Im September dieses Jahres wurde das Ratifizierungsverfahren in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses der Duma begonnen. Nach der Ratifizierung des Chemiewaffenabkommens durch beide Häuser des russischen Parlamentes, die Ende Oktober erfolgte, wird nun bis zum Jahresende mit einer Ratifizierung des Open-Skies-Vertrages durch die Duma gerechnet. Dem dürften sich dann die Parlamente in Kiew und Minsk relativ bald anschließen, so daß der Vertrag im Jahre 1998 endlich in Kraft treten kann.

Ein tragischer Absturz

In diese insgesamt positive Entwicklung platzte eine Schreckensnachricht. Das deutsche Open-Skies-Flugzeug kollidierte am 13. September 1997 – einen Tag nach einem erfolgreichen Probeflug über Nordrußland (Gebiet um Archangelsk) – über dem Südatlantik vor der Küste Angolas mit einem amerikanischen Militärflugzeug. Durch den Zusammenstoß in großer Höhe wurden alle 24 Insassen in den Tod gerissen. Das Flugzeug war übrigens nicht auf einer Open-Skies-Mission, sondern führte einen Personenflug der Flugbereitschaft der Luftwaffe nach Südafrika aus. Im Verteidigungsministerium werden jetzt verschiedene Varianten für eine Fortführung des deutschen Open-Skies-Programmes geprüft. Wenn das Geld reicht, spricht einiges dafür, eine zweite Tupolev 154 der Luftwaffe, die zur Zeit außer Betrieb gestellt ist, für Open-Skies-Zwecke umzubauen.

Perspektiven für Bosnien

Vertrauensbildung in Bosnien-Herzegowina: Reichen Rüstungskontrolle und die Friedensarbeit ziviler Organisationen aus, um den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen? Wir wissen es nicht. Zu groß sind die geschlagenen Wunden und der wirtschaftliche Niedergang in vielen Landesteilen. Skeptiker verweisen mit Recht auf das Scheitern der im Dayton-Abkommen vereinbarten Integrationspolitik. Demgegenüber steht das aktive Interesse der drei Konfliktparteien an Rüstungskontrollmaßnahmen und Garantien, die – wie Open-Skies – einen Wiederausbruch der Feindseligkeiten verhindern oder zumindestens unwahrscheinlich machen sollen. Auch scheint die Strategie von OSZE und SFOR zur allmählichen Zurückdrängung von Hardlinern und Kriegsverbrechern gewisse Erfolge zu zeigen. Alle Beteiligten, mit denen ich sprach, können sich ein Einhalten des Waffenstillstandes nur bei längerfristiger Anwesenheit einer schlagkräftigen Truppe wie der SFOR vorstellen. Tenor: „Der Westen muß uns helfen, sonst bleiben wir ein Problem für Europa“. Ein nächster logischer Schritt wäre es, die Open-Skies-Praxis in Bosnien-Herzegowina durch ein Abkommen oder Protokoll auf eine festere legale Basis zu stellen. Entsprechende Gespräche haben bereits begonnen. Ebenso wichtig werden der wirtschaftliche Wiederaufbau und die zivile Versöhnungsarbeit sein, um Haß, Angst und Hilflosigkeit in Eigenverantwortung und Akzeptanz zu verwandeln.

Professor Dr. Hartwig Spitzer leitet die Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit an der Universität Hamburg

Deutschland und die Atomwaffen

Deutschland und die Atomwaffen

Konferenz 40 Jahre nach dem Göttinger Appell

von Jürgen Scheffran

Einige hundert Teilnehmer hatten am 11. April 1997 den Weg ins Audimax der Ludwig-Maximilian-Universität in München gefunden, um drei Physikern die Reverenz zu erweisen. Anlaß war der 40. Jahrestag der Göttinger Erklärung von 18 Atomwissenschaftlern gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik, die im April 1957 für Furore gesorgt hatte. Carl-Friedrich von Weizsäcker, der die Erklärung seinerzeit initiiert hatte, konnte eindrücklich von den z.T. heftigen Reaktionen der Adenauer-Regierung berichten, wobei der damalige Atomminister Franz-Josef Strauß vor Kraftausdrücken gegenüber den Größen der Physik wie Otto Hahn und Werner Heisenberg nicht zurückschreckte. Es half aber alles nichts: Der Besitz der Atombombe blieb deutschen Politikern vorenthalten.

Zweifellos konnte der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 Deutschland und Japan die Verfügung über Atomwaffen verweigern, doch ist der Vertrag auf lange Sicht nicht geeignet, die Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern, geschweige denn, diese abzuschaffen, solange den fünf Atommächten ein Sonderstatus eingeräumt bleibt. Dies machte, Joseph Rotblat, Pugwash-Präsident und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, deutlich. Er verwies auf zahlreiche Bestrebungen für eine atomwaffenfreie Welt aus der jüngsten Zeit und zeigte, daß erste Schritte unverzüglich eingeleitet werden können. Rotblat unterstützte die Bemühungen um den Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention, der nur vier Tage zuvor bei der Vorbereitungskonferenz zum NVV in New York von einem Komitee von Nichtregierungsorganisationen (NROs) vorgestellt worden war, wobei er den Beitrag deutscher Wissenschaftler hervorhob. Er betonte, wie auch schon am Tag zuvor bei einem von IANUS organisierten Vortrag an der Technischen Hochschule Darmstadt, daß die Abschaffung der Atomwaffen ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Abschaffung des Krieges sei.

Hans-Peter Dürr, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), forderte schließlich dazu auf, mit dem atomaren Wahnsinn Schluß zu machen, der Ausdruck eines rücksichtslosen Umgangs mit Mensch und Natur sei. Vehement setzte er sich für ein Ende des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs ein und forderte eine Umkehr in Richtung auf eine friedliche und nachhaltige Entwicklung.

Die öffentliche Veranstaltung, die neben der VDW und der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« von international agierenden NROs (IALANA, INESAP, IPPNW) und dem Münchner Friedensbündnis organisiert worden war, diente zugleich als Auftakt für eine zweitägige Konferenz »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!«, an der mehr als 150 Menschen teilnahmen. Während Vorträge und Diskussionen Samstag- und Sonntagvormittag im Plenum durchgeführt wurden, wurde am Samstagnachmittag in fünf Arbeitsgruppen diskutiert.

Es zeigte sich, daß die Konferenz gerade zur rechten Zeit stattfand. Bezüge zur Situation vor vier Jahrzehnten waren nicht zu übersehen. Während es damals um die Atombewaffnung der Bundeswehr ging, nachdem die Remilitarisierung bereits politisch durchgesetzt war, geht es heute um die Frage, ob Deutschland eine größere Verfügungsgewalt über Atomwaffen erlangen soll, nachdem Auslandseinsätze der Bundeswehr inzwischen von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden. So ging es in München dann auch um die Frage, wie deutsche Zugriffe auf die Atombombe verhindert werden können, etwa in der NATO und einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie etwa in der deutsch-französischen Erklärung vom 9. Dezember 1996 vorgedacht wurde.

Verschiedene Vorschläge wurden diskutiert, von Protestaktionen an Atomwaffenstandorten (Büchel), über atomwaffenfreie Zonen und Kommunen in Europa bis hin zum globalen Konzept einer Nuklearwaffenkonvention. Besondere Beachtung fanden die von Renate Reupke (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms, IALANA) vorgestellten »Zeichen der Ermutigung«, die vom Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Illegalität der Atomwaffen über neue atomwaffenfreie Zonen und den Atomwaffenteststopp bis zum globalen Netzwerk Abolition-2000 und den UNO-Resolution für eine Nuklearwaffenkonvention reichten. Der niederländische Brigadegeneral Henny van der Graaf war eingeladen worden, um von der Erklärung der Generäle für die Abschaffung der Atomwaffen zu berichten, die in NATO-Kreisen für Unruhe sorgt.

Um den politischen Impuls für die Abschaffung der Atomwaffen zu verstärken, wurden in der abschließenden Podiumsdiskussion Handlungsperspektiven aus deutscher Sicht diskutiert, wobei neben FriedensaktivistInnen auch zwei Politikerinnen zu Wort kamen. Während Uta Zapf (SPD) vorschlug, sich Schritt-für-Schritt der atomwaffenfreien Welt zu nähern, machte sich Angelika Beer (Bündnis 90/Die Grünen) für den umfassenden Ansatz einer Nuklearwaffenkonvention stark. In der Diskussion wurde betont, hier keine künstlichen Gegensätze enstehen zu lassen; Verhandlungen über einer Nuklearwaffenkonvention könnten dazu dienen, bereits mögliche Einzelmaßnahmen zu realisieren und so »schrittweise« und »umfassende Ansätze« zu verbinden. Die Abschlußerklärung des Kongresses (siehe blaue Seiten) forderte, in Anknüpfung an den Göttinger Appell, u.a. den Ausstieg Deutschlands aus der Atomwaffenstrategie der NATO, den Abzug der Atomwaffen von deutschem Boden und den Abschluß einer Atomwaffenkonvention.

Der Bezug zur Region München wurde an zwei Punkten deutlich. Zum einen hatten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) die Konferenz dazu genutzt, ihre Studie über die Möglichkeiten und Folgen von Atomwaffeneinsätzen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Feststellung, der Abwurf einer relativ »kleinen« Uranbombe vom Hiroshima-Typ auf die Münchner Innenstadt würde bereits am ersten Tag 28.000 Menschenleben kosten, rief in Erinnerung, was zu Hochzeiten der Friedensbewegung Gemeingut war. Daß das für Bombenzwecke nutzbare waffentaugliche Uran direkt vor den Toren Münchens im Garchinger Forschungsreaktor eingesetzt wird, war Anlaß für eine Demonstration in der Münchner Innenstadt. Bei der Kundgebung, die die zivil-militärische Verflechtung der Atomtechnologie zum Gegenstand hatte, wurde eine Torte verspeist, die als Geschenk zum 150. Geburtstag von Siemens gedacht war, dem Betreiber des Garchinger Reaktors. Bei der Gelegenheit wurde die Aufforderung zum Siemensboykott erneuert.

Daß die Tagung ein wichtiger Beitrag war, um die Atomwaffenproblematik bundesweit aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, zeigte sich insbesondere am unerwartet großen Medienecho. Der Pressespiegel enthält mehr als 100 Artikel in der regionalen und überregionalen Presse, hinzu kommen Berichte in Fernsehen (Tagesschau) und Radio. Mit diesem Wind im Rücken könnte es gelingen, das der Atomwaffenfrage zustehende öffentliche Interesse erneut zu wecken, wenn weitere Aktivitäten auf kommunaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene folgen. Künftige Kristallisationspunkte sind etwa die Jahrestage von Hiroshima und Nagasaki, der erste Jahrestag des IGH-Gutachtens am 8.Juli, an dem zugleich der NATO-Gipfel in Madrid stattfindet, sowie die am 13.-15. Juni im Friedenszentrum Burgschlaining in Österreich stattfindende NGO-Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa. In einer weltweiten Bewegung für die Abschaffung der Atomwaffen liegt die einmalige Chance, die weiter bestehende atomare Bedrohung zur Jahrtausendwende endgültig zu beseitigen.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Assistent in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der Technischen Hochschule Darmstadt und Herausgeber des INESAP Information Bulletin.

Nachhaltige Nutzung intellektueller Ressourcen – Projekt an der Uni Dortmund

Nachhaltige Nutzung intellektueller Ressourcen – Projekt an der Uni Dortmund

von Jörn Birkmann

Nachhaltige Entwicklung! Der heute tausendfach vervielfachte und in allen erdenklichen Zusammenhängen verwendete und mißbrauchte Begriff ist abgedroschen wie kaum ein anderer. Und doch lohnt es sich, diesen Begriff zu konkretisieren und auf den eigenen Lebensraum anzuwenden, meinen die rund 30 Studierenden und 15 WissenschaftlerInnen, die das Projekt »Nachhaltige Uni DO« gestartet haben. Ein interdisziplinäres Projekt mit dem Ziel, nicht nur über das heare Anliegen zu reden, sondern mit konkreten Fakten, Zahlen und ersten Schritten aufzuzeigen, was »Nachhaltigkeit« für die Uni Dortmund bedeuten könnte.

Mit der Agenda 21, einem Beschlußdokument der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung vom Juni 1992 in Rio de Janeiro, werden die Unterzeichnerstaaten, und insbesondere die Städte und Gemeinden, aufgefordert, ihren Beitrag zur Entwicklung einer zukunftsverträglichen Wirtschafts- und Lebensweise zu leisten. Der Koordinationskreis »Nachhaltige Uni DO« geht davon aus, daß damit auch die Hochschulen aufgerufen sind, an diesem Prozeß gestaltend mitzuwirken. Gestärkt wurde der Koordinationskreis in dieser Ansicht durch einen ähnlichen Modellversuch an der ETH Zürich, der wichtige Hinweise für die Initiierung und Durchführung des Projektes gab, sowie durch die Tatsache, daß die Universität Dortmund mit 200 anderen europäischen Hochschulen die »University Charta for Sustainable Development« der europäischen Hochschulrektorenkonferenz unterschrieben hat.

Nach Ansicht der InitiatorInnen kamen aus den Hochschulen in den letzten Jahren wenig Impulse zur Lösung globaler Umweltprobleme. Die kontinuierliche Technikgläubigkeit und das Beharren in Einzeldisziplinen haben daran einen nicht unwesentlichen Anteil (vgl. Becker Wehling; 1993). Eine Kursänderung in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung verlangt auch ein neues Rollenverständnis der Wissenschaftler und ihrer Institutionen. Es reicht nicht, zukünftige InformatikerInnnen nur auf Bits und Bytes und angehende BWLerInnen nur auf Dax und Dollar zu trimmen. Die Komplexität der globalen Umweltkrise macht interdisziplinäre Lösungsansätze unumgänglich. Studierende wie auch WissenschaftlerInnen müssen dazu ihre disziplinären Methoden und Denkweisen mit anderen Disziplinen zusammen bringen und ihren unterschiedlichen Zugriff auf die Wirklichkeit zur Diskussion stellen (vgl. Huber, 1994).

