Sind Kriege wieder führbar? oder: Warum wir Krieg generell ablehnen

Sind Kriege wieder führbar? oder: Warum wir Krieg generell ablehnen

von Bendorf • Birk • Gonsior

Prof. Dr. W. Buckel war und ist ein wackerer, unermüdlicher Mitstreiter der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«. In unserer vorletzten Ausgabe war sein Brief an den Vorstand der Initiative zu lesen, in dem er seine abweichende Meinung zum Golfkrieg kundtat. Prof. Buckel schrieb darin u.a.: „Der fundamentalistische Standpunkt »Krieg um keinen Preis« ist einfach in der Realität sinnlos.“

Die Debatte über die Legitimation von Kriegen, die durch den Golfkrieg aufbrach, ist auch im Vorstand der Naturwissenschaftler-Initiative geführt worden. Wir veröffentlichen einige persönliche Kurzstatements aus diesem Kreis, mit der Aufforderung zur Einmischung an unsere Leser und Leserinnen.

Prof. Dr. Bernhard Gonsior

Friedliche Wege in die Zukunft?

Unser Kongreß in Münster zu Beginn dieses Jahres enthielt diesen Satz als Motto. Nur das Fragezeichen fehlte, das heute meine Stimmung wiedergibt. Es reflektiert die Erkenntnis, wie schwer es ist, friedliche Wege in die Zukunft zu finden.

Nach dem Zerfall des sog. Ostblocks wurde klar, daß das bilaterale Problem der Ost-West-Konfrontation einer multilateralen Problematik weichen würde. Der Golfkrieg zeigte Charakteristika der Nord-Süd-Auseinandersetzung, ausgebrochen auf der Basis der ungelösten Probleme im Nahen Osten. Wer hätte gedacht, daß dabei auch unter uns die Meinung aufkam, unter bestimmten Umständen sei Krieg möglich und führbar, wenn es zur Lösung von Problemen beiträgt.

Ich denke, daß der Golfkrieg gezeigt hat: Krieg darf nicht sein. er löst keine Probleme, er zerstört.Wir müssen in der Zukunft eine Diskussion darüber führen, ob dies unsere unumstößliche Position ist, ob wir damit noch Konsens erreichen können.

Diese Diskussion war deutlich und klar angesichts der atomaren Bedrohung eines Ost-West-Konflikts. Es besteht die Gefahr einer Aufweichung dieser Position unter gewissen Umständen. Das begünstigt Kriege, wie sie in Zukunft drohen: Nationalitätenkonflikte, Rohstoff- und Energiekonflikte, die die Nord-Süd-Konfrontation bestimmen werden und die Auseinandersetzung um Wasser und andere lebenswichtige Quellen.

Die atomare Bedrohung bleibt: das START-Abkommen ist kein einschneidender Abrüstungsvertrag geworden; die nuklearen Sprengköpfe bleiben, modernisiert kehren sie nach Europa zurück, Frankreich produziert neue, atomare Kurzstreckenraketen (HADES), die nach Deutschland reichen.

Auch bei uns wird weitergerüstet. Der Etat für Wehrforschung steigt. Die NATO probt das Umdenken und Umlenken auf neue Feindbilder. Auf welche?

Ich denke, unsere Position muß eindeutig auf Kriegsvermeidung, auf das friedliche Lösen von Konflikten gerichtet sein. Das Denken von Ausnahmen bedeutet unser Versagen. Unsere Position muß Militärkritik sein. Unsere Position sucht den Frieden unter den Völkern und mit der Natur, so sehr man an den Umständen auch verzweifeln mag.

Unsere konstruktive Utopie besagt: Unter dem gemeinsamen Dach Europas vom Atlantik bis zum Ural darf es keine Atomwaffen geben, muß die gemeinsame Sicherheit durch gemeinsame Abrüstung vorangetrieben werden. Unsere konstruktive Utopie verlangt, daß wir von den Atommächten bis 1995 eine drastische Reduktion der atomaren Waffen fordern, damit Weiterverbreitung vermieden und der Weiterverbreitungsvertrag gesichert wird. Auch die Bush-Gorbatschow-Initiativen sind dann noch weit von dem entfernt, was wir fordern müssen. Unsere konstruktive Utopie enthält schließlich, daß wir den Frieden mit der Natur zum Bestandteil unserer gemeinsamen Sicherheit machen.

Nach wie vor bleiben unsere Forderungen aus den Hamburger Abrüstungsvorschlägen und der Mainzer Appell zur Verantwortung für den Frieden maßgebend.

Rosemarie Bendorf

Wir müssen eine klare Sprache sprechen

Es fällt mir schwer aus aktueller Sicht etwas zur Krieg/Frieden-Problematik zu schreiben, denn meine Haltung ist zu dieser Frage starr und unverrückt, seid ich denken kann. Das rationale Element spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Geboren und aufgewachsen nach dem Krieg, haben dessen Spuren und Folgen doch nachdrücklich meine Kindheit bestimmt. Meine Spielplätze lagen, nicht ungefährlich, in Trümmergrundstücken; drei meiner Onkel waren im Krieg umgekommen; meine Familie, die vorher in drei oder vier eng beieinanderliegenden Dörfern gelebt hatte, war nun zerstreut zwischen Hamburg und München, Cottbus und Köln. Der Neuanfang in der Fremde und mit einer armseligen Habe war schwer. Noch heute bin ich voller Bewunderung für meine Tanten, die ohne ihre Männer Flucht und Neubeginn mit ihren kleinen Kindern unter den schwierigsten Bedingungen durchstanden und meisterten. Hinzukam eine wirklich überzeugende antimilitaristische Erzeihung in meinen ersten Schuljahren, gefestigt durch die Lektüre Heinrich Bölls, dessen Bücher ich verschlang.

Einige Anmerkungen möchte ich machen zum heuchlerischen und verbrämenden Umgang mit Worten und Begriffen. Eine klare Sprache ist aber eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Es beginnt damit, daß das Kriegsministerium Verteidigungsministerium heißt, ohne mit der ihm unterstellten Armee samt Waffenarsenal streng den Kriterien einer reinen Verteidigungsstreitmacht zu genügen. In der DDR wurde z.B. oft das Bild Wilhelm Buschs gebraucht, der seine »Waffen« – die Stacheln – nur zu seiner Verteidigung einsetzt und einsetzen kann. Es endet damit, daß Waffen »peace keeper« heißen und vorgegeben wird, daß Kriege zur Konfliktlösung tauglich, ja mitunter das einzig mögliche Mittel seien.

Damit bin ich bei der gegenwärtigen Situation. Im Philosophischen Wörterbuch fand ich unter dem Stichwort Krieg folgende Definition: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mittels organisierter bewaffneter Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele und ökonomischer Interessen.“ Eine schrecklich trockene Formulierung – nichts von Tod, Verwüstung, Haß und Schuld! Die Formulierung ist mir dennoch wichtig, weil sie klipp und klar sagt, wozu das Mittel Krieg einsetzbar ist: zur gewaltsamen Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen des Kriegführenden. Krieg so entsprechend seinem Zweck eingesetzt, brachte oft den gewünschten Erfolg (siehe die Geschichte Preußens). Aber Konflikte, wie man in jüngster Zeit lesen und hören konnte, wurden durch Kriege nie gelöst und sie sind auch per definitionem kein brauchbares Instrument dafür. Jede x-beliebige Nachricht aus Krisengebieten bestätigt dies wieder und wieder. Die Vorgabe mit Hilfe des Krieges Konflikte lösen zu wollen, scheint mir nur vorgetäuscht, um die eigentlichen ökonomischen und politischen Interessen zu bemänteln. Dies ist ein weiterer Grund für mich den Krieg abzulehnen, da er unmöglich das Ziel, zu dem er vorgeblich eingesetzt wird, erreichen kann.

Mit weiteren Ablehnungsgründen, die vor allem in der immer stärkeren Verletzlichkeit moderner Industriegesellschaften, der möglicherweise weltzerstörenden Wirkung der neuesten Waffensysteme und dem Wegfall des Feindblocks im Osten liegen, will ich mich hier nicht befassen. Sie erhärten meine Absage an den Krieg – sind aber für mich nicht ausschlaggebend.

Fazit: Ich lehne den Krieg, zu welchem Zweck auch immer ab. Meine Gründe sind mehr emotionaler Art als rationaler; werden aber durch die Forschungen zu den Folgen eines Krieges in der heutigen Welt nur erhärtet.

Dr. Isolde Birk

Kriege durch klügere Politik und Stopp des Waffenexports verhindern

Insbesondere im Zusammenhang mit dem Golfkrieg wurde viel darüber diskutiert, ob es richtig sei, einen Aggressor – wie zum Beispiel Saddam Hussein – mit Waffengewalt dazu zu bringen, seine Truppen wieder zurückzuziehen und das Land aufzugeben. Von vielen wurde diese Massnahme begrüsst, weil sie Krieg für die einzige oder adäquate Möglichkeit hielten, Kuwait zu befreien. Hierbei spielte auch der Wunsch, S. Hussein zu bestrafen, eine grosse Rolle.

Ich bin voll und ganz der Meinung, daß es die Völkergemeinschaft nicht tolerieren sollte, daß ein Land überfallen wird. Und sicher ist es auch richtig, daß der jeweilige Aggressor bestraft werden sollte. Aber ich halte Krieg für das falsche Mittel, um das überfallene Land wieder zu »befreien« und wie gerade das Fallbeispiel Golfkreig wieder zeigt, wird eben nicht der Aggressor durch den Krieg bestraft (zumindest nicht angemessen), sondern das Volk, eigentlich sogar mehrere Völker.

Krieg ist immer ein Zeichen für politisches bzw. diplomatisches Versagen. Sogar die Tatsache, daß S. Hussein Kuwait angreifen konnte, war schon eine Folge politischen Versagens, denn es gab genug Gründe zu befürchten, daß er Kuwait angreifen wollte. Es wäre also möglich und notwendig gewesen, vor dem Angriff auf ihn einzuwirken, um diesen zu verhindern. Und: hätte man versucht, Kuwait mit einem solchen Aufwand zu »befreien«, wenn es dort kein Öl gäbe? Und: hätte S. Hussein angreifen können, hätten ihm andere Länder nicht Waffen und Industrieanlagen zur Herstellung von Waffen geliefert?

Aber es wurde Krieg gegen Hussein geführt und das Ausmaß der Zerstörung, auch in Kuwait, ist weit grösser, als es zu erwarten gewesen wäre, hätte man sich ausreichend bemüht, mit anderen politischen Mitteln Husseins Abzug zu erreichen:

  • Es wurden mehr Soldaten und Zivilisten verwundet und getötet.
  • Leben und Gesundheit der Bevölkerung sind durch die zerstörte Infrastruktur und dem daraus folgenden Mangel an Lebensmitteln und sauberem Wasser bedroht.
  • Auch ohne den Einsatz von A-, B- und C-Waffen war die Zerstörung durch konventionelle Waffen verheerend. Aber immer besteht heute bei Kriegen die Gefahr, daß auch A-, B- und C-Waffen eingesetzt werden. Und es besteht auch immer die Gefahr, daß im Falle einer Eskalation auch die beste B- und C-Waffen-Konvention nicht eingehalten wird.
  • Durch den Krieg wurden auch zunächst unbeteiligte Völker betroffen: so wurde Israel mit C-Waffen bedroht und mit konventionellen Waffen angegriffen.
  • Der ökologische Schaden, der durch ins Grundwasser und ins Meer diffundierendes Öl sowie durch die Verbrennung des Öls entstanden ist, ist schon jetzt katastrophal und die weiteren Auswirkungen sind noch gar nicht abzuschätzen. Die ökologischen Schäden haben noch mehr als die Anwendung von Waffen globale Auswirkungen, die uns noch lange verfolgen werden.

Fehlende Überweisungen ausländischer Arbeitnehmer in der Golfregion an ihre Familien in der Heimat bedrohen deren Existenz. Länder der sogenannten »Dritten Welt« wurden während des Golfkrieges noch mehr vernachlässigt, und da für den Krieg auch von den nicht direkt beteiligten Industriestaaten immense Summen ausgegeben wurden, steht weniger Geld für Entwicklungshilfe zur Verfügung.

Dies sind nur einige wenige Punkte, die darauf hinweisen, daß ein »Befreiungskrieg« weit grössere Schäden anrichtet als andere politische Mittel, auch wenn diese vielleicht mehr Zeit brauchen.

Dies gilt nicht nur für den Golfkrieg, sondern für alle Kriege. So könnte zum Beispiel auch der Bürgerkrieg in Jugoslawien durch Einmischung von außen in Form von Waffengewalt eskalieren. Aber: gäbe dies diesen Bürgerkrieg ohne (deutsche und andere) Waffenlieferungen von aussen?

Krieg muß nicht sein und darf nicht sein. Es gibt genug andere politische Mittel, um Krieg zu vermeiden. Auch Angriffskriege wie die eines machtgierigen Saddam. Durch eine klügere Politik und Diplomatie hätte man diesen Krieg verhindern können, hätte man das gewollt. Vor allem aber hätte man ihn verhindern können, hätte man keine Waffen geliefert.

Naturwissenschaftliche Verifikationsforschung in Bochum

Naturwissenschaftliche Verifikationsforschung in Bochum

Zweite Phase angelaufen

von Jürgen Altmann

Seit April 1988 läuft im Institut für Experimentalphysik der Ruhr-Universität Bochum (RUB) das Forschungsprojekt „Neue technische Mittel für kooperative Verifikation in Europa“. Dieses Projekt wurde von der Stiftung Volkswagenwerk – im Rahmen integrierter Forschung und Lehre zu Fragen der Friedenssicherung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und des bewaffneten Konflikts an der RUB – zunächst für drei Jahre gefördert. Gemäß dem Ziel, zukünftige Verifikationsverfahren angewandt-physikalisch zu erforschen, arbeiten wir an Sensoren, mit denen man Land- und Luftfahrzeuge über mittlere Entfernungen (von 20 m bis zu einigen km) nachweisen kann. Konkret untersuchen wir seismische, akustische und magnetische Signale, die von fahrenden oder fliegenden Fahrzeugen hervorgerufen werden. Sensorsysteme können sicherstellen, daß keine Panzer ein Depot oder eine Fabrik heimlich (z.B. durch die Umfriedung) verlassen; sie können Flugbewegungen auf Flugplätzen mitzählen. Obergrenzen in einer Region können durch Überwachung der Grenzlinien überprüft werden; im Kontext Friedenserhaltender Maßnahmen ist auch die Kontrolle vereinbarter waffenfreier Zonen möglich.1

Für diese Forschung mußte ein größeres Meßsystem aufgebaut werden. Nachdem Anfang 1989 zwei Physik-Doktoranden hinzugekommen waren, bemühten wir uns 1. um internationale Kooperationspartner und 2. um die Erlaubnis, an militärischen Fahrzeugen die uns interessierenden Signale zu messen. Mit beidem waren wir in der ehemaligen CSSR am schnellsten erfolgreich: Im August 1989 führten wir – gemeinsam mit tschechoslowakischen Wissenschaftlern – die ersten Messungen seismischer und akustischer Signale an einem Jeep, einem mittleren und einem schweren Lkw sowie einem Panzer durch.2 Kurz darauf durften wir auch an entsprechendem Gerät der Bundeswehr messen; an den Experimenten im Dezember 1989 auf dem Truppenübungsplatz Baumholder (Rheinland-Pfalz) nahmen dann schon Wissenschaftler(innen) aus der CSFR, aus Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und den USA teil.3 1990 kamen Partner aus der UdSSR, Kanada und der ehemaligen DDR dazu.

Die Serie internationaler Meßkampagnen an Militärgerät wurde fortgesetzt: Im Dezember 1990 – wieder in Baumholder – waren vor allem Gruppen von Fahrzeugen das Meßobjekt. Flußüberquerungen mit Heeresgerät nahmen wir im April 1991 in Windheim-Jössen an der Weser auf. Die erste Messung militärischer Flugzeuge machten wir im Mai dieses Jahres in Bechyne, CSFR.

Die Auswertungen der vielen Meßdaten sind in vollem Gang. Einige erste Ergebnisse sind z.B.: Seismische Signale von mittleren und schweren Lkw sowie von Kettenfahrzeugen sind – auch bei langsamer Fahrt – noch in 300 m Entfernung stärker als die normale Bodenunruhe. Kettenfahrzeuge erzeugen starke rhythmische Bodenvibration, die streng an das Aufschlagen der Kettenglieder gekoppelt ist; daraus läßt sich wahrscheinlich ein Erkennungskriterium gewinnen. Bei Radfahrzeugen scheint die Lage komplizierter: Reifen-Schwingungen und Reifenprofil sowie akustisch eingekoppelte Signale des Motors tragen zur Bodenvibration bei.

Ähnliche Messungen sind in der Militärforschung der Industrieländer schon seit Jahren durchgeführt worden (zur Gefechtsfeld-Aufklärung, zum Zünden von Minen usw.). Deren Ergebnisse sind aber geheim. Wo überhaupt etwas darüber veröffentlicht wird, werden nur allgemeine Angaben gemacht. Ausführliche Meßbedingungen und -daten werden nicht angegeben; oft werden Achsen nicht beschriftet.4 Es scheint, daß die staatlichen Rüstungsforschungs-Abteilungen sich auch nicht sonderlich bemühen, den Abrüstungs-Verhandlern die Fähigkeiten der Sensoren für die Verifikation nahezubringen. Um der Öffentlichkeit – und damit auch allen Staaten – eine fundierte Beurteilung der Verifikation mit Sensoren zu ermöglichen, müssen wir daher ihre Eigenschaften von Grund auf neu messen und analysieren.

Naturwissenschaftliche Abrüstungsforschung an Hochschulen kann ihre Ergebnisse – anders als die militärische Forschung – publizieren. Sie kann aber noch weitere Akzente setzen, indem sie international, vor allem blockübergreifend (soweit man das heute noch sagen kann), durchgeführt wird. Sie kann internationale Kooperation in der Verifikationsforschung schon zu einer Zeit ermöglichen, in der Staaten zu offizieller Zusammenarbeit noch nicht bereit sind, und so die Akzeptanz für neue Verifikationsmethoden auf allen Seiten erhöhen. Das Bochumer Projekt steht in einer Reihe mit der internationalen Zusammenarbeit bei der Detektion unterirdischer Kernwaffentests, mit dem USA-UdSSR-Projekt zum Nachweis von Kernsprengköpfen und mit der Pugwash-Arbeitsgruppe zur Verifikation des Chemiewaffenabkommens.5

Unser Projekt hat – gemeinsam mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung – etwa halbjährlich Arbeitstagungen in Bonn durchgeführt, wo sich Personen aus Ministerien, Wissenschaft und Industrie über die Wiener Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) sowie über Verifikationsmethoden ausgetauscht haben. Im internationalen Rahmen haben wir die Workshops on Verification of Arms Reductions mit initiiert und vorbereitet. Der erste Workshop fand Ende 1988 in London statt, der zweite im September 1990 in Wien.6 Weil die Teilnehmer(innen) aus Verhandlungsdelegationen und Regierungsbehörden, Politik- und Naturwissenschaft, Industrie und Militär in Ost und West kamen, wurden sowohl die aktuellen Entwicklungen in den Verhandlungen wie auch die Perspektiven von Abrüstung und Verifikation diskutiert. Der Wiener Workshop war vor allem auf den KSE-Vertrag bezogen; hier wurden auch erstmals ausführlicher Ergebnisse naturwissenschaftlich-technischer Verifikationsforschung vorgetragen.

Die Gutachter der Stiftung Volkswagenwerk haben das Bochumer Projekt sehr positiv beurteilt. Die nunmehr bewilligten Mittel für die zweite Phase enthalten ein weiteres Graduiertenstipendium für eine(n) dritte(n) Doktoranden/in. In den verbleibenden zwei Jahren wollen wir noch mindestens je eine Meßkampagne an Land- und an Luftfahrzeugen machen, und zwar möglichst auf dem Territorium der (ehemaligen) UdSSR. Die ersten beiden Doktorarbeiten (über den seismisch-akustischen Nachweis von Landfahrzeugen, über einen SQUID-Magnetfeldsensor mit Hochtemperatur-Supraleiter) sind abzuschließen; die noch ausstehenden Forschungsberichte über Meßkampagnen müssen – nach ausführlicher Datenauswertung – geschrieben werden. Mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der RUB wollen wir Musterformulierungen für einen Vertragsartikel, für das Verifikationsprotokoll und für den technischen Anhang ausarbeiten, wie sie zur Regelung der Sensor-spezifischen Aspekte in einem künftigen Abrüstungsvertrag in Europa (KSE 2 oder 3?) stehen könnten. Weil naturwissenschaftliche Abrüstungsforschung noch auf geraume Zeit erforderlich bleiben wird, werden wir uns dafür einsetzen, daß diese Forschung – nach Auslaufen der fünfjährigen Startfinanzierung durch die Stiftung Volkswagenwerk – an der RUB institutionalisiert und auf Dauer weiterbetrieben wird.

Mitarbeit an Lehrveranstaltungen (Auswahl)

  • Konventionelle Rüstungsbegrenzung in Europa heute – interdisziplinäre Vorlesung zu technischen, historischen und rechtlichen Fragen
  • Physik und Technik der Verifikation von Rüstungsbegrenzungsabkommen
  • Abrüstung und Rüstungskontrolle II – Praxis der Rüstungskontrolle: Vertragsanwendung, Vertragsbruch, Verifikation
  • Kooperative Sicherheitsstrukturen im neuen Europa – Abrüstung, Verifikation, Zusammenarbeit

Meß- und Auswertegeräte (Auswahl)

  • 21 Geofone; 14 Mikrofone; 2 Magnetfeld-Sensoren; 3 Unterwasser-Mikrofone
  • 30 Vorverstärker-Kanäle
  • Analog-Digital-Wandler mit Multiplexer für 64 Kanäle, 12 Bit Auflösung, 80.000 Werte/Sekunde kontinuierlich auf Festplatte
  • Laptop-Computer (niedriger Stromverbrauch, 80C286) mit Erweiterungsbox für Steckkarten, externe Festplatte 1050 Megabyte, externe optische Platte für 800-Megabyte-Kassetten
  • Schnelle Computer (80386) – auch hier können die externen Platten angeschlossen werden
  • 2 große 12-V-Batterien (je 230 Ah), Ladegerät, 220-V-Wandler für netzunabhängigen Meßbetrieb
  • 2100 m Kabel
  • selbst geschriebenes Meß- und Auswerteprogramm, insgesamt ca. 600 Kilobyte Quelltext in Turbo-Pascal

Anmerkungen

1) Für den Sensoreinsatz zur Verifikation s. z.B.: J. Altmann, B. Gonsior, Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung von konventionellen Waffen, Sicherheit und Frieden, vol. 7, no. 2, pp. 77-82, 1989. Zurück

2) R. Alfier, J. Altmann, L. Anger, W. Baus, B. Gonsior, J. Hanousek, W. Kaiser, J. Klinger, J. Malek, M. Pospisil, V. Rudajev, I. Sabo, Ground Vibration and Acoustic Waves Produced by Land Vehicles of the Warsaw Treaty Organization – Results of the 1989 Measurements at Doksy, CSFR, Verification – Research Reports, no. 1, Bochum: Brockmeyer, 1990. Die von uns gegründete Berichtsreihe ist auch für Ergebnisse aus anderen Institutionen offen, z.B.: Burkhard Rost, Automatic Sensor Networks for Verifying Disarmament of Aircraft, Verification – Research Reports, no. 2, Bochum: Brockmeyer, 1991. Zurück

3) R. Alfier, J. Altmann, W. Baus, A. DeVolpi, B. Gonsior, J. Grin, J. Hanousek, V. Journé, W. Kaiser, J. Klinger, P. Lewis, J. Malek, J. Matousek, M. Pospisil, B. Rost, V. Rudajev, I. Sabo, P. Stein, Ground Vibration, Acoustic Waves and Magnetic Disturbances Produced by Land Vehicles of the North-Atlantic Treaty Organization – Results of the 1989 Measurements at Baumholder, FRG, Verification – Research Reports, no. 3, Bochum: Brockmeyer, to appear in 1991. Zurück

4) S. z.B. die Jahresberichte der schwedischen Verteidigungsforschungsanstalt FOA: Seismology 1985, FOA Rapport C 20605-T1; Seismology 1986, FOA Rapport C 20662-9.1 (2.2). S. auch: A. Güdesen, G. Becker, J. Klemp, Luft- und Bodenschallsensoren in der Wehrtechnik, in: Jahrbuch der Wehrtechnik, Bd. 19, Koblenz: Bernard & Graefe, 1990. Zurück

5) Unser Projekt wurde zu mehreren internationalen Buchprojekten über die Verifikation der Abrüstung konventioneller Streitkräfte eingeladen, u.a.: R. Kokoski, S. Koulik (eds.), Verification of Conventional Arms Control in Europe: Technical Constraints and Opportunities, Stockholm/Boulder: SIPRI/Westview, 1990; J. Grin, H. van der Graaf (eds.), Unconventional Approaches to Conventional Arms Control Verification – An Exploratory Assessment, Amsterdam: VU University Press, 1990; F. Calogero, M. L. Goldberger, S. P. Kapitza (eds.), Verification – Monitoring Disarmament, Boulder etc.: Westview, 1991. Zurück

6) J. Altmann, J. Rotblat (eds.), Verification of Arms Reductions – Nuclear, Conventional and Chemical, Berlin etc.: Springer, 1989; J. Altmann, H. van der Graaf, P. Lewis, P. Markl (eds.), Verification at Vienna – Monitoring Reductions of Conventional Forces, to be published. Zurück

Dr. Jürgen Altmann ist Physiker an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied der Naturwissenschaftler – Initiative »Verantwortung für den Frieden«

Exkurs zum Friedensbegriff in der Friedenswissenschaft

Exkurs zum Friedensbegriff in der Friedenswissenschaft

von Karlheinz Koppe

Die Debatte über die Spannweite des Friedensbegriffes (und analog dazu des Sicherheitsbegriffes) ist so alt, wie es Friedens- und Konfliktforschung gibt. Unbeschadet oder trotz umgangssprachlicher Begriffsbildungen wie »innerer Friede« und »soziale Sicherheit« wird von vielen Friedensforscherlnnen der Begriff Frieden mehr oder weniger eng auf den Zustand der internationalen Beziehungen bezogen und die damit <->zusammenhängende Sicherheitsproblematik ebenfalls mehr oder weniger eng militärisch/territorial interpretiert. Dies wird nur scheinbar durch den Verweis auf den Gegenbegriff von Frieden, nämlich Krieg, bestätigt, denn schon beim Begriff »Bürgerkrieg« zögern wir, den entsprechenden Gegenbegriff zu benutzen: »Bürgerfrieden«, was in der Tat innerem Frieden und sozialer (innerer) Sicherheit sehr nahe käme. Hilfsbegriffe wie »negativer Frieden«, »positiver Frieden« und »Gerechtigkeit« geben das, was zum Ausdruck gebracht werden soll, nur unvollkommen wider.

Die Wissenschaftlerlnnen, die sich seit Mitte der sechziger Jahre kritisch mit diesem »engen« Friedens- und Sicherheitsverständnis auseinandersetzen und deshalb sich zur »kritischen Friedensforschung« rechnen, haben stets die innere, gesellschaftliche Dimension des Friedens in ihre Analysen und theoretische Reflektionen einbezogen. Ihr Gegenbegriff ist nicht allein Krieg, sondern Gewalt in allen ihren internationalen und innergesellschaftlichen Erscheinungsformen. Galtungs Arbeiten zur »strukturellen Gewalt« haben freilich die Auseinandersetzung enger versus weiter Friedensbegriff nicht beendet, wohl aber – wie ich meine – zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung geführt.1 Mit der Zeit haben Friedensforscherlnnnen beide Ansätze bestenfalls als komplementär gelten lassen oder einfach ihren jeweiligen eigenen Ansatz verfolgt, ohne weiter auf diese Auseinandersetzung einzugehen. Nicht zuletzt aufgrund der politischen Rahmenbedingungen und der staatlichen Forschungsförderungspraxis konnten sich die »traditionellen« Ansätze mit einer Fülle empirisch angelegter Untersuchungen durchsetzen.2 Ich habe dies stets für eine Verarmung der Friedensforschung gehalten, die zu einer Vernachlässigung theoretischer Reflektion geführt hat.

Forschung über Ursachen und Bedingungen von Gewalt

Für mich hat es Symbolwert, daß das erste wirklich deutsche friedenswissenschaftliche Kolloquium vom 17. – 19. Juli 1990 in Berlin just in dem Haus am Kleinen Wannsee tagte, in dem 19 Jahre zuvor eine Erklärung verabschiedet wurde, die als eines der Grunddokumente der kritischen Friedensforschung in der Bundesrepublik bezeichnet werden kann. Dort heißt es: „Friedensforschung ist Forschung über Ursachen und Bedingungen von Gewaltanwendung. Sie fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen friedfertigen Konfliktverhaltens. Ihre Forschungsstrategie, die die strukturelle Dimension kollektiver Gewalt berücksichtigen muß, ist auf die Verminderung organisierter Gewaltpotentiale sowie kollektiver und individueller Gewaltanwendung gerichtet.“ 3 Auch der Wissenschaftsrat, der zur Gründung der inzwischen wieder aufgelösten Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung gutachterlich Stellung nahm, hatte sich ähnlich geäußert: „Sie (Friedensforschung) ist »engagierte Wissenschaft«, die auf Veränderung der bestehenden Verhältnisse gerichtet ist, soweit diese durch Unfrieden und die Austragung von Konflikten mit Gewalt gekennzeichnet sind… Da das Verhältnis der Staaten zueinander mit den inneren Verhältnissen in den Staaten zusammenhängt, und der gesellschaftliche Friede wiederum von der Einstellung der Individuen zueinander und zu ihrem eigenen Leben beeinflußt wird, kann der Frieden nicht nur als ein Phänomen zwischenstaatlicher Beziehungen verstanden werden. Vielmehr muß die wissenschaftliche Erforschung des Friedens einschließlich der sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Strukturen sowie der psychologischen Faktoren erfolgen.“ 4 Bemerkenswert ist, daß der eher traditionellen Denkschemata verpflichtete Wissenschaftsrat die Kategorie »Krieg« und »Bürgerkrieg« durch den weiteren Begriff »Unfrieden« erweitert, um damit gewaltträchtige innergesellschaftliche Konflikte zu bezeichnen, und analog dazu die Kategorie »Frieden« durch den Begriff »gesellschaftlicher Friede«.

Daraus leite ich ab, daß die Auseinandersetzung über den Friedensbegriff für die Friedenswissenschaft unverzichtbar ist. Der Streit um ein enges oder weites Verständnis ist notwendig und darf nicht zugunsten des engen Verständnisses beendet oder auch nur verkürzt werden. Er ist in den letzten Monaten erneut virulent geworden, unter anderem weil – wie ich vermute – die inzwischen schon »klassisch« zu nennende Friedensforschung (in den achtziger Jahren weitgehend synonym mit Rüstungskontrollforschung und Ost-West-Konfliktforschung) durch die politischen Ereignisse obsolet geworden ist, und zwar nicht erst seit dem 3. Oktober oder 9. November 1990.

Friedensforschung und globale Probleme

Die Friedenswissenschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada, aber auch in Finnland und teilweise in Norwegen und Schweden, hat übrigens zu keinem Zeitpunkt eine Entscheidung für einen engen oder weiten Friedensbegriff gesucht. Rund die Hälfte aller friedenswissenschaftlichen Curricula (peace studies) in diesen Ländern rangieren unter dem Begriff der conflict resolution, die nach Lösungsmodalitäten für äussere und innere Konflikte sowie Überwindung von Gewalt (wiederum in allen ihren Erscheinungsformen) sucht. Vor allem werden in diesen Ländern die neuen Bedrohungen in den Bereichen der Wirtschaft und der Umwelt ausdrücklich und intensiv in die Friedensforschung einbezogen. Die Eigenprojekte und Drittmittelbewilligungen des United States Institute for Peace (USJP), das vom Kongreß unterhalten wird (und von dem bei Gründung – zu Unrecht – befürchtet wurde, daß es sich eher in Richtung eines traditionellen Strategieforschungsinstituts entwickeln könnte) beziehen sich auf Konflikte unterschiedlichster Art. Ähnliches gilt für die großen US-amerikanischen Stiftungen (Ford, Rockefeller, Carnegie, MacArthur). Bemühungen, wie sie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der VW-Stiftung zu erkennen sind, nämlich Friedensforschung auf einen sehr engen Friedens- und Sicherheitsbegriff festzulegen (andere Fragestellungen werden natürlich auch gefördert, dann aber unter Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Ökologie usw.), sind dort unvorstellbar. Das von der kanadischen Regierung in Ottawa unterhaltene Canadian Institute for International Peace and Security (CJJPS) hat in den letzten zwei Jahren den ökonomischen und ökologischen Bedrohungen einen gleichen friedens- und sicherheitspolitischen Rang, wenn nicht sogar einen Vorrang gegenüber militärisch-sicherheitspolitischen Untersuchungen eingeräumt. Schließlich und endlich hat das jüngste Friedensgutachten der drei (bundesrepublikanischen Friedensforschungsinstitute (HSFK, IFSH, FES) ebenfalls die neuen Bedrohungen deutlicher als bisher hervorgehoben. Rüstungskontrolle ist nur noch eins von vier Kapiteln und überdies das letzte. An erster Stelle stehen »Globale Probleme«, eingeleitet mit einer Studie zur »Internationalen Klimakonvention«. Gert Krell schreibt in seinem einführenden Essay: „Die klassische Friedens- und Sicherheitspolitik muß von der Ökologie- und der Entwicklungsproblematik her neu definiert werden.“ 5 Das gilt für die Friedensforschung gleichermaßen, denn sonst entsteht die absurde Situation, daß die Politik zum Vorreiter eines neuen Friedensverständnisses wird und die Wissenschaft nur noch empirisch die politischen Vorgaben nachbereitet. Wer sollte unter solchen Umständen noch Friedensforschung fördern wollen?

Ein denkbares und nach meiner Ansicht notwendiges Einvernehmen darüber, daß der Friedensbegriff nicht enggeführt werden, sondern Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses bleiben sollte, beantwortet freilich nicht einen anderen, pragmatischen Einwand gegen einen allzu ausufernden Friedens- und Sicherheitsbegriff: die Sorge, daß ein weiter Friedensbegriff kaum überschaubar und noch weniger handhabbar sei. Ein(e) Friedensforscherln könne nicht die Fülle aller denkbaren friedensrelevanten Faktoren im Blick haben. Empirische Untersuchungen würden wenn nicht unmöglich, so doch erheblich erschwert. Ein weites Friedensverständnis schließt jedoch nicht aus, daß der/die einzelne Wissenschaftlerln sich einem bestimmten Forschungsbereich zuwendet, um diesen zu analysieren und zu bearbeiten. Andere werden die Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen und Felder zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen. Beide können aus ihren jeweiligen Erkenntnissen Schlüsse ziehen und in die theoretische Reflektion einbringen.

Schnittstellenforschung

Das wiederum bedeutet nicht, daß sich Friedensforschung zur Wirtschafts- oder Umweltforschung entwickeln muß. Der Beitrag der Friedensforschung sollte vielmehr darin bestehen, die Schnittstellen zu erkunden, wo beispielsweise wirtschaftliche, ökologische oder gesellschaftliche Erscheinungen und Vorgänge beginnen, den äußeren und/oder inneren Frieden zu gefährden. Das sind vor allem jene Gefährdungen, die grenzüberschreitende Wirkung haben und damit die Interessen von Nachbarstaaten beeinträchtigen. Oft genanntes Beispiel ist neben der Luftverschmutzung (saurer Regen, Treibhauseffekt, Ozonlöcher), die grenzüberschreitende Nutzung von Wasser und Ressourcen (Nil, Euphrat, Jordan, Niger, Ostsee, Nordsee, Tropenwälder, Erdöl – die Besetzung Kuweits durch den Irak wurde – zumindest formaljuristisch – mit dem Anzapfen irakischer Ölfelder durch die Kuweitis begründet). Auch der Rechtsextremismus kann eine friedensgefährdende Dimension annehmen, wenn er durch eine Bedrohung demokratischer Ordnungen oder territoriale Forderungen die internationalen Beziehungen gefährdet. Das gleiche gilt für linksextreme Aktivitäten ebenso wie für ethnisch oder fundamentalreligiös determinierte Spannungen. Der Umgang mit Muslimen oder Staatsangehörigen von Dritte-Welt-Ländern in den Industriestaaten kann unter Umständen die sowieso schon latent gespannten Nord-Süd-Beziehungen verschärfen. In allen diesen Fällen kann die Friedenswissenschaft auf Expertisen der relevanten Disziplinen zurückgreifen oder sich um Kooperation mit diesen bemühen, um die friedenspolitische (in den meisten Fällen potentiell friedens- und sicherheitsgefährdende) Dimension solcher Vorgänge zu untersuchen und in vielen Fällen überhaupt erst sichtbar zu machen. So erscheint mir beispielsweise eine kritische Überprüfung der Europäischen Gemeinschaft auf ihre internationale (und vielleicht sogar europäische) Friedensverträglichkeit hin überfällig, nachdem über Jahrzehnte hinweg die friedensstiftende Wirkung der Integration einfach unterstellt und nie hinterfragt wurde.

Verträglichkeitsforschung

Damit komme ich neben dem, was ich mit Schnittstellenforschung als einer wichtigen Aufgabe der Friedenswissenschaft bezeichne, zu einem weiteren Begriff, der helfen kann, sich dem Friedens- und Sicherheitsbegriff zu nähern: Verträglichkeitsforschung. Den Begriff der Verträglichkeit als friedensrelevantes Kriterium haben Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker eingeführt, als sie über die „Irrtumsverträglichkeit“ (Fehlerfreundlichkeit) technologischer Systeme schrieben. 6 Dies gilt in allererster Linie sowohl für Atomwaffen wie auch für die Atomkraft als solche, aber ebenso für jeden Eingriff in die natürliche Umwelt. Danach muß ein System so gestaltet werden, daß auch ein Irrtum oder ein Fehler keine irreversiblen Folgen auslöst, etwa einen »GAU« wie in Tschernobyl oder im Extremfall die Zerstörung der Zivilisation oder der Schöpfung überhaupt. Ich habe zu diesem Zweck ein Raster von »Verträglichkeiten« entworfen, das bei der wissenschaftlichen Bewertung der Friedensrelevanz von Verhaltensweisen und Vorgängen helfen kann.

Bedingungen für eine friedensverträgliche Sicherheitspolitik

Das Friedens- und Sicherheitsverständnis in den neunziger Jahren muß anderen Kriterien als das herkömmliche Sicherheitsverständnis standhalten. Es muß unter anderem folgendes leisten:

  1. Es muß friedensverträglich sein. Das heißt: es muß auf der Ebene der allgemeinen Wahrmehmung mindestens die gleiche, tatsächlich aber mehr Sicherheit gewährleisten; die Bevölkerung muß die Gewißheit haben, daß selbst einschneidende Abrüstungsmaßnahmen ihre Sicherheit nicht mindern, sondern erhöhen.
  2. Es muß international verträglich (partnerverträglich) sein. Das heißt: es muß allen Gliedern des internationalen Systems gleiche Sicherheit gewährleisten; der in Europa entwickelte Ansatz der gemeinsamen Sicherheit muß auf die Nord-Süd-Beziehungen und die Süd-Süd-Beziehungen ausgeweitet werden. Gleiche Sicherheit ist nicht quantitativ mit Blick auf Truppenstärken und Bewaffnung zu verstehen, sondern im Hinblick auf die Wahrnehmung von Sicherheit, auf das Sich-sicher-Fühlen.
  3. Es muß irrtumsverträglich (fehlerfreundlich) sein. Das heißt: die Risiken der derzeitig praktizierten Sicherheitspolitik müssen erkennbar gemindert werden; Verzicht auf atomare (bakteriologisch-biologische und chemische) Abschreckung, Reduzierung konventioneller Streitkräfte und Rüstung, sowie Verzicht auf die Militarisierung des Weltraums, auf weitere atomare Testexplosionen und auf Rüstungsexporte.
  4. Es muß wirtschafts- und sozialverträglich sein. Das heißt: Ressourcen für den Abbau asymmetrischer Beziehungen in der Weltwirtschaftsordnung und die Schaffung weltweiter und innerstaatlicher sozialer Gerechtigkeit müssen freigesetzt werden; Maßnahmen zur Überwindung der weltweiten Arbeitslosigkeit, der Verelendung in der Zweidrittelwelt, der Verschuldung der Entwicklungsländer, der neuen Armut in den Wohlstandsregionen.
  5. Es muß umwelt- und zukunftsverträglich sein. Das heißt: Verzicht auf weiteren Raubbau und weitere Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung zu Lasten kommender Generationen und Einsatz aller Ressourcen für die Erhaltung und in vielen Fällen Wiederherstellung der natürlichen Lebensbedingungen (Vorrang umweltschonender und risikoarmer Energieformen, umweltgerechter und ausreichender Nahrungsproduktion).
  6. Es muß zivilisationsverträglich sein. Das heißt: es muß der zunehmenden gewalt- und technologiebedingten Entfremdung (Stress) des Menschen entgegensteuern, die Menschenrechte achten sowie der Lage der Frauen, der Kinder, der Alten, der Behinderten und der Minderheiten jeder Art gerecht werden.
  7. Es muß konfliktverträglich sein. Das heißt: es muß Raum für den gewaltfreien Austrag von Konflikten schaffen, die durch unterschiedliche Prioritätensetzungen und Interessenwahrnehmungen sowie wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und kulturelle Spannungen immer wieder entstehen.
  8. Es muß global ordnungsverträglich sein. Das heißt: es muß die sicherheitswahrenden Funktionen und Kompetenzen internationaler und regionaler Organisationen verstärken und ausbauen (System der Vereinten Nationen u.a.).
  9. Es muß transitionsverträglich sein. Das heißt: es muß den Übergang von der herkömmlichen Sicherheitspolitik mit vorrangig militärischen Mitteln zu einer Sicherheitspolitik deutlich machen, die sich auf weitgehend gewaltfreie und kontrollierte politische Macht stützt, die wiederum auf internationale Verteilungsgerechtigkeit und Bewahrung der Umwelt ausgerichtet ist.

Anmerkungen

1) Ein Beispiel für die Hilflosigkeit bei der Begriffsbestimmung liefert E.0. Czempiel: „Wie beispielsweise die Diskussion um die Neue Weltwirtschaftsordnung zeigt, wird von einigen Ländern der Dritten Welt sogar als 'Gewalt' der Industriestaaten empfunden, was aus deren Perspektive sich so überhaupt nicht darstellt. Ein industriell hochentwickelter Staat, der im internationalen Wirtschaftssystem seine Standortvorteile wahrnimmt, übt sicher keine Gewalt aus, wenn er durch die Ausnutzung seiner Vorteile anderen Ländern wirtschaftliche Möglichkeiten nimmt und dadurch Hunger und Armut bewirkt. Hier hat also ein Verhalten, das beim besten Willen nicht als Gewalt bezeichnet werden kann, Folgen, die auf der Adressatenseite zu Recht als gewaltsam angesehen werden. Das herkömmliche Friedensverständnis endet hier sowieso; wahrscheinlich wird deswegen die internationale Politik der Gegenwart, vor allem im Nord-Süd-Bereich, nicht als Friedensproblem angesehen.“ Czempiel, Ernst-Otto, Friedensstrategien – Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, Seite 49 f. Inzwischen wird solches Verhalten tatsächlich als eine Form von Gewalt interpretiert, die Frieden und Sicherheit international und innerstaatlich gefährdet. Zurück

2) Hierzu hat Dieter Senghaas eine einleuchtende Deutung gefunden: „Rüstungen – so lautet der Befund am Ende des Kapitels zur Abschreckungsproblematik – verschlingen nicht nur finanzielle Mittel; sie sind auch zum Nachteil der politischen Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Friedensgestaltung 'aufmerksamkeitsfressend'. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich nicht von der Abschreckungs- und Rüstungsanalyse ablenken … aber seine Absicht ist es sehr wohl, die Aufmerksamkeit auf Probleme umzulenken, die – wenigstens nach meiner Beurteilung – zur Zeit die wesentlichen sind: auf die langfristigen politischen Probleme der Friedensgestaltung, bei denen es sich auch um weltordnungspolitische handelt. Mit ihnen sich zu beschäftigen scheint mir wichtiger zu sein, als – wie in der Friedensdiskussion üblich geworden – hinter den immer wieder neuesten Rüstungsrunden herzuhecheln.“ Senghaas, Dieter, Die Zukunft Europas – Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt 1986, Seite 17 f. Die Feststellung von Senghaas trifft leider nicht nur auf die Friedensdiskussion zu, sondern im gleichen Maße auch auf die (bundesrepublikanische) Friedensforschung. Zurück

3) Erklärung zur Friedensforschung, in: Senghaas, Dieter (Hg), Kritische Friedensforschung Frankfurt 1971, Seite 416 ff. Zurück

4) Gutachten des Wissenschaftsrates vom Mai 1970, Auszüge in: Dokumentation zur Tätigkeit der Deutschen GeseUschaft für Friedens- und Konfliktforschung 1970-1983, Eigenveröffentlichung der DGFK, Bonn 1983, Seite 13 ff. Zurück

5) Gert Krell, Egon Bahr und Johannes Schwerdtfeger (Hrsg.), Friedensgutachten 1990. Münster 1990. Die Bemerkung von Krell findet sich auf Seite 24. Zurück

6) Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker, Fehlerfreundlichkeit, in: Klaus Kornwachs (Hg.), Offenheit, Zeitlichkeit, Komplexität. Zur Theorie offener Systeme. Frankfurt am Main 1984. Zurück

Karlheinz Koppe ist Leiter der Arbeitsstelle Friedensforschung in Bonn (AFB).

Positiv bestimmter Friedensbegriff – Ergebnisse interdisziplinärer Bearbeitung politischer Begriffe

Positiv bestimmter Friedensbegriff – Ergebnisse interdisziplinärer Bearbeitung politischer Begriffe

von Helmut Metzler

Die Dynamik politischer Prozesse führt zu Wandlungen von Begriffsinhalten, die sich einesteils in Neubestimmung althergebrachter Termini, andernteils darin äußern, daß letztere durch neue ersetzt werden. Im Umkreis des Themas »Frieden« finden wir solche Prozesse sowohl spontan ablaufend als auch bewußt gestaltet. Das heißt aber, daß Begriffsumgang und Begriffsbildung selbst ein Bestandteil gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung sind. Dementsprechend spielte in der offensiven Auseinandersetzung US-amerikanischer Friedensorganisationen mit der Reaganschen Rüstungspolitik die Neudefinition zentraler Begriffe der Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle.1

Das nachfolgende Definitionsangebot entsprang aus dem Bedürfnis wissenschaftlicher Selbstverständigung und dient als geistiges Organisationsmittel für interdisziplinäre Forschung zum Thema „Der positiv bestimmte Begriff des Friedens im gesellschaftlichen Bewußtsein“. Da im gesellschaftlichen Bewußtsein das Alltagsdenken zweifelsohne im Vordergrund steht, ist es naheliegend, eine Definition ähnlich der von Vogt/Rubbert-Vogt zu verwenden. Diese Autoren formulieren: Der positive Frieden „zielt auf einen gerechten und gewaltfreien Interessenausgleich zwischen den Konfliktpartnern im System der internationalen Bemühungen, auf die Tolerierung andersartiger Denk- und Lebensweisen, auf die Verwirklichung menschenwürdiger Verhältnisse überall auf der Welt und nicht zuletzt auf eine Anerkennung gemeinsamer Überlebens- und Vernichtungsbedingungen im Zeitalter der Nuklearwaffen“ 2

Entwicklungsstabilität von Menschengemeinschaften

Aus wissenschaftsorganisatorischen Überlegungen, daß nämlich Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete aller Fakultäten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena in einer nebenberuflichen, aus eigener Verantwortung übernommenen Friedensforschung auf einer vereinheitlichenden Grundlage arbeiten, empfiehlt sich eine Begriffsbestimmung höherer Allgemeinheit, die aber auch den Nachteil größerer Abstraktheit in Kauf nehmen muß. Der Spezifik des Gegenstandes, d.h. dem Frieden als Wirklichkeit, als Wunsch und als Gefährdetem, angemessen, bot sich an, ihn systemwissenschaftlich zu definieren:

Frieden ist Entwicklungsstabilität von Menschengemeinschaften, in die der Bezug auf die Menschheit als Ganzes bis hin zum Einzelmenschen eingeht. Das heißt: Menschengemeinschaften leben in Frieden, wenn sie die in ihrer Entwicklung auftretenden Widersprüche und Konflikte zwischen ihren einzelnen Bürgern oder auch Teilgemeinschaften sowie gegenüber außenstehenden Gemeinschaften kooperativ bzw. bewußt ohne Einsatz bewaffneter materieller oder geistiger Gewalt lösen bzw. dämpfen. Diese systemwissenschaftliche und zugleich objektwissenschaftliche Definition integriert in sich eine Empirie aus einer psychologischen, einer linguistischen und einer logischen Erhebung sowie Modellüberlegungen aus Logik und Linguistik. Obwohl sie geeignet ist, eine große Bandbreite von alltäglichen Sprechweisen über Frieden in einem einheitlichen Begriff integrativ zu verarbeiten und so sowohl psychologische als auch soziologische und völkerrechtliche Erkenntnisse miteinander zu verbinden, so befriedigt sie jedoch nicht die politischen Alltagsansprüche friedensbewegter Wissenschaftler. Hier sind Aussagen, wie die von Vogt/Rubbert-Vogt zitiert wesentlich attraktiver.

Eine solche, politische Orientierungen gegenwärtiger Auseinandersetzungen einbeziehende, positive Bestimmung des Begriffs »Frieden« ist der subjektiven Komponente, wie sie jedem politischen Phänomen eignet, besser angemessen als die obige systemwissenschaftliche Definition.

Anwendungsforschung – Grundlagenforschung

Teilt man die Auffassung von Egbert Jahn, der Friedensforschung generell als Anwendungsforschung versteht, „die zur Verwirklichung eines politischen und gesellschaftlichen Zieles, des Friedens, beitragen will“ 3, dann sind die im Zusammenhang mit der angegebenen systemischen Definition verfolgten Ziele, eine große Bandbreite alltäglicher Sprechweisen zu überdecken und eine hohe Allgemeingültigkeit anzustreben, irrelevant. Gegen die angestrebte großflächige Überdeckung von Friedensverständnis spricht auch eine Überlegung E.-0. Czempiels, daß „ein Begriff nicht … heterogene gesellschaftliche Zustände abdecken kann“ 4, worauf noch zurückzukommen sein wird. – Gegenüber der Auffassung von E.Jahn läßt sich vertreten, daß jede wissenschaftliche Forschungsrichtung, so auch die Friedensforschung, einen Grundlagenanteil verfolgen muß, und daß es sogar in die Verantwortung der Wissenschaftler fällt, theoretische Arbeit hoher Allgemeingültigkeit zu leisten, um mögliche Universalien bestimmter Gegenstandsgebiete erfassen zu können. Jedoch sind aus wissenschaftsinternen Gründen gewählte Definitionen, wie die vorgetragene systemwissenschaftliche, wegen ihrer inhaltlichen Konzentriertheit und gleichzeitigen Armut an politischer Handlungsanleitung ungeeignet für eine politische Propaganda. In diese können sie nur eingeflochten in konkret das Handeln orientierende Erläuterungen vermittelt werden. Mit diesem Hinweis wird das Wechselverhältnis zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung angesprochen, dem besonders unter dem Aspekt des Alltagsdenkens Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.

Alltagsbewusstsein

Klaus Horn charakterisiert Alltagsdenken als „konservativ“ 5. Diese Beschaffenheit drückt Karl Marx etwas anders aus, indem er dem Alltagsdenken nachsagt, im Extremfall „paradox zu wissenschaftlichem Denken“ zu stehen6.

Diese Spannung zwischen wissenschaftlichem und Alltagsdenken muß auch für die Arbeit mit Ergebnissen der Friedensforschung in der Friedensbewegung in Rechnung gestellt werden. Die Ursachen für die genannte Eigenart des Alltagsdenkens liegen einerseits in generellen Zügen menschlicher Kognition begründet, andererseits aber auch in gesellschaftlichen Faktoren von Entwicklungsträgheit. Erstere wurden von Klaus Holzkamp unter dem Gesichtspunkt der widerspruchseliminierenden Funktion menschlicher Wahrnehmung und der Widerspruchrekonstruktion im Denken diskutiert7, während letztere im Rahmen sozialpsychologischer Untersuchungen zur Vorurteilsbildung behandelt wurden. Diese Widerspruchselimination ist selbst nur ein Spezialfall einer allgemeineren Beschaffenheit alltäglichen Denkens, nämlich komplexe Strukturen möglichst mithilfe von Ausdrücken mit einstelligen Prädikaten, d.h. unter Nutzung einfacher Eigenschaftsbegriffe zu verarbeiten. Das bedeutet, daß ein relationaler Friedensbegriff aus dem Völkerrecht ebensowenig dieser Vereinfachungsneigung gerecht wird wie ein systemischer, der unumgänglich ist, wenn von einem die Menschheit als Ganzes betreffenden Frieden gesprochen wird. Dieser Tatsache muß Rechnung getragen werden und zwar sowohl, wenn Wissenschaftler an einen begriffsredefinierenden Disput in der Friedensbewegung ähnlich dem zur »national security« in den USA teilnehmen, nämlich als selbst in die Friedensbewegung integrierte Personen, als auch im Bemühen, Friedensforschungsergebnisse in die öffentliche Bewußtseinsbildung, also in die Friedensbewegung, einzubringen. Weitere Eigenarten des Alltagsdenken scheinen in ähnlicher Richtung zu wirken, z.B. daß es der unmittelbaren Lebenssicherung dient und nur unter Anstrengung auf generalisierte Themen zu lenken ist, daß es weniger analytisch und deduktiv arbeitet, sondern eher assoziativ und durch Anschauung bzw. Wahrnehmung geleitet ist, daß zeitweilig die eine oder andere Komponente des Alltagsdenkens dominiert, d.h. Abbildung, Entwurf oder Projektion (als Mischung aus falscher Abbildung und falschem Entwurf). Bei Anerkennung der angegebenen Einschränkungen ist dennoch zu erwarten, daß das Alltagsdenken einer Leistungssteigerung bezüglich der Erfassung komplexer Strukturen unterliegt. Diese Vermutung gründet für das Friedensdenken in den Zwängen, die aus den globalen Problemen entspringen, die als Entwicklungsantriebe gewertet werden können. Es gelten hier analoge Überlegungen zu denjenigen, die bezüglich der Entwicklung der Widerspruchswahrnehmung in „Interpersonelle Wahrnehmung und Urteilsbildung“ vorgetragen wurden8.

Aus dieser Sicht läßt sich eine Aussage von 0.Czempiel akzeptieren, daß im Hinblick auf seine Komplexität der Friedensbegriff aus dem Alltagsverständnis herausgenommen werden muß, weil dieses ihn verkennt und so verfehlt. Der Friede müsse „auf seinen wissenschaftlichen Begriff gebracht werden“ 9. Ergänzend ist hier hinzufügen, daß dieser Begriff dann aber wiederum in das Alltagsdenken überführt werden muß, damit dieses, Demokratie realisierend,an der Friedenspolitik mitwirken kann.

»Leben« und »Entwicklung«

Um das Überführungsproblem etwas zu verdeutlichen, muß die tatsächliche Komplexität des Friedensbegriffs, wie sie aus der angegebenen systemischen Definition zu entnehmen ist, erläutert werden. Frieden wird als Attribut höherer Stufe verstanden, das sich vermittels der Attribute »Leben« und »Entwicklung« realisiert. Damit wird von einer erweiterten Reproduktion der Gemeinschaft ausgegangen. Zugleich ist ausgedrückt, daß Frieden ein Attribut höherer Stufe über Gemeinschaft ist. Hierdurch kann Frieden als Weltfrieden für die Menschheit ebenso wie als Frieden für Teile der Menschheit begriffen werden.

Frieden wird als Stabilität in der Selbstregulation menschengemeinschaftlicher Entwicklung verstanden, damit als fördernde Bedingung, als Steigerungsfaktor für die Entfaltung gesellschaftlicher Dynamik, für die auftretende Widersprüche und Konflikte selbstverständlich sind.

Positive und negative Begriffsbestimmung gehen in den Frieden gleichermaßen ein, ohne daß aber nur militärische Auseinandersetzungen ausgeschlossen werden, sondern ebenso z.B. psychologische Kriegsführung als Form eines Einsatzes geistiger Gewalt.

In der negativen Begriffsbestimmungskomponente ist auf das Bewußte verwiesen, weil jede Form von Krieg bewußt geschieht, nicht aber jedes Auftreten von geistiger Gewalt bereits Kriegscharakter hat. Vielmehr muß im Unbewußten wirkende geistige Gewalt als Widerspruchs- und Konfliktquelle angesehen werden, deren Aufdeckung und Bewältigung zur Dynamik der Friedensgestaltung gehören.

Wenn auch der Gemeinschaften betreffende Frieden, d.h. ein systemisch betrachteter Frieden, in den Vordergrund gerückt ist, so berücksichtigt die angebotene Definition doch auch den zwischenstaatlichen (relationalen) Frieden. Als Grenzfälle lassen sich Konkretisierungen gewinnen, die den Frieden statisch als Zustand bzw. Eigenschaft bestimmen oder auch die interpersonelle ebenso wie die menschlich individuelle Ebene erfassen.

Die systematisch mehrdeutige Verwendung des Friedensbegriffs

An dieser Stelle muß auf den Einwand E.-0.Czempiels zurückgekommen werden, daß „ein Begriff nicht zwei heterogene gesellschaftliche Zustände abdecken kann“. Im Alltagsdenken erfolgt dies aber, wie in empirischen Untersuchungen zum Umgang mit dem Terminus »Frieden« belegt werden konnte10.

Der »Kunstgriff«, der dies erlaubt, ist, daß der Terminus systematisch mehrdeutig verwendet wird, wobei die jeweils für die Verständigung notwendige Eindeutigkeit durch die Einbettung in den verbalen und nonverbalen Kontext gegeben ist. Nur ideologische Borniertheit, feindbildstrukturiertes Denken u.ä. verkennen im politischen Disput den systematisch-mehrdeutigen Gebrauch des Terminus »Frieden«, reißen die Bedeutungen auseinander und spielen sie gegeneinander aus. In den Friedensdiskussionen früherer Jahre in der DDR trafen z.B. Meinungen aufeinander, in denen Vertreter einzelner christlicher Gruppen den persönlichen Seelenfrieden aller Menschen als entscheidende Voraussetzung für einen Weltfrieden angaben und Marxisten dagegen hielten, daß eine friedliche Weltordnung allein durch eine friedliche Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu erreichen sei. Unter dem Dach der Ideologisierung wurde dieser Gegensatz in der Weise in die Gedankenwelt projiziert, daß es zwei unvereinbare Friedensbegriffe gäbe, einen individualistischen und einen kollektivistischen. Diese Art des nicht-kooperativen Meinungsstreites war eine der praktisch-politischen Anlässe für den Verfasser, sich der Aufklärung der Semantik des Friedensbegriffs zuzuwenden. Der von Czempiel geforderten Vereinfachung begrifflicher Festlegung ist im Sinne des klassischen Konzepts von Theoriebildung zuzustimmen. Das Bemühen, Friedensforschung im lebendigen Kontakt mit der Friedensbewegung zu gestalten, muß die Spezifik des Friedensbegriffs, eines systematisch mehrdeutigen Gebrauchs des zugehörigen Terminus, auch für die Theoriebildung in Rechnung setzen. Dem Erfordernis versucht die oben angebotene Definition entgegenzukommen.

Überlegungen der vorgetragenen Art betreffen nur die kognitive Komponente. Wollen wir die dagegen anschaulich-emotionale erfassen, die wir unbedingt einbeziehen müssen, wenn wir den entwerfenden Umgang mit dem Friedensbegriff als Orientierung für Friedenshandeln anregen bzw. fördern wollen, dann können wir nicht wie Dolf Sternberger einen Bruch zwischen einem religiös gepflegten utopisch anmutenden Friedensbegriff und einem realistischen, der z.B. Gedanken wie die von Th.Hobbes über menschliches Verhalten in einer kapitalistischen Ellbogengesellschaft berücksichtigt, betonen. Vielmehr gilt es auf der entwerfenden ebenso wie auf der abbildenden Seite das Alltagsdenken anzureichern. Das erfordert, nicht nur den Eigenschafts- bzw. Zustandsbegriff von Frieden, z.B. als Ruhe und Harmonie, als paradiesische Versorgung, entwerfend zu nutzen, sondern auch den systemischen bzw. den relationalen. Systemisch läßt sich z.B. erklären, warum und unter welchen Bedingungen »Frieden wiederum Frieden heckt« und warum für das Gegenstück gilt, daß sich Krieg selbst zersetzt. Solche Einblicke in Selbstregulationen sind für den modernen Menschen generell, insbesondere aber für den Berufspolitiker wichtig, daß er seinen entwerfenden Umgang mit dem Friedensbegriff weiterentwickeln kann. Damit wird eine wichtige geistige Potenz für die Friedensbewegung aktivierbar. – Es ist klar, daß nicht alleine durch einen besseren Umgang mit dem Friedensbegriff in seiner abbildenden und entwerfenden Funktion politische Kräfte in Gang kommen. Werden aber die Erkenntnisse der Kognitionspsychologie abbildungs- und handlungsorganisierende Funktion von Schemata und über die gesellschaftliche Bedeutsamkeit von Vorurteilen – im Zusammenhang mit dem Feindbildbegriff wurde sie ja weltweit diskutiert11 – Ernst genommen, dann wird man bei allen soziologischen sowie sozialpsychoanalytischen und anderen sozialpsychologischen Überlegungen über Sozialtraditionen und über Interessenlagen in den menschlichen Antrieben diesen kognitiven Komponenten, wie sie in der vorangehenden Begriffsdiskussion angesprochen wurden, einen angemessenen Platz einräumen.

Positiver Friedensbegriff und Weltgesellschaft

Für den positiv bestimmten Begriff des Friedens ist im Hinblick auf die emotional-wertende Seite und deren Wirksamkeit in den psychischen Entwürfen hervorzuheben, daß er ein Individuen und Gemeinschaften beliebiger Größe zusammenführendes Phänomen betrifft und daß er aus dieser Sicht einen Wert repräsentiert, der für das Zusammenwachsen der Menschheit zu einer Weltgesellschaft eine ähnliche Bedeutsamkeit haben kann, wie sie der durch den Begriff der Nation repräsentierte Wert für die Überwindung von Stammesgrenzen in der Herausbildung von inneren Märkten und von modernen Staaten ausübte. Über diesen Wert sollte in gründlicher Weise nachgedacht werden. Im Unterschied zum Begriff der Nation kann die durch Friedensbeziehungen und -aktivitäten zusammengeschlossene Gemeinschaft beliebig erweitert werden und muß sich nicht regional begrenzen, etwa als EG oder als Staatengruppe im KSZE-Prozeß. Diese Wert-Rolle des Friedensbegriffs kann dadurch stärker ins Bewußtsein gehoben werden, daß die Einigungsprozesse nicht nur unter ökonomischem und Militärmacht erweiterndem Aspekt öffentlich beurteilt werden, sondern daß der Frieden als »Völker verbindender und so Einigungsprozesse fördernder Wert« selbst auf die Fahnen der Friedensbewegung geschrieben wird, Weltfrieden als orientierender Wert zur Bildung einer Welt-Völkergemeinschaft förderativer Struktur und zur politischen Profilierung der Herausbildung eines Weltmarktes beinhaltet nicht einen Zustand bzw. eine Eigenschaft, sondern ein tätiges Verhältnis und ist nur als Kooperation und Koevolution zu begreifen und zu gestalten.

Anmerkungen

1) Ugl. R.Herwig: »National security« – eine Neubestimmung des Begriffsinhaltes durch die Frauen-Friedensbewegung der USA. Ebenso: H.Schorcht: Was ist »nationale Sicherheit«? – Bemühungen der USA-Friedensbewegung um eine Neubestimmung des Begriffs. Beide Beiträge in: Pro pace mundi 8, Jena 1990, i. Vorb. Zurück

2) W.R.Vogt (Hrsg.): Angst vorm Frieden. Über die Schwierigkeiten der Friedensentwicklung für das Jahr 2000. Vorwort. Darmstadt 1989. S.IX Zurück

3) E.Jahn: Von der internationalen Friedensforschung zur nationalen Sicherheitsforschung? In: Perspektiven der Friedensforschung. B. Moltmann (Hrsg.),Baden-Baden 1988 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.U., AFK; Bd.15) S.93 Zurück

4) E.-O. Czempiel: Friedensstrategien. Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft. Paderborn; München; Wien; Zürich 1986 (UTB für Wirtschaft: Uni-Taschenbücher; 1397) S.26 Zurück

5) Vgl. K. Horn: Zur Bedeutung sozialpolitischer, kultureller und ideologischer Aspekte für die Kriegsursachenforschung. Einführende Bemerkungen zur Diskussion. In: K.Horn: Gewalt – Aggression – Krieg. Baden-Baden 1988 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.U., AFK; Bd.13) S.292 Zurück

6) Ugl. Karl Marx: Lohn, Preis und Profit. In: K.Marx/F.Engels: Werke Bd. 16. Berlin 1968, S.129 Zurück

7) Vgl. K.Holzkamp: Sinnliche Erkenntnis – Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Frankfurt a.M. (Fischer Athenäum Taschenbücher FAT 4100). S.213ff, 344f Zurück

8) Vgl. H.Hiebsch et al.: Interpersonelle Wahrnehmung und Urteilsbildung. Psychologische Grundlagen der Beurteilung von Menschen. Berlin 1986, S.104ff Zurück

9) E.-0.Czempiel, a.a.0., S.23 Zurück

10) Vgl. H.Metzler: Untersuchungen zur Struktur des Friedensbegriffs im Alltagsdenken. In: Bewußt-Sein für den Frieden. Rundbrief der Friedensinitiative Psychologie. Psychosoziale Berufe e.V. Marburg Sonderausgabe Dezember 1989, S.56ff. oder ders.: Empirische Untersuchungen zum alltäglichen Verständnis des Begriffs des Friedens. pro pace mundi 5 Jena 1989, S.71ff Zurück

11) Vgl. W.Lilli: Entwicklung von Feindbildern aus sozialpsychologischer Sicht. In: Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. G.Sommer et al. (Hrsg.) Beiträge aus Psychologie und anderen Humanwissenschaften. Marburg 1987 S.16ff; ferner: J. Schissler/Ch. Tuschhoff: Kognitive Schemata: Zur Bedeutung neuerer sozialpsychologischer Forschungen für die Politikwissenschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 35253/88, 23.Dezember 1988 Zurück

Dr. Helmut Metzler ist Hochschullehrer für Psychologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena.

Von der »flexible response« zur gegenseitigen defensiven Dominanz

Politiker, Militärs und Friedensforscher aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik: Das alternative Gesamtkonzept für die Nato

Von der »flexible response« zur gegenseitigen defensiven Dominanz

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Am 28.4.89 wurde in Pressekonferenzen in Washington, London und Bonn ein Gesamtkonzept für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik der NATO vorgestellt. Die Urheber: der British American Security Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group (Großbritannien) und dem Comittee on National Security (USA). Zu den Verfassern bzw. Unterstützern des Papieres zählen solch prominente Leute wie die ehemaligen SIPRI-Direktoren Frank Barnaby und Frank Blackaby, der ehemalige CIA-Direktor William E. Colby, die Direktorin der Oxford Research Group Scilla Elworthy, Raymond Garthoff (Brookings Institution), der Präsident von Pugwash Prof. Joseph Rotblat, Flottillenadmiral Elmar Schmähling und der frühere Direktor der US-Abrüstungsbehörde Paul Warnke. Bemerkenswert ist v.a. die Tatsache, daß US-amerikanische, britische und deutsche Sicherheitsexperten in engerer Zusammenarbeit begonnen haben, über alternative Konzepte zur bestehenden NATO-Strategie nachzudenken. Es nimmt nicht wunder, daß bei der unterschiedlichen Ausgangslage die Annäherung an eine gemeinsame, neue Sicherheitspolitik ein mühsamer Prozeß ist. Viele Vorschläge sind daher eher zurückhaltend formuliert. Immerhin. Eine Grundrichtung ist hier skizziert, die weitergehenden Überlegungen Türen öffnet.Wir veröffentlichen im folgenden Auszüge aus dem „Comprehensive Concept“.

Die Ziele und die neuen Wege des Denkens

Die Vorstellungen eines sicheren Europas sind natürlich nicht vereinbar mit dem Ausmaß der gegenwärtigen militärischen Konfrontation. Die beiden Bündnisse gegeben gegenwärtig 500 bis 600 Milliarden Dollar jährlich für militärische Vorbereitungen innerhalb und um Europa herum aus – eine Summe, die in etwa dem gesamten Nationalprodukt Großbritanniens entspricht. Im Zentrum der Konfrontation, in den beiden deutschen Staaten zusammen, kommt ein Soldat – oder Angehöriger der Streitkräfte – auf 54 Einwohner.

Angesichts der im wesentlichen stabilen Natur der politischen Situation in Europa ist dieses Ausmaß der Militarisierung absurd. Es ist die Konsequenz der Bemühungen beider Bündnisse, Sicherheit durch einseitige Entscheidungen über Rüstung und Militärausgaben zu erreichen – eine Konsequenz, die mit der irrigen Ansicht verbunden ist, daß höhere Militärausgaben größere Sicherheit bewirken. Dieser Wettbewerb führt zu größerer Unsicherheit, einem höheren Ausgabenniveau und treibt ein endloses technologisches Wettrüsten an.

Gemeinsame Sicherheit

Es gibt inzwischen eine Reihe von Vorschlägen über Sicherheit, die den Weg weisen für ein sicheres Europa. Möglicherweise erweist sich als gewichtigste Vorstellung die der »Gemeinsamen Sicherheit«: Sicherheit kann nur noch gemeinsam mit dem potentiellen Gegner erreicht werden.

Sicherheit muß auf Vereinbarungen abzielen – im einzelnen oder insgesamt – mit Staaten, die zu Recht oder fälschlicherweise als potentiell feindselig angesehen werden. Dies hat eine Reihe von Schlußfolgerungen. Es schließt die einseitige Einführung von Waffensystemen aus. Es erfordert Transparenz und ein Ende der Geheimniskrämerei bezüglich militärischer Entwicklungen – es gibt gemeinsame Sicherheit, wenn jede Seite über die militärischen Entwicklungen der anderen Seite informiert ist. Wenn sie nicht gut informiert ist, dann wird sie den schlechtesten Fall annehmen und entsprechend reagieren.

Hinreichende Verteidigungsfähigkeit

Eine zweite neue Vorstellung ist die der »hinreichenden Verteidigungsfähigkeit«. Staaten brauchen eine Stabilität bezüglich ihrer Militärstrukturen; sie benötigen lediglich eine militärische Struktur, die ausreicht, um einen Angriff abzuschrecken. Dies betrifft in besonderer Weise die atomaren Waffensysteme. Für Abschreckungszwecke benötigt man nur eine kleine Zahl unverwundbarer Atomsprengköpfe – und es gibt keinen Bedarf, über diese Zahl hinauszugehen, was immer die andere Seite unternehmen mag. Parität bei den Nuklearsprengköpfen ist aus Sicherheitsgründen nicht erforderlich.

Gegenseitige Defensive Dominanz

Die dritte Vorstellung ist die einer »gegenseitigen defensiven Dominanz«. Parität produziert nicht notwendigerweise Stabilität. Wenn Staaten oder Bündnisse über gleiche Streitkräfte verfügen, die starke offensive, aber schwache defensive Fähigkeiten besitzen, liegt eine unstabile Situation vor, auf der jede Seite versucht sein könnte, als erste loszuschlagen. Ein Wandel hin zu defensiveren Strukturen erfordert Veränderungen nicht nur bei Waffensystemen sondern auch hinsichtlich der Doktrinen, der Taktik, der Übungen usw. Wären in ganz Europa defensive Fähigkeiten stark und offensive Fähigkeiten schwach, dann könnte kein Staat einen erfolgreichen Angriff starten. Deshalb wird bei den Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa so viel Wert gelegt auf die Verringerung vor allem der offensiven Fähigkeiten und auf Schritte hin zu einer denfensiven Ausrichtung.

Demilitarisierung der internationalen Beziehungen

Schließlich zeigen die Erfahrungen der europäischen Länder der Nachkriegszeit, daß Sicherheit nicht nur eine militärische Angelegenheit ist – in der langfristigen Sicht nicht vorrangig eine militärische Angelegenheit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft fühlen sich in ihren wechselseitigen Beziehungen untereinander sicher vor dem Einsatz militärischer Streitkräfte. Das hat nicht zu tun mit irgendeiner Parität bei ihren militärischen Fähigkeiten. Die gesamte Vorstellung des Einsatzes militärischer Streitkräfte zur Regelung irgendwelcher Streitigkeiten ist einfach ausgeschlossen. Die politischen Beziehungen untereinander sind demilitarisiert. Ihre Sicherheit hängt von einer Vielzahl von Verbindungen untereinander ab – nicht nur wirtschaftliche Verbindungen sondern auch soziale, kulturelle und persönliche Verbindungen gleichermaßen. Es gibt keinen Grund dafür, warum dieses Muster internationaler Beziehungen – d.h. die Demilitarisierung dieser Beziehungen – langfristig nicht auch über den Rest von Europa ausgebreitet werden kann.

Drei Etappen für ein sicheres Europa

Drei Etappen können wir uns vorstellen, um Fortschritte auf dem Weg zu einem tatsächlich sicheren Europa zu machen.

Die erste Etappe erfordert die Übernahme der Vorstellung der »Gemeinsamen Sicherheit« – zwischen den potentiellen Gegnern müssen militärische Entwicklungen und Strukturen und die Formen der Verringerung vereinbart werden.

Die zweite Etappe ist die gegenseitige defensive Dominanz, in der die Fähigkeit für offensive militärische Aktionen eliminiert wird.

In der dritten Etappe muß eine Beziehung erreicht werden, in der militärische Dispositionen nicht länger für relevant gehalten werden, um auf irgendeine Weise Streitigkeiten zwischen den Staaten zu regeln. Diese dritte Etappe erfordert eine intensive Entwicklung aller Verbindungen, die Nationen so zusammenzuführen, daß der Krieg zwischen ihnen ausgeschlossen werden kann.

Vierzig Jahre lang wurden die Diskussionen über die Sicherheit in Europa immer identifiziert mit der Diskussion über das militärische Gleichgewicht zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag. Es überrascht deswegen nicht, daß einige Leute diesen militärischen Antagonismus als unveränderbare Größe ansehen: die Sowjetunion ist der Feind und wird es immer sein und deshalb wird es immer substantielle militärische Streitkräfte auf beiden Seiten der Trennungslinie in Zentraleuropa geben.

Es ist eine der Lektionen in diesem Jahrhundert, daß »Feindstrukturen« dieser Art alles andere sind als unverrückbar… Politiker im Westen sollten sich auf den Gedanken einstellen, daß die Sowjetunion ebenfalls möglicherweise aufhört, der Feind zu sein.

Wenn wir langfristig ein Europa erreichen, in der die Vorstellung über den Gebrauch oder die Androhung von Gewalt ausgeschlossen wird, dann können die beiden Allianzen sich auflösen. Die NATO wurde als Organisation ins Leben gerufen, um auf eine spezifische Bedrohung zu antworten – jener aus der Sowjetunion. Falls diese Bedrohung nicht länger existiert, dann gibt es keine Notwendigkeit für diese Organisation, sich damit zu befassen. Die NATO ist nicht der richtige Ort für Aktionen, die bei Konflikten oder Spannungen irgendwo in der Welt in Gang gesetzt werden müssen. Die Vereinten Nationen sind der richtige Ort, um sich mit solchen Problemen zu befassen; sie beweisen heute wesentlich mehr Effektivität als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Maßnahmen, die Spannungen außerhalb Europas betreffen, sollen mit dem politischen Ziel verbunden sein, die Fähigkeiten der UN auszubauen.

Die Verhandlungen

Die Geschichte der Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen ist insgesamt nicht ermutigend. Insbesondere die vorangegangenen Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa dauerten 14 Jahre und erreichten keine Übereinkunft.

Es gab eine Tendenz bei den Rüstungskontrollverhandlungen in der Vergangenheit, sie in feindseliger Weise als Null-Summen-Spiel zu führen. Das Ziel glich manchmal dem eines militärischen Wettstreits – nämlich einen militärischen Vorteil über den Gegner zu erzielen. Die Ausgangsvorschläge schienen meist so angelegt, daß sie auf die Verringerung jener Systeme zielten, bei der der Gegner einen militärischen Vorteil hatte, und jene Systeme zu erhalten, bei der die eigene Seite im Vorteil war. Wenig Begeisterung gab es dafür, Sicherheit und eine Entlastung der Ressourcen für friedlichere Zwecke durch gemeinsames erfolgreiches Arbeiten zu erzielen.

Es wäre ein großer Vorteil, wenn die neuen Verhandlungen eine weniger feindselige Form bekämen. Sie sollten Teil eines Versöhnungs- und Rückversicherungsprozesses sein; sie sollten begleitet werden durch eine Entlastung bei den Verteidigungsausgaben und durch Verbesserungen der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Ideal wäre es für die Teilnehmer, wenn sie die Verhandlungen im Geiste gemeinsamer Sicherheit führten, als gemeinsame, kooperative Suche nach einer weniger gefährlichen und weniger verschwenderischen Struktur der militärischen Präsenz in Europa. Die Teilnehmer sollten auf die Einführung neuer Waffensysteme verzichten – und tatsächlich im Idealfall auch ihre Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet der Entwicklung verringern – während die Verhandlungen laufen.

Eines der wesentlichen Zeile der Verhandlungen sollte die Einführung erheblich größerer Transparenz bei militärischen Fragen sein. Im neuen System der Überprüfbarkeit, das beim Abschluß eines Vertrages notwendig wäre, hat militärische Geheimniskrämerei keinen Platz. Tatsächlich richtet sie sich gegen das Grundprinzip der gemeinsamen Sicherheit: man kann sich nur dann mit dem potentiellen Gegner über militärische Strukturen verständigen, wenn jede Seite weiß, welche militärischen Strukturen bestehen. Wesentlich größere Transparenz hätte den vorteilhaften Nebeneffekt, größere Teile der Geheimdiensteinrichtungen abbauen zu können.

Verifikations-Forschung

Die neuen Verhandlungen sollen durch größere substantielle Forschungsmittel gestützt werden, vor allem im Bereich der Überprüftechnik. Es gibt ein großes Ungleichgewicht zwischen den Forschungs- und Entwicklungsmitteln, die für neue Waffen vergeben werden (die in fast allen Fällen destabilisieren und die Sicherheit verringern) und Forschung und Entwicklung, die zur Unterstützung der Abrüstung und Rüstungskontrolle aufgebracht werden.

Die neuen Verhandlungen könnten sinnvollerweise durch regelmäßige internationale Dialoge zwischen Militärs begleitet sein, die sich mit der Bedrohungswahrnehmung und den Doktrinen befassen. Da eins der Hauptziele darin besteht, militärische Strukturen hin zu Verteidigungsoptionen zu ändern, sollten beide Seiten versuchen, eine gemeinsame Beurteilung der Arten eines solchen Wandels zu erreichen; dies wäre eine nützliche Ergänzung zum Verhandlungsprozeß selbst.

Unglücklicherweise gibt es kein Zeitlimit für die neuen Verhandlungen – vor allem nachdem die vorangegangenen Verhandlungen solange andauerten und nichts erreichten. Die Verhandlungsführer sollten bestärkt werden, substantielle Übereinkünfte vor der 4. KSZE-Folgekonferenz im März 1992 in Helsinki zu erreichen. Eine gemeinsame Vorgabe durch die Regierungschefs mit diesem Ziel wäre hilfreich.

Öffentlicher Druck

Ein Grund für das Scheitern der bisherigen Verhandlungen war fehlendes öffentliches Interesse daran. Nur wenige Leute wußten, daß diese Verhandlungen stattfanden und noch weniger kannten die Gegenstände, um die beide Seiten stritten. Regierungen sollten öffentliche Debatten zu diesen Fragen der Sicherheit in Europa entfachen und sie nicht als zu komplexe Fragen behandeln, die einfache Leute ohnehin nicht verstehen. Es bedarf eines gewissen, allgemeinen öffentlichen Drucks auf Regierungen, diese Verhandlungen auf jede mögliche Weise zu beschleunigen. Dies würde verstärkt, wenn eine starke europäische Abrüstungsbewegung existierte, die auch staats-unabhängige Organisationen in den Ländern des Warschauer Vertrages umfaßte. Die entspannteren Verhältnisse in diesen Ländern machen dies jetzt möglich. Es sollte auf diese Weise möglich sein, das alte Bild zu vermeiden, die öffentliche Meinung bedränge nur eine Seite.

Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte

Die neuen Verhandlungen sind potentiell ein großer Fortschritt gegenüber den vorangegangenen, indem sie erheblich mehr und vorrangig Sensibilität zeigen, die Möglichkeiten für einen Überraschungsangriff oder großangelegte offensive Operationen zu beseitigen. Die Ausgangslinie der NATO-Vorschläge für die Bezifferung bestimmter offensiver Waffensysteme, die beide Seiten behalten, bezeichnet rund 95% der gegenwärtigen NATO-Kräfte. Das Argument der NATO scheint darin zu liegen, daß die Vorneverteidigung an den westdeutschen Grenzen ein bestimmtes Mindestmaß militärischer Verbände beider Seiten 100 Kilometer diesseits und jenseits der Grenze erfordert und daß die NATO-Verbände nicht wesentlich über diesem Mindestmaß liegen. Die NATO scheint tatsächlich zu behaupten, daß ihre vorhandenen Streitkräfte erforderlich sind, mehr oder weniger unabhängig von der Größe der offensiven Streitkräfte der anderen Seite. Dies ist unglaubwürdig, vor allem, wenn die Verringerungen sich auf offensive Waffensysteme konzentrieren sollen.

Eine anspruchsvollere Ausgangslinie

Wir brauchen eine anspruchsvollere Ausgangslinie: d.h. eine Reduzierung um mindestens 10% unterhalb des gegenwärtigen Streitkräfteniveaus der NATO. Auf jeden Fall muß die NATO in der nächsten Etappe bereit sein, über die Verringerung um 5% bei ihren Streitkräften hinauszugehen; deshalb sollte die NATO jetzt mit intensiven Untersuchungen darüber beginnen, wie diese Strukturveränderungen aussehen, die weitere Verringerungen mit sich brächten.

Die NATO schlägt jetzt eine Obergrenze für den Gesamtbestand von Kampfpanzern mit 40.000 in Europa vor – was nur sehr geringe Reduzierungen aus der NATO-Seite zur Folge hat. Da Kampfpanzer offensive Waffen par Excellence sind, gibt es gute Gründe dafür, eine radikalere Reduzierung vorzuschlagen.

Die NATO scheint auch den Vorschlag einer defensiven Zone auf beiden Seiten des Mittelabschnitts der Grenze, aus der alle Atomwaffen und alle offensiven Waffen zurückgezogen werden, aber in der defensive Waffen zugelassen sind, nicht zu mögen. Vermutlich hat die NATO etwas gegen diesen Vorschlag, weil er sich auf die vorne stationierten Streitkräfte bezieht. Dieser Vorschlag wäre allerdings viel leichter zu verifizieren als eine umfassende Begrenzung der Panzer in Europa und es wäre eine sehr wirksame Maßnahme, um dem Ziel näher zu kommen, groß angelegte offensive Operationen unmöglich zu machen.

Die NATO ist gegenwärtig ebenso wenig bereit, Begrenzungen bei Kampfflugzeugen vorzuschlagen, da sie in kurzer Zeit wieder nach Europa verbracht werden könnten. (Natürlich können sich die Verhandlungspositionen verändern). Es wäre möglich, sich mit dieser Frage zu befassen, indem eine globale Obergrenze bestimmter Flugzeuge vereinbart wird, zum Beispiel bei den US-F und FB 111 sowie den sowjetischen Backfire-Bombern. Die INF-Verhandlungen stellen dafür einen Präzedenzfall dar. Diese Verhandlungen waren ursprünglich nur auf Europa begrenzt. Sie endeten in einem Abkommen über ein vollständiges, weltweites Verbot einer bestimmten Waffenkategorie.

Wir brauchen als Ergänzung zu diesen Verhandlungen einige Maßnahmen einseitiger Zurückhaltung. Die Sowjetunion hat natürlich hierbei schon ein Beispiel gegeben. Die NATO hat einige Jahre lang ein Spektrum von Waffensystemen entwickelt, die unter die Rubrik »Follow-On-Forces-Attack« (FOFA) fallen. Sie sollen präzise Schläge auf die zweite Welle der (östlichen) Verbände ausführen und auf Einrichtungen hinter der gegnerischen Linie. Diese Fähigkeiten, obwohl sie zweifellos für Verteidigungszwecke konzipiert sind, könnten auch bei einem Angriff sehr wirkungsvoll sein, Krisen destabilisieren und für die andere Seite provozierend wirken. Auf diesem Gebiet bedarf es also einseitiger Selbstbeschränkung.

Atomare Verbände

Lange bevor eine signifikante Verringerung der konventionellen Streitkräfte in Europa zur Debatte stand, geriet die NATO-Doktrin der Flexible Response unter ernsthaften und wirksamen Beschuß. Diese Doktrin erfordert einen möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionellen Angriff.

Die NATO beschreibt diese Doktrin auch als »kontrollierte Eskalation«. Das Wort »kontrolliert« ist eindeutig falsch. Wenn einmal die atomare Schwelle überschritten wird, dann kann niemand vernünftig annehmen, daß die Eskalation kontrolliert werden könnte, bevor Europa verwüstet ist. Mit den Worten von Bundy, Kennan, McNamara und Gerard Smith in einem Artikel aus dem Jahr 1982: „Es ist Zeit zu erkennen, daß niemand bisher erfolgreich und überzeugend darlegen konnte, daß von jeglichem Einsatz von Atomwaffen, selbst auf der untersten Skala, ernsthaft erwartet werden könnte, daß er begrenzt bliebe. Jede seriöse Analyse und jede militärische Übung seit 25 Jahren hat gezeigt, daß selbst der begrenzteste Gefechtsfeldeinsatz enorm zerstörerisch für ziviles Leben und Gut sein wird. Niemand kann darauf vertrauen, daß ein derartiger atomarer Schlagabtausch nicht zu weiteren Verwüstungen führt. Jeder Einsatz von Atomwaffen in Europa … birgt ein hohes Risiko der Eskalation.“

Falls Fortschritte erzielt werden, um die Bedrohung durch groß angelegte konventionelle offensive Operationen zu beseitigen, wird diese Kritik umso stärker werden. Falls ein Abkommen ausgehandelt wird, um die konventionellen Streitkräfte zu verringern, dann macht es Sinn, auch einen Vertrag zur Begrenzung der Rolle der Atomwaffen auf die einfache Funktion der Abschreckung gegen ihren Einsatz durch jeden anderen Staat anzustreben und folgerichtig über taktische Atomwaffen zu verhandeln. Diese Waffen sind nicht für die Abschreckung im eigentlichen Wortsinn geeignet – es sind präemptive Kriegsführungswaffen. Für Abschreckungszwecke sollten Atomwaffen nicht vorne stationiert sein, wo sie verwundbar sind und wo sie überrannt werden können, was zu dem bekannten Dilemma »use-them-or-lose-them« (setze sie ein bevor du sie verlierst) führt.

Atomwaffenverbände kurzer Reichweite

Verhandlungen über taktische Atomwaffen in Europa sollten deshalb zugleich zu den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte laufen. Die NATO hat allen Grund, auf diesem Gebiet einseitig Bewegung zu zeigen und mit dem Abzug der atomaren Artilleriewaffen zu beginnen, verbunden mit der Aufforderung an die Sowjetunion das gleiche zu tun. Die Verhandlungen sollten sich anschließend mit bodengestützen Atomraketen mit Reichweiten unter 500 km befassen. Im Idealfall sollten sie vollständig beseitigt werden – ein Vorschlag, der als »dritte Null-Lösung« bekannt ist. Falls dies nicht gelingt, sollten nur sehr geringe Systeme auf beiden Seiten verbleiben. Die Sowjetunion verfügt über wesentlich mehr Raketen dieser Kategorie als die NATO, so daß ein substantieller numerischer Vorteil bei der NATO läge.

Einige westliche Politiker scheinen ängstlich bemüht zu sein, Kurzstreckenraketen auf europäischen Boden zu halten, offensichtlich deshalb, weil die Vereinigten Staaten eher bereit wären, einen atomaren Schlagabtausch zu beginnen, wenn diese Raketen vorhanden sind. Das könnte tatsächlich sein; doch genau dies eröffnet ein mögliches Szenario, in dem beide Großmächte entscheiden, einen Atomkrieg in Europa auszufechten und ihren Schlagabtausch so zu begrenzen, daß ihre eigenen Territorien verschont bleiben. Dies ist kaum im europäischen Interesse.

Diese Vorschläge zur Beseitigung taktischer Atomwaffen und zur Veränderung der NATO-Strategie hin zur »No-First-Use«-Doktrin sind nicht weit entfernt von den Hoffnungen vieler Menschen, die eine atomwaffenfreie Welt erstreben und die sehen, daß die Doktrin einer minimalen Abschreckung berechtigterweise von einer Vielzahl anderer Nationen übernommen werden könnte. Der Abzug taktischer Atomwaffen würde allerdings zumindest anerkennen, daß sie für Kriegsführungszwecke nicht gebraucht werden können. Dies wäre ein logischer Weg, um das in die Tat umzusetzen, was in gemeinsamen Erklärungen bei den Gipfeln von Präsident Reagan und Gorbatschow stand, daß nämlich „ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und deshalb nie ausgetragen werden darf.“

Seestreitkräfte

Seestreitkräfte sind vom Mandat für die Konferenz über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa ausgenommen. Ohne Zweifel hält die NATO dies für einen Verhandlungsvorteil, zumal die Seestreitkräfte der NATO denen des Warschauer Vertrages überlegen sind. Allerdings werden Verhandlungen an einigen Punkten und in einigen Foren über Rüstungskontrolle und Abrüstung auf See beginnen müssen. Soweit ersichtlich sind nur Unterseeboote, die ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen tragen, einbezogen worden.

Höchst wünschenswert wäre es, wenn ein Abkommen ausgehandelt würde, vergleichbar jenem, das für Europa beabsichtigt ist, um alle taktischen Atomwaffen von Kriegsschiffen abzuziehen. Sie haben keine klare militärische Funktion und sie sind besonders gefährlich, da sie keinen »besonderen Einsatzgenehmigungen« unterworfen sind – an Bord der Schiffe könnte entschieden werden, ob sie abgefeuert werden und die Kommandozentralen könnten nichts unternehmen, um dies zu stoppen.

In den neuen Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen, die zwischen den 35 Mitgliedstaaten des KSZE-Prozesses – der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – begonnen haben, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, daß die Manöver zur See in die Tagesordnung mit aufgenommen werden. Die NATO scheint diesem Vorschlag nicht zuzustimmen; das ist eine unvernünftige Haltung. Es gibt guten Grund für bestimmte Begrenzungen – um Provokationen zu vermeiden, zum Beispiel bei Seemanövern in der Nähe der Küsten eines Landes ohne die Zustimmung der betreffenden Regierung.

Chemische Waffen

Chemische Waffen sind ebenso von der Tagesordnung der Konferenz über die Reduzierung konventioneller Waffen in Europa ausgeklammert, weil sie Gegenstand globaler Verhandlungen sind. Diese Verhandlungen sind allerdings über viele Jahre sehr langsam vorangekommen. Falls es innerhalb von zwei Jahren keinen weltweiten Vertrag gibt, dann wäre ein regionales Abkommen zwischen NATO und Warschauer Vertrag zu rechtfertigen.

Ziel eines solchen Abkommens wäre der Abzug aller chemischen Waffen aus dem Gebiet, das durch das Mandat der KSZE-Gespräche abgedeckt wird – oder, als zweitbeste Lösung, aus dem zentralen Raum Mitteleuropas. Dies sollte verbunden sein mit umfassenden Vorkehrungen für Inspektionen, die im Rahmen der globalen Verhandlungen erörtert werden. Auf diese Weise würde ein regionales Abkommen sich als nützliche vertrauensbildende Maßnahme erweisen und wertvolle Erfahrungen bereitstellen, die von den globalen Verhandlungen anschließend übernommen werden können. Darüberhinaus sollte es ein Verbot über jegliche militärische Übungen geben, die den Einsatz solcher Waffen simulieren…

Quelle: Frieden und Abrüstung. Hrsg: ifias, 53 Bonn

Für nützliche Zwecke forschen: Global Challenges Network

Für nützliche Zwecke forschen: Global Challenges Network

von Redaktion

Er wolle nicht immer nur gegen etwas kämpfen, hat Hans-Peter Dürr, Professor für Physik am Max-Planck-Institut in München, einmal gesagt. Daher rief er statt SDI die WPI ins Leben. WPI steht für World Peace Initiative. Zur Präzisierung und Umsetzung dieser Idee gründete Dürr mit Freunden am 27.1.87 in Starnberg den Verein Global Challenges Network. Ziel des Vereins ist die weltweite Vernetzung von Initiativen zu den Problemen Krieg und Frieden, Nord-Süd-Konflikt, Erschöpfung nicht regenerierbarer Ressourcen und Zerstörung unserer natürlichen Umwelt.

Nach dem „Vorbild“ der Fletscher-Kommission, die für das SDI-Programm 800 Einzelprojekte definierte, sollen viele Projekte entwickelt und gefördert werden. Es soll dabei vor allem Wert gelegt werden auf praktische Problemlösungsansätze. In diesem Jahr sollen noch zwei internationale Konferenzen organisiert werden. Den Beginn macht im Juli eine Konferenz in Sternberg, auf der das Konzept konkretisiert werden soll. Teilnehmen werden Repräsentanten von Greenpeace International, GLOBAL 2000, der Pugwash-Konferenz, des Club of Rome, der Union of Concerned Scientists und der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion.

Auf dem Moskauer Friedensforum trug Dürr seine Ideen vor und regte die Bildung einer Internationalen Studiengruppe (International Science and Technology Study Group) an. Ihre erste Aufgabe würde es sein – die drängenden globalen Probleme zu strukturieren und sie in handhabbare Projekte aufzulösen,

  • praktische Ansätze zu prüfen,
  • das bestehende Problemlösungspotential in Wissenschaft, Technik und Industrie herauszuarbeiten,
  • Quellen der politischen und finanziellen Unterstützung ausfindig zu machen.

Dürr verwies auf zahlreiche Ansätze in vielen Ländern, die Volkswirtschaft mit nichtmilitärischen Initiativen zu stimulieren. Auch sei die Bereitschaft zur Ost-West-Kooperation bei wissenschaftlich-technischen Unternehmungen wieder im Wachsen. Die meisten Initiativen jedoch zielten auf partikulare neue Technologien. In Anbetracht der enormen Kosten für Forschung und Entwicklung in diesen Feldern (z.B. der Weltraumforschung) scheine es jedoch bedeutend, diesen traditionellen Ansatz zu revidieren. Anstatt mit der Entwicklung spezifischer Technologien zu beginnen und der nachfolgenden Erwägung ihrer Anwendungsmöglichkeiten und -gefahren, sollte am Anfang die Entscheidung stehen, welche Probleme gelöst werden sollten. Eine Reihenfolge entsprechend der sozialen Dringlichkeit müßte festgelegt und dann könnten Forschung und Entwicklung auf den Weg gebracht werden.

Dürr führte weiter aus: „Die treibende kraft hinter vielen enormen technologischen Entwicklungen und Innovationen gegenwärtig ist nicht hauptsächlich der Wunsch, den Menschen bessere Lebenschancen oder mehr Lebensqualität anzubieten, sondern eher – wie ich fürchte – der Eifer, die Gewinne einer ökonomischen Elite zu steigern und die Macht weniger über viele zu festigen (…)

Vielleicht verlangt die Lösung der drängenden globalen Probleme nicht solch extreme Technologien und HighTech wie bei der Weltraumforschung und SDI. Deshalb könnten einige Angst haben, daß die Bearbeitung dieser Probleme intellektuell nicht ehrgeizig genug sei, um die Phantasie und den Enthusiasmus unserer Wissenschaftler und Techniker anzuregen und daß dies Geschäft nicht „glänzend“ genug sei, ihre Eitelkeit zu nähren. Einige von ihnen werden es sicher vorziehen, ihren Namen in Verbindung mit einem Stern zu sehen als mit einem Plan zur Nutzbarmachung der Wüste. Wir sollten jedoch erkennen, daß … angesichts der Geschwindigkeit, mit der wir der Katastrophe entgegengehen, viele Menschen – gerade junge Menschen – während der letzten Jahre eine Motivation entwickelt haben, ihre Arbeit und ihre intellektuellen und moralischen Energien den wahren menschlichen Bedürfnissen zu widmen (…)

Die verschiedenen Projekte von Global Challenges Network werden eine hervorragende Chance für eine enge Zusammenarbeit zwischen Ost und West bieten" insbesondere wenn wir uns zuerst konzentrieren auf die Probleme der Ökologie und der Energie, in denen beide Seiten „im gleichen Boot“ sitzen (…)

Ich lade Sie alle ein, meine Ideen für eine Kooperation bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen zu erwägen, Ihre Kritik zu äußern und über Wege nachzudenken, in welcher Form Sie sich beteiligen können (…)“

Die Einladung von Dürr sollte aufgegriffen werden. Nicht zuletzt das Projekt amerikanischer und sowjetischer Wissenschaftler zur Erprobung von Verifikationsverfahren bei Atomtests hat gezeigt, welch große Wirkung von solchen Unternehmungen ausgehen kann. Warum sollten nicht Teile der Scientific community beginnen – neben dem nach wie vor nötigen Engagement gegen Katastrophenpolitik und Techno-Manie -, auf neue und konstruktive Art, an den Problemen unserer Zukunftssicherung zu arbeiten?

Wissenschaft und Friedenssicherung. Eine Untersuchung an der Philipps-Universität Marburg

Wissenschaft und Friedenssicherung. Eine Untersuchung an der Philipps-Universität Marburg

von Holger Probst

Wenn es noch der Belege bedurft hätte, daß die Wissenschaften der Kriegstechnologie und der Kriegsplanung auf allen Ebenen zuarbeiten, so hätte die sogenannte Strategic Defense Initiative dies bewiesen. Ihre Urheber präsentieren sie stolz als ein Forschungsprojekt, das den Schweiß der Edlen wert ist, und zu dem sie die Wissenschaftler der westlichen Welt „einladen“. Aber schon als es noch nur um die Nachrüstung ging, war dies vielen Wissenschaftlern Anlaß, den Beitrag ihrer Disziplin, ihres eigenen Spezialgebietes und unter Umständen auch ihrer individuellen Forschungsarbeit abzuwägen.

So entstand in einer Initiativgruppe von Marburger Wissenschaftlern Interesse an den Fragen:

Wie sieht das eigentlich an unserer Universität in Marburg aus? Arbeiten unsere Kollegen auch an militärisch bedeutsamen Projekten? Halten sie ihre Disziplin und ihre Arbeit überhaupt für militärwissenschaftlich verwendbar?

Welche Vorstellungen haben sie von den Möglichkeiten ihrer Arbeit und ihres Faches, zur Friedenssicherung beizutragen?

Halten sie es überhaupt für wissenschaftlich zulässig, durch eigene Forschung und Lehre zur Friedenssicherung beizutragen?

Dies unter rund 1.500 Wissenschaftlern der Philipps-Universität zu untersuchen, wurde ein Fragebogen entwickelt und jedem in Marburg forschenden oder lehrenden Wissenschaftler individuell zugestellt.

Repräsentativität der Stichprobe wurde angestrebt: Das Anschreiben und die Formulierung des Fragebogens versuchten, „für alle Standpunkte zur Friedenssicherung faire Formulierungen vorzulegen“, sowohl für die Position „der wertfreien wie der friedenspolitisch engagierten Wissenschaft“, sowohl für die „Friedenssicherung durch Abschreckung, durch Verteidigungsbereitschaft, durch freeze oder durch Abrüstung“.

361 Respondenten, eine Rücklaufquote von 26 % ist eigentlich kein schlechtes Resultat, aber: Repräsentativität ist weniger eine Frage der großen Zahl als der Zusammensetzung der Stichprobe. In der erreichten Stichprobe ist aber schon die Repräsentanz der Fachbereiche ungleich (s. Tabelle), und in Bezug auf das erfaßte Meinungsspektrum herrschen deutlich Einstellungen und Handlungen vor, die auf Nähe zu den Friedensbewegungen hinweisen.

Anstatt repräsentativ zu sein, ist die Stichprobe deshalb eher eine Totalerfassung derjenigen Wissenschaftler, die zu problematisieren bereit sind: Geht die Frage der Friedenssicherung mich und meine Arbeit als Wissenschaftler etwas an? Es wird trotzdem bemerkenswert sein, welch vielfältige und kontroverse Meinungen selbst in dieser Stichprobe vertreten sind. Für die quantitative Auswertung bedeutet dies, daß man keine einzige Prozentzahl auf die gesamte Philipps-Universität hochrechnen kann, sondern daß wir in differenzierter Weise ein Meinungsprofil über die Fachbereiche zu erstellen haben.

Von 361 Respondenten haben sich in der Vergangenheit 218 Personen in „öffentlichen Anzeigen und Resolutionen zu den Zielen von Abrüstung und Entspannung bekannt“. (Hier und im folgenden kennzeichnen „ “ Zitate aus dem Fragebogen.) Weitere 74 wären „in Zukunft bereit dazu“. Wir finden also, daß knapp 300 Beantworter dem Weg zum Frieden durch Abrüstung und Entspannung nahe stehen. Im Gegensatz dazu gab es eine wesentlich kleinere Gruppe, die auf Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft vertrauende Wege zur Friedenssicherung vertritt. Nur 12 Respondenten hatten sich „öffentlich für Nachrüstung und Verteidigungsbereitschaft des Westens“ erklärt, weitere 39 Personen taten das bisher nicht, wären aber dazu bereit. Wir können den Kreis der Nachrüstungsbefürworter unter den Respondenten danach auf 50 schätzen.

244 Kollegen würden die Einrichtung eines Friedensforschungsinstituts in Marburg begrüßen; es sind meist jüngere Wissenschaftler und Nicht-Professoren. Wiederum ist diesen gegenüber die Zahl derer wesentlich geringer, die „militärische Forschung im Maßstab der Haushaltsentwicklung des Bundes“ gutheißen; dies sind 64 Respondenten, zum großen Teil deckungsgleich mit oben geschätzten 50 Nachrüstungsbefürwortern.

Aus der Gruppe der „Tauben“ stammt ein kleiner Kreis, der sich „in Vorträgen und Publikationen“ (N = 66), aber auch durch die Gestaltung von Seminaren zum Friedensthema (N = 15) persönlich engagiert hat. Bei einer gewissen Schnittmenge können wir schätzen, daß sich ca. 70 Marburger Wissenschaftler in Lehre, Vortrag und Veröffentlichung für Abrüstung und Entspannung geäußert haben.

Für die Unterscheidung der Meinungen nach der wissenschaftlichen Disziplin habe ich Fächergruppen gebildet (siehe Tabelle):

Gebiet 1 2 3
1. Naturwissenschaften 33 20 35
2. Humanmedizin 17 37 8
3. Kultur- und Sprachwissenschaften 27 28 0
4. Soziologie und Politikwissenschaft 24 7 7
5. Wirtschafts- und Rechtswissenschaft 18 33 0
6. Psychologie und Pädagogik 34 3 7
7. Theologie und Philosophie 31 0 0

Zu Spalte 1: Prozent der Wissenschaftler je Fächergruppen, die sich an der Untersuchung beteiligt haben

Zu Spalten 2-3: siehe Text (%-Zahlen)

Sehen wir nach, wie sich die Vertreter der Fachrichtungen bislang in der Frage der Friedenssicherung geäußert und verhalten haben. Aufgrund ihrer hohen absoluten Zahl haben die Naturwissenschaftler bislang viel Engagement für Kritik der Nachrüstung und Eintreten für Entspannung aufgebracht, aber unter den kleineren Gruppen der Psychologen, Erziehungswissenschaftler, Theologen und Soziologen/ Politologen sind es wesentlich höhere Anteile aktiver und engagierter Kollegen. Hier einige Zahlen. An „Anzeigen und Resolutionen für Abrüstung und Entspannung“ haben sich je rund 60 % der Natur-, Sprach- und Kulturwissenschaftler sowie der Humanmediziner beteiligt. Aber 70, 80, 90 % beträgt dieser Anteil unter den Soziologen/ Politologen, den Theologen/ Philosophen und den Psychologen/ Erziehungswissenschaftler m. Deutliche Distanz zu Friedensmanifestationen haben Rechts- und Wirtschaftswissenschafter, von denen bisher keine 30 % öffentliche Friedensappelle gezeichnet haben.

In der Medizin und den Naturwissenschaften, aber auch in Kultur- und Sprach- sowie Wirtschafts- und Rechtswissenschaften findet sich die größte Neigung zu Rüstung und Abschreckung wie auch die größte Zahl derjenigen, die sich bisher nicht öffentlich friedenspolitisch festgelegt haben. Hier tendiert die Mehrheit bei künftigem Engagement in Richtung Abrüstung und Entspannung, aber nennenswerte Minderheiten würden sich auch auf Friedenssicherung durch Abschreckung festlegen. Dies läßt in den bisher indifferenten Fächern besonders ausgeprägt in den Naturwissenschaften – zukünftig eine deutlichere Polarisierung erwarten.

Wie sehen die Marburger Wissenschaftler „für die Forschung, an der sie persönlich (mit-)arbeiten, den Bezug zur Verwendung der Ergebnisse für die Politik bzw. Technologie der Friedenssicherung?“

Am stärksten ist die Haltung der wertfreien Wissenschaft unter den Naturwissenschaftlern verwurzelt: 59 % von ihnen erklärten, daß sie die Ergebnisse ihrer Forschung von jeglichem politischen Interesse fernhalten und ihr Fach rein wissenschaftlich und wertfrei betreiben. In der Lehre halten es 69 % der Naturwissenschaftler so, daß sie alle Sachverhalte „ausgewogen, neutral und rein wissenschaftlich darstellen“.

Nur rund zur Hälfte sehen sich die Vertreter folgender Disziplinen dem Ideal der Neutralität und rein wissenschaftlicher Darstellung in der Lehre verpflichtet: Medizin, Sprach-, Kulturwissenschaft, Wirtschaft und Recht, Soziologie, Politologie. Am wenigsten sehen sich Soziologen, Politologen, Psychologen, Erziehungswissenschaftler sowie Theologen, Philosophen gehalten, ihre wissenschaftlichen Aussagen und Ergebnisse von politischen Fragen im Kontext der Friedenssicherung freizuhalten. Es ist hier noch maximal ein Vertreter je Fach, der die Maxime von Wertfreiheit und Politikferne hochhält.

Eine zweite Stufe der Fragebogenauswertung gelangt durch eine Faktorenanalyse zu Gruppierungen von Fragen – d. h. mehrere Inhaltsverwandte Items werden zu Skalen zusammengefaßt -, deren Ergebnis im Vergleich zwischen den Fachrichtungen ich im folgenden darstelle.

Die erste Gruppe von Items erfragt die „Involviertheit“ des eigenen Faches und der eigenen Forschung oder Lehre in die Auseinandersetzung um die „Friedenssicherung“ – werde sie durch Entspannung oder Abschreckung, durch Ab- oder Nachrüstung erstrebt.

Am stärksten sehen Sozial- und Politikwissenschaftler ihr Fach und ihre persönliche Arbeit in die Frage der Friedenssicherung involviert. Sie sind gefolgt von Psychologen, Erziehungswissenschaftlern und Theologen, Philosophen. Sie alle unterscheiden sich hier deutlich (und hoch signifikant) von Medizinern und Naturwissenschaftlern. Hierbei ist bemerkenswert, daß nahezu die Hälfte der Naturwissenschaftler (und Mediziner), deren Fächer wahrlich handfeste militärisch relevante Bezüge zu leisten imstande sind, verneinen, daß es „auch wehrtechnologische und militärwissenschaftliche Anwendungsgebiete“ ihres Faches gibt.

Ein zweiter Fragenkomplex betrifft die Wertfreiheit der eigenen Wissenschaft, insbesondere ihre Abstinenz gegenüber dem Krieg- und Friedensthema.

Diese Einstellung herrscht unter Naturwissenschaftlern und Medizinern so deutlich vor, daß sie sich hochsignifikant von Psychologen, Erziehungswissenschaftlern, Politologen, Soziologen und am extremsten von Theologen, Philosophen unterscheidet. Eine Frage, die den Grad der wahrgenommenen Neutralität besonders deutlich zum Ausdruck bringt, sei zitiert:

„Wie beurteilen Sie die grundsätzlichen Möglichkeiten Ihrer wissenschaftlichen Disziplin, in der Diskussion um die Friedenssicherung mitzusprechen bzw. durch Forschung oder Entwicklung Beiträge hierzu zu leisten?“

Die Zahlen in der Tabelle, Spalte 2, betreffen die Bejahung der Antwortalternative: „Meine Wissenschaftsdisziplin hat keinerlei Bezug zu dieser Thematik.“

Die pointierten Items des Fragebogens betreffen die Nähe der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu ihrer möglichen oder realen militärischen oder wehrtechnologischen Verwendung.

Es sind 14 % (51) der befragten Wissenschaftler, welche sehen, daß ihr „Fach durch Grundlagenforschung und Entwicklung wesentliche Beiträge zu wehrtechnologischen und militärwissenschaftlichen Projekten leistet.“

Spalte 3 in der Tabelle zeigt, wie die einzelnen Fächer dies beantworten. Noch 12 % der Befragten halten es für möglich, daß „ihre persönlichen wissenschaftlichen Resultate (indirekt) militärisch oder wehrtechnologisch interessant sein könnten“. Aber es sind nur 5 Respondenten (1,6 %), die angeben, daß sie an offensichtlich militärisch oder wehrtechnologisch relevanten Fragestellungen tätig sind oder waren.

Eine Skala subsumiert Formen, in denen die Persönlichkeit des Wissenschaftlers – auch als Privatperson – für Abrüstung und Entspannung eintritt, seien es Vorträge, Publikationen, Lehrveranstaltungen oder Aufrufe. Hinsichtlich dieser Aktivitäten wiederholt sich – pronconciert – das Kontinuum von Soziologen, Psychologen etc. auf der einen zu Naturwissenschaftlern, Medizinern, Ökonomen und Juristen auf der anderen Seite. Ober alle Fächer bringen die etablierten und älteren Kollegen mehr Engagement auf als die jüngeren, da sie Kraft ihrer Position vielfältigere Möglichkeiten haben.

Aktives Eintreten für Entspannungswege zum Frieden ist eng gekoppelt an die Beurteilung, daß das eigene wissenschaftliche Fach als solches und die wissenschaftliche Tätigkeit ihrerseits in die Frage der Friedenssicherung involviert sind. Persönliches Hervortreten in Friedensdingen, auch im privaten und außeruniversitären Bereich, verträgt sich dagegen nicht mit der Einstellung, neutrale und wertfreie Wissenschaft zu verfolgen. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn es könnte sein, daß für wertfreie und politisch neutrale Wissenschaft eintretende Kollegen sich als Privatleute und Staatsbürger in der Friedensfrage engagieren. Dies ist für Einzelfälle nicht auszuschließen, aber die Ergebnisse sprechen eher dafür, daß der wertfrei lehrende und forschende Wissenschaftler sich auch als Staatsbürger nicht in der Friedensfrage engagiert und freilich auch nicht innerhalb der Universität.

Ferner bestehen folgende signifikante Zusammenhänge: Die Wissenschaftler, die sich für Entspannungswege zur Friedenssicherung erklären, schreiben die „Ursachen der Kriegsgefahr dem Machtstreben der USA“ zu, oder noch deutlicher, sie bevorzugen Erklärungen, die „den Supermächten“ bzw. „dem außer Kontrolle geratenen Rüstungswettlauf“ die Gefährdung zuschreiben. Die Wissenschaftler hingegen, die sich sowohl als Wissenschaftler als auch als Staatsbürger aus veröffentlichter Friedenspolitik heraushalten, sehen im Machtstreben der Sowjetunion den Faktor der Labilisierung, oder sie schämen, daß „der Frieden nicht (mehr als früher auch) bedroht ist“.

Trotz der Auswahl einer mindestens aufgeschlossenen und im Hinblick auf das Thema kooperativen Minderheit tun sich noch in dieser unterschiedliche, fast gegensätzliche Einstellungen auf. Dies wurde deutlich im veröffentlichten friedenspolitischen Engagement der Befragten wie auch in ihrer Haltung zu neutraler vs. involvierter Wissenschaft. Die diesbezüglichen Meinungsunterschiede zwischen den Fächergruppen kündigten sich bereits in der Beteiligung der Fächer an dieser Universität an (s. Sp. 1 Tab.). Um so bemerkenswerter ist es, daß sich noch in den schwach vertretenen Fächern, die demnach eine hochselektierte (d. h. interessierte) Teilstichprobe stellen, die Meinungen konzentrieren, die auf Distanz zu Friedenspolitik, Neutralität der eigenen wissenschaftlichen Arbeit und auf Reserve gegenüber Friedensforschung bedacht sind. Dies erlaubt Folgerungen auf das Meinungskontinuum, welches sich in die Teile des Kollegiums erstreckt, für die diese Befragung kein Gegenstand war.

Wir sahen bereits bei den quantitativen Ergebnissen die gewissen Paradoxie, daß die nur durch software oder gar nur durch Argumente der Friedenssicherung beisteuernden Fächer (Psychologie, Soziologie, Politik, Erziehungswissenschaften, Theologie) sich stärker „verstrickt“ sehen als die Naturwissenschaften, die immerhin militärische hardware entwickeln (helfen). Im geisteswissenschaftlichen Beitrag äußert sich die Bereitschaft, Involviertheit einzugestehen, ja förmlich zu suchen.

Damit erweist sich die friedenspolitische Involviertheit des Faches und der eigenen wissenschaftlichen Arbeit als nur zum Teil durch die objektiven Möglichkeiten des Arbeitsgebietes bestimmt. Wie der Wissenschaftler dieses ausgibt, ist zum einen eine Frage seiner Selektion der Themen, die er als Paradigma ausführt: So kann ein Mediziner überzeugend ausdrücken, daß seine – „Beurteilung kranker Zähne“ nichts militärwissenschaftliches an sich hat, wogegen ein anderer das Thema „Menschenexperimente durch nationalsozialistische Ärzte“ als Beleg für die grundsätzliche kriegspolitische Verstrickung seines Faches vorweist. In der Selektion des Paradebeispiels äußert sich eine Erlebnisdimension, die der vom individuellen Wissenschaftler wahrgenommenen Involviertheit zugrundeliegt, nämlich problematisieren vs. bagatellisieren oder sensibilisiert vs. verleugnend.

Ich denke, es ist keine Oberbewertung dieser – zugegebenermaßen bescheidenen – Umfrage, wenn ich schon die bloße Teilnahme daran als friedenspolitisches Indiz werte. So erweist sich meine ursprüngliche Hoffnung, bei einer „so wichtigen Fragestellung“ Repräsentativität des Meinungsspektrums zu erhalten als naiv. Denn schon die Befassung mit dem Fragebogen setzt voraus, daß Sensibilisierung für das Problem vorliegt. Zeigen sich schon in der diesbezüglich positiv selegierten Stichprobe Anzeichen von Verleugnung und Distanzierung, so dürften sich diese Haltungen konzentrierter unter der Mehrheit des Marburger Kollegiums finden, die hier nicht mitgemacht hat.

Widersprüchlich und auf der Schneide zwischen Ablehnung und Angesprochensein fügte ein Kollege seinem vollständig bearbeiteten Fragebogen diesen Kommentar an:

„Ich halte diese ‚Umfrage‘ für absoluten Blödsinn, es kommt überhaupt nichts Greifbares dabei heraus. Es müßte doch irgendwie eine mögliche Antwort sein: nur durch den Frieden, den wir in der Bundesrepublik seit wenigen Jahrzehnten, dank des Schutzes der USA u. a. haben, und den wir uns sehnlichst auch für die Zukunft wünschen, können wir so frei wissenschaftlich arbeiten, wie das auch – fast – nur bei uns möglich ist. … Es ist skandalös, daß – wie zu befürchten ist – für diese blödsinnige Umfrage Steuergelder verwendet werden.“

Nähere Informationen über Prof. Dr. Holger Probst, Schwanallee 50, 3550 Marburg (Inst. f. Heil- u. Sonderpäd.) Tel. 06421/283832

Rüstungsetat ’85: Einstieg in neue Dimensionen

Rüstungsetat `85: Einstieg in neue Dimensionen

Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik * Arbeitsgruppe Planerinnen und Planer für Frieden und Abrüstung * Bund demokratischer Wissenschaftler * Forum Informatiker für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung * Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Zur Lesung des Bundeshaushaltsentwurfs äußerten sich erstmals fünf Wissenschaftlerinitiativen bzw. -organisationen zum Rüstungsetat der Bundesrepublik: die staatliche Expertokratie ist nicht mehr unter sich. Die Stellungnahme deckt auf, was von dem Gerede über „finanzielle Sachzwänge“ zu halten ist und beinhaltet Gegenvorschläge zur offiziellen Rüstungspolitik. Ihr Resümee: Nach der begonnenen Raketenstationierung steht eine neue Welle der Rüstungsbeschaffung ins Haus. Die Wissenschaftler kommen im Einzelnen zu folgenden Ergebnissen

Wie schon in den Etats seit Beginn der achtziger Jahre findet eine systematische Umverteilung der Mittel aus den Bereichen Soziales, Bildung, Umwelt, Gesundheit in den Sektor der sog. Verteidigungsausgaben statt. Die Aufrüstung ist unweigerlich von einer Pauperisierung und Verschlechterung der Lebensbedingungen für breite Teile der Bevölkerung begleitet.

Der Haushalt `85 ist ein Übergangshaushalt: Umfangreiche Beschaffungsprogramme für die Bundeswehr laufen aus, ohne daß Mittelkürzungen vorgenommen wurden; stattdessen erfolgt eine Weichenstellung für neue Beschaffungen die „Waffensysteme der dritten Generation“. Dabei geht es gegenwärtig um die massive und konzentrierte Förderung der Forschung und Entwicklung in den Neuen Technologien.

Die Einbindung der Bundesrepublik in USA-bestimmte NATO-Strategien verschafft sich vielfältig Geltung: Sie zeigt sich in entsprechenden Maßnahmen der Verkehrsplanung und der Raumordnung wie in waffentechnischen Entwicklungen. Dabei ist von besonderer Tragweite, daß die Bundesregierung offensichtlich große Anstrengungen unternimmt, um beim „Krieg der Sterne“ mitzumischen. Beteiligung an der geplanten amerikanischen Raumstation, gemeinsame Entwicklung neuer Aufklärungssatelliten und Spezialaufträge für das militärisch orientierte Raumfahrtprogramm. So werden an der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) und in der Industrie Hochenergielaser für ein mögliches Waffensystem der 90er Jahre entwickelt. Zwischen DFVLR und der US-Administration besteht ein Informationsabkommen auf diesem Gebiet, so daß alle relevanten Forschungsergebnisse der amerikanischen Weltraumforschung zugute kommen.

Zu einschneidender Umprofilierung führt die gegenwärtig betriebene Aufrüstung im Wissenschaftssystem der Bundesrepublik. Hier scheinen zumindest Teile der Bundesregierung dem „amerikanischen Beispiel“ folgen zu wollen. Die Sicherung der wirtschaftlichen und politischen Machtstellung soll über die gezielte Förderung des Bereichs Informationstechnologie erfolgen.

Die völlig einseitige Prioritätensetzung geht zu Lasten der Forschung, die sich auf die Prävention von Krankheit und Krieg und auf die ökologisch und soziale Verträglichkeit des technischen Fortschritts orientiert.

Die Verfasser der Stellungsnahme belassen es nicht bei dieser Analyse. Sie schlagen Alternativen zum gegenwärtigen Aufrüstungskurs vor.

  • Sie fordern die Streichung der Gelder für die Stationierung der Pershing II Raketen und Cruise Missiles sowie der Pershing I B
  • fordern die Streichung der Gelder für die Entwicklung von Marschflugkörpern und die Produktion der atomtauglichen Panzerhaubitzen 155-1
  • fordern die Einstellung der Zusammenarbeit mit den USA auf dem Gebiet der Laserwaffenforschung
  • wenden sich gegen die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland beim Aufbau einer militärischen Weltraumforschung und fordern einen Vertrag zum Verbot von Weltraumwaffen
  • fordern die Aussetzung der atom- und raketentechnischen Kooperation der BRD mit denjenigen Ländern, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet haben.

Über diese speziellen Vorschläge hinaus fordern die Unterzeichner ein generelles Einfrieren der Mittel für den Einzelplan 14 auf den Stand von 1984, insbesondere der Haushaltsmittel für die militärische Infrastruktur, der Mittel für das NATO Infrastrukturprogramm und der Ausgaben für das Wartime Host Nation Support Programme.

  • Sie befürworten den Abbau der militärischen Umwelt- und Raumforschung zugunsten der Friedensforschung und Abrüstungsplanung
  • kritisieren die insbesondere von der gegenwärtigen Regierung betriebene Militarisierung sog. „Spitzenforschung“ und „Hochtechnologiegebiete“ etwa im Bereich der Informatik
  • treten für eine Verdoppelung der Mittel für Forschungsförderung in den Bereichen der Humanisierung der Arbeit, der Umweltforschung, der Gesundheitsforschung, der Wasserforschung, der Krebsforschung, der Erforschung neuer Energiequellen und der Friedens- sowie Konfliktforschung zu Lasten des geplanten Zuwachses der Rüstungsforschung ein.

SIPRI – Ein Portrait

SIPRI – Ein Portrait

von Redaktion: Gespräch mit Michael Brzoska

In der bundesdeutschen Friedensdiskussion spielen die Arbeiten des Stockholm International Peace Research Instituts (SIPRI) schon seit langem eine große Rolle. Analysen und Dokumente des SIPRI waren für die Friedensbewegung eine große Hilfe, um Vernebelungsversuchen der Militärs entgegenzutreten.

Schon früher haben Veröffentlichungen des Stockholmer Instituts positive Wirkungen gehabt: die umfangreichen Arbeiten über die Gefahren und Folgen eines B- und C-Waffenkrieges 19 71 -19 74 dürften auch das Zustandekommen der Konvention von 19 72 über das Verbot der bakteriologischen Waffen mitbeeinflußt haben.

Zu wenig ist hierzulande über Geschichte, Aufbau und Wirkungsweise des SIPRI bekannt. Diesen Fragen sind wir nachgegangen in einem Gespräch, das wir mit Dr. Michael Brzoska führten. Brzoska ist Mitarbeiter des Instituts und in der Bundesrepublik durch zahlreiche Publikationen zur Rüstungsproblematik hervorgetreten.

Können Sie uns zunächst einiges zur historischen Entwicklung des Instituts sagen?

SIPRI wurde 1966 offiziell errichtet, demnächst haben wir also das 20-jährige Jubiläum. Aber natürlich war schon in den Jahren davor über die Errichtung diskutiert worden. Ich sehe wie auch bei der Initiierung der bundesdeutschen institutionellen Friedensforschung Ende der 60er Jahre dafür 2 Wz4rzeln: zum einen die akademische Kritik an der herrschenden (westlichen) Militärpolitik und zum anderen den damals noch in vielen Ländern zunehmenden Glauben an die Problemlösungskapazität “ neuer “ Gesellschaftswissenschaften. Die Kritik an der Strategie der massiven Vergeltung und an der US-amerikanischen Militärstrategie allgemein fand in den 50er und 60erJahren fast ausschließlich innerhalb der „strategischen Denkschulen“ statt. Sie wurde von linken wie rechten Kritikern vorgetragen, wenn man etwa an die Namen Kissinger und Maxwell Taylor einerseits und die Gruppe um die US-amerikanischen Atomforscher, die das Bulletin of Atomic Scientists herausgeben, denkt. Allgemein wurde dadurch das Bewußtsein gesteigert, vor allem wohl bei liberalen Politikern und Akademikern, daß man durchaus über Militärpolitik diskutieren kann, auf abstraktem und hohem wissenschaftlichen Niveau. Das war für europäische Verhältnisse, wo Militärs diese Sparte zuvor vollkommen überlassen war, etwas Neues. Es traf zusammen mit dem Anfang der 60er noch sehr starken, intellektuell inspirierten Aufbruchwillen in einigen Ländern, gerade in Nordeuropa oder Mitteleuropa, mit stark0en sozialdemokratischen Parteien. Soziologie und Politologie hatten nicht den schlechten Ruf, den sie heute haben. Man traute ihnen zu, konkrete Vorschläge zur Lösung genereller gesellschaftlicher Probleme machen zu können. Ich glaube, beide Faktoren, Kritik an der herrschenden Militärstrategie und Hoffnung in sozialwissenschaftliche Lösungskonzepte, erklären zu einem Gutteil, warum Friedensforschungsinstitute in welchen Ländern gegründet wurden. Das erste jedenfalls war das Stockholmer nicht, z.B. das in Oslo ist älter. Und der Anlass, den man hier in Schweden hatte, bestand darin, daß Schweden 1966 150 Jahre lang nicht mehr direkt an einem Krieg beteiligt gewesen war, eine wahrlich erstaunliche und bewundernswerte Tatsache.

Man könnte der Friedensforschung eine Art Frühwarnfunktion zuordnen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie Forschungsschwerpunkte festgelegt werden. Wie sieht also die „Forschungspolitik“ von SIPRI aus? Wie hängt sie mit Publikationsstrategien zusammen?

Das Forschungsprogramm, so wie es immer noch besteht, geht auf Diskussionen Ende der 60er Jahre zurück, an denen schwedische Wissenschaftler, US-amerikanische und britische Experten verschiedener Fachrichtungen beteiligt waren. Besonders wichtig waren 2 Denkrichtungen.ein struktureller ökonomischer Ansatz, den man vor allem mit dem Namen Gunnar Myrdal verbinden muß, und die naturwissenschaftliche Richtung innerhalb der US-amerikanischen Arms Control School. Der britische Einfluß zeigte sich vor allem in der Betonung des Sammelns von Daten, der Dokumentation. Diese Ausrichtung dient natürlich auch der Vermeidung von Kritik. Sie dürfte aber dafür verantwortlich sein, daß SIPRI unter den Friedensforschungsinstituten in der Welt einen besonders guten Ruf hat. Von Anfang an konzentrierte sich die Dokumentation auf Bereiche, die entweder mit ökonomischen oder naturwissenschaftlichen Kategorien beschrieben werden können, also Militärausgaben, Waffenhandel, neue Waffensysteme, Zahl der Nuklearwaffen etc. Dagegen wurde die politische Analyse absichtlich vernachlässigt, z.B. Konflikte nicht analysiert. Politikvorschläge wurden dann vor allem auf Grund der Datensammlungen auf relativ abstrakter Ebene oder konkret in sehr kleinen Bereichen gemacht, etwa wie bestehende Verträge verbessert werden könnten. Immer aber ging man davon aus, Vorschläge zu machen, die einigermaßen akzeptabel sein könnten. Besonders erfolgreiche Vorhaben waren das Projekt über den Waffenhandel und das Projekt über chemische Waffen, die beide Ende der 60erlAnfang der 70er Jahre gemacht wurden. Als großer, vielleicht größter Erfolg hat sich das zunächst durchaus nicht unumstrittene SIPRI-Jahrbuch herausgestellt. Es ist inzwischen weltweit zu einer anerkannten Quelle für verschiedene Datensätze geworden, und auch die wechselnden Arbeiten zu Einzelthemen gewinnen ein großes Publikum. Das Forschungsprogramm hat sich im Laufe der Jahre dann immer mehr an die Bedürfnisse des Jahrbuchs angepaßt. Das war insbesondere Mitte und Ende der 70er Jahre der Fall, als bürgerliche Regierungen das Wachstum SIPRIs bremsten. Neuerdings findet wieder mehr Aktivität außerhalb des Jahrbuchs statt, meist gewachsen aus „klassischen“ SIPRI Themen, wie Weltraumrüstung, „No-First-Use“ oder „Common Security“.

Wie würden Sie die politische Stellung von SIPRI einschätzen? Welche Rolle spielen die Arbeiten des Instituts in der Abrüstungsdiskussion – global, regional?

Die oben genannte thematische Eingrenzung beruht auf einer Einschätzung des politisch Machbaren und wissenschaftlich Tragfähigen. Obwohl SIPRI für ein Friedensforschungsinstitut recht groß ist, mit ca. 25 wissenschaftlichen Mitarbeitern, ist es doch ein winzig kleines Institut im Vergleich zu den militärischen Forschungsinstituten oder den regierungsamtlichen strategischen Forschungsinstituten. Das heißt, daß kein Mangel an Forschungsthemen in den „klassischen“ SIPRI-Themenfeldern besteht. Und hier liegt natürlich auch der komparative Vorteil von SIPRI im internationalen Wettbewerb. Trotzdem ist SIPRI immer wieder politisch heftig angegriffen worden. Die heftigsten Angriffe kommen eigentlich von NATO-Seite. Hier wird vorgeworfen, daß SIPRI die Bevölkerung mit den falschen Informationen füttere, daß man zu Themen Stellung nehme, die die „Zivilisten“ bei SIPRI nicht ernsthaft behandeln könnten usw. Richtig daran ist, daß SIPRI tatsächlich häufig nicht die Arbeitskapazität hat, die nötig wäre, um „bessere“ Daten und Analysen vorzulegen, als sie Privilegiertere machen können. Nur erfolgt das häufig nicht. SIPRIs Daten sind dann immer noch die besten Verfügbaren. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn alle Länder vernünftige Daten zum Waffenhandel vorlegen würden, dann bräuchte niemand mit SIPRIs zugegebenermaßen sehr unvollständigen Listen zu arbeiten. Das muß man auch Kritikern aus Mitgliedsländern des Warschauer Paktes sehr häufig vorhalten, deren Informationspolitik noch weit restriktiver ist. Oft wird kritisiert, daß SIPRI im wesentlichen US-amerikanische Geheimdienstdaten reproduziere, was nicht ganz falsch ist, aber eben deswegen, weil keine anderen verfügbar sind.

Die Intensität der Kritik hat viel mit der Wirkung von SIPRI zu tun. SIPRI hat eigentlich zwei Zielgruppen: politische Entscheidungsträger und die allgemeine Öffentlichkeit. SIPRI hat bei Entscheidungsträgern in der Dritten Welt und mit erheblichen Abstrichen auch im Osten einen guten Namen. Bei den meisten westlichen, aber auch vielen neutralen Regierungen hingegen ist SIPRI nicht sehr angesehen, hat dafür relativ viel Resonanz bei der Bevölkerung, die wir weder in der Dritten Welt noch im Osten haben. Westliche Regierungen bevorzugen die „strategischen Studien“, etwa des Londoner Institutes, die als Grundlage die Verbesserung der Militärpolitik des Westens haben; die nicht wie SIPRI davon ausgehen, daß Grundsätzlich Waffen das problematischste Mittel zur Sicherung des Friedens sind und man daher wirklich alle anderen Mittel ausschöpfen sollte, bevor man auf sie zurückgreift.

SIPRI hat in den Ländern, in denen die Friedensbewegung in den frühen 80er Jahren besonders stark war, auch einen besonders guten Ruf bei der Bevölkerung, weil die Informationen als einigermaßen gesichert und neutral gelten. Allerdings lassen sich SIPRI-Angäben nicht überall als gemeinsam akzeptierte Grundlage in Diskussionen mit Regierungsvertretern heranziehen, weil SIPRI in vielen Ländern eben nicht diesen Ruf hat – bei den Regierungen. Die besondere Resonanz in der Bundesrepublik ist sicher darauf zurückzuführen, daß die Bundesregierung und auch die Presse SIPRI relativ ernst nehmen. In Frankreich hingegen hat SIPRI einen sehr schlechten Ruf in offiziellen Kreisen und wird auch in der Friedensbewegung kaum genutzt.

SIPRI hat ein sehr hohes Ansehen bei den Vereinten Nationen. Eigentlich hat SIPRI früher in vieler Hinsicht die Arbeit gemacht, die die UN gemacht haben. Seit einigen Jahren sind die UN selber in der Erstellung von Studien sehr viel aktiver geworden – dies übrigens vor allem auf schwedische Initiative. Da sie von den Regierungen abgenommen werden müssen, haben sie aber nicht selten auch politischen Kompromißcharakter. SIPRI versucht, von solchen Tendenzen freizubleiben, hat aber trotzdem versucht, die Chance zu nutzen, mehr in Bereiche hineinzugehen, in die die UN aus politischen Gründen nicht gehen können, wie z.B. die Frage des „No-First-Use“ oder regionaler Sicherheitsprobleme.

In der Bundesrepublik wurde bisweilen beklagt, daß die offizielle Friedensforschung nur wenig zur Entwicklung der Friedensbewegung beigetragen hat. Wie ist das Verhältnis von SIPRI zur internationalen Friedensbewegung, und kann es Vorschläge für die politische Praxis machen?

SIPRI hat die Stärkung der Friedensbewegung sehr begrüßt und immer wieder als einzigen Lichtschimmer in einer ansonsten immer dunkler werdenden Situation bezeichnet. Andererseits sieht man die Schwierigkeit der Vermittlung der SIPRI-Forschungsergebnisse, deren Niveau natürlich unbedingt erhalten bleiben muß. Einige Ansätze, die Ergebnisse leserfreundlicher als im dicken SIPRI-Jahrbuch zu präsentieren, sind gemacht worden, wie z. B. in einer 50-seitigen Broschüre, die auf deutsch im UNO- Verlag herausgekommen ist, und im Deutschen Sprachraum durch den Rowohlt- Verlag, der ausgewählte Kapitel des Jahrbuchs druckt. Broschüren werden in den 6 oder 7 wichtigsten westlichen Sprachen, russisch und japanisch gedruckt, die Jahrbücher in Auszügen ins Französische, Deutsche, Holländische, Japanische und Spanische übersetzt.

Die Vorschläge, die SIPRI der Friedensbewegung gemacht hat und macht, bewegen sich im Rahmen der langjährigen SIPRI-Tradition, d.h. es sind sehr moderate Vorschläge, orientiert am kurzfristig Machbaren. Z.B. wurde der Meinung Ausdruck gegeben, daß der Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durch die NATO ein vorrangiges Ziel der Friedensbewegung sein könnte, das sowohl erreichbar scheint, als auch tatsächlich die atomare Kriegsgefahr mindern könnte. Außerdem verweist man schon durch die Forschungspalette darauf hin, daß zwar die Nuklearwaffen gegenwärtig ein drängendes Problem sind, daß aber andere Bereiche genauso beachtet werden müssen. Dies gilt z.B. für die Weltraumrüstung, wo eine Vermeidung weiterer Militarisierung möglich scheint, oder für die Veränderung militärischer Doktrinen, die gegenwärtig sowohl im Warschauer Pakt (Nuklearisierung im taktischen Bereich) und in der NA TO (Air-Land-Battle) im Gange sind.

Kollege Brzoska, wir danken für dieses Gespräch.

Darmstädter Verweigerungsformel

Darmstädter Verweigerungsformel

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

„Das Wettrüsten ist primär ein Produkt von politischen Kräften. Doch Wissenschaftler tragen ihrerseits zu der katastrophalen Tendenz der internationalen Verhältnisse bei. Ungefähr eine halbe Million Naturwissenschaftler und Techniker ein hoher Prozentsatz des gesamten wissenschaftlichen Personals – ist direkt in militärischer Forschung und Entwicklung beschäftigt. Diese Wissenschaftler und Techniker sind ständig damit beschäftigt, neue Mittel der Zerstörung zu entwickeln, und machen damit den Fortbestand der Spezies Mensch auf diesem Planeten immer schwieriger. Das nukleare Wettrüsten lebt von dem ständigen Zustrom wissenschaftlicher Innovationen, und der Eindruck verstärkt sich, daß die Wucht des Wettrüstens durch die Aktivitäten der Wissenschaftler bestimmt wird. Dieser Eindruck ist zwar übertrieben; eine Vielfalt von Faktoren, die miteinander wechselwirken, spielt eine Rolle, sie werden gemeinhin als der militärisch-industrielle Komplex bezeichnet. Aber die Einführung jeder neuen Waffe ist ein irreversibler Schritt, und in diesem Sinne ist die Rolle der Wissenschaftler von entscheidender Bedeutung. Diese Rolle des Wissenschaftler widerspricht seinem traditionellen Beruf.“ (Ergebnisse und Empfehlungen des Pugwash/Unesco Symposions, Ajaccio/Korsika, 1982)

Ohne die Mitarbeit von Wissenschaftlern und Technikern wäre das Wettrüsten nicht möglich. Sie haben einzeln und kollektiv sich gegen die Verwendung ihrer Fähigkeiten immer wieder gewehrt. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise haben 1957 achtzehn Atomwissenschaftler ausdrücklich und öffentlich erklärt, daß sie nicht bereit sind „sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“

Das „Gleichgewicht der Abschreckung“ war immer labil: seit der Legitimation, es erhalten zu wollen, haben beide Seiten ihr Rüstungspotential ständig erweitert und technisch verbessert. Die technischen Innovationen haben schließlich die Strategie der Kriegsverhütung durch Abschreckung überholt: Die Stationierung von Mittelstreckenraketen markiert wegen der kurzen Flugzeit und der Zielgenauigkeit den Übergang zu einem Zustand der Instabilität. In dieser Situation können technische Innovationen, auf welchem Gebiet auch immer, katastrophale Auswirkungen auf den Weltfrieden haben. Der Physiker H.P. Dürr, MIP München, hat die Situation durch folgendes Beispiel veranschaulicht: Die Erfahrung, daß man Wasser bei 30 oder bei 60 Grad noch Wärme zuführen kann, ohne daß es zu kochen anfängt, berechtigt noch nicht zu der Behauptung, daß das auch in der Nähe von 100 Grad noch möglich ist. Zwar könnte man durch Tricks auch über 100 Grad das Kochen noch eine Weile verzögern, dann genügt aber eine Kleinigkeit, um den Zustand blitzartig umkippen zu lassen. In dieser Phase der Überhitzung geraten wir, sagt er, durch die Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles hinein.

Wir sind der Meinung, daß auf diesem Hintergrund die Rolle von Wissenschaft und Technik in der Waffenentwicklung grundsätzlich zur Diskussion gestellt werden muß. Um diese Diskussion zu entfalten und meine Stellung darin klarzumachen, unterzeichne ich folgende Erklärung:

Ich erkläre hiermit, daß ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissen entgegenwirken.

Der Text wurde von der UHD-Initiative für Abrüstung formuliert. Erstunterzeichner sind: Von der TH Darmstadt: Prof. G. Böhme FB 2, Prof. Dahmer FB 2, Prof. Gamm FB 3, Prof. Ganter FB 4, Prof. Ipsen FBI, Prof. Kankeleit FB 5, Prof. Koneffke FB 3, Prof. Körner FB 11 Prof. K. Nixdorff FB 10, Prof. Wolters FB 13. Von der FH Darmstadt: Prof. Bartels SuK, Prof. Biel Architektur, Prof. Burhenne Informatik, Prof. Dippel, Informatik, Prof. Dolejsky MN, Prof. Köster E-Technik, Prof. Krier Informatik, Dipl.-Soz. Mayer Soz. und Kulturwiss., Prof. Meurer Gestaltung, Prof. Priewe SuK, Prof. Rasch E-Technik, Prof. Roth MN, Prof. Schwebel E-Technik, Prof. Thiem MN, Prof. Wenisch MN, Prof. Winkler Informatik.