Was erwartet die Friedensbewegung von der Friedensforschung?

Was erwartet die Friedensbewegung von der Friedensforschung?

von Ute Finckh-Krämer

Aus Sicht der Friedensbewegung kann die Friedensforschung zu einer Reihe von theoretisch und praktisch relevanten Fragestellungen, Diskussionen bzw. Aktivitäten beitragen; die folgenden Überlegungen werfen eine Vielzahl entsprechender Aspekte auf, die in den verschiedenen Strömungen der Friedensbewegung kontrovers diskutiert werden oder für deren Tätigkeit mittelbar oder unmittelbar Relevanz haben.

Friedensforschung und Friedensbewegung sind seit Jahrzehnten eng miteinander verbunden. Typisch für diese Verbindung ist etwas, was ich kurz nach Beginn des Kosovo-Krieges erlebt habe: Ulrich Albrecht, Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, analysierte und kritisierte auf einer öffentlichen Veranstaltung im Friedenszentrum Martin-Niemöller-Haus die politischen Entscheidungen, die zur militärischen Eskalation des Konfliktes geführt hatten. Schließlich meldete sich ein Student und sagte sinngemäß: „Wenn Sie keine fundamentalen Fehler der Politiker gefunden hätten, wären Sie denn dann für den Krieg?“. Ulrich Albrecht antwortete mit einem kurzen Satz: „Nein, dann wäre ich immer noch dagegen, weil ich Pazifist bin.“

Dieses Beispiel illustriert zwei zentrale Dinge, die die Friedensbewegung von der Friedensforschung erwartet: Erstens die Bereitschaft und Fähigkeit, zu den Themen, die für die Friedensbewegung gerade politisch aktuell sind, wissenschaftlich fundiert und für NichtwissenschaftlerInnen verständlich zu schreiben oder zu reden. Und zweitens eine innere Verbundenheit zum Anliegen der Friedensbewegung, was nicht unbedingt heißt, dass sich alle FriedensforscherInnen wie Ulrich Albrecht explizit als PazifistInnen definieren müssen. Aber die Bereitschaft, Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich in Frage zu stellen und ein ernsthaftes Interesse an gewaltfreier Konflikttransformation sind aus meiner Sicht Grundvoraussetzungen für ein Engagement in der Friedensforschung.

Friedensforschung und Friedensbewegung

Von welcher Definition von Friedensforschung und Friedensbewegung gehe ich dabei aus? Friedensforschung definiere ich in Anlehnung an die Selbstdarstellung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) als wissenschaftliche Aktivitäten, die zu einem vertieften Verständnis der Ursachen von Frieden und Krieg beitragen und Grundlage für eine am Frieden orientierte politische Praxis sein sollen. Als zur Friedensbewegung gehörig sehe ich alle Gruppen und Organisationen an, die (wie es der Bund für Soziale Verteidigung kurz und prägnant formuliert) als Schwerpunkt ihrer Arbeit Militär und Rüstung abschaffen wollen oder dafür eintreten, dass Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden. Friedensforschung und Friedensbewegung haben also gemeinsam, dass sie sich einerseits kritisch mit Rüstung/Militär/Krieg auseinandersetzen und andererseits nach Wegen suchen, Gewalt zu verringern bzw. zu überwinden, die Grundlagen für dauerhafte Friedensprozesse zu schaffen bzw. diese zu unterstützen. Sie unterscheiden sich aber in ihrem Ansatz: Die Friedensforschung untersucht und beschreibt weitgehend unabhängig von tagespolitischer Aktualität Krieg und Frieden in ihren Erscheinungsformen und Gesetzmäßigkeiten, arbeitet mit vielfältigen analytischen und empirischen Methoden und stellt ihre Ergebnisse so dar, dass sie für andere WissenschaftlerInnen und interessierte Laien nachvollziehbar und überprüfbar sind. Kernanliegen der Friedensbewegung ist es dagegen, im Sinne eigener Überzeugungen – die von den Erkenntnissen der Friedensforschung beeinflusst sein können, aber nicht müssen – aktuelle politische Prozesse zu beeinflussen. Auffällig ist, dass sowohl in der Friedensforschung als auch in der Friedensbewegung der Themenkomplex Rüstung/Militär/Krieg oft die Oberhand gewinnt. Die Jahrbücher des berühmten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) tragen trotz des eindeutigen Namens des Instituts nicht zufällig den Untertitel »Rüstung, Abrüstung und internationale Sicherheit«. Und auf den einschlägigen Treffen der deutschen Friedensbewegung stehen derzeit zwei Themen ganz oben auf der Agenda: Der Krieg in Afghanistan und das NATO-Jubiläum im Frühjahr 2009.

Formen der Unterstützung

Wie kann und soll die Friedensforschung also die Friedensbewegung oder Teile davon unterstützen? Wichtig ist für die Friedensbewegung zunächst die Bereitschaft, auf Veranstaltungen oder Seminaren friedenspolitische Fachkunde einzubringen. Außerdem sind fachlich fundierte und gleichzeitig für NichtwissenschaftlerInnen verständliche Texte – möglichst in deutscher Sprache – mit Sachinformationen zu politisch aktuellen friedenspolitischen Themen für uns oft sehr hilfreich. Solche Themen sind derzeit z.B.:

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr und das Zusammenspiel mit zivilen Aktivitäten in den entsprechenden Ländern, insbesondere Bosnien, Kosovo, Kongo, Afghanistan;

Die NATO, ihre Strategie und ihre Rolle in der europäischen und weltweiten Politik (Osterweiterung, Kosovo-Krieg, Afghanistan-Krieg);

Rüstungskontrollabkommen samt ihren Einschränkungen und Lücken, insbesondere zu Landminen/Streubomben, Atomwaffen (z.B. Nichtverbreitungsvertrag), Kleinwaffen, Raketenabwehr;

ehemalige und bestehende Atomwaffenstandorte in Deutschland/Europa und die Konsequenzen ihrer Schließung;

Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und die in ihrem Rahmen durchgeführten bzw. geplanten Missionen (z.B. Bosnien-Herzegovina, Kosovo, Makedonien), die europäische Sicherheitsstrategie (ESS) und die Struktur der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Vertrag von Lissabon.

Stellvertretend für viele andere seien hier die umfassenden, verständlichen Darstellungen zum jeweiligen Arbeitsschwerpunkt durch das Tübinger Institut für Friedenspädagogik oder die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) genannt. Wichtig ist für uns ggf. auch, dass Texte mit Sachinformationen zu aktuellen Themen für unsere Medien zur Verfügung gestellt werden.

Genauso wichtig wie die Darstellung der Fakten ist die Analyse, die darauf aufbaut. Mögliche aktuelle Fragestellungen sind z.B.:

Die Erforschung und Offenlegung der impliziten Annahmen und Analogschlüsse, die dem deutschen und europäischen Engagement in Krisen- und Konfliktregionen zu Grunde liegt, insbesondere (aber nicht ausschließlich) den Konzepten des »state-building«, des »peace-building« oder der »Demokratisierung«.

Hilfe beim Hinterfragen von Zahlen und Thesen, die PolitikerInnen in die Welt setzen, z.B.: Sind im Bundeshaushalt 2007 wirklich 3,2 Milliarden Euro in die zivile Konfliktbearbeitung geflossen, wie von Winni Nachtwei unter Berufung auf das Büro von Alexander Bonde behauptet (und seitdem immer wieder unhinterfragt zitiert) wird?

Hat die Stationierung einer UN-Friedenstruppe in Makedonien wirklich einen Bürgerkrieg verhindert? Oder die Friedenstruppen im Kongo die Wahlen erst ermöglicht?

Können Wiederaufbauprojekte wirklich „militärisch abgesichert“ werden oder ist das ein Widerspruch in sich?

Schließlich ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit friedenspolitischer Auftragsforschung wie der „Wirkungsuntersuchung in Nordafghanistan“ der FU Berlin oder mit sicherheitspolitischen Beratungspapieren politikwissenschaftlicher Institute und Stiftungen wichtig (auf Euch hören sie vielleicht, auf uns nicht).

Gewaltfreie Konflikttransformation

Die Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden im Mainstream der deutschen und internationalen Politik ist aber, wie oben erwähnt, nur das eine große Anliegen der Friedensbewegung. Das andere ist der Einsatz für gewaltfreie Konflikttransformation, der meist mit konkretem Engagement auf der Graswurzelebene einhergeht (sei es im eigenen Land, sei es in Konfliktregionen). Wichtige Themen für dieses Arbeitsgebiet der Friedensbewegung sind:

Unterstützung bei der Festlegung, Analyse und Abgrenzung von Begriffen bzw. Definitionen im weitesten Sinne. Was wäre aus wissenschaftlicher Sicht z.B. eine sinnvolle Definition für »zivile Krisenprävention«, wie unterscheidet sich diese ggf. von der Verwendung des Begriffes durch Politik und Verwaltung, hat sich eine Definition im Lauf der Zeit verändert, wenn ja, wie und durch welche Einflüsse? Ist das »Do-no-harm-Prinzip« ein sinnvoller Ansatz, taugt es eher für staatliche oder nichtstaatliche Akteure?

Welche Vor- und Nachteile hat es für die Friedensbewegung, wenn sie bestimmte wissenschaftliche Definitionen übernimmt, welche Vor- und Nachteile hat es, bestimmte Begriffe oder Schlagworte der offiziellen Außen-, Entwicklungs- oder Sicherheitspolitik aufzugreifen?

Die Analyse und Beschreibung gelungener Friedensprozesse, auch und gerade von Beispielen, wo ausländische Akteure mit zivilen statt militärischen Mitteln agiert haben (»best practice der zivilen Konfliktbearbeitung«).

Für die Organisationen, die konkrete Projekte in Konfliktgebieten betreuen, Unterstützung bei der Evaluation dieser Projekte und eine kritische Aufarbeitung der Evaluationsmethoden der Geldgeber, auf die wir für manche dieser Projekte angewiesen sind (BMZ, zivik, EU-Förderprogramme, Stiftungen).

Fundierte Auseinandersetzung mit unseren scheinbar einleuchtenden Argumenten der Form „Prävention ist billiger als Intervention, ziviles Handeln kostengünstiger als militärisches“ – lässt sich das analytisch fassen, wenn ja, wie?

Beachtung für die Streitthemen in der Bewegung, die können spannenden Stoff für die Forschung abgeben – z.B. „Braucht Frieden wirklich Fachleute?“ oder „Ist Human Security ein friedensfördernder oder ein Krieg rechtfertigender Gedanke?“.

Bewegungsberatung

Schließlich wäre innerhalb der Friedensforschung auch Forschung über die Friedensbewegung analog zur »Bewegungsforschung« von Dieter Rucht denkbar und aus meiner Sicht wünschenswert (Bewegungsberatung statt oder ergänzend zur Politikberatung). Hierbei könnten beispielsweise folgende Fragen beantwortet werden:

Welche Kampagnen oder Initiativen der Friedensbewegung waren erfolgreich, welche Argumente und Aktionsformen haben Wirkung gehabt?

Was für Projekte in Konfliktregionen können von Organisationen der Friedensbewegung mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden, welche haben Alibi-Charakter oder richten sogar mehr Schaden als Nutzen an?

Welche Rolle hat das Thema Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung in der Geschichte der deutschen Friedensbewegung gespielt, auch und gerade als Mobilisierungsfaktor für junge Männer; welche Konsequenzen ergeben sich daraus, dass das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer wesentlich einfacher geworden ist und deutlich weniger junge Männer tauglich gemustert werden als früher?

Welche Funktion haben das Engagement gegen etwas (Atomwaffen, Rüstungsexporte, Auslandseinsätze der BW) und das Engagement für etwas (ZFD, Kultur des Friedens, gewaltfreie Konflikttransformation) und wie behindern oder ergänzen/verstärken sie sich gegenseitig?

Setzen wir unsere Schwerpunkte richtig, ist das intensive und zeitaufwändige Engagement gegen Rüstung, Militär und Krieg tatsächlich unabdingbare Voraussetzung dafür, eine Friedenspolitik zu erreichen, die diesen Namen verdient, oder ist es an der Zeit, hauptsächlich dafür zu kämpfen, dass die in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse über die Voraussetzungen von dauerhaften Friedensprozessen politisch umgesetzt werden?

Ist es in jedem Fall richtig, sich auf Aktionen zu konzentrieren, oder gibt es Themen, bei denen wir mehr Zeit auf das Beobachten, Dokumentieren und Analysieren verwenden sollten als bisher? Wenn ja, wie können wir das unseren Mitgliedern und UnterstützerInnen vermitteln?

Welche Stärken und Schwächen haben große Organisationen mit kleinem gemeinsamem Nenner bzw. kleine Organisationen mit hoher persönlicher Identifikation und Fachkompetenz?

Hängt die Glaubwürdigkeit von Organisationen, die sich für konstruktive Konfliktbearbeitung einsetzen, daran, in welchem Maße sie selber dazu in der Lage sind, innere und äußere Konflikte konstruktiv zu bearbeiten, oder interessiert das nur einen kleinen Kreis von gewaltfreien »ÜberzeugungstäterInnen«?

Welche Stärken und Schwächen haben vergangene oder aktuelle Bündnisse?

Welche Vor- und Nachteile hat eine Zusammenarbeit mit offizieller (Partei-) Politik?

Unter welchen Bedingungen ist es sinnvoll, Begriffe des politischen Mainstreams zu nutzen, wann ist es wichtig, ihnen eigene Begriffe entgegenzusetzen?

Wie können wir verhindern, dass unsere Begriffe und Konzepte umgedeutet oder missbraucht werden?

Mit einem solchen Forschungsansatz könnte das Verständnis für die komplizierten und kleinteiligen Strukturen, die vielen verschiedenen Denk- und Handlungsansätze der Friedensbewegung wachsen. Nehmt uns bitte ernst, versucht, zu verstehen, warum wir so sind, wie wir sind, diskutiert auf Augenhöhe mit uns, wie wir unser Anliegen besser vertreten könnten, ohne unsere Identität zu verlieren.

Transfers

FriedensforscherInnen sind ja meist nicht nur in der Forschung einschließlich der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse, sondern auch in der Lehre tätig. In diesem Zusammenhang wünschen wir uns, dass StudentInnen, die ein Wahl- oder Pflichtpraktikum in einem einschlägigen Studiengang machen wollen oder müssen, auf Praktikumsmöglichkeiten in friedenspolitischen Organisationen hingewiesen werden.

Das unmittelbare Interesse an politisch aktuellen Einzelthemen sollte aber den Blick nicht verstellen für das, was im wissenschaftlichen Bereich eher möglich ist als in der politischen Basisarbeit und was sich vielleicht kurzfristig nicht nutzen lässt, langfristig gesehen aber unverzichtbar ist: den Blick über die politisch aktuellen Themen hinaus zu öffnen, Grundsatzfragen und Grundbegriffe zu diskutieren, langfristige Entwicklungen nachzuzeichnen oder irgendwann entstandene und immer wieder zitierte Gewissheiten radikal hinterfragen. Nicht Auftrags- oder angewandte, sondern Grundlagenforschung zu Begriffen wie Krieg und Frieden, Abrüstung oder Konflikttransformation.

Da stellt sich dann schnell die Frage: Wie kann man eine solche kritisch-hinterfragende und aktuell-reagierende Forschung überhaupt ermöglichen, in Zeiten wo ein stark wachsender Anteil der Forschung über Projektmittel läuft? Braucht die Friedensbewegung eigenständige Forschungsstrukturen, die institutionell abgesichert sind? Wenn ja, wie könnte eine solche Absicherung aussehen, wie könnten die Mittel dafür gesichert werden? Braucht es mehr unabhängige und dauerhaft gesicherte Stellen im universitären Bereich, um die Freiheit der Forschung zu gewährleisten? Wenn die Friedensbewegung Erwartungen an die Friedensforschung richtet, sollte sie sich dann umgekehrt dafür engagieren, dass die Friedensforschung deutlich mehr verlässliche Ressourcen erhält als bisher? Oder würde eine solche Unterstützung von unserer Seite der Friedensforschung mehr schaden als nützen?

Trotz knapper Ressourcen: Mit den meisten, wenn nicht allen der von mir genannten Themen hat sich vermutlich schon irgendwo in Deutschland jemand aus der Friedensforschung befasst. Vielleicht wurde nur in einem Seminar darüber diskutiert und das Ergebnis auf eine Seminarhomepage gesetzt, vielleicht gibt es eine oder mehrere Zeitschriften-Veröffentlichungen dazu, vielleicht gibt es sogar eine umfangreiche wissenschaftliche Debatte um das eine oder andere Thema, die sich in verschiedenen Publikationen in verschiedenen Medien niedergeschlagen hat. Aber wie sollen die, die nicht direkt an dem entsprechenden Seminar, der Forschungsgruppe, der Kontroverse beteiligt waren und die nicht täglich in einer Institutsbibliothek nachschauen können, welche Themen die friedenspolitischen Zeitschriften gerade behandeln, die Ergebnisse finden können? Suchmaschinen reichen dafür oft nicht aus. Mein großer Traum ist daher ein gemeinsames Portal der universitären und außeruniversitären Friedensforschungseinrichtungen in Deutschland, über das mit einer Suchmaske über alle Publikationen, Datenbanken, Forschungsberichte, Vorlesungsskripte der deutschen Friedensforschung recherchiert werden kann. Nach dem Vorbild von »PortalU« im Umweltbereich (http://www.portalu.de/) – und das wäre vermutlich ein Projekt für einen klassischer Drittmittelantrag.

Dr. rer. nat. Ute Finckh-Krämer ist Mathematikerin und derzeit beruflich in der Informationstechnik tätig. Seit gut 30 Jahren friedenspolitisch aktiv, war sie Gründungsmitglied des Bundes für Soziale Verteidigung, dessen Vorsitzende sie seit drei Jahren ist.

Politikberatung der Friedens- und Konfliktforschung

Politikberatung der Friedens- und Konfliktforschung

nicht immer friktionsfrei und erfolgreich

von Herbert Wulf

Die Friedens- und Konfliktforschung hat nicht nur den hohen Anspruch, die Ursachen von Krisen, Konflikten und Kriegen zu erklären und auf der Basis solider wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Problemlösung einen Beitrag zu leisten, sondern sie will darüber hinaus auch durch Politikberatung die Erkenntnisse möglichst anwendungsorientiert und damit effektiv und nachhaltig umsetzen. Wie ist es um dieses Anliegen bestellt?

Friedensforschung will zu drängenden politischen Lösungen einen Beitrag leisten und versucht dies auch durch die Beratung der Politik. In ihrer Eigendarstellung will Friedensforschung Vorschläge entwickeln, wie die Ursachen von Konflikten frühzeitig erkannt werden können und so der gewaltsamen Austragung oder gar der kriegerischen Auseinandersetzung vorgebeugt werden kann. In Deutschland zielt die Friedens- und Konfliktforschung auf politische Regelungen ab und geht davon aus, dass die Politik, aber auch Medien, Verbände, Kirchen und andere Organisationen der Zivilgesellschaft die Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen und nutzen. Vor allem Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik stehen im Zentrum der Forschung – selbstverständlich mit dem Postulat, durch praxisnahe Untersuchungen und Interpretationen einen Beitrag zur Friedensverträglichkeit dieser Politiken zu leisten. Politiknahe und auf Problemlösung zielende Analysen kennzeichnen nach dem Verständnis der Friedens- und Konfliktforschung die eigene Arbeit.

Besonders deutlich wird der Anspruch der Politikberatung in den jährlich erscheinenden Friedensgutachten formuliert. Die Initiatoren des Friedensgutachtens, das von fünf Instituten der Friedens- und Konfliktforschung erstellt und der Öffentlichkeit zur Jahresmitte vorgestellt wird, haben mit Bedacht den Titel »Gutachten« gewählt. In dem 1987 erstmals erschienenen Friedensgutachten hieß es: „Zu einer Reihe wichtiger Fragen werden von Experten Gutachten für den politischen Entscheidungsprozess und die öffentliche Diskussion erstellt… Zum Thema »Frieden« gibt es das bisher nicht.“ 1 Diese Lücke sollen die Friedensgutachten schließen.

Die Verantwortlichen des Friedensgutachtens knüpften damals und knüpfen bis heute mit dem jährlichen Bericht an die Tradition und Praxis der Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute an und wollen – wie die Ökonomen – die Politik beraten und in ihrem Sinne beeinflussen. Ebenso wie in der Wirtschaftspolitik – das hat die Erfahrung mit inzwischen mehr als 20 Friedensgutachten gezeigt – werden die Empfehlungen aber nicht immer gerne gehört oder gar angenommen und implementiert.

In den Gutachten werden immer Empfehlungen ausgesprochen, die in der Regel an die politischen Akteure in der Absicht gerichtet sind, sie zum Handeln (sei es in Fortsetzung bestehender Politiken oder deren Änderung) zu bewegen. Im Jahr 2008 widmete sich das Friedensgutachten in einem Schwerpunkt mit kritischen Analysen der neuen Hochrüstung und argumentierte im Vorwort, „dass die Europäer bei der zivilen Konfliktregelung und der politischen Stabilisierung von Krisenregionen über Alternativen zur Hochrüstung verfügen.“ 2 Der Blick ist dabei klar auf die europäische Sicherheitspolitik als Alternative zu der des amerikanischen Präsidenten Bush gerichtet. Im Jahr zuvor griff das Friedensgutachten in die Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr ein und hinterfragte mit einer Stellungnahme und neun Einzelbeiträgen deren Sinn. Man wollte die Rolle der Bundeswehr im Ausland auf den Prüfstand stellen. Doch bislang blieben diese kritischen Rückfragen der Forschungsinstitute politisch weitgehend folgenlos.

Die Friedensgutachten, wie auch andere Arbeiten der Friedens- und Konfliktforschung, werden heute von der Politik in Deutschland wahrgenommen. Aber ist damit eine wirksame Politikberatung installiert worden? Bei der Vorstellung des Friedensgutachtens ist es fast schon zum Ritual geworden, dass sich Regierung und Opposition die jeweils in ihr Konzept passenden Empfehlungen herauspicken und öffentlichkeitswirksam als Bestätigung ihrer Politik hochhalten.

Als im Jahr 2000 die Bundesregierung die finanziellen Mittel zur Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung bereitstellte, geschah dies mit der ausdrücklichen und eindeutigen Begründung und Erwartung der notwendigen Verstärkung und Verstetigung der Politikberatung. In einer Presseerklärung des Bundesforschungsministeriums vom 13. Oktober 2000 wird die damalige Ministerin Bulmahn mit dem Satz zitiert: „Die Deutsche Stiftung Friedensforschung soll ein neues Instrument der Politikberatung sein und die Bundesregierung bei der Krisenprävention und Konfliktbeilegung unterstützen…Ich erwarte von der Friedensforschung Analysen und Konfliktlösungsstrategien für eine Politik der Friedensgestaltung.“ 3

Wie kann eine konstruktive Politikberatung funktionieren? Politikberatung ist ein potentielles »Minenfeld«, da sie geprägt ist von unerfüllbaren, manchmal falschen Erwartungen. Während die Forschung daran orientiert sein sollte, die richtigen Fragen zu stellen, wollen Politiker ihren Wählern Antworten geben. Es ist daher erforderlich, sich zwischen Wissenschaft und Politik über die gegenseitigen Erwartungen an Politikberatung zu verständigen oder sich zumindest darüber im Klaren zu sein, was die Forschung zu leisten im Stande ist und was die Politik umsetzen kann.

Praxisferne Forschung – politische Patentrezepte?