Zum Projekt selbst

Ende des Sommersemesters luden Studierende (AStA) mit Unterstützung des Instituts für Umweltforschung (INFU) der Universität Dortmund interessierte Studierende und WissenschaftlerInnen zu einem Workshop ein. Ziel war es, konkrete Vorschläge für Studienarbeiten zum Thema nachhaltige Entwicklung zu entwickeln, die interdisziplinär betreut und bearbeitbar waren. Mitte Oktober konnten die interdisziplinären Fragestellungen zum Thema »Nachhaltige Uni DO« den Studierenden öffentlich vorgestellt werden. Leider war die Zusammensetzung der InteressentInnen nicht so heterogen, wie gewünscht. Das liegt zu einem wesentlichen Teil daran, das nur einige Fakultäten die Mitarbeit in diesem interdisziplinären Projekt als ordentliche Studienleistung anerkennen. Trotz der Forderung nach mehr Interdisziplinarität verlangen die meisten Fakultäten, für die Anerkennung interdisziplinärer Studienleistungen als ordentliche Studienfacharbeit eine tiefgreifende einzelwissenschaftliche Leistung im Sinne ihrer Disziplin.

Das erste interdisziplinäre Team analysiert die Wohnstandorte der Studierenden und untersucht daraus resultierende Mobilitätszwänge und Umweltfolgen. Dabei wird auch eine Fragebogenaktion unter Studierenden vorbereitet, um genauere Angaben zum Mobilitätsverhalten zu bekommen. Das zweite Projekt befaßt sich mit Energieeinsparpotentialen eines Uni Gebäudes. „Das Projekt lebt von der gemeinsamen Betrachtung technischer und verhaltensorientierter Aspekte des Energieverbrauchs“, heißt es in der Kurzbeschreibung. Mit dem Thema Energie befaßt sich auch das dritte Projekt, daß das neue BHKW der Uni Dortmund auf seine ökologischen und ökonomischen Vor- und Nachteile hin untersucht. Das vierte Projekt hat sich zur Aufgabe gesetzt, Indikatoren zur Beurteilung der Nachhaltigkeit für den Organismus Universität Dortmund zu entwickeln. Die Hochschule wird dabei als ein Organismus, der in vielen lebendigen Wechselbeziehungen steht, betrachtet. Der Syndromansatz des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen« (WGBU) spielt in diesem Projekt eine wesentliche Rolle.

Als Ergänzung zur theoretischen Beschäftigung mit dem Thema nachhaltige Entwicklung werden Exkursionen und Vorträge angeboten. Beispielsweise hat in diesem Semester das Kolloquium des Instituts für Umweltforschung das Thema »Nachhaltige, umweltgerechte Entwicklung«.

Desweiteren bietet das Hochschuldidaktische Zentrum (HDZ) eine Schreibwerkstatt an, die bei der interdisziplinären Zusammenarbeit eine wichtige Hilfestellung leistet.

Leitung des Projektes

Auf Vorschlag der studentischen Initiatoren wird das Projekt von einem Koordinationskreis geleitet, in dem Studierende, WissenschaftlerInnen und die beiden Institute, das INFU und das HDZ, gleichermaßen vertreten sind. Diese Strukturen des Koordinationskreises, in denen Studierende, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und ProfessorInnen gleichberechtigt und hierarchiefrei zusammenarbeiten, ermöglichen die Entfaltung des kreativen Potentials partizipatorischer Prozesse.

Resümee

Trotz erheblicher Probleme bei der Initiierung und Anerkennung (als Studienleistung) des interdisziplinären Projektes »Nachhaltige Uni DO«, kann ich als Mitinitiator und Teilnehmer nur dazu motivieren, an anderen Stellen ähnliche Projekte ins Leben zu rufen.

Schon heute stellt die interdisziplinäre Teamarbeit mit hochmotivierten Studierenden und WissenschaftlerInnen aus meiner Sicht eine wertvolle Horizonterweiterung dar. Anfang April werden die Konzepte und Arbeiten, die die 30 StudentInnen mit ihren BetreuerInnen interdisziplinär entwickeln, öffentlich vorgestellt. Der Koordinationskreis hat beantragt, daß das Projekt »Nachhaltige Uni DO« als Leuchturmprojekt im Rahmen des Programms »Qualität der Lehre« vom Land NRW gefördert wird.

Literatur

Becker, E., Wehling, P. (1993): Risiko Wissenschaft, Frankfurt a. M. / New York

Huber, L. et al. (Hrsg) (1994): Über das Fachstudium hinaus, Weinheim

United Nation Commission on Environment and Development, (1987): Our common future, Oxford University Press

Jörn Birkmann studiert Raumplanung an der Universität Dortmund. Er ist Mitinitator des Projektes »Nachhaltige Uni DO« und gehört dem Koordinationskreis an.

Kein Frieden mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen

Kein Frieden mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen

von Jürgen Scheffran /Markus Jathe

Vom 29. November bis 1. Dezember 1996 fand in der Evangelischen Akademie Mülheim ein interdisziplinäres Fachgespräch zur Verknüpfung von Umwelt, Entwicklung und Frieden statt. Ziel war es, die Querbezüge zwischen der Diskussion über nachhaltige Entwicklung einerseits und der Friedens- und Konfliktforschung andererseits aufzuzeigen, um daraus integrierte Handlungsperspektiven abzuleiten. Die gegenseitige Durchdringung der Bereiche fand schon im Titel der Tagung »Frieden durch nachhaltige Entwicklung? Nachhaltige Entwicklung durch Frieden?« ihren Ausdruck. Dabei konnte an die ein Jahr zuvor am selben Ort veranstaltete Tagung zum Thema »Wissenschaft und nachhaltige Entwicklung« angeknüpft werden, die der Wuppertal-Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« gewidmet war. Veranstalter waren die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), die Naturwissenschaftler-Initiative „Verantwortung für den Frieden“ und die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

Die Annäherung an die Thematik erfolgte in drei Blöcken: einem Aufriß des Problemkomplexes, Beispielen aus den Konfliktfeldern Energie, Umwelt und Nord-Süd-Verhältnis sowie dem zukunfts- und lösungsorientierten Block »Leitbilder und Zukunftskonzepte«.

In einem Einführungsvortrag von Jürgen Scheffran wurde die These zur Diskussion gestellt, daß Frieden eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung nachhaltiger Entwicklung sei, zugleich aber nachhaltige Entwicklung auch eine Bedingung langfristiger Friedenssicherung. Ziel sei in beiden Fällen die Erhaltung und Entfaltung des Lebens auf der Erde. Die entscheidende Frage sei, wie ein Übergang von dem Teufelskreis aus Umweltzerstörung, Unterentwicklung und Krieg zu einer Positivkopplung von Umwelterhaltung, Entwicklung und Frieden erreicht werden könne. Um die wechselseitige Verstärkung von Wachstum, Macht und Gewalt, die der Schaffung nachhaltiger und friedlicher gesellschaftlicher Strukturen im Wege steht, zu überwinden, sei ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit erforderlich. Eine konsequente Konfliktvermeidung wird um so dringlicher, als unter dem Schlagwort der »erweiterten Sicherheit« eine unzulässige Ausweitung des militärischen Auftrags auf alle Sicherheitsdimensionen erfolgt, inklusive der »ökologischen Sicherheit«. Daß ein entsprechender Paradigmenwechsel seit Ende des Kalten Krieges in vollem Gange ist und bereits in neuen Rüstungsprojekten und Militärplanungen seine Entsprechung gefunden hat, wurde eindrücklich in dem Beitrag von Wolfgang Vogt dargelegt. Zwar sei die militärische Bedrohung Europas zurückgegangen, doch um einen Rüstungsetat von 50 Mrd. DM zu sichern und eine Funktionserweiterung des Militärs vorzunehmen, werden neue Risikoszenarien – vom Islam bis zur Ölkatastrophe – an die Stelle alter Feindbilder gesetzt. Militärische Ansätze zur Krisenintervention und Katastrophenabwehr finden Akzeptanz in der Bevölkerung. Statt auf die nachträgliche militärische Bewältigung von Krisen und Konflikten zu vertrauen, sei für Europa die schwierigere Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung auf ein Zivilisierungsmodell erforderlich, das die Systemlogiken von Ökonomie, Politik, Technologie und Kultur an ökologischen Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen orientiert.

Betroffen macht, wie selbstverständlich die Logik militärischer Macht vom vergangenen Ost-West-Konflikt nunmehr auf den komplexeren Nord-Süd-Konflikt übertragen wird, den Franz Nuscheler als einen Verteilungskonflikt über Entfaltungschancen beschreibt. Während der für die globale Krise hauptverantwortliche Norden ökologische Strukturänderungen verzögert, mutet er dem Süden zu, den Verlockungen des westlichen Wirtschaftsmodells zu entsagen, um die Tragfähigkeit der Erde nicht überzubelasten. Demgegenüber beklagen Entwicklungsländer die Einschränkung des Rechts auf Entwicklung und erheben gegenüber dem Norden den Vorwurf des Ökoimperialismus, gegen den die »eigenen« Ressourcen verteidigt werden müssen. Angesichts der eklatanten Unterschiede kann ohne Gerechtigkeit, die der Dritten Welt die Befriedigung der Minimalbedürfnisse garantiert, Frieden dauerhaft nicht gesichert werden.

Die der Wissenschaft zugrundeliegende Ambivalenz beschrieb Wolfgang Liebert. Das von Bacon visionär gezeichnete Programm der Wissenschaft ist zwar in mancher Hinsicht Wirklichkeit geworden, doch herrscht Ernüchterung über den humanitären Gehalt und die destruktive Kraft der Wissenschaft. Wissenschaftlern das Management der Ökosphäre durch gezielte Eingriffe zu überlassen (Hubert Markl) würde bedeuten, die Katze zum Hüter der Mäuse zu machen (Hans-Peter Dürr). Noch problematischer ist der Beitrag zu Rüstung und Krieg. Zunehmend werden angesichts knapper Rüstungshaushalte und Militärkritik die zivilen wissenschaftlich-technischen Ressourcen dienstbar gemacht, unter Ausnutzung der Ambivalenz von Forschung und Entwicklung. Um den Deckmantel zu enthüllen und die Pflicht zur Mitnatürlichkeit auch in der Wissenschaft zur Geltung zu bringen, ist eine Ambivalenzanalyse ebenso erforderlich wie die Anwendung von Kriterien für Wissenschaft wie sie etwa vom Institut für sozial-ökologische Forschung entwickelt wurden.

Daß nicht nur die Wissenschaft mit widersprüchlichen Tendenzen zu kämpfen hat, sondern auch die Politik machte Thomas Fues (Bündnis 90 / Die Grünen) deutlich. Daß auf dem am selben Wochenende stattfindenden Parteitag der Grünen die Zustimmung zu Militäreinsätzen in Bosnien zur Abstimmung stand, zeigte nur, wie sehr einst von der Bevölkerungsmehrheit vertretende friedenspolitische Positionen in die Defensive geraten sind. Die Verengung auf die pragmatische Frage »Einsatz Ja oder Nein?« vermeidet das Erkennen größerer Zusammenhänge, was eine vorbeugende Konfliktvermeidung unmöglich macht und folgenschwere Grundsatzentscheidungen mit dem tagespolitischen Sachzwangargument durchdrückt.

Wie stark verschiedene Konfliktursachen bereits miteinander verwoben sind, wurde an einigen Beispielen exemplarisch untersucht. Einige Beiträge waren bestrebt, mit der Energienutzung verbundene Konfliktfelder aufzuzeigen. Diese betreffen nicht nur Konflikte aufgrund der Folgen der Energienutzung, etwa zu Klimakonflikten (Jürgen Scheffran) und zu den vielfältigen Risiken der Kernenergie (Martin Kalinowski), sondern auch Konflikte um die Verfügbarkeit von Energiequellen, die Verteilung ihres Nutzens oder die Vermeidung von Risiken. Daß sich auf der allgemeinen Zielebene zwar leicht Einigkeit erzielen läßt, bei konkreten Vorschlägen jedoch Kontroversen aufbrechen, wurde auf der Tagung selbst deutlich. So löste der in dem Beitrag von Sven Brückmann unternommene Versuch, im Konflikt um die Ölquellen des Nahen Ostens ökonomische Alternativen zu militärischem Eingreifen zu begründen, eine lebhafte Kontroverse darüber aus, ob das Einlassen auf solche Kalküle nicht bereits zu einer Anerkennung der auf fossilen Energieträgern basierenden Strukturen beitrage. Kritische Fragen wurden auch gegenüber Konzepten wie »Joint Implementation« aufgeworfen, die die Vermeidung von klimaschädigenden Emissionen im Westen durch Emissionsminderungen in der Dritten Welt ersetzen oder ergänzen sollen (Dirk Ipsen). Schließlich führte der von Manfred Fischedick vorgestellte und weitgehend positiv beurteilte Ansatz der Wuppertal-Studie, die für eine nachhaltige Energiepolitik notwendigen Verhaltensänderungen durch Leitbilder zu erreichen, zu der Frage, ob hierbei den Zielkonflikten um die Durchsetzung gegen gesellschaftliche Interessen und Widerstände nicht aus dem Weg gegangen werde.

Am Beispiel von Nahost und Afrika wurde deutlich, daß Umweltkonflikte um knappe Naturressourcen zwar an Bedeutung gewinnen, aber selten alleinige Konfliktursache sind. Die ausgiebig untersuchten Wasserkonflikte in Nahost (Manuel Schiffler) zeigen, daß das Konfliktverhalten der Akteure durch den übergreifenden politischen Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn dominiert wird und eine Konfliktlösung von Fortschritten im Friedensprozeß abhängt. Noch schwieriger stellt sich die Lage in Afrika dar, wo Land- und Umweltflucht zu grenzüberschreitenden Konflikten beitragen (Roland Richter). Im Falle Ruandas haben Bevölkerungswachstum und Bodendegradation zwar den Problemdruck erhöht, doch ist der Ausbruch des Völkermords vorwiegend auf politische Interessen und ethnische Gegensätze zurückzuführen.

Mit der Globalisierung der kapitalistischen Ökonomie ist eine weitere Zerstörung kultureller Zusammenhänge und eine Zunahme regionaler Konflikte zu befürchten. Neoklassische Ökonomie und neoliberale Politik zielen auf eine Deregulierung, die Gemeinschaftsgüter der privaten Verfügung und den Marktgesetzen unterwirft. Ausgehend von der Frage »Wem gehört die Natur?« setzte sich Mohssen Massarrat mit dem auf John Locke zurückgehenden Eigentumsbegriff bei Naturressourcen auseinander. Durch die Geldwirtschaft und die Akkumulation von Kapital wird die Anhäufung fremder Arbeit möglich. Wird ein derartiger Erwerb von Natureigentum als »gerecht« angesehen, können Maßnahmen »gerecht“fertigt werden, die auf die Verteidigung des Eigentums durch physische Gewalt oder die Enteignung indigener Völker von ihren Lebensräumen zielen (Beispiel Ogoni in Nigeria). Alternativen zur neoklassischen Ökonomie, die die Natur als Produktionsfaktor ignoriert und das Markgleichgewicht als konfliktfreien, harmonischen Zustand idealisiert, müssen eine Mengenregulierung des Angebots anstreben, also am Anfang der Pipeline ansetzen, und auf das Eigentum von knappen Naturressourcen verzichten.

Mit der Globalisierung ist zwar die verstärkte Durchlässigkeit nationaler Grenzen gegen Kapital und Information verbunden, doch zugleich werden Barrieren zwischen Nord und Süd gegenüber damit verbundenen Problemen errichtet, insbesondere gegen mögliche Flüchtlingsströme und militärische Bedrohungen. Die westlichen Zentren, insbesondere Europa, entwickeln sich in dieser Hinsicht zu Festungen, die auch militärisch verteidigt werden sollen. Von neuen Bedrohungsszenarien ausgehende Implikationen für den Rüstungssektor wurden von Götz Neuneck beleuchtet. Neue Rüstungstechnologien seien nach Ansicht des früheren US-Verteidigungsministers Perry auch deswegen notwendig, weil andere die alten schon haben. Aus Mangel an konkreten Feindbildern wird der Westen sich selbst zum größten Feind. Dies wird auch deutlich durch die Art und Weise, mit der die NATO an Atomwaffen festhält, auf Raketenabwehr setzt oder ihre Expansion nach Osteuropa gegen den Widerstand Rußlands durchsetzt.

Im abschließenden Teil der Tagung wurde bezugnehmend auf die Ausgangsfrage beleuchtet, wie Visionen und Leitbilder von Frieden und nachhaltiger Entwicklung sich gegenseitig befruchten können. Der Physiker und Studienleiter der Evangelischen Akademie Mülheim, Hans-Jürgen Fischbeck, wies darauf hin, daß die biblischen Visionen vom Frieden den Einklang zwischen Mensch und Natur voraussetzen.

Der Sozialethiker Wolfgang Bender lenkte den Blick auf Kants Entwurf »Vom Ewigen Frieden«. Im einzelnen diskutierte er sechs unterschiedliche Verhaltensweisen, wie Menschen in Lebensnot reagieren können. Während die in der heutigen Erlebnisgesellschaft verbreitete Grundhaltung, Problemen auszuweichen oder sie zu verdrängen nur eine befristete Entspannung bringt, sind Resignieren und Sublimieren typische Verhaltensweisen in der Risikogesellschaft. Im Extremfall kann dies zu völliger Verzweiflung, zu Haß und Vernichtungsbereitschaft gegen sich selbst oder andere führen. Demgegenüber stehen die Prinzipien des Fürchtens und Bewahrens, die von Hans Jonas in seinem »Prinzip Verantwortung« angesprochen wurden. Die von Ernst Bloch im »Prinzip Hoffnung« verfolgten Intentionen des Hoffens und Veränderns sind geeignet, umfassende Humanität anzustreben und auch zu realisieren. Bevorzugt wurden von Wolfgang Bender jedoch die ethischen Prinzipien der Erhaltung und Entfaltung des Lebens, die sowohl für Frieden wie auch für nachhaltige Entwicklung handlungsleitend sein können. Beide Prinzipien sind in Einklang zu bringen, um zu vermeiden, daß etwa die Entfaltung einiger Lebewesen die Erhaltung und Entfaltung anderer Lebewesen unzulässig beeinträchtigt. Die individuelle Freiheit endet bei der Freiheit anderer.

Durch eine derart umfassende Perspektive zum Widerspruch gereizt sah sich der Politikwissenschaftler Lothar Brock, der eine zu weitgehende Vermischung oder zu großzügige Ausweitung der Begrifflichkeiten ablehnte, da diese zu wertlosen Identitäten würden oder gar unerwünschte politische Implikationen hätten (wie bei der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs). Eine Gleichsetzung von Umweltzerstörung und Krieg sei ebensowenig angemessen wie die allgemeine These, daß Umweltzerstörung zum Krieg führe. Ein eindeutiger Zusammenhang sei kaum nachzuweisen. Eher komme es darauf an, in den jeweiligen Konfliktfeldern Umwelt, Entwicklung und Frieden enge analytische Kategorien zu entwickeln, die Probleme im Detail zu betrachten und praktische Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Ausgehend von der in Rio 1992 erarbeiteten Agenda 21 für Umwelt und Entwicklung und der vom damaligen UN-Generalsekretär Bhoutros-Ghali vorgestellten Agenda für den Frieden lenkte er den Blick auf konkrete Politikkonzepte, von völkerrechtlichen Verträgen bis hin zu humanitär oder ökologisch begründeten Interventionen.

Wie praktische Politik für »Ökologie von unten« aussehen kann, zeigte der Vortrag von Ulrike Kronfeld-Goharani, die anhand von konkreten Beispielen vorführte, wie die Agenda 21 von der globalen auf die lokale Ebene umgesetzt werden kann. Die Perspektive wurde zum Abschluß der Tagung wieder erweitert durch Ulrich Albrecht, der die Interaktion zwischen Politik und Ökonomie in den Blick nahm, insbesondere die politischen Dimensionen von Globalisierung, die damit verbundene Entstaatlichung von Gesellschaft und das (noch diffuse) Konzept der Weltgesellschaft.

Die Tagung konnte zwar neuartige Perspektiven und Diskussionsfelder eröffnen und Zusammenhänge aufzeigen, machte jedoch deutlich, daß das interdisziplinäre Zusammenführen verschiedener Forschungs- und Politikbereiche selten schnell greifbare Resultate liefert, die zu politischen Handlungsperspektiven führen. Es wurde vereinbart, ein Projekt zum Thema Frieden und Nachhaltigkeit fortzuführen, das die Wechselbeziehungen der drei Problemkomplexe Umwelt, Entwicklung und Frieden in Richtung auf integrierte Lösungskonzepte und Handlungsvorschläge für die Politik untersuchen soll. Eine Verbesserung der Forschungszusammenarbeit wird angestrebt, ein Tagungsband ist geplant.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent, Dr. Markus Jathe wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Nachdenken über Schuld und Zukunft der Medizin

Nachdenken über Schuld und Zukunft der Medizin

von Lars Pohlmeier

ÄrztInnen stellen sich beim Nürnberger IPPNW-Kongreß »Medizin und Gewissen« historischer Verantwortung und diskutieren ethisches Grundwerte-Papier für neuen ÄrztInnen-Kodex

Im Oktober 1946 begann in Nürnberg ein Gerichtsverfahren gegen 20 deutsche Ärzte, angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es wurde eine „verpaßte Chance“ der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie es der Münsteraner Medizinhistoriker Prof. Dr. Gerhard Toellner ausdrückte. Die deutsche Ärzteschaft blieb jahrzehntelang unfähig zur Selbstreflexion und zum Schuldeingeständnis. Die IPPNW – »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in Sozialer Verantwortung« hat dieses Schweigen immer wieder durchbrochen. Mit dem Nürnberger Kongreß »Medizin und Gewissen« 50 Jahre nach Prozeßbeginn leistete die IPPNW einen weiteren Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte. Mehr noch, aus dieser Erfahrung heraus fragte die IPPNW nach der ethischen Verantwortung der Ärzteschaft heute.

Den Bogen schlagen vom historischen Rückblick zu bedenklichen Entwicklungen und Ansätzen in der Gegenwartsmedizin“, so beschrieb Psychoanalytiker und IPPNW-Vorstandsmitglied Horst- Eberhard Richter bei der Eröffnung das Ziel des Kongresses. Für Richter kommt es auf die „innere Haltung der Menschen an, die in diesem Beruf handeln und forschen“. Das Gewissen des einzelnen sei die „ursprüngliche Quelle des Mitfühlens und ein unüberhörbarer Ansporn zum Helfen.“ Richter fordert, den einzelnen Menschen als Ganzes in den Vordergrund ärztlichen Handelns zu stellen: „Das Gewissen schlägt nicht für Gene, vielmehr ausschließlich für den ganzen Menschen und auch nie für deren Benutzung durch das noch so wohlmeinend dargestellte Interesse von Wirtschaft oder Staat.“

Tatsächlich verwirrt die Vielzahl technologischer Entwicklungen in der Medizin PatientInnen und ÄrztInnen gleichermaßen, macht es scheinbar immer schwieriger, sich einen festen ethisch begründeten Standpunkt zu erarbeiten. Wo sind die Gefahren der Gentechnologie? Wie gehen wir mit den Widersprüchen der Transplantationsmedizin um? Welchen ethischen Preis bezahlen wir für die fortschreitende Forschung an Embryonen in der Präimplantations-Diagnostik?

»Medizin und Gewissen« konnte nicht auf alles Antworten geben. Aber die Zweifel und Sorgen um diese Themen bekamen eine Plattform. Wie groß der Bedarf zur Diskussion ist, bewies der Andrang. Mit mehr als 1500 Teilnehmern wurden selbst die kühnsten Erwartungen der Veranstalter übertroffen. Ziel der Veranstalter war es, einen neuen Ethik-Kodex für ÄrztInnen zu schaffen. Das Vorhaben der »Nürnberger Thesen« war zu ehrgeizig, vieles muß noch weitergedacht werden. Dennoch weist die verabschiedete »Nürnberger Erklärung« den Weg für ethisch verankerte moderne Medizin. „Das gesundheitliche Wohl des Individuums ist für uns Ärztinnen und Ärzte ein unbedingt zu schützendes Gut“ heißt es in dem Papier, das der Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn und die Erlangener Medizinstudentin Kerstin Langhans auf der Abschlußveranstaltung gemeinsam vortrugen.

Konkret wird gefordert, Gentests an eine in voller Entscheidungsfreiheit erteilte Zustimmung der Betroffenen zu binden und den Mißbrauch der Diagnostik für kommerzielle oder bevölkerungspolitische Zwecke zu verbieten. Auch wird die Verpflanzung von Körpergewebe und Organen nur legitimiert, wenn der Betroffene seine Zustimmung ausdrücklich erteilt hat. »Nicht-einwilligungsfähige« Menschen müssen vor fremdnütziger Forschung geschützt werden. Aber die Dimension ärztlicher Verantwortung wird zugleich weit gezogen, wenn es heißt: „Als Ärztinnen und Ärzte erkennen wir unsere Mitverantwortung für ein friedliches, soziales, gerechtes und umweltbewußtes Zusammenleben von Menschen und Völkern an.“

Viel Zustimmung fand ein Aufruf, den Bundestag um ein »Moratorium für neue Gentests« anzurufen, bis besser abzusehen ist, welche ethischen und sozialen Folgen die Einführung neuer Techniken für die Menschen haben. Es ist der Versuch, nötige Zeit zur Refelexion zu gewinnen. Dies angesichts eines Trends, in der Medizin zu erlauben, was technisch machbar ist. Prominente MedizinerInnen haben den Aufruf bereits unterzeichnet.

»Medizin und Gewissen« war kein historischer Kongreß, gleichwohl der Rückgriff in die Geschichte immer wieder breiten Raum einnahm in den mehr als 60 Diskussions-Foren. Erinnert wurde an den 25. Oktober 1946, als die Anklageschrift gegen 20 ÄrztInnen und drei weitere Staatsbeamte vorgelegt wurde. Die Hauptanklagepunkte: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu Gericht saß ein amerikanisches Militärgericht, das ein Jahr später Freisprüche, Haftstrafen und insgesamt sieben Todesurteile aussprechen sollte. Die Verhandlungen galten unter Beobachtern als sehr fair, keine Siegerjustiz. Doch die Öffentlichkeit interessierte das nicht, und so wurde vom Prozeß kaum Notiz genommen. Und die ÄrztInneneschaft? Mit 50 Prozent höher als jeder andere Berufsstand in der NSDAP vertreten, verdrängte die ÄrztInnenschaft ihre Schuld. Die offiziell mit sechs Personen besetzte ärztliche Beobachterkommission der Bundesärztekammer war bei Prozeßbeginn bereits auf drei Mitglieder zusammengeschmolzen. Das waren der Medizinstudent Fred Mielke und die beiden ÄrztInnen Alexander Mitscherlich und Alice Ricciardi von Platen. Letztere übernahm an alter Wirkungsstelle die Präsidentschaft auf dem IPPNW-Kongreß. Der Abschlußbericht der deutschen Kommission, der in einer Auflage von 10.000 erschien, fand keine LeserInnen. „Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen war,“ kommentierte Mitscherlich später. Die englischen Prozeß-Unterlagen sind in ihrer Gesamtheit nie ins Deutsche übersetzt wurden. Erst eine Initiative des Psychiaters Prof. Dr. Klaus Dörner fast 50 Jahre nach Prozeßende wird zur Veröffentlichung führen. Die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts wird die Unterlagen übersetzen und publizieren. Finanziert wird das Unternehmen durch Spenden, nachdem die Bundesärztekammer eine finanzielle Beteiligung abgelehnt hatte.

Der Ärzte-Prozeß war nur eine »Stichprobe«, wie es Mitscherlich nannte. Noch heute ist ungeklärt, in welchem Ausmaß Ärztinnen und Ärzte sich versündigten. Was wir wissen, ist niederschmetternd: 70.000 geistig und körperlich behinderte Menschen oder Altersschwache erfaßt und ermordet. 250.000 Menschen zwangssterilisiert, 5.000 hilflose Kinder ermordet, vom ärztlich begleiteten millionenfachen Völkermord in deutschen Konzentrationslager ganz zu schweigen. Dazu kommt die unbekannte Zahl der ermordeten Kriegsgefangenen und »Fremdarbeiter«. Und dennoch sind es die Geschichten der einzelnen Menschen, die das Grauen erst wirklich erahnen lassen. Da ist der Angeklagte Dr.Karl Gebhardt, der selbst im Gerichtssaal keine Einsicht zeigt. „Nicht schuldig,“ seine Forderung. Es sind viele Geschichten erzählt worden. Dahinter stecken Stachel, die böse in die deutsche Nachkriegsgeschichte hineinragen. Unzählige Karrieren von MedizinerInnen, die ungeschoren davongekommen sind. Aber auch andere haben mitgemacht. Da werden die Dia-Bilder eines KZ-Häftlings aus Dachau neben denen des US-Astronauten John Glenn gezeigt. Die Verbindung heißt Hubertus Strughold, Arzt im Reichsluftfahrt-Ministerium, Konstrukteur von Unterdruckkammern. Der unbekannte KZ-Häftling, dessen Atmenorgane und Gehirn vorsätzlich zum Platzen gebracht wurden unter Unterdruck-Verhältnissen, war Strughold lange hilfreich. Nach dem Krieg machte Strughold Karriere im US.-Miltärapparat. Er trug mit bei zur bemannten Raumfahrt der USA. Der Nazi-Arzt wurde reingewaschen von einer wissenschaftsgeilen Militärmaschinerie, die gar eine bedeutende Militär-Bibliothek und einen Orden nach Strughold benannt hat.

Der mit enormem Aufwand vorbereitete Nürnberger Kongreß ist zu Ende. Aber in einem gewissen Sinne hat der »Nachdenk-Prozeß Nürnberg« erst begonnen. Alice Ricciardi-von Platen, letztes Mitglied der Ärztekommission von 1946 und Präsidentin des IPPNW-Kongresses kam trotz ihres hohen Alters aus Rom angereist. Sie komme heute erlöst nach Nürnberg, sagte sie: „Dieses Gefühl der Vergeblichkeit, mit dem ich [damals, d.A.] aus Nürnberg abgereist war, relativiert sich ein wenig.“

Lars Pohlmeier ist Redaktuer des IPPNW-Forums

Nebenfach-Studiengang an der Universität Marburg: Friedens- und Konfliktforschung

Nebenfach-Studiengang an der Universität Marburg: Friedens- und Konfliktforschung

von Peter Imbusch

An der Universität Marburg ist erstmals in Deutschland zum WS 96/97 ein Nebenfach-Studiengang »Friedens- und Konfliktforschung« etabliert worden. Ein solcher Studiengang wurde seit langem von Friedens- und Konfliktforschern angemahnt.

Ausgangspunkt des etablierten Studiengangs ist die curriculare Überlegung, daß sich FuK wieder stärker auf die Konflikthaftigkeit der sozialen Welt zurückzubesinnen habe und entsprechend soziale Konflikte (auf nationaler wie auf internationaler Ebene) in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden müssen. Konflikte werden dabei als gesellschaftliche Tatbestände gefaßt, die auf Unterschieden in der sozialen Lage und/oder Unterschieden in der Interessenkonstellation der Konfliktparteien beruhen. Jeglichem Konflikt wohnt ein Gewaltaspekt inne, der sich in verschiedenen Reproduktionsbereichen einer Gesellschaft und auf unterschiedlichen Ebenen wiederfinden läßt. Die hohe Zahl und v.a. die Diversität von Konflikten führen zu unterschiedlichen Konfliktbearbeitungen und speziellen Austragungsformen, so daß Konflikte gelöst, geregelt oder verschoben werden können.

Durch die fachübergreifende Anlage des Studiengangs wird nicht nur ein interdisziplinärer Zugang zur Konfliktanalyse eröffnet, sondern gleichsam der Tatsache Rechnung getragen, daß am Ende des 20. Jhs nur durch die Bündelung intellektueller Kapazitäten verschiedener Fachgebiete eine angemessene Herangehensweise an die Vielzahl neuartiger Konflikte möglich wird.

Das Ausbildungsziel besteht in der Vermittlung von Fähigkeiten zur Analyse der Entstehung und Entwicklung von Konflikten und bezieht darüber hinaus auch verschiedene Konfliktregelungsformen mit ein. Der Studiengang will zur sozialen und friedenspolitischen Sensibilität und Handlungsbereitschaft der Studierenden beitragen, und damit einerseits die Ursachen von Kriegen und Bürgerkriegen und anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Blick nehmen, um gewaltfreie bzw. -arme Modalitäten der Konfliktbearbeitung zu ermöglichen, andererseits die vielfältigen Interdependenzen von nationalen und internationalen Konflikten aufzeigen, so daß in der Veränderung von Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen die wichtigsten Friedensursachen erkannt werden.

Dies soll mit einem Lehrangebot im Umfang der typischen Nebenfachanforderungen an der Philipps-Universität sichergestellt werden. Das grundlegende Angebot beinhaltet systematische Einführungen in das Fach FuK, in die Konflikttheorien und in mögliche Formen der Konfliktregelung. Das vertiefende Angebot unterteilt sich einerseits in Konfliktanalysen zu den Bereichen der politischen, ökonomischen und kulturellen Reproduktion und zu den Konfliktebenen Natur, Gesellschaft, Staat und internationales System sowie weiteren Veranstaltungen andererseits. Hier werden spezielle Aspekte der FuK vertieft und z.B. auch die Friedensethik und die Friedenserziehung behandelt.

Zum grundlegenden Angebot liegen drei Einführungsbände mit Text- und Readerteilen (erschienen beim Verlag Leske u. Budrich) sowie eine umfangreiche Bibliographie vor. Über den Nebenfach-Studiengang selbst informiert eine Broschüre 'Friedens- und Konfliktforschung in Marburg', die u.a. am Institut für Soziologie der Uni Marburg, Am Grün 1, 35032 Marburg kostenlos erhältlich ist.

Wissenschaftler-Aufruf – Nachdenken und Handeln

Wissenschaftler-Aufruf – Nachdenken und Handeln

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Die Wirtschafts- und Wachstums-Modelle, die
dieses Jahrhundert in den Industrieländern bestimmt haben, sind offenkundig an ihre
Grenzen gestoßen. Das Modell der Konsumgesellschaft mit sozialstaatlichen Elementen ist
in der Krise. Die neoliberale Theorie einer Entwicklung für alle durch einen
ungezügelten »freien« Weltmarkt ist, gemessen an rationalen, sozialen, ökologischen
und ethischen Maßstäben, gescheitert. Für wachsende Minderheiten in den Staaten des
Nordens bringt ihre Verwirklichung kulturelle und materielle Armut, für die Mehrheit der
Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika bedeutet sie die Entwicklung in die
Katastrophe.

Die Antwort der wirtschaftlichen und
politischen Entscheidungsträger heißt: Deregulierung, Sozialabbau, Entwicklung von
Hochtechnologien, Abschottung gegenüber Immigranten und Asylsuchenden, in der Hoffnung,
bei der Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Ländern zu den wenigen potentiellen
Gewinnern zu gehören. Militärische Gewaltmittel sollen künftig verstärkt eingesetzt
werden. Diese werden das internationale System der Ungleichheit und Verelendung eher
bewahren als beseitigen. Statt Mittel für Friedens- und Konflikt-Forschung und für die
Bekämpfung und Vermeidung der Ursachen von Hunger, Elend, Umweltzerstörung und
Konflikten bereitzustellen, werden neue und teure Rüstungs-programme bis hin zu
kostenintensiven militärischen Satellitensystemen ausgegeben. Sie sollen Europa neben den
USA zur weltweit einsetzbaren und eigenständig agierenden Militärmacht machen. Das ist
kein Ausweg aus der Krise, sondern es verstärkt sie nur.

Ein »weiter so« mit Sparpaketen und
Einschnitten in das soziale Netz führt in die falsche Richtung. Damit werden der Abbau
sozialer Systeme und die Vernichtung von Arbeitsplätzen fortgesetzt. In Deutschland fehlt
es an einer phantasievollen geistigen und politischen Alternative.

Unser Ruf richtet sich an
WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und PublizistInnen, alle, die
für sich intellektuelle Kenntnisse und Bildung in Anspruch nehmen: Wir dürfen uns nicht
länger darauf beschränken, Seismographen der gesellschaftlichen Erschütterungen und
Analytiker sich scheinbar zwangsläufig vollziehender Umbruchsprozesse zu sein, so wichtig
dies auch immer bleiben wird. Es genügt nicht, nur die Probleme zu diskutieren, wir
müssen auch die Ursachen aufdecken, Wege der Veränderung zeigen und diese öffentlich
machen. Wir sind gefordert, den Versuch eines moralischen, geistigen und politischen
Aufbruchs zu wagen, der aus der neoliberalen Hegemonie herausführt zu einem neuen
Gesellschaftsvertrag, zu Perspektiven der sozialen, kulturellen und moralischen Fragen des
Übergangs in das 21. Jahrhundert. Neuer Mut zu konkreten Utopien ist gefordert.

Wir müssen darüber nachdenken,

  • wo die Grenzen des Wachstums liegen und wie in
    einer endlichen Welt eine Gerechtigkeit der Verteilung geschaffen werden kann, die uns
    immer noch durch unendliches Wachstum versprochen wird,
  • wie und unter welchen Bedingungen
    Vollbeschäftigung verwirklicht werden kann, ohne die eine demokratische Partizipation
    aller nicht friedvoll zu verwirklichen ist,
  • wie die Umwelt erhalten und die Entwicklung
    der Dritten Welt ermöglicht werden kann, damit der Raubbau an der Natur und an den
    Menschen beendet wird und neue Nachfrage nach bezahlter und sinnvoller Arbeit entsteht und
    gerecht zu verteilen ist,
  • das heißt, wie die Leitbilder einer
    nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung (sustainable development) politische Realität
    werden können.

Engagement für diese Ziele ist notwendig.

Überschreiten wir die Grenzen unseres
Fachdenkens. Treten wir miteinander und mit den Betroffenen, mit den Gewerkschaften und
Kirchen, mit den sozialen, feministischen, ökologischen und Eine-Welt-Bewegungen ein in
den friedlichen Dialog zur gemeinsamen Suche nach und Erarbeitung von Perspektiven und
Lösungsansätzen für die Probleme unserer Zeit. Sie werden nicht allein von uns gefunden
werden, aber auch keinesfalls ohne uns. Demokratie lebt auch von der Partizipation und der
Einmischung in die gesellschaftliche Diskussion. Wir werden eines Tages gefragt werden von
der kommenden Generation: »Was habt Ihr getan?«

In der veröffentlichten Meinung sind die
neoliberalen Konzepte der gegenwärtigen Politik allgegenwärtig. Sie geben sich als
»Sachzwänge« aus, als Festhalten an Bewährtem, als das Vernünftige schlechthin.
Entkleiden wir sie des irreführenden Scheins. Tragen wir unsere Ideen für eine
geistig-politische Alternative in die Öffentlichkeit. Verstehen wir uns als Initiatoren
einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes
und der übrigen Staaten in einer sich wandelnden Welt. Wir müssen neue Zukünfte
erfinden.

  • Prof. Dr. Ulrike Beisiegel,
    Vorsitzende der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«
  • Reiner Braun,
    Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«
  • Prof. Dr. Hans-Peter Dürr,
    Max Planck Institut für Physik und Astrophysik, München
  • Dr. Jürgen Malley, Wuppertal
    Institut für Klima, Umwelt und Energie
  • Prof. Dr. Jürgen Schneider,
    Institut für Geologie, Göttingen
  • Joachim Spangenberg, Wuppertal
    Institut für Klima, Umwelt und Energie

Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:

Dr. Helmut Aichele, Erlangen; Prof. Dr. Ulrich Albrecht, Berlin; Prof. Dr. Silvia Braslavsky, Mülheim / Ruhr; Prof. Dr. Werner Buckel, Karlsruhe; Prof. Dr. Johannes Esser, Lüneburg; Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Mülheim / Ruhr; Prof. Dr. Franz Fujara, Dortmund; Dr. Martin Grundmann, Kiel; Dr. K. Hinsch, Rastede-Loy; Martin Kalinwski, Darmstadt; Dr. Wolfgang Köhnlein, Münster; Dr. Wolfgang Neef, Berlin; Dr. Joachim Nitsch, Stuttgart; Prof. Dr. Joachim Römer, Klein Emmensleben; Erich Schmidt-Eenboom, Weilheim; Prof. Dr. Hans Dieter Söling, Göttingen; Prof. Dr. Dieter von Ehrenstein, Bremen; Dr. Gerhard Weidringer, Wittelshofen; Prof. Dr. Dieter Wöhrle, Bremen; Christa Wolf und Gerhard Wolf, Berlin; Prof. Dr. Jores Wotte, Dresden

Nachhaltige Entwicklung und Frieden

Nachhaltige Entwicklung und Frieden

von Hartwig Spitzer

Ein Großteil der Diskussionen um eine nachhaltige, langfristig tragfähige Entwicklung konzentriert sich auf die Frage der Harmonisierung von Ökonomie und Ökologie. Von einer umfassenderen Perspektive erscheint nachhaltige Entwicklung als eine Ko-Evolution von Menschheit und Biosphäre, die deren Lebensfähigkeit langfristig sichert, getrennt wie auch in ihrer Wechselwirkung. Diese Sichtweise schließt die Lebensfähigkeit der sozialen Systeme und des kulturellen Lebens der Menschheit ein. Mediation, friedensschaffende Maßnahmen und gewaltfreie Konfliktlösung werden wesentliche Elemente der sozialen Überlebensfähigkeit sein, von der Familie bis hin zu zwischenstaatlichen Beziehungen. In diesem Beitrag möchte ich zunächst verschiedene Denkschulen zur nachhaltigen Entwicklung vorstellen. Anschließend werde ich Ansätze diskutieren, die auf kommunaler Ebene Nachhaltigkeit fördern und die dabei soziale und kulturelle Belange mit Ökonomie und Ökologie gleichstellen.

Die Vision einer nachhaltigen Entwicklung

Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung ist voll visionärer Kraft. Wie von der Brundtland-Kommission 1987 festgestellt, geht es dabei darum „die Bedürfnisse der heutigen Generation zu befriedigen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Hauff 1987). Das Konzept zielt auch darauf, ein neues Gleichgewicht mit der Natur zu finden. Das heißt, es umfaßt sowohl einen sozialen Traum wie auch die Vision eines Friedens mit der Natur.

Was bleibt von dieser Vision, wenn wir sie mit der Realität und unserer kritischen Analyse als Wissenschaftler und Praktiker konfrontieren? Erstens müssen wir feststellen, daß dieses Konzept sich erst in den letzten 25 Jahren entwickelt hat. Verschiedene Autoren verwenden unterschiedliche Definitionen des Begriffs »nachhaltige Entwicklung«. Verschiedene Machtgruppen versuchen, das Konzept für die Durchsetzung ihrer Interessen zu instrumentalisieren. Zweitens ist die Sache sehr komplex. Es ist nicht einfach, zu einer umfassenden Analyse sowie glaubwürdigen und umsetzbaren Durchführungsstrategien zu gelangen. Daher möchte ich verschiedene Vorstellungen zur Nachhaltigkeit diskutieren.

Drei Denkschulen

Ich sehe drei Denkschulen zur nachhaltigen Entwicklung:

a) »schwache« Nachhaltigkeit (Nachhaltigkeit auf zwei Ebenen),

b) Nachhaltigkeit auf drei Ebenen (Ökonomie, Umwelt, Soziales),

c) erweiterte Nachhaltigkeit.

Schwache Nachhaltigkeit

Schwache Nachhaltigkeit fordert eine »Ehe zwischen Ökonomie und Ökologie«. Das Konzept definiert Grenzwerte und Richtlinien, die einen Kompromiß zwischen den Erfordernissen der Umwelt und wirtschaftlichen Kosten darstellen sollen. Es zielt auf eine Optimierung der Ressourceneffizienz und eine Minimierung von Abfällen. Da die Bewertung üblicherweise auf ökonomische Kosten-Nutzen-Analysen gestützt ist, wird der tatsächliche Wert der Umwelt hier systematisch zu niedrig angesetzt. (Friends of the Earth 1995, S. 9). Zudem wird die soziale Dimension weitgehend ausgeklammert.

Diese abgeschwächte Nachhaltigkeit ist im Norden in weiten Kreisen, insbesondere in der Industrie, immer noch die vorherrschende Denkrichtung. Ich möchte dazu ein Beispiel nennen:

Der deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt« eingesetzt, die sich mit der Umsetzung von Strategien einer nachhaltigen, »zukunftsverträglichen« Entwicklung befassen soll. Diese Kommission stellte verschiedenen Experten die folgende Frage: „Was verstehen Sie unter nachhaltiger Lebensweise in Zusammenhang mit Bauen und Wohnen?“ Eine typische Antwort lautete: „Nachhaltig wäre eine Lebensweise, die zu einer deutlichen Reduktion der zum Zwecke des Bauens und Wohnens eingesetzten Material- und Energiemengen führen würde.“ (Umweltbundesamt 1996, S. 32).

Nachhaltigkeit auf drei Ebenen

Hier werden die Anforderungen der Wirtschaft, der Umwelt und des Sozialen gleichberechtigt behandelt, wie in Abb. 1 gezeigt. Die Brundtland-Komission ebnete den Weg zur Einbeziehung der sozialen Bedürfnisse. Auf der Konferenz der Vereinten Nationen zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 wurde dies offiziell akzeptiert. Die Interpretation nachhaltiger Entwicklung als ausgewogene wirtschaftliche, ökologische und soziale Anstrengung entstand als Kompromiß zwischen den Forderungen des Südens nach sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung und den Umweltschutzinteressen zahlreicher nördlicher Staaten.

Das Drei-Ebenen-Konzept nachhaltiger Entwicklung wurde in Europa in den Pionierstudien »Sustainable Netherlands« (Milieu Defensie 1992), »Towards a Sustainable Europe« (Friends of the Earth 1995) und »Zukunftsfähiges Deutschland« (BUND/Misereor 1996) erarbeitet. Danach basiert Nachhaltigkeit auf zwei grundlegenden Prinzipien:

  • Begrenzung des Verbrauchs von Umweltressourcen auf ein nachhaltiges Maß,
  • gleichberechtigter Zugang zu Umweltressourcen für alle Menschen.

Die natürliche Umwelt wird in diesem Konzept vornehmlich als Ressourcenbasis gesehen, die im Interesse menschlichen Lebens effizient genutzt werden sollte.

Erweiterte Nachhaltigkeit

Ich schlage vor, erweiterte Nachhaltigkeit als eine Sicht der Welt zu verstehen, die den Menschen eine bescheidenere Rolle zuschreibt. Nachhaltige Entwicklung wird hier als Ko-Evolution von Menschheit und Biosphäre verstanden, die deren langfristige Lebensfähigkeit gewährleistet, sowohl einzeln als auch in ihrem Zusammenspiel (INES 1996). Pflanzen und Tieren wird ein eigenes Lebensrecht zugewiesen. Die Menschen sind aufgefordert, anderen Arten (insbes. höheren Tieren) einen Raum zum Leben zu überlassen, auch wenn sie nicht als Lebensgrundlage des Menschen dienen.

Erweiterte Nachhaltigkeit schließt auch die bewußte Pflege der kulturellen Sphäre als Grundlage für nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweisen mit ein. Ich werde auf dieses Thema noch einmal zurückkommen.

Versuche, nachhaltige Entwicklung zu operationalisieren

Bisher blieben die dargestellten Konzepte und Prinzipien sehr allgemein. Noch ist nicht geklärt, wie die Prinzipien in die Praxis umgesetzt werden können. Wir können aber einige Orientierungspunkte aus der Tatsache ableiten, daß sowohl die Tragfähigkeit lebensnotwendiger Ökosysteme als auch der Vorrat nicht-erneuerbarer Ressourcen begrenzt sind. Es gibt »Wachstumsgrenzen«. Diese Grenzen können quantifiziert und zu politischen Richtlinien gemacht werden. Diese Absicht liegt politikorientierten Ansätzen zur nachhaltigen Entwicklung zugrunde. Lassen Sie mich einige dieser Ansätze erwähnen.

Konzepte für umweltverträgliche Produktion und umweltverträgliche Materialkreisläufe

Viele verschiedene Konzepte und Analyseintrumente für umweltverträgliche Produktion sind in den letzten Jahren entwickelt worden, und sie werden jetzt auch von innovativen Unternehmen und von einigen Verwaltungen in Ländern des Nordens eingesetzt. Hierzu gehören

  • Öko-Audit von Unternehmen (umfassende Umweltberichterstattung für alle Aktivitäten des Unternehmens),
  • Lebenszyklusanalyse von Produkten (»von der Wiege bis ins Grab«),
  • Analyse der Materialflüsse in verschiedenen Industriezweigen,
  • ökologisch effizientes Design,
  • Recycling.

Das Rahmenwerk für Industriestandards ISO 14000 setzt Standards für umweltverträgliches Management. Erste Erfolge sauberer und ressourcenschonender Produktion werden sichtbar. Jedoch merken die Kritiker an, daß auch eine »grünere« Produktion die Umwelt nicht notwendigerweise entlastet, wenn gleichzeitig das Konsumniveau steigt. Ein erweiterter Ansatz, der auch die Nachfrageseite beachtet, ist notwendig. Seine Vertreter schlagen der Industrie vor, Dienstleistungen statt stofflicher Güter zu verkaufen. Stellen wir uns ein Energieversorgungsunternehmen vor, das sich entscheidet, »den Komfort eines warmen Zimmers« zu niedrigsten Umweltkosten zu verkaufen und nicht nur Gas oder Fernwärme. Eine solche Gesellschaft würde wahrscheinlich auch Isolierungslösungen für Häuser anbieten (siehe z.B. BUND/Misereor 1996).

Kriterien zur Bestimmung der Tragfähigkeit der Umwelt (Umweltraum)

Die für die Umwelt verkraftbaren Verbrauchsgrenzen werden für die meisten nicht-erneuerbaren Rohstoffe nicht durch die Tatsache bestimmt, daß es sich um begrenzte Ressourcen handelt, sondern durch die Belastbarkeit der Ökosysteme. Die Umweltbelastungen, die bei der Gewinnung von Rohstoffen und durch Emissionen verursacht werden, sind das Problem. Erste Schätzungen deuten an, daß der Rohstoffdurchsatz der Weltwirtschaft auf die Hälfte vermindert werden müßte, wenn ein nachhaltiges Niveau des Verbrauchs erreicht werden soll (Friends of the Earth 1995, S. 38).

Die Gruppe um F. Schmidt-Bleek am Wuppertal-Institut entwickelte eine Methode dafür, den durch menschliche Wirtschaftsaktivitäten verursachten Materialfluß zu ermitteln. Dieser Materialfluß ist etwa zweimal so groß wie der „natürliche“ Materialfluß in der Lithosphäre (Bewegung fester Materialien oder Partikel, z.B. durch Erosion der Gebirge, Staubstürme etc.). Abb. 2 zeigt Beispiele transportierter Mengen aus den Bereichen Steinkohlebergbau und Baumaterialien in Deutschland. Die über die verkauften Materialmengen hinausgehenden Materialflüsse (z.B. durch Abraumbewegung) gelten als »ökologischer Rucksack«. Abb. 3 zeigt die ökologischen Rucksäcke verschiedener nach Deutschland im Jahre 1989 importierter Rohstoffe. Die Rucksäcke sind weitaus größer als die tatsächlich importierten Mengen. Im Herkunftsland hinterlassen sie Wunden in der Umwelt. Ein weiteres Beispiel: Die Niederlande nutzen im Ausland für ihren Verbrauch und ihre Futtermittelimporte eine landwirtschaftliche Fläche, die siebenmal größer ist wie die gesamte kultivierte Fläche innerhalb ihrer Grenzen (60<0> <>% der Oberfläche der Niederlande werden landwirtschaftlich genutzt (Besselink 1994, S. 57)).

Gestützt auf die früheren Arbeiten in den Niederlanden (insbesondere von H. Opschoor) verwendet die Studie von (Friends of the Earth 1995) den Umweltraum als ein Maß für Tragfähigkeit und Konsumziele. Der Umweltraum bezeichnet die Menge an Energie, Wasser, Land, nicht-erneuerbaren Rohstoffen und Holz, die wir nutzen können, ohne die Tragfähigkeit der Ökosysteme zu überfordern. Alle Staaten Europas, unabhängig von ihrem jeweiligen Lebensstandard, sollen sich derzeit weit jenseits der Grenzen eines umweltverträglichen Ressourcenverbrauchs befinden.

Die Tabelle zeigt den durchschnittlichen Umweltraum pro Kopf und Jahr für ganz Europa (vom Atlantik bis zum Ural). Verglichen mit dem derzeitigen Pro-Kopf-Verbrauch ergeben sich erforderliche Verbrauchsverminderungen um 50 bis 90<0> <>% für viele nicht-erneuerbare Ressourcen. Der verfügbare Umweltraum hängt von verschiedenen Annahmen hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit der regionalen Ökosysteme, des Grads regionaler Selbstversorgung usw. ab. Weitere Details finden sich in (Friends of the Earth 1995).

Obwohl dieser Ansatz noch sehr schematisch ist, wird er inzwischen in Detailstudien eingesetzt, die die besonderen Bedingungen von 31 europäischen Staaten von Portugal bis Georgien berücksichtigen (Spangenberg 1996 a). Aus mehreren außereuropäischen Regionen liegen bereits Anfragen nach Kooperation bei der Erstellung ähnlicher Studien für ihre Länder vor.

Ich habe mich hier auf einige Ansätze, die aus Europa kommen, beschränkt. Es gibt darüberhinaus auf der globalen Ebene ein ganzes Spektrum an Arbeiten zu quantitativen Werten und politischen Richtlinien, z.B. bei den Vereinten Nationen (UNEP, UNDP etc.) und der Weltbank (siehe z.B. van Dieren 1995).

Indikatoren für soziale Nachhaltigkeit

Was ist soziale Nachhaltigkeit? Welche sozialen »Gewebe« und Interaktionen sind notwendig, wenn die Bedürfnisse gegenwärtiger und zukünftiger Generationen gleichermaßen berücksichtigt werden sollen? Auf der einen Seite muß jede Gesellschaft und jedes Individuum einen Weg finden, grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Unterkunft usw. zu befriedigen. Von gleicher Bedeutung ist die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse z.B. nach Anerkennung, Kommunikation und Teilhabe sowie nach persönlicher Entwicklung.

Es gibt weitere wichtige Elemente der sozialen Nachhaltigkeit, insbesondere

  • die Integration von Geburt und Tod in die sozialen Prozesse,
  • die Fürsorge für Kinder und alte Menschen,
  • Erziehung und Ausbildung
  • Gesundheitssysteme,
  • geregelte Wege der Entscheidungsfindung,
  • gewaltfreie Konfliktlösung und Rechtsprechung.

Wouter van Dieren sieht die soziale Nachhaltigkeit als eine soziales Rahmenwerk menschlicher Organisationen, die Selbstbestimmung und einen selbstkontrollierten Zugang zu natürlichen Ressourcen ermöglichen. Ressourcen sollen derart genutzt werden, daß eine gerechte Verteilung und die Förderung nach sozialer Gleichberechtigung erreicht werden, so daß soziale Unruhe vermindert wird. „Soziale Nachhaltigkeit kann nur entstehen bei hoher und systematischer Teilhabe der Gemeinschaft oder in einer Zivilgesellschaft. Soziale Strukturen, die kulturelle Identität, Institutionen, die Liebe, ein allgemein gültiger Standard an Ehrlichkeit, Recht, Disziplin etc. sind Teil des sozialen Kapitals, das i.d.R. nicht berechnet wird, aber für die soziale Nachhaltigkeit wahrscheinlich von größter Bedeutung ist.“ Dieses »Moralkapital« muß aus religiösen und gesellschaftlichen Einrichtungen gespeist werden. Ohne eine solche Basis wird das soziale Kapital zerfallen und – ähnlich wie das Naturkapital – verbraucht (van Dieren 1995).

Für die politische Ebene wurden mehrere, in Abb. 3 dargestellte Sozialindikatoren vorgeschlagen wie

  • Gesundheit,
  • Bildung,
  • Teilhabe,
  • Gerechtigkeit und Recht,
  • Gleichberechtigung der Geschlechter.

Eine detailliertere Diskussion der Sozialindikatoren findet sich in (van Dieren 1995). Sozialindikatoren können als Maßstab für die Entwicklungs- und Sozialpolitik dienen.

