Im Schatten des Demokratischen Friedens
Im Schatten des Demokratischen Friedens
von Jonas Wolff, Harald Müller und Anna Geis
Am 19. und 20. Oktober 2007 stellte die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) auf ihrer Jahreskonferenz »Schattenseiten des Demokratischen Friedens« Ergebnisse aus der laufenden Forschung vor. Die in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität mit rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutierten Projektberichte sind Teil eines Zwischenresümees des bis Ende 2008 terminierten HSFK-Forschungsprogramms »Antinomien des Demokratischen Friedens«, das als Sammelband im November 2007 erschienen ist.1
Dass die Befunde zum »Demokratischen Frieden« keinen Anlass geben, die westlichen Demokratien zu Lichtgestalten einer auf Frieden und Kooperation ausgerichteten Weltordnung zu erklären, ist eine Binsenweisheit. Zu deutlich sind die dunklen Seiten in ihrem Außenverhalten, die ihren markantesten Ausdruck in den von ihnen initiierten Kriegen finden. Gleichwohl hat sich die Forschung zum Demokratischen Frieden bisher auf die erfreuliche Seite der Medaille, die Friedensfähigkeit und Kooperationswilligkeit der Demokratien, konzentriert. Die Schattenseiten, derer sich die HSFK-Jahreskonferenz 2007 annahm, sind dies im doppelten Sinne: normativ dunkel und empirisch-analytisch unbeleuchtet.2
Vier Panels befassten sich mit dem demokratischen Außenverhalten mit Blick auf Krieg, Rüstung, zivil-militärische Beziehungen und Demokratieförderung. Ein abschließender Roundtable diskutierte die praktische Relevanz der HSFK-Forschung. Ziel der Tagung war, Ergebnisse aus dem laufenden Forschungsprogramm der HSFK einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzustellen und der kritischen Diskussion durch Experten aus Wissenschaft und Praxis auszusetzen.
Die Panels der Tagung
Das erste, von Thomas Risse (Freie Universität, Berlin) moderierte Panel nahm sich der dunkelsten Schattenseite des Demokratischen Friedens an: des »Demokratischen Kriegs«. Anna Geis (HSFK) diagnostizierte eine steigende Interventionsneigung der westlichen Demokratien seit 1990, die mit einem Normwandel einhergegangen sei: Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts setzten die ressourcenstarken Demokratien vermehrt auf Militärgewalt. Gegenüber den eigenen nationalen Öffentlichkeiten lassen sich diese Kriege durch den Verweis auf wertgebundene Gründe rechtfertigen: Die Militärgewalt diene nicht zur Durchsetzung egoistischer Zwecke, sondern dazu, Menschenrechte zu schützen, Demokratie zu befördern oder das Völkerrecht durchzusetzen. Hier zeige sich das militante Gesicht der Demokratie, das im Fall der USA besonders ausgeprägt sei, aber grundsätzlich in den Ambivalenzen des liberalen Gedankenguts wurzele.
Hanns W. Maull (Universität Trier) hinterfragte die auf Nationalstaaten und zwischenstaatliche Beziehungen gerichtete Perspektive des Forschungsvorhabens und argumentierte, im Kontext der Globalisierung seien weder die Grundannahme einer klaren Trennung von Innen- und Außenpolitik noch die Zuschreibung von Krieg als eindeutig zwischenstaatlichem Phänomen haltbar. Zudem bezweifelte Maull, ob »Demokratie« die entscheidende politikerklärende Variable sei oder doch nicht vielmehr (etwa »missionarische«) Rollenbilder. Die Argumentation des Projekts sei zu USA-zentriert, und sie müsse sich noch in einem Vergleich mit autokratischer Sicherheitspolitik bewähren. In ihren Repliken verwiesen die Projektmitarbeiter Anna Geis, Harald Müller und Lothar Brock (alle HSFK) darauf, dass das Projekt nicht nur auf die USA, sondern auf eine Reihe weiterer Demokratien abziele, und es gerade darum gehe, die Übersetzung innenpolitischer Diskurse und Entscheidungsprozesse in außenpolitisches Handeln zu untersuchen; insofern sei ein systematisches In-Beziehung-Setzen von Innen- und Außenpolitik für das demokratiezentrierte Projekt konstitutiv. Zudem bleibe die »Staatenwelt« trotz des Bedeutungszugewinns von »Gesellschaftswelt« und »Wirtschaftswelt« (E.O. Czempiel) bis auf Weiteres die zentrale Sphäre globaler Politik. Auffälligerweise werden auch Konflikte mit nicht-staatlichen Akteuren in eine Politik übersetzt, die letztlich staatlich codiert bleibt. Schließlich wurde auf die entscheidende Bedeutung von Liberalismus und Demokratie für die Ausbildung der Rollenbilder westlicher Staaten verwiesen.
Das ehemalige Mitglied der Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Joscha Schmierer, sah weniger Schattenseiten des Demokratischen Friedens als »Schattenseiten der Theorie des Demokratischen Friedens«. Das Problem des »Demokratischen Kriegs« sei letztlich ein Problem der USA, die als einzige Demokratie in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation „vor der imperialen Versuchung“ stünde. Schmierers Plädoyer für mehr Historisierung und Kontextualisierung rief dazu auf, die internationalen Machtverhältnisse stärker in den Blick zu nehmen. Auch demokratische Außenpolitik folge primär der internationalen Machtstruktur, nicht der inneren Verfassung. Harald Müller erwiderte, die vergleichende Analyse öffentlicher Kriegsdiskurse zeige keine Einzigartigkeit der USA; der Blick auf die liberalen Argumenten für und gegen Krieg ergebe ein Kontinuum, das über alle Demokratien von den USA bis zu Irland reiche. In der Diskussion warf Peter Schlotter (Universität Heidelberg) zudem eine wichtige normative Frage auf, die die Analyse des »Demokratischen Kriegs« als problematischem Pendant des »Demokratischen Friedens« impliziert: Inwieweit könne der Einsatz organisierter Gewalt zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht unter bestimmten Umständen legitim oder gar notwendig sein? Wenn aber Krieg nicht per se falsch und Frieden nicht per se gut sei, müsse genauer geklärt werden, wo die »Schattenseite« ende und die moralische »Sonnenseite« beginne.
In dem von Beatrice Heuser (University of Reading) geleiteten zweiten Panel stellte Niklas Schörnig (HSFK) zwei Argumente zur Diskussion. Erstens sei der als »Revolution in Military Affairs« (RMA) betitelte technologische Wandel in Rüstungspolitik und Kriegführung von dem spezifisch demokratischen Bedürfnis nach einer Vermeidung (vor allem) eigener Opfer angetrieben und senke insofern durch die Utopie eines risikolosen Krieges die für Demokratien typische kostenbasierte Schwelle zum Krieg. Zweitens scheitere aber die Idee einer technologisch bedingten »full spectrum dominance« an den Anforderungen des gegenwärtigen Kriegsgeschehens: Während die US-geführte Allianz in der zwischenstaatlichen Phase des Irak-Krieges 2003 nahezu verlustlos erfolgreich war, helfe die technologische Überlegenheit und die High-Tech-basierte Kriegführung in der bürgerkriegsförmigen, asymmetrischen Auseinandersetzung nach offiziellem Kriegsende kaum noch weiter. Hier schlage die „Opfersensibilitätsfalle“ doch zu, die durch die RMA aufgelöst werden sollte.
Sebastian Harnisch (Universität Heidelberg) begrüßte das Konzept der „Opfersensibilitätsfalle“ nicht zuletzt wegen der praxeologischen Einsichten für politische Entscheidungsträger, zeigte sich aber nicht überzeugt von der behaupteten Kausalkette. Die RMA beinhalte langfristige, teure Instrumente zur Reduktion der Opfer; dem konkreten Politiker stünden plausiblere kurzfristige Instrumente wie die manipulative Erzeugung von Bedrohungsszenarien oder der Einsatz privater Sicherheitsdienste bzw. der Rückgriff auf Geheimdienst-Aktivitäten zur Verfügung. Die RMA – die zudem stark auf die USA zugeschnitten sei – folge, so Harnisch, eher wirtschaftlichen Interessen insbesondere am Erhalt von Arbeitsplätzen. Schörnig differenzierte, durch eine Manipulation der Öffentlichkeit könne zwar die Opfersensibilität ex ante gesenkt werden, wenn es aber im Verlauf eines Krieges zu steigenden Opferzahlen komme, greife die Opfersensibilitätsfalle ex post. Dagegen helfe, wie die aktuelle Diskussion im Kontext des Irak-Krieges zeige, auch die Auslagerung der Kriegführung auf private Sicherheitsdienste wenig weiter. Gegen Harnischs Argument, die Nennung von Opfervermeidung als Argument für High-Tech-Waffen (etwa in Rüstungsanzeigen) sei ein bloßes „rhetorisches Mitnahme-Phänomen“, argumentierte Schörnig, auch rhetorisches Handeln zähle auf die öffentliche Resonanz der eigenen (strategisch verwendeten) Argumente. Opfervermeidung sei vielleicht kein „echtes“ privates Motiv, das Politiker oder gar Rüstungsfirmen antreibe, wohl aber ein relevantes öffentliches Motiv demokratischer Rüstungspolitik.
Hilmar Linnenkamp (European Defence Agency, Brüssel) plädierte aus Sicht des Praktikers für eine „Entmythologisierung der RMA“ – deren Wirkungen solle man nicht überbewerten: Unilaterale Vorteile durch technologischen Vorsprung währten bestenfalls kurzfristig. Linnenkamp bestärkte die These, dass »Sieg« im klassischen Sinne heute nicht mehr stattfinde; es gehe darum, durch militärische Aktionen einen „Zustand zu erreichen, in dem Moderation möglich wird“. Hierzu helfe technologische Überlegenheit wenig. Gefordert sei vielmehr ein anderes militärisches Bewusstsein. Allerdings gebe es eine „Eigendynamik der technologischen Entwicklung“, und ein „Nicht-RMA-Krieg“ sei heute nicht mehr denkbar.
Das dritte, von Christopher Daase (Ludwig-Maximilians-Universität, München) moderierte Panel wandte sich dem problematischen Verhältnis von Demokratien zu ihrem Militär zu. Das „alte Dilemma“, so Sabine Mannitz (HSFK), bestehe hier im Gegensatz ziviler und militärischer Normen: Wie lässt sich eine größtmögliche Funktionalität des Militärs bewahren und dieses zugleich demokratischer Steuerung unterwerfen? Die zwei Alternativen, die die Forschung bietet, seien die Zivilisierung der Armee durch Integration der „Bürgersoldaten“ in die Gesellschaft bzw. die Separation der beiden Sphären bei „objektiver Kontrolle“ des Militärs durch den demokratischen Staat. Mit Blick auf die Transformation der Bundeswehr seit 1989/1990 zu einer »Armee im Einsatz« verwies Mannitz darauf, dass dieser Funktionswandel der deutschen Streitkräfte neue Legitimationsprobleme aufwerfe. Simone Wisotzki (HSFK) ergänzte den Blick auf Deutschland durch eine vergleichende Betrachtung der postsozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Hier zeige sich, dass der internationale sicherheitspolitische Reformdruck zwar generell den Übergang zu Berufsarmeen forciere; zugleich weisen Unterschiede zwischen den Staaten aber auf die Bedeutung von historischen Pfadabhängigkeiten, unterschiedlichen Fortschritten im Demokratisierungsprozess sowie verschiedenen Formen der internationalen Einbindung hin.
Ulrich Schlie (Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung) betonte, das „Bild des Soldaten“ habe sich in Deutschland gewandelt. Der deutsche Soldat sei mittlerweile „auch Kämpfer“, weshalb die »Innere Führung« wichtiger sei denn je. In Deutschland gebe es eine besondere Sensibilität, was die Verletzung von Prinzipien der Inneren Führung anbelangt. Mit Blick auf das Grunddilemma argumentierte Schlie, weder die Wehrpflicht noch die Berufsarmee seien per se demokratischer. Er verwies auf die enorm gewachsene Bedeutung der Medien „als Partner der parlamentarischen Kontrolle“. Insofern diese Partnerschaft allerdings mitunter dazu führe, dass geheime Informationen aus parlamentarischen Kontrollgremien an die Öffentlichkeit gerieten, könne man auch „zu viel Kontrolle“ haben.
Heiner Hänggi (Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces) bestätigte die Befunde des HSFK-Projekts, regte aber an, die vergleichende Forschung zu »jungen« und »alten« Demokratien um einen Vergleich mit Autokratien zu ergänzen; auch diese seien mit Problemen der zivilen Kontrolle des Militärs konfrontiert. Hänggi verwies auf zusätzliche Aspekte, die die demokratische Kontrolle des Militärs aktuell vor ernste Herausforderungen stellten und in der Forschung intensiver untersucht werden müssten. Probleme für die demokratische Kontrolle bereiteten die Verwischung der Aufgaben militärischer und nicht-militärischer Akteure im Einsatz („Konstabulisierung der Streitkräfte“) sowie die Auslagerung militärischer Aufgaben an private Sicherheitsunternehmen. Zugleich sei festzustellen, dass sich trotz dieser Herausforderungen für die letzten 10 bis 15 Jahre Tendenzen in Richtung einer größeren Parlamentsbeteiligung zeigten. Dieser Trend sei von Land zu Land sehr unterschiedlich, auch dürfe man die Bedeutung formaler Parlamentsrechte nicht überbewerten, da die Parlamentarier diese in der Praxis nicht immer wahrnehmen wollten oder könnten. Die Öffentlichkeits- und Diskursfunktion der Parlamente bleibe aber in jedem Falle wichtig.
Die Politik der externen Demokratieförderung stand im Zentrum des vierten, von Hans-Jürgen Puhle (J.W. Goethe-Universität Frankfurt) geleiteten Panels. Entgegen einer verbreiteten Perspektive, die die globale Verbreitung der Demokratie als Schlüssel für nahezu alle außen- und entwicklungspolitischen Ziele sieht, arbeitete Jonas Wolff (HSFK) die Widersprüche des Demokratisierungspostulats heraus. Zum einen seien Demokratie und Demokratisierung durch Dilemmata gekennzeichnet, die sich aus Sicht der Demokratieförderer als Zielkonflikte darstellten. Zum anderen erwiesen sich die demokratischen Anforderungen an eine Politik der externen Demokratieförderung schon theoretisch-konzeptionell als widersprüchlich. Als alternative Umgangsformen mit diesen normativen Ambivalenzen schlug der Beitrag von Wolff und Hans-Joachim Spanger (HSFK) zwei idealtypische Konzeptionen demokratischer Demokratisierungspolitik vor: die „Zivilmacht“, die einem modernisierungstheoretischen und gradualistischen Verständnis von Demokratisierung verpflichtet ist und Demokratieförderung als pragmatisch-kooperative Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert; sowie den „Freiheitskämpfer“, der ein transitionstheoretisches und revolutionäres Verständnis von Demokratisierung mit einem offensiv-steuernden und notfalls konfrontativen Verständnis von Demokratieförderung verbindet.
Gero Erdmann (GIGA Institut für Afrika-Studien) konzentrierte seine Kommentare auf diese Typologie. Dabei wies er darauf hin, dass die Idealtypen das Ziel, den politischen „Output“ (also die Demokratieförderpolitik) zu erklären, nur teilweise erreichen: Sie blieben bei den „normativen Mustern“ stehen, die „harten“ Interessen seien (noch) ausgeblendet. Erdmann bezweifelte, dass ein klassisch modernisierungstheoretisches Verständnis von Demokratisierung heute noch wirkmächtig sei. Auch hinterfragte er, inwiefern sich die allgemeine demokratisierungspolitische Konzeption eines „Gebers“ auf die spezifischen Demokratieförderstrategien gegenüber sehr unterschiedlichen „Nehmern“ übertragen ließe. Schließlich bezweifelte er, dass man aus der Perspektive des Projekts Aussagen zu den Erfolgsaussichten unterschiedlicher Strategien treffen könne. In ihren Repliken verwiesen Spanger und Wolff darauf, dass ein genaueres Wissen über die Wirkung der Demokratieförderung zwar ein wichtiges Desiderat der bisherigen Forschung darstelle, das vorliegende Projekt aber auf ein außenpolitiktheoretisches Verständnis der „Geberpolitiken“ ziele. In diesem Sinne richte sich die vergleichende empirische Projektarbeit, die zu wichtigen Teilen noch ausstehe, genau auf die Fragen Erdmanns: Wie verbinden sich die über die Heuristik der Idealtypen erfassten „normativen Muster“ mit je spezifischen Interessenkonstellationen zu nationalen „Interessen-Norm-Komplexen“? Welche Relevanz haben allgemeine demokratisierungspolitische Konzeptionen für die Erstellung und Umsetzung nehmerspezifischer Demokratieförderstrategien?
Adolf Kloke-Lesch (BMZ) verwies auf ein Problem, dem sich eine staatenzentrierte Forschung im Bereich der Demokratieförderung in besonderem Maße ausgesetzt sieht: die Vielzahl relativ autonomer Akteure. Angesichts der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Außen- und Entwicklungspolitik sowie der eigenständigen Rolle etwa der politischen Stiftungen problematisierte Kloke-Lesch die Annahme, man könne die Demokratieförderpolitik einer bestimmten Demokratie untersuchen. Er bestätigte die Relevanz der Dilemmata der Demokratisierung, betonte aber, diese führten nicht zu einer Infragestellung des Paradigmas: Eine Alternative, die zu Gunsten politischer Stabilität auf die Forderung nach und Förderung von Demokratie verzichte, sei „weder mehrheitsfähig noch zielführend“.
Demokratie als erklärende »Variable«
Die Theorie des Demokratischen Friedens und damit auch die Forschung an der HSFK rekurriert auf den demokratisch verfassten Staat als zentraler Einheit. Die Vertreterinnen und Vertreter der HSFK verteidigten diesen Ansatz, der die Realität und Bedeutung nicht-staatlicher Akteure und transnationaler Prozesse nicht ausblende, aber sein primäres Erkenntnisinteresse auf ein Verständnis demokratischer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik richte, gegen eine Kritik, die wahlweise unter Rekurs auf die Globalisierungsdebatte dem Nationalstaat und den zwischenstaatlichen Beziehungen ihre Relevanz absprach, oder in der Tradition des Realismus in den Internationalen Beziehungen die Weltpolitik im Wesentlichen auf die Zwänge und Anreize internationaler Machtverhältnisse reduzierte. Klar wurde, dass Demokratie als erklärender »Faktor« mehr erfassen muss als das politische Institutionengefüge. Die Herausforderung besteht darin, unter dem Fokus auf die Demokratie die komplexen Prozesse in den Blick zu nehmen und theoretisch-konzeptionell zu bündeln, in denen öffentliche Diskurse in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zusammenfließen.
Nicht nur demokratische Institutionen, auch das liberale Gedankengut, das sich in je länderspezifische politische Kulturen bzw. Rollenmuster einordnet, strukturiert die variablen Resultate demokratischer Außenpolitik. Liberale Werte und Normen prägen die Lebenswelt der in Demokratien lebenden Menschen und werden von ihnen qua Sozialisation in das persönliche Wahrnehmungs- und Bewertungsrepertoire aufgenommen. Insofern lässt sich mit ihnen Mobilisierung für bestimmte Entscheidungen bewerkstelligen, während sie den politischen Erfolg explizit illiberaler Strategien deutlich mindern. Das liberal-demokratische Wertesystem schließt bestimmte Optionen aus – z.B. den Krieg gegen eine andere Demokratie -, lässt aber immer noch einen breiten Korridor von mit diesen Werten kompatiblen Optionen zu (z.B. die Ablehnung von Intervention aus Respekt vor der Autonomie der BürgerInnen in anderen Staaten, oder die Befürwortung von humanitärer Intervention, um die Unversehrtheit von Menschen in Diktaturen zu schützen).
Demokratie ist daher ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Internationale Machtverhältnisse, Allianzzugehörigkeiten und partikulare Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen sind damit keineswegs irrelevant. Mächtige verfügen über eine breitere Palette von Optionen als weniger Mächtige; Allianzzugehörigkeit schafft Erwartungen von Solidarität; Partikularinteressen mögen »Kriegsunternehmer« oder »Kriegsgegner« antreiben, demokratische Diskussionen und Entscheidungen über Krieg und Frieden in ihrem Sinne zu beeinflussen. All diese Variablen sind wichtig, entfalten ihre Wirkung aber erst vor dem Hintergrund spezifischer politischer Kulturen (die sie ihrerseits prägen). Die in nationalen Narrativen verarbeitete Geschichte, die Identität, das Rollenverständnis mit ihren stets interpretationsfähigen Angemessenheitslogiken sind von Demokratie zu Demokratie verschieden, bewegen sich aber im von der liberal-demokratischen Ideologie aufgespannten Möglichkeitsraum.
Von Ambivalenzen und Antinomien
Demokratische Institutionen und politische Kulturen stellen Strukturelemente und Kontextvariablen politischen Handelns dar, die keine eindeutigen (friedensfördernden) Handlungsorientierungen prämieren, sondern ambivalente Situationsdeutungen und Handlungsoptionen ermöglichen, welche Gewaltanwendung und Kooperationsverweigerung als je legitimes demokratisches Handlungsrepertoire erscheinen lassen. Die für das HSFK-Forschungsprogramm zentralen Begriffe der »Antinomie« und der »Ambivalenz« wurden kontrovers diskutiert – insbesondere eine präzisere Fassung der Begriffe wurde angemahnt.
Als begriffliche Präzisierung bietet sich ein Rückgriff auf das strukturationstheoretische Instrumentarium von Anthony Giddens an. Danach sind Struktur und Akteur zwei sich wechselseitig bedingende Seiten eines unaufhörlichen historischen Stroms: Strukturen ermöglichen und beschränken Handeln, während die Akteure ständig die Strukturen reproduzieren und/oder ändern. Auf soziale Phänomene kann man mithin stets aus zwei Richtungen blicken, und erst das Zusammenbringen von Struktur- und Akteursperspektive ermöglicht eine umfassende Prozessanalyse. Mit Giddens lassen sich Antinomien als gegensätzliche kausale Tendenzen in der Strukturdimension der Legitimation verorten: Die kognitiv-ideologische Struktur, auf die sich erfolgversprechende Rechtfertigungen und d.h. die öffentlichen Motive demokratischer Politik beziehen müssen, ist immanent widersprüchlich. Das obige Beispiel – die liberale Ideologie rechtfertigt sowohl die Abstinenz von als auch die Neigung zu Interventionen – benennt eine solche Antinomie. Aus der Sicht der Akteure stellen sich diese Antinomien als Ambivalenzen dar. Eine antinomische Struktur (im Sinne von Regeln der Legitimation) führt zu ambivalenten Anforderungen an das normativ angemessene Verhalten, womit ein Korridor für höchst unterschiedliche Entscheidungen eröffnet wird. Antinomie und Ambivalenz sind daher zwei Seiten derselben Medaille, einmal aus der Struktur-, zum anderen aus der Akteursperspektive analysiert.
Zum Begriff der »Schattenseiten«
Intensiv wurde der Begriff der »Schattenseiten« erörtert, dem der Titel der Tagung einen prominenten Stellenwert einräumte. Seine normativen Implikationen bedürfen der Klärung. Indem die HSFK-Forschung in verschiedenen Politikfeldern den je partikularen Status eines universal verstandenen Liberalismus unter Beweis stellt, versucht sie bewusst, einem überschießenden liberalen Universalismus entgegenzuwirken, der über die Selbstermächtigung der demokratischen Staaten im Namen von Demokratie und Frieden letztlich kriegs- und konflikttreibend wirkt. Bereits das Offenlegen von unterschiedlichen, aber gleichermaßen dem liberal-demokratischen Wertekanon verpflichteten, außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Strategien verweist auf die Kulturgebundenheit und Partikularität der eigenen Zielsetzungen und konterkariert damit den missionarischen Impuls, im Interesse der Verwirklichung vermeintlich universaler Güter nötigenfalls auch auf Gewalt zurückzugreifen und geltende verfahrungsrechtliche Bestimmungen zu umgehen.
Der Glaube an das universale Gute, welches das eigene Handeln verbreiten und verwirklichen soll, trübt häufig den Blick für die Grenzen sozialtechnologischer Möglichkeiten. Die Illusion über die Machbarkeit des Wünschenswerten zerschlägt sich nicht selten zu Lasten derjenigen, die eigentlich die Begünstigten der Aktionen der Demokratien hätten sein sollen; kontra-intentionale und kontra-produktive Folgen für die eigenen Zielsetzungen sind dann zu verzeichnen. In dieser negativen Doppelwirkung und in ihrer Verursachung durch die Hybris liberalen Denkens kulminieren die Schattenseiten – die dann aber genau genommen weniger die dunklen Seiten „des Demokratischen Friedens“ als „der liberalen Ideologie“ als normativer Grundlage der Erforschung und Praxis demokratischer Außenpolitik meinen.
Ausblick: Anstöße für zukünftige Forschung
Während die quantitativen large N-Studien in der Forschung zum Demokratischen Frieden ihre Befunde zum Außenverhalten der Demokratie stets im Vergleich zu anderen Regimetypen bemessen, ist der systematische Vergleich von Demokratien und Nicht-Demokratien in fallstudienorientierten, qualitativen Arbeiten – auch in der HSFK – noch Mangelware. Die HSFK-Forschung etwa zu den Diskursen über Kriegsentscheidungen in westlichen Demokratien ergibt klare Hinweise auf typisch demokratische Argumente pro Krieg; der Abgleich mit den Kriegsentscheidungen in nicht-demokratischen Staaten wäre wichtig, um zu kontrollieren, inwieweit welche »liberalen Motive« tatsächlich der Demokratie vorbehalten sind. Gleiches gilt für Fragen der Gestaltung der zivil-militärischen Beziehungen, der nationalen Rüstungs- oder der internationalen Rüstungskontrollpolitik.
Mit dem (selbst-)kritischen Blick auf die Antinomien des liberalen Gedankenguts und die Ambivalenzen demokratischer Politik rücken komplexe Fragen der Normativität in den Vordergrund. Der zentrale normative Impetus des laufenden HSFK-Forschungsprogramms besteht in der selbstkritischen Reflexion. Damit stellen sich zwei Fragen, denen es in Zukunft mehr Augenmerk zu schenken gilt. Erstens ist die Kritik liberal-demokratischer Selbstermächtigung ihrerseits basalen liberalen Normen verpflichtet, womit sich die Antinomien des Liberalismus auch in den Köpfen der Forscher als normative Ambivalenzen niederschlagen, die zu mitunter schwierigen Entscheidungen nötigen: Wie verhält sich die kritische Analyse des »Demokratischen Kriegs« zu der Frage, wann Krieg – wenn er auch nie moralisch gerecht ist – zumindest politisch richtig sein mag? Was sagt uns die Untersuchung unterschiedlicher Strategien und Praktiken der externen Demokratieförderung über die Formen und Grenzen legitimer Außeneinwirkung auf per definitionem je innergesellschaftliche Transformationsprozesse? Zweitens, und damit verknüpft: Wo genau liegen die Sollbruchstellen, wo die Schnittmengen zwischen unterschiedlichen liberal-demokratisch geprägten sowie anderen real-existierenden Vorstellungen über die gute normative (Welt-)Ordnung?
Anmerkungen
1) Anna Geis, Harald Müller, Wolfgang Wagner (Hg.) 2007: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt/New York: Campus (Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 55).
2) Die Veranstalter danken der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Konferenz sowie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt für die Gastfreundschaft.
Jonas Wolff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSFK. Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Mitglied des Vorstands der HSFK und Leiter des Projektbereichs Internationale Organisation, demokratischer Friede und die Herrschaft des Rechts. Dr. Anna Geis leitet in der HSFK den Projektbereich »Demokratisierung und der innergesellschaftliche Frieden«.