Wenn sich Politiker und Wissenschaftler über die Möglichkeiten und den Nutzen der Politikberatung austauschen, tauchen über kurz oder lang zwei extreme Positionen auf: Da ist von der »Wissenschaft im Elfenbeinturm« die Rede – und mit dieser Metapher soll angedeutet werden, dass die angebotenen wissenschaftlichen Ergebnisse keine oder nur geringe Relevanz für die reale Welt haben und den Politikern für die zu treffenden Entscheidungen keine wirkliche Grundlage liefern. Die Forderung der Politiker lautet dann, wirklich praxisorientierte wissenschaftliche und verständliche Ergebnisse zu liefern. Das andere Extrem, oder Klischee, ist das Bild des Politikers, der fertige »Rezepte« haben möchte – Vorschläge von Wissenschaftlern, die sofort und unmittelbar in der politischen Praxis umgesetzt werden können. In der Regel ist weder das Bild vom »Elfenbeinturm«, noch das Bild der fertigen »Patentrezepte« korrekt, aber beide Positionen enthalten vielleicht doch auch ein Körnchen Wahrheit, da Politiker und Wissenschaftler unterschiedliche Ansprüche und auch Aufgaben haben. Oftmals besteht tatsächlich ein Graben zwischen »wissenschaftlich« orientierter Politikberatung und »praktischer« Anwendung.

Eine erste Schlussfolgerung für die Arbeit der Friedens- und Konfliktforschung lautet daher: Wenn Politiker und Wissenschaftler von der angestrebten Politikberatung zu den Themen Kriege, Konflikte, Frieden, Sicherheit – also das, was herkömmlich in der Friedens- und Konfliktforschung bearbeitet wird – nicht enttäuscht werden wollen, sollten sie die gegenseitigen Erwartungen und Wahrnehmungen klar definieren.

Erwartungen der Politik

Was sind die Erwartungen auf Seiten der Politiker? Sie wollen mit Informationen versorgt werden; sie möchten Konzepte und Optionen für mögliche Handlungsweisen erhalten, um auf dieser Basis »richtige« Entscheidungen treffen zu können. Aber wird der Rat – sofern er bei Wissenschaftlern verfügbar ist – auch wirklich gewollt und angenommen? Einige Beispiele zur Illustration: Vor dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994 haben Ethnologen, Länder- und Regionalexperten, Entwicklungshelfer und Konfliktforscher rechtzeitig vor der dramatischen und sich eskalierenden Konfliktsituation gewarnt. Es gab keinen Mangel an Informationen und Frühwarnindikatoren. Aber Ruanda war für die große Politik uninteressant, irrelevant – bis eben das Schlachten von Hunderttausenden Menschen in vollem Gange war. Hier wurden Information, Rat und Warnung ignoriert.

Zweites Beispiel: der Krieg im Kosovo. Zu den im Kosovokonflikt erforderlichen Maßnahmen (generell zum Thema so genannter humanitärer Interventionen oder der Schutzverantwortung »responsibility to protect«) prallten und prallen die unterschiedlichen Auffassungen von Friedensforschern genau so unversöhnlich aufeinander wie die der Politiker. Auf welchen Rat hätten denn die Entscheidungsträger vor dem Kosovokrieg hören sollen, wenn sie denn überhaupt einen Rat hätten hören wollen? Auf die Befürworter einer strikten Einhaltung des Völkerrechts und damit der Ablehnung des Krieges oder auf die Friedensforscher, die glaubten, die Intervention sei aufgrund moralisch und ethisch gebotener Verpflichtung zwingend erforderlich? Vielleicht ist ja das Beispiel Krisenprävention – ein Gebiet auf dem derzeit ein Dialog zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft stattfindet – ein positives Beispiel.

Eine zweite Schlussfolgerung lautet daher: Friedens- und Konfliktforscher haben längst nicht immer qualifizierten Rat zur Hand. Als Wissenschaftler sollten wir aufrichtig genug sein zuzugeben, dass sich nicht alle politischen Probleme nach wissenschaftlichen Kriterien bearbeiten lassen. Ebenso, dass Wissenschaft fehlerhaft sein kann. Dies sollte auch von den Politikern bedacht werden, die Politikberatung durch die Friedens- und Konfliktforschung erwarten.

Erwartungen der Friedensforschung

Welche Ziele verbinden Friedensforscher mit Politikberatung und was erwarten sie von den Politikern? Sie wollen die politische Spitze mit Informationen versorgen. Sie wollen nicht nur beraten, sondern möchten auch, dass die Politiker ihrem Rat folgen. Sie wollen Politik beeinflussen – und dies auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein konkretes Beispiel illustriert, wie dies in der Praxis funktioniert. Ende 1999 hatte die Bundesregierung die Rüstungsexportrichtlinien, die die sozialliberale Koalition 1982 verabschiedet hatte und mit der die Regierung Kohl 16 Jahre prima ihre expansive Rüstungsexportpolitik hatte betreiben können, überarbeitet. In der ersten Überarbeitung wurden nur Marginalien verändert. Als es an der grünen Basis Proteste gab und sich ein ernster Konflikt innerhalb der rot-grünen Koalition anbahnte, lud Außenminister Fischer ein gutes Dutzend Nichtregierungsorganisationen und Friedensforscher zu einem Gespräch ein und registrierte mit großer Aufmerksamkeit deren Argumente. Die dann neu erarbeiteten restriktiveren Rüstungsexportrichtlinien waren ein wirklicher Fortschritt. Bei einer Reise Fischers nach Südafrika drei Monate später erinnerten dann einige der damals Beteiligten an die Richtlinien und kritisierten die deutschen Rüstungsexporte nach Südafrika. Eine abwinkende Handbewegung des damaligen Außenministers war die einzige Reaktion. Um diese Rüstungsexporte werden noch heute in Südafrika Prozesse geführt, weil dort hochrangigen Politikern und Ministerialbeamten vorgeworfen wird, für Kickbackzahlungen die Hand aufgehalten zu haben.

Deshalb ist eine dritte Schlussfolgerung zu ziehen: Politiker handeln oft nur, wenn der Druck groß genug ist. Ob man ihnen beibringen kann, nicht nur dann zuzuhören, wenn der Rat genehm ist, ist fraglich. Auch bei der Politikberatung im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung sind weiterhin Enttäuschungen programmiert, wenn nicht die gegenseitigen Erwartungen realistisch eingeschätzt werden.

Strukturprobleme

Zwei strukturelle Probleme sollten erwähnt werden: Erstens, die Wissenschaft in Deutschland, auch die Friedens- und Konfliktforschung, ist stärker als in vielen anderen Ländern von öffentlicher Finanzierung abhängig. In ihrer Selbsteinschätzung räumen viele Friedensforscher als Reaktion hierauf der Zielvorgabe »Wissenschaftlichkeit« stärkeres Gewicht ein, als etwa »Politiknähe« oder »Medienpräsenz«. Durch wissenschaftlich fundiertes Arbeiten hofft man, nicht in politische Abhängigkeiten zu geraten. Hinzu kommt, dass die Wissenschaftler das politische System zu Recht in vielen Bereichen als träge, ineffektiv und ineffizient einschätzen, obwohl heute technische Rationalität und Machbarkeit groß geschrieben werden. Sie fürchten, ihre Ergebnisse könnten zwar als relevant eingestuft werden, jedoch im politischen Prozess nicht wirklich Eingang finden.

Zweitens kann man eine deutliche Beratungs- und Planungsresistenz der politischen Eliten feststellen. Und je länger die Regierungszeit einer Partei oder Koalition andauert, desto stärker rücken die administrativen Reflexe der Politik in den Vordergrund. Um so schwieriger wird es, Beratung kompetent in den politischen Prozess einzubringen. Hinzu kommt, dass in der heutigen Mediengesellschaft ein deutlicher Bedeutungszuwachs von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu spüren ist, dem Beratungskapazitäten entweder zum Opfer fallen oder aber die für die jeweiligen politischen Ziele eingespannt werden können. Es geht also weniger um sachliche Beratung als vielmehr um die Verstärkung der eigenen politischen Positionen.

In diesem Kontext ist an die Erkenntnis des großen Sozialwissenschaftlers Karl W. Deutsch zu erinnern, der die Erwartungen des Politikers an wissenschaftliche Politikberatung mit dem Verhältnis zwischen einem Laternenpfahl und einem Betrunkenen verglich: Der Politiker sucht, so Deutsch, keine Erleuchtung, sondern Halt und Unterstützung.

Die vierte Schlussfolgerung lautet: »Wissenschaftlichkeit« und »Politikberatung« sind kein Gegensatz. Im Gegenteil, qualifizierte Politikberatung muss auf der Basis solider wissenschaftlicher Ergebnisse erfolgen. Will man das unproduktive Paar der »hilflosen Berater« auf der einen und der ratlosen, oder »ratunwilligen Politiker« auf der anderen Seite auflösen, um daraus eine produktive Zusammenarbeit zu entwickeln, dann muss man sowohl gegen die subjektiven Verhaltensweisen oder gar Vorurteile auf beiden Seiten als auch gegen die strukturellen Hindernisse angehen. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Gefahren

Auf zwei Gefahren sei hingewiesen: Erstens, was tun Politiker, wenn sie keine – in ihrem Sinne – ordentliche Beratung von Wissenschaftlern erhalten, sich gleichzeitig aber immer wieder bei ihren Wählern legitimieren müssen? Sie suchen sich die Leute, die ihnen diese Legitimation liefern. Das sind die Gutachter, seit einigen Jahren zunehmend auch die Unternehmensberater, die Consultingfirmen. Sie sind die neue Priesterkaste, die meist sehr viel genauer hinhört, was denn von ihnen erwartet wird und welche Ergebnisse gewünscht werden. Dafür werden sie dann auch besser bezahlt als die Wissenschaftler. Die zweite Gefahr: Effiziente und korrekte Politikberatung hat nichts mit Parteipolitik zu tun. In den USA konnte man im letzten Jahrzehnt bei den Konservativen deutlich erkennen, dass sich parteipolitische Berater nicht an Objektivität oder gar Wahrheitssuche orientieren. Vielmehr entsteht zumeist eine Kombination aus ideologischer Vernebelung und politischer Überzeugungsarbeit. Dies ist Lobbyismus, der oft entscheidend für Wahlen oder auch Gesetzesinitiativen ist, nicht aber solide Politikberatung.

Die fünfte Schlussfolgerung lautet: Die Lieferung von Ergebnissen, die gerne gehört werden und erwünscht sind, mag zwar kurzfristig für Politiker und Wissenschaftler verführerisch und oft auch lukrativ sein. Die Friedens- und Konfliktforschung sollte sich jedoch hiervor hüten, selbst auf die Gefahr hin, dann gar nicht gehört zu werden. Beide Seiten, Politik und Wissenschaft, müssen erkennen, dass es auch einen Bedarf an langfristig wirksamer und nachhaltiger Politikberatung gibt.

Wissenschaftliche Sprache

Die Komplexität heutiger politischer Probleme erfordert Expertenwissen. Doch ist scheinbare Komplexität zum Teil auch das Resultat einer mystifizierenden, technischen Sprache, die – häufig durchaus beabsichtigt – jene einschüchtert, die versuchen, sich mit den Experten auseinander zu setzen. Ohne Zugang zu politischen Expertisen (oder Gegenexpertisen) kann heute weder Politik gemacht werden, noch können Interessengruppen ohne diesen Zugang am politischen Prozess teilnehmen, geschweige denn auf effiziente Weise. Gegenwärtig hat die wachsende Bedeutung des Expertenwissens und der technischen Einrahmung politischer Fragen die Folge, dass die Bürgerbeteiligung, ein wesentlicher Aspekt der Demokratie, marginalisiert wird, weil sich die Experten in den Vordergrund schieben und sich nicht allgemein verständlich ausdrücken können oder wollen.

Die sechste Schlussfolgerung lautet: Will Friedens- und Konfliktforschung dem eigenen Anspruch nach effizienter Politikberatung gerecht werden, muss sie zu der Entmystifizierung des technokratischen Expertenwissens einen Beitrag leisten und Ergebnisse publizieren, die nicht nur für die politische Klasse nachvollziehbar oder nutzbar sind, sondern auch von der Öffentlichkeit, insbesondere der Zivilgesellschaft verstehbar und damit verwertbar sind.

Praxisbezug

Wem diese Aussagen zu abstrakt sind, der mag die folgenden konkreten Vorschläge – die sicherlich fast beliebig ergänzt und erweitert werden können – bedenken. Sie sollen andeuten, wie Politikberatung im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung produktiver organisiert werden kann.

Politikberatung sollte kein gesonderter Schwerpunkt der Forschung sein; stattdessen sollten sich die Forscher eines jeden Forschungsprojektes fragen, welchen Stellenwert der Praxisbezug, die Politikrelevanz und die Anwendungsorientierung als integraler Bestandteil der Forschung haben.

Bei großen amerikanischen Stiftungen wird für jeden Forschungsantrag, den man vorlegt, verlangt, eine Aussage zu »dissemination« und »outreach« zu machen. Das heißt, die Verbreitung der Ergebnisse ist integraler Teil der Arbeit, der auch honoriert wird (sowohl in der Anerkennung als auch in den zur Verfügung gestellten Finanzmitteln). Die Forschungsförderung in Deutschland wäre gut beraten, Ähnliches von Antragstellern zu verlangen, damit der Transfer von der Forschung in die Praxis funktioniert. Man sollte nicht voraussetzen, dass sich die Wissenschaftler schon irgendwie oder automatisch um die Umsetzung der Ergebnisse kümmern.

An die Art der Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse müssen hohe Ansprüche gestellt werden: also keine Produktion von Buchstabenwüsten für das Bücherregal. Gefordert sind ansprechende Präsentationen!

Wissenschaftsjournalisten könnten vielleicht eine Brücke zwischen Wissenschaft und Politik bzw. Wissenschaft und Öffentlichkeit schlagen.

Die Fehlwahrnehmungen und falschen Erwartungen hinsichtlich der Möglichkeiten von Politikberatung sind auf beiden Seiten, bei Politik wie Wissenschaft, zu groß, um annehmen zu können, dass sich diese Kluft schon irgendwie von selbst überbrücken lässt. Ein organisierter Dialog zwischen Wissenschaft und Politik kann dazu beitragen, die Wissenschaftler zu zwingen, ihre Ergebnisse adäquat darzustellen und die Politiker dazu bewegen, zuzuhören.

Vielleicht hilft auch ein systematischerer Personalaustausch zwischen Politik und Wissenschaft, um den Graben zwischen Theorie und Praxis zu überwinden.

Den Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft kann man empfehlen, sich auf das schwierige und manchmal frustrierende Unterfangen einzulassen, näher an die politischen Prozesse heranzugehen. Entweder lässt man sich auf Politik ein, unter nicht immer besonders produktiven Bedingungen, um kleine Schritte voran zu tun oder man muss sich grundsätzlich davon fernhalten und Wissenschaft im »Elfenbeinturm« machen.

Veranstaltungen und Tagungen, bei denen Wissenschaftler ihre Ergebnisse vorstellen und in einen Dialog mit politischen Repräsentanten treten, haben sich als Dialogforum bewährt.

Schließlich ist zu empfehlen, in der Friedens- und Konfliktforschung nicht nur zu forschen und zu lehren, sondern praktische, anwendungsorientierte Projekte auszuführen, wie dies teilweise bereits geschieht. Auch Friedens- und Konfliktforschung muss sich heute in der weitgehend kommerzialisierten Forschung am »Markt« bewähren.

Die Forschung, die den hohen Anspruch erhebt, auf einem so komplexen Gebiet wie Konflikte, Kriege, Sicherheit und Frieden Erklärungen oder gar Lösungen anzubieten und Politiker entsprechend zu beraten, bewegt sich – um es nochmals militärisch auszudrücken – auf einem Minenfeld. Mit viel Geschick kann das Feld entmint werden; andernfalls kann auch eine Mine in die Luft gehen – mit entsprechend negativen Folgen für die Beteiligten. Bevor man sich als Wissenschaftler jedoch darauf einlässt, den Politikern nach dem Munde zu reden, nur um tatsächlich auch gehört zu werden, sollte man sich auf eine Wissenschaft mit soliden Methoden beschränken, die richtigen und kritischen Fragen stellen und darauf zählen, dass Rationalität auch im politischen Alltag nicht permanent ungehört bleibt und ignoriert werden kann.

Anmerkungen

1) HSFK, FEST, IFSH, Friedensgutachten 1987, Frankfurt/Main, 1987, S.5.

2) BICC, INEF, ISFH, FEST, HSFK, Friedensgutachten 2008. Münster 1987, S. V.

3) http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/science/dsf.html

Prof. Dr. Herbert Wulf war Leiter des Bonn International Center of Conversion (1994-2001) und forschte u.a. am Institut für Frieden und Sicherheitspolitik Hamburg und am SIPRI. Er ist Berater für verschiedene UN Organisationen sowie im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Er ist Vorstandsvorsitzender von W&F.

Hat die Friedensforschung Einfluss auf die Politik?

Hat die Friedensforschung Einfluss auf die Politik?

von Helmut Hugler

FriedenswissenschaftlerInnen haben in der Regel den Anspruch auf praktische Relevanz ihrer Forschung. Das unterscheidet sie nicht unbedingt von anderen sozialwissenschaftlichen Forschenden. Die erheblichen Veränderungen der außenpolitischen Praxis in Deutschland (Stichworte hierfür sind die Zunahme der Bedeutung der deutschen Außenpolitik und der internationalen Einsätze der Bundeswehr) werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Friedens- und Konfliktforschung Einfluss auf diese Entwicklung hat und damit die Frage nach deren Praxisrelevanz. Aus meiner Sicht als langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag hört sich die Antwort widersprüchlich an: Der Einfluss von friedenswissenschaftlicher Expertise und Politikberatung auf die Politik hat zugenommen trotz oder wegen der aktiveren militärischen Rolle der Bundesrepublik. Um dies zu begründen, werde ich von verschiedenen Seiten, jedoch exemplarisch, das komplexe Zusammenspiel beleuchten.

Das politische und gesellschaftliche Umfeld

Das Umfeld ist unterteilbar in die »Politik«, den politischen Raum und gesellschaftlich-politische Öffentlichkeit. Die Wirkung auf den politischen Raum lässt sich als direkte Wirkung auf die Entscheidungsträger qualifizieren, die Wirkung in der Öffentlichkeit vermittelt sich über gesellschaftliche und politische Diskurse und Debatten. Zur direkten Wirkung auf die Politik muss dort die Bereitschaft vorhanden sein, friedenswissenschaftliche Forschungsergebnisse1 aktiv zu rezipieren und umzusetzen. Barbara Tuchman stellt fest, dass in der Politik eine Situation besteht, „nach vorgefassten, festen Anschauungen einzuschätzen und gegenteilige Anzeichen zu missachten und oder zu verleugnen“.2 Positiv gewendet kann das auch bedeuten, dass Ergebnisse, die diesen vorgefassten Anschauen entsprechen, aufgenommen werden. Das heißt, es müssen politische Akteure vorhanden sein, die die politisch-normative Ausrichtung der Forschung teilen und in der Lage sind, die Ergebnisse in ihre politischen Strategien einzubauen. Dies nenne ich die direkte Wirkung der Friedensforschung auf die Politik.

Die indirekte Wirkung der Friedensforschung durch die Beeinflussung der öffentlichen Debatte ist gleichfalls nicht zu vernachlässigen. Durch friedenswissenschaftliche, publizistische Interventionen, durch die Artikulierung von Ergebnissen, durch zivilgesellschaftliches Engagement können Rahmenbedingungen für subjektiv oder objektiv durchsetzbare Politik geschaffen werden. Diese kann sowohl im Rahmen von gesellschaftlichen Diskursen auf die Politik wirken, die sehr sensibel auf öffentliche Stimmungen reagiert, wie auch indirekt durch die längerfristige Umwertung von Politikinhalten durch eine langfristig angelegte öffentliche Debatte.

Zu unterscheiden ist im politischen Raum, welche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten die Ansprechpartner der Friedensforschung haben, gehören sie der Opposition oder der Regierung an: Oppositionspolitiker können sich beraten lassen, können diese Beratung in die öffentliche Debatte einfließen lassen, die Wirkung auf Regierungsentscheidungen wird aber indirekt bleiben.

Die Friedensforschung konnte auf viele der »neuen Kriegs«-Situationen schneller Antwort geben als die so genannten »Realisten«. In diesem Prozess ist die Friedensforschung in den Mainstream der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen und des gesellschaftlichen Diskurses gelangt. Auch konservative Entscheidungsträger haben inzwischen erkannt, dass Konfliktbearbeitung eine komplexe Angelegenheit ist, die eines multidimensionalen Ansatzes bedarf, und die Wirksamkeit von umfassenden (Sicherheits-)Ansätzen anerkannt.

Die direkte Wirkung von Friedensforschung

Zunächst müssen Adressaten für die Ergebnisse der Friedensforschung vorhanden sein, also PolitikerInnen, Parteien, gesellschaftliche Gruppen, die sich aufgrund einer geteilten Problemwahrnehmung beraten lassen wollen. PolitikerInnen, die einem realistischen Weltbild folgen, mögen aus Stabilitätsgründen auf technische Weise auf Ergebnisse der Friedensforschung zurückgreifen, ihr Ziel ist jedoch nicht die Bearbeitung eines Konfliktes, sondern die Durchsetzung von (nationalen) Interessen. In Freund-Feind-Schemata denkende PolitikerInnen, werden auf Ergebnisse der Friedensforschung nicht zurückgreifen. Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs nach den Ende des Ost-West-Konfliktes ist beispielsweise weniger auf die Ergebnisse der Friedensforschung zurückzuführen als auf »Versicherheitlichungstendenzen«, die sich im Rahmen der Sicherheits- und Stabilitätsdebatten durchgesetzt haben.

Die Situation hat sich mit der rot-grünen Koalition geändert. SPD und Grüne haben schon zu Oppositionszeiten aus der Friedensforschung Ideen aufgegriffen, insbesondere zum Thema »Zivile Konfliktbearbeitung«, und in politische Konzepte gegossen. Ironischerweise hat sich die Wirkung der Friedensforschung in dem Moment erhöht, in dem die Bundesrepublik Deutschland sich am Kosovo-Krieg beteiligte. Den Akteuren dieser politischen Konstellation war klar, dass Konflikte nicht mit militärischen Mittel zu lösen sind, gleichzeitig aber wurde der Einsatz von Militär ein politisches Mittel. Die militärische Vorgehensweise wurde in ein politisches Programm der Konfliktbearbeitung eingebettet. Auch die Debatte über zivile Krisenprävention, die bereits zu Oppositionszeiten bei SPD und Grünen geführt wurde, wurde intensiviert, da in beiden Parteien klar war, dass Militär im traditionellen Sinn keine Konfliktbearbeitung generieren kann und zur Verhinderung von gewaltförmig ausgetragenen Konflikten die Instrumente fehlen. Der Stabilitätspakt für den Westlichen Balkan wurde zwar auch in diplomatischen Kreisen bereits längere Zeit diskutiert, aber in seine Konzeptionierung und Umsetzung sind dann auch Elemente der Konstruktiven Konfliktbearbeitung eingeflossen.

Die Entwicklung des »Aktionsplans Zivile Krisenprävention«3 wurde maßgeblich von der Friedensforschung beeinflusst. Nicht nur, dass die daran beteiligten Abgeordneten FriedensforscherInnen mit der entsprechenden Expertise zu Rate zogen, die Friedensforschung war bis hin in die redaktionellen Arbeiten direkt an der Entstehung beteiligt. Über den Beirat Zivile Krisenprävention ist die Friedensforschung nun auch institutionell in die Realisierung des Aktionsplanes eingebunden. Bei aller Kritik auch aus der Friedensforschung an dem Umsetzungsprozess lässt sich der Einfluss auf die Politik an dieser Stelle nicht bestreiten.