Soziale Nachhaltigkeit und Frieden

Wie oben gesagt, ist soziale Nachhaltigkeit auf allgemein gültige und tragfähige Prozeduren der Entscheidungsfindung, der Rechtsprechung und der friedlichen Konfliktregelung angewiesen. Dies gilt für alle Ebenen der Gesellschaft und ebenso für zwischenstaatliche Beziehungen. Jede Gesellschaft und die Weltgemeinschaft der Staaten befinden sich in einem ständigen Prozeß der Anpassung und Neuverhandlung der Rechtssysteme und der Rahmenwerke für Standards, Werte und Rechte. Veränderungen setzten sich in diesem Jahrhundert schnell durch. Z.B. hatten 1913 nur drei Länder den Frauen das volle Wahlrecht zuerkannt (Australien, Neuseeland und Norwegen).

Für die Zukunft sehe ich die folgenden Probleme, was Konflikte und Konfliktlösung betrifft:

  • In vielen Gesellschaften wird der »Modernisierungs-Stress« aufgrund schnellen Wandels in der wirtschaftlichen, sozialen, technologischen und kulturellen Umwelt noch zunehmen. Schneller Wandel kann in Verbindung mit wachsender Armut zu Gewalt auf vielen Ebenen führen.
  • Die Verteilungskonflikte um knappe natürliche und soziale Ressourcen werden wahrscheinlich in vielen Regionen der Welt zunehmen.
  • Multiethnische Staaten wie China und Indien werden starken separatistischen Kräften unterliegen.
  • Multinationale Konzerne und das transnationale organisierte Verbrechen werden weiterhin die Macht und die Kontrolle der Nationalstaaten unterminieren und schwächen.
  • Althergebrachte militärische Vorgehensweisen werden immer weniger in der Lage sein, die Konflikte neuen Typs zu bewältigen, insbesondere in den ersten Stadien eines Konflikts.

Glücklicherweise entwickeln sich neue Instrumente, soziale Fertigkeiten und Organisationen (insbes. Nichtregierungsorganisationen, (NGOs)), die zur Lösung einiger der oben genannten Probleme beitragen können. Ich möchte nur einige Beispiele (insbes. aus dem europäischen Kontext) nennen:

  • Die Technik der Mediation kann zur Überwindung von festgefahrenen Situationen innerhalb des Rechtswesens beitragen, wenn sie konstruktiv zur Konfliktlösung eingesetzt wird. Mediation und Vermittlung durch Dritte sind bereits erfolgreich in verschiedenen internationalen Konflikten eingesetzt worden.
  • Nicht-Regierungsorganisationen trainieren Freiwillige für die friedliche Konfliktbearbeitung im Ausland. In Bosnien arbeiten im Moment wahrscheinlich etwa 1500 solcher Friedensarbeiter. Das Europäische Parlament stellte aus ähnlichen Überlegungen heraus bei der EU-Kommission den Antrag, einen europäischen Zivildienst einzurichten. Über das Projekt eines Euro-Friedens-Korps wird zur Zeit verhandelt.

Der relative Erfolg der NGO-Friedensarbeit und der Vermittlung durch Dritte zeigt sich im Baltikum, in Rumänien und in Mazedonien, wo ein offener Krieg oder exzessive interethnische Gewalt verhindert werden konnte, obwohl es in allen drei Fällen ein beachtliches Konfliktpotential gibt.

  • Wehrdienstverweigerer tragen zur Zivilisierung und Demilitarisierung einiger westlicher Gesellschaften bei (allerdings nicht in den USA). In Deutschland z.B. verweigern ein Drittel aller jungen Männer (160 000 im Jahr) den Dienst in der Armee und entscheiden sich für den Zivildienst. Sie wählen damit einen Dienst, der mehr Lebenszeit von ihnen fordert und der oftmals physisch und emotional anspruchsvoller ist als der Militärdienst. Mein Sohn z.B. betreute während seines Zivildienstes geistig und körperlich schwerbehinderte Erwachsene. Interessanterweise führen die meisten ehemaligen »Ost-Block-Staaten« einen alternativen nicht-militärischen Dienst ein.
  • NGOs können auf multinationale Konzerne oft wirksamer Druck ausüben als Regierungen (wie im Falle von Greenpeace gezeigt).

Diese neuen Formen nicht-gewaltsamer konstruktiver Konfliktbearbeitung sind Signale der Hoffnung. Aber wir können nicht sicher sein, daß sie ausreichen, Bürgerkriege und grenzübergreifende Konflikte in den kommenden Jahren zu verhindern. Friedensschaffung und Konfliktvermeidung bleiben weit oben auf der Tagesordnung.

Ansätze zur Nachhaltigkeit auf der kommunalen Ebene

Wer sind die Akteure und Initiatoren der Durchsetzung nachhaltiger Entwicklung? Ich sehe drei Richtungen für Ansätze:

a) Top-down,

b) Zwischenoptionen,

c) Bottom-up.

Top-down-Ansätze

Top-down-Ansätze (wie Entwicklungsprogramme der Weltbank, nationale Nachhaltigkeits-Programme, Studien wie »Towards Sustainable Europe« oder Unternehmensprogramme für Umweltmanagement) beginnen mit umfassenden konzeptionellen Analysen. Anschließend erstellt eine Kerngruppe Umsetzungsprogramme und Richtlinien. Die erfolgreiche Umsetzung solcher Programme und Richtlinien hängt weitgehend von der Unterstützung durch die (politische) Führung auf höchster Ebene ab. Dies gilt insbesondere für Unternehmen. Die Umsetzung scheitert auch dann, wenn die Mitarbeit von Akteuren des mittleren Managements bzw. der Wählerschaft und der Medien nicht gewonnen werden kann.

Zwischenoptionen

Zwischenoptionen zielen auf die Mediation eines weitgehend selbstorganisierten Prozesses in einer Stadt oder einer Region. Die Initiatoren eines solchen Vorgehens versuchen eher, einen Prozeß zu katalysieren, an dem wichtige regionale Mitspieler (wie führende örtliche Industrievertreter und Geschäftsleute, Umweltgruppen, Lokalpolitiker, die öffentliche Verwaltung) beteiligt sind, als einen Masterplan zu entwerfen, der von oben nach unten durchgesetzt wird. Während eines solchen Prozesses entsteht eine gemeinsame Vision. Die Projekte und Programme zur Förderung der Nachhaltigkeit werden partizipativ, d.h. durch Teilnahme, erarbeitet. Letztendlich hängt ihre erfolgreiche Umsetzung aber wieder von der Zustimmung der politischen und industriellen Eliten und von der Zusammenarbeit der wichtigen Akteure ab.

Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg und der »Ulmer Initiativkreis für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung« haben in Deutschland interessante Pilotprojekte initiiert. In meiner Heimatstadt Hamburg wurde im März 1996 von einem lockeren Bündnis, dem Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen, Vertreter der Kirchen und höherer Bildungseinrichtungen und Mitglieder der örtlichen Geschäftswelt angehören, ein Zukunftsrat gegründet. Der Rat fördert die Arbeit für eine lokale Agenda 21 für Hamburg.

Bottom-up-Ansätze

Bottom-up-Ansätze konzentrieren sich auf die Gemeinschaftsbildung als Bindemittel und Energiequelle für einen Prozeß, der die Entwicklung nachhaltiger Lebensweisen zum Ziel hat. Solche Gemeinschaften streben nach einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer, kultureller und spiritueller Nachhaltigkeit.

Zur spirituellen Basis einer Gemeinschaft gehören die gemeinsamen Visionen, die Bereitschaft zur Mitarbeit, ein gemeinsamer Wertekanon und gemeinsame Feste. Dutzende oder Hunderte solcher Gemeinschaften entstanden in den letzten 10 oder 20 Jahren. Die bekanntesten sind die Findhorn-Gemeinschaft in Schottland (150 Mitglieder und etwa 400 assozierte Fördermitglieder), Auroville in Indien (mehrere Hundert Mitglieder) und die »Farm« in den USA (mehr als 1000 Mitglieder). Ich finde Initiativen besonders interessant, die versuchen, in Städten ein an Nachhaltigkeit orientiertes Leben und Arbeiten zu entwickeln, wie im Eco-Village Los Angeles (in Downtown Los Angeles). Eine nähere Beschreibung von gemeinschafts-orientierten Initiativen wird in einer Studie des Gaia-Trust gegeben (Gaia Trust 1994).

Ich muß zugeben, daß ich nur wenig über ähnliche Ansätze außerhalb Europas weiß. Ich bin sicher, es gibt sie, und sie haben eine zukunftsweisende Bedeutung.

Abschließende Bemerkung

Wenn ich zurück und in die Zukunst schaue, komme ich zu der Überzeugung, daß das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung eine der größten kulturellen Herausforderungen ist, mit denen die Menschheit jemals konfrontiert wurde. Es gibt einen offensichtlichen Weg, auf dem wir und zukünftige Generationen lernen werden, „im Einklang mit der Natur“ zu leben. Aber dieser Weg ist gekennzeichnet von Katastrophen und Knappheit. Gibt es andere Wege, auf denen wir lernen können, in einer Welt mit begrenzten natürlichen Ressourcen umwelt- und sozialverträglich zu leben. Wir wissen es nicht. Aber es ist den Versuch wert. Der INES-Kongreß »Challenges of Substainable Development« in Amsterdam (22.-25. August 1996) war ein solcher Suchschritt. Dort manifestierte sich ganzheitliches Denken, technische Expertise, ethische Verankerung und vielseitige Kreativität, wie wir sie für die Zukunft brauchen.

Jetziger Pro-Kopf-Verbrauch von Ressourcen (Europa Durchschnitt) und umweltverträgliche Zielwerte
(Environmental Space).
Resource Present use
per cap.p.a
.
Environmental space
(Per cap p.a.)
Change needed (%)
CO2 emissions 7,3 t 1,7 t -77
Primary energy use 123 GJ 60 GJ -50
<+><+>Fossil Fuels(a) 100 GJ 25 GJ -75
<+><+>Nuclear 16 GJ 0 GJ -100
<+><+>Renewables(b) 7 GJ 35 GJ +400
Non-renewable raw materials + + +
<+><+>Cement 536 kg 80 kg -85
<+><+>Pig iron 273 kg 36 kg -87
<+><+>Aluminium 12 kg 1.2 kg -90
<+><+>Chlorine 23 kg 0 kg -100
Land use pattern + + +
<+><+>Built-up land 0.053 ha 0.051 ha -3.2
<+><+>Inland waters 0.009 ha as now 0
<+><+>Protected Sites 0.003 ha 0.061 ha +1933
<+><+>Woodland 0.164 ha 0.138 ha -16
<+><+>Arable land(c) 0.237 0.100 ha -56
Wood 0.66 m3 0.56 m3 -15
Water Regional and national estimates neede,
European targets not adequate
(a) coal, lignite,oil, gasw; (b) Wind, hydropower, fuelwood, biomass incineration, solar heating, etc.; (c) incl. pernnial crops,excludin permanet meadows and pasture land.
Quelle: Spangenberg 1996, S. 7

Literatur

Besselink, Kas 1994: The Netherlands and the World Ecology, Netherlands Committee for IUCN, Plantage Middenlaan 2B, NL 1018 DD Amsterdam, 116 S.

BUND/Misereor (Hg.) 1996: Zukunftsfähiges Deutschland, Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energy, Birkhäuser, Basel, 453 S.

Friends of the Earth Europe (Hg.) 1995: Towards Sustainable Europe, Brüssel, ISBN 1 85750 2531, 347 S.

Hauff, Volker 1987: Unsere gemeinsame Zukunft, der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Eggenkamp-Verlag, Greven, 421 S.

Gaia Trust 1994: Eco-Villages and Sustainable Communities, Gaia Trust, Skyumsvej 101, 7752 Snedsted, Denmark 1994, 213 S.

INES 1996: International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility, Statement of Intent of the International Congress »Challenges of Sustainable Development«, Amsterdam 22.-25. August 1996, c. o. INES Postfach 101707, Dortmund.

Renn, Ortwin 1995: A regional Concept of Qualitative Growth and Sustainability, Center for Technology Assessment in Baden-Württemberg, Discussion Paper No. 2, Februar 1995. ISBN 3-930241-05-6, c. o. Industriestr. 5, 70565 Stuttgart.

Spangenberg, Joachim H. (Ed.) 1996: Sustainable Europe: The Linkage of Economic, Environmental and Social Criteria, Executive Summary of »Towards Sustainable Europe«, A Study for Friends of the Earth Europe, Wuppertal-Institute, Postfach 100480, 42004 Wuppertal.

Spangenberg, Joachim H. 1996 a: Private Mitteilung

Umweltbundesamt 1996: Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung »Soziale Entwicklungen im Lebensbereich Bauen und Wohnen«, Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission Schutz des Menschen und der Umwelt«, Kommissionsdrucksache 13/2a Bonn, 21.Mai 1996, 53113 Bonn, Bundeshaus.

Van Dieren, Wouter 1995: Mit der Natur rechnen, Birkenhäuser, Basel, 330 S.

Hartwig Spitzer ist Professor für Physik an der Universität Hamburg. Er ist Sprecher der Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit in der Universität Hamburg (CENSIS) und Vorsitzender des Exekutivkommittees des International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility (INES).

Leitbilder für nachhaltige Entwicklung und Frieden

Leitbilder für nachhaltige Entwicklung und Frieden

von Wolfgang Bender

In dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung »Unsere gemeinsame Zukunft« – 1983 durch die Vereinten Nationen in Auftrag gegeben – wird der Ausdruck »sustainable development« als politischer Leitbegriff eingeführt. Der Brundtland-Bericht – so wird inzwischen das Dokument nach der Kommissions-Vorsitzenden Gro Harlem Brundtland genannt – wollte damit eine Entwicklung bezeichnen, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Im Vordergrund stand damals die dauerhafte Überwindung der Armut.

Dieser Bericht ebnete den Weg zur »United Nations Conference on Environment and Development« (UNCED), der Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Seitdem ist die ökologische Dimension des Begriffs »sustainable development« klar erkannt. Der seit den achtziger Jahren auf den verschiedensten Ebenen laufende Prozeß der Analyse der Weltsituation, des Nachdenkens und des Austauschs darüber hat dazu geführt, daß »sustainable development« zu einem allgemein akzeptierten Leitbegriff für politisches Handeln geworden ist. Dies bedeutet allerdings noch nicht, daß die Inhalte des Begriffs schon hinreichend geklärt und auch darüber Einmütigkeit erzielt seien. Es heißt auch nicht, daß er die praktische Politik auf nationaler und internationaler Ebene oder die Entscheidungen anderer gesellschaftlicher Akteure schon wesentlich beeinflußt. Aus diesem Grund werden im Folgenden Informationen zusammengetragen und Überlegungen angestellt, die sowohl zur inhaltlichen Präzisierung als auch zur gesellschaftlichen Umsetzung einer notwendigen Leitidee beitragen können. Leitendes Motiv wird dabei die Frage nach den ethischen Dimensionen des Begriffs der »nachhaltigen Entwicklung« – diese Übersetzung wird inzwischen allgemein gebraucht – sein.

Ethische Dimensionen eines Leitbegriffs

In der Tat ist der politische Begriff der nachhaltigen Entwicklung kein analytischer, sondern ein normativer. Er stellt ein Handlungsziel vor, an dem sich gesellschaftliche und politische Entscheidungen orientieren sollen. In ihm sind zwei ethische Leitideen – Immanuel Kant sprach von regulativen Ideen, an denen sich alle unseren Handlungen auszurichten hätten – enthalten: die einer umfassenden Gerechtigkeit und die der Bewahrung der Natur.

Umfassende Gerechtigkeit

Was ist Gerechtigkeit? Hier kann natürlich kein Traktat geschrieben und auch nicht die verzweigte Diskussion über die Gerechtigkeit wiedergegeben werden.1 Ich hebe nur einige Gesichtspunkte hervor, die mir angesichts der gegenwärtigen Situation in unseren Gesellschaften besonders wichtig zu sein scheinen. Es war und ist weitgehend unbestritten, daß ein bestimmendes Merkmal der Gerechtigkeit die Gleichheit ist. Gleichheit kann sich beziehen auf die persönlichen Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Berufs- oder der Partnerwahl, auf die Lebenschancen und die Einflußmöglichkeiten sowie auf die Verteilung von Gütern. In vielen Gesellschaften, aber nicht in allen, ist das gleiche Recht aller auf die persönlichen Grundfreiheiten grundsätzlich akzeptiert und verfassungsrechtlich abgesichert. Ähnliches gilt für die Gleichheit der Chancen, aufgrund einer qualifizierten Bildung und Ausbildung Ämter und Positionen einnehmen zu können, die Einflußmöglichkeiten auf die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens eröffnen. In allen Gesellschaften werden dagegen Ungleichheiten bei der Verteilung von Gütern, Einkommen und Vermögen als mit der Gerechtigkeit vereinbar angesehen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Diese Bedingungen sind unterschiedlicher Art und umstritten. Für manche reicht es bereits aus, wenn die – mitunter ja sehr beträchtlichen Güter – rechtmäßig erworben und somit durch einen gültigen Eigentumstitel abgesichert sind. Andere knüpfen eine Bedingung daran, daß ein solcher Titel erhalten bleibt; sie sprechen von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, zum Beispiel des Großgrundbesitzes oder des Besitzes von Kapital oder von Produktionsmitteln. Oder es wird – wie in der Theorie der Gerechtigkeit von J. Rawls – gefordert, daß die Ungleichheiten von Einkommen und Vermögen mit Vorteilen für die Benachteiligten – die ohne diese Ungleichheiten nicht erreicht werden könnten – verbunden sein müßten. Faktisch sind in allen Gesellschaften, keinesfalls nur in den Entwicklungsländern, ganz erhebliche Ungleichheiten im Hinblick auf die Verteilung von Gütern zu beobachten. Häufig werden sie unter Hinweis auf eine der genannten Bedingungen gerechtfertigt.

Diese Rechtfertigungen sind fragwürdig. Ich möchte dies durch die folgende Überlegung plausibel machen: Selbst in konservativen gesellschaftlichen Ordnungstheorien wird das Recht auf privates Eigentum – auch an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln – damit begründet, daß es als materielle Grundlage zur Ausübung der personalen Freiheitsrechte notwendig sei. Mit anderen Worten, eine Person braucht Eigentum, wenn sie sich frei entfalten können will. Wer also kein Eigentum hat, um dessen persönliche Freiheitsrechte und um dessen Chancengleichheit, die theoretisch zugestanden und oft rechtlich verbrieft wird, ist es schlecht bestellt. Wer aber materiell gut ausgestattet ist, der hat die besseren Chancen der Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Einflußnahme.

Zur Gerechtigkeit gehören Freiheit und Gleichheit. Freiheit gibt es nicht unabhängig von Gleichheit. Angesichts der gravierenden Ungleichheiten in der Verteilung der Güter ist nach dem regulativen Prinzip zu verfahren, mehr Gleichheit herzustellen. Allerdings müssen auch situationsbezogene Ungleichheiten berücksichtigt werden. So würde es nicht gegen Grundsätze der Gerechtigkeit und Gleichheit verstoßen, wenn Menschen in kälteren Zonen der Erde ein höheres Quantum an Energieverbrauch zugestanden würde als in den warmen Erdteilen oder wenn jungen Menschen, die ihre persönliche, berufliche und familiäre Zukunft gestalten wollen, ein höheres Einkommen zugebilligt würde als älteren. Nur durch die Berücksichtigung solcher situationsbezogenen Ungleichheiten kann die Gleichheit im Sinne von Gerechtigkeit verwirklicht werden. Mag man dem auch noch im Grundsatz zustimmen, so wird der Streit um die konkrete Realisierung heftig entbrennen. Es ist aber in jedem Fall besser, den Konflikt um die Gleichheit aufzunehmen, nach Kompromissen und Verständigungsmöglichkeiten zu suchen, als das Thema Gleichheit vorzeitig durch fragwürdige Rechtfertigungen von Ungleichheiten zu beschließen.

Wenn ich von »umfassender« Gerechtigkeit gesprochen habe, dann hatte ich zum einen diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit im Blick. Mit umfassender Gerechtigkeit verbinde ich aber auch deren globale und zukunftsorientierte Dimension. Die Gerechtigkeitsforderungen gelten nicht nur in den eigenen nationalen Gesellschaften und Staatenbündnissen, sondern weltweit; Gerechtigkeit ist auch als internationale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nachdem wir um die erhebliche zeitliche Reichweite menschlicher Handlungen und ihrer beabsichtigten und nichtbeabsichtigten, vorhergesehenen, vorhersehbaren und nicht vorhergesehenen Folgen wissen, tritt auch die Zukunftsdimension der Gerechtigkeit gegenüber den kommenden Generationen – die intergenerationelle Gerechtigkeit – als Sollensforderung auf.

Bewahrung der Natur

Mit Gerechtigkeit ist der soziale, mit Bewahrung der Natur der ökologische Imperativ im politischen Leitbegriff der nachhaltigen Entwicklung angesprochen. Bereits die frühen Agrarkulturen kannten diesen Imperativ und tradierten ihn, so wie es die biblische Schöpfungserzählung mit dem Auftrag, den Garten zu bebauen und zu bewahren, tut. In den Zeiten der Kolonisierung und des zunächst so beeindruckenden Fortschritts der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation ist dieser Imperativ nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Der Prozeß eines Umdenkens wurde entscheidend durch den ersten Bericht des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« aus dem Anfang der siebziger Jahre gefördert. Die Ressourcen sind begrenzt, hieß die erste Einsicht, die Aufnahmefähigkeit für die Relikte ihres Verbrauchs ebenfalls, lautete eine zweite. Das Bewußtsein von einer Risikogesellschaft, die niemand ernsthaft auf Dauer wollen kann, verbreitete sich. Die internationale Anerkennung fand der ökologische Imperativ in der Agenda 21 der Konferenz von Rio de Janeiro.

Was aber beinhaltet dieser Imperativ? Worauf bezieht er sich? Er bezieht sich auf das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen anorganischen Materialien und lebenden Organismen, zwischen begrünter Erde, Wasser und Luft, zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, zwischen menschlicher Zivilisation und „natürlicher“ Umwelt samt ihrer Artenvielfalt. Der ökologische Imperativ von der Bewahrung der Natur fordert, daß die Bedingungen des Lebens auf der Erde erhalten bleiben und gefördert werden. Insofern diese Bedingungen durch menschliche Aktivitäten bereits erheblich gefährdet worden sind und es weiter werden, fordert die erste und elementarste Stufe der Verwirklichung des ökologischen Imperativs die entschiedene Minderung dieser Beeinträchtigungen, eine zweite Stufe ihre Beseitigung und eine dritte die Förderung der lebensfreundlichen Zusammenhänge auf der Erde. Diese Stufen sind nicht so zu verstehen, als ob sie nur nacheinander zu realisieren wären. Sie sind gleichzeitig in Angriff zu nehmen, wobei aber ohne die entschiedene Arbeit an der Verminderung der Ausbeutungen und Schädigungen die an zweiter und dritter Stelle genannten Ziele nicht sinnvoll in Angriff genommen werden können.2

Bewahrung der Natur und Gerechtigkeit

Die ökologische Krise ist nicht ohne die Lösung der gesellschaftlichen Krisen zu bewältigen.3

Auch diesen Zusammenhang bringt der Leitbegriff der nachhaltigen Entwicklung auf eine Formel. Bezüglich der ethischen Imperative der Bewahrung der Natur und der Gerechtigkeit bedeutet dies, daß sie gleichrangig zu berücksichtigen sind. Will man die zusammengehörigen Gesichtspunkte in einem einzigen Imperativ – ausdrücken, so bietet sich die folgende Formulierung an: „Handle so, daß du das personale (soziale, emotionale, musische, sittliche, religiöse) Leben in dir und anderen eher mehrst und entfaltest denn minderst oder verkürzt.“ 4

Dieses sogenannte Biophilie-Postulat – das Postulat der Lebensfreundlichkeit – hat die Erhaltung und Entfaltung des menschlichen Lebens zum Ziel und bleibt somit anthropozentrisch. Es ist in jedem Fall mit der Einsicht zu verbinden, daß personales Leben nur im Zusammenhang alles Lebendigen und seiner Umwelt geschützt und gefördert werden kann. Daraus ergibt sich eine Erweiterung des Postulats: „Handle so, daß du das Leben in dir und allem Lebendigen eher mehrst und entfaltest denn minderst oder verkürzt.“ 5

Dann muß aber geklärt werden, wo die Grenzen des Imperativs – zum Beispiel bei Krankheitserregern oder Schädlingen, beim Überhandnehmen einer Population auf Kosten einer anderen, bei den Notwendigkeiten der Ernährung – liegen. Andererseits aber scheint es wiederum nicht weit genug, da es dem Zusammenhang zwischen dem Organischen und Anorganischen nicht ausdrücklich Rechnung trägt. Dies versucht das ökologisch motivierte Prinzip einer universalen Partnerschaft: „Alle heutigen und künftigen Systeme, die hinreichend einmalig und unersetzlich sind, haben gleiches Recht auf Erhaltung und Entfaltung.“ 6

Die drei vorgestellten Imperative sind nicht strikt und unbedingt einzuhaltende Normen – wie zum Beispiel das Verbot des Tötens eines unschuldigen Menschen oder das Verbot der Folter –, bei deren Mißachtung der Bereich des verantwortbaren Handelns verlassen worden ist. Es handelt sich aber um Zielvorstellungen sittlichen Handelns, die als Richtschnur im Auge zu behalten sind und deren Konkretisierung Aufgabe gemeinsamer ethischer Urteilsbildungsprozesse ist. Wie solche Konkretisierungen möglich sein können, soll zunächst anhand der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«7 gezeigt werden.

Die Leitbilder der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«

Die genannte Studie wurde vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und dem Bischöflichen Werk Misereor, der Entwicklungshilfeorganisation des deutschen Katholizismus, in Auftrag gegeben. Beide Institutionen hatten sich bereits mit dem Projekt der nachhaltigen Entwicklung beschäftigt, als sich ihre Vertreter bei der Weltumweltkonferenz in Rio de Janeiro über gemeinsame Intentionen austauschen konnten und schließlich den Plan faßten, eine gemeinsame Studie in Auftrag zu geben. Darin sollte gezeigt werden, was nachhaltige Entwicklung für die Bundsrepublik Deutschland bedeute. Die Studie wurde vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie angefertigt.

Die Autoren benennen zunächst die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit, stellen anhand des Umweltraum-Konzepts Umweltziele auf und errechnen Reduktionsziele. Im Zentrum der Studie stehen jedoch die Leitbilder. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die nüchternen Reduktionsziele in den Zusammenhang sinnvoller, zukunftsfähiger Lebens- und Gesellschaftsentwürfe zu stellen und Realutopien aufzuzeigen, die die verschiedenen Akteure zum Handeln motivieren können. Die Leitbilder folgen aus diesem Grund keiner systematischen Ordnung, sondern fassen aus unterschiedlichen Perspektiven – der Perspektive der Produzenten oder der Konsumenten, der Stadt- oder der Landbewohner, der Wirtschaftler oder der Strukturplaner – das gemeinsame Ziel eines zukunftsfähigen Deutschlands ins Auge.

Insgesamt werden acht Leitbilder vorgestellt: „Rechtes Maß für Raum und Zeit.- Eine grüne Markt-agenda. – Von linearen zu zyklischen Produktionsprozessen. – Gut leben statt viel haben. – Für eine lernfähige Infrastruktur. – Regeneration von Land und Landwirtschaft. – Stadt als Lebensraum.- Internationale Gerechtigkeit und globale Partnerschaft.“ Ich kann nur auf ein Leitbild näher eingehen, um daran die Argumentationsrichtung der Studie zu verdeutlichen.

Gut leben statt viel haben“ – »Wohlstand für alle« lautete die Devise während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits in der studentischen Protestbewegung artikulierte sich ein »Überdruß am Überfluß«. In den siebziger Jahren wurde ein Wertewandel festgestellt: Es finde ein Übergang von der Orientierung an materiellen zu postmateriellen Werten statt. Die Entwürfe alternativer Lebensstile brachten die Suche nach einem neuen Lebens- und Gesellschaftskonzept zum Ausdruck. Tatsächlich kann aber nur sehr eingeschränkt – so die Autoren – von einem solchen Wertewandel die Rede sein. Sie meinen vielmehr, gestützt auf eine empirische Untersuchung, drei Gruppen von Konsumenten unterscheiden zu können:

  • „die »Alternativ-Umweltbewußten«, die hohe Selbstverwirklichungswerte haben und eher eine geringe Konsumorientierung“,
  • „die »aufgeschlossenen Wertpluralisten«, denen an Lebensgenuß und Erfolg liegt, wie sie auch Gesundheit und Umweltverantwortung schätzen“,
  • die »Konservativ-Umweltbewußten«, für die Familie, Sicherheit und sozialer Anstand wichtig sind. Sie achten auf zweckmäßigen Konsum, gehen sparsam … mit ihren Besitztümern um, reparieren viel, reisen wenig …“.8

Letztere würden sogar ein umweltfreundlicheres Verhalten an den Tag legen als die Alternativen. Solche Erkenntnisse sind wichtig, wenn es um die Motivationen geht, über die eine Verstärkung des am Leitbild »Gut leben statt viel haben« orientierten Verhaltens erreicht werden soll.

»Wohlstand light« könne zur Devise künftiger Konsumenten werden. Sie sind nicht nur an den Eigenschaften der Produkte, die sie kaufen wollen, sondern auch an den Prozessen, aus denen sie hervorgehen und in denen sie wieder beseitigt werden, interessiert. Sie werden selbstverständlich die ressourcenschonende Alternative wählen und dabei als Kriterien beachten: Sparsamkeit beim Verbrauch von Natur, Regionalorientierung, gemeinsame Nutzung der Güter und ihre Langlebigkeit.9

Die abschließenden Abschnitte »Zeitwohlstand statt Güterreichtum« und »Eleganz der Einfachheit« appellieren an den Leser, die Regel »Mehrarbeitszeit=Mehrgeld=Mehrglück« zu überdenken. Zeitgewinn kann Einkommensverluste ausgleichen und neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung eröffnen. Dinge können zu Zeitdieben werden. Die Autoren erinnern an die Navajos, die mit 236 Dingen auskommen, während in unserer Kultur Durchschnittshaushalte bis zu 10.000 Dinge zur Verfügung haben; ihre Auswahl, ihr Einkauf, ihre Unterbringung, Nutzung, Wartung und Entsorgung erzeugen Zeitknappheit. Dies deutet darauf hin, daß materielle und immaterielle Bedürfnisse nicht gleichzeitig weiter entfaltet und befriedigt werden können. Die Lebenskunst besteht nicht darin, immer mehr Güter anzuhäufen, sondern in einem wohldosierten Umgang mit den materiellen Dingen und der bewußten Entscheidung, manche Dinge nicht brauchen zu müssen.

Das Leitbild eines zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrags

Die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« konzentriert sich auf den ökologischen Aspekt einer nachhaltigen Entwicklung. Dies entspricht der Kompetenz eines Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Die Autoren thematisieren immer wieder nicht nur die ethischen Zielvorstellungen der Bewahrung der Natur, sondern auch die der Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität. Verständlicherweise stehen aber auch bei Gerechtigkeit und Gleichheit die gleichwertige Verteilung der Anteile und der nachhaltig verantwortbaren Nutzungsrechte an der Natur bzw. am Umweltraum im Vordergrund der Betrachtung. Der Zusammenhang mit der sozialen Gerechtigkeit – dies gilt vor allem für ihren nationalen Bezug – ist bewußt, kann aber nicht zum expliziten Gegenstand der Studie gemacht werden. Deshalb soll hier den Leitbildern des »Zukunftsfähigen Deutschland« das eines neuen, zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrags hinzugefügt werden.10

Nach Friedhelm Hengsbach ruht der Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit auf vier Säulen: auf einem Wirtschaftswachstum, das den Verbrauch der Ressourcen und die Beschädigung der Umwelt nicht verrechnete, auf der Vollbeschäftigung, die Massenkaufkraft wachsenden Wohlstand fast aller Schichten der Bevölkerung sicherte, auf einer Arbeitsteilung, die den Männern die bezahlte Erwerbsarbeit ermöglichte und den Frauen die unvergütete Haus- und Familienarbeit zuwies, und viertens auf einer einigermaßen autonomen, von Außeneinflüssen abgeschirmten Beschäftigungs- und Sozialpolitik.

Seit den siebziger Jahren beginnen diese Säulen zunehmend brüchig zu werden. Daß ein ökologisch blindes Wirtschaftswachstum und eine entsprechende Politik überholt sind, war das Thema der Wuppertaler Studie. Aber auch die anderen Säulen haben ihre Tragfähigkeit eingebüßt. Die Vollbeschäftigung ist von einer hohen Dauerarbeitslosigkeit abgelöst worden; sie hängt mit der technikbedingten Produktivitätssteigerung zusammen, die eine Vermehrung von Gütern und Dienstleistungen bei immer geringerem Einsatz menschlicher Arbeitskraft ermöglicht. Diese Entwicklung wird weiter fortschreiten. Die Gleichung »mehr Wachstum=mehr Beschäftigung« stimmt nicht mehr. Damit ist auch die Epoche des wachsenden Wohlstandes für alle an ihr Ende gekommen. Gleichzeitig wird in den achtziger und neunziger Jahren eine einigermaßen ausgewogene Einkommens- und Vermögensstruktur von einer starken Konzentration von Einkommen und Vermögen bei relativ wenigen und die Massenkaufkraft durch die Bedienung gehobener Ansprüche abgelöst. Dies alles wiederum hat negative Auswirkungen auf die Versuche, Frauen einen fairen Platz bei der gesellschaftlichen Verteilung der Arbeit zu sichern. Gleichzeitig verstärken sich die Außeneinflüsse auf den Arbeitsmarkt, die Unternehmens- und die Finanzpolitik und beeinträchtigen – vorsichtig ausgedrückt – zusätzlich eine auf gerechten Ausgleich zielende Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Der breite soziale Konsens, ohne den eine offene, demokratische Gesellschaft nicht überlebensfähig ist, gerät in Gefahr.

In einem zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrag ist nicht nur das Naturverhältnis, sondern auch das Leistungsverhältnis und das Geschlechterverhältnis neu zu bestimmen. Ich konzentriere mich auf das Leistungsverhältnis, auf das Verhältnis von Arbeitsleistung, Geldeinkommen und den dadurch gegebenen Lebenschancen. Die Industriegesellschaft vergütet ausschließlich die individuelle Arbeitsleistung in der Erwerbsarbeit. In einem auszuhandelnden Gesellschaftsvertrag ist das Verhältnis von Arbeitsleistung, Arbeitseinkommen und Geldeinkommen – so der Vorschlag von F. Hengsbach – in dreifacher Hinsicht anders zu bestimmen: Erwerbsarbeit und Eigenarbeit müssen ähnlich bewertet und bezahlt, aber anders und neu aufgeteilt werden. – Die sozialen Sicherungssysteme dürfen nicht mehr so eng an das Erwerbsarbeitsverhälnis gekoppelt werden; auch Frauen mit lebenslanger Hausarbeit, Auszubildende oder nur geringfügig Beschäftige müssen in ihm einen Platz finden. – Die Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit sollte mindestens ausreichen, ein soziokulturelles Existenzminimum zu behaupten.11

Mir kommt es hier vor allem auf die Feststellung an, daß eine Einigung über die ökologischen Leitbilder eines zukunftsfähigen Deutschland zur Voraussetzung hat, daß gleichzeitig Einigung über die sozialen Leitbilder erzielt wird. So sehr die ökologischen Leitbilder eine radikale Korrektur des Umgangs der Industriegesellschaften mit der Natur verlangen, so sehr fordern die sozialen Leibilder eine Veränderung der bisherigen Leistungs- und Erwerbsgesellschaft.

Wo aber sind die gesellschaftlichen Kräfte, die diese Umsteuerungen bewirken könnten? Auf diese Frage versuche ich durch den Hinweis auf ein weiteres Leitbild einzugehen.

Das Leitbild der Kooperation der gesellschaftlichen Gruppen

Alle, die sich – wie die Autoren des »Zukunftsfähigen Deutschland« um die Lösung der drängenden Probleme einer marktwirtschaftlich organisierten Industrie- und Risikogesellschaft bemühen, sind sich bewußt, daß die notwendigen Veränderungen nur in breiter gesellschaftlicher Diskussion vorbereitet und auf dem Weg der gesellschaftlichen Kooperation beschlossen und durchgeführt werden sollten. Dieser Weg ist allerdings mühsam und unsicher. Hans Jonas, der Vordenker eines Ethos der Zukunftsfähigkeit, hatte die Frage der Überlegenheit »totaler Regierungsgewalt« gegenüber dem »kapitalistisch-liberal-demokratischen Komplex« geprüft und, was die Machttechnik betrifft, vorsichtig bejaht. Aber er sah deutlich, daß mit »Eliten«, die in einem totalitären System ihre Prägung erfahren hatten, nicht zu retten war, worum es ihm in seiner Ethik der Zukunftsverantwortung ging: die Erhaltung einer Menschheit, bestehend aus zur Selbstbestimmung fähigen und deshalb zur Selbstverantwortung verpflichteten Subjekten.12

Die amerikanischen Kommunitaristen – so unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen und politischen Strömungen sie auch angehören mögen13 – haben auch hinreichend deutlich gemacht, daß diese Subjekte keine isolierten Individuen sind, sondern in Gesellschaften und Gemeinschaften heranwachsen und ihre Identität gewinnen. Sie sind deshalb davon überzeugt, daß die Reform einer Gesellschaft weder vom Staat auf der einen und noch von den vielen – marktwirtschaftlich konkurrierenden – Einzelnen auf der anderen Seite allein bewerkstelligt werden kann: Es bedarf dazu der Mitwirkung und des Zusammenwirkens gesellschaftlicher Gruppen.14

Welche Gruppen, Gemeinschaften oder Institutionen sind dies in der Bundesrepublik Deutschland? Bei dieser Frage erfolgt in der Regel zunächst der Hinweis auf die sozialen Bewegungen: Frauenbewegung, Friedensbewegung, ökologische Bewegung. Sie stellen sich zur Zeit nicht als öffentlichkeitswirksames Massenphänomen dar, sondern sind vielerorts und in vielfacher Form in kleineren Gruppen aktiv. Aus ihnen sind auch Institutionen bzw. regelrechte Unternehmen hervorgegangen, wie zum Beispiel das Öko-Institut und Greenpeace. Es gibt Gruppierungen im Bereich der Hochschulen und der Wissenschaften, die in Organisationen zusammengeschlossen sind, aber ihre human- und sozial-, umwelt- und zukunftsorientierten Ziele in kleineren Gruppen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am jeweiligen Ort verfolgen. In Kommunen und Kirchen gibt es Gruppen, die für die soziale Not im eigenen Land und außerhalb sensibilisiert sind. Es gibt »Runde Tische« in Städten und Regionen, die sich um eine zukunftsverträgliche Energieversorgung oder Verkehrsplanung kümmern. Die Beispiele könnten vermehrt werden. Festzuhalten bleibt: Der Bereich zwischen Staat, Parteien und Großinstitutionen auf der einen und den Individuen auf der anderen Seite ist nicht ein Vakuum, sondern besetzt durch eine Vielzahl von Gruppen und Gemeinschaften mit innovativen Vorstellungen und Aktivitäten. Verstärkt werden muß ihre »kreative Interaktion«.

Verstärkt bzw. überhaupt erst begonnen werden muß auch die Interaktion zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, die bislang auf Konfrontationskurs waren. Dies gilt vor allem für Umweltgruppen einerseits und Unternehmen andererseits. Hier und da scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß die kritische Interaktion weiterhilft. Die versuchte Kooperation zwischen dem Öko-Institut und und der Hoechst AG ist hierfür ein Beispiel und könnte vielleicht zu einem Modell werden.

Zum Schluß: Nachhaltige Entwicklung und Frieden

Die Leitbilder der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«, das Leitbild eines neuen Gesellschaftsvertrages wie auch das Leitbild der Kooperation der gesellschaftlichen Gruppen sind gleichzeitig Leitbilder für einen dauerhaften Frieden. Zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit in den Staaten ist polizeiliche Gewalt und zur Sicherung des Friedens zwischen den Völkern sind militärische Maßnahmen heute noch nicht vermeidbar. Sie haben aber ihre Grenzen, weil eine notwendige Bedingung für einen »ewigen Frieden« – wie I. Kant seine regulative Idee für politisches Handeln nannte und damit auch den dauerhaften Frieden meinte15 – die Verwirklichkung von Gerechtigkeit, Gleichheit und die Bewahrung der Natur ist. Diese wiederum können nur auf einem Weg erreicht werden, bei dem friedenförderndes Miteinander eingeübt wird: in der Kooperation der Einzelnen, der Gemeinschaften und der gesellschaftlichen Gruppen, der Großinstitutionen und der Staaten.

Anmerkungen

1) Zur aristotelischen Herkunft und zum Verständnis des Begriffs bei Thomas von Aquin vgl. Pieper, Josef: Über die Gerechtigkeit, München 1960. – Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1987. – MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt/M. 1987. – Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975. Zurück

2) BUND und Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Basel 1996, S.30. Zurück

3) Vgl. Sassin, Wolfgang: Die globale Dimension des Menschlichen – Strukturen für Milliarden? In: GAIA 5-6/1995, S.282-292. Zurück

4) Lay, Rupert: Ethik für Manager, Düsseldorf 1989, S. 21. Zurück

5) Dem entspricht die Formel Albert Schweitzers: „Gut ist, Leben erhalten und fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“ (Ders.: Kultur und Ethik, München 1972, S.331. Zurück

6) Bossel, Hartmut: Bürgerinitiativen entwerfen die Zukunft. Frankfurt/M. 1978, S.71. Zurück

7) BUND – Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Basel, 1996. Zurück

8) Vgl. a.a.O., S. 211f. Zurück

9) Vgl. a.a.O., S. 218-221. Zurück

10) Vgl. Hengsbach, Friedhelm: Abschied von der Konkurrenzgesellschaft. Für eine neue Ethik in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München, 1995. Zurück

11) Vgl. a.a.O., S. 132f. Zurück

12) Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979, S. 263 und S.72-75. Zurück

13) Vgl. z.B. Bellah, Robert N. u.a.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987. – MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 1987. – Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/M. 1992. Zurück

14) Bellah, Robert N. u.a.: Gegen die Tyrannei des Marktes, in: Zahlmann, Christel (Hrsg.): Kommunitarismus in der Diskussion, Rotbuch 1992, S. 61. Zurück

15) Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, Hamburg 1966, S. 179-186. Zurück

Dr. Wolfgang Bender ist Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt