Im Schatten des Demokratischen Friedens

Im Schatten des Demokratischen Friedens

von Jonas Wolff, Harald Müller und Anna Geis

Am 19. und 20. Oktober 2007 stellte die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) auf ihrer Jahreskonferenz »Schattenseiten des Demokratischen Friedens« Ergebnisse aus der laufenden Forschung vor. Die in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität mit rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutierten Projektberichte sind Teil eines Zwischenresümees des bis Ende 2008 terminierten HSFK-Forschungsprogramms »Antinomien des Demokratischen Friedens«, das als Sammelband im November 2007 erschienen ist.1

Dass die Befunde zum »Demokratischen Frieden« keinen Anlass geben, die westlichen Demokratien zu Lichtgestalten einer auf Frieden und Kooperation ausgerichteten Weltordnung zu erklären, ist eine Binsenweisheit. Zu deutlich sind die dunklen Seiten in ihrem Außenverhalten, die ihren markantesten Ausdruck in den von ihnen initiierten Kriegen finden. Gleichwohl hat sich die Forschung zum Demokratischen Frieden bisher auf die erfreuliche Seite der Medaille, die Friedensfähigkeit und Kooperationswilligkeit der Demokratien, konzentriert. Die Schattenseiten, derer sich die HSFK-Jahreskonferenz 2007 annahm, sind dies im doppelten Sinne: normativ dunkel und empirisch-analytisch unbeleuchtet.2

Vier Panels befassten sich mit dem demokratischen Außenverhalten mit Blick auf Krieg, Rüstung, zivil-militärische Beziehungen und Demokratieförderung. Ein abschließender Roundtable diskutierte die praktische Relevanz der HSFK-Forschung. Ziel der Tagung war, Ergebnisse aus dem laufenden Forschungsprogramm der HSFK einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzustellen und der kritischen Diskussion durch Experten aus Wissenschaft und Praxis auszusetzen.

Die Panels der Tagung

Das erste, von Thomas Risse (Freie Universität, Berlin) moderierte Panel nahm sich der dunkelsten Schattenseite des Demokratischen Friedens an: des »Demokratischen Kriegs«. Anna Geis (HSFK) diagnostizierte eine steigende Interventionsneigung der westlichen Demokratien seit 1990, die mit einem Normwandel einhergegangen sei: Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts setzten die ressourcenstarken Demokratien vermehrt auf Militärgewalt. Gegenüber den eigenen nationalen Öffentlichkeiten lassen sich diese Kriege durch den Verweis auf wertgebundene Gründe rechtfertigen: Die Militärgewalt diene nicht zur Durchsetzung egoistischer Zwecke, sondern dazu, Menschenrechte zu schützen, Demokratie zu befördern oder das Völkerrecht durchzusetzen. Hier zeige sich das militante Gesicht der Demokratie, das im Fall der USA besonders ausgeprägt sei, aber grundsätzlich in den Ambivalenzen des liberalen Gedankenguts wurzele.

Hanns W. Maull (Universität Trier) hinterfragte die auf Nationalstaaten und zwischenstaatliche Beziehungen gerichtete Perspektive des Forschungsvorhabens und argumentierte, im Kontext der Globalisierung seien weder die Grundannahme einer klaren Trennung von Innen- und Außenpolitik noch die Zuschreibung von Krieg als eindeutig zwischenstaatlichem Phänomen haltbar. Zudem bezweifelte Maull, ob »Demokratie« die entscheidende politikerklärende Variable sei oder doch nicht vielmehr (etwa »missionarische«) Rollenbilder. Die Argumentation des Projekts sei zu USA-zentriert, und sie müsse sich noch in einem Vergleich mit autokratischer Sicherheitspolitik bewähren. In ihren Repliken verwiesen die Projektmitarbeiter Anna Geis, Harald Müller und Lothar Brock (alle HSFK) darauf, dass das Projekt nicht nur auf die USA, sondern auf eine Reihe weiterer Demokratien abziele, und es gerade darum gehe, die Übersetzung innenpolitischer Diskurse und Entscheidungsprozesse in außenpolitisches Handeln zu untersuchen; insofern sei ein systematisches In-Beziehung-Setzen von Innen- und Außenpolitik für das demokratiezentrierte Projekt konstitutiv. Zudem bleibe die »Staatenwelt« trotz des Bedeutungszugewinns von »Gesellschaftswelt« und »Wirtschaftswelt« (E.O. Czempiel) bis auf Weiteres die zentrale Sphäre globaler Politik. Auffälligerweise werden auch Konflikte mit nicht-staatlichen Akteuren in eine Politik übersetzt, die letztlich staatlich codiert bleibt. Schließlich wurde auf die entscheidende Bedeutung von Liberalismus und Demokratie für die Ausbildung der Rollenbilder westlicher Staaten verwiesen.

Das ehemalige Mitglied der Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Joscha Schmierer, sah weniger Schattenseiten des Demokratischen Friedens als »Schattenseiten der Theorie des Demokratischen Friedens«. Das Problem des »Demokratischen Kriegs« sei letztlich ein Problem der USA, die als einzige Demokratie in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation „vor der imperialen Versuchung“ stünde. Schmierers Plädoyer für mehr Historisierung und Kontextualisierung rief dazu auf, die internationalen Machtverhältnisse stärker in den Blick zu nehmen. Auch demokratische Außenpolitik folge primär der internationalen Machtstruktur, nicht der inneren Verfassung. Harald Müller erwiderte, die vergleichende Analyse öffentlicher Kriegsdiskurse zeige keine Einzigartigkeit der USA; der Blick auf die liberalen Argumenten für und gegen Krieg ergebe ein Kontinuum, das über alle Demokratien von den USA bis zu Irland reiche. In der Diskussion warf Peter Schlotter (Universität Heidelberg) zudem eine wichtige normative Frage auf, die die Analyse des »Demokratischen Kriegs« als problematischem Pendant des »Demokratischen Friedens« impliziert: Inwieweit könne der Einsatz organisierter Gewalt zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht unter bestimmten Umständen legitim oder gar notwendig sein? Wenn aber Krieg nicht per se falsch und Frieden nicht per se gut sei, müsse genauer geklärt werden, wo die »Schattenseite« ende und die moralische »Sonnenseite« beginne.

In dem von Beatrice Heuser (University of Reading) geleiteten zweiten Panel stellte Niklas Schörnig (HSFK) zwei Argumente zur Diskussion. Erstens sei der als »Revolution in Military Affairs« (RMA) betitelte technologische Wandel in Rüstungspolitik und Kriegführung von dem spezifisch demokratischen Bedürfnis nach einer Vermeidung (vor allem) eigener Opfer angetrieben und senke insofern durch die Utopie eines risikolosen Krieges die für Demokratien typische kostenbasierte Schwelle zum Krieg. Zweitens scheitere aber die Idee einer technologisch bedingten »full spectrum dominance« an den Anforderungen des gegenwärtigen Kriegsgeschehens: Während die US-geführte Allianz in der zwischenstaatlichen Phase des Irak-Krieges 2003 nahezu verlustlos erfolgreich war, helfe die technologische Überlegenheit und die High-Tech-basierte Kriegführung in der bürgerkriegsförmigen, asymmetrischen Auseinandersetzung nach offiziellem Kriegsende kaum noch weiter. Hier schlage die „Opfersensibilitätsfalle“ doch zu, die durch die RMA aufgelöst werden sollte.

Sebastian Harnisch (Universität Heidelberg) begrüßte das Konzept der „Opfersensibilitätsfalle“ nicht zuletzt wegen der praxeologischen Einsichten für politische Entscheidungsträger, zeigte sich aber nicht überzeugt von der behaupteten Kausalkette. Die RMA beinhalte langfristige, teure Instrumente zur Reduktion der Opfer; dem konkreten Politiker stünden plausiblere kurzfristige Instrumente wie die manipulative Erzeugung von Bedrohungsszenarien oder der Einsatz privater Sicherheitsdienste bzw. der Rückgriff auf Geheimdienst-Aktivitäten zur Verfügung. Die RMA – die zudem stark auf die USA zugeschnitten sei – folge, so Harnisch, eher wirtschaftlichen Interessen insbesondere am Erhalt von Arbeitsplätzen. Schörnig differenzierte, durch eine Manipulation der Öffentlichkeit könne zwar die Opfersensibilität ex ante gesenkt werden, wenn es aber im Verlauf eines Krieges zu steigenden Opferzahlen komme, greife die Opfersensibilitätsfalle ex post. Dagegen helfe, wie die aktuelle Diskussion im Kontext des Irak-Krieges zeige, auch die Auslagerung der Kriegführung auf private Sicherheitsdienste wenig weiter. Gegen Harnischs Argument, die Nennung von Opfervermeidung als Argument für High-Tech-Waffen (etwa in Rüstungsanzeigen) sei ein bloßes „rhetorisches Mitnahme-Phänomen“, argumentierte Schörnig, auch rhetorisches Handeln zähle auf die öffentliche Resonanz der eigenen (strategisch verwendeten) Argumente. Opfervermeidung sei vielleicht kein „echtes“ privates Motiv, das Politiker oder gar Rüstungsfirmen antreibe, wohl aber ein relevantes öffentliches Motiv demokratischer Rüstungspolitik.

Hilmar Linnenkamp (European Defence Agency, Brüssel) plädierte aus Sicht des Praktikers für eine „Entmythologisierung der RMA“ – deren Wirkungen solle man nicht überbewerten: Unilaterale Vorteile durch technologischen Vorsprung währten bestenfalls kurzfristig. Linnenkamp bestärkte die These, dass »Sieg« im klassischen Sinne heute nicht mehr stattfinde; es gehe darum, durch militärische Aktionen einen „Zustand zu erreichen, in dem Moderation möglich wird“. Hierzu helfe technologische Überlegenheit wenig. Gefordert sei vielmehr ein anderes militärisches Bewusstsein. Allerdings gebe es eine „Eigendynamik der technologischen Entwicklung“, und ein „Nicht-RMA-Krieg“ sei heute nicht mehr denkbar.

Das dritte, von Christopher Daase (Ludwig-Maximilians-Universität, München) moderierte Panel wandte sich dem problematischen Verhältnis von Demokratien zu ihrem Militär zu. Das „alte Dilemma“, so Sabine Mannitz (HSFK), bestehe hier im Gegensatz ziviler und militärischer Normen: Wie lässt sich eine größtmögliche Funktionalität des Militärs bewahren und dieses zugleich demokratischer Steuerung unterwerfen? Die zwei Alternativen, die die Forschung bietet, seien die Zivilisierung der Armee durch Integration der „Bürgersoldaten“ in die Gesellschaft bzw. die Separation der beiden Sphären bei „objektiver Kontrolle“ des Militärs durch den demokratischen Staat. Mit Blick auf die Transformation der Bundeswehr seit 1989/1990 zu einer »Armee im Einsatz« verwies Mannitz darauf, dass dieser Funktionswandel der deutschen Streitkräfte neue Legitimationsprobleme aufwerfe. Simone Wisotzki (HSFK) ergänzte den Blick auf Deutschland durch eine vergleichende Betrachtung der postsozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Hier zeige sich, dass der internationale sicherheitspolitische Reformdruck zwar generell den Übergang zu Berufsarmeen forciere; zugleich weisen Unterschiede zwischen den Staaten aber auf die Bedeutung von historischen Pfadabhängigkeiten, unterschiedlichen Fortschritten im Demokratisierungsprozess sowie verschiedenen Formen der internationalen Einbindung hin.

Ulrich Schlie (Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung) betonte, das „Bild des Soldaten“ habe sich in Deutschland gewandelt. Der deutsche Soldat sei mittlerweile „auch Kämpfer“, weshalb die »Innere Führung« wichtiger sei denn je. In Deutschland gebe es eine besondere Sensibilität, was die Verletzung von Prinzipien der Inneren Führung anbelangt. Mit Blick auf das Grunddilemma argumentierte Schlie, weder die Wehrpflicht noch die Berufsarmee seien per se demokratischer. Er verwies auf die enorm gewachsene Bedeutung der Medien „als Partner der parlamentarischen Kontrolle“. Insofern diese Partnerschaft allerdings mitunter dazu führe, dass geheime Informationen aus parlamentarischen Kontrollgremien an die Öffentlichkeit gerieten, könne man auch „zu viel Kontrolle“ haben.

Heiner Hänggi (Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces) bestätigte die Befunde des HSFK-Projekts, regte aber an, die vergleichende Forschung zu »jungen« und »alten« Demokratien um einen Vergleich mit Autokratien zu ergänzen; auch diese seien mit Problemen der zivilen Kontrolle des Militärs konfrontiert. Hänggi verwies auf zusätzliche Aspekte, die die demokratische Kontrolle des Militärs aktuell vor ernste Herausforderungen stellten und in der Forschung intensiver untersucht werden müssten. Probleme für die demokratische Kontrolle bereiteten die Verwischung der Aufgaben militärischer und nicht-militärischer Akteure im Einsatz („Konstabulisierung der Streitkräfte“) sowie die Auslagerung militärischer Aufgaben an private Sicherheitsunternehmen. Zugleich sei festzustellen, dass sich trotz dieser Herausforderungen für die letzten 10 bis 15 Jahre Tendenzen in Richtung einer größeren Parlamentsbeteiligung zeigten. Dieser Trend sei von Land zu Land sehr unterschiedlich, auch dürfe man die Bedeutung formaler Parlamentsrechte nicht überbewerten, da die Parlamentarier diese in der Praxis nicht immer wahrnehmen wollten oder könnten. Die Öffentlichkeits- und Diskursfunktion der Parlamente bleibe aber in jedem Falle wichtig.

Die Politik der externen Demokratieförderung stand im Zentrum des vierten, von Hans-Jürgen Puhle (J.W. Goethe-Universität Frankfurt) geleiteten Panels. Entgegen einer verbreiteten Perspektive, die die globale Verbreitung der Demokratie als Schlüssel für nahezu alle außen- und entwicklungspolitischen Ziele sieht, arbeitete Jonas Wolff (HSFK) die Widersprüche des Demokratisierungspostulats heraus. Zum einen seien Demokratie und Demokratisierung durch Dilemmata gekennzeichnet, die sich aus Sicht der Demokratieförderer als Zielkonflikte darstellten. Zum anderen erwiesen sich die demokratischen Anforderungen an eine Politik der externen Demokratieförderung schon theoretisch-konzeptionell als widersprüchlich. Als alternative Umgangsformen mit diesen normativen Ambivalenzen schlug der Beitrag von Wolff und Hans-Joachim Spanger (HSFK) zwei idealtypische Konzeptionen demokratischer Demokratisierungspolitik vor: die „Zivilmacht“, die einem modernisierungstheoretischen und gradualistischen Verständnis von Demokratisierung verpflichtet ist und Demokratieförderung als pragmatisch-kooperative Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert; sowie den „Freiheitskämpfer“, der ein transitionstheoretisches und revolutionäres Verständnis von Demokratisierung mit einem offensiv-steuernden und notfalls konfrontativen Verständnis von Demokratieförderung verbindet.

Gero Erdmann (GIGA Institut für Afrika-Studien) konzentrierte seine Kommentare auf diese Typologie. Dabei wies er darauf hin, dass die Idealtypen das Ziel, den politischen „Output“ (also die Demokratieförderpolitik) zu erklären, nur teilweise erreichen: Sie blieben bei den „normativen Mustern“ stehen, die „harten“ Interessen seien (noch) ausgeblendet. Erdmann bezweifelte, dass ein klassisch modernisierungstheoretisches Verständnis von Demokratisierung heute noch wirkmächtig sei. Auch hinterfragte er, inwiefern sich die allgemeine demokratisierungspolitische Konzeption eines „Gebers“ auf die spezifischen Demokratieförderstrategien gegenüber sehr unterschiedlichen „Nehmern“ übertragen ließe. Schließlich bezweifelte er, dass man aus der Perspektive des Projekts Aussagen zu den Erfolgsaussichten unterschiedlicher Strategien treffen könne. In ihren Repliken verwiesen Spanger und Wolff darauf, dass ein genaueres Wissen über die Wirkung der Demokratieförderung zwar ein wichtiges Desiderat der bisherigen Forschung darstelle, das vorliegende Projekt aber auf ein außenpolitiktheoretisches Verständnis der „Geberpolitiken“ ziele. In diesem Sinne richte sich die vergleichende empirische Projektarbeit, die zu wichtigen Teilen noch ausstehe, genau auf die Fragen Erdmanns: Wie verbinden sich die über die Heuristik der Idealtypen erfassten „normativen Muster“ mit je spezifischen Interessenkonstellationen zu nationalen „Interessen-Norm-Komplexen“? Welche Relevanz haben allgemeine demokratisierungspolitische Konzeptionen für die Erstellung und Umsetzung nehmerspezifischer Demokratieförderstrategien?

Adolf Kloke-Lesch (BMZ) verwies auf ein Problem, dem sich eine staatenzentrierte Forschung im Bereich der Demokratieförderung in besonderem Maße ausgesetzt sieht: die Vielzahl relativ autonomer Akteure. Angesichts der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Außen- und Entwicklungspolitik sowie der eigenständigen Rolle etwa der politischen Stiftungen problematisierte Kloke-Lesch die Annahme, man könne die Demokratieförderpolitik einer bestimmten Demokratie untersuchen. Er bestätigte die Relevanz der Dilemmata der Demokratisierung, betonte aber, diese führten nicht zu einer Infragestellung des Paradigmas: Eine Alternative, die zu Gunsten politischer Stabilität auf die Forderung nach und Förderung von Demokratie verzichte, sei „weder mehrheitsfähig noch zielführend“.

Demokratie als erklärende »Variable«

Die Theorie des Demokratischen Friedens und damit auch die Forschung an der HSFK rekurriert auf den demokratisch verfassten Staat als zentraler Einheit. Die Vertreterinnen und Vertreter der HSFK verteidigten diesen Ansatz, der die Realität und Bedeutung nicht-staatlicher Akteure und transnationaler Prozesse nicht ausblende, aber sein primäres Erkenntnisinteresse auf ein Verständnis demokratischer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik richte, gegen eine Kritik, die wahlweise unter Rekurs auf die Globalisierungsdebatte dem Nationalstaat und den zwischenstaatlichen Beziehungen ihre Relevanz absprach, oder in der Tradition des Realismus in den Internationalen Beziehungen die Weltpolitik im Wesentlichen auf die Zwänge und Anreize internationaler Machtverhältnisse reduzierte. Klar wurde, dass Demokratie als erklärender »Faktor« mehr erfassen muss als das politische Institutionengefüge. Die Herausforderung besteht darin, unter dem Fokus auf die Demokratie die komplexen Prozesse in den Blick zu nehmen und theoretisch-konzeptionell zu bündeln, in denen öffentliche Diskurse in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zusammenfließen.

Nicht nur demokratische Institutionen, auch das liberale Gedankengut, das sich in je länderspezifische politische Kulturen bzw. Rollenmuster einordnet, strukturiert die variablen Resultate demokratischer Außenpolitik. Liberale Werte und Normen prägen die Lebenswelt der in Demokratien lebenden Menschen und werden von ihnen qua Sozialisation in das persönliche Wahrnehmungs- und Bewertungsrepertoire aufgenommen. Insofern lässt sich mit ihnen Mobilisierung für bestimmte Entscheidungen bewerkstelligen, während sie den politischen Erfolg explizit illiberaler Strategien deutlich mindern. Das liberal-demokratische Wertesystem schließt bestimmte Optionen aus – z.B. den Krieg gegen eine andere Demokratie -, lässt aber immer noch einen breiten Korridor von mit diesen Werten kompatiblen Optionen zu (z.B. die Ablehnung von Intervention aus Respekt vor der Autonomie der BürgerInnen in anderen Staaten, oder die Befürwortung von humanitärer Intervention, um die Unversehrtheit von Menschen in Diktaturen zu schützen).

Demokratie ist daher ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Internationale Machtverhältnisse, Allianzzugehörigkeiten und partikulare Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen sind damit keineswegs irrelevant. Mächtige verfügen über eine breitere Palette von Optionen als weniger Mächtige; Allianzzugehörigkeit schafft Erwartungen von Solidarität; Partikularinteressen mögen »Kriegsunternehmer« oder »Kriegsgegner« antreiben, demokratische Diskussionen und Entscheidungen über Krieg und Frieden in ihrem Sinne zu beeinflussen. All diese Variablen sind wichtig, entfalten ihre Wirkung aber erst vor dem Hintergrund spezifischer politischer Kulturen (die sie ihrerseits prägen). Die in nationalen Narrativen verarbeitete Geschichte, die Identität, das Rollenverständnis mit ihren stets interpretationsfähigen Angemessenheitslogiken sind von Demokratie zu Demokratie verschieden, bewegen sich aber im von der liberal-demokratischen Ideologie aufgespannten Möglichkeitsraum.

Von Ambivalenzen und Antinomien

Demokratische Institutionen und politische Kulturen stellen Strukturelemente und Kontextvariablen politischen Handelns dar, die keine eindeutigen (friedensfördernden) Handlungsorientierungen prämieren, sondern ambivalente Situationsdeutungen und Handlungsoptionen ermöglichen, welche Gewaltanwendung und Kooperationsverweigerung als je legitimes demokratisches Handlungsrepertoire erscheinen lassen. Die für das HSFK-Forschungsprogramm zentralen Begriffe der »Antinomie« und der »Ambivalenz« wurden kontrovers diskutiert – insbesondere eine präzisere Fassung der Begriffe wurde angemahnt.

Als begriffliche Präzisierung bietet sich ein Rückgriff auf das strukturationstheoretische Instrumentarium von Anthony Giddens an. Danach sind Struktur und Akteur zwei sich wechselseitig bedingende Seiten eines unaufhörlichen historischen Stroms: Strukturen ermöglichen und beschränken Handeln, während die Akteure ständig die Strukturen reproduzieren und/oder ändern. Auf soziale Phänomene kann man mithin stets aus zwei Richtungen blicken, und erst das Zusammenbringen von Struktur- und Akteursperspektive ermöglicht eine umfassende Prozessanalyse. Mit Giddens lassen sich Antinomien als gegensätzliche kausale Tendenzen in der Strukturdimension der Legitimation verorten: Die kognitiv-ideologische Struktur, auf die sich erfolgversprechende Rechtfertigungen und d.h. die öffentlichen Motive demokratischer Politik beziehen müssen, ist immanent widersprüchlich. Das obige Beispiel – die liberale Ideologie rechtfertigt sowohl die Abstinenz von als auch die Neigung zu Interventionen – benennt eine solche Antinomie. Aus der Sicht der Akteure stellen sich diese Antinomien als Ambivalenzen dar. Eine antinomische Struktur (im Sinne von Regeln der Legitimation) führt zu ambivalenten Anforderungen an das normativ angemessene Verhalten, womit ein Korridor für höchst unterschiedliche Entscheidungen eröffnet wird. Antinomie und Ambivalenz sind daher zwei Seiten derselben Medaille, einmal aus der Struktur-, zum anderen aus der Akteursperspektive analysiert.

Zum Begriff der »Schattenseiten«

Intensiv wurde der Begriff der »Schattenseiten« erörtert, dem der Titel der Tagung einen prominenten Stellenwert einräumte. Seine normativen Implikationen bedürfen der Klärung. Indem die HSFK-Forschung in verschiedenen Politikfeldern den je partikularen Status eines universal verstandenen Liberalismus unter Beweis stellt, versucht sie bewusst, einem überschießenden liberalen Universalismus entgegenzuwirken, der über die Selbstermächtigung der demokratischen Staaten im Namen von Demokratie und Frieden letztlich kriegs- und konflikttreibend wirkt. Bereits das Offenlegen von unterschiedlichen, aber gleichermaßen dem liberal-demokratischen Wertekanon verpflichteten, außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Strategien verweist auf die Kulturgebundenheit und Partikularität der eigenen Zielsetzungen und konterkariert damit den missionarischen Impuls, im Interesse der Verwirklichung vermeintlich universaler Güter nötigenfalls auch auf Gewalt zurückzugreifen und geltende verfahrungsrechtliche Bestimmungen zu umgehen.

Der Glaube an das universale Gute, welches das eigene Handeln verbreiten und verwirklichen soll, trübt häufig den Blick für die Grenzen sozialtechnologischer Möglichkeiten. Die Illusion über die Machbarkeit des Wünschenswerten zerschlägt sich nicht selten zu Lasten derjenigen, die eigentlich die Begünstigten der Aktionen der Demokratien hätten sein sollen; kontra-intentionale und kontra-produktive Folgen für die eigenen Zielsetzungen sind dann zu verzeichnen. In dieser negativen Doppelwirkung und in ihrer Verursachung durch die Hybris liberalen Denkens kulminieren die Schattenseiten – die dann aber genau genommen weniger die dunklen Seiten „des Demokratischen Friedens“ als „der liberalen Ideologie“ als normativer Grundlage der Erforschung und Praxis demokratischer Außenpolitik meinen.

Ausblick: Anstöße für zukünftige Forschung

Während die quantitativen large N-Studien in der Forschung zum Demokratischen Frieden ihre Befunde zum Außenverhalten der Demokratie stets im Vergleich zu anderen Regimetypen bemessen, ist der systematische Vergleich von Demokratien und Nicht-Demokratien in fallstudienorientierten, qualitativen Arbeiten – auch in der HSFK – noch Mangelware. Die HSFK-Forschung etwa zu den Diskursen über Kriegsentscheidungen in westlichen Demokratien ergibt klare Hinweise auf typisch demokratische Argumente pro Krieg; der Abgleich mit den Kriegsentscheidungen in nicht-demokratischen Staaten wäre wichtig, um zu kontrollieren, inwieweit welche »liberalen Motive« tatsächlich der Demokratie vorbehalten sind. Gleiches gilt für Fragen der Gestaltung der zivil-militärischen Beziehungen, der nationalen Rüstungs- oder der internationalen Rüstungskontrollpolitik.

Mit dem (selbst-)kritischen Blick auf die Antinomien des liberalen Gedankenguts und die Ambivalenzen demokratischer Politik rücken komplexe Fragen der Normativität in den Vordergrund. Der zentrale normative Impetus des laufenden HSFK-Forschungsprogramms besteht in der selbstkritischen Reflexion. Damit stellen sich zwei Fragen, denen es in Zukunft mehr Augenmerk zu schenken gilt. Erstens ist die Kritik liberal-demokratischer Selbstermächtigung ihrerseits basalen liberalen Normen verpflichtet, womit sich die Antinomien des Liberalismus auch in den Köpfen der Forscher als normative Ambivalenzen niederschlagen, die zu mitunter schwierigen Entscheidungen nötigen: Wie verhält sich die kritische Analyse des »Demokratischen Kriegs« zu der Frage, wann Krieg – wenn er auch nie moralisch gerecht ist – zumindest politisch richtig sein mag? Was sagt uns die Untersuchung unterschiedlicher Strategien und Praktiken der externen Demokratieförderung über die Formen und Grenzen legitimer Außeneinwirkung auf per definitionem je innergesellschaftliche Transformationsprozesse? Zweitens, und damit verknüpft: Wo genau liegen die Sollbruchstellen, wo die Schnittmengen zwischen unterschiedlichen liberal-demokratisch geprägten sowie anderen real-existierenden Vorstellungen über die gute normative (Welt-)Ordnung?

Anmerkungen

1) Anna Geis, Harald Müller, Wolfgang Wagner (Hg.) 2007: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt/New York: Campus (Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 55).

2) Die Veranstalter danken der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Konferenz sowie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt für die Gastfreundschaft.

Jonas Wolff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSFK. Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Mitglied des Vorstands der HSFK und Leiter des Projektbereichs Internationale Organisation, demokratischer Friede und die Herrschaft des Rechts. Dr. Anna Geis leitet in der HSFK den Projektbereich »Demokratisierung und der innergesellschaftliche Frieden«.

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Erklärung von Sevilla zur Gewaltfrage

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Immer wieder erscheinen in deutschen Magazinen Beiträge, in denen die Spekulationen von Philosophen und von Begründern moderner wissenschaftlicher Disziplinen zum Ursprung der menschlichen Aggressivität und Gewalttätigkeit aufgewärmt werden – als wäre diesbezüglich in den involvierten Disziplinen bisher keinerlei Fortschritt zu verzeichnen. So entsteht bestenfalls der Eindruck eines Unentschieden zwischen »Pesssimisten« und »Optimisten«, zwischen »Anlage-« und »Umwelttheoretikern«, oder wie immer man die grundlegenden Ansätze kennzeichnen mag; wahrscheinlich aber liefert man damit autoritären Ordnungsvorstellungen und -bestrebungen eine quasi-biologische Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, die am 16. Mai 1986 von einer internationalen Kommission von zwanzig Wissenschaftlern im Rahmen eines Kolloquiums an der Universität von Sevilla als Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 erarbeitete Erklärung zur Gewaltfrage in Erinnerung zu bringen. Diese »Erklärung von Sevilla« richtet sich ausdrücklich gegen den weitverbreiteten Glauben, der Mensch sei infolge angeborener biologischer Faktoren zu Gewalt und Krieg prädisponiert. Sie wurde im November 1989 von der 25. Konferenz der UNESCO zwecks weltweiter Verbreitung und als Grundlage eigener Expertentagungen übernommen. Durch Dokumentation dieser wichtigen Erklärung in dem vorliegenden Heft von W&F wollen wir zu ihrer Verbreitung beitragen. Die Übersetzung besorgte A. Fuchs auf der Grundlage des als Anhang zu dem von Silverberg & Gray (1992) herausgegebenen Sammelband abgedruckten englischen Textes1 und unter Berücksichtigung der von der deutschen UNESCO-Kommission freundlicherweise zur Verfügung gestellten Übersetzung.2 Die Zwischenüberschriften und die Numerierung der Hauptthesen i.V.m. der Phrase »Aus der Sicht der . . .« wurden redaktionell eingefügt.

In der Überzeugung, daß es unsere Pflicht ist, uns aus der Sicht unserer unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen, mit Krieg und Gewalt; im Bewußtsein, daß die Wissenschaft ein Produkt der menschlichen Kultur darstellt und deswegen weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten zu bieten hat; und in dankbarer Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Sevilla und der spanischen UNESCO-Kommission, haben wir, die unterzeichneten Wissenschaftler aus aller Welt, die sich aus der Perspektive ihre jeweiligen Disziplin mit dem Thema Krieg und Gewalt befassen, die nachstehende »Erklärung zur Gewaltfrage« formuliert.

Darin stellen wir einige vermeintliche Ergebnisse biologischer Forschung in Frage, die dazu verwendet werden – zum Teil aus unseren eigenen Reihen –, Krieg und Gewalt zu rechtfertigen. Diese vermeintlichen Forschungsergebnisse haben zu einer pessimistischen Grundstimmung in der öffentlichen Meinung beigesteuert. Daher glauben wir, daß eine öffentliche und gut begründete Zurückweisung der Fehlinterpretation wissenschaftlicher Befunde einen wirksamen Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.

Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Befunde zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg ist nicht neu, sondern begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie dazu benutzt, nicht nur den Krieg zu rechtfertigen, sondern auch Völkermord, Kolonialismus und die Unterdrückung der Schwächeren.

Wir legen unsere Position in fünf Thesen dar. Wir sind uns dessen bewußt, daß noch weit mehr zu Gewalt und Krieg vom Standpunkt unserer Disziplinen zu sagen wäre; wir beschränken uns hier jedoch auf diese Kernaussagen als besonders wichtigen ersten Schritt.

1. Ethologie

Aus der Sicht der Ethologie (Verhaltensforschung) ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, der Mensch habe von seinen tierischen Vorfahren eine Tendenz Krieg zu führen geerbt. Zwar ist Kämpfen nahezu im gesamten Tierreich verbreitet; doch nur über wenige Fälle destruktiver, innerartlicher Kämpfe zwischen organisierten Gruppen in ihrer natürlichen Umwelt lebender Arten findet man Berichte, und in keinem Fall haben wir es mit Waffengebrauch zu tun. Das raubtiertypische Sich-Ernähren von anderen Arten hat nichts zu tun mit innerartlicher Gewalt. Kriegführen ist ein spezifisch menschliches Phänomen und kommt bei anderen Lebewesen nicht vor.

Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Laufe der Geschichte radikal verändert hat, zeigt, daß sie ein Produkt der kulturellen Entwicklung ist. Biologisch ist Krieg vor allem in unserem Sprachvermögen verankert; Sprache macht es möglich, soziale Gruppen zu koordinieren, Technologien weiterzugeben und Werkzeuge zu verwenden. Aus biologischer Sicht ist Krieg möglich, aber nicht unvermeidbar wie auch die Unterschiede in der Art und der Häufigkeit des Kriegführens in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte kein Krieg geführt wurde, als auch Kulturen, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig Krieg geführt haben, zu anderen wiederum nicht.

2. Biogenetik

Aus der Sicht der Biogenetik ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Kriegführen oder andere gewaltförmige Verhaltensweisen des Menschen seien genetisch vorprogrammiert. Gene spielen auf allen Funktionsebenen unseres Nervensystems eine Rolle; sie stellen aber ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit der ökologischen und sozialen Umwelt aktualisiert werden kann. Individuen variieren zwar anlagebedingt bezüglich ihrer Beeinflußbarkeit durch Erfahrung; letztlich jedoch bestimmt die Wechselwirkung zwischen ihrer genetischen Ausstattung und den Umständen, unter denen sie aufwachsen, ihre Persönlichkeit. Von seltenen krankhaften Fällen abgesehen, prädisponieren die Gene kein Idividuum zur zwanghaften Ausübung von Gewalt; das gleiche gilt für das Gegenteil. Die Gene sind an der Entwicklung unserer Verhaltensmöglichkeiten mit beteiligt, bestimmen das Ergebnis aber nicht allein.

3. Evolutionsforschung

Aus der Sicht der Evolutionsforschung ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, im Laufe der menschlichen Evolution habe sich durch Selektion die Tendenz zu aggressivem Verhalten stärker durchgesetzt als andere Verhaltenstendenzen. Bei allen hinreichend gut erforschten Arten wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Ausübung sozialer Funktionen, die für die Struktur dieser Gruppe von Bedeutung sind, erworben. »Dominanz« beinhaltet Anschluß an andere und soziale Bindungen. Obwohl aggressives Verhalten eine Rolle spielt, sind der Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft nicht entscheidend. Wo bei Tieren die Selektion aggressiven Verhaltens künstlich gefördert wurde, führte das schnell zur Entwicklung hyper-aggressiver Individuen. Das bedeutet, daß der Selektionsmechanismus unter natürlichen Bedingungen die Aggression nicht besonders begünstigte. Wenn man experimentell entwickelte hyperaggressive Individuen in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren Struktur, oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.

4. Neurophysiologie

Aus der Sicht der Neurophysiologie ist die Behauptung wissenschaftliche unhaltbar, die Menschen besäßen ein »gewalttätiges Gehirn«. Zwar ist unser neuraler Apparat mit allen Voraussetzungen gewaltförmigen Verhaltens ausgestattet, aber er wird weder durch innere noch durch äußere Reize automatisch dazu aktiviert. Ähnlich wie bei den höheren Primaten und anders als bei den anderen Lebewesen filtern unsere höheren Gehirnprozesse entsprechende Reize, bevor wir auf sie reagieren. Wie wir reagieren, hängt davon ab, wie wir konditioniert und sozialisiert wurden. Nichts von unserer neurophysiologischen Ausstattung zwingt uns zu gewalttätigen Reaktionen.

5. Psychologie

Aus der Sicht der Psychologie ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Krieg werde verursacht durch einen »Instinkt« oder »Trieb« oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegsführung ist eine Geschichte der Entwicklung vom Übergewicht emotionaler und motivationaler Faktoren, die manche »Instinkte« oder »Triebe« nennen, zum Übergewicht kognitiver Faktoren. Krieg beinhaltet heute die institutionalisierte Nutzung von Persönlichkeitseigenschaften wie Gehorsamsbereitschaft, Suggestibilität oder auch Idealismus; soziale Fertigkeiten wie Kommunikation und Sprache; kognitive Prozesse wie Kosten-Nutzen-Kalkulation, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegsführung verstärkt in besonderer Weise gewaltaffine Persönlichkeitszüge, und zwar sowohl bei der Ausbildung des Kampfpersonals wie bei der Mobilisierung von Unterstützung für den Krieg seitens der Gesamtbevölkerung. Infolgedessen werden solche Züge oft fälschlicherweise als Ursachen statt als Folgen des ganzen Prozesses angesehen.

Schlußfolgerung

Aus all dem schließen wir: Biologisch ges<-2>ehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann sich aus der Knechtschaft eines auf biologische Argumente gestützten Pessimismus befreien und sich zu Selbstvertrauen und Zuversicht ermächtigen, um die in diesem Internationalen Friedensjahr und in den kommenden Jahren fälligen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Zwar müssen diese Umgestaltungsaufgaben primär von Institutionen und von größeren sozialen Einheiten bewältigt werden, ihre Bewältigung hängt aber auch vom Bewußtsein des einzelnen ab, das entscheidend von einer pessimistischen oder einer optim<0>istischen Perspektive geprägt ist.

Wie Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, so entsteht auch der Friede in unseren Köpfen. Ein und dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür verantwortlich.

Sevilla, 16. Mai 1986

Erstunterzeichner

David Adams, Psychologie, USA – S.A. Barnett, Ethologie, Australien – N.P. Bechtereva, Neurophysiologie, UdSSR – Bonnie Frank Carter, Psychologie, USA – José M. Rodríguez Delgado, Neurophysiologie, Spanien – José Luis Díaz, Ethologie, Mexiko – Andrzej Eliasz, Differentielle Psychologie, Polen – Santiago Genovés, Biologische Anthropologie, Mexico – Benson E. Ginsburg, Verhaltensgenetik, USA – Jo Groebel, Sozialpsychologie, BRD – Samir-Kuma Ghosh, Soziologie, Indien – Robert Hinde, Verhaltensforschung, England – Richard E. Leaky, Physikalische Anthropologie, Kenia – Taha M. Malasi, Psychiatrie, Kuwait – J. Martin Ramírez, Psychobiologie, Spanien – Frederico Mayor Zaragoza, Biochemie, Spanien – Diana L. Mendoza, Ethologie, Spanien – Ashis Nandy, Politische Psychologie, Indien – John Paul Scott, Verhaltensforschung, USA – Riitta Wahlström, Psychologie, Finnland.

Anmerkungen

1 Silverberg, J. & Gray, J.P. (Eds.) (1992): Aggression and peacefulness in humans and other primates (pp. 295-297), Oxford, Oxford University Press. Zurück

2 Von einer unbesehenen Übernahme dieser deutschen Version wurde abgesehen, weil sie den Sinn des Originaltextes vielfach nur ungenau wiedergibt oder entstellt und ihn an einer zentralen Stelle sogar in sein Gegenteil verkehrt. Zurück

Forschungsfreiheit oder versiegende Lust auf Technik

Forschungsfreiheit oder versiegende Lust auf Technik

von Ernst Rößler

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges stellt sich das diffuse Gefühl ein, daß wir in einer fundamentalen Krise stecken. Auch wenn der Kapitalismus als Sieger aus dem Wettlauf der Systeme hervorging, blieb ihm nur wenig Zeit, dies gebührend zu feiern. Plötzlich tauchen – unter dem Schlagwort »Globalisierung« – düstere Wolken am Horizont der westlichen Industriegesellschaften auf.

Zum einen propagieren Neoliberale das internationale »Laissez faire«, fordern »Deregulierung« auf allen Ebenen, einen schlanken Staat, eine schlanke Fabrik und eine schlanke Universität. Sie verheißen einen weltweiten »Wohlstand der Nationen« durch einen globalen Wettbewerb. Zum anderen werden in Europa Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Es gibt immer mehr Arbeit für immer weniger Menschen. Die Renten und das Gesundheitssystem scheinen nicht mehr bezahlbar zu sein, und das Gespenst der Armut geht wieder um. Obwohl das Bruttosozialprodukt weiterhin zunimmt, wird die öffentliche Hand ärmer und ärmer. Immer weniger Geld bleibt für die Planung zukünftiger Entwicklungen; insbesondere schrumpfen die nationalstaatlichen Möglichkeiten. Es gilt nur noch, möglichst schnell »Strukturanpassungen« an internationale Sachzwänge vorzunehmen.

Kurz: Zu dem Gefühl, daß uns eine Krise erfaßt hat, daß nichts mehr so sein wird wie bislang, kommt das Gefühl der Ohnmacht. Doch Optimisten würden hier sagen, das ist genau jener Humus, der Neues gebiert!

Die Hochschulreform in den 70er und 90er Jahren

Unter diesen Randbedingungen ist es natürlich nicht verwunderlich, daß auch die Universität in ihrer bisherigen Form in Frage gestellt wird. Deshalb seien zunächst hierzu einige Gedanken geäußert, und zwar beginnend mit der Hochschulreform in den 70er Jahren. Diese Reformperiode war gekennzeichnet durch einen massiven Ausbau der Universitäten. Die Zahl der Studierenden erhöhte sich von 0.51<0> <>Mio. (1970) auf 1.85<0> <>Mio. (1994). Die Öffnung der Universitäten war sowohl von sozialen und partizipatorischen als auch von wirtschaftlichen Motiven geprägt. Der Modernisierungsprozeß der Wirtschaft verlangte nach neuen Bildungsreserven. Im Zuge der Studentenrevolte etablierte sich auch eine kritische Wissenschaft, die Selbstreflexion üben wollte. Die Gruppenuniversität wurde geschaffen, wenn auch letztendlich nur rudimentär, und die Potentiale für eine Zukunft sollten sich im Wettstreit unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen entwickeln.

Die Hochschulreform in den 90er Jahren ist dadurch gekennzeichnet, daß der Arbeitsmarkt insbesondere für Absolventen naturwissenschaftlicher Studiengänge gesättigt ist und daß eine verschärfte Konkurrenz um »Leistung« und »Qualität« national wie international entbrannt ist. Chronisch rückläufige Bildungsetats bestimmen die Hochschullandschaft, und dies hat schon seit langem in vielen Fächern zu einer Überlastung geführt. Weiterhin ist festzustellen, daß die Universitäten die Kraft verloren haben, Menschen zu versammeln, die mehr als nur eine Ausbildung wollen. Wer erwartet heute von der Universität noch Impulse? An den naturwissenschaftlichen Fakultäten zeigt sich ein weiteres Phänomen: Das Interesse an den Naturwissenschaften geht zurück. Es gibt immer weniger Studenten!

Ideen zur Reform der Universität haben Hochkonjunktur, und der Zustand der Universitäten wird in düsteren Farben gemalt: Er sei „verrottet“, „Humboldt in der Masse erstickt“, „Lethargie“ wird beklagt. Allerdings ist nicht klar, was die jeweiligen Autoren eigentlich meinen. Geht es um die technische Bewältigung der Überlast, oder geht es im Rahmen von gewagten Elitetheorien darum, daß die Begabungen in der Bevölkerung nicht gleich verteilt sind? Ist mit 11% eines Jahrgangs bessere Wissenschaft zu machen als mit 37%? Worin besteht die behauptete mangelnde Exzellenz unserer Forschung?

Vor dem Hintergrund der »Qualitätssicherung« ist die Universität als Dienstleistungsbetrieb, der seine Effizienz und Wirtschaftlichkeit steigern muß, um die Zuteilung von Ressourcen zu rechtfertigen, der sich ausprägende Trend. Schlagworte wie »Autonomie« und »Deregulierung« fallen überall. Von den demokratischen Gremien sollen Aufgaben auf die Universitätsleitung übergehen. Geplant ist eine Entpolitisierung der Entscheidungen. Die Reste der Gruppenuniversität sind hier nur noch störend, werden als »Deregulierungsdefizit« betrachtet. Nicht mehr Partizipation und Emanzipation, sondern die Ausrichtung an den Wünschen der Wirtschaft wie auch an denen eines »schlanken« Staates, stehen im Zentrum der Bemühungen. Studiengebühren werden diskutiert. So haben sich die Zeiten geändert: Wollte der Staat in den 70er Jahren noch das allgemeine Bildungsniveau anheben, soll sich heute jeder einzelne darum kümmern – und zahlen.

Der bislang geschützte Bereich der Universität wird infolge der geplanten Maßnahmen einer verstärkten Außenlenkung ausgesetzt; dies ist natürlich das Gegenteil von »Autonomie«. Auf allen Ebenen wird eine verschärfte Konkurrenz stattfinden, sowohl zwischen den als auch innerhalb der Hochschulen. Schon wird eine »Spaltung der Hochschullandschaft« (große gegen kleine Universitäten) befürchtet. Das marktwirtschaftliche Konzept für die Universität suggeriert wie jedes Marktmodell eine Gleichheit der Ausgangsbedingungen, die in Wirklichkeit jedoch nicht vorhanden ist. Es werden Ungleichgewichte verstärkt, die dann gerade der Motor der Effizienzsteigerung sind, die aber auch eine Menge Verlierer zurücklassen werden. So funktioniert unsere Wirtschaft! Bei wem kann man sich beklagen, wenn man aus marktwirtschaftlichen Gründen entlassen wird?

Gerät die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Gefahr?

Aufgrund dieser Entwicklungen ist zu befürchten, daß das kulturelle Projekt der Naturwissenschaften nur unter großen Anstrengungen zu halten ist. Im Spannungsfeld von Technikfolgen, globalen Verwertungsinteressen und der Knappheit öffentlicher Mittel wird der Anspruch der Grundlagenforschung aufgerieben. Es wird immer weniger Instanzen für die Suche nach der Wahrheit oder weniger pathetisch ausgedrückt für eine unabhängige Expertise geben. Die Kategorien »wahr« oder »nicht wahr« werden sich in die Kategorien des Marktes, in »Haben« oder »Nichthaben«, verflüchtigen. Brauchen wir überhaupt noch eine »interessensfreie« Wissenschaft? Gehen wir einer »post-akademischen« Wissenschaft entgegen, die nicht mehr auf öffentliches Wissen zielt, sondern eine Privatisierung des Wissens propagiert?

Dazu können die Wissenschaftsorganisationen nicht schweigen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gibt eine Broschüre mit dem Titel »Forschungsfreiheit« (1996) heraus, und Repräsentanten außeruniversitärer Forschungseinrichtungen erheben einen Aufruf gegen den Niedergang der deutschen Forschung (1997). An diesen Aufrufen fällt auf, daß es in erster Linie nicht um die Wissenschaft geht, sondern um den Standort Deutschland. Zwar wird im Vorwort (W. Frühwald) der DFG-Broschüre angemerkt: „Der international zu beobachtende Trend, Wissenschaft und Forschung als bloße Wirtschaftsfaktoren zu betrachten, Wissen möglichst rasch und gewinnbringend in Eigentum zu verwandeln, statt die Möglichkeiten zur Entstehung neuen Wissens in den Freiheitswurzeln der Gesamtkultur eines Landes zu suchen, … sind nur Symptome dieses nicht zu unterschätzenden Entwertungsprozesses.“ Jedoch wird gleichzeitig beklagt: „eine nennenswerte biotechnische Industrie konnte in Deutschland … nicht enstehen.“ In beiden Sätzen geht es natürlich um völlig verschiedene Dinge – zum einen um vermeintliche wirtschaftliche Nachteile und zum anderen um die Unabhängigkeit der Wissenschaft!

Die DFG-Broschüre ist von verschiedener Seite kritisiert worden, und es soll kurz auf sie eingegangen werden. Ihr Ausgangspunkt ist, daß in Deutschland das Bewußtsein dafür geschwunden sei, „daß das Grundrecht auf Forschungsfreiheit durch die Rechtsordnung grundsätzlich nicht begrenzt ist, daß also jede Einschränkung dieses Verfassungsgebotes ihrerseits legitimiert werden muß.“ Festgestellt wird, daß Wissenschaft zum Überleben der Menschheit unentbehrlich sei, jedoch viele Menschen ihr mit Angst begegnen. „Gedeihen kann Forschung aber nur in einem Klima wenn schon nicht uneingeschränkter Akzeptanz, so doch wenigstens rationaler Aufgeschlossenheit.“ Forschungsbehinderung sieht die DFG z.B. bei der Kernenergie oder bei der Gentechnik sowohl in Form von Gesetzen als auch in Form von „Gruppen, die dazu neigen, normative Präferenzen als absolute Wertsetzungen zu betrachten, und unter Berufung auf diese rechstwidrige Gewaltaktionen durchführen … .“ Damit komme es zu „Wettbewerbsverzerrungen“ in der Forschung zu Lasten der deutschen Wissenschaft. Es folgen Empfehlungen der Art, daß der Gesetzgeber „Selbstbeschränkung“ üben und stattdessen die „Selbstkontrolle der Wissenschaft auf der Grundlage des Standesethos ihrer wissenschaftlichen Gesellschaften“ stärken sollte.

Die Grundhaltung dieser DFG-Broschüre ist selbstgerecht und dokumentiert ein Unverständnis öffentlicher Kritik gegenüber. Seitens ihrer Autoren gibt es praktisch keine berechtigten, »rationalen« Gründe, Mißtrauen gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung zu haben. Insbesondere gibt es keinen Regelungsbedarf aus demokratischen oder humanen Gesichtspunkten. Man spürt deutlich, daß die Autoren wenig Lust verspüren, die durch die Anwendung z.B. der Gentechnik entstehenden ethischen Probleme auszutragen. Es fallen Sätze wie: „Ist jedoch das Risiko etwa der Gesundheitsgefährdung gering und abstrakt, wie bei der überwiegenden Mehrzahl aller gentechnischen Versuche, ist eine Einschränkung des Grundrechts der Forschungsfreiheit nicht gerechtfertigt.“ Fazit: Die Wissenschaft bzw. ihre Standesorganisationen scheuen die Öffentlichkeit und eine Diskussion über normative Konflikte wie der Teufel das Weihwasser. „Für die komplexen moralischen Probleme, die durch die von der Wissenschaft eröffneten neuen Handlungsmöglichkeiten entstehen, sollten wissenschaftliche Institutionen zuständig sein.“ Eine öffentliche Rechtfertigung der »Forschungsfreiheit« wird abgelehnt. Manch »alter Hut feiert wieder fröhliche Urständ«: So wird die aktuelle Konjunktur um »Effizienzsteigerung« von den Wissenschaftsverbänden dafür genutzt, den Spielraum einer selbstbezüglichen Bewertung durch die »scientific community« zu erweitern.

Wir sind kurz davor, Eugenik- oder gar Euthanasie-Programme aufzustellen, und eine beträchtliche Anzahl von Wissenschaftlern möchte am liebsten die soziale Frage mit Hilfe der Wissenschaft lösen. So glauben viele, daß das Studium der Erbeigenschaften weit mehr Erkenntnisse zu Tage fördern und damit Manipulationsmöglichkeiten eröffnen wird als das Studium der sozialen Verhältnisse. Der Kriminalität möchte man mit medizinischen Mitteln zu Leibe rücken. Und das sollen wir einer kleinen Gruppe von Leuten überlassen? Damit würde man den Bock zum Gärtner machen! Ganz abgesehen davon, daß Deutschland damit schon die schlimmsten Erfahrungen gemacht hat. Hier ein Beispiel: Nobelpreisträgers J. Watson hat sich dafür ausgesprochen, daß Eltern die Möglichkeit für eine Abtreibung erhalten sollten, wenn sich mit einer Genanalyse bei dem Ungeborenen die Anlage für Homosexualität feststellen lasse.

Erstaunlich sind die Äußerungen der Wissenschaftsorganisationen angesichts der weltweit sich auftürmenden Probleme, die ja gerade eine Politisierung und demokratische Legitimation vieler Entscheidungen notwendig machen. Die Rekrutierung unabhängiger Experten, wie wir sie für die Bewältigung der Zukunft benötigen, ist nicht das Anliegen der DFG-Broschüre! Die Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft, wie sie heute durch den Anwendungsdruck entsteht, wird eben nicht diskutiert – außer kurz im Vorwort.

Ca. 400 Jahre nach Galilei hat die Naturwissenschaft es geschafft, sich mit ihrem unbedingten Willen zum wissenschaftlichen Fortschritt in Konflikt mit den Wünschen vieler Menschen zu bringen. Ihre Vertreter überreagieren auf jegliches Ansinnen, der Wissenschaft in die Karten zu schauen. Welch merkwürdiger Rollentausch: Zu Galileis Zeiten wollten die Pfaffen nicht ins Fernrohr schauen, heute fürchtet die Wissenschaft den Kontakt mit der Öffentlichkeit! Die beklagte Irrationalität ist bis ins Zentrum der Wissenschaft vorgerückt, und die Wissenschaft entpuppt sich damit als mehr oder weniger würdige Nachfolgerin der Kirche.

Alternative Wissenschaft ?

Wie kann es also weitergehen, wenn sich die Wissenschaft schmollend in die Ecke der vermeintlichen Wertfreiheit verkriecht bzw. mit den Mächtigen dieser Welt kollaboriert und auf die Durchsetzung des »wissenschaftlichen Fortschritts« pocht? Manch ein klassischer Wissenschaftler wird dann von der »wahren Forschungsfreiheit«, der »objektiven Erkenntnis« und der »Neutralität der Wissenschaft« sprechen, und es gelte die Wissenschaft vor dem Verwertungsdruck zu schützen, eben die Universität als geschützter Raum. Dem entspricht die traditionelle Auffassung, daß Wissenschaft und Technik zu unterscheiden seien. Doch spätestens, wenn die Wissenschaft zur Machenschaft wird, wenn sie die Welt verändern will – und wie ich glaube, wollte sie dies von Anbeginn – gibt es keine Objektivität mehr. Die Machtnähe der heutigen Wissenschaft erfordert mehr als Objektivität, sie verlangt nach Kontrolle.

Zusätzlich zur gesellschaftlichen Kontrolle wird von kritischer Seite eine Selbstkritik der Naturwissenschaft gefordert, eine »alternative Wissenschaft« soll entstehen. Zitiert wird G. Picht: „Eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann keine wahre Erkenntnis der Natur sein.“ Wahrheit muß auch ethisch qualifiziert werden. So schreibt H.-J. Fischbeck: „daß es eine intrinsische Wissenschaftskritik gibt, die wieder zugelassen werden muß, nachdem Ethik in der Aufklärung aus guten Gründen aus der Naturwissenschaft verbannt wurde.“ Um es aber gleich zu sagen: Ich halte diese Forderung nach normativer Naturerkenntnis, d.h. nach einer Wiederverbindung – wie in der Antike – von objektiver Geltung und moralischen Ansprüchen im Begriff der Erkenntnis als wenig erfolgversprechend, wenn nicht sogar gefährlich, läuft sie doch Gefahr – so wie in den Ländern des einstigen Ostblocks geschehen – einem autoritären Wissenschafts- und Gesellschaftssystem Vorschub zu leisten.

Das technologische Potential der Wissenschaft

Auch wenn die Wissenschaft ein gesellschaftliches Teilsystem mit relativer Autonomie geschaffen hat, in der es um zweckfreie Theoriebildung und Selbstbezüglichkeit der Wissenschaft geht, kann die Wissenschaft mit der heutigen, enormen finanziellen Unterstützung nicht mit einem kulturellen Bedürfnis (z.B. der ewigen Neugier des Menschen) begründet werden, sondern nur mit dem technologischen Potential der Forschung (vgl. W. von den Daele). Dieses Potential kann aber nur zum Zuge kommen, wenn ein Interesse an Technik besteht. Mit anderen Worten: Die wissenschaftliche Produktion technischer Möglichkeiten ist nur dann wertvoll, wenn man von einem technischen Zeitalter ausgeht, wenn wir also die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Leistungsethik, Technikgläubigkeit und Fortschrittserwartung voraussetzen. Nur mit Hilfe der Technik konnten die Raubzüge der Moderne durchgeführt werden. Dies ist der wesentliche Grund, warum wir Naturwissenschaftler so verwöhnt wurden.

Fortschrittserwartungen trieben vielleicht schon die Begründer der modernen Wissenschaft um. So schreibt F. Bacon (1627): „Der Zweck unserer Gründung ist es, die Ursachen und Bewegungen sowie die verborgenen Kräfte der Natur zu erkennen und die menschliche Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt möglichen zu erweitern.“ Offenbart sich hier nicht ein mittelalterliches Erbe, genauer ein religiöser Impuls? Die Kluft zwischen dem Ideal einer göttlichen Welt und der Wirklichkeit auf Erden sollte verringert werden. Ja vielleicht soll der Mensch überhaupt mit Hilfe seiner Technik erlöst werden. Hier stoßen wir auf einen irrationalen Impuls vieler Wissenschaftler: ihr unbedingter Wille zur Technik als Möglichkeit zur Überwindung der vermeintlichen menschlichen Begrenztheit. Naturwissenschaftler sind meist »politische Schwärmer«! Wie die Religion verheißt die Technik eine Befreiung von den weltlichen Nöten. Diese „in der Technik liegende Triebkomponente“ (A. Gehlen) macht ihre Tiefenwirkung aus.

Die letzten Jahrhunderte sind von politischem Eifer gezeichnet, die Welt nach unseren Plänen zu verändern. Und gerade greifen die Biowissenschaften nach neuen Sternen: Ersatzteillager für den Menschen, Mensch-Maschine-Kopplungen und »artificial life« von Softwaresystemen werden konzipiert. Eine rekombinierte Schöpfung wird neue biologische »Systeme« auf der Erde erzeugen. Die Trennung des menschlichen Geistes von seinem biologischen Substrat wird diskutiert. Kurz: das ewige Leben scheint greifbar nah, und eine Entwicklung zum Transhumanen hat eingesetzt.

Von Anfang an ging es der Moderne darum, die Welt dazu zu zwingen, eine andere zu sein, als sie ist. Die Vernichtung des Bestehenden ist das Programm der Moderne, und die Naturwissenschaften sind dafür eine phantastische Hilfe. Ohne Zwang, ja Gewalt ist die Moderne nicht denkbar. Also: Mit dem weltweiten Siegeszug der technischen Veränderung der Welt, mit der »Rundumverteidigung« der Naturwissenschaftler, dem global operierenden Kapitalismus, offenbart sich der eigentliche Charakter der Moderne.

Versiegende Lust auf Technik

Was aber nun, wenn die Gesellschaft ihr Interesse an der Technik verliert? Vielleicht ein etwas merkwürdiger Gedanke, insbesondere wenn es vordergründig nicht danach aussieht? Könnte es sein, daß jene psychische Energie im Zentrum des neuzeitlichen Menschen versiegt, die ihn veranlaßt hat, besessen die Welt zu verändern und dafür zu sorgen, daß das Bisherige, das Unpassende oder das Wilde gefälligst verschwindet?

Welche Gründe könnten die Gesellschaft veranlassen, nicht mehr alles auf die eine Karte »Technisierung« zu setzen? Ich möchte hier zunächst die Schlagworte »Moderne« und »Postmoderne« aufnehmen und Gedanken von Z. Bauman folgen, ist doch der Niedergang der klassischen Wissenschaft eingebettet in die Kultur der Postmoderne.

Postmoderne: Abschied von der »gesetzgebenden Vernunft«

„Postmoderne ist ein Freibrief, zu tun wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichts von dem, was man selbst oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen“ (Bauman). Unter den Bedingungen der Postmoderne kommt dem Menschen v. a. die Rolle als Konsument und Spieler zu. Mit anderen Worten: Der Genußtrieb bzw. das einst gefährliche Lustprinzip wird zum Motor des Wirtschaftens. Das Streben nach Vergnügen wird angespornt durch die ständige Verführung des Marktes. War in der Moderne noch eine »gesetzgebende Vernunft« damit beschäftigt, einem Staatsapparat zu dienen, haben heute die Marktkräfte jegliches Interesse an verbindlichen Wahrheiten verloren. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der letzte Versuch gescheitert, mit Hilfe einer »gesetzgebenden Vernunft« den Menschen den Weg zu weisen. Endlich kann es keinen erhobenen Zeigefinger des neuzeitlichen Europäers mehr geben. Positiv formuliert: Die postmoderne »interpretierende Vernunft« geht von der Hybris zur Besonnenheit über, d.h. die Philosophie erkennt z.B. an, daß das, „was für manche besser sein mag, für andere fast mit Sicherheit schlechter ist, daß das Glück einiger auf dem Elend von anderen beruht“ (Bauman). Mit der Postmoderne sind die großen »Wahrheitskonzepte« überholt; dies ist auch die eigentliche Ursache für die Krise der Universität.

Jenseits von mittelalterlichem Offenbarungsglauben und jenseits von aufklärerischen Traditionen geht das postmoderne Individuum seiner Lieblingsbeschäftigung nach, der Selbstkonstruktion, der Selbstinszenierung. Der Erwerb von Distinktion ist das Ziel, und das politische und kulturelle Leben ist durch Produktion und Verteilung von öffentlicher Aufmerksamkeit bestimmt. In dieser Welt ist das Ethos des Wissenschaftlers nur noch ein Anachronismus. Er ist der letzte Mohikaner der Moderne und seine Auslassungen zum Thema »Forschungsfreiheit« haben deshalb auch etwas Rührendes. Träumt er doch von jenen glücklichen Tagen, als die Wissenschaft noch glaubte zu wissen, wo es lang geht.

Die Postmoderne ist ein Fortschritt und eine zwangsläufige Folge der Moderne – und Wissenschaft und Technik werden natürlich nicht überflüssig werden. Ganz im Gegenteil: Die Postmoderne benötigt die Technik, um jene Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die der von allen Beschränkungen befreite Konsum benötigt. „Die Energien, die von den um Symbole rivalisierenden freien Individuen freigesetzt werden, steigern den Bedarf nach Produkten der kapitalistischen Industrie in immer schwindelerregendere Höhen …“ (Bauman). Die Technik muß diesen scheinbar unendlichen Kreislauf unterhalten, in dem sie enorme Mengen an Energie zur Verfügung stellt und die Abfallprodukte möglichst unsichtbar verschwinden läßt. Andererseits hat sich in der Postmoderne mit dem zu sich selbst gekommenen Kapitalismus die »gesetzgebende Vernunft« vom Politischen auf den Markt verlagert. Der Zwang der Moderne findet sich in den Anforderungen und Versuchungen des Marktes wieder. Die Gewaltausübung setzt sich also fort. Und die vom Markt angetriebene Technisierung erscheint mehr denn je als unbewußte Zielsetzung des Menschen. So schreibt V. Flusser mit Blick auf die neuen Medien: „Wer gegenwärtig politisch im Sinne der hergebrachten Kategorien denkt und etwa meint, daß Technik politisch neutral sei, geht an der gegenwärtigen Kulturrevolution vorbei.“

Jenseits der Postmoderne

Auch die Postmoderne mit ihrem globalen Kapitalismus und ihrer »technologischen Aufladung« setzt eine unendliche Welt voraus. Angesichts der sich abzeichnenden Überlebenskrise der Menschheit wird jedoch diese Epoche von kurzen Lebensdauer sein. Wir stoßen an die Grenzen des Lustprinzips; auf irgendeine Weise wird sich das Realitätsprinzip wieder Gehör verschaffen. Ich möchte zum Abschluß einige Gründe erwähnen, die ein versiegendes Interesse an Technik wahrscheinlich bzw. wünschenswert erscheinen lassen.

Technische Probleme sind insofern trivial, als es um die Zerlegung der Wirklichkeit in einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen geht. Die menschliche Wirklichkeit ist jedoch eine Vernetzung vieler solcher Kausalketten, und die lassen sich nicht mehr auseinanderdröseln (vgl. H.-P. Dürr). Der Wunsch die Zukunft zu planen, wird auch im 21 Jahrhundert eine Illusion bleiben, die »Schrecken der Geschichte« kehren zurück. Angesichts der Rückwirkungen der Veränderungen, die der Mensch mit seiner Technik auf der Welt erzeugt, wird immer deutlicher, daß die Wissenschaft keine Problemlösungskompetenz hat. Mit anderen Worten: Wenn die Folgen durch die Nebenfolgen durchkreuzt werden, offenbart sich das Waterloo des technischen Verstands. Dies ist natürlich die späte Folge jener »Objektivierung der Welt«, von der das Experiment und damit die naturwissenschaftliche Erkenntnis lebt: Die Trennung von Subjekt und Objekt. Der Schritt von einer so gewonnenen Erkenntnis zum Machen ist angesichts der Begrenztheit dieser Erkenntnis ein nicht begründbarer Schritt.

Wir haben fast fünf Millionen Arbeitslose, und die traditionellen Konzepte von Beruf und Arbeit, die für das Selbstverständnis des modernen Menschen so wichtig sind, werden einen erheblichen Wandel erfahren. Die Lösung dieser Probleme kann nicht im „Paradigma der Industriegesellschaft gelingen“ sondern „was wir brauchen, sind soziale Innovationen vom Kaliber der bisherigen technischen.“ (H.G. Danielmeyer). Eine erstaunliche Feststellung eines technischen Physikers.

Die ständig zunehmende Innovationsgeschwindigkeit führt zu einer zunehmenden Verknappung der Zeit und einem sich steigernden Leistungsdruck. Dies führt an biologische Grenzen, sofern wir den Menschen nicht biologisch »härten«, sprich genetisch »verbessern« wollen. Wenn ich mich umschaue, sehe ich nur den »Wettlauf der Besessenen«. Nichts scheut offensichtlich der moderne Mensch mehr als die Ruhe, in der er nachdenken könnte. Alles muß schneller gehen. Der vermeintlichen Macht der Fakten folgen alle in blindem Gehorsam – und unsere technokratischen Eliten verkaufen dies als Fortschritt. Die gewaltsame Veränderung der Welt mit Hilfe der Technik verschlingt den Sinn des Lebens! Streben wir die Bewußtlosigkeit an?

Der von den Menschen in den letzten Jahrhunderten in Gang gesetzte Energieverbrauch ist ökologisch nicht nachhaltig. Auch die viel gepriesene Globalisierung ist es nicht. Ein Produkt einmal um die Erde zu schiffen, nur um Standortvorteile auszunutzen, ist nur möglich, wenn wir die Transportkosten externalisieren, d.h. die Kosten der nächsten Generation aufhalsen. Wir verursachen Klimaveränderung, deren Folgen nicht zu überblicken sind. Kurz: Wir können uns den technischen Fortschritt nicht mehr leisten. Dies wird auch deutlich, wenn man die Kosten unseres Gesundheitssystems betrachtet. Es wird unendlich viel Geld kosten, das ewige Leben zu verwirklichen. Ganz abgesehen davon, daß wir dann diskutieren müßten, wie nah ein jeder (arm oder reich) ihm kommen darf.

Das sind einige Gründe dafür, warum das Interesse an Technik zurückgehen wird. Die meisten Naturwissenschaftler versperren sich diesen Anzeichen – mit der wahrscheinlichen Folge, daß es zu einer massiven »Expertenvertreibung« kommen wird.

Epilog: Ein Leben ohne Götter

Der heutige Mensch versäumt sein Leben. Die Technik ist ein Mittel für die Flucht vorm Leben. Aus Angst vor dem Sterben entscheiden wir uns für das Unbelebte, gegen das stets vergängliche Leben. Womit beschäftigt sich das moderne Leben? Um mit W. Siebeck (Stichwort: gutes Kochen) zu sprechen: „Mit Lesen von Gebrauchsanleitungen und mit Blutdruckmessen.“ Oder mit K. Jaspers: „Das Denken unserer Zeit orientiert sich überall, auch wo nichts mehr zu »machen« ist, am »Machen«.“ Im Totalwerden der Technisierung triumphiert der nichtsprachliche Zugang zur Welt – Kritik kann nicht mehr greifen. Ohnmächtig geworden schmiegt sich der Mensch an seine Artefakte und vollendet den Zweck der Technisierung: die Befreiung der Kreatur vom Bewußtsein (vgl. A. Hutter).

Die neuzeitliche Geisteshaltung in Form des naturwissenschaftlichen Denkens und der kapitalistischen Gesinnung funktioniert lokal, eröffnet aber immer neue, globale Sachzwänge. Aber „die Zukunft hängt von unseren Leidenschaften ab, nicht von unseren Berechnungen.“ (D. de Rougemont) Dies nicht zu sehen, ist der fundamentale Irrtum der Naturwissenschaftler. Die Neutralität des wissenschaftlichen Sachverstandes ist eine Fiktion, so wie es auch keine neutralen Werkzeuge gibt. Die ökologischen Folgen dieser Haltung werden den Traum der Neuzeit jäh beenden.

Noch einmal Rougemont: „Der Sieg der Technik ist ein Pyrrhussieg. Er gibt uns eine Freiheit, derer wir nicht mehr würdig sind. Indem wir sie erwerben, verlieren wir, durch die Bemühung um sie, gerade die Kräfte, die sie uns wünschen ließen…. In dem Moment, in dem er die Ziele, die seine Zivilisation seit beinahe zwei Jahrhunderten verfolgt, erreicht, wird der Mensch des Abendlandes von einem sonderbaren Unbehagen gepackt. Es blitzt der Verdacht auf, daß in seinen Zielen vielleicht eine grundlegende Absurdität steckte… Eine ganze Epoche hat sich geirrt.“

Die Zukunft braucht also keine Naturwissenschaft bzw. wer die Naturwissenschaft retten will, muß auf die heutige Technisierung verzichten, und wer die Zukunft gewinnen will, muß ganz andere Wege gehen. Vor diesem Hintergrund bekenne ich mich zu einer Technikfeindlichkeit. Am Ende des zweiten Jahrtausend nach Christi steht uns ein großer kultureller Umbruch bevor: human zu sein ohne Hilfe von Göttern, endlich am Ende einer langen Zeit großer und schmerzreicher Verirrungen.

Dr. Ernst Rößler ist Professor für Experimentalphysik an der Universität Bayreuth und Mitglied des Beirates der Naturwissenschaftler-Initiative.

3. Internationale Tagung des INESAP

3. Internationale Tagung des INESAP

von Martin Kalinowski

Das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) hielt seine dritte internationale Tagung dieses Jahr vom 8. bis 10. September in Shanghai ab. Der lokale Gastgeber war Prof. Dingli Shen vom Center of American Studies der Fudan Universität. Die inhaltliche Vorbereitung und die Einladung der internationalen Gäste wurden von der Forschungsgruppe IANUS der TH Darmstadt durchgeführt, von wo aus INESAP im Jahre 1993 ins Leben gerufen worden war. Im vergangenen Jahr traf sich das Netzwerk in Götheborg, im kommenden Jahr ist Jordanien das Gastgeberland.

Die diesjährige INESAP-Tagung war die erste internationale Konferenz in China, die sich speziell mit Kernwaffen und Trägersystemen befaßt hat. Die Begegnung von 30 internationalen Gästen mit 20 chinesischen Abrüstungsexperten ermöglichte ein besseres Verständnis für Abrüstungsoptionen, die von dem Reich der Mitte mitgetragen werden können. Immerhin ist China der einzige Kernwaffenstaat, der sich für die Aushandlung einer Kernwaffenkonvention ausspricht, mit der alle Kernwaffen verboten und abgerüstet werden sollen. An einem Modellentwurf für eine solche Konvention haben Wissenschaftler von IANUS maßgeblich mitgewirkt und in China mit Experten aus 20 Ländern diskutiert.

Allerdings wird das Ziel der endgültigen Abschaffung von Kernwaffen von einigen chinesischen Experten weit in der Zukunft verortet. Demnach seien noch weitere 50 Jahre für den vollständigen Abrüstungsprozeß notwendig. Die meisten chinesischen Experten machten deutlich, daß China erst dann wesentliche Abrüstungsschritte unternehmen werde, wenn die beiden Länder mit den deutlich größten nuklearen Arsenalen mit ihrer Reduktion weit vorangeschritten seien. Die bedeutendste Maßnahme, zu der China sofort bereit ist, und die China seit langer Zeit von den anderen Kernwaffenstaaten ohne den geringsten Erfolg einfordert, ist eine gemeinsame vertragliche Zusicherung, daß kein Land als erstes Kernwaffen einsetzen wird (No-First-Use Treaty). Den »Umfassenden Teststoppvertrag« (CTBT) hat China unterzeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. Zu bestimmten weiteren Schritten ist von chinesischer Seite wenig zu vernehmen.

Die offizielle chinesische Begründung für diese starke Zurückhaltung war auch auf der INESAP Tagung immer wieder zu hören. Demnach hat sich China in der Vergangenheit äußerste Zurückhaltung im eigenen Kernwaffenprogramm auferlegt. Ob der Umfang und die Qualität des chinesischen Kernwaffenarsenals nicht auch durch technische und ökonomische Randbedingungen begrenzt worden war, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, daß China ähnlich wie England und Frankreich nur rund 400 Kernwaffen im aktiven Arsenal unterhält und damit weit geringere Bestände hat als die USA und Rußland, die auch nach der Realisierung von START II bis zum Jahre 2004 noch fast zehnmal so viele strategische Kernwaffen im aktiven Arsenal besitzen werden.

Einige chinesische Fachleute weisen daraufhin, daß das derzeitige chinesische Arsenal ein Minimum darstelle, das in keiner Weise durch Einzelmaßnahmen in einem schrittweisen Abrüstungsprozeß angetastet werden dürfe. Dies wird damit begründet, daß China für eine überzeugende nukleare Abschreckung über ein hinreichend großes Arsenal verfügen müsse, um die sogenannte Zweitschlagfähigkeit zu bewahren. So wird die Bedeutung der chinesischen Unterstützung für Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention deutlich. China zeigt sich zum radikalen Schritt auf Null bereit und erwartet, daß er von allen Kernwaffenländern gleichzeitig getan wird.

Eine solche Position könnte es China schwer machen, in der Zukunft guten Willen zu demonstrieren und aktive Schritte zur vollständigen Abrüstung von Kernwaffen mitzutragen. Auf der INESAP Tagung wurde jedoch deutlich, daß auch China wichtige Schritte mittragen kann, wenn nämlich in Zukunft mehr Gewicht auf qualitative Abrüstung als Ergänzung zu quantitativen Reduktionen gelegt wird. Unter dem Begriff der qualitativen Abrüstung werden alle Maßnahmen zusammengefaßt, mit denen die Gefahr durch die vorhandenen Arsenale reduziert wird. Dazu gehört die Löschung von Zielkoordinaten in Computern und andere Maßnahmen zur Einschränkung der Alarmbereitschaft und der Möglichkeit bzw. Gefahr eines Einsatzes ohne Vorwarnung bzw. aus Versehen. Weitere technische Vorschläge betreffen die Trennung von Sprengköpfen und Trägersystemen, eine international überwachte Lagerung der Kernwaffen und die Nichtauffrischung von zerfallenem Tritium. Politische Maßnahmen der qualitativen Abrüstung liegen in der Schaffung und Ausdehnung von kernwaffenfreien Zonen und im Abzug von Kernwaffen aus verbündeten Nichtkernwaffenstaaten. Auch der chinesische Vorschlag zu einem Vertrag über den Nichtersteinsatz gehört in diese Kategorie.

Hinter qualitativer Abrüstung kann sich durchaus eine erfolgversprechende Abrüstungsstrategie verbergen, die gelegentlich als Marginalisierung von Kernwaffen bezeichnet wird. Wenn die reale Einsatzfähigkeit und die Legitimität von Kernwaffen stark eingeschränkt ist, werden Militärs und Politiker diesen Waffen nur noch derart wenig Gewicht beimessen können, daß sie sich davon überzeugen lassen werden, diese Waffen seien auch gänzlich verzichtbar und könnten somit abgeschafft werden.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt

Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

Internationales Workshop des BITS: »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit«

von Oliver Meier

Am 17. und 18. Oktober haben mehr als 50 ExpertInnen aus den USA, Rußland und anderen europäischen Staaten in Berlin über »Das Nukleare Erbe der Sowjetunion: Folgen für Umwelt und Sicherheit« beraten. Das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) hatte den internationalen Workshop in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert, um den Umgang mit den nuklearen Altlasten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR aus umwelt-und sicherheitspolitischer Sicht zu diskutieren.

Die TeilnehmerInnen nahmen zunächst eine Bestandsaufnahme der ökologischen Probleme und der Lage der Atomwaffen vor. Die ReferentInnen aus Deutschland, Norwegen und den USA sowie Vitaly Shelest (Berater der russischen Duma) stellten einmütig fest, daß die sichere Verwahrung von Atommüll und Sprengköpfen nicht gewährleistet ist und immer noch dringender Handlungsbedarf besteht. Alexander Nikitin (Direktor des Center for Political and International Studies in Moskau) und Igor Sutyagin (USA and Canada Institut, Moskau) verdeutlichten anschließend, daß außerdem die Gefahr einer Wiederaufwertung von Atomwaffen droht.

Danach evaluierten die TeilnehmerInnen die vorhandenen internationalen Hilfsprogramme. Auch sechs Jahre nach dem Ende der Sowjetunion bestehen erhebliche Defizite bei der Umsetzung solcher Hilfsprogramme. Dies liegt zum einen an den politischen Strukturen in Rußland selbst, wie Ulrich Albrecht von der Freien Universität darlegte. Phil Rogers von der Central European University in Budapest untermauerte diese These indem er schilderte, daß Bürgerbewegungen nur sehr begrenzten Einfluß auf die Politik der Regierung hätten.

Zum anderen werden internationale Hilfsprogramme häufig am eigentlichen Bedarf in Rußland vorbei geplant. In den USA drohen die Mittel zudem der innenpolitischen Auseinandersetzung über den richtigen Kurs gegenüber Rußland zum Opfer zu fallen, wie Jo Husbands von der amerikanischen Akademie der Wissenschaften beklagte. Annette Schaper von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bewertete anschließend die von ihrem Umfang her wesentlich bescheideneren Hilfsprogramme der Europäischen Union.

Defizite wurden auch in der nuklearen Abrüstungspolitik konstatiert. Botschafter a.D. Thomas Graham mahnte die Nuklearwaffenstaaten, ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung ernster zu nehmen und forderte, endgültig auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten. Diskutiert wurde dann unter anderem, wie die Gefahr eines versehentlichen Abschusses von Atomwaffen oder eines Unfalls verringert werden kann. In der Abschlußdiskussion wurden Alternativen zu den bestehenden Politikansätzen erörtert. Dabei wurde klar, daß es dringend einer engeren Verknüpfung von sicherheits- und umweltpolitischen Fragestellungen bei der Konzipierung von Hilfsprogrammen bedarf.

Einen stimmungsgerechten Ausklang der Tagung erlebten die Teilnehmer bei einem gemeinsamen Ausflug zu einem ehemaligen sowjetischen Atomwaffenlager in der Nähe von Berlin.

Ein Konferenzreader mit den Beiträgen der ReferentInnen kann gegen einen Unkostenbeitrag bestellt werden über das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS), Rykestr. 13, 10405 Berlin, Tel.: (030) 441 0220, FAX (020) 441 0221, e-mail: meier@zedat.fu-berlin.de

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) und Lehrbeauftragter am Fachbereich Politische Wissenschaften der FU Berlin.

Offener Himmel über Bosnien

Offener Himmel über Bosnien

Politische Perspektiven und technische Optionen

von Hartwig Spitzer

Die Idee des offenen Himmels ist einfach und zukunftsweisend zugleich. Jedes beteiligte Land öffnet seinen gesamten Luftraum für Bildüberflüge der anderen Seite und zeigt damit, daß es nichts zu verbergen hat. Die Flüge werden kooperativ durchgeführt. Kopien der aufgenommenen Luftbilder stehen allen beteiligten Staaten zur Verfügung. All das trägt dazu bei, daß Vertrauen durch Offenheit und Transparenz auf Regierungsebene gestärkt wird – im Gegensatz zur Praxis beim Umgang mit den Bildern militärischer Aufklärungssatelliten.

Ungarn und Rumänien haben sich bereits 1991 auf ein gegenseitiges Open-Skies-Abkommen verständigt. Seit 1992 werden jährlich je drei bis vier gegenseitige Überflüge von militärischen und anderen Einrichtungen durchgeführt. Die Militärs beider Länder schauen sich also auch nach der Wende gegenseitig in die Karten: Die Flüge haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen beider Länder niemals bis auf die militärische Ebene eskalierten, sondern eher abgebaut wurden.

Parallel dazu ist von 1990 bis 1992 ein multilateraler Open-Skies-Vertrag ausgehandelt worden. Dem Vertrag sind inzwischen 27 Staaten beigetreten, darunter alle 16 NATO-Staaten (nach dem Stand von 1992), sowie Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Georgien und Kirgistan. Bemerkenswert ist dabei, daß praktisch das ganze Gebiet der Teilnehmerstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für Beobachtungsflüge offen ist. Anfangs kommen fotografische und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 cm zum Einsatz, später auch Wärmebildkameras und Radarbildsysteme. Damit läßt sich unverdecktes, großes militärisches Gebiet dem Typ nach ohne weiteres erkennen.

Der Vertrag ist allerdings noch nicht in Kraft, weil die Ratifizierung durch die Parlamente in Moskau, Kiew und Minsk noch aussteht. Trotzdem wurden bereits zahlreiche bilaterale Versuchsflüge durchgeführt. Deutschland hat als einziges westliches Land 1995 einen Beobachtungsflug über Sibirien mit einer Gesamtlänge von 6 500 km durchgeführt.

Open-Skies für Bosnien

Einer der Väter der beiden Open-Skies-Verträge ist der ungarische Botschafter Marton Krasznai. Krasznai wurde 1996 zum persönlichen Beauftragten des Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Umsetzung von Teilbereichen des Dayton-Abkommens in Bosnien ernannt. Das Dayton-Abkommen verpflichtet die drei bosnischen »Parteien« zu einer Bekanntgabe und Begrenzung der Bestände ihrer konventionellen Waffensysteme. Die OSZE hat seit 1996 zahlreiche Vor-Ort-Inspektionen organisiert, bei denen Militärvertreter der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten die deklarierten Militärstandorte der jeweils anderen Seiten inspizieren. Mitarbeiter der OSZE müssen dabei die Vertreter der drei Parteien durch das geteilte Land eskortieren. Denn ein bosnisch-serbischer Offizier wagt es heute (trotz der vereinbarten Bewegungsfreiheit) immer noch nicht, im eigenen Wagen in die nichtserbischen Landesteile zu fahren.

Das Dayton-Abkommen sieht zusätzlich weitere vertrauensbildende Maßnahmen auf freiwilliger Basis vor. Botschafter Krasznai brachte nun die Idee eines offenen Himmels über Bosnien ins Spiel. Mit diplomatischem Geschick wurde ein schrittweises Vorgehen inszeniert. Zunächst wurden im Oktober 1996 Militärvertreter der drei bosnischen Parteien, aber auch aus Zagreb und Belgrad zu einem amerikanisch-ungarischen Open-Skies-Übungsflug über Ungarn eingeladen. Ich hatte Gelegenheit, an diesem Flug teilzunehmen. Das viertägige Programm bot viele gute Gelegenheiten für praktische Erfahrungen und informelle Kontakte zwischen den verschiedenen Parteien.

Als nächstes hat die OSZE im Februar dieses Jahres ein zweitägiges Seminar in Sarajevo durchgeführt. Thema waren regionale vertrauensbildende Maßnahmen und die Praxis des offenen Himmels. Die politischen und militärischen Führungen der drei bosnischen Parteien sowie die Regierungen in Belgrad und Zagreb waren durch hochrangige Delegationen vertreten. Die Idee des offenen Himmels begann Fuß zu fassen. Die Parteien sehen dabei natürlich zunächst ihre eigenen Interessen. Denn der Luftraum über Bosnien ist für militärische Flüge und damit auch für Bildflüge der drei Parteien weiterhin gesperrt.

Der erste Vorführflug

Im März haben sich dann Ungarn und Rumänien darauf verständigt, einen gemeinsamen Open-Skies-Vorführflug über Bosnien anzubieten. Das Angebot ging formal an die Regierung der Republik von Bosnien und Herzegowina. Aber erst nach komplizierten Verhandlungen mit den Militärführungen der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten konnte eine Einigung erzielt werden. Die SFOR, die den Luftraum über Bosnien kontrolliert, gab ebenfalls ihre Einwilligung und Unterstützung.

Im Juni war es dann so weit. Das ungarische Open-Skies-Flugzeug landete bei bestem Sommerwetter in Sarajevo. Das Flugteam wurde von einer stattlichen Zahl internationaler Beobachter, Pressevertreter und Militärs aus den drei bosnischen Kantonen empfangen.

Der Einflug nach Sarajevo hat immer noch etwas Atemberaubendes. Südlich des Flughafens ragen hohe Berge in den Himmel. Vor zwei Jahren schossen von dort noch die Geschütze. Auf der anderen Seite des Flughafens liegt das total zerschossene Olympia-Dorf fast leblos da. Der Flughafen gleicht mit Stacheldrahtverhauen und Behelfsbauten eher einem Militärlager. Irgendwo auf der Ankunftsbaracke weht eine Trikolore, und ein handbemaltes Schild zeigt eine »Rue des Champs Elysées« an. Im babylonischen Sprachengewirr der an- und abreisenden SFOR-Truppen sorgen französische Militärpolizisten für Ordnung.

Die internationalen Beobachter wurden teils im serbischen Kanton, teils im kroatischen Kanton untergebracht. Ich fuhr mit nach Kiseljak im bosnisch-kroatischen Teil, eine Autostunde von Sarajevo entfernt. In dem üppig grünen Tal und seinen ansehnlichen Ortschaften konnte man kaum Kriegsspuren entdecken. Erst als ich mich in Kiseljak genauer umsah, entdeckte ich eine zerstörte Moschee und eine abgesperrte orthodoxe Kirche. Vor dem Krieg machten die Kroaten hier 52 Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es 95 Prozent.

Im Hotel war für uns eine martialische Bewachung aufgezogen. Auf jeder Etage standen Tag und Nacht zwei Soldaten der bosnisch-kroatischen Armee (HVO). Das war offensichtlich als Machtdemonstration gedacht. Denn aus Sicherheitsgründen wäre es nicht nötig gewesen. Die bosnisch-kroatische Armee ist zwar die kleinste im ganzen Land, sie scheint aber am besten ausgerüstet zu sein und am besten bezahlt zu werden. Ein Sergeant erzählte mir, daß er 1200 Mark im Monat verdiene, weit mehr als die ungarischen und rumänischen Offiziere im Open-Skies-Team. Die muslimischen und serbischen Landesteile und ihre Armeen haben dagegen massive Finanzierungsprobleme.

An den beiden folgenden Tagen wurde dann je ein Bildflug durchgeführt. An Bord waren Vertreter der bosnischen Parteien und internationale Beobachter. Die SFOR hatte aus Sicherheitsgründen eine Flughöhe von 5000 Metern vorgeschrieben. Der Flug führte über Mostar und Tuzla auf einer Gesamtlänge von 800 Kilometern. Die vereinbarten Fotoziele waren vier Militärstandorte im muslimischen Kanton, drei im serbischen und zwei im kroatischen. Durch eine Mehrfach-Aufnahmetechnik konnten mehrere Bilder derselben Objekte aufgenommen werden. Am Ende erhielten der Staat Bosnien-Herzegowina und die Militärführungen der drei Parteien je einen Bildsatz. Das heißt, jeder weiß, was der andere sieht. Abschließend fand ein Empfang im Dom Armija statt, einem Offiziersclub mit üppigen Fresken, die noch aus der Zeit der österreichischen Herrschaft stammen. Dabei war zu spüren, wie sich die Atmosphäre – trotz tiefer Gegensätze in anderen Fragen – gelockert hatte.

Weitere Flüge

In den folgenden Monaten fanden zwei Open-Skies-Flüge über Bosnien statt. Deutschland hatte schon früh Interesse gezeigt. Nach dem Erfolg des ungarisch-rumänischen Fluges wurde ein Flugtermin für Ende August vereinbart. Der Flug führte von Split auf einer Zick-Zack-Route praktisch über jeden Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Es wurden insgesamt 120 Orte fotografiert – davon die Hälfte mit ausschließlich zivilen Anlagen. Die Zielgebiete waren von den Konfliktparteien selbst vorgeschlagen und abgestimmt worden. Jede der Parteien erhielt einen kompletten Satz von Bildkopien. Deutschland behielt die Originale.

Mit dem deutschen Flug ist eine neue Qualität erreicht worden. Die Bilder haben nicht nur symbolischen Charakter, sondern – dank guter Qualität (Bodenauflösung ca. 30 cm) und großer Zahl der Zielgebiete – operationellen Nutzen für die beteiligten bosnischen Parteien. Die Bilder der zivilen Anlagen sollten auch dem zivilen Wiederaufbau und der Regionalplanung zugute kommen.

Der jüngste Flug über Bosnien wurde am 5. und 6. November 1997 gemeinsam von den USA und Rußland mit einer russischen Maschine vom Typ Antonov-30 durchgeführt. Dieser Flug unterstrich auch die Kooperationsbereitschaft der beiden Mächte bei der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Bosnien.

Ratifzierungsaussichten

Die Aussichten für eine baldige Ratifizierung des multilateralen Open-Skies-Vertrages durch die russische Duma sind inzwischen deutlich gestiegen. Auch kommunistische und nationalistische Duma-Abgeordnete haben begriffen, daß die Aufklärungmöglichkeiten durch Open-Skies-Flüge angesichts der NATO-Osterweiterung im ureigensten russischen Interesse liegen. Bereits im Sommer dieses Jahres konnten Duma-Abgeordnete an einem russischen Open-Skies-Probeflug in den USA teilnehmen und den kooperativen Charakter des Vertrages persönlich kennenlernen. Im September dieses Jahres wurde das Ratifizierungsverfahren in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses der Duma begonnen. Nach der Ratifizierung des Chemiewaffenabkommens durch beide Häuser des russischen Parlamentes, die Ende Oktober erfolgte, wird nun bis zum Jahresende mit einer Ratifizierung des Open-Skies-Vertrages durch die Duma gerechnet. Dem dürften sich dann die Parlamente in Kiew und Minsk relativ bald anschließen, so daß der Vertrag im Jahre 1998 endlich in Kraft treten kann.

Ein tragischer Absturz

In diese insgesamt positive Entwicklung platzte eine Schreckensnachricht. Das deutsche Open-Skies-Flugzeug kollidierte am 13. September 1997 – einen Tag nach einem erfolgreichen Probeflug über Nordrußland (Gebiet um Archangelsk) – über dem Südatlantik vor der Küste Angolas mit einem amerikanischen Militärflugzeug. Durch den Zusammenstoß in großer Höhe wurden alle 24 Insassen in den Tod gerissen. Das Flugzeug war übrigens nicht auf einer Open-Skies-Mission, sondern führte einen Personenflug der Flugbereitschaft der Luftwaffe nach Südafrika aus. Im Verteidigungsministerium werden jetzt verschiedene Varianten für eine Fortführung des deutschen Open-Skies-Programmes geprüft. Wenn das Geld reicht, spricht einiges dafür, eine zweite Tupolev 154 der Luftwaffe, die zur Zeit außer Betrieb gestellt ist, für Open-Skies-Zwecke umzubauen.

Perspektiven für Bosnien

Vertrauensbildung in Bosnien-Herzegowina: Reichen Rüstungskontrolle und die Friedensarbeit ziviler Organisationen aus, um den Weg zu einem dauerhaften Frieden zu ebnen? Wir wissen es nicht. Zu groß sind die geschlagenen Wunden und der wirtschaftliche Niedergang in vielen Landesteilen. Skeptiker verweisen mit Recht auf das Scheitern der im Dayton-Abkommen vereinbarten Integrationspolitik. Demgegenüber steht das aktive Interesse der drei Konfliktparteien an Rüstungskontrollmaßnahmen und Garantien, die – wie Open-Skies – einen Wiederausbruch der Feindseligkeiten verhindern oder zumindestens unwahrscheinlich machen sollen. Auch scheint die Strategie von OSZE und SFOR zur allmählichen Zurückdrängung von Hardlinern und Kriegsverbrechern gewisse Erfolge zu zeigen. Alle Beteiligten, mit denen ich sprach, können sich ein Einhalten des Waffenstillstandes nur bei längerfristiger Anwesenheit einer schlagkräftigen Truppe wie der SFOR vorstellen. Tenor: „Der Westen muß uns helfen, sonst bleiben wir ein Problem für Europa“. Ein nächster logischer Schritt wäre es, die Open-Skies-Praxis in Bosnien-Herzegowina durch ein Abkommen oder Protokoll auf eine festere legale Basis zu stellen. Entsprechende Gespräche haben bereits begonnen. Ebenso wichtig werden der wirtschaftliche Wiederaufbau und die zivile Versöhnungsarbeit sein, um Haß, Angst und Hilflosigkeit in Eigenverantwortung und Akzeptanz zu verwandeln.

Professor Dr. Hartwig Spitzer leitet die Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit an der Universität Hamburg

Deutschland und die Atomwaffen

Deutschland und die Atomwaffen

Konferenz 40 Jahre nach dem Göttinger Appell

von Jürgen Scheffran

Einige hundert Teilnehmer hatten am 11. April 1997 den Weg ins Audimax der Ludwig-Maximilian-Universität in München gefunden, um drei Physikern die Reverenz zu erweisen. Anlaß war der 40. Jahrestag der Göttinger Erklärung von 18 Atomwissenschaftlern gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik, die im April 1957 für Furore gesorgt hatte. Carl-Friedrich von Weizsäcker, der die Erklärung seinerzeit initiiert hatte, konnte eindrücklich von den z.T. heftigen Reaktionen der Adenauer-Regierung berichten, wobei der damalige Atomminister Franz-Josef Strauß vor Kraftausdrücken gegenüber den Größen der Physik wie Otto Hahn und Werner Heisenberg nicht zurückschreckte. Es half aber alles nichts: Der Besitz der Atombombe blieb deutschen Politikern vorenthalten.

Zweifellos konnte der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1970 Deutschland und Japan die Verfügung über Atomwaffen verweigern, doch ist der Vertrag auf lange Sicht nicht geeignet, die Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern, geschweige denn, diese abzuschaffen, solange den fünf Atommächten ein Sonderstatus eingeräumt bleibt. Dies machte, Joseph Rotblat, Pugwash-Präsident und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1995, deutlich. Er verwies auf zahlreiche Bestrebungen für eine atomwaffenfreie Welt aus der jüngsten Zeit und zeigte, daß erste Schritte unverzüglich eingeleitet werden können. Rotblat unterstützte die Bemühungen um den Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention, der nur vier Tage zuvor bei der Vorbereitungskonferenz zum NVV in New York von einem Komitee von Nichtregierungsorganisationen (NROs) vorgestellt worden war, wobei er den Beitrag deutscher Wissenschaftler hervorhob. Er betonte, wie auch schon am Tag zuvor bei einem von IANUS organisierten Vortrag an der Technischen Hochschule Darmstadt, daß die Abschaffung der Atomwaffen ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Abschaffung des Krieges sei.

Hans-Peter Dürr, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), forderte schließlich dazu auf, mit dem atomaren Wahnsinn Schluß zu machen, der Ausdruck eines rücksichtslosen Umgangs mit Mensch und Natur sei. Vehement setzte er sich für ein Ende des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs ein und forderte eine Umkehr in Richtung auf eine friedliche und nachhaltige Entwicklung.

Die öffentliche Veranstaltung, die neben der VDW und der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« von international agierenden NROs (IALANA, INESAP, IPPNW) und dem Münchner Friedensbündnis organisiert worden war, diente zugleich als Auftakt für eine zweitägige Konferenz »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!«, an der mehr als 150 Menschen teilnahmen. Während Vorträge und Diskussionen Samstag- und Sonntagvormittag im Plenum durchgeführt wurden, wurde am Samstagnachmittag in fünf Arbeitsgruppen diskutiert.

Es zeigte sich, daß die Konferenz gerade zur rechten Zeit stattfand. Bezüge zur Situation vor vier Jahrzehnten waren nicht zu übersehen. Während es damals um die Atombewaffnung der Bundeswehr ging, nachdem die Remilitarisierung bereits politisch durchgesetzt war, geht es heute um die Frage, ob Deutschland eine größere Verfügungsgewalt über Atomwaffen erlangen soll, nachdem Auslandseinsätze der Bundeswehr inzwischen von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden. So ging es in München dann auch um die Frage, wie deutsche Zugriffe auf die Atombombe verhindert werden können, etwa in der NATO und einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie etwa in der deutsch-französischen Erklärung vom 9. Dezember 1996 vorgedacht wurde.

Verschiedene Vorschläge wurden diskutiert, von Protestaktionen an Atomwaffenstandorten (Büchel), über atomwaffenfreie Zonen und Kommunen in Europa bis hin zum globalen Konzept einer Nuklearwaffenkonvention. Besondere Beachtung fanden die von Renate Reupke (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms, IALANA) vorgestellten »Zeichen der Ermutigung«, die vom Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Illegalität der Atomwaffen über neue atomwaffenfreie Zonen und den Atomwaffenteststopp bis zum globalen Netzwerk Abolition-2000 und den UNO-Resolution für eine Nuklearwaffenkonvention reichten. Der niederländische Brigadegeneral Henny van der Graaf war eingeladen worden, um von der Erklärung der Generäle für die Abschaffung der Atomwaffen zu berichten, die in NATO-Kreisen für Unruhe sorgt.

Um den politischen Impuls für die Abschaffung der Atomwaffen zu verstärken, wurden in der abschließenden Podiumsdiskussion Handlungsperspektiven aus deutscher Sicht diskutiert, wobei neben FriedensaktivistInnen auch zwei Politikerinnen zu Wort kamen. Während Uta Zapf (SPD) vorschlug, sich Schritt-für-Schritt der atomwaffenfreien Welt zu nähern, machte sich Angelika Beer (Bündnis 90/Die Grünen) für den umfassenden Ansatz einer Nuklearwaffenkonvention stark. In der Diskussion wurde betont, hier keine künstlichen Gegensätze enstehen zu lassen; Verhandlungen über einer Nuklearwaffenkonvention könnten dazu dienen, bereits mögliche Einzelmaßnahmen zu realisieren und so »schrittweise« und »umfassende Ansätze« zu verbinden. Die Abschlußerklärung des Kongresses (siehe blaue Seiten) forderte, in Anknüpfung an den Göttinger Appell, u.a. den Ausstieg Deutschlands aus der Atomwaffenstrategie der NATO, den Abzug der Atomwaffen von deutschem Boden und den Abschluß einer Atomwaffenkonvention.

Der Bezug zur Region München wurde an zwei Punkten deutlich. Zum einen hatten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) die Konferenz dazu genutzt, ihre Studie über die Möglichkeiten und Folgen von Atomwaffeneinsätzen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Feststellung, der Abwurf einer relativ »kleinen« Uranbombe vom Hiroshima-Typ auf die Münchner Innenstadt würde bereits am ersten Tag 28.000 Menschenleben kosten, rief in Erinnerung, was zu Hochzeiten der Friedensbewegung Gemeingut war. Daß das für Bombenzwecke nutzbare waffentaugliche Uran direkt vor den Toren Münchens im Garchinger Forschungsreaktor eingesetzt wird, war Anlaß für eine Demonstration in der Münchner Innenstadt. Bei der Kundgebung, die die zivil-militärische Verflechtung der Atomtechnologie zum Gegenstand hatte, wurde eine Torte verspeist, die als Geschenk zum 150. Geburtstag von Siemens gedacht war, dem Betreiber des Garchinger Reaktors. Bei der Gelegenheit wurde die Aufforderung zum Siemensboykott erneuert.

Daß die Tagung ein wichtiger Beitrag war, um die Atomwaffenproblematik bundesweit aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, zeigte sich insbesondere am unerwartet großen Medienecho. Der Pressespiegel enthält mehr als 100 Artikel in der regionalen und überregionalen Presse, hinzu kommen Berichte in Fernsehen (Tagesschau) und Radio. Mit diesem Wind im Rücken könnte es gelingen, das der Atomwaffenfrage zustehende öffentliche Interesse erneut zu wecken, wenn weitere Aktivitäten auf kommunaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene folgen. Künftige Kristallisationspunkte sind etwa die Jahrestage von Hiroshima und Nagasaki, der erste Jahrestag des IGH-Gutachtens am 8.Juli, an dem zugleich der NATO-Gipfel in Madrid stattfindet, sowie die am 13.-15. Juni im Friedenszentrum Burgschlaining in Österreich stattfindende NGO-Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa. In einer weltweiten Bewegung für die Abschaffung der Atomwaffen liegt die einmalige Chance, die weiter bestehende atomare Bedrohung zur Jahrtausendwende endgültig zu beseitigen.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Assistent in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der Technischen Hochschule Darmstadt und Herausgeber des INESAP Information Bulletin.

Nachhaltige Nutzung intellektueller Ressourcen – Projekt an der Uni Dortmund

Nachhaltige Nutzung intellektueller Ressourcen – Projekt an der Uni Dortmund

von Jörn Birkmann

Nachhaltige Entwicklung! Der heute tausendfach vervielfachte und in allen erdenklichen Zusammenhängen verwendete und mißbrauchte Begriff ist abgedroschen wie kaum ein anderer. Und doch lohnt es sich, diesen Begriff zu konkretisieren und auf den eigenen Lebensraum anzuwenden, meinen die rund 30 Studierenden und 15 WissenschaftlerInnen, die das Projekt »Nachhaltige Uni DO« gestartet haben. Ein interdisziplinäres Projekt mit dem Ziel, nicht nur über das heare Anliegen zu reden, sondern mit konkreten Fakten, Zahlen und ersten Schritten aufzuzeigen, was »Nachhaltigkeit« für die Uni Dortmund bedeuten könnte.

Mit der Agenda 21, einem Beschlußdokument der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung vom Juni 1992 in Rio de Janeiro, werden die Unterzeichnerstaaten, und insbesondere die Städte und Gemeinden, aufgefordert, ihren Beitrag zur Entwicklung einer zukunftsverträglichen Wirtschafts- und Lebensweise zu leisten. Der Koordinationskreis »Nachhaltige Uni DO« geht davon aus, daß damit auch die Hochschulen aufgerufen sind, an diesem Prozeß gestaltend mitzuwirken. Gestärkt wurde der Koordinationskreis in dieser Ansicht durch einen ähnlichen Modellversuch an der ETH Zürich, der wichtige Hinweise für die Initiierung und Durchführung des Projektes gab, sowie durch die Tatsache, daß die Universität Dortmund mit 200 anderen europäischen Hochschulen die »University Charta for Sustainable Development« der europäischen Hochschulrektorenkonferenz unterschrieben hat.

Nach Ansicht der InitiatorInnen kamen aus den Hochschulen in den letzten Jahren wenig Impulse zur Lösung globaler Umweltprobleme. Die kontinuierliche Technikgläubigkeit und das Beharren in Einzeldisziplinen haben daran einen nicht unwesentlichen Anteil (vgl. Becker Wehling; 1993). Eine Kursänderung in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung verlangt auch ein neues Rollenverständnis der Wissenschaftler und ihrer Institutionen. Es reicht nicht, zukünftige InformatikerInnnen nur auf Bits und Bytes und angehende BWLerInnen nur auf Dax und Dollar zu trimmen. Die Komplexität der globalen Umweltkrise macht interdisziplinäre Lösungsansätze unumgänglich. Studierende wie auch WissenschaftlerInnen müssen dazu ihre disziplinären Methoden und Denkweisen mit anderen Disziplinen zusammen bringen und ihren unterschiedlichen Zugriff auf die Wirklichkeit zur Diskussion stellen (vgl. Huber, 1994).

Zum Projekt selbst

Ende des Sommersemesters luden Studierende (AStA) mit Unterstützung des Instituts für Umweltforschung (INFU) der Universität Dortmund interessierte Studierende und WissenschaftlerInnen zu einem Workshop ein. Ziel war es, konkrete Vorschläge für Studienarbeiten zum Thema nachhaltige Entwicklung zu entwickeln, die interdisziplinär betreut und bearbeitbar waren. Mitte Oktober konnten die interdisziplinären Fragestellungen zum Thema »Nachhaltige Uni DO« den Studierenden öffentlich vorgestellt werden. Leider war die Zusammensetzung der InteressentInnen nicht so heterogen, wie gewünscht. Das liegt zu einem wesentlichen Teil daran, das nur einige Fakultäten die Mitarbeit in diesem interdisziplinären Projekt als ordentliche Studienleistung anerkennen. Trotz der Forderung nach mehr Interdisziplinarität verlangen die meisten Fakultäten, für die Anerkennung interdisziplinärer Studienleistungen als ordentliche Studienfacharbeit eine tiefgreifende einzelwissenschaftliche Leistung im Sinne ihrer Disziplin.

Das erste interdisziplinäre Team analysiert die Wohnstandorte der Studierenden und untersucht daraus resultierende Mobilitätszwänge und Umweltfolgen. Dabei wird auch eine Fragebogenaktion unter Studierenden vorbereitet, um genauere Angaben zum Mobilitätsverhalten zu bekommen. Das zweite Projekt befaßt sich mit Energieeinsparpotentialen eines Uni Gebäudes. „Das Projekt lebt von der gemeinsamen Betrachtung technischer und verhaltensorientierter Aspekte des Energieverbrauchs“, heißt es in der Kurzbeschreibung. Mit dem Thema Energie befaßt sich auch das dritte Projekt, daß das neue BHKW der Uni Dortmund auf seine ökologischen und ökonomischen Vor- und Nachteile hin untersucht. Das vierte Projekt hat sich zur Aufgabe gesetzt, Indikatoren zur Beurteilung der Nachhaltigkeit für den Organismus Universität Dortmund zu entwickeln. Die Hochschule wird dabei als ein Organismus, der in vielen lebendigen Wechselbeziehungen steht, betrachtet. Der Syndromansatz des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen« (WGBU) spielt in diesem Projekt eine wesentliche Rolle.

Als Ergänzung zur theoretischen Beschäftigung mit dem Thema nachhaltige Entwicklung werden Exkursionen und Vorträge angeboten. Beispielsweise hat in diesem Semester das Kolloquium des Instituts für Umweltforschung das Thema »Nachhaltige, umweltgerechte Entwicklung«.

Desweiteren bietet das Hochschuldidaktische Zentrum (HDZ) eine Schreibwerkstatt an, die bei der interdisziplinären Zusammenarbeit eine wichtige Hilfestellung leistet.

Leitung des Projektes

Auf Vorschlag der studentischen Initiatoren wird das Projekt von einem Koordinationskreis geleitet, in dem Studierende, WissenschaftlerInnen und die beiden Institute, das INFU und das HDZ, gleichermaßen vertreten sind. Diese Strukturen des Koordinationskreises, in denen Studierende, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und ProfessorInnen gleichberechtigt und hierarchiefrei zusammenarbeiten, ermöglichen die Entfaltung des kreativen Potentials partizipatorischer Prozesse.

Resümee

Trotz erheblicher Probleme bei der Initiierung und Anerkennung (als Studienleistung) des interdisziplinären Projektes »Nachhaltige Uni DO«, kann ich als Mitinitiator und Teilnehmer nur dazu motivieren, an anderen Stellen ähnliche Projekte ins Leben zu rufen.

Schon heute stellt die interdisziplinäre Teamarbeit mit hochmotivierten Studierenden und WissenschaftlerInnen aus meiner Sicht eine wertvolle Horizonterweiterung dar. Anfang April werden die Konzepte und Arbeiten, die die 30 StudentInnen mit ihren BetreuerInnen interdisziplinär entwickeln, öffentlich vorgestellt. Der Koordinationskreis hat beantragt, daß das Projekt »Nachhaltige Uni DO« als Leuchturmprojekt im Rahmen des Programms »Qualität der Lehre« vom Land NRW gefördert wird.

Literatur

Becker, E., Wehling, P. (1993): Risiko Wissenschaft, Frankfurt a. M. / New York

Huber, L. et al. (Hrsg) (1994): Über das Fachstudium hinaus, Weinheim

United Nation Commission on Environment and Development, (1987): Our common future, Oxford University Press

Jörn Birkmann studiert Raumplanung an der Universität Dortmund. Er ist Mitinitator des Projektes »Nachhaltige Uni DO« und gehört dem Koordinationskreis an.

Kein Frieden mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen

Kein Frieden mit der Natur ohne Frieden unter den Menschen

von Jürgen Scheffran /Markus Jathe

Vom 29. November bis 1. Dezember 1996 fand in der Evangelischen Akademie Mülheim ein interdisziplinäres Fachgespräch zur Verknüpfung von Umwelt, Entwicklung und Frieden statt. Ziel war es, die Querbezüge zwischen der Diskussion über nachhaltige Entwicklung einerseits und der Friedens- und Konfliktforschung andererseits aufzuzeigen, um daraus integrierte Handlungsperspektiven abzuleiten. Die gegenseitige Durchdringung der Bereiche fand schon im Titel der Tagung »Frieden durch nachhaltige Entwicklung? Nachhaltige Entwicklung durch Frieden?« ihren Ausdruck. Dabei konnte an die ein Jahr zuvor am selben Ort veranstaltete Tagung zum Thema »Wissenschaft und nachhaltige Entwicklung« angeknüpft werden, die der Wuppertal-Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« gewidmet war. Veranstalter waren die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), die Naturwissenschaftler-Initiative „Verantwortung für den Frieden“ und die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

Die Annäherung an die Thematik erfolgte in drei Blöcken: einem Aufriß des Problemkomplexes, Beispielen aus den Konfliktfeldern Energie, Umwelt und Nord-Süd-Verhältnis sowie dem zukunfts- und lösungsorientierten Block »Leitbilder und Zukunftskonzepte«.

In einem Einführungsvortrag von Jürgen Scheffran wurde die These zur Diskussion gestellt, daß Frieden eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung nachhaltiger Entwicklung sei, zugleich aber nachhaltige Entwicklung auch eine Bedingung langfristiger Friedenssicherung. Ziel sei in beiden Fällen die Erhaltung und Entfaltung des Lebens auf der Erde. Die entscheidende Frage sei, wie ein Übergang von dem Teufelskreis aus Umweltzerstörung, Unterentwicklung und Krieg zu einer Positivkopplung von Umwelterhaltung, Entwicklung und Frieden erreicht werden könne. Um die wechselseitige Verstärkung von Wachstum, Macht und Gewalt, die der Schaffung nachhaltiger und friedlicher gesellschaftlicher Strukturen im Wege steht, zu überwinden, sei ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit erforderlich. Eine konsequente Konfliktvermeidung wird um so dringlicher, als unter dem Schlagwort der »erweiterten Sicherheit« eine unzulässige Ausweitung des militärischen Auftrags auf alle Sicherheitsdimensionen erfolgt, inklusive der »ökologischen Sicherheit«. Daß ein entsprechender Paradigmenwechsel seit Ende des Kalten Krieges in vollem Gange ist und bereits in neuen Rüstungsprojekten und Militärplanungen seine Entsprechung gefunden hat, wurde eindrücklich in dem Beitrag von Wolfgang Vogt dargelegt. Zwar sei die militärische Bedrohung Europas zurückgegangen, doch um einen Rüstungsetat von 50 Mrd. DM zu sichern und eine Funktionserweiterung des Militärs vorzunehmen, werden neue Risikoszenarien – vom Islam bis zur Ölkatastrophe – an die Stelle alter Feindbilder gesetzt. Militärische Ansätze zur Krisenintervention und Katastrophenabwehr finden Akzeptanz in der Bevölkerung. Statt auf die nachträgliche militärische Bewältigung von Krisen und Konflikten zu vertrauen, sei für Europa die schwierigere Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung auf ein Zivilisierungsmodell erforderlich, das die Systemlogiken von Ökonomie, Politik, Technologie und Kultur an ökologischen Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen orientiert.

Betroffen macht, wie selbstverständlich die Logik militärischer Macht vom vergangenen Ost-West-Konflikt nunmehr auf den komplexeren Nord-Süd-Konflikt übertragen wird, den Franz Nuscheler als einen Verteilungskonflikt über Entfaltungschancen beschreibt. Während der für die globale Krise hauptverantwortliche Norden ökologische Strukturänderungen verzögert, mutet er dem Süden zu, den Verlockungen des westlichen Wirtschaftsmodells zu entsagen, um die Tragfähigkeit der Erde nicht überzubelasten. Demgegenüber beklagen Entwicklungsländer die Einschränkung des Rechts auf Entwicklung und erheben gegenüber dem Norden den Vorwurf des Ökoimperialismus, gegen den die »eigenen« Ressourcen verteidigt werden müssen. Angesichts der eklatanten Unterschiede kann ohne Gerechtigkeit, die der Dritten Welt die Befriedigung der Minimalbedürfnisse garantiert, Frieden dauerhaft nicht gesichert werden.

Die der Wissenschaft zugrundeliegende Ambivalenz beschrieb Wolfgang Liebert. Das von Bacon visionär gezeichnete Programm der Wissenschaft ist zwar in mancher Hinsicht Wirklichkeit geworden, doch herrscht Ernüchterung über den humanitären Gehalt und die destruktive Kraft der Wissenschaft. Wissenschaftlern das Management der Ökosphäre durch gezielte Eingriffe zu überlassen (Hubert Markl) würde bedeuten, die Katze zum Hüter der Mäuse zu machen (Hans-Peter Dürr). Noch problematischer ist der Beitrag zu Rüstung und Krieg. Zunehmend werden angesichts knapper Rüstungshaushalte und Militärkritik die zivilen wissenschaftlich-technischen Ressourcen dienstbar gemacht, unter Ausnutzung der Ambivalenz von Forschung und Entwicklung. Um den Deckmantel zu enthüllen und die Pflicht zur Mitnatürlichkeit auch in der Wissenschaft zur Geltung zu bringen, ist eine Ambivalenzanalyse ebenso erforderlich wie die Anwendung von Kriterien für Wissenschaft wie sie etwa vom Institut für sozial-ökologische Forschung entwickelt wurden.

Daß nicht nur die Wissenschaft mit widersprüchlichen Tendenzen zu kämpfen hat, sondern auch die Politik machte Thomas Fues (Bündnis 90 / Die Grünen) deutlich. Daß auf dem am selben Wochenende stattfindenden Parteitag der Grünen die Zustimmung zu Militäreinsätzen in Bosnien zur Abstimmung stand, zeigte nur, wie sehr einst von der Bevölkerungsmehrheit vertretende friedenspolitische Positionen in die Defensive geraten sind. Die Verengung auf die pragmatische Frage »Einsatz Ja oder Nein?« vermeidet das Erkennen größerer Zusammenhänge, was eine vorbeugende Konfliktvermeidung unmöglich macht und folgenschwere Grundsatzentscheidungen mit dem tagespolitischen Sachzwangargument durchdrückt.

Wie stark verschiedene Konfliktursachen bereits miteinander verwoben sind, wurde an einigen Beispielen exemplarisch untersucht. Einige Beiträge waren bestrebt, mit der Energienutzung verbundene Konfliktfelder aufzuzeigen. Diese betreffen nicht nur Konflikte aufgrund der Folgen der Energienutzung, etwa zu Klimakonflikten (Jürgen Scheffran) und zu den vielfältigen Risiken der Kernenergie (Martin Kalinowski), sondern auch Konflikte um die Verfügbarkeit von Energiequellen, die Verteilung ihres Nutzens oder die Vermeidung von Risiken. Daß sich auf der allgemeinen Zielebene zwar leicht Einigkeit erzielen läßt, bei konkreten Vorschlägen jedoch Kontroversen aufbrechen, wurde auf der Tagung selbst deutlich. So löste der in dem Beitrag von Sven Brückmann unternommene Versuch, im Konflikt um die Ölquellen des Nahen Ostens ökonomische Alternativen zu militärischem Eingreifen zu begründen, eine lebhafte Kontroverse darüber aus, ob das Einlassen auf solche Kalküle nicht bereits zu einer Anerkennung der auf fossilen Energieträgern basierenden Strukturen beitrage. Kritische Fragen wurden auch gegenüber Konzepten wie »Joint Implementation« aufgeworfen, die die Vermeidung von klimaschädigenden Emissionen im Westen durch Emissionsminderungen in der Dritten Welt ersetzen oder ergänzen sollen (Dirk Ipsen). Schließlich führte der von Manfred Fischedick vorgestellte und weitgehend positiv beurteilte Ansatz der Wuppertal-Studie, die für eine nachhaltige Energiepolitik notwendigen Verhaltensänderungen durch Leitbilder zu erreichen, zu der Frage, ob hierbei den Zielkonflikten um die Durchsetzung gegen gesellschaftliche Interessen und Widerstände nicht aus dem Weg gegangen werde.

Am Beispiel von Nahost und Afrika wurde deutlich, daß Umweltkonflikte um knappe Naturressourcen zwar an Bedeutung gewinnen, aber selten alleinige Konfliktursache sind. Die ausgiebig untersuchten Wasserkonflikte in Nahost (Manuel Schiffler) zeigen, daß das Konfliktverhalten der Akteure durch den übergreifenden politischen Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn dominiert wird und eine Konfliktlösung von Fortschritten im Friedensprozeß abhängt. Noch schwieriger stellt sich die Lage in Afrika dar, wo Land- und Umweltflucht zu grenzüberschreitenden Konflikten beitragen (Roland Richter). Im Falle Ruandas haben Bevölkerungswachstum und Bodendegradation zwar den Problemdruck erhöht, doch ist der Ausbruch des Völkermords vorwiegend auf politische Interessen und ethnische Gegensätze zurückzuführen.

Mit der Globalisierung der kapitalistischen Ökonomie ist eine weitere Zerstörung kultureller Zusammenhänge und eine Zunahme regionaler Konflikte zu befürchten. Neoklassische Ökonomie und neoliberale Politik zielen auf eine Deregulierung, die Gemeinschaftsgüter der privaten Verfügung und den Marktgesetzen unterwirft. Ausgehend von der Frage »Wem gehört die Natur?« setzte sich Mohssen Massarrat mit dem auf John Locke zurückgehenden Eigentumsbegriff bei Naturressourcen auseinander. Durch die Geldwirtschaft und die Akkumulation von Kapital wird die Anhäufung fremder Arbeit möglich. Wird ein derartiger Erwerb von Natureigentum als »gerecht« angesehen, können Maßnahmen »gerecht“fertigt werden, die auf die Verteidigung des Eigentums durch physische Gewalt oder die Enteignung indigener Völker von ihren Lebensräumen zielen (Beispiel Ogoni in Nigeria). Alternativen zur neoklassischen Ökonomie, die die Natur als Produktionsfaktor ignoriert und das Markgleichgewicht als konfliktfreien, harmonischen Zustand idealisiert, müssen eine Mengenregulierung des Angebots anstreben, also am Anfang der Pipeline ansetzen, und auf das Eigentum von knappen Naturressourcen verzichten.

Mit der Globalisierung ist zwar die verstärkte Durchlässigkeit nationaler Grenzen gegen Kapital und Information verbunden, doch zugleich werden Barrieren zwischen Nord und Süd gegenüber damit verbundenen Problemen errichtet, insbesondere gegen mögliche Flüchtlingsströme und militärische Bedrohungen. Die westlichen Zentren, insbesondere Europa, entwickeln sich in dieser Hinsicht zu Festungen, die auch militärisch verteidigt werden sollen. Von neuen Bedrohungsszenarien ausgehende Implikationen für den Rüstungssektor wurden von Götz Neuneck beleuchtet. Neue Rüstungstechnologien seien nach Ansicht des früheren US-Verteidigungsministers Perry auch deswegen notwendig, weil andere die alten schon haben. Aus Mangel an konkreten Feindbildern wird der Westen sich selbst zum größten Feind. Dies wird auch deutlich durch die Art und Weise, mit der die NATO an Atomwaffen festhält, auf Raketenabwehr setzt oder ihre Expansion nach Osteuropa gegen den Widerstand Rußlands durchsetzt.

Im abschließenden Teil der Tagung wurde bezugnehmend auf die Ausgangsfrage beleuchtet, wie Visionen und Leitbilder von Frieden und nachhaltiger Entwicklung sich gegenseitig befruchten können. Der Physiker und Studienleiter der Evangelischen Akademie Mülheim, Hans-Jürgen Fischbeck, wies darauf hin, daß die biblischen Visionen vom Frieden den Einklang zwischen Mensch und Natur voraussetzen.

Der Sozialethiker Wolfgang Bender lenkte den Blick auf Kants Entwurf »Vom Ewigen Frieden«. Im einzelnen diskutierte er sechs unterschiedliche Verhaltensweisen, wie Menschen in Lebensnot reagieren können. Während die in der heutigen Erlebnisgesellschaft verbreitete Grundhaltung, Problemen auszuweichen oder sie zu verdrängen nur eine befristete Entspannung bringt, sind Resignieren und Sublimieren typische Verhaltensweisen in der Risikogesellschaft. Im Extremfall kann dies zu völliger Verzweiflung, zu Haß und Vernichtungsbereitschaft gegen sich selbst oder andere führen. Demgegenüber stehen die Prinzipien des Fürchtens und Bewahrens, die von Hans Jonas in seinem »Prinzip Verantwortung« angesprochen wurden. Die von Ernst Bloch im »Prinzip Hoffnung« verfolgten Intentionen des Hoffens und Veränderns sind geeignet, umfassende Humanität anzustreben und auch zu realisieren. Bevorzugt wurden von Wolfgang Bender jedoch die ethischen Prinzipien der Erhaltung und Entfaltung des Lebens, die sowohl für Frieden wie auch für nachhaltige Entwicklung handlungsleitend sein können. Beide Prinzipien sind in Einklang zu bringen, um zu vermeiden, daß etwa die Entfaltung einiger Lebewesen die Erhaltung und Entfaltung anderer Lebewesen unzulässig beeinträchtigt. Die individuelle Freiheit endet bei der Freiheit anderer.

Durch eine derart umfassende Perspektive zum Widerspruch gereizt sah sich der Politikwissenschaftler Lothar Brock, der eine zu weitgehende Vermischung oder zu großzügige Ausweitung der Begrifflichkeiten ablehnte, da diese zu wertlosen Identitäten würden oder gar unerwünschte politische Implikationen hätten (wie bei der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs). Eine Gleichsetzung von Umweltzerstörung und Krieg sei ebensowenig angemessen wie die allgemeine These, daß Umweltzerstörung zum Krieg führe. Ein eindeutiger Zusammenhang sei kaum nachzuweisen. Eher komme es darauf an, in den jeweiligen Konfliktfeldern Umwelt, Entwicklung und Frieden enge analytische Kategorien zu entwickeln, die Probleme im Detail zu betrachten und praktische Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Ausgehend von der in Rio 1992 erarbeiteten Agenda 21 für Umwelt und Entwicklung und der vom damaligen UN-Generalsekretär Bhoutros-Ghali vorgestellten Agenda für den Frieden lenkte er den Blick auf konkrete Politikkonzepte, von völkerrechtlichen Verträgen bis hin zu humanitär oder ökologisch begründeten Interventionen.

Wie praktische Politik für »Ökologie von unten« aussehen kann, zeigte der Vortrag von Ulrike Kronfeld-Goharani, die anhand von konkreten Beispielen vorführte, wie die Agenda 21 von der globalen auf die lokale Ebene umgesetzt werden kann. Die Perspektive wurde zum Abschluß der Tagung wieder erweitert durch Ulrich Albrecht, der die Interaktion zwischen Politik und Ökonomie in den Blick nahm, insbesondere die politischen Dimensionen von Globalisierung, die damit verbundene Entstaatlichung von Gesellschaft und das (noch diffuse) Konzept der Weltgesellschaft.

Die Tagung konnte zwar neuartige Perspektiven und Diskussionsfelder eröffnen und Zusammenhänge aufzeigen, machte jedoch deutlich, daß das interdisziplinäre Zusammenführen verschiedener Forschungs- und Politikbereiche selten schnell greifbare Resultate liefert, die zu politischen Handlungsperspektiven führen. Es wurde vereinbart, ein Projekt zum Thema Frieden und Nachhaltigkeit fortzuführen, das die Wechselbeziehungen der drei Problemkomplexe Umwelt, Entwicklung und Frieden in Richtung auf integrierte Lösungskonzepte und Handlungsvorschläge für die Politik untersuchen soll. Eine Verbesserung der Forschungszusammenarbeit wird angestrebt, ein Tagungsband ist geplant.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent, Dr. Markus Jathe wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Nachdenken über Schuld und Zukunft der Medizin

Nachdenken über Schuld und Zukunft der Medizin

von Lars Pohlmeier

ÄrztInnen stellen sich beim Nürnberger IPPNW-Kongreß »Medizin und Gewissen« historischer Verantwortung und diskutieren ethisches Grundwerte-Papier für neuen ÄrztInnen-Kodex

Im Oktober 1946 begann in Nürnberg ein Gerichtsverfahren gegen 20 deutsche Ärzte, angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es wurde eine „verpaßte Chance“ der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie es der Münsteraner Medizinhistoriker Prof. Dr. Gerhard Toellner ausdrückte. Die deutsche Ärzteschaft blieb jahrzehntelang unfähig zur Selbstreflexion und zum Schuldeingeständnis. Die IPPNW – »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in Sozialer Verantwortung« hat dieses Schweigen immer wieder durchbrochen. Mit dem Nürnberger Kongreß »Medizin und Gewissen« 50 Jahre nach Prozeßbeginn leistete die IPPNW einen weiteren Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte. Mehr noch, aus dieser Erfahrung heraus fragte die IPPNW nach der ethischen Verantwortung der Ärzteschaft heute.

Den Bogen schlagen vom historischen Rückblick zu bedenklichen Entwicklungen und Ansätzen in der Gegenwartsmedizin“, so beschrieb Psychoanalytiker und IPPNW-Vorstandsmitglied Horst- Eberhard Richter bei der Eröffnung das Ziel des Kongresses. Für Richter kommt es auf die „innere Haltung der Menschen an, die in diesem Beruf handeln und forschen“. Das Gewissen des einzelnen sei die „ursprüngliche Quelle des Mitfühlens und ein unüberhörbarer Ansporn zum Helfen.“ Richter fordert, den einzelnen Menschen als Ganzes in den Vordergrund ärztlichen Handelns zu stellen: „Das Gewissen schlägt nicht für Gene, vielmehr ausschließlich für den ganzen Menschen und auch nie für deren Benutzung durch das noch so wohlmeinend dargestellte Interesse von Wirtschaft oder Staat.“

Tatsächlich verwirrt die Vielzahl technologischer Entwicklungen in der Medizin PatientInnen und ÄrztInnen gleichermaßen, macht es scheinbar immer schwieriger, sich einen festen ethisch begründeten Standpunkt zu erarbeiten. Wo sind die Gefahren der Gentechnologie? Wie gehen wir mit den Widersprüchen der Transplantationsmedizin um? Welchen ethischen Preis bezahlen wir für die fortschreitende Forschung an Embryonen in der Präimplantations-Diagnostik?

»Medizin und Gewissen« konnte nicht auf alles Antworten geben. Aber die Zweifel und Sorgen um diese Themen bekamen eine Plattform. Wie groß der Bedarf zur Diskussion ist, bewies der Andrang. Mit mehr als 1500 Teilnehmern wurden selbst die kühnsten Erwartungen der Veranstalter übertroffen. Ziel der Veranstalter war es, einen neuen Ethik-Kodex für ÄrztInnen zu schaffen. Das Vorhaben der »Nürnberger Thesen« war zu ehrgeizig, vieles muß noch weitergedacht werden. Dennoch weist die verabschiedete »Nürnberger Erklärung« den Weg für ethisch verankerte moderne Medizin. „Das gesundheitliche Wohl des Individuums ist für uns Ärztinnen und Ärzte ein unbedingt zu schützendes Gut“ heißt es in dem Papier, das der Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn und die Erlangener Medizinstudentin Kerstin Langhans auf der Abschlußveranstaltung gemeinsam vortrugen.

Konkret wird gefordert, Gentests an eine in voller Entscheidungsfreiheit erteilte Zustimmung der Betroffenen zu binden und den Mißbrauch der Diagnostik für kommerzielle oder bevölkerungspolitische Zwecke zu verbieten. Auch wird die Verpflanzung von Körpergewebe und Organen nur legitimiert, wenn der Betroffene seine Zustimmung ausdrücklich erteilt hat. »Nicht-einwilligungsfähige« Menschen müssen vor fremdnütziger Forschung geschützt werden. Aber die Dimension ärztlicher Verantwortung wird zugleich weit gezogen, wenn es heißt: „Als Ärztinnen und Ärzte erkennen wir unsere Mitverantwortung für ein friedliches, soziales, gerechtes und umweltbewußtes Zusammenleben von Menschen und Völkern an.“

Viel Zustimmung fand ein Aufruf, den Bundestag um ein »Moratorium für neue Gentests« anzurufen, bis besser abzusehen ist, welche ethischen und sozialen Folgen die Einführung neuer Techniken für die Menschen haben. Es ist der Versuch, nötige Zeit zur Refelexion zu gewinnen. Dies angesichts eines Trends, in der Medizin zu erlauben, was technisch machbar ist. Prominente MedizinerInnen haben den Aufruf bereits unterzeichnet.

»Medizin und Gewissen« war kein historischer Kongreß, gleichwohl der Rückgriff in die Geschichte immer wieder breiten Raum einnahm in den mehr als 60 Diskussions-Foren. Erinnert wurde an den 25. Oktober 1946, als die Anklageschrift gegen 20 ÄrztInnen und drei weitere Staatsbeamte vorgelegt wurde. Die Hauptanklagepunkte: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu Gericht saß ein amerikanisches Militärgericht, das ein Jahr später Freisprüche, Haftstrafen und insgesamt sieben Todesurteile aussprechen sollte. Die Verhandlungen galten unter Beobachtern als sehr fair, keine Siegerjustiz. Doch die Öffentlichkeit interessierte das nicht, und so wurde vom Prozeß kaum Notiz genommen. Und die ÄrztInneneschaft? Mit 50 Prozent höher als jeder andere Berufsstand in der NSDAP vertreten, verdrängte die ÄrztInnenschaft ihre Schuld. Die offiziell mit sechs Personen besetzte ärztliche Beobachterkommission der Bundesärztekammer war bei Prozeßbeginn bereits auf drei Mitglieder zusammengeschmolzen. Das waren der Medizinstudent Fred Mielke und die beiden ÄrztInnen Alexander Mitscherlich und Alice Ricciardi von Platen. Letztere übernahm an alter Wirkungsstelle die Präsidentschaft auf dem IPPNW-Kongreß. Der Abschlußbericht der deutschen Kommission, der in einer Auflage von 10.000 erschien, fand keine LeserInnen. „Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen war,“ kommentierte Mitscherlich später. Die englischen Prozeß-Unterlagen sind in ihrer Gesamtheit nie ins Deutsche übersetzt wurden. Erst eine Initiative des Psychiaters Prof. Dr. Klaus Dörner fast 50 Jahre nach Prozeßende wird zur Veröffentlichung führen. Die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts wird die Unterlagen übersetzen und publizieren. Finanziert wird das Unternehmen durch Spenden, nachdem die Bundesärztekammer eine finanzielle Beteiligung abgelehnt hatte.

Der Ärzte-Prozeß war nur eine »Stichprobe«, wie es Mitscherlich nannte. Noch heute ist ungeklärt, in welchem Ausmaß Ärztinnen und Ärzte sich versündigten. Was wir wissen, ist niederschmetternd: 70.000 geistig und körperlich behinderte Menschen oder Altersschwache erfaßt und ermordet. 250.000 Menschen zwangssterilisiert, 5.000 hilflose Kinder ermordet, vom ärztlich begleiteten millionenfachen Völkermord in deutschen Konzentrationslager ganz zu schweigen. Dazu kommt die unbekannte Zahl der ermordeten Kriegsgefangenen und »Fremdarbeiter«. Und dennoch sind es die Geschichten der einzelnen Menschen, die das Grauen erst wirklich erahnen lassen. Da ist der Angeklagte Dr.Karl Gebhardt, der selbst im Gerichtssaal keine Einsicht zeigt. „Nicht schuldig,“ seine Forderung. Es sind viele Geschichten erzählt worden. Dahinter stecken Stachel, die böse in die deutsche Nachkriegsgeschichte hineinragen. Unzählige Karrieren von MedizinerInnen, die ungeschoren davongekommen sind. Aber auch andere haben mitgemacht. Da werden die Dia-Bilder eines KZ-Häftlings aus Dachau neben denen des US-Astronauten John Glenn gezeigt. Die Verbindung heißt Hubertus Strughold, Arzt im Reichsluftfahrt-Ministerium, Konstrukteur von Unterdruckkammern. Der unbekannte KZ-Häftling, dessen Atmenorgane und Gehirn vorsätzlich zum Platzen gebracht wurden unter Unterdruck-Verhältnissen, war Strughold lange hilfreich. Nach dem Krieg machte Strughold Karriere im US.-Miltärapparat. Er trug mit bei zur bemannten Raumfahrt der USA. Der Nazi-Arzt wurde reingewaschen von einer wissenschaftsgeilen Militärmaschinerie, die gar eine bedeutende Militär-Bibliothek und einen Orden nach Strughold benannt hat.

Der mit enormem Aufwand vorbereitete Nürnberger Kongreß ist zu Ende. Aber in einem gewissen Sinne hat der »Nachdenk-Prozeß Nürnberg« erst begonnen. Alice Ricciardi-von Platen, letztes Mitglied der Ärztekommission von 1946 und Präsidentin des IPPNW-Kongresses kam trotz ihres hohen Alters aus Rom angereist. Sie komme heute erlöst nach Nürnberg, sagte sie: „Dieses Gefühl der Vergeblichkeit, mit dem ich [damals, d.A.] aus Nürnberg abgereist war, relativiert sich ein wenig.“

Lars Pohlmeier ist Redaktuer des IPPNW-Forums