Ein weiteres Beispiel: das Abkommen über Kooperation im zivilen Nuklearbereich zwischen den USA und Indien. Im Juni 2005 vereinbarten die beiden Staaten den Abschluss eines Abkommens, das die Lieferung nuklearer Technologie und Materials an Indien ermöglichen sollte. Hierfür erforderlich war eine Ausnahmeregelung der Nuclear Suppliers Group, einer Gruppe von 45 Staaten, nach deren verbindlichen Kriterien für Nuklearexporte Indien nicht hätte beliefert werden dürfen. Während ein Teil der Friedensforschung die Vereinbarung ablehnte (z. B. die Arms Control Association), waren andere Friedensforscher zwar skeptisch, aber nicht eindeutig ablehnend (z. B. Harald Müller, HSFK). Die Ausnahmeregelung wurde nun letzten Monat für Indien beschlossen. Teile der Friedensforschung konnten Einfluss auf die Politik der Bundesregierung ausüben, wenn auch in durchaus umstrittener Weise.

Die indirekte Wirkung: Das gesellschaftliche Umfeld, die öffentliche Debatte

Die indirekte Wirkung über öffentliche Debatten ist sehr schwierig messbar. Sicher: Wenn ein Thema die öffentliche Debatte bestimmt, dann muss Politik allein aus Legitimationsnöten reagieren. Wenn durch öffentliche Debatten ein Meinungsumschwung einsetzt, dann kann dadurch politischen Entscheidungen ein neuer Rahmen gesetzt werden.

Die Stationierung der Mittelstreckenraketen in den 80er Jahren und die damit einhergehende öffentliche Diskussion ist hierfür ein (älteres) Beispiel. Die Friedensforschung hat aktiv an der Debatte mitgewirkt, die Öffentlichkeit beeinflusst und den Kritikern der Nachrüstung Argumente geliefert.

Auf den ersten Blick waren Friedensforschung und -bewegung erfolglos, weil die Raketen zunächst stationiert wurden. Auch deren Abrüstung war nicht der Aufnahme von Ergebnissen der Friedensforschung geschuldet. Die deutschen Außenpolitiker der 1980er Jahren haben diese kontroverse öffentliche Debatte aber so rezipiert, dass sie sich bei vergleichbaren politischen Entscheidungen zurückhaltend verhielten, da sie eine zweite »Raketendebatte« fürchteten. Die Erfahrung der BefürworterInnen der Nachrüstung war, dass viele der Argumente gegen die Nachrüstung aus der Forschung kamen. Es war eine gesellschaftliche Stimmung vorhanden, die bereit war, die Argumente der Friedensforschung aufzunehmen.

Nach als zentral wahrgenommenen Ereignissen verschieben sich die öffentlichen Meinungsbilder. Während der Zeit des Ost-West-Konfliktes war die Weltsicht geprägt von Bipolarität. Die friedenspolitische Debatte war in vielen Bereichen darauf orientiert bzw. musste sich in diesem Umfeld bewegen. Ansätze zur zivilen/konstruktiven Konfliktbearbeitung hatten es auf der Ebene der Politik schwer, da dieser Weltkonflikt als nicht lösbar wahrgenommen wurde. Im günstigsten Fall ging es um die Regulierung / Verregelung des Konfliktes und um die Bearbeitung von Konfliktfeldern, die als dysfunktional für die jeweiligen Interessen angesehen wurden. Unter diesen Bedingungen entwickelten z.B. Friedensforscher des IFSH die durchaus politikrelevante Theorie der Rüstungskontrolle, deren primäres Ziel nicht Abrüstung, sondern die kooperative Steuerung der Rüstung war.

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes setzte eine Öffnung des sicherheitspolitischen Denkens auch in konservativen Kreisen ein, die zwar weiterhin stabilitäts- und interessenpolitischen Vorgaben folgte, aber wahrnahm, dass Macht, Einfluss, Politik sich aus vielen verschieden Elementen zusammensetzen. Gesamtgesellschaftlich wuchs die Bereitschaft, nichtmilitärische Elemente von Konfliktbearbeitung zu akzeptieren. Dies führte zu einer Annäherung zwischen militärischen und zivilen Maßnahmen in der Wahrnehmung der Politik.

Nach den Anschlägen von New York und Washington am 11.September 2001 gab es eine weitere Verschiebung der öffentlichen und Fachdebatte. »Sicherheit« wurde neu diskutiert, Bereiche der Außen- und Entwicklungspolitik wurden »versicherheitlicht«. Skeptische Stimmen aus der Friedensforschung, die vor einer Überbewertung der Anschläge warnten, wurden ignoriert. Es entwickelte sich keine der Diskussion der 1980er Jahre vergleichbare, dem »Nuklearpazifismus« entsprechende, die Gesellschaft durchdringende Debatte über die zukünftige Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Wirkung der Friedensforschung war erheblich abgeschwächt.

Welche Friedensforschung brauchen wir?

FriedensforscherInnen wollen, dass ihre Arbeit von der Politik wahrgenommen wird. Was häufig und mit Gewinn gelesen wird, sind relativ kurze Papiere mit Empfehlungen. Am effektivsten sind direkte Gespräche, Briefings oder Workshops, auf denen mit den ForscherInnen direkt diskutiert bzw. nachgefragt werden kann. Hier kann Wissen sozusagen in Echtzeit von der Politik aufgenommen werden.

Grundlagenforschung, wie z. B. theoretische Arbeiten zum demokratischen Frieden, die einen geringen Bezug zur politischen Alltagspraxis haben, werden in der Politik kaum wahrgenommen. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Forschung keine Bedeutung hat. Aber ihre Wirkung entfaltet sich erst durch konkrete empirische Arbeiten, die auf der Basis der entwickelten theoretischen Modelle operieren.

Bei welchen Themen besteht derzeit konjunktureller Bedarf? Es darf nicht wundern, dass Arbeiten über Afghanistan in der gegenwärtigen Debatte mit Interesse wahrgenommen werden. In Afghanistan mussten Politik und Friedensforschung dazulernen. Der Aufbau eines stabilen und demokratischen Staates wird erstens länger dauern als erwartet und zweitens muss er sich an den gesellschaftlichen Umständen und Wertvorstellungen vor Ort orientieren. Hier kann die Friedensforschung durch Studien und Meinungsumfragen, wie das z. B. in einem Sonderforschungsbereich der FU Berlin passiert, Hinweise geben, an welchen Kriterien sich die Strategie und konkrete Projekte orientieren sollten.

Da sich die Politik mit sehr konkreten Problemen auseinandersetzen muss, wird das Gespräch mit ExpertInnen, die empirisch arbeiten, gesucht. Themen sind der zivile Wiederaufbau, die Evaluierung der Maßnahmen der Internationalen Gemeinschaft und der Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung vor Ort.

Das transatlantische Verhältnis wird wohl, unabhängig davon, wer die Wahl in den USA gewinnt, neu definiert werden. Multilaterale Politik wird wieder eine größere Chance bekommen, auch wenn der Spielraum natürlich vom Wahlergebnis abhängt. Aufgabe der Friedensforschung könnte vor diesem Hintergrund sein, Optionen für eine gemeinsame transatlantische Politik, z. B. im Bereich Rüstungskontrolle, auszuloten. Die Zeit drängt, wenn die nächste Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages kein Misserfolg werden soll. Aber ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten werden wir das »window of opportunity« in der nuklearen Rüstungskontrolle nicht nützen können.

Zusammenfassende Bemerkungen

Abschließend würde ich zusammenfassen, dass sich die direkte Wirkung der Friedensforschung auf die Politik seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes erhöht hat. Die »disziplinierende Wirkung« des Kalten Krieges (Ernst-Otto Czempiel) hat nicht nur auf der Ebene der internationalen Beziehungen gewirkt, sondern auch innergesellschaftlich. Viele Forschungsergebnisse, z. B. zur Entwicklung von Feindbildern oder zur zivilen Konfliktbearbeitung, wurden in den 1980er Jahren eher misstrauisch, weil nicht in das Ost-West-Schema passend, beäugt.

Der Wandel des politischen Raums, zunächst rot-grün, dann die Große Koalition, führte zu einer höheren Aufnahmebereitschaft von Ergebnissen aus der Friedensforschung. Die direkte Wirkung der Friedensforschung scheint sich auch unter der Großen Koalition nicht abzuschwächen. An der außenpolitischen Grundrichtung, was die konkreten Konfliktbearbeitungsstrategien betrifft, hat sich hierdurch wenig geändert hat; strategische Leitlinien wie der Aktionsplan Zivile Krisenprävention wurden beibehalten und weiter institutionalisiert. Ob und wie nachhaltig dieser Wandel bei konservativen Kräften ist, bleibt abzuwarten.

Indes scheint sich die indirekte Wirksamkeit der Friedensforschung eher verflüchtigt zu haben. In den 80er Jahren gründete sie auf dem »Nuklearpazifismus«. Seitdem hat sich keine ähnliche öffentliche Stimmung entwickelt, das Unbehagen der Öffentlichkeit an den Bundeswehreinsätzen bleibt eher diffus. Allerdings sind meine Ausführungen persönliche Eindrücke, eine Wirkungsforschung über die Friedensforschung steht noch aus.

Anmerkungen

1) Ich beziehe mich hier auf die Friedensforschung, die abgrenzbar von der Politikwissenschaft der Internationaler Beziehungen und interdisziplinär orientiert ist, in deren Fokus es vor allem um Konfliktbearbeitung geht; dazu gehören VertreterInnen eines radikal-pazifistischen Ansatzes wie des institutionellen Pazifismus.

2) Tuchmann, Barbara (1984): Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam, Frankfurt/Main, 3. Aufl., S.15.

3) Aktionsplan zur Zivilen Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung, Unterrichtung der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag, 15. Wahlperiode, Bundestagsdrucksache 15/5438 von 26. Mai 2004 (zugeleitet mit Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 12. Mai 2004 (Bundestagsdrucksache 15/5438).

Helmut Hugler ist Mitarbeiter der SPD-Bundestagsabgeordneten Uta Zapf; er war von 1996 bis 1999 ehrenamtlich in der Redaktion der Zeitschrift W&F tätig.

Betreff: Kultur des Friedens

Betreff: Kultur des Friedens

Brief an meine akademischen Freunde

von David Adams

Der vorliegende Brief von David Adams beruht auf einer umfänglichen E-Mail-Korrespondenz im Rahmen der Erarbeitung eines Handbuchs zur Kultur des Friedens. Einige der dabei angesprochenen Themen sind von allgemeinem Interesse, wenn man sich mit dieser Thematik wissenschaftlich auseinandersetzt. Das bewog Adams, seine Gedanken in Form eines Briefes an seine akademischen Freunde niederzuschreiben. Wir veröffentlichen diesen Brief vom August 2007, gekürzt und redaktionell bearbeitet, mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der ungekürzte O-Text ist im Internet unter http://www.culture-of-peace.info/letter/Letter_to_Academic_Friends.pdf zu finden. Die Übersetzung und Bearbeitung besorgte Albert Fuchs.

Die einschlägigen Fragen sind bedeutsam, weil Forscher, akademische Autoren und Lehrer Möglichkeiten haben, einen Beitrag zu leisten zur Transformation einer Kultur des Krieges, wie sie die menschliche Gesellschaft seit über 5.000 Jahren bestimmt, in eine neue Kultur, eine Kultur des Friedens. Andererseits ist der allgemeine akademische Betrieb ein integraler Bestandteil der herrschenden Kultur des Krieges. Um in diesem Betrieb eine Kultur des Friedens zu befördern, muss man sich selbst von den Vorurteilen und Perspektiven der Kultur des Krieges frei machen und u.U. seine Karriere riskieren, indem man sagt und schreibt, was Sache ist… Macht man sich nicht selbst frei von diesen Vorurteilen und Perspektiven, läuft man Gefahr, bewusst oder unbewusst zur Aufrechterhalten der Kultur des Krieges beizutragen.

Hintergrund: Das UN-Konzept der Kultur des Friedens

Die Kultur des Friedens wurde in den 1990er Jahren bei der UNESCO zunächst als Beitrag zu den Peacekeeping-Aktivitäten die UN konzipiert und später als ein von der Generalversammlung gefordertes Programm (vgl. Adams 2003).

Um es kurz zu machen: Wir sahen darin ausdrücklich eine Alternative zur Kultur des Krieges. Im ursprünglichen Entwurf des von der UNESCO den UN unterbreiteten Aktionsprogramms wurde Punkt für Punkt gezeigt, wie kritische Merkmale einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit die Grundzüge der Kultur des Krieges und der Gewalt ersetzen könnten (vgl. den Kasten).

Aus dem ursprünglichen UNESCO-Entwurf eines Aktionsprogramms für eine Kultur des Friedens:

1. Niemals gab es einen Krieg ohne ‚Feind’; um den Krieg abzuschaffen, müssen wir Feindbilder überwinden und ersetzen durch Verständnis, Toleranz und Solidarität zwischen allen Menschen und Kulturen.

2. Nachhaltige Entwicklung für alle … Das bedeutet eine einschneidende Veränderung im Verständnis des Wirtschaftswachstums, das bisher als Ergebnis von militärischer Überlegenheit und struktureller Gewalt gelten kann, erreichbar nur auf Kosten der Besiegten und Schwachen.

3. Demokratische Teilhabe und Regierungsführung – als einziger Weg zur Überwindung autoritärer Machtstrukturen, die der Kultur des Krieges und der Gewalt entstammen und sie stützen.

4. Gleichheit von Frauen und Männern … muss die überkommene, für die Kultur des Krieges und der Gewalt überaus charakteristische Ungleichheit der Geschlechter ersetzen.

5. Partizipatorische Kommunikation und freier Fluss und Austausch von Information und Erkenntnissen anstelle der die Kultur des Krieges kennzeichnenden Geheimhaltung und Informationsmanipulation.

6. Internationaler Frieden und allgemeine Sicherheit, inklusive Abrüstung.

7. Die Weiterentwicklung und internationale Anerkennung universaler Menschenrechte – insbesondere die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – ist einer der wichtigsten Schritte zum Übergang von einer Kultur des Krieges und der Gewalt zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit. Er erfordert eine Umwandlung von Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen im ausgrenzenden Interesse eines Klans, des Stammes oder der Nation zu entsprechenden Orientierungen im Interesse aller Menschen.

8. Erziehung ist das Hauptmittel der Förderung einer Kultur des Friedens … Schon das Verständnis von Einfluss und Macht muss von der Logik des Zwangs und der Furcht zur Stärke von Vernunft und Liebe entwickelt werden.

(cf. UN General Assembly, 1998)

Obwohl die Erklärung und das Aktionsprogramm von der UN-Generalversammlung am 13. Sept. 1999 als Resolution A/53/243 angenommen wurden, wurde die Analyse der Kultur des Krieges und der Gewalt aus der Endversion gestrichen. Die Europäische Union drohte damit, den Text nicht passieren zu lassen, da es nirgendwo auf der Welt eine Kultur der Kriege und Gewalt gebe. Und das, obgleich die Generalversammlung ein Jahr zuvor in Resolution A/52/13 einleitend davon gesprochen hatte, dass „… die Bildung des UN-Systems auf der Grundlage universeller Werte und Ziele per se ein wichtiger Akt der Transformation einer Kultur des Krieges und der Gewalt zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit“ gewesen sei.

Es ist nicht verwunderlich, dass diplomatische Vertreter von Großmächten die Kultur des Krieges nicht erwähnt sehen möchten, da ihre Macht darauf basiert. Um klar zu sein: Hier ist nicht von Krieg die Rede, sondern von einer Kultur des Krieges, einer Tiefenkultur, die Kriegsvorbereitung und Kriegführung ermöglicht und begünstigt. […] Die Kultur des Krieges richtet sich im Übrigen nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen die Opposition im Innern (vgl. Adams 1995). In der Tat bildet die Monopolisierung der Gewalt den Kern der Staatsmacht von Anfang an. Dabei geht es nicht nur um offene physische Gewalt. Der Staat hält seine Macht nach innen auch aufrecht durch Geheimhaltung und Informationskontrolle im Namen der »nationalen Sicherheit« und andere Aspekte der Kultur des Krieges. Das gilt für »liberale Demokratien« ebenso wie für autoritäre Regime. In die Kultur des Krieges sind nicht nur Politiker, Diplomaten und Bürokraten verwickelt. Im Grunde sind alle Institutionen der Gesellschaft darin verfangen, inklusive Massenmedien, Erziehungs- und Bildungswesen und Wissenschaftsbetrieb.

Akademisches Establishment: verstrickt in die Kultur des Krieges

Die typische Analyse von Vertretern des wissenschaftlichen Mainstreams akzeptiert, explizit oder implizit, die Kultur des Krieges, in der wir leben. So zitiert Joe DeRivera in seinem 2004 erschienenen Band der Zeitschrift »Peace and Conflict« die Kritik eines Mainstream-Politikwissenschaftlers an Analysen unter Gesichtspunkten des Gegensatzes Kultur des Krieges/Kultur des Friedens. Der betreffende Autor, Suedfeld, wende sich gegen einige Grundannahmen solcher Analysen. Er mache geltend, strukturelle Machtdifferenzen gebe es überall und Gewalt sei ein leicht verfügbares Mittel Mächtiger, sich zu besorgen, was sie begehrten. Die Politik der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Mächte sei die Grundlage des z.Z. bestehenden Weltfriedens, keineswegs ein Ausfluss einer Kultur des Krieges. […]

Nach meiner Meinung, ist der übergroße Teil der Wissenschaftswelt – nicht anders als der größte Teil der kommerziellen Massenmedien – so tief in die Kultur des Krieges »eingebettet«, dass man glaubt, eine Kultur des Friedens füge sich bestens darin ein. Ein aufschlussreiches Beispiel ist die These, liberale Demokratien führten keinen Krieg gegen andere Demokratien. Sie wird gestützt durch sorgfältige Datenmanipulation. Ihre Befürworter vermeiden es, von Krieg zu reden, wenn Kissinger und die USA das Chile Allendes, eine andere liberale Demokratie, unterminieren. Oder wenn die Contra gegen Nicaragua finanziell und militärisch massiv unterstützt werden. […]

Die Orientierung an der Kultur des Krieges im Wissenschaftsbereich wird verstärkt durch Stiftungen und andere Finanzierungsquellen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung schildere ich in einem neueren Beitrag über Terrorismus (vgl. Adams 2006)

Ich bin mir sicher, es gibt Politologen und Soziologen, welche die Kultur des Krieges durchschaut und untersucht haben und sich der Kultur des Friedens als Alternative zuwenden können. Es fällt allerdings schwer, sie zu finden, denn sie werden von den Medien des Establishments ignoriert, von den akademischen wie den Massenmedien. Ich habe versucht, sie ausfindig zu machen, als ich vor etwas mehr als einem Jahrzehnt meine Analyse der US-Militärinterventionen im Innern veröffentlichte (Adams 1995). Das »Journal of Peace Research« lehnte es ab, die Arbeit zu veröffentlichen, wenn ich nicht Politologen und Soziologen zitieren könnte. Aber soviel ich auch suchte, ich konnte keine finden, die den Einsatz des Militärs zur politischen Kontrolle im Innern in sog. liberalen Demokratien untersucht hatten. Die einschlägigste Referenz, die ich finden konnte, war eine von Harold Lasswell, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im Schatten Hitlers geschrieben hatte. Auch jetzt gibt es kaum Bezugnahmen auf meine Studie, was bedeuten dürfte, dass es kaum jemand gibt, der zu diesem Problem arbeitet, obwohl es doch hochrelevant sein sollte. Ich gab seinerzeit zu bedenken, und glaube das mehr und mehr, dass die Hauptfunktion der Kultur des Krieges im Verlauf der Geschichte in der Kontrolle nach innen besteht, dass der Krieg gegen äußere Feinde sekundär ist, eine Maskierung der Primärfunktion.

Selbst wenn Akademiker die Probleme verstehen, werden sie behindert durch ungeschriebene Tabus, die ihnen die Themen vorschreiben, über die sie veröffentlichen dürfen. Tabuüberschreitung kann durch Verbannung aus der Gemeinschaft der jeweiligen Profession bestraft werden (vgl. Wiener 2005).

Unbrauchbare methodische Ansätze

Es gibt viele methodische Ansätze, die Umwandlung einer Kultur des Krieges in eine Kultur des Friedens zu studieren, und gewiss sollte die Forschung multidisziplinären Charakter haben. Indes gibt es auch Ansätze, die unbrauchbar sind. Zwei dieser Art jüngeren Datums sind die Verwendung nationaler Indikatoren und der Rekurs auf die »menschliche Natur«. Wie diese Ansätze verwandt wurden, führen sie dazu, die Vorurteile ihrer Erfinder zu bestätigen und die herrschende Kultur des Krieges zu stützen.

Nationale Indikatoren einer Kultur des Friedens. Der erste Versuch dieser Art, den ich kenne, wurde 2000 von einem Koreanischen Team vorgenommen und als »World Peace Index 2001« veröffentlicht. Auf der Grundlage der Kriterien, die man verwandte, lagen die skandinavischen Länder an der Spitze, während die Länder Afrikas und Asiens ganz unten rangierten. Die großen Mächte – England, Frankreich, Deutschland, China, USA, Kanada, Australien, Japan, Korea – nahmen einen mittleren Platz ein.

Ein Anschlussartikel zu nationalen Indikatoren einer Kultur des Friedens von Joseph DeRivera (2004) gelangte zu einem ähnlichen Ranking, obwohl weniger Länder berücksichtigt wurden. Aber dieser Artikel ging darüber hinaus und behauptete – aufgrund der Tatsache, dass es nicht gelang, [auf der Basis der Interkorrelation der Variablen ] einen einzigen Kultur-des-Friedens-Faktor zu finden –, es könne sich um ein „irreführendes Konzept“ handeln. […]

Nach meiner Meinung ist es spitzfindig, die Kultur des Friedens als eine Qualität bestehender Staaten zu analysieren, sie aufgrund einer Faktorenanalyse in Frage zu stellen und dann zu erklären, das Konzept sei „zu simpel“. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe, kann die Kultur des Krieges und der Gewalt mit ihrer inhärenten Symptomatik erklären, weshalb nicht zu erwarten ist, dass Indikatoren der Kultur des Friedens sich in Interkorrelationen von staatenbezogener Merkmalsbestände niederschlagen. Eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit im Sinn des ursprünglichen UNESCO-Vorschlags einer hypothetischen Alternative zur Kultur des Krieges und der Gewalt existiert noch nicht auf der Ebene der Nationalstaaten.

Außerdem sollten wir skeptisch sein gegenüber allen staatenbezogenen Angaben, welche die Staaten des Nordens als friedlich und die des Südens als weniger friedlich erscheinen lassen. Auch das ist eine Form von Spitzfindigkeit und Heuchelei. Wie z.B. von Mitgliedstaaten des Südens in der UNESCO-Debatte von 1999 hervorgehoben wurde, […], schreien die Staaten am lautesten nach Menschenrechten und »freien« Wahlen, die zur gleichen Zeit die Hauptwaffenverkäufer und traditionelle Gegner unabhängiger Medien in armen Ländern sind (vgl. http://www.culture-of-peace.info/annexes/commissionV/summary.html). Wenn man nicht nach Friedensindikatoren Ausschau hält, sondern nach Indikatoren einer Kultur des Krieges, dürfte man auf der Staatenebene ihren Zusammenhang nachweisen können, und zwar bei Merkmalen der inneren Verfasstheit wie der Beziehung nach außen. […]

Andererseits ist es ein verdienstvolles Unternehmen, Indikatoren einer Kultur des Friedens zu entwickeln und auf Institutionen anzuwenden, die nicht auf der Kultur des Krieges beruhen, z.B. Kommunalverwaltungen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Ich habe kein Problem mit dem Argument …, dass es viele Individuen, Gemeinwesen und Organisationen der Zivilgesellschaft in den USA und in anderen Ländern gibt, die implizit oder explizit für eine Kultur des Friedens eintreten und/oder deren Prinzipien praktizieren. Diese Individuen, Gemeinwesen und Organisationen der Zivilgesellschaft sind in der Tat nicht verantwortlich für den gesamten Apparat der Kriegskultur… Verantwortlich ist der Nationalstaat. Und deshalb wird man keine Kultur des Friedens finden können, wenn man Nationalstaaten unter die Lupe nimmt, und seien es die »besten Fälle« wie Skandinavien, Australien, Kanada, Deutschland usw.

In jüngster Zeit, d.h. im Jahr 2007, zeigt sich erneut die Heuchelei einer Bestimmung der Kultur des Friedens durch staatsbezogene Indikatoren in dem neuen »Global Peace Index«. Wie passt es doch, dass Europa, Australien und Kanada als die friedlichsten Länder erscheinen, während sich die Länder des Südens als unfriedlich herausstellen. Ich war niemals angetan von dem Schlagwort Kulturimperialismus. Aber wenn es je ein gutes Argument dafür gab, hier haben wir es!

Man kann tatsächlich alles mit Indizes beweisen, wenn man sie nur entsprechend sorgfältig auswählt. Was, wenn man eine Rangordnung der Länder nach dem Aufwand für Geheimhaltung bildet? Oder nach der Zahl der Nuklearwaffen? Oder nach der Zahl der Morde in den produzierten Videos, Filmen, Fernsehprogrammen? Nach ihren Militärallianzen mit anderen Ländern, die diesbezüglich hoch rangieren? Wäre das nicht auch »objektiv«?

Schließlich sollte die Verwendung von Indizes einer Kultur des Friedens – auf beliebigem Niveau – nicht dazu verwandt werden, zu »beweisen«, dass ein Gebilde (Land, Stadt oder zivilgesellschaftliche Organisation) besser ist als ein anderes. Dagegen können Indizes sinnvoll verwandt werden, um zu zeigen, ob eine bestimmte Entität sich von Jahr zu Jahr verbessert und in welchen Bereichen sie sich verbessert oder aber zurückfällt.

Argumentation mit der menschlichen Natur

DeRiveras vorgenannter Artikel beinhaltet auch diesen Ansatz – und auch das ist eine Argumentation, mit der man alles beweisen kann, insbesondere die Vorurteile dessen, der sie verwendet. Zum Konzept der Kultur des Friedens meint DeRivera: „Ob das Konzept politisch oder analytisch verwandt wird, wir müssen nach seiner Beziehung zu dem fragen, was nach unserem Kenntnisstand im Rahmen der menschlichen Natur möglich ist. Die Kultur des Friedens, wie die UNESCO (1995) sie sich vorstellt, erfordert Respekt vor den Rechten der anderen statt Beherrschung der Schwachen durch die Starken und geht von einer globalen Identität aus, die in lokalen Identitäten verwurzelt ist und einhergeht mit Solidarität angesichts der alle betreffenden Bedrohungen unserer Erde.“ (a.a.O., S.545)

Weiter führt DeRivera aus, wenn man die gegenwärtigen Lebensbedingungen der meisten Menschen zur Kenntnis nehme, seien große Herausforderungen im Hinblick auf eine Kultur der Friedens zu vermerken. So stellten sich Fragen der Formbarkeit der menschlichen Natur und es könnten sich Grenzen für die Entwicklung einer solchen Kultur ergeben. […] Das müsse nicht bedeuten, dass Kulturen des Friedens unmöglich seien. […] Man brauche das Konzept nicht als unrealistisch aufzugeben, wenn es vielleicht auch Modifikationen erfordere.

Bei meiner persönlichen Korrespondenz mit ihm berief sich DeRivera auf die »menschliche Natur« um zu begründen, dass starke Nationalstaaten ein Gewaltmonopol behielten und die Teile ihrer Bevölkerung »kontrollieren« könnten, denen nicht zuzutrauen sei, dass sie die Regeln einer Kultur des Friedens befolgten. Nach meiner Meinung ist diese Auffassung von der menschlichen Natur nur eine Projektion unserer herrschenden Kultur des Krieges auf ein abstraktes Konzept dieser »Natur«.

Wir haben versucht, diese Frage im »Seville Statement on Violence« zu klären, das vor allem auf der ethologischen Forschung von Paul Scott und der Forschung von Benson Ginsberg zur Genetik basiert. […] Im Besonderen wird dort ausgeführt, dass Autoren, die behaupten, Menschen seien von Natur aus gewaltgeneigt und selbstsüchtig, dazu neigen, Aggressivität im tierischen Verhalten zu übertreiben und gleichzeitig die Bedeutung von Kooperation zu untertreiben. Dominanz und Führerschaft bei Tieren, die in sozialen Gruppen leben, seien vielmehr durch deren Fähigkeit zu Kooperation wie zu Aggression gekennzeichnet. Das laufe nicht darauf hinaus, die Aggressivität tierischen wie menschlichen Verhaltens zu leugnen. […] Wohl aber stehe aggressives Verhalten in einem Zusammenhang von Kooperation. […] Kooperation sei wesentlich gewesen für das Überleben unserer Art (vgl. UNESCO, 1991).

Schließlich gibt es, wie ich DeRivera gegenüber vertreten habe, keine menschliche Natur. Es handelt sich um ein Konstrukt. […] Der Umstand, dass viele diese Konstruktion mit tragen, macht sie nicht wahr. Die Argumentation mir der menschlichen Natur sagt uns mehr über die Person, die sie vorbringt, als über irgendeine objektive »Wahrheit«. Und mehr über die Kultur, in die jemand hineingewachsen und eingebettet ist. […] Ähnlich hat man im 19. Jahrhundert, um die Sklaverei zu rechtfertigen, vorgebracht, es sei uns angeboren, andere auszubeuten. Zu Ende gedacht, läuft diese Argumentation darauf hinaus, dass es nicht darum geht, dass es Sklaverei geben sollte, sondern darum, dass wir die Afrikaner versklaven sollten, bevor sie uns versklaven.

Wir alle sind in einer nationalen Kriegskultur aufgewachsen, haben nie eine Kultur des Friedens kennen gelernt. Es ist schwer zu realisieren, dass die Kultur des Krieges nicht die menschliche Natur ausmacht, sondern unser Tiefenkultur.

Zweckmäßige Forschungsansätze

Bei meiner Arbeit jüngeren Datums für eine weltweite Bewegung für eine Kultur des Friedens bin ich auf mehrere relevante Bereiche gestoßen, in denen Wissenschaftler sehr wichtige Beiträge erbringen könnten. Ich möchte sie hier unter den Bezeichnungen Lehre, angewandte Forschung und Grundlagenforschung erörtern. Natürlich ist das keine erschöpfende Liste, sondern nur eine Illustration einiger Ansätze unter vielen.

Friedenslehre: Es gibt diesbezüglich einen großen ungedeckten Bedarf; z.B. identifiziert die Erhebung von Jugendorganisationen, die im Jahr 2006 für die UN-Initiative Alliance of Civilizations durchgeführt wurde, einen Bedarf an Programmen für höhere Bildung, nach denen Jugendliche eine Kultur des Friedens studieren könnten (vgl. http://decade-culture-of-peace.org). Bestehende Programme wie die Friedensuniversität in Costa Rica und die Europäische Friedensuniversität in Österreich können den Bedarf nur zu einem geringen Teil decken. Wir benötigen mehr Initiativen wie die von Alicia Cabezudo in Lateinamerika, um die Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem zentralen Bereich zu erweitern. Und wir müssen einen weltweiten Jugend-Solidaritäts-Fonds einrichten, wie er in dem erwähnten Report vorgeschlagen wird. Damit stünden Mittel für neue Programme, für die Erweiterung bestehender Programme und für Stipendien zur Verfügung.

Angewandte Forschung: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten angewandter Forschung zur Förderung einer Kultur des Friedens. So kann z.B. die Messung einer Kultur des Friedens, obwohl ungeeignet auf der Ebene der Staaten, ein geeignetes Instrument auf kommunaler Ebene sein, weil Städte – anders als Staaten – nicht notwendigerweise in die Kultur des Krieges eingebettet sind. Ich selbst bin involviert in eine entsprechende Initiative… Ein anderes Beispiel ist das Bemühen der School of the Culture of Peace in Barcelona, auf der Grundlage des erwähnten World Civil Society-Reports eine Beschreibung von geeigneten Verfahren (best practices) für eine Kultur des Friedens zu erstellen (vgl. http://fund-culturadepaz.org/BarnaDOC/Report_of_ Good_Practices.pdf).

Grundlagenforschung: Bevor ich meine Tätigkeit bei den UN aufnahm, habe ich einige Studien in der Grundlagenforschung durchgeführt, die mir für die Entwicklung der Konzeption der Kultur des Friedens hoch bedeutsam erscheinen. Die Forschungsarbeit über die US-Militär-Interventionen im Innern habe ich bereits erwähnt. In Verbindung mit der Arbeit für das ebenfalls erwähnte »Seville Statement on Violence« bin ich unter Verwendung der Methodologie der komparativen Anthropologie der Frage nachgegangen, warum es so wenige Frauen als Krieger gibt. Grundsätzlich befürworte ich bei unserer Arbeit für eine Kultur des Friedens die wissenschaftliche Klärung relevanter Fragen mit Forschungsmethoden, die Prozesse objektiv zu erfassen geeignet sind und kausale Beziehungen erschließen lassen.

Ein besonders gutes Beispiel von Grundlagenforschung zur Kultur des Friedens sind auch zwei Studien, aus denen hervorgeht, wie eine Kultur des Krieges auf staatlichem oder Stammes-Niveau zu erhöhter Gewalt im Familien- und Gemeindeleben führt (vgl. Archer & Gartner 1984; Ember & Ember 1994). Augenscheinlich wird sie im Allgemeinen durch Lernen von Vorbildern und im Besonderen durch gezieltes militärisches Training übertragen.

Ich gehe davon aus, dass den erwähnten Forschungsarbeiten andere folgen werden und wir Zeugen eines weiteren Fortschritts zu einer wissenschaftlichen Fundierung des Übergangs von einer Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens werden. Das bringt mich zurück zur Eingangsfrage meines Briefes: Wie können wir erreichen, dass unsere wissenschaftliche Arbeit im Interesse einer Kultur des Friedens frei wird von den Vorurteilen und Perspektiven einer Kultur des Krieges, die den akademischen Mainstream bestimmt? Ich glaube nicht, dass es dafür eine Zauberformal gibt. Wir brauchen vielmehr kontinuierlich Dialog und Debatten, wie ich hier zu exemplifizieren versucht habe. Dabei müssen wir darauf achten, Ideen in Frage zu stellen, nicht aber Personen, lernbereit zu sein und unsere Auffassungen bei Widersprüchen zu ändern.

Literatur

Adams, D. (1995): Internal military interventions in the United States. Journal of Peace Research, 32, 197-211. Verfügbar unter: http://www.culture-of-peace.info/intervention/title-page.html.

Adams, D. (2003): Early history of the culture of peace. A personal memoir. Verfügbar unter: http://culture-of-peace.info/history/introduction.html.

Adams, D. (2006): Culture of peace as the best alternative to terrorism. Verfügbar unter: http://www.culture-of-peace.info/terrorism/AlternativetoTerrorism.pdf.

Archer, D. & Gartner. R. (1984): Violence and crime in cross-national perspective. New Haven, CT: Yale University Press.

DeRivera, J. (2004): Assessing the basis for a culture of peace in contemporary societies. Journal of Peace Research, 41, 531-548.

Ember, C.R. & Ember, M. (1994): War, socialization and interpersonal violence: A cross-cultural study. Journal of Conflict Resolution, 38, 620-646.

Global Peace Index (2007): Rankings 2007. http://www.visionofhumanity.com

UNESCO (1991): The Seville Statement on Violence. Preparing the ground for the constructing of peace. Verfügbar unter: http://www.culture-of-peace.info/brochure/titlepage.html (dt. in Wissenschaft und Frieden, 16 (3), 1998, 25-26).

UN General Assembly (1998): Consolidated report containing a draft declaration und programme of action on a culture of peace. Verfügbar unter: http://www.culture-of-peace.info/annexes/resA-53-370/coverpage.html.

Wiener, J. (2005): Historians in trouble: Plagiarism, fraud, and politics in the ivory tower. New York: New Press.

Prof. Dr. David Adams war über zwei Jahrzehnte Professor für Psychologie an der Wesleyan University (Conneticut, USA), bevor er von 1992 bis 2001 im Auftrag der UNESCO mit der Erarbeitung des Culture of Peace-Programms als Ergänzung und Alternative zu den Peacekeeping-Aktivitäten der UNO befasst war (http://www.culture-of-peace.info).

Frieden mit dem Unfrieden? Wissensbestände im Wandel

Frieden mit dem Unfrieden? Wissensbestände im Wandel

Jahreskolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V.

von Petra Hoffmann

Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Schlotter, Vorsitzender der AFK, und in Kooperation mit Uwe Trittmann, Studienleiter der Evangelischen Akademie Villigst, gefördert aus Mitteln der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF), hatte die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung aus Anlass ihres vierzigjährigen Bestehens zu ihrer Jahrestagung vom 29. 2. bis 2. 3.2008 erstmals in die neuen Bundesländer, nach Leipzig, geladen. Mit der Wahl des Tagungsortes Leipzig unterstrichen die Veranstalter ihr Bestreben, künftig mehr Präsenz im Osten der Republik zu zeigen und die deutsche Friedens- und Konfliktforschung auch dort stärker zu etablieren. Gerade Leipzig habe, so Schlotter, für eine zukünftige Ausrichtung der Friedens- und Konfliktforschung Symbol- und Strahlkraft, gelte die Stadt doch durch die »Montagsdemonstrationen« und die »friedliche Revolution« ganz allgemein als Zentrum bürgerschaftlichen Engagements. Als Kooperationspartner konnten das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig – zugleich Haupttagungsort, die Universität Leipzig, Institut für Philosophie, das Bürgerkomitee Leipzig e.V. sowie namhafte Persönlichkeiten, nicht zuletzt auch der Nikolaikirche gewonnen werden. Zu unterschiedlichen Zeiten an je unterschiedlichen Orten hießen sie die FriedensforscherInnen in Leipzig willkommen: Dr. Anne Martin für das Zeitgeschichtliche Forum, Prof. Dr. Georg Meggle für die Universität, Tobias Hollitzer für das Bürgerkomitee. Zu einem Empfang lud zudem der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung in die Alte Handelsbörse am Naschmarkt.

Prof. Schlotter eröffnete den Kongress, indem er die Fragestellung des Kongresses »Frieden mit dem Unfrieden?« mit den im Wandel befindlichen Wissensbeständen verband. Was wissen wir wirklich über die Ursachen von Gewalt und Krieg- und über die Ursachen von Frieden? Welche Forschungsergebnisse sind für die aktuellen und künftigen Herausforderungen bedeutsam? Welche neuen Fragen gibt es, denen sich die Friedens- und Konfliktforschung noch nicht gestellt hat? Als zentrale Bedingung für den Frieden, über die innerhalb der Friedensforschung ein Konsens bestehe, stellte Peter Schlotter die demokratische Gesellschaft im Inneren heraus. Welche allein selbstverständlich nicht genüge, dennoch aber über großes Potential verfüge. Nur Gesellschaften, die im Inneren befriedet seien, seien dauerhaft nach außen friedensfähig.

Dr. Martina Fischer, die die Kongressteilnehmer im Namen der DSF begrüßte, verwies auf die Gelegenheit, im Rahmen der Feier des 40-jährigen Bestehens der AFK eine Standortbestimmung der Friedensforschung vorzunehmen, namentlich der Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen und damit auch mit den Wissenslücken. Drei Aspekte der AFK-Arbeit seien besonders herauszustellen: Dazu gehöre die Nachwuchsförderung, der es gelungen sei, junge Wissenschaftler zu gewinnen. Als wichtigen Beitrag wertete sie die Einladung ausländischer Diskussionspartner, um die AFK international stärker zu vernetzen, insbesondere den Brückenschlag in den angelsächsischen Raum voranzubringen. Zugleich hob sie die Inter- und Mulitdisziplinarität der kommenden Diskussionen zum Stand der Perspektivenherausbildung hervor. Darüberhinaus ermögliche die AFK den Dialog zwischen theoriegeleiteter Friedens- und Konfliktforschung und den anwendungsbezogenen Herangehensweisen der Friedensarbeit und Friedenspolitik.

Willkommene Anerkennung erfuhren die Tagungsteilnehmer, resp. die Mitglieder der AFK, in der Begrüßung von Edelgard Bulmahn, MdB., Bundesministerin für Forschung und Bildung a.D. Sie unterstrich die Rolle der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung als einer „Mahnerin, wenn es um Aufrüstung und militärische Konfliktlösungsstrategien ging“. Die AFK schärfe maßgeblich das Bewusstsein für nichtmilitärische Konfliktlösungsstrategien, sei immer streitbar und nie bequem in Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik. „Die Friedensforschung … ist angesichts der vielfältigen aktuellen Konfliktlagen und Herausforderungen wichtiger denn je. Politik und Gesellschaft brauchen eine kritische Wissenschaft, die dazu beiträgt, dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden können.“ Friedensforschung sei wertgebunden, den Menschenrechten und dem Ziel der Gewaltfreiheit verpflichtet. Jedoch stehe die Friedensforschung immer auch in der Gefahr, in politische Auseinandersetzungen hineingezogen, missverstanden und missbraucht zu werden. „Gesellschaftlich ertragreiche Friedensforschung ist frei und unabhängig. Sie ist interdisziplinär und keine alleinige Angelegenheit der politischen Wissenschaft.“ Nicht zuletzt deshalb müsse die Friedenforschung politisch und finanziell unabhängig sein. Frau Bulmahn sicherte auch weiterhin ihren unermüdlichen Einsatz für die Förderung der Friedensforschung zu.

Nach den Eröffnungsreden leitete Prof. Dr. Dieter Senghaas, Universität Bremen, mit seinem Vortrag über „40 Jahre Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland – Erinnerung an die Zukunft“ den inhaltlichen Teil der Veranstaltung ein. (…) Unter dem TitelWeltregieren: Vom ‘exklusiven’ Multilateralismus zu inklusiver Institutionalisierung zeichnete, den zweiten Kongresstag einleitend, Prof. Dr. Volker Rittberger Entwicklungslinien einer sich vertiefenden Kooperation zwischen staatlichen und zivilen Protagonisten im Bereich trans- bzw. internationaler Norm- und Regelsetzung nach und zeigte auf, wie diese sich als Teil einer sich neu herausbildenden „heterarchischen Weltordnung“ verstehen lassen. (…)

In fünf Panels organisiert, wurden weit fortgeschrittene Arbeiten an einer sorgfältig strukturierten und von einem Herausgeberteam des AFK-Vorstandes geleiteten Bestandsaufnahme der in 40 Jahren zusammengetragenen Wissensbestände der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung vorgestellt und hinterfragt.

Ein umfassender Bericht zur AFK-Tagung ist auf der AFK-Homepage aufrufbar:
www.afk-web.de.

Friedenswissenschaft als Bildforschung

Friedenswissenschaft als Bildforschung

von Frank Möller

Dass Friedenswissenschaft sich (auch) mit Bildern beschäftigen sollte, bedarf keiner ausführlichen Begründung: Visualität ist „ein Medium, in dem Politik […] betrieben wird“ 1 und damit auch Friedens- und Kriegspolitik. Visualität ist allerdings auch ein Medium, in dem Kriegspolitik kritisiert und unterminiert werden kann. Gerüchte, nach denen die Veröffentlichung bestimmter Fotos (vor allem Nick Uts »Accidental Napalm«) zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen habe, halten sich hartnäckig (auch wenn unter den Befürwortern dieser These umstritten ist, warum sie zum Ende des Kriegs beigetragen haben). Der Legitimitätsverlust der US-amerikanischen Kriegführung im Irak in Folge der Veröffentlichung der Fotografien aus Abu Ghureib kann kaum bestritten werden.

Bilder der Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 sind auf der ganzen Welt zu sehen gewesen. Ihre permanent-penetrante, geradezu obszöne Wiederholung diente der Rechtfertigung der US-amerikanischen Politik in Reaktion auf die Anschläge, und die Verankerung der Bilder der Anschläge im kollektiven Bildergedächtnis unterstützt die langfristige Legitimität dieser Politik.2 Das World Trade Center war als Ziel der Anschläge wohl auch in Erwartung der weltweiten medialen Vermarktung der Bilder der Anschläge ausgewählt worden, was wiederum die Betrachter der Bilder unwillentlich zu Komplizen Al Qaidas macht: im Falle von Verbrechen, die begangen werden, um Bilder zu produzieren, ist „das Betrachten diese[r] Bilde[r] unabdingbar ein Akt der Beteiligung.“ 3 Kriege, Gewalt und Konflikte sind zu einem großen Teil visuell-medial vermittelt – was wir nicht sehen, findet nicht statt – und diese Vermittlungs- und Verdrängungsprozesse müssen friedenswissenschaftlich untersucht werden, um den ihnen zu Grunde liegenden Strukturen und Interessen analytisch gerecht werden zu können.

Fragestellungen

Die grundsätzlichen Fragen, denen sich eine als Bildwissenschaft verstandene Friedenswissenschaft gegenüber sieht, sind weitgehend die gleichen Fragen, die in gesellschaftskritischer Bildanalyse spätestens seit den massenkulturskeptischen Studien der »Frankfurter Schule« diskutiert werden. Trägt die Abbildung von Krieg zu dessen Ästhetisierung bei? Da jede Repräsentation ästhetisiert, kann diese Frage nur bejaht werden, aber hinter ihr steht oftmals der Verdacht, dass Ästhetisierung die Aufmerksamkeit der Betrachterin vom Subjekt der Abbildung zu deren formaler Struktur und ästhetischer Schönheit lenkt – ein Verdacht, der häufig mit Bezug auf Fotografie, seltener mit Bezug auf Gemälde oder druckgrafische Werke artikuliert wird. Zum Beispiel sehen sich die Arbeiten James Nachtweys und Sebastiao Salgados diesem Verdacht viel häufiger ausgesetzt als Francisco de Goyas »Los Desastres de la Guerra [Die Schrecken des Krieges]« oder Caravaggios »Die Enthauptung Johannes des Täufers«. Führt Ästhetisierung zur Desensibilisierung des Publikums und damit zu politischer Passivität? Wenn ja, ist das besonders der Fall bei fotografischen Repräsentationen und wenn ja, warum? Liegt es vielleicht an der mechanischen Produktionsweise oder an der problematischen Beziehung zwischen der Fotografie und dem, was sie abbildet? Dass etwas als Bild existiert, bedeutet nicht, dass es ohne Abbildung in gleicher Form existiert hätte. Ist das heutige (Über)Angebot an Kriegs- und Gewaltbildern Folge oder Ursache von Desensibilisierung? Können Bilder politisches Bewusstsein produzieren oder bedürfen sie politischen Bewusstseins, um politisch wirksam zu sein? Schulen sie den politischen Blick oder bedarf es, wie Walter Benjamin vorgeschlagen hat, des „politisch geschulten Blick[s]“, um die durch das Bild freigelegten Details zu erkennen?4 Ist, wie Susan Sontag vermutete, „die Existenz eines relevanten politischen Bewusstseins“ die „Voraussetzung für eine moralische Beeinflussung durch Fotos“ 5 oder deren Folge?

Friedenswissenschaft kann sich an der Diskussion dieser und ähnlicher ästhetisch-ethisch-politischer Fragen wie zum Beispiel der Frage nach dem Kritikpotential von Kriegsfotografie beteiligen, gerade weil die Antworten „problematisch“ sind und „wohl auch nicht eindeutig ausfallen [können]“. 6 Friedenswissenschaft kann aber auch die sozialen Prozesse analysieren, durch die eine bestimmte Interpretation eines bestimmten Bildes zur in einer bestimmten Situation gesellschaftlich dominierenden Interpretation und damit zur oftmals unkritisch akzeptierten politischen Legitimitationsressource wird – soziale Prozesse, in deren Verlauf die Lücke zwischen dem, was ein Bild zu enthüllen scheint und dem, was es tatsächlich enthüllen kann, rhetorisch überbrückt wird.7 Die Größe dieser Lücke wird notorisch unterschätzt, der Wahrheitsgehalt bildlicher, vor allem fotografischer Repräsentationen nach wie vor notorisch überschätzt. Friedenswissenschaftlich kann es nicht darum gehen, diese Lücke zu schließen, indem zum Beispiel die Spannung zwischen „der Flachheit des Fotos und der Illusion seiner Tiefe“ 8 aufgelöst wird, sondern primär darum, die aus dieser Spannung resultierenden Konflikte konstruktiv zu bearbeiten und – anstatt Unterschiede zu reduzieren – mit ihnen leben zu lernen. Bei diesem Lernprozess können Bilder helfen, denn sie zeigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten, das Zentrale und das Periphere, das Besondere und das Allgemeine und, vielleicht am wichtigsten, „die Gemeinsamkeiten menschlichen Seins“ 9, die idealiter dazu beitragen können, die in der Konflikttheorie und -praxis so ausgeprägte self/other Dichotomie zu unterminieren.

Friedenswissenschaft kann auf den „Überschuss an Bedeutung“ hinweisen, den die „überobjektiv[e]“ Kamera vermittelt10 und damit sowohl auf die Unmöglichkeit, ein bestimmtes Bild objektiv auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen als auch auf den eminent politischen Charakter einer jeden derartigen Bedeutungsfestlegung: Die Bilder der Anschläge auf das World Trade Center allein zeigen nicht, dass es sich um terroristische Anschläge handelte. Zum »Beweis« der den Anschlägen zugrunde liegenden terroristischen Absichten taugen sie erst durch ihre Kombination mit Text. Dass „die Beschriftung […] zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden“ könnte, vermutete bereits Benjamin11 das herrschaftsstabilisierende Potential der Beschriftung unterschätzend. Deshalb bedarf es visueller Gegenstrategien, um das Deutungsmonopol staatlicher Stellen im Bereich der Sicherheitspolitik und anderswo in Frage zu stellen. Jan Øbergs fotografische Arbeiten im Zusammenhang mit dem Irakkrieg sind Beispiele für das Zusammenwirken friedenswissenschaftlicher Analyse, friedenspolitischen Engagements und visueller Repräsentationsformen.12 Die Bilder, die vor dem Irakkrieg entstanden sind, haben darüber hinaus den Vorzug, Bilder des Friedens – oder zumindest der (vorübergehenden) Abwesenheit von Krieg – zu sein. Sie brechen mit der Erwartungshaltung des Publikums und sind ein Mittel sowohl gegen das Überangebot an Gewaltdarstellungen in der aktuellen Medienwelt als auch gegen die visuelle Reduzierung Iraks auf Darstellungen von Krieg und Gewalt.

Fotojournalismus und Krieg

Die Geschichte des Fotojournalismus ist eine Geschichte der Kriegs- und Gewaltdarstellungen, der permanenten Verletzung und Ausdehnung gesellschaftlich akzeptierter Zeigbarkeitsregeln: ständig wurden die Grenzen dessen, was gezeigt wurde, verschoben, wurden Dinge zum ersten Mal gezeigt, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht gezeigt worden waren, weil es gesellschaftlich inakzeptabel gewesen wäre, sie zu zeigen. Im Vietnamkrieg dienten Bilder dazu, unangenehme Wahrheiten nach Hause zu transportieren, deren Existenz schon lange vermutet worden war, mit denen man sich aber nicht auseinanderzusetzen brauchte, solange es keine visuellen »Beweis« gab.13 Die Vorfälle im Gefängnis in Abu Ghureib wurden erst durch die Veröffentlichung der Fotografien zum Skandal, obwohl diese Fotografien keineswegs adäquat abbildeten, was tatsächlich in Abu Ghureib geschehen war. Die Gemälde des kolumbianischen Malers und Bildhauers Fernando Botero14 kommen dem viel näher, weil sie durch die weitgehende Nichtabbildung der Täter die Betrachterin zwingen, sich mit dem Leid der Gefolterten auseinanderzusetzen, anstatt dieser Auseinandersetzung durch die Konzentration auf die Rolle der Täter, auf legale Fragen oder auf die Diskussion dessen, was diese Bilder über die Werte und Normen der westlichen Gesellschaftssysteme verraten, aus dem Weg gehen zu können.15

Die Nichtabbildung von Gewaltszenen fordert die Erwartungshaltung eines an Kriegs- und Gewaltdarstellungen gewöhnten Publikums heraus, appelliert an die Betrachterin, ihre Sehgewohnheiten in Frage zu stellen und erlangt auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit. Der friedenspolitische Wert der Arbeit des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar, vor allem seines Ruanda-Projekts, liegt insbesondere darin, die 3.000 Fotografien, die Jaar während seiner Besuche in Ruanda aufgenommen hat, seinem Publikum vorzuenthalten. Vor allem »Die Augen von Gutete Emerita« brechen radikal mit den üblichen Repräsentationsformen Afrikas im allgemeinen und des Massenmords in Ruanda im besonderen: Leichen, die den Kagera-Fluss hinuntergeschwemmt werden, abgemagerte Kinder, durch Macheten verstümmelte Körper auf der einen Seite, Safari- und sonstige Landschaftsbilder auf der anderen Seite. Anstatt den Horror des Kriegs zu zeigen, zeigt Jaar nur Augen, die den Horror, unter anderem die Ermordung des Ehemanns und der Söhne, gesehen haben und kehrt nach der blitzschnellen Konfrontation der Betrachterin mit diesen Augen zu Text zurück: Bilder können nicht ausdrücken, was in Ruanda geschehen ist, was Gutete Emerita gesehen hat. Es ist unmöglich, diesem Projekt in wenigen, beschreibenden Worten gerecht zu werden; jeder Versuch, »Die Augen von Gutete Emerita« in Worte zu übersetzen, ist zum Scheitern verurteilt und kann weder der Installation noch Gutete Emerita gerecht werden. Auch die speziell für das Internet produzierte Version vermag den Schockeffekt nicht zu wiederholen, den das Original hervorzurufen vermag.16 Wie jeder Schockeffekt will auch dieser „durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein“. 17

Friedenswissenschaftliche Bildanalyse

Friedenswissenschaft kann nicht primär am Bild an sich interessiert sein, sondern am gesellschaftlichen Kontext, in dem Bilder operieren. Die klassische ikonografische Herangehensweise auf der Suche nach der eigentlichen Bedeutung eines Bildes ist in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen. Statt dessen sollte gefragt werden, wer sich im Zusammenhang mit Konflikten, Gewalt und Krieg welcher Bilder mit welchen Zielen und welchem Erfolg bedient, aber auch, welche Bilder nicht gezeigt werden und in welcher Weise visuelle Darstellungen sich im Laufe der Zeit ändern. Die in den Wandgemälden Belfasts und anderer nordirischer Städte visualisierten Interpretationen des nordirischen Konflikts sollten Bestandteil friedenswissenschaftliche Analyse sein.

Dass hier neuerdings, vor allem im katholisch-nationalistischen Milieu, gewalt- und militärverherrlichende Darstellungsformen zum Teil durch zivile Motive und die visuelle Suche nach kultureller Identität abgelöst worden sind, sagt vielleicht mehr über die Erfolgsaussichten des nordirischen Friedensprozesses aus als in den meisten, sich auf den politischen Prozess konzentrierenden wissenschaftlichen Analysen zum Ausdruck kommt.

Das bedeutet offensichtlich, dass friedenswissenschaftliche Bildanalyse die Rolle derjenigen untersuchen sollte, die Bilder produzieren, veröffentlichen und vervielfältigen18, ohne allerdings die Interaktionen zwischen Bildproduzent, Bild und Publikum aus dem Blick zu verlieren. Die Konfrontation mit Bildern menschlichen Leids führt häufig zu Situationen, in denen Hinschauen und Wegschauen gleichermaßen unangemessene Optionen sind. Hinschauen verlängert das Leid visuell, fixiert Menschen als Opfer und nutzt sie zum zweiten Mal aus. Darüber hinaus kann die Reaktion der Betrachterin auf die visuelle Wahrnehmung des Leids anderer Menschen notwendigerweise nur inadäquat sein.19 Wegschauen allerdings ist in einer visuell dominierten Kultur kaum möglich und wäre auch keine angemessene ethische Haltung gegenüber dem Leid anderer Menschen. Ausserdem würde es dazu führen, sich aus der politischen Öffentlichkeit auszugrenzen, die durch das individuell-kollektive Konsumieren von Bildern mitbestimmt wird und als deren Teil – und, so ist argumentiert worden, nur als deren Teil, nämlich als Teil einer möglichen kollektiven Reaktion – die einzelne Betrachterin hoffen kann, auf Bilder menschlichen Leids angemessen zu reagieren.20

Populäre, massenwirksame Repräsentationsformen wie Wandgemälde, Graffiti und Comics sollten in friedenswissenschaftlicher Analyse nicht vernachlässigt werden, will sie den Vorwurf des Elitismus vermeiden. Dass Comics mehr sind als nur »funny stories« und dass sie Gegenstand seriöser wissenschaftlicher Arbeit sein können, kann spätestens seit Art Spiegelmans Maus und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Meilenstein der Comicgeschichte nicht mehr bestritten werden.21 Kriege sind nicht nur häufiger, geradezu ubiquitärer Gegenstand von Fotografie, Film und Fernsehen.22 Sie sind auch oftmals Gegenstand von Comics gewesen – Joe Saccos Arbeiten über die Kriege in Bosnien sind auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.23 Der besondere friedenswissenschaftliche Wert von »Macedonia: What does it take to stop a war?«, einer Gemeinschaftsproduktion der Illustratoren und Comicautoren Harvey Pekar und Ed Piskor mit der Friedensaktivistin Heather Roberson, liegt in der Thematisierung eines Krieges, der verhindert werden konnte.24 Der scharfen (anthropologisch-realistisch begründeten) Kritik an Friedens- und Konfliktforschung durch eine Karikatur (?) eines Professors für Politikwissenschaft in der Eröffnungsszene begegnet die Protagonistin mit Feldforschung in Mazedonien, in deren Verlauf sie die Vorzüge und Leistungen der Arbeit internationaler Organisationen zu schätzen und die widersprüchlichen und komplexen Positionen der lokalen Akteure zu verstehen lernt. Während Teile des Werkes, vor allem die historischen Exkurse, an eine illustrierte populärwissenschaftliche Abhandlung erinnern, bietet »Macedonia«, wie alle Comics, zumindest zwei Vorzüge gegenüber anderen Repräsentationsformen. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass das Buch ein Publikum erreicht, das herkömmliche friedenswissenschaftliche Arbeiten kaum erreichen: männliche Jugendliche, die zur gleichen Zeit das primäre Ziel militärischer Werbe- und Rekrutierungsstrategien sind, diesen Strategien aber nach der Lektüre von »Macedonia« vielleicht eher zu widerstehen vermögen. Zum anderen bietet die besondere Repräsentationsform von Comics – einzelne, aufeinander folgende, duch schwarze oder weiße Zwischenräume voneinander getrennte Panels – der Betrachterin ausreichend Raum und Zeit, aktiv in die Gestaltung der Story einzugreifen, die die Zeichner nur andeuten können und die von der Leserin vervollständigt werden muss. Ohne die aktive Mitgestaltung durch die Leserin funktionieren Comics nicht, aber es ist genau diese aktive Mitgestaltung, die es ihr unmöglich macht, die Position einer neutralen, distanzierten Beobachterin einzunehmen. Stattdessen wird die Leserin zur Co-Autorin. Aus Mitgestaltung folgt Mitverantwortung sowohl für die Entwicklung der Story als auch für die reale Situation, die der Comic widerzuspiegeln beansprucht (obwohl jede Form von Repräsentation grundsätzlich etwas Neues schafft). Die Realisierung der eigenen Mitverantwortung mag die Leserin durchaus schockieren, aber ein solcher Schock kann gesteigerte Geistesgegenwart zur Folge haben.

Gesteigerte Geistesgegenwart benötigt auch eine als Bildwissenschaft verstandene Friedenswissenschaft, will sie vermeiden, zur Stabilisierung jener Herrschaftsformen beizutragen, die sie zu kritisieren beabsichtigt und damit zu einem Teil des Problems zu werden. Die Bevorzugung von Sehen und Hören und ihr Verständnis als grundlegend für die Produktion »rationalen« Wissens ist genauso Teil westlicher Hegemonie – und damit Ziel post-kolonialer Kritik am Westen – wie die westliche Geringschätzung der angeblich untergeordneten und »irrationalen« Sinne Berührung, Geruch und Geschmack.25 Friedenswissenschaft als Bildforschung kann deshalb auf Bildkritik genauso wenig verzichten wie auf die Entwicklung eines holistischen Verständnisses der Sinne. Auch in dieser Hinsicht können Bilder – vor allem Fotografien – helfen: Fotografien berühren uns nicht nur; auch wir können sie mit unseren empfindlichen Fingerspitzen berühren und damit eine Beziehung zum abgebildeten Subjekt herstellen, die weit über Visualität hinausgeht. Es erscheint sinnvoll, sich friedenswissenschaftliche Gedanken über das einem holistischen Verständnis der Sinne innewohnende friedenspolitische Potential zu machen. Zum Beispiel könnten Wahrheitskommissionen erheblich davon profitieren, dem traditionellen Element des »truth-telling« das visuelle »truth-showing« und schließlich das »truth-touching« zur Seite zu stellen.

Anmerkungen

1) W.J.T. Mitchell (2003): Interdisziplinität und visuelle Kultur, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt: Suhrkamp, S.43.

2) Vgl. Frank Möller (2007): Photographic Interventions in Post-9/11 Security Policy, in: Security Dialogue Jg. 38, No. 2, S.179-196.

3) Horst Bredekamp (2004): Wir sind befremdete Komplizen, Süddeutsche Zeitung 28. Mai 2004, S.17.

4) Walter Benjamin (1963): Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp, S.58.

5) Susan Sontag (1980): Über Fotografie. Frankfurt: Fischer, S.24.

6) Jens Jäger (2000): Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung. Tübingen: edition diskord, S.123.

7) Vgl. Marianne Hirsch (1997): Family Frames: Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge & London: Harvard University Press.

8) Ebd., S.119.

9) David MacDougall (1998): Transcultural Cinema. Princeton: Princeton University Press, S.246.

10) Barry King (2003): Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt: Suhrkamp, S.180.

11) Vgl. Fußnote 4, S.64.

12) Vgl. http://www.transnational.org/Art/photoseries/iraq_index.html.

13) Patrick Hagopian (2006): Vietnam War Photography as a Locus of Memory, in: Annette Kuhn & Kirsten Emiko McAllister (Hg.): Locating Memory: Photographic Acts. New York & Oxford: Berghahn Books, S.208.

14) Fernando Botero (2006): Botero Abu Ghraib; München: Prestel.

15) Vgl. Frank Möller (2008): The Implicated Spectator – from Manet to Botero, in: Matti Hyvärinen & Lisa Muszynski (Hg.): Terror and the Arts: Artistic, Literary, and Political Interpretations of Violence from Dostoyevsky to Abu Ghraib. New York: Palgrave.

16) Vgl. http://www.alfredojaar.net.

17) Walter Benjamin (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Fußnote 4, S.39.

18) Elizabeth Dauphinée (2007): The Politics of the Body in Pain: Reading the Ethics of Imagery, in: Security Dialogue Jg. 38, No. 2, S.139-155.

19) Sharon Sliwinski (1994): A painful labour: responsibility and photography, in: Visual Studies Jg. 19, No. 2, S.154.

20) Robert Harriman & John Louis Lucaites (2007): No Caption Needed: Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy. Chicago und London: The University of Chicago Press.

21) Vgl. zum Beispiel Hirsch, Fußnote 7, S.17-40; James E. Young (2002): Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur. Hamburg: Hamburger Edition, S.22-53; Ole Frahm (2006): Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor's Tale. München: Wilhelm Fink Verlag.

22) Vgl. Gerhard Paul (2004): Bilder des Krieges – Kriege der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. München: Wilhelm Fink Verlag.

23) David Kendall (Hg.) (2007): The Mammoth Book of Best War Comics. New York: Carroll & Graf; Joe Sacco (2000): Safe Area Goražde: The War in Eastern Bosnia 1992-95. Seattle: Fantagraphics Books; Joe Sacco (2005): War's End: Profiles from Bosnia 1995-96. Montreal: Drawn & Quarterly.

24) New York: Villard, 2007.

25) Vgl. Elizabeth Edwards, Chris Gosden & Ruth B. Phillips (Hg.) (2006): Sensible Objects: Colonialism, Museums and Material Culture. Oxford und New York: Berg.

Dr. Frank Möller ist Research Fellow am Tampere Peace Research Institute (TAPRI), Universität Tampere, Finnland, und mit Tarja Väyrynen Herausgeber von Cooperation and Conflict. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Praxis friedlichen Wandels, Sicherheitsgemeinschaften sowie bildorientierte Friedensforschung.

Im Schatten des Demokratischen Friedens

Im Schatten des Demokratischen Friedens

von Jonas Wolff, Harald Müller und Anna Geis

Am 19. und 20. Oktober 2007 stellte die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) auf ihrer Jahreskonferenz »Schattenseiten des Demokratischen Friedens« Ergebnisse aus der laufenden Forschung vor. Die in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität mit rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutierten Projektberichte sind Teil eines Zwischenresümees des bis Ende 2008 terminierten HSFK-Forschungsprogramms »Antinomien des Demokratischen Friedens«, das als Sammelband im November 2007 erschienen ist.1

Dass die Befunde zum »Demokratischen Frieden« keinen Anlass geben, die westlichen Demokratien zu Lichtgestalten einer auf Frieden und Kooperation ausgerichteten Weltordnung zu erklären, ist eine Binsenweisheit. Zu deutlich sind die dunklen Seiten in ihrem Außenverhalten, die ihren markantesten Ausdruck in den von ihnen initiierten Kriegen finden. Gleichwohl hat sich die Forschung zum Demokratischen Frieden bisher auf die erfreuliche Seite der Medaille, die Friedensfähigkeit und Kooperationswilligkeit der Demokratien, konzentriert. Die Schattenseiten, derer sich die HSFK-Jahreskonferenz 2007 annahm, sind dies im doppelten Sinne: normativ dunkel und empirisch-analytisch unbeleuchtet.2

Vier Panels befassten sich mit dem demokratischen Außenverhalten mit Blick auf Krieg, Rüstung, zivil-militärische Beziehungen und Demokratieförderung. Ein abschließender Roundtable diskutierte die praktische Relevanz der HSFK-Forschung. Ziel der Tagung war, Ergebnisse aus dem laufenden Forschungsprogramm der HSFK einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzustellen und der kritischen Diskussion durch Experten aus Wissenschaft und Praxis auszusetzen.

Die Panels der Tagung

Das erste, von Thomas Risse (Freie Universität, Berlin) moderierte Panel nahm sich der dunkelsten Schattenseite des Demokratischen Friedens an: des »Demokratischen Kriegs«. Anna Geis (HSFK) diagnostizierte eine steigende Interventionsneigung der westlichen Demokratien seit 1990, die mit einem Normwandel einhergegangen sei: Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts setzten die ressourcenstarken Demokratien vermehrt auf Militärgewalt. Gegenüber den eigenen nationalen Öffentlichkeiten lassen sich diese Kriege durch den Verweis auf wertgebundene Gründe rechtfertigen: Die Militärgewalt diene nicht zur Durchsetzung egoistischer Zwecke, sondern dazu, Menschenrechte zu schützen, Demokratie zu befördern oder das Völkerrecht durchzusetzen. Hier zeige sich das militante Gesicht der Demokratie, das im Fall der USA besonders ausgeprägt sei, aber grundsätzlich in den Ambivalenzen des liberalen Gedankenguts wurzele.

Hanns W. Maull (Universität Trier) hinterfragte die auf Nationalstaaten und zwischenstaatliche Beziehungen gerichtete Perspektive des Forschungsvorhabens und argumentierte, im Kontext der Globalisierung seien weder die Grundannahme einer klaren Trennung von Innen- und Außenpolitik noch die Zuschreibung von Krieg als eindeutig zwischenstaatlichem Phänomen haltbar. Zudem bezweifelte Maull, ob »Demokratie« die entscheidende politikerklärende Variable sei oder doch nicht vielmehr (etwa »missionarische«) Rollenbilder. Die Argumentation des Projekts sei zu USA-zentriert, und sie müsse sich noch in einem Vergleich mit autokratischer Sicherheitspolitik bewähren. In ihren Repliken verwiesen die Projektmitarbeiter Anna Geis, Harald Müller und Lothar Brock (alle HSFK) darauf, dass das Projekt nicht nur auf die USA, sondern auf eine Reihe weiterer Demokratien abziele, und es gerade darum gehe, die Übersetzung innenpolitischer Diskurse und Entscheidungsprozesse in außenpolitisches Handeln zu untersuchen; insofern sei ein systematisches In-Beziehung-Setzen von Innen- und Außenpolitik für das demokratiezentrierte Projekt konstitutiv. Zudem bleibe die »Staatenwelt« trotz des Bedeutungszugewinns von »Gesellschaftswelt« und »Wirtschaftswelt« (E.O. Czempiel) bis auf Weiteres die zentrale Sphäre globaler Politik. Auffälligerweise werden auch Konflikte mit nicht-staatlichen Akteuren in eine Politik übersetzt, die letztlich staatlich codiert bleibt. Schließlich wurde auf die entscheidende Bedeutung von Liberalismus und Demokratie für die Ausbildung der Rollenbilder westlicher Staaten verwiesen.

Das ehemalige Mitglied der Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Joscha Schmierer, sah weniger Schattenseiten des Demokratischen Friedens als »Schattenseiten der Theorie des Demokratischen Friedens«. Das Problem des »Demokratischen Kriegs« sei letztlich ein Problem der USA, die als einzige Demokratie in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation „vor der imperialen Versuchung“ stünde. Schmierers Plädoyer für mehr Historisierung und Kontextualisierung rief dazu auf, die internationalen Machtverhältnisse stärker in den Blick zu nehmen. Auch demokratische Außenpolitik folge primär der internationalen Machtstruktur, nicht der inneren Verfassung. Harald Müller erwiderte, die vergleichende Analyse öffentlicher Kriegsdiskurse zeige keine Einzigartigkeit der USA; der Blick auf die liberalen Argumenten für und gegen Krieg ergebe ein Kontinuum, das über alle Demokratien von den USA bis zu Irland reiche. In der Diskussion warf Peter Schlotter (Universität Heidelberg) zudem eine wichtige normative Frage auf, die die Analyse des »Demokratischen Kriegs« als problematischem Pendant des »Demokratischen Friedens« impliziert: Inwieweit könne der Einsatz organisierter Gewalt zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht unter bestimmten Umständen legitim oder gar notwendig sein? Wenn aber Krieg nicht per se falsch und Frieden nicht per se gut sei, müsse genauer geklärt werden, wo die »Schattenseite« ende und die moralische »Sonnenseite« beginne.

In dem von Beatrice Heuser (University of Reading) geleiteten zweiten Panel stellte Niklas Schörnig (HSFK) zwei Argumente zur Diskussion. Erstens sei der als »Revolution in Military Affairs« (RMA) betitelte technologische Wandel in Rüstungspolitik und Kriegführung von dem spezifisch demokratischen Bedürfnis nach einer Vermeidung (vor allem) eigener Opfer angetrieben und senke insofern durch die Utopie eines risikolosen Krieges die für Demokratien typische kostenbasierte Schwelle zum Krieg. Zweitens scheitere aber die Idee einer technologisch bedingten »full spectrum dominance« an den Anforderungen des gegenwärtigen Kriegsgeschehens: Während die US-geführte Allianz in der zwischenstaatlichen Phase des Irak-Krieges 2003 nahezu verlustlos erfolgreich war, helfe die technologische Überlegenheit und die High-Tech-basierte Kriegführung in der bürgerkriegsförmigen, asymmetrischen Auseinandersetzung nach offiziellem Kriegsende kaum noch weiter. Hier schlage die „Opfersensibilitätsfalle“ doch zu, die durch die RMA aufgelöst werden sollte.

Sebastian Harnisch (Universität Heidelberg) begrüßte das Konzept der „Opfersensibilitätsfalle“ nicht zuletzt wegen der praxeologischen Einsichten für politische Entscheidungsträger, zeigte sich aber nicht überzeugt von der behaupteten Kausalkette. Die RMA beinhalte langfristige, teure Instrumente zur Reduktion der Opfer; dem konkreten Politiker stünden plausiblere kurzfristige Instrumente wie die manipulative Erzeugung von Bedrohungsszenarien oder der Einsatz privater Sicherheitsdienste bzw. der Rückgriff auf Geheimdienst-Aktivitäten zur Verfügung. Die RMA – die zudem stark auf die USA zugeschnitten sei – folge, so Harnisch, eher wirtschaftlichen Interessen insbesondere am Erhalt von Arbeitsplätzen. Schörnig differenzierte, durch eine Manipulation der Öffentlichkeit könne zwar die Opfersensibilität ex ante gesenkt werden, wenn es aber im Verlauf eines Krieges zu steigenden Opferzahlen komme, greife die Opfersensibilitätsfalle ex post. Dagegen helfe, wie die aktuelle Diskussion im Kontext des Irak-Krieges zeige, auch die Auslagerung der Kriegführung auf private Sicherheitsdienste wenig weiter. Gegen Harnischs Argument, die Nennung von Opfervermeidung als Argument für High-Tech-Waffen (etwa in Rüstungsanzeigen) sei ein bloßes „rhetorisches Mitnahme-Phänomen“, argumentierte Schörnig, auch rhetorisches Handeln zähle auf die öffentliche Resonanz der eigenen (strategisch verwendeten) Argumente. Opfervermeidung sei vielleicht kein „echtes“ privates Motiv, das Politiker oder gar Rüstungsfirmen antreibe, wohl aber ein relevantes öffentliches Motiv demokratischer Rüstungspolitik.

Hilmar Linnenkamp (European Defence Agency, Brüssel) plädierte aus Sicht des Praktikers für eine „Entmythologisierung der RMA“ – deren Wirkungen solle man nicht überbewerten: Unilaterale Vorteile durch technologischen Vorsprung währten bestenfalls kurzfristig. Linnenkamp bestärkte die These, dass »Sieg« im klassischen Sinne heute nicht mehr stattfinde; es gehe darum, durch militärische Aktionen einen „Zustand zu erreichen, in dem Moderation möglich wird“. Hierzu helfe technologische Überlegenheit wenig. Gefordert sei vielmehr ein anderes militärisches Bewusstsein. Allerdings gebe es eine „Eigendynamik der technologischen Entwicklung“, und ein „Nicht-RMA-Krieg“ sei heute nicht mehr denkbar.

Das dritte, von Christopher Daase (Ludwig-Maximilians-Universität, München) moderierte Panel wandte sich dem problematischen Verhältnis von Demokratien zu ihrem Militär zu. Das „alte Dilemma“, so Sabine Mannitz (HSFK), bestehe hier im Gegensatz ziviler und militärischer Normen: Wie lässt sich eine größtmögliche Funktionalität des Militärs bewahren und dieses zugleich demokratischer Steuerung unterwerfen? Die zwei Alternativen, die die Forschung bietet, seien die Zivilisierung der Armee durch Integration der „Bürgersoldaten“ in die Gesellschaft bzw. die Separation der beiden Sphären bei „objektiver Kontrolle“ des Militärs durch den demokratischen Staat. Mit Blick auf die Transformation der Bundeswehr seit 1989/1990 zu einer »Armee im Einsatz« verwies Mannitz darauf, dass dieser Funktionswandel der deutschen Streitkräfte neue Legitimationsprobleme aufwerfe. Simone Wisotzki (HSFK) ergänzte den Blick auf Deutschland durch eine vergleichende Betrachtung der postsozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Hier zeige sich, dass der internationale sicherheitspolitische Reformdruck zwar generell den Übergang zu Berufsarmeen forciere; zugleich weisen Unterschiede zwischen den Staaten aber auf die Bedeutung von historischen Pfadabhängigkeiten, unterschiedlichen Fortschritten im Demokratisierungsprozess sowie verschiedenen Formen der internationalen Einbindung hin.

Ulrich Schlie (Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung) betonte, das „Bild des Soldaten“ habe sich in Deutschland gewandelt. Der deutsche Soldat sei mittlerweile „auch Kämpfer“, weshalb die »Innere Führung« wichtiger sei denn je. In Deutschland gebe es eine besondere Sensibilität, was die Verletzung von Prinzipien der Inneren Führung anbelangt. Mit Blick auf das Grunddilemma argumentierte Schlie, weder die Wehrpflicht noch die Berufsarmee seien per se demokratischer. Er verwies auf die enorm gewachsene Bedeutung der Medien „als Partner der parlamentarischen Kontrolle“. Insofern diese Partnerschaft allerdings mitunter dazu führe, dass geheime Informationen aus parlamentarischen Kontrollgremien an die Öffentlichkeit gerieten, könne man auch „zu viel Kontrolle“ haben.

Heiner Hänggi (Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces) bestätigte die Befunde des HSFK-Projekts, regte aber an, die vergleichende Forschung zu »jungen« und »alten« Demokratien um einen Vergleich mit Autokratien zu ergänzen; auch diese seien mit Problemen der zivilen Kontrolle des Militärs konfrontiert. Hänggi verwies auf zusätzliche Aspekte, die die demokratische Kontrolle des Militärs aktuell vor ernste Herausforderungen stellten und in der Forschung intensiver untersucht werden müssten. Probleme für die demokratische Kontrolle bereiteten die Verwischung der Aufgaben militärischer und nicht-militärischer Akteure im Einsatz („Konstabulisierung der Streitkräfte“) sowie die Auslagerung militärischer Aufgaben an private Sicherheitsunternehmen. Zugleich sei festzustellen, dass sich trotz dieser Herausforderungen für die letzten 10 bis 15 Jahre Tendenzen in Richtung einer größeren Parlamentsbeteiligung zeigten. Dieser Trend sei von Land zu Land sehr unterschiedlich, auch dürfe man die Bedeutung formaler Parlamentsrechte nicht überbewerten, da die Parlamentarier diese in der Praxis nicht immer wahrnehmen wollten oder könnten. Die Öffentlichkeits- und Diskursfunktion der Parlamente bleibe aber in jedem Falle wichtig.

Die Politik der externen Demokratieförderung stand im Zentrum des vierten, von Hans-Jürgen Puhle (J.W. Goethe-Universität Frankfurt) geleiteten Panels. Entgegen einer verbreiteten Perspektive, die die globale Verbreitung der Demokratie als Schlüssel für nahezu alle außen- und entwicklungspolitischen Ziele sieht, arbeitete Jonas Wolff (HSFK) die Widersprüche des Demokratisierungspostulats heraus. Zum einen seien Demokratie und Demokratisierung durch Dilemmata gekennzeichnet, die sich aus Sicht der Demokratieförderer als Zielkonflikte darstellten. Zum anderen erwiesen sich die demokratischen Anforderungen an eine Politik der externen Demokratieförderung schon theoretisch-konzeptionell als widersprüchlich. Als alternative Umgangsformen mit diesen normativen Ambivalenzen schlug der Beitrag von Wolff und Hans-Joachim Spanger (HSFK) zwei idealtypische Konzeptionen demokratischer Demokratisierungspolitik vor: die „Zivilmacht“, die einem modernisierungstheoretischen und gradualistischen Verständnis von Demokratisierung verpflichtet ist und Demokratieförderung als pragmatisch-kooperative Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert; sowie den „Freiheitskämpfer“, der ein transitionstheoretisches und revolutionäres Verständnis von Demokratisierung mit einem offensiv-steuernden und notfalls konfrontativen Verständnis von Demokratieförderung verbindet.

Gero Erdmann (GIGA Institut für Afrika-Studien) konzentrierte seine Kommentare auf diese Typologie. Dabei wies er darauf hin, dass die Idealtypen das Ziel, den politischen „Output“ (also die Demokratieförderpolitik) zu erklären, nur teilweise erreichen: Sie blieben bei den „normativen Mustern“ stehen, die „harten“ Interessen seien (noch) ausgeblendet. Erdmann bezweifelte, dass ein klassisch modernisierungstheoretisches Verständnis von Demokratisierung heute noch wirkmächtig sei. Auch hinterfragte er, inwiefern sich die allgemeine demokratisierungspolitische Konzeption eines „Gebers“ auf die spezifischen Demokratieförderstrategien gegenüber sehr unterschiedlichen „Nehmern“ übertragen ließe. Schließlich bezweifelte er, dass man aus der Perspektive des Projekts Aussagen zu den Erfolgsaussichten unterschiedlicher Strategien treffen könne. In ihren Repliken verwiesen Spanger und Wolff darauf, dass ein genaueres Wissen über die Wirkung der Demokratieförderung zwar ein wichtiges Desiderat der bisherigen Forschung darstelle, das vorliegende Projekt aber auf ein außenpolitiktheoretisches Verständnis der „Geberpolitiken“ ziele. In diesem Sinne richte sich die vergleichende empirische Projektarbeit, die zu wichtigen Teilen noch ausstehe, genau auf die Fragen Erdmanns: Wie verbinden sich die über die Heuristik der Idealtypen erfassten „normativen Muster“ mit je spezifischen Interessenkonstellationen zu nationalen „Interessen-Norm-Komplexen“? Welche Relevanz haben allgemeine demokratisierungspolitische Konzeptionen für die Erstellung und Umsetzung nehmerspezifischer Demokratieförderstrategien?

Adolf Kloke-Lesch (BMZ) verwies auf ein Problem, dem sich eine staatenzentrierte Forschung im Bereich der Demokratieförderung in besonderem Maße ausgesetzt sieht: die Vielzahl relativ autonomer Akteure. Angesichts der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Außen- und Entwicklungspolitik sowie der eigenständigen Rolle etwa der politischen Stiftungen problematisierte Kloke-Lesch die Annahme, man könne die Demokratieförderpolitik einer bestimmten Demokratie untersuchen. Er bestätigte die Relevanz der Dilemmata der Demokratisierung, betonte aber, diese führten nicht zu einer Infragestellung des Paradigmas: Eine Alternative, die zu Gunsten politischer Stabilität auf die Forderung nach und Förderung von Demokratie verzichte, sei „weder mehrheitsfähig noch zielführend“.

Demokratie als erklärende »Variable«

Die Theorie des Demokratischen Friedens und damit auch die Forschung an der HSFK rekurriert auf den demokratisch verfassten Staat als zentraler Einheit. Die Vertreterinnen und Vertreter der HSFK verteidigten diesen Ansatz, der die Realität und Bedeutung nicht-staatlicher Akteure und transnationaler Prozesse nicht ausblende, aber sein primäres Erkenntnisinteresse auf ein Verständnis demokratischer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik richte, gegen eine Kritik, die wahlweise unter Rekurs auf die Globalisierungsdebatte dem Nationalstaat und den zwischenstaatlichen Beziehungen ihre Relevanz absprach, oder in der Tradition des Realismus in den Internationalen Beziehungen die Weltpolitik im Wesentlichen auf die Zwänge und Anreize internationaler Machtverhältnisse reduzierte. Klar wurde, dass Demokratie als erklärender »Faktor« mehr erfassen muss als das politische Institutionengefüge. Die Herausforderung besteht darin, unter dem Fokus auf die Demokratie die komplexen Prozesse in den Blick zu nehmen und theoretisch-konzeptionell zu bündeln, in denen öffentliche Diskurse in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zusammenfließen.

Nicht nur demokratische Institutionen, auch das liberale Gedankengut, das sich in je länderspezifische politische Kulturen bzw. Rollenmuster einordnet, strukturiert die variablen Resultate demokratischer Außenpolitik. Liberale Werte und Normen prägen die Lebenswelt der in Demokratien lebenden Menschen und werden von ihnen qua Sozialisation in das persönliche Wahrnehmungs- und Bewertungsrepertoire aufgenommen. Insofern lässt sich mit ihnen Mobilisierung für bestimmte Entscheidungen bewerkstelligen, während sie den politischen Erfolg explizit illiberaler Strategien deutlich mindern. Das liberal-demokratische Wertesystem schließt bestimmte Optionen aus – z.B. den Krieg gegen eine andere Demokratie -, lässt aber immer noch einen breiten Korridor von mit diesen Werten kompatiblen Optionen zu (z.B. die Ablehnung von Intervention aus Respekt vor der Autonomie der BürgerInnen in anderen Staaten, oder die Befürwortung von humanitärer Intervention, um die Unversehrtheit von Menschen in Diktaturen zu schützen).

Demokratie ist daher ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Internationale Machtverhältnisse, Allianzzugehörigkeiten und partikulare Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen sind damit keineswegs irrelevant. Mächtige verfügen über eine breitere Palette von Optionen als weniger Mächtige; Allianzzugehörigkeit schafft Erwartungen von Solidarität; Partikularinteressen mögen »Kriegsunternehmer« oder »Kriegsgegner« antreiben, demokratische Diskussionen und Entscheidungen über Krieg und Frieden in ihrem Sinne zu beeinflussen. All diese Variablen sind wichtig, entfalten ihre Wirkung aber erst vor dem Hintergrund spezifischer politischer Kulturen (die sie ihrerseits prägen). Die in nationalen Narrativen verarbeitete Geschichte, die Identität, das Rollenverständnis mit ihren stets interpretationsfähigen Angemessenheitslogiken sind von Demokratie zu Demokratie verschieden, bewegen sich aber im von der liberal-demokratischen Ideologie aufgespannten Möglichkeitsraum.

Von Ambivalenzen und Antinomien

Demokratische Institutionen und politische Kulturen stellen Strukturelemente und Kontextvariablen politischen Handelns dar, die keine eindeutigen (friedensfördernden) Handlungsorientierungen prämieren, sondern ambivalente Situationsdeutungen und Handlungsoptionen ermöglichen, welche Gewaltanwendung und Kooperationsverweigerung als je legitimes demokratisches Handlungsrepertoire erscheinen lassen. Die für das HSFK-Forschungsprogramm zentralen Begriffe der »Antinomie« und der »Ambivalenz« wurden kontrovers diskutiert – insbesondere eine präzisere Fassung der Begriffe wurde angemahnt.

Als begriffliche Präzisierung bietet sich ein Rückgriff auf das strukturationstheoretische Instrumentarium von Anthony Giddens an. Danach sind Struktur und Akteur zwei sich wechselseitig bedingende Seiten eines unaufhörlichen historischen Stroms: Strukturen ermöglichen und beschränken Handeln, während die Akteure ständig die Strukturen reproduzieren und/oder ändern. Auf soziale Phänomene kann man mithin stets aus zwei Richtungen blicken, und erst das Zusammenbringen von Struktur- und Akteursperspektive ermöglicht eine umfassende Prozessanalyse. Mit Giddens lassen sich Antinomien als gegensätzliche kausale Tendenzen in der Strukturdimension der Legitimation verorten: Die kognitiv-ideologische Struktur, auf die sich erfolgversprechende Rechtfertigungen und d.h. die öffentlichen Motive demokratischer Politik beziehen müssen, ist immanent widersprüchlich. Das obige Beispiel – die liberale Ideologie rechtfertigt sowohl die Abstinenz von als auch die Neigung zu Interventionen – benennt eine solche Antinomie. Aus der Sicht der Akteure stellen sich diese Antinomien als Ambivalenzen dar. Eine antinomische Struktur (im Sinne von Regeln der Legitimation) führt zu ambivalenten Anforderungen an das normativ angemessene Verhalten, womit ein Korridor für höchst unterschiedliche Entscheidungen eröffnet wird. Antinomie und Ambivalenz sind daher zwei Seiten derselben Medaille, einmal aus der Struktur-, zum anderen aus der Akteursperspektive analysiert.

Zum Begriff der »Schattenseiten«

Intensiv wurde der Begriff der »Schattenseiten« erörtert, dem der Titel der Tagung einen prominenten Stellenwert einräumte. Seine normativen Implikationen bedürfen der Klärung. Indem die HSFK-Forschung in verschiedenen Politikfeldern den je partikularen Status eines universal verstandenen Liberalismus unter Beweis stellt, versucht sie bewusst, einem überschießenden liberalen Universalismus entgegenzuwirken, der über die Selbstermächtigung der demokratischen Staaten im Namen von Demokratie und Frieden letztlich kriegs- und konflikttreibend wirkt. Bereits das Offenlegen von unterschiedlichen, aber gleichermaßen dem liberal-demokratischen Wertekanon verpflichteten, außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Strategien verweist auf die Kulturgebundenheit und Partikularität der eigenen Zielsetzungen und konterkariert damit den missionarischen Impuls, im Interesse der Verwirklichung vermeintlich universaler Güter nötigenfalls auch auf Gewalt zurückzugreifen und geltende verfahrungsrechtliche Bestimmungen zu umgehen.

Der Glaube an das universale Gute, welches das eigene Handeln verbreiten und verwirklichen soll, trübt häufig den Blick für die Grenzen sozialtechnologischer Möglichkeiten. Die Illusion über die Machbarkeit des Wünschenswerten zerschlägt sich nicht selten zu Lasten derjenigen, die eigentlich die Begünstigten der Aktionen der Demokratien hätten sein sollen; kontra-intentionale und kontra-produktive Folgen für die eigenen Zielsetzungen sind dann zu verzeichnen. In dieser negativen Doppelwirkung und in ihrer Verursachung durch die Hybris liberalen Denkens kulminieren die Schattenseiten – die dann aber genau genommen weniger die dunklen Seiten „des Demokratischen Friedens“ als „der liberalen Ideologie“ als normativer Grundlage der Erforschung und Praxis demokratischer Außenpolitik meinen.

Ausblick: Anstöße für zukünftige Forschung

Während die quantitativen large N-Studien in der Forschung zum Demokratischen Frieden ihre Befunde zum Außenverhalten der Demokratie stets im Vergleich zu anderen Regimetypen bemessen, ist der systematische Vergleich von Demokratien und Nicht-Demokratien in fallstudienorientierten, qualitativen Arbeiten – auch in der HSFK – noch Mangelware. Die HSFK-Forschung etwa zu den Diskursen über Kriegsentscheidungen in westlichen Demokratien ergibt klare Hinweise auf typisch demokratische Argumente pro Krieg; der Abgleich mit den Kriegsentscheidungen in nicht-demokratischen Staaten wäre wichtig, um zu kontrollieren, inwieweit welche »liberalen Motive« tatsächlich der Demokratie vorbehalten sind. Gleiches gilt für Fragen der Gestaltung der zivil-militärischen Beziehungen, der nationalen Rüstungs- oder der internationalen Rüstungskontrollpolitik.

Mit dem (selbst-)kritischen Blick auf die Antinomien des liberalen Gedankenguts und die Ambivalenzen demokratischer Politik rücken komplexe Fragen der Normativität in den Vordergrund. Der zentrale normative Impetus des laufenden HSFK-Forschungsprogramms besteht in der selbstkritischen Reflexion. Damit stellen sich zwei Fragen, denen es in Zukunft mehr Augenmerk zu schenken gilt. Erstens ist die Kritik liberal-demokratischer Selbstermächtigung ihrerseits basalen liberalen Normen verpflichtet, womit sich die Antinomien des Liberalismus auch in den Köpfen der Forscher als normative Ambivalenzen niederschlagen, die zu mitunter schwierigen Entscheidungen nötigen: Wie verhält sich die kritische Analyse des »Demokratischen Kriegs« zu der Frage, wann Krieg – wenn er auch nie moralisch gerecht ist – zumindest politisch richtig sein mag? Was sagt uns die Untersuchung unterschiedlicher Strategien und Praktiken der externen Demokratieförderung über die Formen und Grenzen legitimer Außeneinwirkung auf per definitionem je innergesellschaftliche Transformationsprozesse? Zweitens, und damit verknüpft: Wo genau liegen die Sollbruchstellen, wo die Schnittmengen zwischen unterschiedlichen liberal-demokratisch geprägten sowie anderen real-existierenden Vorstellungen über die gute normative (Welt-)Ordnung?

Anmerkungen

1) Anna Geis, Harald Müller, Wolfgang Wagner (Hg.) 2007: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt/New York: Campus (Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 55).

2) Die Veranstalter danken der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Konferenz sowie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt für die Gastfreundschaft.

Jonas Wolff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSFK. Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Mitglied des Vorstands der HSFK und Leiter des Projektbereichs Internationale Organisation, demokratischer Friede und die Herrschaft des Rechts. Dr. Anna Geis leitet in der HSFK den Projektbereich »Demokratisierung und der innergesellschaftliche Frieden«.

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Erklärung von Sevilla zur Gewaltfrage

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Immer wieder erscheinen in deutschen Magazinen Beiträge, in denen die Spekulationen von Philosophen und von Begründern moderner wissenschaftlicher Disziplinen zum Ursprung der menschlichen Aggressivität und Gewalttätigkeit aufgewärmt werden – als wäre diesbezüglich in den involvierten Disziplinen bisher keinerlei Fortschritt zu verzeichnen. So entsteht bestenfalls der Eindruck eines Unentschieden zwischen »Pesssimisten« und »Optimisten«, zwischen »Anlage-« und »Umwelttheoretikern«, oder wie immer man die grundlegenden Ansätze kennzeichnen mag; wahrscheinlich aber liefert man damit autoritären Ordnungsvorstellungen und -bestrebungen eine quasi-biologische Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, die am 16. Mai 1986 von einer internationalen Kommission von zwanzig Wissenschaftlern im Rahmen eines Kolloquiums an der Universität von Sevilla als Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 erarbeitete Erklärung zur Gewaltfrage in Erinnerung zu bringen. Diese »Erklärung von Sevilla« richtet sich ausdrücklich gegen den weitverbreiteten Glauben, der Mensch sei infolge angeborener biologischer Faktoren zu Gewalt und Krieg prädisponiert. Sie wurde im November 1989 von der 25. Konferenz der UNESCO zwecks weltweiter Verbreitung und als Grundlage eigener Expertentagungen übernommen. Durch Dokumentation dieser wichtigen Erklärung in dem vorliegenden Heft von W&F wollen wir zu ihrer Verbreitung beitragen. Die Übersetzung besorgte A. Fuchs auf der Grundlage des als Anhang zu dem von Silverberg & Gray (1992) herausgegebenen Sammelband abgedruckten englischen Textes1 und unter Berücksichtigung der von der deutschen UNESCO-Kommission freundlicherweise zur Verfügung gestellten Übersetzung.2 Die Zwischenüberschriften und die Numerierung der Hauptthesen i.V.m. der Phrase »Aus der Sicht der . . .« wurden redaktionell eingefügt.

In der Überzeugung, daß es unsere Pflicht ist, uns aus der Sicht unserer unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen, mit Krieg und Gewalt; im Bewußtsein, daß die Wissenschaft ein Produkt der menschlichen Kultur darstellt und deswegen weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten zu bieten hat; und in dankbarer Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Sevilla und der spanischen UNESCO-Kommission, haben wir, die unterzeichneten Wissenschaftler aus aller Welt, die sich aus der Perspektive ihre jeweiligen Disziplin mit dem Thema Krieg und Gewalt befassen, die nachstehende »Erklärung zur Gewaltfrage« formuliert.

Darin stellen wir einige vermeintliche Ergebnisse biologischer Forschung in Frage, die dazu verwendet werden – zum Teil aus unseren eigenen Reihen –, Krieg und Gewalt zu rechtfertigen. Diese vermeintlichen Forschungsergebnisse haben zu einer pessimistischen Grundstimmung in der öffentlichen Meinung beigesteuert. Daher glauben wir, daß eine öffentliche und gut begründete Zurückweisung der Fehlinterpretation wissenschaftlicher Befunde einen wirksamen Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.

Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Befunde zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg ist nicht neu, sondern begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie dazu benutzt, nicht nur den Krieg zu rechtfertigen, sondern auch Völkermord, Kolonialismus und die Unterdrückung der Schwächeren.

Wir legen unsere Position in fünf Thesen dar. Wir sind uns dessen bewußt, daß noch weit mehr zu Gewalt und Krieg vom Standpunkt unserer Disziplinen zu sagen wäre; wir beschränken uns hier jedoch auf diese Kernaussagen als besonders wichtigen ersten Schritt.

1. Ethologie

Aus der Sicht der Ethologie (Verhaltensforschung) ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, der Mensch habe von seinen tierischen Vorfahren eine Tendenz Krieg zu führen geerbt. Zwar ist Kämpfen nahezu im gesamten Tierreich verbreitet; doch nur über wenige Fälle destruktiver, innerartlicher Kämpfe zwischen organisierten Gruppen in ihrer natürlichen Umwelt lebender Arten findet man Berichte, und in keinem Fall haben wir es mit Waffengebrauch zu tun. Das raubtiertypische Sich-Ernähren von anderen Arten hat nichts zu tun mit innerartlicher Gewalt. Kriegführen ist ein spezifisch menschliches Phänomen und kommt bei anderen Lebewesen nicht vor.

Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Laufe der Geschichte radikal verändert hat, zeigt, daß sie ein Produkt der kulturellen Entwicklung ist. Biologisch ist Krieg vor allem in unserem Sprachvermögen verankert; Sprache macht es möglich, soziale Gruppen zu koordinieren, Technologien weiterzugeben und Werkzeuge zu verwenden. Aus biologischer Sicht ist Krieg möglich, aber nicht unvermeidbar wie auch die Unterschiede in der Art und der Häufigkeit des Kriegführens in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte kein Krieg geführt wurde, als auch Kulturen, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig Krieg geführt haben, zu anderen wiederum nicht.

2. Biogenetik

Aus der Sicht der Biogenetik ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Kriegführen oder andere gewaltförmige Verhaltensweisen des Menschen seien genetisch vorprogrammiert. Gene spielen auf allen Funktionsebenen unseres Nervensystems eine Rolle; sie stellen aber ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit der ökologischen und sozialen Umwelt aktualisiert werden kann. Individuen variieren zwar anlagebedingt bezüglich ihrer Beeinflußbarkeit durch Erfahrung; letztlich jedoch bestimmt die Wechselwirkung zwischen ihrer genetischen Ausstattung und den Umständen, unter denen sie aufwachsen, ihre Persönlichkeit. Von seltenen krankhaften Fällen abgesehen, prädisponieren die Gene kein Idividuum zur zwanghaften Ausübung von Gewalt; das gleiche gilt für das Gegenteil. Die Gene sind an der Entwicklung unserer Verhaltensmöglichkeiten mit beteiligt, bestimmen das Ergebnis aber nicht allein.

3. Evolutionsforschung

Aus der Sicht der Evolutionsforschung ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, im Laufe der menschlichen Evolution habe sich durch Selektion die Tendenz zu aggressivem Verhalten stärker durchgesetzt als andere Verhaltenstendenzen. Bei allen hinreichend gut erforschten Arten wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Ausübung sozialer Funktionen, die für die Struktur dieser Gruppe von Bedeutung sind, erworben. »Dominanz« beinhaltet Anschluß an andere und soziale Bindungen. Obwohl aggressives Verhalten eine Rolle spielt, sind der Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft nicht entscheidend. Wo bei Tieren die Selektion aggressiven Verhaltens künstlich gefördert wurde, führte das schnell zur Entwicklung hyper-aggressiver Individuen. Das bedeutet, daß der Selektionsmechanismus unter natürlichen Bedingungen die Aggression nicht besonders begünstigte. Wenn man experimentell entwickelte hyperaggressive Individuen in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren Struktur, oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.

4. Neurophysiologie

Aus der Sicht der Neurophysiologie ist die Behauptung wissenschaftliche unhaltbar, die Menschen besäßen ein »gewalttätiges Gehirn«. Zwar ist unser neuraler Apparat mit allen Voraussetzungen gewaltförmigen Verhaltens ausgestattet, aber er wird weder durch innere noch durch äußere Reize automatisch dazu aktiviert. Ähnlich wie bei den höheren Primaten und anders als bei den anderen Lebewesen filtern unsere höheren Gehirnprozesse entsprechende Reize, bevor wir auf sie reagieren. Wie wir reagieren, hängt davon ab, wie wir konditioniert und sozialisiert wurden. Nichts von unserer neurophysiologischen Ausstattung zwingt uns zu gewalttätigen Reaktionen.

5. Psychologie

Aus der Sicht der Psychologie ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Krieg werde verursacht durch einen »Instinkt« oder »Trieb« oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegsführung ist eine Geschichte der Entwicklung vom Übergewicht emotionaler und motivationaler Faktoren, die manche »Instinkte« oder »Triebe« nennen, zum Übergewicht kognitiver Faktoren. Krieg beinhaltet heute die institutionalisierte Nutzung von Persönlichkeitseigenschaften wie Gehorsamsbereitschaft, Suggestibilität oder auch Idealismus; soziale Fertigkeiten wie Kommunikation und Sprache; kognitive Prozesse wie Kosten-Nutzen-Kalkulation, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegsführung verstärkt in besonderer Weise gewaltaffine Persönlichkeitszüge, und zwar sowohl bei der Ausbildung des Kampfpersonals wie bei der Mobilisierung von Unterstützung für den Krieg seitens der Gesamtbevölkerung. Infolgedessen werden solche Züge oft fälschlicherweise als Ursachen statt als Folgen des ganzen Prozesses angesehen.

Schlußfolgerung

Aus all dem schließen wir: Biologisch ges<-2>ehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann sich aus der Knechtschaft eines auf biologische Argumente gestützten Pessimismus befreien und sich zu Selbstvertrauen und Zuversicht ermächtigen, um die in diesem Internationalen Friedensjahr und in den kommenden Jahren fälligen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Zwar müssen diese Umgestaltungsaufgaben primär von Institutionen und von größeren sozialen Einheiten bewältigt werden, ihre Bewältigung hängt aber auch vom Bewußtsein des einzelnen ab, das entscheidend von einer pessimistischen oder einer optim<0>istischen Perspektive geprägt ist.

Wie Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, so entsteht auch der Friede in unseren Köpfen. Ein und dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür verantwortlich.

Sevilla, 16. Mai 1986

Erstunterzeichner

David Adams, Psychologie, USA – S.A. Barnett, Ethologie, Australien – N.P. Bechtereva, Neurophysiologie, UdSSR – Bonnie Frank Carter, Psychologie, USA – José M. Rodríguez Delgado, Neurophysiologie, Spanien – José Luis Díaz, Ethologie, Mexiko – Andrzej Eliasz, Differentielle Psychologie, Polen – Santiago Genovés, Biologische Anthropologie, Mexico – Benson E. Ginsburg, Verhaltensgenetik, USA – Jo Groebel, Sozialpsychologie, BRD – Samir-Kuma Ghosh, Soziologie, Indien – Robert Hinde, Verhaltensforschung, England – Richard E. Leaky, Physikalische Anthropologie, Kenia – Taha M. Malasi, Psychiatrie, Kuwait – J. Martin Ramírez, Psychobiologie, Spanien – Frederico Mayor Zaragoza, Biochemie, Spanien – Diana L. Mendoza, Ethologie, Spanien – Ashis Nandy, Politische Psychologie, Indien – John Paul Scott, Verhaltensforschung, USA – Riitta Wahlström, Psychologie, Finnland.

Anmerkungen

1 Silverberg, J. & Gray, J.P. (Eds.) (1992): Aggression and peacefulness in humans and other primates (pp. 295-297), Oxford, Oxford University Press. Zurück

2 Von einer unbesehenen Übernahme dieser deutschen Version wurde abgesehen, weil sie den Sinn des Originaltextes vielfach nur ungenau wiedergibt oder entstellt und ihn an einer zentralen Stelle sogar in sein Gegenteil verkehrt. Zurück

Forschungsfreiheit oder versiegende Lust auf Technik

Forschungsfreiheit oder versiegende Lust auf Technik

von Ernst Rößler

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges stellt sich das diffuse Gefühl ein, daß wir in einer fundamentalen Krise stecken. Auch wenn der Kapitalismus als Sieger aus dem Wettlauf der Systeme hervorging, blieb ihm nur wenig Zeit, dies gebührend zu feiern. Plötzlich tauchen – unter dem Schlagwort »Globalisierung« – düstere Wolken am Horizont der westlichen Industriegesellschaften auf.

Zum einen propagieren Neoliberale das internationale »Laissez faire«, fordern »Deregulierung« auf allen Ebenen, einen schlanken Staat, eine schlanke Fabrik und eine schlanke Universität. Sie verheißen einen weltweiten »Wohlstand der Nationen« durch einen globalen Wettbewerb. Zum anderen werden in Europa Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Es gibt immer mehr Arbeit für immer weniger Menschen. Die Renten und das Gesundheitssystem scheinen nicht mehr bezahlbar zu sein, und das Gespenst der Armut geht wieder um. Obwohl das Bruttosozialprodukt weiterhin zunimmt, wird die öffentliche Hand ärmer und ärmer. Immer weniger Geld bleibt für die Planung zukünftiger Entwicklungen; insbesondere schrumpfen die nationalstaatlichen Möglichkeiten. Es gilt nur noch, möglichst schnell »Strukturanpassungen« an internationale Sachzwänge vorzunehmen.

Kurz: Zu dem Gefühl, daß uns eine Krise erfaßt hat, daß nichts mehr so sein wird wie bislang, kommt das Gefühl der Ohnmacht. Doch Optimisten würden hier sagen, das ist genau jener Humus, der Neues gebiert!

Die Hochschulreform in den 70er und 90er Jahren

Unter diesen Randbedingungen ist es natürlich nicht verwunderlich, daß auch die Universität in ihrer bisherigen Form in Frage gestellt wird. Deshalb seien zunächst hierzu einige Gedanken geäußert, und zwar beginnend mit der Hochschulreform in den 70er Jahren. Diese Reformperiode war gekennzeichnet durch einen massiven Ausbau der Universitäten. Die Zahl der Studierenden erhöhte sich von 0.51<0> <>Mio. (1970) auf 1.85<0> <>Mio. (1994). Die Öffnung der Universitäten war sowohl von sozialen und partizipatorischen als auch von wirtschaftlichen Motiven geprägt. Der Modernisierungsprozeß der Wirtschaft verlangte nach neuen Bildungsreserven. Im Zuge der Studentenrevolte etablierte sich auch eine kritische Wissenschaft, die Selbstreflexion üben wollte. Die Gruppenuniversität wurde geschaffen, wenn auch letztendlich nur rudimentär, und die Potentiale für eine Zukunft sollten sich im Wettstreit unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen entwickeln.

Die Hochschulreform in den 90er Jahren ist dadurch gekennzeichnet, daß der Arbeitsmarkt insbesondere für Absolventen naturwissenschaftlicher Studiengänge gesättigt ist und daß eine verschärfte Konkurrenz um »Leistung« und »Qualität« national wie international entbrannt ist. Chronisch rückläufige Bildungsetats bestimmen die Hochschullandschaft, und dies hat schon seit langem in vielen Fächern zu einer Überlastung geführt. Weiterhin ist festzustellen, daß die Universitäten die Kraft verloren haben, Menschen zu versammeln, die mehr als nur eine Ausbildung wollen. Wer erwartet heute von der Universität noch Impulse? An den naturwissenschaftlichen Fakultäten zeigt sich ein weiteres Phänomen: Das Interesse an den Naturwissenschaften geht zurück. Es gibt immer weniger Studenten!

Ideen zur Reform der Universität haben Hochkonjunktur, und der Zustand der Universitäten wird in düsteren Farben gemalt: Er sei „verrottet“, „Humboldt in der Masse erstickt“, „Lethargie“ wird beklagt. Allerdings ist nicht klar, was die jeweiligen Autoren eigentlich meinen. Geht es um die technische Bewältigung der Überlast, oder geht es im Rahmen von gewagten Elitetheorien darum, daß die Begabungen in der Bevölkerung nicht gleich verteilt sind? Ist mit 11% eines Jahrgangs bessere Wissenschaft zu machen als mit 37%? Worin besteht die behauptete mangelnde Exzellenz unserer Forschung?

Vor dem Hintergrund der »Qualitätssicherung« ist die Universität als Dienstleistungsbetrieb, der seine Effizienz und Wirtschaftlichkeit steigern muß, um die Zuteilung von Ressourcen zu rechtfertigen, der sich ausprägende Trend. Schlagworte wie »Autonomie« und »Deregulierung« fallen überall. Von den demokratischen Gremien sollen Aufgaben auf die Universitätsleitung übergehen. Geplant ist eine Entpolitisierung der Entscheidungen. Die Reste der Gruppenuniversität sind hier nur noch störend, werden als »Deregulierungsdefizit« betrachtet. Nicht mehr Partizipation und Emanzipation, sondern die Ausrichtung an den Wünschen der Wirtschaft wie auch an denen eines »schlanken« Staates, stehen im Zentrum der Bemühungen. Studiengebühren werden diskutiert. So haben sich die Zeiten geändert: Wollte der Staat in den 70er Jahren noch das allgemeine Bildungsniveau anheben, soll sich heute jeder einzelne darum kümmern – und zahlen.

Der bislang geschützte Bereich der Universität wird infolge der geplanten Maßnahmen einer verstärkten Außenlenkung ausgesetzt; dies ist natürlich das Gegenteil von »Autonomie«. Auf allen Ebenen wird eine verschärfte Konkurrenz stattfinden, sowohl zwischen den als auch innerhalb der Hochschulen. Schon wird eine »Spaltung der Hochschullandschaft« (große gegen kleine Universitäten) befürchtet. Das marktwirtschaftliche Konzept für die Universität suggeriert wie jedes Marktmodell eine Gleichheit der Ausgangsbedingungen, die in Wirklichkeit jedoch nicht vorhanden ist. Es werden Ungleichgewichte verstärkt, die dann gerade der Motor der Effizienzsteigerung sind, die aber auch eine Menge Verlierer zurücklassen werden. So funktioniert unsere Wirtschaft! Bei wem kann man sich beklagen, wenn man aus marktwirtschaftlichen Gründen entlassen wird?

Gerät die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Gefahr?

Aufgrund dieser Entwicklungen ist zu befürchten, daß das kulturelle Projekt der Naturwissenschaften nur unter großen Anstrengungen zu halten ist. Im Spannungsfeld von Technikfolgen, globalen Verwertungsinteressen und der Knappheit öffentlicher Mittel wird der Anspruch der Grundlagenforschung aufgerieben. Es wird immer weniger Instanzen für die Suche nach der Wahrheit oder weniger pathetisch ausgedrückt für eine unabhängige Expertise geben. Die Kategorien »wahr« oder »nicht wahr« werden sich in die Kategorien des Marktes, in »Haben« oder »Nichthaben«, verflüchtigen. Brauchen wir überhaupt noch eine »interessensfreie« Wissenschaft? Gehen wir einer »post-akademischen« Wissenschaft entgegen, die nicht mehr auf öffentliches Wissen zielt, sondern eine Privatisierung des Wissens propagiert?

Dazu können die Wissenschaftsorganisationen nicht schweigen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gibt eine Broschüre mit dem Titel »Forschungsfreiheit« (1996) heraus, und Repräsentanten außeruniversitärer Forschungseinrichtungen erheben einen Aufruf gegen den Niedergang der deutschen Forschung (1997). An diesen Aufrufen fällt auf, daß es in erster Linie nicht um die Wissenschaft geht, sondern um den Standort Deutschland. Zwar wird im Vorwort (W. Frühwald) der DFG-Broschüre angemerkt: „Der international zu beobachtende Trend, Wissenschaft und Forschung als bloße Wirtschaftsfaktoren zu betrachten, Wissen möglichst rasch und gewinnbringend in Eigentum zu verwandeln, statt die Möglichkeiten zur Entstehung neuen Wissens in den Freiheitswurzeln der Gesamtkultur eines Landes zu suchen, … sind nur Symptome dieses nicht zu unterschätzenden Entwertungsprozesses.“ Jedoch wird gleichzeitig beklagt: „eine nennenswerte biotechnische Industrie konnte in Deutschland … nicht enstehen.“ In beiden Sätzen geht es natürlich um völlig verschiedene Dinge – zum einen um vermeintliche wirtschaftliche Nachteile und zum anderen um die Unabhängigkeit der Wissenschaft!

Die DFG-Broschüre ist von verschiedener Seite kritisiert worden, und es soll kurz auf sie eingegangen werden. Ihr Ausgangspunkt ist, daß in Deutschland das Bewußtsein dafür geschwunden sei, „daß das Grundrecht auf Forschungsfreiheit durch die Rechtsordnung grundsätzlich nicht begrenzt ist, daß also jede Einschränkung dieses Verfassungsgebotes ihrerseits legitimiert werden muß.“ Festgestellt wird, daß Wissenschaft zum Überleben der Menschheit unentbehrlich sei, jedoch viele Menschen ihr mit Angst begegnen. „Gedeihen kann Forschung aber nur in einem Klima wenn schon nicht uneingeschränkter Akzeptanz, so doch wenigstens rationaler Aufgeschlossenheit.“ Forschungsbehinderung sieht die DFG z.B. bei der Kernenergie oder bei der Gentechnik sowohl in Form von Gesetzen als auch in Form von „Gruppen, die dazu neigen, normative Präferenzen als absolute Wertsetzungen zu betrachten, und unter Berufung auf diese rechstwidrige Gewaltaktionen durchführen … .“ Damit komme es zu „Wettbewerbsverzerrungen“ in der Forschung zu Lasten der deutschen Wissenschaft. Es folgen Empfehlungen der Art, daß der Gesetzgeber „Selbstbeschränkung“ üben und stattdessen die „Selbstkontrolle der Wissenschaft auf der Grundlage des Standesethos ihrer wissenschaftlichen Gesellschaften“ stärken sollte.

Die Grundhaltung dieser DFG-Broschüre ist selbstgerecht und dokumentiert ein Unverständnis öffentlicher Kritik gegenüber. Seitens ihrer Autoren gibt es praktisch keine berechtigten, »rationalen« Gründe, Mißtrauen gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung zu haben. Insbesondere gibt es keinen Regelungsbedarf aus demokratischen oder humanen Gesichtspunkten. Man spürt deutlich, daß die Autoren wenig Lust verspüren, die durch die Anwendung z.B. der Gentechnik entstehenden ethischen Probleme auszutragen. Es fallen Sätze wie: „Ist jedoch das Risiko etwa der Gesundheitsgefährdung gering und abstrakt, wie bei der überwiegenden Mehrzahl aller gentechnischen Versuche, ist eine Einschränkung des Grundrechts der Forschungsfreiheit nicht gerechtfertigt.“ Fazit: Die Wissenschaft bzw. ihre Standesorganisationen scheuen die Öffentlichkeit und eine Diskussion über normative Konflikte wie der Teufel das Weihwasser. „Für die komplexen moralischen Probleme, die durch die von der Wissenschaft eröffneten neuen Handlungsmöglichkeiten entstehen, sollten wissenschaftliche Institutionen zuständig sein.“ Eine öffentliche Rechtfertigung der »Forschungsfreiheit« wird abgelehnt. Manch »alter Hut feiert wieder fröhliche Urständ«: So wird die aktuelle Konjunktur um »Effizienzsteigerung« von den Wissenschaftsverbänden dafür genutzt, den Spielraum einer selbstbezüglichen Bewertung durch die »scientific community« zu erweitern.

Wir sind kurz davor, Eugenik- oder gar Euthanasie-Programme aufzustellen, und eine beträchtliche Anzahl von Wissenschaftlern möchte am liebsten die soziale Frage mit Hilfe der Wissenschaft lösen. So glauben viele, daß das Studium der Erbeigenschaften weit mehr Erkenntnisse zu Tage fördern und damit Manipulationsmöglichkeiten eröffnen wird als das Studium der sozialen Verhältnisse. Der Kriminalität möchte man mit medizinischen Mitteln zu Leibe rücken. Und das sollen wir einer kleinen Gruppe von Leuten überlassen? Damit würde man den Bock zum Gärtner machen! Ganz abgesehen davon, daß Deutschland damit schon die schlimmsten Erfahrungen gemacht hat. Hier ein Beispiel: Nobelpreisträgers J. Watson hat sich dafür ausgesprochen, daß Eltern die Möglichkeit für eine Abtreibung erhalten sollten, wenn sich mit einer Genanalyse bei dem Ungeborenen die Anlage für Homosexualität feststellen lasse.

Erstaunlich sind die Äußerungen der Wissenschaftsorganisationen angesichts der weltweit sich auftürmenden Probleme, die ja gerade eine Politisierung und demokratische Legitimation vieler Entscheidungen notwendig machen. Die Rekrutierung unabhängiger Experten, wie wir sie für die Bewältigung der Zukunft benötigen, ist nicht das Anliegen der DFG-Broschüre! Die Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft, wie sie heute durch den Anwendungsdruck entsteht, wird eben nicht diskutiert – außer kurz im Vorwort.

Ca. 400 Jahre nach Galilei hat die Naturwissenschaft es geschafft, sich mit ihrem unbedingten Willen zum wissenschaftlichen Fortschritt in Konflikt mit den Wünschen vieler Menschen zu bringen. Ihre Vertreter überreagieren auf jegliches Ansinnen, der Wissenschaft in die Karten zu schauen. Welch merkwürdiger Rollentausch: Zu Galileis Zeiten wollten die Pfaffen nicht ins Fernrohr schauen, heute fürchtet die Wissenschaft den Kontakt mit der Öffentlichkeit! Die beklagte Irrationalität ist bis ins Zentrum der Wissenschaft vorgerückt, und die Wissenschaft entpuppt sich damit als mehr oder weniger würdige Nachfolgerin der Kirche.

Alternative Wissenschaft ?

Wie kann es also weitergehen, wenn sich die Wissenschaft schmollend in die Ecke der vermeintlichen Wertfreiheit verkriecht bzw. mit den Mächtigen dieser Welt kollaboriert und auf die Durchsetzung des »wissenschaftlichen Fortschritts« pocht? Manch ein klassischer Wissenschaftler wird dann von der »wahren Forschungsfreiheit«, der »objektiven Erkenntnis« und der »Neutralität der Wissenschaft« sprechen, und es gelte die Wissenschaft vor dem Verwertungsdruck zu schützen, eben die Universität als geschützter Raum. Dem entspricht die traditionelle Auffassung, daß Wissenschaft und Technik zu unterscheiden seien. Doch spätestens, wenn die Wissenschaft zur Machenschaft wird, wenn sie die Welt verändern will – und wie ich glaube, wollte sie dies von Anbeginn – gibt es keine Objektivität mehr. Die Machtnähe der heutigen Wissenschaft erfordert mehr als Objektivität, sie verlangt nach Kontrolle.

Zusätzlich zur gesellschaftlichen Kontrolle wird von kritischer Seite eine Selbstkritik der Naturwissenschaft gefordert, eine »alternative Wissenschaft« soll entstehen. Zitiert wird G. Picht: „Eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann keine wahre Erkenntnis der Natur sein.“ Wahrheit muß auch ethisch qualifiziert werden. So schreibt H.-J. Fischbeck: „daß es eine intrinsische Wissenschaftskritik gibt, die wieder zugelassen werden muß, nachdem Ethik in der Aufklärung aus guten Gründen aus der Naturwissenschaft verbannt wurde.“ Um es aber gleich zu sagen: Ich halte diese Forderung nach normativer Naturerkenntnis, d.h. nach einer Wiederverbindung – wie in der Antike – von objektiver Geltung und moralischen Ansprüchen im Begriff der Erkenntnis als wenig erfolgversprechend, wenn nicht sogar gefährlich, läuft sie doch Gefahr – so wie in den Ländern des einstigen Ostblocks geschehen – einem autoritären Wissenschafts- und Gesellschaftssystem Vorschub zu leisten.

Das technologische Potential der Wissenschaft

Auch wenn die Wissenschaft ein gesellschaftliches Teilsystem mit relativer Autonomie geschaffen hat, in der es um zweckfreie Theoriebildung und Selbstbezüglichkeit der Wissenschaft geht, kann die Wissenschaft mit der heutigen, enormen finanziellen Unterstützung nicht mit einem kulturellen Bedürfnis (z.B. der ewigen Neugier des Menschen) begründet werden, sondern nur mit dem technologischen Potential der Forschung (vgl. W. von den Daele). Dieses Potential kann aber nur zum Zuge kommen, wenn ein Interesse an Technik besteht. Mit anderen Worten: Die wissenschaftliche Produktion technischer Möglichkeiten ist nur dann wertvoll, wenn man von einem technischen Zeitalter ausgeht, wenn wir also die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Leistungsethik, Technikgläubigkeit und Fortschrittserwartung voraussetzen. Nur mit Hilfe der Technik konnten die Raubzüge der Moderne durchgeführt werden. Dies ist der wesentliche Grund, warum wir Naturwissenschaftler so verwöhnt wurden.

Fortschrittserwartungen trieben vielleicht schon die Begründer der modernen Wissenschaft um. So schreibt F. Bacon (1627): „Der Zweck unserer Gründung ist es, die Ursachen und Bewegungen sowie die verborgenen Kräfte der Natur zu erkennen und die menschliche Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt möglichen zu erweitern.“ Offenbart sich hier nicht ein mittelalterliches Erbe, genauer ein religiöser Impuls? Die Kluft zwischen dem Ideal einer göttlichen Welt und der Wirklichkeit auf Erden sollte verringert werden. Ja vielleicht soll der Mensch überhaupt mit Hilfe seiner Technik erlöst werden. Hier stoßen wir auf einen irrationalen Impuls vieler Wissenschaftler: ihr unbedingter Wille zur Technik als Möglichkeit zur Überwindung der vermeintlichen menschlichen Begrenztheit. Naturwissenschaftler sind meist »politische Schwärmer«! Wie die Religion verheißt die Technik eine Befreiung von den weltlichen Nöten. Diese „in der Technik liegende Triebkomponente“ (A. Gehlen) macht ihre Tiefenwirkung aus.

Die letzten Jahrhunderte sind von politischem Eifer gezeichnet, die Welt nach unseren Plänen zu verändern. Und gerade greifen die Biowissenschaften nach neuen Sternen: Ersatzteillager für den Menschen, Mensch-Maschine-Kopplungen und »artificial life« von Softwaresystemen werden konzipiert. Eine rekombinierte Schöpfung wird neue biologische »Systeme« auf der Erde erzeugen. Die Trennung des menschlichen Geistes von seinem biologischen Substrat wird diskutiert. Kurz: das ewige Leben scheint greifbar nah, und eine Entwicklung zum Transhumanen hat eingesetzt.

Von Anfang an ging es der Moderne darum, die Welt dazu zu zwingen, eine andere zu sein, als sie ist. Die Vernichtung des Bestehenden ist das Programm der Moderne, und die Naturwissenschaften sind dafür eine phantastische Hilfe. Ohne Zwang, ja Gewalt ist die Moderne nicht denkbar. Also: Mit dem weltweiten Siegeszug der technischen Veränderung der Welt, mit der »Rundumverteidigung« der Naturwissenschaftler, dem global operierenden Kapitalismus, offenbart sich der eigentliche Charakter der Moderne.

Versiegende Lust auf Technik

Was aber nun, wenn die Gesellschaft ihr Interesse an der Technik verliert? Vielleicht ein etwas merkwürdiger Gedanke, insbesondere wenn es vordergründig nicht danach aussieht? Könnte es sein, daß jene psychische Energie im Zentrum des neuzeitlichen Menschen versiegt, die ihn veranlaßt hat, besessen die Welt zu verändern und dafür zu sorgen, daß das Bisherige, das Unpassende oder das Wilde gefälligst verschwindet?

Welche Gründe könnten die Gesellschaft veranlassen, nicht mehr alles auf die eine Karte »Technisierung« zu setzen? Ich möchte hier zunächst die Schlagworte »Moderne« und »Postmoderne« aufnehmen und Gedanken von Z. Bauman folgen, ist doch der Niedergang der klassischen Wissenschaft eingebettet in die Kultur der Postmoderne.

Postmoderne: Abschied von der »gesetzgebenden Vernunft«

„Postmoderne ist ein Freibrief, zu tun wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichts von dem, was man selbst oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen“ (Bauman). Unter den Bedingungen der Postmoderne kommt dem Menschen v. a. die Rolle als Konsument und Spieler zu. Mit anderen Worten: Der Genußtrieb bzw. das einst gefährliche Lustprinzip wird zum Motor des Wirtschaftens. Das Streben nach Vergnügen wird angespornt durch die ständige Verführung des Marktes. War in der Moderne noch eine »gesetzgebende Vernunft« damit beschäftigt, einem Staatsapparat zu dienen, haben heute die Marktkräfte jegliches Interesse an verbindlichen Wahrheiten verloren. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der letzte Versuch gescheitert, mit Hilfe einer »gesetzgebenden Vernunft« den Menschen den Weg zu weisen. Endlich kann es keinen erhobenen Zeigefinger des neuzeitlichen Europäers mehr geben. Positiv formuliert: Die postmoderne »interpretierende Vernunft« geht von der Hybris zur Besonnenheit über, d.h. die Philosophie erkennt z.B. an, daß das, „was für manche besser sein mag, für andere fast mit Sicherheit schlechter ist, daß das Glück einiger auf dem Elend von anderen beruht“ (Bauman). Mit der Postmoderne sind die großen »Wahrheitskonzepte« überholt; dies ist auch die eigentliche Ursache für die Krise der Universität.

Jenseits von mittelalterlichem Offenbarungsglauben und jenseits von aufklärerischen Traditionen geht das postmoderne Individuum seiner Lieblingsbeschäftigung nach, der Selbstkonstruktion, der Selbstinszenierung. Der Erwerb von Distinktion ist das Ziel, und das politische und kulturelle Leben ist durch Produktion und Verteilung von öffentlicher Aufmerksamkeit bestimmt. In dieser Welt ist das Ethos des Wissenschaftlers nur noch ein Anachronismus. Er ist der letzte Mohikaner der Moderne und seine Auslassungen zum Thema »Forschungsfreiheit« haben deshalb auch etwas Rührendes. Träumt er doch von jenen glücklichen Tagen, als die Wissenschaft noch glaubte zu wissen, wo es lang geht.

Die Postmoderne ist ein Fortschritt und eine zwangsläufige Folge der Moderne – und Wissenschaft und Technik werden natürlich nicht überflüssig werden. Ganz im Gegenteil: Die Postmoderne benötigt die Technik, um jene Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die der von allen Beschränkungen befreite Konsum benötigt. „Die Energien, die von den um Symbole rivalisierenden freien Individuen freigesetzt werden, steigern den Bedarf nach Produkten der kapitalistischen Industrie in immer schwindelerregendere Höhen …“ (Bauman). Die Technik muß diesen scheinbar unendlichen Kreislauf unterhalten, in dem sie enorme Mengen an Energie zur Verfügung stellt und die Abfallprodukte möglichst unsichtbar verschwinden läßt. Andererseits hat sich in der Postmoderne mit dem zu sich selbst gekommenen Kapitalismus die »gesetzgebende Vernunft« vom Politischen auf den Markt verlagert. Der Zwang der Moderne findet sich in den Anforderungen und Versuchungen des Marktes wieder. Die Gewaltausübung setzt sich also fort. Und die vom Markt angetriebene Technisierung erscheint mehr denn je als unbewußte Zielsetzung des Menschen. So schreibt V. Flusser mit Blick auf die neuen Medien: „Wer gegenwärtig politisch im Sinne der hergebrachten Kategorien denkt und etwa meint, daß Technik politisch neutral sei, geht an der gegenwärtigen Kulturrevolution vorbei.“

Jenseits der Postmoderne

Auch die Postmoderne mit ihrem globalen Kapitalismus und ihrer »technologischen Aufladung« setzt eine unendliche Welt voraus. Angesichts der sich abzeichnenden Überlebenskrise der Menschheit wird jedoch diese Epoche von kurzen Lebensdauer sein. Wir stoßen an die Grenzen des Lustprinzips; auf irgendeine Weise wird sich das Realitätsprinzip wieder Gehör verschaffen. Ich möchte zum Abschluß einige Gründe erwähnen, die ein versiegendes Interesse an Technik wahrscheinlich bzw. wünschenswert erscheinen lassen.

Technische Probleme sind insofern trivial, als es um die Zerlegung der Wirklichkeit in einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen geht. Die menschliche Wirklichkeit ist jedoch eine Vernetzung vieler solcher Kausalketten, und die lassen sich nicht mehr auseinanderdröseln (vgl. H.-P. Dürr). Der Wunsch die Zukunft zu planen, wird auch im 21 Jahrhundert eine Illusion bleiben, die »Schrecken der Geschichte« kehren zurück. Angesichts der Rückwirkungen der Veränderungen, die der Mensch mit seiner Technik auf der Welt erzeugt, wird immer deutlicher, daß die Wissenschaft keine Problemlösungskompetenz hat. Mit anderen Worten: Wenn die Folgen durch die Nebenfolgen durchkreuzt werden, offenbart sich das Waterloo des technischen Verstands. Dies ist natürlich die späte Folge jener »Objektivierung der Welt«, von der das Experiment und damit die naturwissenschaftliche Erkenntnis lebt: Die Trennung von Subjekt und Objekt. Der Schritt von einer so gewonnenen Erkenntnis zum Machen ist angesichts der Begrenztheit dieser Erkenntnis ein nicht begründbarer Schritt.

Wir haben fast fünf Millionen Arbeitslose, und die traditionellen Konzepte von Beruf und Arbeit, die für das Selbstverständnis des modernen Menschen so wichtig sind, werden einen erheblichen Wandel erfahren. Die Lösung dieser Probleme kann nicht im „Paradigma der Industriegesellschaft gelingen“ sondern „was wir brauchen, sind soziale Innovationen vom Kaliber der bisherigen technischen.“ (H.G. Danielmeyer). Eine erstaunliche Feststellung eines technischen Physikers.

Die ständig zunehmende Innovationsgeschwindigkeit führt zu einer zunehmenden Verknappung der Zeit und einem sich steigernden Leistungsdruck. Dies führt an biologische Grenzen, sofern wir den Menschen nicht biologisch »härten«, sprich genetisch »verbessern« wollen. Wenn ich mich umschaue, sehe ich nur den »Wettlauf der Besessenen«. Nichts scheut offensichtlich der moderne Mensch mehr als die Ruhe, in der er nachdenken könnte. Alles muß schneller gehen. Der vermeintlichen Macht der Fakten folgen alle in blindem Gehorsam – und unsere technokratischen Eliten verkaufen dies als Fortschritt. Die gewaltsame Veränderung der Welt mit Hilfe der Technik verschlingt den Sinn des Lebens! Streben wir die Bewußtlosigkeit an?

Der von den Menschen in den letzten Jahrhunderten in Gang gesetzte Energieverbrauch ist ökologisch nicht nachhaltig. Auch die viel gepriesene Globalisierung ist es nicht. Ein Produkt einmal um die Erde zu schiffen, nur um Standortvorteile auszunutzen, ist nur möglich, wenn wir die Transportkosten externalisieren, d.h. die Kosten der nächsten Generation aufhalsen. Wir verursachen Klimaveränderung, deren Folgen nicht zu überblicken sind. Kurz: Wir können uns den technischen Fortschritt nicht mehr leisten. Dies wird auch deutlich, wenn man die Kosten unseres Gesundheitssystems betrachtet. Es wird unendlich viel Geld kosten, das ewige Leben zu verwirklichen. Ganz abgesehen davon, daß wir dann diskutieren müßten, wie nah ein jeder (arm oder reich) ihm kommen darf.

Das sind einige Gründe dafür, warum das Interesse an Technik zurückgehen wird. Die meisten Naturwissenschaftler versperren sich diesen Anzeichen – mit der wahrscheinlichen Folge, daß es zu einer massiven »Expertenvertreibung« kommen wird.

Epilog: Ein Leben ohne Götter

Der heutige Mensch versäumt sein Leben. Die Technik ist ein Mittel für die Flucht vorm Leben. Aus Angst vor dem Sterben entscheiden wir uns für das Unbelebte, gegen das stets vergängliche Leben. Womit beschäftigt sich das moderne Leben? Um mit W. Siebeck (Stichwort: gutes Kochen) zu sprechen: „Mit Lesen von Gebrauchsanleitungen und mit Blutdruckmessen.“ Oder mit K. Jaspers: „Das Denken unserer Zeit orientiert sich überall, auch wo nichts mehr zu »machen« ist, am »Machen«.“ Im Totalwerden der Technisierung triumphiert der nichtsprachliche Zugang zur Welt – Kritik kann nicht mehr greifen. Ohnmächtig geworden schmiegt sich der Mensch an seine Artefakte und vollendet den Zweck der Technisierung: die Befreiung der Kreatur vom Bewußtsein (vgl. A. Hutter).

Die neuzeitliche Geisteshaltung in Form des naturwissenschaftlichen Denkens und der kapitalistischen Gesinnung funktioniert lokal, eröffnet aber immer neue, globale Sachzwänge. Aber „die Zukunft hängt von unseren Leidenschaften ab, nicht von unseren Berechnungen.“ (D. de Rougemont) Dies nicht zu sehen, ist der fundamentale Irrtum der Naturwissenschaftler. Die Neutralität des wissenschaftlichen Sachverstandes ist eine Fiktion, so wie es auch keine neutralen Werkzeuge gibt. Die ökologischen Folgen dieser Haltung werden den Traum der Neuzeit jäh beenden.

Noch einmal Rougemont: „Der Sieg der Technik ist ein Pyrrhussieg. Er gibt uns eine Freiheit, derer wir nicht mehr würdig sind. Indem wir sie erwerben, verlieren wir, durch die Bemühung um sie, gerade die Kräfte, die sie uns wünschen ließen…. In dem Moment, in dem er die Ziele, die seine Zivilisation seit beinahe zwei Jahrhunderten verfolgt, erreicht, wird der Mensch des Abendlandes von einem sonderbaren Unbehagen gepackt. Es blitzt der Verdacht auf, daß in seinen Zielen vielleicht eine grundlegende Absurdität steckte… Eine ganze Epoche hat sich geirrt.“

Die Zukunft braucht also keine Naturwissenschaft bzw. wer die Naturwissenschaft retten will, muß auf die heutige Technisierung verzichten, und wer die Zukunft gewinnen will, muß ganz andere Wege gehen. Vor diesem Hintergrund bekenne ich mich zu einer Technikfeindlichkeit. Am Ende des zweiten Jahrtausend nach Christi steht uns ein großer kultureller Umbruch bevor: human zu sein ohne Hilfe von Göttern, endlich am Ende einer langen Zeit großer und schmerzreicher Verirrungen.

Dr. Ernst Rößler ist Professor für Experimentalphysik an der Universität Bayreuth und Mitglied des Beirates der Naturwissenschaftler-Initiative.

3. Internationale Tagung des INESAP

3. Internationale Tagung des INESAP

von Martin Kalinowski

Das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) hielt seine dritte internationale Tagung dieses Jahr vom 8. bis 10. September in Shanghai ab. Der lokale Gastgeber war Prof. Dingli Shen vom Center of American Studies der Fudan Universität. Die inhaltliche Vorbereitung und die Einladung der internationalen Gäste wurden von der Forschungsgruppe IANUS der TH Darmstadt durchgeführt, von wo aus INESAP im Jahre 1993 ins Leben gerufen worden war. Im vergangenen Jahr traf sich das Netzwerk in Götheborg, im kommenden Jahr ist Jordanien das Gastgeberland.

Die diesjährige INESAP-Tagung war die erste internationale Konferenz in China, die sich speziell mit Kernwaffen und Trägersystemen befaßt hat. Die Begegnung von 30 internationalen Gästen mit 20 chinesischen Abrüstungsexperten ermöglichte ein besseres Verständnis für Abrüstungsoptionen, die von dem Reich der Mitte mitgetragen werden können. Immerhin ist China der einzige Kernwaffenstaat, der sich für die Aushandlung einer Kernwaffenkonvention ausspricht, mit der alle Kernwaffen verboten und abgerüstet werden sollen. An einem Modellentwurf für eine solche Konvention haben Wissenschaftler von IANUS maßgeblich mitgewirkt und in China mit Experten aus 20 Ländern diskutiert.

Allerdings wird das Ziel der endgültigen Abschaffung von Kernwaffen von einigen chinesischen Experten weit in der Zukunft verortet. Demnach seien noch weitere 50 Jahre für den vollständigen Abrüstungsprozeß notwendig. Die meisten chinesischen Experten machten deutlich, daß China erst dann wesentliche Abrüstungsschritte unternehmen werde, wenn die beiden Länder mit den deutlich größten nuklearen Arsenalen mit ihrer Reduktion weit vorangeschritten seien. Die bedeutendste Maßnahme, zu der China sofort bereit ist, und die China seit langer Zeit von den anderen Kernwaffenstaaten ohne den geringsten Erfolg einfordert, ist eine gemeinsame vertragliche Zusicherung, daß kein Land als erstes Kernwaffen einsetzen wird (No-First-Use Treaty). Den »Umfassenden Teststoppvertrag« (CTBT) hat China unterzeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. Zu bestimmten weiteren Schritten ist von chinesischer Seite wenig zu vernehmen.

Die offizielle chinesische Begründung für diese starke Zurückhaltung war auch auf der INESAP Tagung immer wieder zu hören. Demnach hat sich China in der Vergangenheit äußerste Zurückhaltung im eigenen Kernwaffenprogramm auferlegt. Ob der Umfang und die Qualität des chinesischen Kernwaffenarsenals nicht auch durch technische und ökonomische Randbedingungen begrenzt worden war, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, daß China ähnlich wie England und Frankreich nur rund 400 Kernwaffen im aktiven Arsenal unterhält und damit weit geringere Bestände hat als die USA und Rußland, die auch nach der Realisierung von START II bis zum Jahre 2004 noch fast zehnmal so viele strategische Kernwaffen im aktiven Arsenal besitzen werden.

Einige chinesische Fachleute weisen daraufhin, daß das derzeitige chinesische Arsenal ein Minimum darstelle, das in keiner Weise durch Einzelmaßnahmen in einem schrittweisen Abrüstungsprozeß angetastet werden dürfe. Dies wird damit begründet, daß China für eine überzeugende nukleare Abschreckung über ein hinreichend großes Arsenal verfügen müsse, um die sogenannte Zweitschlagfähigkeit zu bewahren. So wird die Bedeutung der chinesischen Unterstützung für Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention deutlich. China zeigt sich zum radikalen Schritt auf Null bereit und erwartet, daß er von allen Kernwaffenländern gleichzeitig getan wird.

Eine solche Position könnte es China schwer machen, in der Zukunft guten Willen zu demonstrieren und aktive Schritte zur vollständigen Abrüstung von Kernwaffen mitzutragen. Auf der INESAP Tagung wurde jedoch deutlich, daß auch China wichtige Schritte mittragen kann, wenn nämlich in Zukunft mehr Gewicht auf qualitative Abrüstung als Ergänzung zu quantitativen Reduktionen gelegt wird. Unter dem Begriff der qualitativen Abrüstung werden alle Maßnahmen zusammengefaßt, mit denen die Gefahr durch die vorhandenen Arsenale reduziert wird. Dazu gehört die Löschung von Zielkoordinaten in Computern und andere Maßnahmen zur Einschränkung der Alarmbereitschaft und der Möglichkeit bzw. Gefahr eines Einsatzes ohne Vorwarnung bzw. aus Versehen. Weitere technische Vorschläge betreffen die Trennung von Sprengköpfen und Trägersystemen, eine international überwachte Lagerung der Kernwaffen und die Nichtauffrischung von zerfallenem Tritium. Politische Maßnahmen der qualitativen Abrüstung liegen in der Schaffung und Ausdehnung von kernwaffenfreien Zonen und im Abzug von Kernwaffen aus verbündeten Nichtkernwaffenstaaten. Auch der chinesische Vorschlag zu einem Vertrag über den Nichtersteinsatz gehört in diese Kategorie.

Hinter qualitativer Abrüstung kann sich durchaus eine erfolgversprechende Abrüstungsstrategie verbergen, die gelegentlich als Marginalisierung von Kernwaffen bezeichnet wird. Wenn die reale Einsatzfähigkeit und die Legitimität von Kernwaffen stark eingeschränkt ist, werden Militärs und Politiker diesen Waffen nur noch derart wenig Gewicht beimessen können, daß sie sich davon überzeugen lassen werden, diese Waffen seien auch gänzlich verzichtbar und könnten somit abgeschafft werden.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt