Die Projektgruppe Friedensforschung Konstanz

Die Projektgruppe Friedensforschung Konstanz

von Wilhelm Kempf

Die Projektgruppe Friedensforschung Konstanz ist eine informelle Arbeitsgruppe innerhalb der Arbeitseinheit »Methodenlehre« im Fachbereich Psychologie an der Universität Konstanz. Sie entstand im Studienjahr 1977/78 aus einem DGFK-Projekt über »Kritische Meinungsbildung als Grundlage für Konfliktlösung« und entwickelte im Laufe der Zeit unterschiedliche Forschungsschwerpunkte. Inzwischen ist die Perspektive der konstruktiven Konfliktberichterstattung bestimmend.

Der Forschungsschwerpunkt der Projektgruppe lag zunächst auf der wissenschaftstheoretischen Grundlegung psychologischer Friedensforschung (Kempf 1978). Mitte der 80er Jahre verlagerte er sich auf die empirische Untersuchung von Kriegsberichterstattung und Propaganda, zunächst am Beispiel des nicaraguanischen Contra-Krieges (Kempf 1990), später im Falle der nationalen (Kempf 1994) und internationalen (Nohrstedt & Ottosen 2001; Kempf & Luostarinen 2002) Medienberichterstattung über den Golfkrieg und der Berichterstattung über die ex-jugoslawischen Bürgerkriege (Jaeger 1998; 2001; Sabellek 2001; Kempf 2002; Annabring & Jaeger 2005).

Dabei war es der Projektgruppe jedoch stets nicht nur ein Anliegen, die sozialpsychologischen Mechanismen zu untersuchen, auf denen das Funktionieren von Propaganda beruht. Es ging ihr auch darum, positive Impulse zu setzen und Modelle zu entwickeln, wie die Medien, statt Kriege anzuheizen, zur Friedensstiftung und zur Versöhnung zwischen den Konfliktparteien beitragen können. Dementsprechend verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt der Projektgruppe schließlich auf die Rolle der Medien in Nachkriegsgesellschaften und auf die Fragen, ob eine konstruktive Konfliktberichterstattung von der Öffentlichkeit überhaupt akzeptiert würde und welchen Einfluss sie auf die mentalen Modelle ausübt, auf deren Grundlage die Rezipienten die berichteten Ereignisse interpretieren (Projektgruppe Friedensforschung 2005; Kempf 2005; Schaefer 2006; Spohrs 2006).

In theoretischer Hinsicht steht die Arbeit der Projektgruppe in der Tradition der Konflikttheorie von Deutsch (1973). Deutsch geht davon aus, dass die Eskalation von Konflikten kein unentrinnbares Schicksal ist, sondern aus den emotional-kognitiven Schemata resultiert, mittels derer Konflikte interpretiert werden. Diesen Erklärungsansatz mit den Eskalationsmodellen von Creighton (1992) and Glasl (1992) verbindend, entwickelte die Projektgruppe eine Typologie mentaler Konfliktmodelle. Danach sind solche Modelle entlang der folgenden Dimensionen zu beschreiben: (a) Konzeptualisierung des Konflikts als win-win, win-lose oder lose-lose Prozess, (b) Wahrnehmung der Rechte und Ziele der Konfliktparteien, (c) Bewertung ihres Verhaltens und (d) emotionale Konsequenzen dieser Interpretationen (Kempf 2000).

Dieses Evaluationsmodell wurde in einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen zur Medienberichterstattung über Kriege (Golfkrieg, Bosnien und Kosovo), zur Nachkriegsberichterstattung (Deutsch-französische Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg, Serbien nach Milosevic) und zur Berichterstattung über Friedensprozesse (Nordirland, Israel-Palästina) validiert. Darauf aufbauend wurde ein zweistufiges Modell der konstruktiven Konfliktberichterstattung entwickelt (Kempf 2003; Bläsi 2006), das dem Konzept des Friedensjournalismus nach Galtung (1998) nahesteht. Im Unterschied zu Lynch & McGoldrick (2005) interpretiert die Projektgruppe Friedensforschung Friedensjournalismus jedoch nicht als eine Form von Meinungsjournalismus oder Friedens-PR, sondern als eine Form von Qualitätsjournalismus. Er wird den journalistischen Qualitätskriterien der Wahrheitstreue, Neutralität und Objektivität gerecht, indem er auf konflikttheoretische und sozialpsychologische Kompetenzen zurückgreift, um den Wahrnehmungsverzerrungen entgegen zu wirken, die sich in eskalierenden Konflikten gleichsam naturwüchsig einstellen.

Journalismus und Medien spielen eine wesentliche Rolle in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Sie können diese Rolle so oder so ausfüllen: Durch die Art der Berichterstattung können sie entweder der Eskalation oder der Deeskalation von Konflikten Impulse geben. In der Regel tendieren Journalisten dazu, Konflikte mittels derselben mentalen Modelle zu interpretieren, welche in der jeweiligen Gesellschaft dominant sind und/oder ihrer politischen Agenda entsprechen. Sie passen diese mentalen Modelle aber auch den sich verändernden politischen Bedingungen an, und die Art und Weise, wie sie Konflikte interpretieren, bleibt nicht ohne Einfluss auf die öffentliche Meinung. In den meisten Fällen eilt die Medienberichterstattung dem Eskalationsprozess um einen halben Schritt voraus und wird so selbst zu einem Motor der Konflikteskalation (neben anderen). Diesen Prozess umzukehren und einen halben Schritt in Richtung Deeskalation und Versöhnung vorauszugehen, ist die Alternative, welche das Konzept der konstruktiven Konfliktberichterstattung anbietet und welche nach dem bisherigen Stand der Forschung auch von den Rezipienten als faire, unparteiliche und kompetente Berichterstattung anerkannt wird.

Während der heißen Phase eines Konflikts ist jedoch eine Beschränkung auf deeskalationsorientierte Konfliktberichterstattung anzuraten, d.h. eine Beschränkung auf sachliche, distanzierte und gegenüber allen Seiten faire und respektvolle Berichterstattung, die den Konflikt nicht weiter anheizt und sich zu den Kriegführenden jeder Couleur auf kritische Distanz begibt. Lösungsvorschläge erscheinen in dieser Phase noch nicht angebracht. Das Risiko, dass die Berichterstattung vorschnell als unglaubwürdig oder als feindliche Gegenpropaganda abgewehrt werden könnte, ist noch zu hoch. Deshalb kann es in dieser Phase nur das vorrangige Ziel sein, aus der Fixierung auf Gewalt und gegenseitige Vernichtung herauszufinden und dem Publikum die Augen für einen Außenstandpunkt zu öffnen, der die antagonistische Wirklichkeitsauffassung und die Polarisierung der Konfliktparteien dekonstruiert.

Erst als zweite Stufe kann man zu lösungsorientierter Konfliktberichterstattung übergehen, die auf die Annäherung der Gegner hinarbeitet und für alle Betroffenen akzeptable Wege aus dem Konflikt sucht. Obwohl er als konsistente Minderheitsposition auch schon während des Krieges einen Beitrag zur sukzessiven Dekonstruktion des Kriegsdiskurses leisten kann, wird dieser Schritt jedoch erst dann mehrheitsfähig sein, wenn der Konflikt aus seiner heißen Phase herausgetreten ist und nicht mehr reflexartig jede Stimme als feindlich wahrgenommen wird, die nach Mäßigung ruft.

Den Stand der Forschung zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Publikum einer konstruktiven Konfliktberichterstattung weit offener gegenübersteht als gemeinhin angenommen wird. Auch auf Seiten der Journalisten finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass Spielräume für konstruktive Nachkriegsberichterstattung erkannt und genutzt werden. Dennoch sollte man die Entwicklung dieser bei Journalisten wie auch bei Rezipienten bereits vorhandenen Kompetenzen nicht einfach dem Zufall überlassen, sondern sowohl in der Journalistenausbildung als auch in der Medienpädagogik systematisch fördern und weiterentwickeln.

Literatur

Annabring, U. & Jaeger, S. (2005): Der Wandel des Feindbildes Serbien nach dem Machtwechsel. In: Projektgruppe Friedensforschung Konstanz (Hrsg.): Nachrichtenmedien als Mediatoren von Peace-Building, Demokratisierung und Versöhnung in Nachkriegsgesellschaften, Berlin: irena regener, S.129-148.

Bläsi, B. (2006): Keine Zeit, kein Geld, kein Interesse …? Konstruktive Konfliktberichterstattung zwischen Anspruch und medialer Wirklichkeit. Berlin: irena regener.

Creighton, J. L. (1992): Schlag nicht die Türe zu. Konflikte aushalten lernen. Reinbek: Rowohlt.

Deutsch, M. (1973): The resolution of conflict. New Haven: Yale University Press.

Galtung, J. (1998): Friedensjournalismus: Warum, was, wer, wo, wann? In: W. Kempf & I. Schmidt-Regener (Hrsg.): Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien, Münster: LIT, S.3-20.

Glasl, F. (1992): Konfliktmanagement. Ein Handbuch zur Diagnose und Behandlung von Konflikten für Organisationen und ihre Berater. Bern: Haupt.

Jaeger, S. (1998): Propaganda mit Frauenschicksalen? Die deutsche Presseberichterstattung über Vergewaltigung im Krieg in Bosnien-Herzegowina. In: W. Kempf & I. Schmidt-Regener (Hrsg.): Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien, Münster: LIT, S.75-88.

Jaeger, S. (2001): Rollenkonstruktion im Bosnien-Konflikt. Westliche Kriegsberichterstattung zwischen Ambivalenz und Anteilnahme. In: J. Richter (Hrsg.): Deutschland: (un)bewältigte Vergangenheiten, Tübingen: dgvt, S.151-160.

Kempf, W. (1978): Konfliktlösung und Aggression. Zu den Grundlagen einer psychologischen Friedensforschung, Bern: Huber.

Kempf, W. (1994): Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der bundesdeutschen Presseberichterstattung im Golfkrieg, Münster: LIT.

Kempf, W. (1990): Medienkrieg oder der Fall Nicaragua. Politisch-psychologische Analysen über US-Propaganda und psychologische Kriegsführung, Berlin: Argument.

Kempf, W. (2000): Konfliktursachen und Konfliktdynamiken. In: ÖSFK (Hrsg.): Konflikt und Gewalt, Münster: agenda, S.44-65.

Kempf, W. (2002): Escalating and de-escalating aspects in the coverage of the Bosnia conflict. In: W. Kempf & H. Luostarinen (Hrsg.): Journalism and the New World Order. Studying War and the Media, Göteborg: Nordicom, S.227-258.

Kempf, W. (2003): Constructive Conflict Coverage. A Social Psychological Approach (edited by the Austrian Study Center for Peace and Conflict Resolution). Berlin: irena regener.

Kempf, W. (2005): Two experiments focusing on de-escalation oriented coverage of post-war conflicts. conflict & communication online, 4/2.

Kempf, W. & Luostarinen, H. (Hrsg.) (2002): Journalism and the New World Order. Studying War and the Media. Göteborg: Nordicom.

Lynch, J. & McGoldrick, A. (2005): Peace Journalism. Gloucestershire, UK: Hawthorn Press.

Nohrstedt, S.A. & Ottosen, R. (2001): Journalism and the New World Order. Gulf War, National News Discourses and Globalization. Göteborg: Nordicom.

Projektgruppe Friedensforschung Konstanz (Hrsg.) (2005): Nachrichtenmedien als Mediatoren von Peace-Building, Demokratisierung und Versöhnung in Nachkriegsgesellschaften. Berlin: irena regener.

Sabellek, Ch. (2001): Die Entwicklung des Kosovokonflikts und die Wahrnehmung durch die Medien. In: J. Richter (Hrsg.), Deutschland: (un)bewältigte Vergangenheiten, Tübingen: dgvt, S.161-172.

Schaefer, C.D. (2006): The effects of escalation vs. de-escalation-orientated conflict coverage on the evaluation of military measures. conflict & communication online, 5/1.

Spohrs, M. (2006): Über den Nachrichtenwert von Friedensjournalismus – Ergebnisse einer experimentellen Studie. conflict & communication online, 5/1.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf lehrt am Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz und ist Herausgeber von conflict & communication online

Nachruf

Nachruf

von Reiner Steinweg

Am 11. März 2007 starb im Alter von fast 76 Jahren der bedeutende Naturwissenschaftler Prof. Dr. Georg Zundel

Georg Zundel war als Enkel und Erbe von Robert Bosch d.Ä. der wichtigste private Förderer der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Die 1971 von ihm gegründete »Berghof Stiftung für Konfliktforschung GmbH« hat die Durchführung zahlreicher Forschungsprojekte, Konferenzen und Kongresse ermöglicht, nicht zuletzt der AFK.

Auf dem von seinem Vater – dem zeitweilig mit Clara Zetkin verheirateten schwäbischen Maler Georg Friedrich Zundel – gegründeten »Berghof« bei Tübingen aufgewachsen, studierte er in Frankfurt/M. und München Physik. Er erwarb sich schon in den 60er Jahren einen internationalen Ruf bei der Erforschung der Wasserstoffbrücken. Das »Zundel-Ion« H5O2<^>+<^*> gehört zu seinen bekanntesten Entdeckungen.

Früh erkannte er, in welch enormer Gefahr unser Planet sich angesichts der atomaren Bedrohung befindet. Bereits 1958 organisierte er an der Universität München eine große Protestversammlung gegen die damals geplante atomare Aufrüstung der Bundeswehr. In dieser Tradition wirkte er auch in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und der Naturwissenschaftlerinitiative »Verantwortung für den Frieden« mit und beteiligte sich an der Gründung des International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility (INES).

Georg Zundel hat trotz seines gesellschaftspolitischen Engagements, seiner vielfachen Verpflichtungen als Hochschullehrer für Biophysik in München, als Unternehmensleiter, Land- und Forstwirt und nicht zuletzt als Kunstmäzen immer wohlinformiert und aktiv an den Sitzungen des Stiftungsrats der Berghof Stiftung teilgenommen. Er ließ sich klaglos überstimmen, wenn die Mehrheit nach eingehender Diskussion zu einem anderen Ergebnis gekommen war als er für richtig hielt.

Er war stets für mutige Schritte und neue methodische Zugänge auf unbekanntem Terrain zu haben. Beim Symposium aus Anlass des 75. Geburtstags von Georg Zundel Ende September 2006 in Berlin sagte ihm Dieter Senghaas voller Respekt: „Wir verstehen Ihre Forschung nicht, aber Sie verstehen unsere.“ Dass die in der Satzung der Berghof Stiftung verankerte, von Georg Zundel so sehr gewünschte Interdisziplinarität, eine enge Zusammenarbeit von Natur- und Sozialwissenschaften, in den von der Stiftung geförderten Projekten streng genommen kaum je erreicht wurde, war zweifellos eine seiner schmerzlichsten Erfahrungen.

Besonderen Wert legte Georg Zundel auf die Praxisrelevanz der geförderten Projekte – und unterstützte privat, außerhalb der Stiftung, noch so manche friedenspolitische Initiative. Mit der Gründung des Berghof Forschungszentrums für Konstruktive Konfliktbearbeitung in Berlin und der nachhaltigen Unterstützung des Instituts für Friedenspädagogik in Tübingen fand dieses Bestreben auch institutionellen Ausdruck.

Georg Zundel war ein bemerkenswerter Mensch, völlig unangepasst in seinem äußeren Erscheinungsbild und seiner bedächtigen Sprechweise. Bei keiner Gelegenheit, nicht einmal als er das Große Bundesverdienstkreuzes für die Förderung der Friedensforschung bekam, habe ich ihn mit Anzug und Krawatte gesehen. Er hatte den Bombenangriff auf Tübingen, die Kämpfe bei Kriegsende in Haisterkirch bei Bad Waldsee, als Kind erlebt und von den Gräueltaten der Nazis erfahren. Er konnte von den Ängsten, die diese Schockerfahrungen in ihm auslösten und die ihn bis an sein Lebensende bewegten, sprechen und war von Selbstzweifeln und vielerlei Anfeindungen nicht verschont.

Dabei verfügte er über einen ausgeprägten Humor, war gutem Essen und Trinken nicht abgeneigt und zugleich ein begeisterter Skitourengeher, Bergsteiger und Fernreisender.

Im Frühsommer 2005 war er mit der Aufzeichnung seiner Lebenserinnerungen fertig geworden. Er bat mich, ihm bei ihrer Überarbeitung und Herausgabe behilflich zu sein und fügte hinzu: „Ich möchte ihr Erscheinen noch erleben!“ In einer großen, gemeinsamen Anstrengung mit Renate Zundel, seiner Frau, ist es gelungen, ihm pünktlich zum 75. Geburtstag am 17. Mai 2006 diesen Wunsch zu erfüllen. Sein zeitgeschichtlich interessantes, durchaus amüsantes und Konflikte keineswegs aussparendes Werk ist unter dem Titel »Es muss viel geschehen!« Erinnerungen eines friedenspolitisch engagierten Naturwissenschaftlers« im Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte, Berlin, erschienen.

Reiner Steinweg

»Reconciliation in Aceh«

»Reconciliation in Aceh«

Symposium des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg

von Ulrich Wagner, Johannes M. Becker und Johannes Herrmann

Nach Jahrzehnten von Bürgerkrieg in der indonesischen Provinz Aceh zwischen der lokalen Freiheitsbewegung und der indonesischen Zentralregierung kam es 2005 in Helsinki durch internationale Vermittlung zu einem Waffenstillstands- und Friedensabkommen. Ein wesentlicher Grund für die Kompromissbereitschaft der Bürgerkriegsparteien waren auch die Auswirkungen des Tsunami im Dezember 2004, der in Aceh besonders viele Todesopfer forderte.

Auf Einladung des Zentrums für Konfliktforschung der Universität Marburg und finanziert mit Mitteln der Volkswagen-Stiftung kamen vom 13.-17. März knapp 100 internationale FriedensforscherInnen und Mitglieder staatlicher und nicht-staatlicher Friedensinstitute zusammen, um am Beispiel Aceh die notwendigen Schritte von einem Waffenstillstand zu einer wirklichen Befriedung und Aussöhnung zu diskutieren. Das Anliegen der Konferenz war, wie der geschäftsführende Direktor des ZfK, Prof. Dr. Ulrich Wagner betonte, dem interkulturellen, interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern zu dienen mit dem Ziel, für die Friedensforschung im Allgemeinen und für die Region Aceh im Besonderen zu Erkenntnissen zu kommen, die aus der Sicht einzelner Disziplinen, einzelner Länder oder aus der Sicht allein von Praktikern oder Theoretikern nicht erreicht werden könnten.

Zu Beginn der Tagung verlas Mr. William Ozkaptan, UN Beauftragter für Aceh, eine Grußbotschaft des neugewählten Gouverneurs der Provinz, der trotz Ankündigung seiner Anwesenheit wegen anderweitiger Verpflichtungen nicht an der Konferenz teilnehmen konnte.

Die inhaltliche Arbeit begann mit der Aufarbeitung der historischen Hintergründe des Konfliktes. Dazu gab es Einführungsreferate von Dr. Johannes Herrmann und Anne Kathrin Schäfer. Im folgenden Block wurden die ökonomischen Hintergründe des Konfliktes analysiert. Grundlage dazu waren Beiträge von Professor Dr. Jochen Röpke und Dr. Abdul Rachman Islahuddin (Aceh). Im Zuge dieses Blockes wurde sehr klar, dass der Konflikt zwischen der Provinz Aceh und der Zentralregierung wesentlich auf die Auseinandersetzung um Bodenschätze in der Provinz Aceh zurückgeht. Der letzte Block im Rahmen der Aufarbeitung der Konfliktursachen hatte religiöse Hintergründe zum Thema. Die Beiträge von Professor Dr. Edith Franke und Dr. Alef Teriah Wasim (Aceh) machten deutlich, wie die lange islamische Geschichte in Aceh und in Indonesien mit ihren unterschiedlichen Facetten den Konflikt sowohl verstärkt haben, aber zukünftig auch zu einer Beilegung des Konfliktes wichtig sein könnten.

Im zweiten Block des Symposiums wurden die Schritte zur Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen dokumentiert. Leider war der eingeplante Bericht des Gouverneurs von Aceh über die Friedensverhandlungen aus oben genannten Gründen nicht realisierbar. Joost Butenop als Vertreter von »Ärzte ohne Grenzen« machte die Bedeutung unmittelbarer medizinischer Versorgung deutlich. Jörg Meyer, langjähriger Vertreter von NGOs in Aceh und in Indonesien, schilderte die Situation der Hilfeleistung nach dem Tsunami. In diesem Zusammenhang wurde auch klar, wie die Rechtfertigung von NGOs ihren Spendern gegenüber zu zuweilen unsinniger Massierung von Hilfeleistungen führt. Dies kann bei den Empfängern Erwartungen wecken, die auf Dauer nicht eingehalten werden können, was erneute Konflikte nach sich ziehen kann. Augustin Nicolescou schließlich schilderte die Möglichkeiten des Einsatzes von Dialogverfahren zur Aussöhnung von vorher verfeindeten Bevölkerungsteilen.

Der dritte Block des Symposiums hatte zum Ziel, am Beispiel unterschiedlicher Konfliktregionen der Welt Möglichkeiten zur Befriedigung nach gewalttätigen Auseinandersetzungen und insbesondere zur Befriedigung von Aceh zu arbeiten. Am Beispiel der Entwicklung seines Heimatlandes machte der nordirische Sozialpsychologe Prof. Dr. Ed Cairns deutlich, dass Postkonflikt-Gesellschaften oft gar nicht so sehr darauf fixiert sind, Rache und Vergeltung am ehemaligen Gegner zu üben. Vielmehr kommt es zur ausschließlichen Fixierung auf die eigene Partei und die völlige Ignoranz und Vermeidung der anderen, mit jedoch auch fatalen Konsequenzen: Es kommt zu gegenseitiger Benachteiligung und Diskriminierung, etwa bei der Verteilung von Wiederaufbaumitteln, und damit zu einer erneuten Aufheizung der immer noch sehr gespannten Beziehungen.

Die Konferenz folgte in ihrem Aufbau den Schritten, die in Nachkriegs- oder Nach-Bürgerkriegsgesellschaften zur Aussöhnung sinnvollerweise durchlaufen werden sollten. Ein wesentlicher und oft erster Schritt ist die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Nürnberger Prozesse nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Prozesse vor dem internationalen Gerichtshofs in Den Haag und die Installierung von War Crime Tribunals in Kambodscha sind Beispiele für solche Tribunale. Wie der Marburger Jurist und Experte für internationales Recht, Privatdozent Dr. Christoph Safferling, deutlich machte, haben solche Prozesse eine doppelte Funktion: Sie führen zur Aburteilung von Kriegsverbrechern, aber auch zu Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit jenseits juristischer Fragen nach Schuld und Verurteilung. Der lokalen und internationalen medialen Begleitung solcher Prozesse kommt deshalb eine große Bedeutung zu.

Wahrheitskommissionen sind nach Schilderung des südafrikanischen Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Pierre du Toit ein weiterer Schritt. Ihr Ziel ist nicht die juristische Bearbeitung konkreter Verbrechen, sonder die öffentliche Aufarbeitung der kriegerischen Vergangenheit. Dies ist ebenfalls nur möglich, wenn die Kommissionen ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit sicherstellen können. Ziel der Wahrheitskommissionen ist die Rekonstruktion der Geschehnisse aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Motive. In Südafrika arbeiten Wahrheitskommissionen und Gerichte oft Hand in Hand: Schwere Verbrechen und Verfahren, in denen die Beteiligten keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommissionen zeigen, werden an die Gerichte weiter verwiesen.

Der israelische Sozialpsychologe und Pädagoge Prof. Dr. Gavriel Salomon konnte an zahlreichen Beispielen verdeutlichen, dass pädagogische Maßnahmen zum Abbau von Feindbildern gut geeignet sind und damit einen weiteren wichtigen Schritt der Aussöhnung darstellen. Solche Maßnahmen können etwa in den schulischen Unterricht eingebaut werden. Viele dieser Maßnahmen beruhen auf der konflikt-reduzierenden Wirkung von Kontakten zwischen Mitgliedern der Konfliktparteien. Diesen Aspekt betonte auch Privatdozent Dr. Johannes M. Becker in seiner Analyse des französisch-deutschen Verhältnisses nach 1945: Das breit angelegte Kontaktstiften insbesondere des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW/OFAJ) wie auch der systematische Aufbau gemeinsamer supranationaler Institutionen im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses wurden als konflikt-reduzierende Faktoren aufgeführt.

Die Kontaktforschung kann die Bedingungen sehr genau spezifizieren, unter denen Kontakte zwischen Gruppen zur Verminderung von Spannungen und gegenseitiger Zurückweisung führen, wie die US-amerikanische Sozialpsychologin Linda Tropp in einer Zusammenfassung der mittlerweile fünfzigjährigen Forschung auf diesem Gebiet zeigen konnte. Allerdings sind die erzielten Effekte oft nur kurzzeitig, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an solchen Vermittlungs- und Aussöhnungsprogrammen wieder in ihre Bezugsgruppen zurückkehren, in denen oft massive Feindbilder gepflegt und tradiert werden.

Der Präsident der Philipps-Universität, Volker Nienhaus, und Jochen Röpke, Wirtschaftswissenschaftler an der Philipps-Universität, verwiesen auf die Notwendigkeit auch der ökonomischen Umgestaltung des Landes. Aceh verfügt über reiche Bodenschätze und Agrarprodukte, die in der Regel als Rohstoffe und damit ohne große Gewinne ausgeführt werden. Zur Anhebung der Einkünfte muss zumindest ein Teil der Weiterverarbeitung im Lande verbleiben. Dazu bietet gerade der islamische Hintergrund des Landes eine gute Basis, weil er ein Banken- und Kreditwesen begünstigt, das insbesondere auf die Förderung von Kleinunternehmen baut.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der betroffenen Regionen Aceh und Indonesien sahen gute Möglichkeiten, viele der diskutierten Aussöhnungsmaßnahmen auf Aceh zu übertragen. Darüber hinaus seien aber noch weitere Initiativen zu ergreifen. Beispielsweise ist die zukünftige Rolle der indonesischen Armee zu klären, die an dem Konflikt massiv beteiligt war. Und die religiösen Hintergründe des Konflikts sind weiter aufzuklären. Indonesien und Aceh sind gleichermaßen islamisch geprägt. Dieser gleiche religiöse Hintergrund sollte den Aussöhnungsprozess eigentlich begünstigen, gleichzeitig dienen feine religiöse Unterschiede aber immer wieder als Differenzierungskriterium, um zwischen Aceh und anderen Teilen Indonesiens unterscheiden zu können.

Die Marburger Konferenz konnte viele Fragen aufgreifen und Wege zur Aussöhnung aufzeigen. Gerade aus dem Konzert der Vielzahl von Empfehlungen, die sonst gewöhnlich nur jeweils einzeln in den Blick genommen werden, ergeben sich neue und umfassende Perspektiven der Koordination der unterschiedlichen Schritte. Manche Fragen sind aber auch noch offen und z. T. von der Forschung noch gar nicht hinreichend intensiv in Angriff genommen wurden. Dazu gehört beispielsweise die Frage, wann nach Einstellung von Kampfhandlungen Maßnahmen zur Aussöhnung sinnvoll eingeleitet werden sollen. Möglichst unmittelbar, um eine breite gesellschaftliche Diskussion auszulösen, oder mit Verzögerung, um gerade oberflächlich verheilte psychische Schäden nicht gleich wieder aufzureißen?

Der Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner ist Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Konfliktforschung (ZfK) an der Philipps-Universität Marburg.

Der Politologe PD Dr. Johannes M. Becker ist Geschäftsführer des ZfK.

Dr. Johannes Herrmann ist Politikwissenschaftler an der Justus Liebig-Universität Giessen.

Auszeichnung der Uni-Marburg für Herbert Wulf

Auszeichnung der Uni-Marburg für Herbert Wulf

von Redaktion

Der Präsident der Philipps-Universität Marburg, Professor Dr. Volker Nienhaus, hat dem einstimmigen Vorschlag der Auswahlkommission des Zentrums für Konfliktforschung zugestimmt, den Peter-Becker-Preis für Friedens- und Konfliktforschung 2006 an Herbert Wulf zu verleihen.

Der Preis wird für Arbeiten oder Projekte vergeben, die wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehung, den Verlauf und die Bearbeitung von Konflikten vorantreiben und eine praktische Umsetzung im Sinne der Konfliktregelung ermöglichen bzw. durchführen. Der zum zweiten Mal verliehene Preis ist mit 10.000 Euro honoriert. Die Preisverleihung findet am 9. Februar 2007 in der Universität Marburg statt.

Herbert Wulf veröffentlichte das Buch »Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden« im NomosVerlag sowie in englischer Sprache »Internationalizing and Privatizing War and Peace« im Verlag Palgrave Macmillan. In dieser Publikation warnt er davor, dass durch die Privatisierung und Internationalisierung der weltweiten Militäreinsätze die demokratische Kontrolle über die Streitkräfte in Frage gestellt und das staatliche Gewaltmonopol ausgehöhlt oder gar aufgegeben wird. Die Kommission ist der Auffassung, dass in dieser Publikation ein enorm wichtiges sicherheitspolitisches Problem mit großer wissenschaftlicher Stringenz behandelt wird. Dieses zentrale politische Thema wird dabei in gut lesbarer Form präsentiert.

Biografische Angaben Herbert Wulf

Prof. Dr. Herbert Wulf leitete das Internationale Konversionszentrum Bonn – Bonn International Center for Conversion (BICC) von 1994 bis 2001. Seither führt er ein Forschungsprojekt zur Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden durch und ist außerdem Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP zu Abrüstungsfragen in Nordkorea. Herbert Wulf war als Gutachter und Berater verschiedener UN-Organisationen tätig, so für die Abrüstungsabteilung der UN (UN-Waffenregister und Kleinwaffenkontrolle), für UNDP zur Erstellung des jährlichen Berichtes zu menschlicher Entwicklung (Human Development Report 1991 – 2002), für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die UNESCO. Er ist heute auch Gastprofessor an der University of Queensland, Brisbane, Australien.

Herbert Wulf arbeitete als Forschungsgruppenleiter (für die Kontrolle des Waffenhandels und der Rüstungsindustrie) beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg (IFSH). Seine Forschungsgebiete sind Rüstungskontrolle, Abrüstung, Rüstungskonversion, UN Peace Keeping, Entwicklungstheorie und internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt in Asien. Herbert Wulf hat eine Reihe von Büchern und zahlreiche Aufsätze zu diesen Themen (in Deutsch und Englisch) veröffentlicht.

Die Regierung Nordrhein-Westfalens verlieh ihm im Jahr 2002 für hervorragende wissenschaftliche Arbeit den Titel eines Professors. Er studierte in Köln (Betriebswirtschaft), in Mannheim und Hamburg (Soziologie) und promovierte an der Freien Universität Berlin (Politikwissenschaft). Herbert Wulf lehrte an verschiedenen Universitäten in Deutschland, Skandinavien und den USA.

Herbert Wulf hat seine Arbeit im Bereich von Konflikt, Frieden und Sicherheit nie ausschließlich als rein wissenschaftliche Tätigkeit verstanden, sondern hat seine Expertise der Friedensbewegung, den Gewerkschaften (vor allem in der Frage der Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie), politischen Parteien und Stiftungen sowie in der politischen Bildung und Beratung zur Verfügung gestellt. Die Forschungsergebnisse hat er neben den Publikationen in wissenschaftlichen Fachorganen in verständlicher Form in Zeitungen, nicht-wissenschaftlichen Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehbeiträgen veröffentlicht.

Er ist heute Vorsitzender des Kuratoriums der internationalen Organisation International Security Information Service, Brüssel, Vorsitzender des Herausgebergremiums von Wissenschaft und Frieden und Associate Editor der Vierteljahreszeitschrift Economics of Peace and Security Journal. Er ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Konfliktforschung, im Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Friedensforschung, im wissenschaftlichen Beirat des SIPRI, bei Pugwash Conferences on Sicience and World Affairs sowie bei der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Vor seiner Arbeit in der Wissenschaft war Herbert Wulf vier Jahre Beauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes in Indien. Er begann sein Berufsleben mit einer Banklehre und als Bankangestellter in Deutschland und den USA.

Information Warfare und Informationsgesellschaft

Information Warfare und Informationsgesellschaft

Zivile und sicherheitspolitische Kosten des Informationskriegs

von Ingo Ruhmann und Ute Bernhardt

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1-2014 und zu FIfF Kommunikation 1-2014 Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden und dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.

„Niemand hier oder irgendwo sonst würde es zulassen, dass all seine persönlichen und familiären Informationen an einem Ort gespeichert werden, an dem jeder Wildfremde darin herumstöbern könnte. Kein Unternehmen oder Verein und sicherlich kein Staat könnte es sich lange erlauben, Unternehmensgeheimnisse, Spenderlisten oder diplomatische Verhandlungspositionen ungeschützt herumliegen zu lassen.

Und doch geschieht im Prinzip zunehmend genau das: Der Schutz unserer persönlichen, geschäftlichen und nationalen Sicherheitsdaten wird kompromittiert durch Sorglosigkeit, mangelhafte Vorkehrungen und Ausflüchte. In der heutigen Welt hängt die Sicherheit eines Landes in höchstem Maße vom Sicherheitsbewusstsein und Handeln unserer Behörden, Unternehmen, Zulieferer, Schulen, Freunde, Nachbarn, Verwandten und, ja, von uns allen ab.“

General Keith Alexander, Direktor der National Security Agency und Kommandeur des »U.S. Cyber Command«, Washington, 3. Juni 20101

Die britische »Government Code and Cypher School« baute 1939 auf dem Landsitz Bletchley Park eine neue Einrichtung auf, um die verschlüsselten Nachrichten der damaligen Kriegsgegner systematisch auszuwerten und zu entschlüsseln.2 Die Analyse der Datenformate und der Umstände der Sendung – heute: der Metadaten – ermöglichte Rückschlüsse auf Sender und mögliche Nachrichteninhalte. Die fähigsten Mathematiker und Kryptospezialisten sollten die verschlüsselten Inhalte der Sendungen lesbar machen.

Einer der besten dieser Wissenschaftler war der Mathematiker Alan Turing, der 1936 in einer bahnbrechenden Arbeit ein universelles Modell eines Computers entwickelt hatte.3 Turing löste das Entschlüsselungsproblem durch die Konstruktion erster digitaler Rechenmaschinen, die ab 1941 die »industrielle« Entschlüsselung des »ENIGMA«-Codes der deutschen Wehrmacht, später auch des »strategischen« Codes des deutschen Generalstabs ermöglichten. Die so entschlüsselten Pläne und Operationen der Wehrmacht trugen ganz wesentlich zum Sieg der Alliierten bei.

Aus Bletchley Park wurde ein bis 1987 betriebenes Trainingszentrum, aus der »Government Code and Cypher School« wurde 1946 das »Government Communications Headquarter«, GCHQ.4 Dort wurden alle Ressourcen zur Nachrichtensammlung und –analyse zusammengezogen. Die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Großbritannien führten in den USA 1952 zur Gründung der National Security Agency, NSA.5 Andere Länder folgten später diesem Beispiel.

Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges wird unentwegt jede Form elektronisch übermittelter Kommunikation aufgespürt und analysiert – immer auf dem neuesten Stand technischer Möglichkeiten. Das Werkzeug, das die Entschlüsselung und effiziente Realisierung der Kommunikationsüberwachung überhaupt erst ermöglichte, war der Computer, und das schon viele Jahre, bevor so etwas wie Informatik überhaupt existierte. Die Digitalisierung der Kommunikation und der Siegeszug des Internets eröffneten dann – zusammen mit leistungsfähigen neuen Analysealgorithmen – der Überwachung völlig neue Möglichkeiten.

Alan Turing gilt zu Recht als einer der wichtigsten Väter der Informatik: Er schuf die Grundlagen für digitale Computer und zugleich für die maschinelle Entzifferung verschlüsselter Nachrichten. GCHQ und NSA wurden gegründet, um diese Entwicklung weiterzutreiben.

Information Warfare 1.0: Kalter Krieg

Auf britischer und amerikanischer Seite brachte der Zweite Weltkrieg nicht nur einen erheblichen technologischen Schub in der Radar-, Funk-, Kommunikations- und Computertechnik, dort wurden nach Kriegsende auch die Arbeitsergebnisse und teilweise sogar das Personal der deutschen Seite »gesichert«. Dieser Vorsprung wurde in den Nachkriegsjahren konsequent ausgebaut.

Schon während des Krieges hatten alle Parteien jede Möglichkeit genutzt, den Telegraphen- und Fernmeldeverkehr zu überwachen. Deutsche6 wie Alliierte7 zapften durchlaufende Kommunikationskabel an und belauschten den darüber abgewickelten Fernmeldeverkehr. Auch die konventionelle Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs wurde nach dem Krieg auf allen Seiten ausgebaut. An der Grenze der beiden Machtblöcke gelegen waren beide deutsche Staaten Operationsgebiet von Militärs und Geheimdiensten. In der Bundesrepublik behielten sich die Westalliierten umfangreiche Befugnisse vor, den Post- und Fernmeldeverkehr zwischen Ost- und Westdeutschland und auch den Fernmeldeverkehr innerhalb der Bundesrepublik abzuhören. Pro Jahr wurden mehrere Millionen Postsendungen kontrolliert und hunderttausende Gespräche überwacht. Diese Befugnisse wurden im Zusatzprotokoll des NATO-Truppenstatus festgeschrieben und gelten bis heute in ganz Deutschland fort.8 Frankreich und Großbritannien reduzierten ihre Aktivitäten über die Jahre, die US-Dienste hingegen – im Wesentlichen die NSA –bauen ihre Kapazitäten weiterhin aus.

Im Zweiten Weltkrieg begann die erste Stufe der Verwertung von Daten aus elektronischen Komponenten und Computersystemen. In den Bell Laboratories hatte man entdeckt, dass Fernschreiber und vergleichbare elektrische Geräte, wie etwa Kryptogeräte, Funksignale produzieren, die sich aus einiger Entfernung mitlesen ließen.9 Diese elektromagnetische Abstrahlung, später »TEMPEST« genannt, wurde bald für die Spionage genutzt. Die Briten verfeinerten das Verfahren so weit, dass sie in den 1950er Jahren während der Suez-Krise die Einstellungen von (auf dem ENIGMA-Bauprinzip beruhenden ) Hagelin-Kryptogeräten auffingen und die verschlüsselte diplomatische Kommunikation der Ägypter und somit auch deren Verhandlungsergebnisse mit Moskau tagesaktuell mitlesen konnten.10 Mit einem System zur Detektion der Empfängerfrequenzen gegnerischer Überwachungssysteme ermittelten sie die Funkkommunikationswege der sowjetischen Botschaft in London, die sowohl der Kommunikation mit Moskau als auch der Agentenführung dienten.11 Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 und GCHQ hebelten 1960 durch TEMPEST-Abstrahlungsmessungen die Verschlüsselungssysteme der französischen, griechischen und indonesischen Botschaften zunächst in London, später in anderen Ländern aus, scheiterten jedoch daran, auch den Code der Deutschen Botschaft mitzulesen.12

Im Gegensatz zum GCHQ umfasste das Aufgabengebiet des US-Auslandsgeheimdienstes NSA von Beginn an ein breiteres Aufgabenspektrum, das stärker auf die Aufklärungsinteressen einer atomaren Supermacht abgestimmt war. Bei der NSA wurde die gesamte Kommunikations- und Elektronische Aufklärung (Communications and Signals Intelligence) gebündelt. Die NSA ist – anders als die anderen bekannten US-Geheimdienste – in die militärische Organisationshierarchie integriert und wird von einem Militär befehligt, der seit einigen Jahren immer zugleich auch Kommandeur des »U.S. Cyber Command« ist.13

Die NSA verfolgte im Kalten Krieg vier operative Aufgaben: neben der klassischen Nachrichtenaufklärung insbesondere die technische »Signals Intelligence«, um von a) sowjetischen Raketentests und anderen Signalquellen aus technischem Gerät Daten zu erheben, b) die Luftabwehr und das militärische Kommando- und Kontrollnetzwerk gegnerischer Staaten zu überwachen und c) die Bewegungen gegnerischer Truppen zu verfolgen. Die NSA wurde außerdem eingesetzt, um im Auftrag des FBI auch im eigenen Land Überwachungsmaßnahmen durchzuführen.14

Für die klassische Nachrichtenaufklärung wurden seit den 1950er Jahren Überseekabel, seit den 1970ern Satellitenkommunikationswege und Mikrowellen-Übertragungsanlagen an mehreren zentralen Übertragungsknoten weltweit angezapft.15 Ab den 1970er Jahren kamen Satelliten zur Funkfernaufklärung hinzu. Die Telemetriedaten von Raketentests wurden von Flugzeugen oder Bodenstationen aufgefangen. Für die Ortung und Überwachung von Signalquellen wurden rund um den Erdball Empfangs- und Peilstationen errichtet, um eine möglichst genaue Kreuzpeilung zu erreichen; die in Deutschland bekannteste Station befand sich auf dem Berliner Teufelsberg, die größte in Gablingen bei Augsburg.

Wie alle größeren Signals-Intelligence-Organisationen verfügte die NSA schon damals über diverse Schiffe und Flugzeuge zur Funkaufklärung. Diese drangen regelmäßig in fremdes Hoheitsgebiet ein, um die gegnerische Abwehr zu provozieren, die dann jene Signale erzeugte oder gar größere Teile des Kommandonetzes für den Nachrichtenaustausch aktivierte, um deren Auswertung es der NSA ging. Diese Art der Datensammlung führte im Kalten Krieg regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Allein von 1950 bis 1959 gab es 33 Zwischenfälle zwischen Flugzeugen der USA und »kommunistischer Staaten«, bei denen fast alle beteiligten US-Maschinen abgeschossen und die Besatzungen getötet wurden.16 Während des Sechs-Tage-Krieges 1967 versenkten israelische Streitkräfte das US-Spionageschiff »Liberty« im Mittelmeer; 1968 kaperten Nordkoreaner die U.S.S. Pueblo.17 Eine Maschine zur Messung der Telemetriedaten sowjetischer Raketentests war 1983 an dem Luftzwischenfall über Sachalin beteiligt, der mit dem Abschuss eines »Korean Airline«-Jumbos durch sowjetische Jäger endete. Beim bislang letzten größeren Zwischenfall 2001 zwangen chinesische Abfangjäger eine US-Spionagemaschine zur Landung auf der Insel Hainan und setzten die Besatzung fest.18 In den letzten Jahren wurde vor allem der Abschuss etlicher Spionagedrohnen bekannt.19

Bei den Atommächten hielten Computer in den 1950er Jahren Einzug. Was mit dem Kommando und der Kontrolle der Nuklearstreitkräfte begann, entwickelte sich bis in die 1980er Jahre zu einem militärisch vielfältig genutzten Kommunikations- und Steuerungsinstrument. Die Computer in militärischen Kommando- und Kontrollnetzwerken wurden daher früh zum Objekt von Aufklärung und Sabotageideen. Die TEMPEST-Abstrahlung von Computersystemen wurde in den 1960er-Jahren untersucht, um einerseits den Datenverkehr fremder Systeme auszuspähen und andererseits eigene Geräte besser gegen Abstrahlung zu schützen.20 In den 1970er Jahren begannen US-Dienste, sich direkt Zugang zu Computersystemen gegnerischer Militäreinrichtungen zu verschaffen und dort Manipulationen vorzunehmen. Erleichtert wurde dies durch die bis Ende der 1970er Jahre legalen Exporte21 von – so ein Bericht des US-Senats – mehr als 300 leistungsfähigen Computern in Länder des Ostblocks,22 die dort überdies von US-Firmen, etwa von IBM und Digital Equipment, gewartet wurden.23

Der Fall Karl Koch – er war angeklagt, Daten an den sowjetischen Geheimdienst KGB verkauft zu haben24 – brachte weitere Details ans Tageslicht. Die Sowjets hatten sich 1981 Zugang zu Daten aus US-Systemen verschafft.25 Die NSA wurde daraufhin Mitte der 1980er Jahre beauftragt, die Sicherheit informationstechnischer (IT-) Systeme zu prüfen und Schutzmaßnahmen zu entwickeln, bevor sensitive Daten dort gespeichert würden.26 Der NSA wiederum war es mehrfach gelungen, „geheime militärische Computersysteme in der Sowjetunion und anderen Ländern zu penetrieren. Die Regel, erklärte ein Experte, sei, dass bei jedem Land, dessen sensitive Kommunikation wir [die USA, d. A.] lesen können, wir auch in ihre Computer gelangen können.“ 27 US-Agenten brachen dazu zumeist in die Rechenzentren ein. Ebenfalls in den 1980er Jahren „haben sowohl NSA als auch CIA damit »experimentiert«, Computer anderer Nationen durch Infektion mit Viren und anderen destruktiven Programmen außer Gefecht zu setzen“. 28 Das »Army Signals Warfare Laboratory« schrieb im Rahmen des »US Government Small Business Innovation Research Program« im Frühjahr 1990 öffentlich Aufträge über 500.000 US$ für Forschung und Entwicklung militärisch nutzbarer Computerviren und ihre Einnistung in gegnerische Systeme aus.29.

Mit dem Ende der Blockkonfrontation endete die erste, noch recht heterogene Ära des Information Warfare: Der Siegeszug der Computertechnik auch beim Militär sowie elaborierte elektronische Messtechniken hatten die Menge an Aufklärungsdaten explodieren lassen, und die Analyse dieser Daten per Computer hatte die Aufklärungsqualität um Größenordnungen verbessert. Der Computer war Ende der 1980er Jahre bereits ein operatives Ziel und wurde zugleich als Werkzeug für Spionage, Sabotage und Kriegsführung eingesetzt. Noch aber war weder die umfassende Digitalisierung von Kommunikation und Steuerungstechnik abgeschlossen noch die lückenlose Vernetzung der verschiedenen Systeme hergestellt.

Dennoch war Anfang der 1980er Jahre schon unverkennbar, wohin diese Entwicklung führen würde. 1982 publizierte James Bamford die erste Aufarbeitung der Arbeit der NSA. Seine inzwischen über 30 Jahren alte Zusammenfassung und sein Ausblick zeigen, dass die Entwicklung seither keinesfalls als eine zufällige zu sehen ist, sondern als eine, die konstanten Zielen folgt, die ihren Ursprung im Zweiten Weltkrieg haben. Bamford schrieb:

„Drei Jahrzehnte nach ihrer Gründung arbeitet die NSA immer noch ohne eine formale, gesetzlich abgesegnete Satzung, obgleich die Church-Kommission dies als die dringlichste Reform gefordert hatte. Stattdessen gibt es ein supergeheimes Überwachungsgericht, das so gut wie ohnmächtig ist, den »Foreign Intelligence Surveillance Act«, der so viele Hintertüren und Ausnahmen hat, dass er fast nutzlos ist, und eine Präsidentenverfügung, die mehr dazu taugt, die Geheimdienste vor den Bürgern zu schützen als die Bürger vor den Diensten. Weil es eine Präsidentenverfügung ist, kann sie außerdem jederzeit nach Laune des Präsidenten und vollkommen am Kongress vorbei geändert werden.

Die Überwachungstechnologie der NSA ist wie ein Erdtrichter: Sie wird immer breiter und tiefer, saugt immer mehr Kommunikation ein und schafft nach und nach unsere Privatsphäre ab. Diese Aufgabe wird in den 1980er Jahren immer einfacher werden, wenn Sprachkommunikation in digitale Signale umgewandelt werden wird, was etwa 1990 der Fall sein dürfte. Ist das passiert, dann wird es so leicht sein, einen Computer mit Schlüsselwörtern vorzuprogrammieren und damit Telefongespräche zu überwachen, wie es heute schon ist, die Datenkommunikation zu überwachen. […]

Wenn es gegen eine solche Technotyrannei Abwehrmöglichkeiten gibt, dann werden die wohl nicht vom Kongress kommen – das legen zumindest die Erfahrungen aus der Vergangenheit nahe. Am ehesten werden sie wohl aus den Hochschulen und der Industrie kommen, und zwar in Form sicherer Verschlüsselungsanwendungen für private und kommerzielle Kommunikationsgeräte.“ 30

Von der Funkaufklärung zur Überwachung im Internet

EloKa*-Funkaufklärung Mobile TK-Teilnehmer Internet
Emitter-Lokalisierung Handy-Ortung kommerziell verfügbar (US-Patent 6212391 von 2001) Domainname/IP-Nummer in Datenbanken abgelegt und ermittel­bar
Signaturenermittlung: ­Frequenzen,
Signalisierungsformat etc.
Signalstandards definiert Übermittlungsformat ­standardisiert
Rekonstruktion von ­Kommunikationsnetzen TeilnehmerkennungenTelefonnummernNutzerkennung: IMSI =
International Mobile
Subscriber Identity
Zur mobilen Ermittlung: IMSI-CatcherSeriennummer des Gerätes: IMEI = International Mobile Equipment IdentityDie Übermittlung der ­Kennungen kann in GSM verschlüsselt sein; einfacher:
Zugriff auf Betreiber-Datenbanken
IP-Nummern statisch oder dynamisch vergeben,
Mail-Nummern statischNutzung von
Tracking-CookiesAlle IP-Pakete enthalten ­Daten über Sender, Empfänger und die lfd. Nummer zur Rekonstruktion der Nachricht
Entschlüsselung In GSM-Netzen mittlerweile in Echtzeit per Laptop IP-Verkehr ist ohne Zusatzvorkehrungen unverschlüsselt
Auswertung Inhalte und Signalisierungsdetails sind durch schwache Verschlüsselung lesbar Die Sammlung der Daten­pakete an zentralen Netzknoten bzw. Übergängen zu einer Nachricht erlaubt die einfache Rekonstruktion der Kommunikation im Klartext
* EloKa = Elektronische Kampfführung

Information Warfare 2.0: neue Doktrin statt Friedensdividende

Bis zum Ende der Blockkonfrontation hatte die Ausdifferenzierung der Nuklearstrategie der beiden Supermächte aufseiten der USA bereits zu einer im Atomkrieg überlebensfähigen Kommandoinfrastruktur (Command, Control, Communications and Intelligence, C3I) geführt.31 Die Doktrin der »Flexible Response« machte den Ausbau ausfallsicherer Datenkommunikationskanäle erforderlich. In den 1980er Jahren war die Computervernetzung per Internettechnologie so weit fortgeschritten, dass die Redundanz der Übertragungswege auch für militärische Anforderungen ausreichend war. Das computergestützte C3I-Netz war seit Anfang der 1970er Jahre zunehmend auch für konventionelle Konflikte genutzt worden und hatte für die operative Kriegsführung entscheidende Bedeutung erlangt. »Personal Computer«, die PCs, wurden ab Mitte der 1980er Jahre für den Einsatz an der Front eingeplant. Angefangen mit Abstandswaffen für den atomaren wie konventionellen Einsatz, wie etwa Marschflugkörper (Cruise Missiles), wurden »intelligente« Waffen und Munition ab den 1970er Jahren in die Arsenale integriert. Die »AirLand Battle«-Doktrin der US-Streitkräfte, später auch der NATO, sah durch Computervernetzung »verbundene« Operationen in großer operativer Tiefe vor.32

Ende der 1980er Jahre wurden Aufklärungsdaten in einer Menge und Qualität gesammelt, dass eine Lageanalyse möglich wurde, die sowohl einen umfassenden Überblick liefern als auch auf einzelne Aktionen fokussiert werden konnte. Die Anbindung einzelner Soldaten33 an ihre Kommandeure per Datenkommunikation erhöht deren taktische Einsatzfähigkeit. Kommandeure konnten sich besser über entscheidende Aktionen informieren, und die taktische Übersicht ermöglichte es, eigene Ressourcen effektiver einzusetzen. Damit waren alle notwendigen technischen Bausteine verfügbar – einschließlich der »AirLand Battle«-Doktrin als taktisch-operativer Grundlage – um die computerbasierte Kriegsführung als integrierte Vorgehensweise zu formulieren.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes war es geboten, alte Operationsformen über Bord zu werfen und sich mit neuen Konflikttypen auseinanderzusetzen. Das Ende der Blockkonfrontation und damit das Ende der Planung für Kriege zwischen großen Armeen wurde somit zum Auslöser für die Entwicklung von Information Warfare als »Force Multiplier« (Kampfkraftverstärker) und als technische Grundlage für eine neue »Revolution in Military Affairs« sowie als operative Grundlage der Kriegsführung in Konflikten mit geringer oder mittlerer Intensität. Technisch und politisch war die Zeit reif für »Information Warfare 2.0« mit der voll ausdifferenzierten Nutzung der Informationstechnologie für militärische Operationen gemäß einer detaillierten Doktrin. Im Golfkrieg 1991 bewies sich, dass High-Tech-Instrumente äußerst wirkungsvoll für die konventionelle Kriegsführung eingesetzt werden können.

Information Warfare als Begriff lässt sich bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen.34 Zunächst wurden der IT-Einsatz und die Verletzlichkeit computergestützter C3I-Systeme nur als neues Sicherheitsrisiko angesehen. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus allerdings der Ansatz, genau diese Verletzlichkeit zu nutzen, um den Ausgang eines Konflikts zu beeinflussen: Wenn eine Seite kontrollieren kann, welches Wissen einem Gegner zur Verfügung steht, dieses Wissen manipulieren und ein C3I-Systems sogar physisch zerstören kann, dann verliert der Gegner die Fähigkeit zur Lageanalyse sowie zur Kommandoausübung und zur Kontrolle militärischer Operationen.35 Zugleich lässt sich die Leistung der eigenen Soldaten erhöhen, indem bessere und umfassendere Daten und Informationen in Echtzeit bereitgestellt werden.

Definiertes Ziel ist eine Informationsdominanz, die aufgefächert wird in

  • gesteigertes Lagebewusstsein (situational awareness),
  • verbesserter Lageüberblick (topsight) mit Hilfe von Datenaustausch, Visualisierungsmethoden und Unterstützungssystemen, um die Kommandoleistung zu steigern und
  • erhebliche Leistungssteigerung des eigenen C3I-Systems.36

Gegenstand von Information Warfare sind damit sowohl die zur militärischen Führung nutzbaren Daten und Nachrichten sowie die Störung ihrer Nutzung durch andere. Für Letzteres werden Daten manipuliert oder die sozialen Organisationen und technischen Systeme, die diese Daten verarbeiten, gestört. Dies betrifft Daten und Systeme auf allen Konfliktebenen, von der medialen Vorbereitung und Begleitung bis zur Versorgung eines Soldaten auf dem Schlachtfeld mit notwendigen Daten.

Der Golfkrieg wurde noch auf Basis der »AirLand Battle«-Doktrin und des zuvor entwickelten »Field Manual 100-5« für integrierte Operationen zu Lande und in der Luft geführt. 1996 wurde als Nachfolger das »Field Manual 100-6« der U.S. Army zur Planung und Durchführung von »Information Operations« herausgegeben.37 Damit wurde die Kriegsführung auf Basis des Information Warfare die reguläre militärische Operationsform der US-Streitkräfte, die bis heute wiederholt konkretisiert und stark ausdifferenziert wurde. Folgende Einsatzmittel für »Information Operations« sind in diesem Manual vorgesehen:

  • gegen IT-Systeme: Mittel der Elektronischen Kriegführung, Zerstörung mit konventionellen Waffen sowie nicht-atomare Generatoren zur Erzeugung elektromagnetischer Impulse (EMP),
  • gegen militärische Organisationen: Tarnen und Täuschen als Gegenmittel für jede Form der Aufklärung, Störung der Kommunikation durch Mittel der elektronischen Kriegsführung und durch psychologische Mittel,
  • gegen Medien und Öffentlichkeit: Mittel der psychologischen Kriegführung, aber auch direkte Gewalt, beispielsweise gegen Journalisten und deren Kommunikationssysteme.
dossier74_InfoWar_Information-Warfare

Abbildung 1: Information Warfare 2.0

Von Beginn an umfasst Information Warfare also nicht allein die Datensammlung und -analyse aus der früheren elektronischen, der psychologischen Kriegsführung und der Spionage (die schon immer eine Aufgabe von Diensten wie NSA und GCHQ war), sondern auch die Überwachung und Beeinflussung von Medien und zivilen Informationskanälen. Auch eine immer weiter ausdifferenzierte Vielfalt von Operationen zur Computerspionage und –sabotage gehört in diesen Bereich. Dabei wird der »permanente Kriegszustand« mit militärischen Operationen in verdeckten Arenen, der aus der klassischen elektronischen Kriegsführung und der Spionage bekannt ist, hier auf das Zivilleben ausgedehnt.

Sowohl in der gemeinsamen Terminologie der US-Streitkräfte38 als auch in den fortentwickelten aktuellen Operationshandbüchern der U.S. Army haben »Information Operations« dabei immer auch eine virtuelle sowie eine „physische Dimension“ 39, und zwar bis hin zu „der Eliminierung gegnerischer Systeme“.40 Die Probleme bei der Rückverfolgung (Attribuierung) der Herkunft von Cyberattacken werden ausdrücklich als Begründung dafür angeführt, dass neben der virtuellen Reaktion im Information Warfare auch die physische Gewaltausübung zur Erreichung eines gewünschten Ziels vorgesehen wird.

Die 1990er Jahre waren gekennzeichnet durch den Ausbau technischer Möglichkeiten und wiederholte Reorganisationen der militärischen und geheimdienstlichen Organisationen, um die formulierten operativen Wünsche mit den Ressourcen und Möglichkeiten besser in Einklang zu bringen. Unter operativen Aspekten blieb die reale Kampfführung nach Information-Warfare-Prinzipien in dieser Zeit trotz schlaglichtartiger Erfolge noch episodenhaft. Die Ansätze und Einheiten zur Informationskriegsführung, die auf höchst unterschiedlichen Ebenen und eher mäßig koordiniert entstanden, wurden erst nach 2001 zusammengeführt.

Auf militärischer Ebene wurde Information Warfare in dieser Phase zum Synonym des Umbaus der Streitkräfte und der Abkehr von massiven Feldschlachten. Einerseits sollten schnelle, global einsetzbare »Small Warfare Units« eine präzise steuerbare militärische Machtprojektion überall auf dem Globus ermöglichen.41 Andererseits sollten die modernisierten Streitkräfte auch in der Lage sein, konventionelle Konflikte mit deutlich weniger Kräften, schneller, »entschiedener« und erfolgreicher führen zu können.

Wichtigstes Beispiel dafür war der Überfall auf den Irak 2003, der medial als erster »digitaler Krieg« angekündigt wurde. Er sollte durch die psychologische Wirkung massiver Luftschläge zu Beginn der Kampfhandlungen (shock and awe) und eine überlegene alliierte Truppenführung binnen kurzer Zeit gewonnen werden. Statt des früher für Angriffsoperationen für notwendig gehaltenen Kräfteverhältnisses – dreifach stärkere Kräfte auf Angreiferseite als auf Seiten des Verteidigers –, setzte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gegen die 400.000 irakischen Soldaten lediglich eine Streitmacht von 250.000 Angreifern ein. Obendrein konnten von den fünf verfügbaren Armeedivisionen nur vier eingesetzt werden, da die Türkei es den US-Truppen untersagte, den Irak von türkischem Territorium anzugreifen; das Verbot schloss den Start von Kampfflugzeugen vom US-Luftwaffenstützpunkt Incirlik ein.42

Ein typisches Element für den Information Warfare ist die psychologische Kriegsführung, d.h. die Beeinflussung des heimischen und gegnerischen Publikums. In diesem Sinne wurden Medienberichte lanciert, US-Militärs hätten bereits vor Kriegsbeginn mit wichtigen irakischen Truppenkommandeuren die Bedingungen für ihre Kapitulation ausgehandelt.43 Die Medien berichteten weiter, „nahezu Allwissenheit plus intelligente Munition“ werde die US-Truppen in die Lage versetzen, die meisten wichtigen Ziele simultan anzugreifen und zu zerstören. Die USA könnten, so hieß es, bis zum Ende der ersten Woche dem gesamten irakischen Militärapparat einen vernichtenden Schlag versetzen und 75% des irakischen Territoriums besetzen.44

Zu Kriegsbeginn 2003 wurden – ganz dem »Field Manual 100-6« gemäß – die irakischen Kommunikationslinien bombardiert und zerstört, bevor mit dem Einmarsch begonnen wurde. In den ersten drei Tagen rückten US-Truppen fast ungehindert 400 km weit vor, wurden dann aber in unerwartet intensive Kämpfe verwickelt, was zur Kritik führte, die US-Streitmacht sei nicht groß genug.45 Die US-Luftwaffe ersetzte große Teile der Artillerie durch die direkte Kommunikation zwischen den Bodeneinheiten und der Luftwaffe sowie durch »intelligente« Munition.46 Die IT-gestützte Vernetzung erlaubte es, binnen 15 Minuten aus den Aufklärungsdaten von Drohnen die Zielkoordinaten für die Bomber zu berechnen, an diese zu übermitteln und das ausgesuchte Ziel anzugreifen.47 Für die Einnahme von Bagdad wurde statt der im vorherigen Golfkrieg benötigten neun Artilleriebrigaden nur eine abgestellt,48 was half, logistische Probleme zu vermindern und die Geschwindigkeit des Vormarsches zu erhöhen.

Auch bei einer sehr vorsichtigen Bewertung der Medienberichte über den Irakkrieg lassen sich zahlreiche Argumente dafür finden, dass die militärische Machtausübung durch den breiten Einsatz vernetzter IT im Sinne des Information Warfare real gestärkt wurde. Der entscheidende Faktor war dabei nicht der Einsatz vereinzelter Präzisionswaffen, sondern die Integration der Einzelteile in eine komplexe Infrastruktur, mit der Kommando und Kontrolle verbessert wurde. Dieses Konzept erwies sich allerdings als untauglich für den nachfolgenden Guerillakrieg.

Parallel zu diesem militärisch-operativen Wandel bauten U.S. Army, U.S. Air Force und NSA eigene »Hackertruppen« auf, um Sicherungsaufgaben durchzuführen und Angriffsoptionen zu erproben. Seit 1993 verfügte die U.S. Air Force über ein »Air Force Information Warfare Center«49 und das US-Verteidigungsministerium über ein »Joint Command and Control Warfare Center«,50 das mit der psychologischen Kriegsführung, der operativen Sicherheit und der Zerstörung gegnerischer C3I-Strukturen betraut war. Dort liefen alle verfügbaren Daten über digitale Waffen-, Computer- und C3I-Systeme potentieller Gegner und deren Schwachstellen zusammen. Diese für Cyberangriffe geeigneten Daten wurden in der vernetzten »Constant Web«-Datenbank in 67 Ländern verteilt vorgehalten51, und sie werden bis heute genutzt.

Besondere Bekanntheit hat inzwischen das 1998 gegründete »Office for Tailored Access Operations« (TAO) der Signals-Intelligence-Abteilung der NSA erlangt. TAO-Mitarbeiter haben sich seither sowohl per Internet in IT-Systeme eingehackt als auch Agenten bzw. Militärs vor Ort damit beauftragt, sich wie schon in den 1970er Jahren etwa durch Einbruch physischen Zugang zu den zu manipulierenden IT-Systemen zu verschaffen und Schadsoftware zu installieren.52 Aufgaben und Operationsweise des TAO wurden 2009 erstmals näher beschrieben.53

Allerdings wurden sämtliche Aufklärungswünsche und Sabotageideen im militärischen Umfeld durch die Verschlüsselungssysteme behindert, die seit dem Ersten Weltkrieg flächendeckend eingesetzt werden. Sämtliche Staaten verschlüsseln ihre diplomatische und militärische Kommunikation, um das Spionieren zu erschweren. Nur die zivile Kommunikation blieb unverschlüsselt, sieht man vom verpflichtenden DES-Standard für das Bankenwesen nach 1984 ab.

Weltweit gab es in den 1970er und 1980er Jahren nur fünf Anbieter für kryptographisches Gerät,54 und die Anbieterländer sorgten dafür, dass die Zahl der anbietenden Unternehmen übersichtlich blieb. Sie behielten sich bei Verkäufen in Drittländer die »strategische Kontrolle« über die geschützte Kommunikation der Kunden vor,55 sofern solche Exporte – die genauso streng geregelt wurden wie der Waffenhandel – überhaupt genehmigt wurden.

Als Herausforderung für die Überwachung der Kommunikation im zivilen Bereich erwies sich die zunehmende Entwicklung neuer, starker Kryptoverfahren. Als das bedeutsamste stellte sich das asymmetrische Verschlüsselungsverfahren von Rivest, Shamir und Adelman – das RSA-Verfahren – heraus, das später Grundlage für die Open-Source-Verschlüsselungssoftware »Pretty Good Privacy« (PGP) wurde. Ab 1978 ging die NSA mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln in die Offensive gegen die Verbreitung solcher Kryptoverfahren: Reise- und Publikationsverbote für Forscher, Verweigerung von Patenten, Exportverbote und schließlich der Versuch, Kryptographie und diverse andere wissenschaftliche Gebiete der Informatik in den USA als »born secret« einzustufen (d.h. jede Publikation zu solchen Themen muss erst von der NSA genehmigt werden). Auch über das Ende der Ost-West-Konfrontation hinaus verlangte die NSA bis Ende der 1990er Jahre das Verbot aller Kryptosysteme, für die kein Generalschlüssel hinterlegt wurde (key escrow).56 Erst der Druck von Wissenschaft und Wirtschaft in den USA und nach 1989 die Weigerung der deutschen und französischen Regierung, diese Regelungen fortzuführen, ließen diese Politik ins Leere laufen. Trotzdem blieb die Kryptographie ein Arbeitsschwerpunkt der entsprechenden Dienste.

Etwa zur gleichen Zeit weiteten sich die Vorbehalte gegen die immer deutlicher zu Tage tretenden Implikationen von Information Warfare aus. In Europa, weniger in den USA, wurde darüber debattiert, wie mit dem erheblichen Sicherheits- und Eskalationsrisiko von Information Warfare und der damit verbundenen massiven Intensivierung der Kriegsführung umgegangen werden könnte. Der »Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle« des Deutschen Bundestags ließ das Thema Rüstungskontrolle und Information Warfare eingehend untersuchen.57 Das EU-Parlament ließ zunächst die potentiellen Gefahren für die Zivilgesellschaft aufarbeiten58 und gab daraufhin eine ausführliche Untersuchung zum Stand der nachrichtendienstlichen Telekommunikationsüberwachung in Auftrag. So entstand der »ECHELON«-Bericht für das Europaparlament,59 dessen Beratung zu harscher Kritik an der Aufklärung europäischer Partner durch NSA und GCHQ führte.

Information Warfare 2.0 – die mit dem Ende der Blockkonfrontation einsetzende erste integrierte und auf kohärenten Doktrinen aufbauende Umsetzung von Information Warfare – zeigte vor allem militärisch-operativ deutliche Resultate. Erreicht wurde dies vor allem durch den organisatorischen Umbau alter und den Aufbau neuer militärischer Einheiten sowie die Erprobung neuer Techniken und Operationsformen für die Spionage, die Sabotage von Waffensystemen und die Kriegsführung. Technisch wurde dies unterstützt durch Integration verschiedenster IT-Systeme auf allen Ebenen – wobei diese Integration nicht vollständig und durchgängig ist – sowie eine stärkere Verknüpfung von digitaler und physischer Gewaltausübung in Doktrin und Praxis. Auf politischer Ebene war – bedingt durch die Auflösung bestehender Machtblöcke – auch eine Tendenz zu stärkeren Alleingängen ehemaliger Bündnispartnern zu beobachten; dies führte teilweise sogar zu deutlichen Differenzen zwischen ihnen sowie zur Bildung von Kooperationen zwischen neuen Partnern.

Information Warfare 3.0: nach 9/11

Die Terrorangriffe des 11. September 2001 hatten nicht nur den ersten und bis heute andauernden Bündnisfall der NATO60 und den Krieg in Afghanistan zur Folge, sondern auch eine fundamentale Änderung in der Bewertung wesentlicher Parameter der Sicherheitslage. Das Versagen der Geheimdienste, die Terrorangriffe rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern, hatte nicht etwa eine Neuaufstellung, sondern ihre Stärkung zur Folge. Die infolge des »ECHELON«-Berichts aufgekommene Kritik an Überwachungsmaßnahmen verstummte; gleichzeitig wurden die zur Überwachung genutzten Techniken und exorbitanten Ressourcen nochmals massiv ausgebaut. Die Bedeutung von Information Warfare als operative Kriegsführungsstrategie nahm trotz aller weiter betriebenen Ausdifferenzierung und trotz des Zugewinns im Sinne von »Guerilla and Small Units Warfare« ab, obwohl Information Warfare gerade dafür neue Optionen liefern sollte. Stattdessen gewannen nachrichtendienstliche Aspekte an Bedeutung. Die Sicherheitslage nach »9/11« hatte für »Information Warfare 3.0« das Wiedererstarken traditioneller nachrichtendienstlicher Methoden zur Folge und damit zwangsläufig auch die Verstärkung militärisch-geheimdienstlicher Operationen in zivilen Bereichen.

Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begannen zwei entscheidende, wenngleich gegenläufige Entwicklungen:

Auf der einen Seite lief eine Untersuchung auf kriminalistischer und geheimdienstlicher Ebene an, um zu ermitteln, wer die Urheber der Terrorakte waren und wie sie ihre Aktion vorbereiten konnten. Die Untersuchung, die u.a. vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss geführt wurde,61 ergab: Es mangelte aus Konkurrenzgründen am Austausch zwischen den, wie der Rückblick zeigt, durchaus informierten Ermittlern.62 Allerdings wurde daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass die Defizite beseitigt werden müssten, sondern es wurde beschlossen, die Sammlung von Informationen auszuweiten und die Geheimdienste zu stärken.

Auf der anderen Seite marschierte am 7. Oktober 2001 eine NATO-Streitmacht in Afghanistan ein, um den Sturz der Taliban-Regierung herbeizuführen und deren Unterstützung für al Kaida zu beenden. Dieses Ziel war im Dezember 2001 erreicht, die restlichen Taliban befanden sich auf der Flucht vor nachsetzenden Spezialeinheiten. Der Erfolg dieser Operationen und die Anfangsphase der nachfolgenden Besetzung des Landes durch reguläre Armeeeinheiten wurden maßgeblich durch eine von den Truppen selbst organisierte Information-Warfare-Anwendung unterstützt: Die anfänglich eingesetzten Spezialeinheiten und Marines zweckentfremdeten ein Logistiksystem der Streitkräfte und bauten mit seiner Hilfe ein Informationsnetzwerk über Einsätze und Taktiken von Kampftruppen für Kampftruppen auf.63 Als diese ungenehmigte Aneignung des Netzwerks unterbunden wurde, wichen die Soldaten auf kommerzielle Anbieter aus und bauten dort ein völlig unkontrolliertes Netzwerk außerhalb sämtlicher militärischer Kommunikationskanäle auf.64 Nachdem die Kampftruppen mehrmals gewechselt hatten und die Administratoren des Netzes nicht mehr im Kampfgebiet stationiert waren, wurde es an die militärische Hierarchie übergeben. Es gibt also seit fast 15 Jahren immer wieder Versuche und Beispiele für »Net-centric Warfare« mittels Selbstorganisation des Datenflusses zwischen Soldaten, teilweise sogar aus Eigenmitteln finanziert. Bislang wurde aber jeder dieser Versuche von der militärischen Organisation neutralisiert und in die hierarchischen Abläufe integriert mit dem Ziel, den selbstorganisierten Datenaustausch zu unterbinden. Der Einsatz in Afghanistan entwickelte sich derweil genau wie der im Irak zur permanenten Bekämpfung von Guerillas ohne Aussicht auf eine Lösung.

Höchst bemerkenswert an beiden Entwicklungen ist, dass hier Erfahrung und Evidenz im diametralen Widerspruch zu den Resultaten stehen.

  • Information-Warfare-basierte militärische Operationen im Irakkrieg und in Afghanistan haben – wie immer man dies auch bewerten mag und trotz aller hoch bedenklichen Konsequenzen – durchaus signifikante Ergebnisse gezeigt, sowohl durch höhere Intensität und Geschwindigkeit großer konventioneller Verbände als auch durch netzwerkartige Selbstaneignung von IT-Ressourcen und Abkehr von herkömmlichen Kommandostrukturen, wobei die sicherheitspolitischen Implikationen keineswegs angemessen aufgearbeitet sind.
  • Extensive, IT-bezogene Aufklärung, Überwachung und Computersabotage haben trotz aller gesammelten Daten weder die Anschläge von 11. September noch nachfolgende Aktionen noch die militärischen Erfolge der Guerillas in den besonders stark überwachten Kriegsgebieten Irak und Afghanistan verhindert oder auch nur nachhaltig begrenzt.

Der Empirie der letzten 15 Jahre zufolge zeigt Information Warfare also Wirkung auf militärisch-operativer Ebene, blieb aber nahezu völlig ergebnislos bei der Bekämpfung von Terrorismus und Aufständen. Dennoch werden im Ergebnis netzwerkartige militärische Organisationsformen unterbunden, die ergebnislose Überwachungstechnik dagegen wird fortwährend ausgeweitet. Wie zu sehen sein wird, hatten die ausbleibenden Erfolge bei der militärischen Konfliktbeendigung im Irak und in Afghanistan nach dem Wechsel der US-Präsidentschaft zu Barack Obama zur Folge, dass klandestine Operationen von Spezialeinheiten und mit Drohnen in den Fokus rückten, für deren Vorbereitung und Ausführung der Aufklärungs- und Überwachungsapparat der USA massiv ausgebaut wurde.

Von der organisatorischen Neuordnung der Cyberkrieger …

Die Zeit ab 2001 war zunächst gekennzeichnet durch zahlreiche organisatorische Umbauten und neue Aufgabenzuordnungen.

In den USA wurden bis 2005 offensive und defensive Zuständigkeiten für Informationsoperationen noch getrennt gehalten. Der NSA-Direktor war zugleich zuständig für das »Joint Functional Component Command – Net Warfare« auf eher strategischer Ebene. Der Direktor der »Defense Information Systems Agency« war zugleich Kommandant der »Joint Task Force – Global Network Operations« auf operativer Ebene. 2008 wurden beide Zuständigkeiten der NSA zugewiesen, um „offensive und defensive Cyberfähigkeiten besser zu synchronisieren“.65 Im Juni 2009 schließlich wurden unter Präsident Obama alle offensiven und defensiven Information-Warfare-Ressourcen des US-Verteidigungsministeriums im »U.S. Cyber Command« zusammengefasst und als dessen Leiter der jeweilige NSA-Direktor bestimmt.66

In dieser Zeit fanden auch in Deutschland mehrfach erhebliche Umbauten der für Information Warfare zuständigen Organisationen statt. Bei der Bundeswehr wurden auf militärischer Seite ab 2002 alle bis dahin in den Teilstreitkräften vorhandenen Kräfte der ortsfesten und mobilen Fernmelde- und Elektronischen Aufklärung – also einschließlich der Aufklärungsboote und –flugzeuge – sowie der satellitengestützten Aufklärung (SAR-Lupe) im »Kommando Strategische Aufklärung« zusammengeführt. 2007 bis 2010 wurden darin parallele Einheiten zusammengefasst und zusätzlich Einheiten der psychologischen Kriegsführung – die »Gruppe Informationsoperationen« zur Erstellung von Medieninhalten und das »Zentrum Operative Information« – eingegliedert. 2009 wurde außerdem eine »Abteilung Informations- und Computernetzwerkoperationen« als klassische militärische Hackereinheit aufgebaut.67 Damit hat die Bundeswehr analog zur Doppelrolle der NSA als Geheimdienst wie als zentrales Bindeglied des »U.S. Cyber Command« alle Ressourcen der Elektronischen, psychologischen und Informationskriegsführung unter einem Kommando mit heute etwa 6.000 Soldaten und Zivilbeschäftigten zentralisiert.68

Unabhängig davon arbeitet das »Computer Emergency Response Team« der Bundeswehr (CERTBw) im IT-Amt der Bundeswehr in Euskirchen und kooperiert mit zivilen CERTs. Auf ziviler Seite wurde als eine Maßnahme des 2005 verabschiedeten »Nationalen Plans zum Schutz der Informationsinfrastrukturen«69 ein IT-Lagezentrum als Kern eines Krisenreaktionszentrums eingerichtet,70 Anfang 2007 das »Gemeinsame Internetzentrum« (GIZ) der Sicherheitsbehörden auf Bundesebene.71

… zu globalen Akteuren im Information Warfare

Über »Cyberkriege« berichteten die Medien schon seit Mitte der 1990er Jahre. Dabei ging es anfangs noch darum, Informationsseiten im Internet zu kapern und zu verändern. Anfang 1995 fanden solche Auseinandersetzung zwischen offiziellen Stellen Ecuadors und Perus statt. Auch die mexikanischen Zapatisten nutzten zu dieser Zeit diese Methode, um Informationen aus dem für die Presse abgeriegelten Gebiet zu verbreiten.72 Zwischen Taiwan und der Volksrepublik China gab es wiederholte Versuche der gegenseitigen Manipulation. Zu Beginn des Kosovo-Kriegs 1999 wurden die Server der NATO mit elektronischen Sendungen überflutet. Auch der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wurde per Internet begleitet.73 Die Zahl solcher Aktionen wuchs aufgrund ihrer einfachen Machart und der medialen Wirkung derart, dass anfängliche Versuche, eine Chronik solcher Vorfälle zu verfassen, bald aufgegeben werden mussten.74

Spätestens der »Arabische Frühling« ab Dezember 2010 machte deutlich, dass die weltweite Verbreitung von Computern und Mobilgeräten heute in nahezu jedem inner- und zwischenstaatlichen Konflikt zu Information-Warfare-typischen Maßnahmen führt. Die Revolution in Ägypten wurde in starkem Maße per Facebook, SMS und E-Mail organisiert,75 bis das alte Regime im Januar 2011 die Internetverbindungen ins Ausland kappte und die Mobilfunknetze abschalten ließ.76

Nach dem Zusammenbruch der alten Regierungsapparate kamen in verschiedenen arabischen Staaten diverse Softwarepakete ans Tageslicht, die die Sicherheitsbehörden für die Überwachung der Kommunikation sowie als »Staatstrojaner« zur Manipulation der Computer von Oppositionellen eingesetzt hatten.77 Politisch »unangenehm« war die Enthüllung, dass ein Teil der Software von Unternehmen aus Deutschland geliefert worden war. Überdies hatte das Bundeskriminalamt laut Auskunft der Bundesregierung Sicherheitsbehörden aus 17 Ländern des arabischen Raums in Computerspionage und in Techniken zur Kommunikationsüberwachung unterwiesen.78

In der Zeit von 2007 bis 2009 gab es verschiedene Cyberoperationen, die auf staatliche Stellen hindeuteten und bei IT-Sicherheitsexperten als gravierende Bedrohung der IT-Sicherheit wahrgenommen wurden.79 Im Mai 2007 fanden gezielte Attacken auf Infrastruktursysteme in Estland statt, die ihren Ursprung in Russland hatten und zu denen sich später eine Kreml-nahe Jugendgruppe bekannte.80 Deutlich identifizierbar war die regionale Quelle von Cyberattacken auch im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Russland und Georgien 2008;81 hier erfolgten die Störaktionen zwar in enger zeitlicher Nähe zu den militärischen Operationen der Russen, es wurden aber keine gezielten Angriffe staatlicher russischer Stellen registriert.

Dass regierungsnahe Organisationen oder gar staatliche Stellen aktiv Cyberattacken durchführen, konnte ernsthaft und begründet erst 2009 mit der Entdeckung der Schadsoftware »Stuxnet« diskutiert werden. Schon die Tatsache, dass die von dem Trojaner befallenen Computersystemen nur direkt vor Ort per USB-Stick mit »Stuxnet« infiziert werden konnten, wies auf US-Dienste als Verursacher hin, hatten sie diese Operationsform doch bereits in den 1970er Jahren angewandt. Unklar blieb, ob das deutsche Unternehmen Siemens oder ein beauftragter Wartungstechniker bzw. Dritte an der Verbreitung mitwirkten. Dass »Stuxnet« nur spezielle Siemens-Steuerungssoftware befällt, schädigte das Unternehmen, führte zugleich aber zu der Frage, wie dieses Spezialwissen in andere Hände gelangen konnte. Die Analyse von »Stuxnet« zeigte schnell den exorbitanten Aufwand für diese Cyberoperation, der außerhalb der Möglichkeiten gewöhnlicher Krimineller lag. Zwei Jahre nach Entdeckung und Analyse des Trojaners erklärten schließlich Vertreter der US-Regierung, »Stuxnet« sei zusammen mit Israel entwickelt worden, um Industriecomputer von Siemens in iranischen Urananreicherungsanlagen zu manipulieren und damit die dortige Urananreicherung zu sabotieren.82

Die Analyse ergab außerdem, dass »Stuxnet« signifikante Teile des Codes mit den Trojanern »Wiper« und »Duqu« teilt.83 Zur Steuerung dieser Trojaner wurden „verschiedene Plattformen zur Entwicklung mehrerer Cyberwaffen“ identifiziert84 und sogar eine ansonsten unbekannte Programmiersprache eingesetzt. Während »Stuxnet« Industriesysteme manipulierte, infizierten die anderen Schadprogramme über 350.000 IT-Systeme in Handel, Banken und bei privaten IT-Systemen allein im Nahen Osten.85 Offensichtlich waren also aus derselben Quelle mehrere Varianten der Schadsoftware in Umlauf gebracht worden. Zusätzlich zur »Stuxnet«-Familie tauchte 2012 eine Sabotagesoftware für Business-Datenbanken, »Narilam«, auf, die sehr spezifisch auf iranische IT-Systeme im Finanzsektor abzielte.86 Und bei Regierungspersonal in Osteuropa verbreitete sich fünf Jahre lang der Trojaner »Red October«.87 Wie schon »Stuxnet« verfügten auch die anderen Trojaner über signifikante Schadprozeduren, allerdings ohne jede für kriminelle Täter typische Erpressungsforderung – auch dies ein markantes Indiz für nachrichtendienstliche Spionage und Sabotage.

Ein Vergleich mit der Verbreitung von Schadsoftware aus anderen Quellen88 zeigt, dass mit »Stuxnet« und seinen »Verwandten« Computerattacken, die höchst wahrscheinlich bzw. teils sogar nach eigenem Bekunden von US-Diensten ausgehen, ein Ausmaß erreichten, das mindestens gleichzusetzen ist mit den Schäden durch klassische so genannte »Cyberkriminelle«.

Der hohe Aufwand, den die NSA für die Weiterentwicklung ihrer Werkzeuge zur Cyberspionage- und –sabotage trieb, war seit 2003 immer wieder Gegenstand von Presseberichten und Kongressdebatten in den USA. Die NSA beantragte zwar laufend erhebliche Mittel, konnte aber keine brauchbaren Computerspionage- und Sabotagesysteme vorweisen. So führte die NSA nach der Jahrtausendwende verschiedene Systeme zusammen, z.B. die im vorigen Abschnitt beschriebene Datenbank »Constant Web« zur Sammlung von Informationen über Angriffswege auf IT-Systeme.89 »Constant Web« ist heute eine der an das »XKeyScore«-System der NSA angebundenen Referenz-Datenbanken.90 2006 wurde eine Liste von über 500 IT-Systemen publiziert, die von der NSA und dem US-Verteidigungsministerium zur Cyberaufklärung entwickelt und eingesetzt wurden, darunter diverse zur Telekommunikationsüberwachung und mehrere Dutzend Werkzeuge für »Digital Network Intelligence« (DNI).91 Solche DNI-Systeme wurden in dieser ersten Entwicklungswelle erstellt, um Internet-Knotenpunkte unter Kontrolle der NSA zu bringen.

Der US-Kongress debattierte 2007 über Kosten von annähernd zwei Milliarden US$ für die in den Jahren 2005 bis 2007 entwickelten NSA-Systeme. Die Diskussion drehte sich insbesondere um die erfolglosen Projekte »Trailblazer« zur massiven Datensammlung und »Turbulence« zur selektiven Kontrolle von Internet-Knotenpunkten, Überwachung des Internetverkehrs und selektiven Modifikation von Datenpaketen.92 Bereits 2012 wurde die Existenz des NSA-Programms »XKeyScore« enthüllt93 – allerdings erschloss sich die Brisanz erst mit den ab Frühsommer 2013 vom Whistleblower Edward Snowden gelieferten Hintergrundinformationen.

Die Enthüllungen der NSA-Aktivitäten von 2013 zeigen also vor allem, wie die von der NSA seit den 1950er Jahren verfolgten Aufgaben an die Digitalisierung der Kommunikation angepasst wurden, und legten die jüngsten Schritte in einer Abfolge von Softwareentwicklungen der NSA offen, die der Sammlung, Analyse und Manipulation des Datenverkehrs im Internet dienen.

Geheimdienstliche Spezifika des Information Warfare

Geheimdienstliche Vorgehensweisen spielen in diesem Zusammenhang noch in anderer Hinsicht eine Rolle.

»Stuxnet« warf als erstes die Frage auf, was – oder besser: wer – einen Techniker oder ein Unternehmen wie Siemens dazu bringen könnte, sich mit einer Infektion per USB-Stick auf eine derart lebensgefährliche Aufgabe in einer iranischen Uranaufbereitungsanlage einzulassen. Ein typisches Indiz – das hier ausdrücklich nur als ein in den Medien recherchierbares Beispiel, nicht dagegen als belastbarer Beleg genannt sei – für eine sehr charakteristische Art von »Überzeugungsarbeit« sind staatliche Spionageerkenntnisse mit Drohpotential. So wurde über die das »Stuxnet«-Zielsystem entwickelnde Firma Siemens 2009 berichtet, sie sähe strafrechtlichen Ermittlungen wegen Embargohandels mit Iran entgegen. Zu einer nachvollziehbaren juristischen Aufarbeitung der Vorwürfe kam es allerdings nie. Die auf geheimdienstlichen Ermittlungen beruhenden Vorwürfe solcher Art sind unschwer als nützliche Argumente zu erkennen, die eine Zusammenarbeit auf ganz anderen Feldern motivieren können.

Ein zweiter Fall zeigt die Alltäglichkeit solcher Operationen. Wie von Edward Snowden enthüllte Dokumente zeigen, wurden für einen Angriff auf die Kontrollsysteme des belgischen Telekommunikationsanbieters BELGACOM, die vermutlich 2011 begannen, gezielt Systemadministratoren ausgespäht, um über ihre privaten Gewohnheiten Schadsoftware in BELGACOM-Rechner einzuspielen und die elektronische Kommunikation der EU-Kommission zu überwachen.94 Die Identifikation der Kunden von Pornoanbietern zur nachfolgenden Erpressung von Internetnutzern, die den »Islamisten« zugerechneten werden,95 schließlich vervollständigt dieses Bild: Erpressung gehört zum Kerngeschäft der Geheimdienste. Im Zeitalter des Information Warfare kann nicht nur die Kommunikation von Regierungsmitgliedern, sondern auch die ganz gewöhnlicher IT-Administratoren einer derartigen Ausspähung ausgesetzt sein.

Andererseits erbrachte die Analyse der Cyberangriffe auf Georgien und Estland, die von russischer Seite ausgingen, keine Erkenntnisse, dass der Verursacher eine staatliche Stelle sei. Stattdessen übernahmen dem Kreml nahestehende »Nationalisten« im Falle von Estland und »Kräfte, die über bevorstehende Militäraktionen genauestens im Bild waren«, im Falle von Georgien die Verantwortung.

Bei genauer Betrachtung lassen sich anhand die Vorgehensweisen in diesen Fällen aber konkrete Aussagen über sehr spezifische Akteure treffen: Geheimdienste haben nicht nur die Aufgabe, über bevorstehende Militäraktionen genauestens im Bilde zu sein. Sie sind es auch, die regelmäßig unter einer Tarnung – häufig auch unter Einsatz Dritter – oder als »abstreitbare Proxies« auftreten, um ihre eigene Beteiligung und die Verwicklung staatlicher Stellen zu kaschieren.

Sowohl die Ausspähung operativ nützlicher Dritter zur Erpressung wie die Einschaltung »abstreitbarer Proxies«, um den Nachweis einer Beteiligung zu erschweren, sind klassische geheimdienstliche Maßnahmen, die ihre Wirkung im Information Warfare deshalb voll entfalten können, weil im Internet die Zuordnung von Angriffen zu spezifischen Angreifern schwierig ist und durch die Nutzung von Dritten weiter erschwert werden kann.

»Hybride Kriegsführung«

Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum Information Warfare schon einige Zeit vor dem NSA-Skandal mehr und mehr mit geheimdienstlichen Aktivitäten vermischt oder sogar fälschlicherweise darauf reduziert wurde.

In der öffentlichen Debatte des Jahres 2009 ging es noch darum, dass die USA noch mehr Aufträge für Cyberangriffswaffen vergeben wollten,96 dass Präsident Obama schon 2008 geheime »Presidential Orders« zum konkreten Vorgehen bei Cyberangriffen unterzeichnet habe97 und dass Obama für defensive und offensive Cybersicherheit einen Direktorenposten im Weißen Haus schaffen wolle.98 In der Folge wurde die politische Debatte um »Cyber Warfare« – die in der operativen militärischen Terminologie gar nicht übliche Umschreibung von »Computer Network Operations« bzw. »Computer Network Attack« – jedoch immer stärker auf ein Synonym für Spionage und Sabotage durch »Cyberkriminelle« und östliche Nachrichtendienste verkürzt. Einer der Anlässe dafür war ausgerechnet die Übergabe des Kommandos über das »U.S. Cyber Command« an den NSA-Direktor, General Keith Alexander, was die militärisch-geheimdienstliche Doppelfunktion der NSA für Cyberoperationen festige. US-Verteidigungsminister Leon Panetta und Präsident Obama beschworen die Notwendigkeit, eigene Systeme zu schützen, blieben aber vage darüber, dass sie gleichzeitig auch in die Offensive gehen wollten.99

Nachgerade zynisch wird diese Wendung, wenn einerseits die Geheimdienste – anders als das Militär – nicht offen operieren, sondern sich »abstreitbarer Proxies« und anderer Verschleierungsmittel bedienen, und diese verschleierte Bedrohungslage gleichzeitig vom Nationalen Sicherheitsrat der USA als Begründung genutzt wurde, nicht-zivile Akteure zu mobilisieren und »Cyberabschreckung« als Ziel zu fordern:

„Bis heute ist die U.S.-Regierung dem Cybersicherheitsproblem mit traditionellen Herangehensweisen begegnet – und diese Maßnahmen haben keinesfalls das erforderliche Maß an Sicherheit erzeugt. Diese Initiative zielt darauf ab, einen Ansatz für eine Cyber-Verteidigungsstrategie zu entwickeln, die Eingriffe in und Angriffe auf den Cyberspace abschreckt, und zwar durch verbesserte Fähigkeiten zur Frühwarnung, die Definition von Rollen für den privaten Sektor und internationale Partner sowie die Entwicklung angemessener Antworten gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.“ 100

Diese Argumente waren das Ergebnis intensiver Debatten in den sicherheitspolitischen Beraterkreisen zu Beginn der Amtszeit von US-Präsident Obama. Dabei wurden die üblichen IT-Schutzdefizite abgewogen gegen die möglichen Konsequenzen aus den Vorfällen in Estland und Georgien und die in Entwicklung befindlichen technischen Potentiale. In der öffentlichen Debatte um den »Cyberspace Policy Review«101 von 2009 und um die von Obama als Leitlinie veröffentlichte, vor allem mit defensiven Themen argumentierende »Comprehensive National Cybersecurity Initiative«102 drang die wesentliche Schlussfolgerung der Berater nach außen: Internetattacken – insbesondere solche von staatlicher Seite – seien eine neue Form der »hybriden Kriegsführung«: Es handle sich bei diesen Internetattacken um einen Warnschuss, einen Enthauptungsschlag gegen ein gegnerisches Kommandosystem oder um die Vorbereitung für einen konventionellen Angriff.103

Information Warfare als hybride Kriegsführung war eine Idee. Allerdings richtete sie sich nicht gegen die USA, sondern wurde zu einem Markenzeichen der Präsidentschaft Obamas.

US-Präsident George W. Bush war am Ende seiner Amtszeit bei der Bekämpfung von al Kaida und Osama bin Laden wieder an derselben Stelle angelangt, wie vor ihm bereits Bill Clinton Ende der 1990er Jahre: Militärs und Geheimdienste suchten einen Flüchtigen, um ihn mit einem Präzisionsschlag zu beseitigen. Als der Versuch der USA, mit militärischen Methoden des Information Warfare im Irak und Afghanistan für eine dauerhafte Lösung und Befriedung zu sorgen, zunehmend scheiterte und stattdessen immer neue Aufständische produzierte, nahm die Bedeutung der Geheimdienste, ihrer Aufklärung und klandestiner Aktionen – Spionage und Sabotage – wieder zu. Präsident Obama suchte seine Chance zur Beendigung der Kriege in der Stärkung dieser klandestinen Aktionen.

Das für die Öffentlichkeit sichtbarste Ergebnis dieser Politik sind die Drohnenangriffe der USA in Afrika, im Irak und in Afghanistan und in den angrenzenden Gebieten Pakistans. Unsichtbar bleibt die Bedeutung der Cyberspionage und der Cyberangriffe, die die Aufklärungsdaten für die Drohnenangriffe liefern. Obama etablierte als erster Präsident der USA einen Direktor für Cybersicherheit im Weißen Haus und – man sollte die erklärten politischen Ziele wirklich nicht ignorieren! – stärkte die Spionagetätigkeit der NSA im Kampf gegen den Terrorismus, also gegen weltweit klandestin operierende Gruppen. Unerwartete Nebeneffekte dieses Ausbaus sind die hohe Leistungfähigkeit der entwickelten »Cyber Network«-Werkzeuge und die damit einhergehenden Möglichkeiten.

Die von Edward Snowden mit Hilfe einiger Presseorgane der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumente zeigen auf, wohin das führt. Snowdens Enthüllungen führen aber auch zu der Erkenntnis, dass Präsident Obama wohl kaum einer Einschränkung der NSA zustimmen wird, da die Cyberoperationen der NSA für ihn eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Lösung der militär- und sicherheitspolitischen Probleme im Irak und in Afghanistan darstellen, die zu lösen er angetreten ist.

Cyberwar unter Freunden: NSA-Skandal, Datenschutz und IT-Sicherheit

Aus den von Edward Snowden zugänglich gemachten Dokumenten ergaben sich zumindest für die Fachwelt keine prinzipiell neuen Erkenntnisse, sie geben aber außergewöhnlich tiefe Einblicke in Operationen und Hintergründe für politische Entscheidungen. Es ist genau diese Tiefe, die den bisher nur schwer begründbaren und daher vagen Bewertungen eine neue Schärfe gibt und die die Fachdebatte auf eine allgemeine politische Ebene hob.

Den seit Mai 2013 andauernden Enthüllungen zufolge verfügt die NSA über Werkzeuge und Zugänge für die Erhebung und Speicherung von Kommunikationsmetadaten. Metadaten – also Daten über Kommunikationspartner und ggf. deren Aufenthaltsort – sind ein wesentlicher Bestandteil des weltweiten Kommunikationsverkehrs und erlauben dessen sofortige Auswertung in Bezug auf spezifische Personen, spezifische Inhalte oder vage Muster. Aus Metadaten ergeben sich aber auch elaborierte Analysemöglichkeiten für die Suche nach Kommunikationsmustern, -bezügen und -gruppen.104 Dabei ist die Personen- und Inhaltssuche eine Form der Telekommunikationsüberwachung, die von den verschiedenen Geheimdiensten weltweit mit mehr oder weniger ausgefeilter Technik durchgeführt wird, z.B. mit hoch entwickelten Systemen wie »PRISM« der NSA und »Tempora« des GCHQ.

Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass die lückenlose Überwachung und Sammlung der Internetkommunikation keine Spezialität von NSA und GCHQ ist. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bereitet sich momentan auf die Totalüberwachung der Kommunikation bei den Olympischen Spielen in Sotschi vor.105 In Frankreich überwacht die »Direction Générale de la Sécurité Extérieure« systematisch und ohne richterliche Kontrolle die Verbindungsdaten von Telefongesprächen, SMS und E-Mails, die über französische Leitungen gehen.106 Die Schweiz plante 2011 ein ähnliches System107, das australische Parlament beriet darüber 2012108 – und dies sind nur jüngere Beispiele aus größeren Staaten.

Die NSA aber operiert mit weitergehenden Such- und Aggregationsmöglichkeiten inzwischen in einer anderen Liga. Zu den Kernelementen dieser Art der Überwachung gehört das System »XkeyScore«,109 das weltweit in 150 Einrichtungen auf über 700 Servern läuft. »XkeyScore« erlaubt es, den Daten- und Kommunikationsverkehr im Internet, die GPRS-Kommunikation in Mobilfunknetzen und die WLAN-Kommunikation in Echtzeit nach Zielen zu durchsuchen. Mit Hilfe von »Data Mining« lassen sich die Kommunikationsdaten mehrerer Tage dann nach verdächtigen Aktivitäten absuchen. So können z.B. sämtliche verschlüsselten Kommunikationsverbindungen in einer bestimmten Region oder die Suche bei Google mit »verdächtigen« Schlüsselworten herausgefiltert werden. Allerdings gerät dabei die »Treffermenge« oftmals zu groß. Um die Suche zu verfeinern, werden von der NSA die Ergebnisse solcher Analysen zusammen mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus anderen Quellen in einem weiteren Data-Mining-System, »Boundless Informant«, analysiert.110

Die NSA-Systeme heben sich in einer weiteren Hinsicht von anderen Systemen ab: »XKeyScore« sammelt und analysiert nicht nur Kommunikationsinhalte, sondern erhebt für die beobachteten IT-Systeme zusätzlich deren Typ und sicherheitsspezifische Details. Aus Referenzdatenbanken, wie etwa der seit den 1990er Jahren genutzten »Constant Web«-Datenbank, werden Schwachstellen abgerufen, die für die Zielsysteme bekannt sind; sodann werden die Zielsysteme automatisiert auf diese Schwachstellen abgesucht. Je nach Auftrag versucht »XKeyScore«, die Zielsysteme mit Schadsoftware zu infizieren.111 »XKeyScore« ist demzufolge nicht nur ein Spionage- sondern zugleich ein Angriffssystem, das, wie die bekannt gewordenen Präsentationen und die Nutzung auch durch deutsche Dienste zeigen, für den »Alltagsgebrauch« der Internetspionage und -sabotage gedacht ist.

Für weitergehende Werkzeuge in komplizierten Fällen ist, so die durch Snowden bekannt gewordenen Dokumente, das »Office for Tailored Access Operations« (TAO) bestimmt. Dessen Aufgaben sind „neben der Aufklärung auch Attacken in Computernetzen als integrierter Teil militärischer Operationen“, so eine frühere Leiterin des TAO in NSA-Dokumenten.112 Diese Terminologie des US-Verteidigungsministeriums für Information-Warfare-Operationen113 lässt keinen Zweifel daran, dass sich die NSA als Teil militärischer Aktivitäten sieht.

Neben Schadsoftware hat das TAO ausgeklügelte Technik zur Infektion von Zielrechnern entwickelt. Bei dem »Quantum Insert« genannten Verfahren werden aus der Beobachtung einer Zieladresse wiederkehrende Muster isoliert. Die Absicht ist, sich den Aufruf besonders oft besuchter und technisch passender Webseiten zunutze zu machen und Schadcode in die Kommunikation zwischen dieser Webseite und dem Ziel einzufügen. Die Erfolgsquote solcher Angriffe liegt laut NSA bei bis zu 80%.114 Allein 2013 wandte die NSA für ein Programm zur Schadsoftware-Verbreitung 652 Mio. US$ auf.115

Wo all diese Mittel nicht helfen, werden heute wie schon in den 1970er Jahren im Rahmen so genannter »off-net operations« Agenten oder militärische Spezialeinheiten beauftragt, nach einem Einbruch vor Ort Schadsoftware zu installieren.116 Notwendig ist dies, wenn bei den Zielsystemen effektive Schutzmechanismen eingesetzt werden oder sie nicht mit dem Internet verbunden sind. Für solche Fälle lassen sich Monitorkabel gegen speziell präparierte Modelle tauschen oder manipulierte USB-Adapter für Tastaturen einsetzen, die dank verstärkter »TEMPEST«-Abstrahlung von außen lesbar sind.117 Sieht man von Computerexoten in absolut isolierten Anlagen ab, dürfte der IT-Sicherheitsexperte Bruce Schneier mit seiner Schlussfolgerung recht haben, dass die NSA in jeden Computer eindringen kann, in den sie eindringen will.118

Die einzige Art Computerkommunikation, in die NSA und GCHQ nicht eindringen können, ist verschlüsselte Kommunikation. Die seit Dekaden genutzte Verschlüsselung militärischer und staatlicher Kommunikation, aber auch zunehmend die Verschlüsselung von VPN-Verbindungen oder die SSL-Verschlüsselung etwa beim Online-Banking, behindert die Arbeit.

Daher hat die NSA nach ihrer Niederlage bei der Kontrolle von Kryptosystemen Ende der 1990er Jahre erhebliche Mittel in die Entwicklung von Entschlüsselungstechniken investiert. Allein 2013 wandte die NSA zehn Mrd.US$ auf für das »Consolidated Cryptologic Program« mit „bahnbrechenden kryptoanalytischen Fähigkeiten […], um den Internetverkehr auszuwerten“.119 Zur Vereinfachung ihrer Arbeit nutzt die NSA die ihr zur Verfügung stehenden technischen, rechtlichen und nachrichtendienstlichen Möglichkeiten, um Hintertüren in Produkte einzubauen. Der »Flame«-Trojaner konnte sich unbemerkt verbreiten, weil Microsoft-Zertifikate verwendet wurden, die – so Microsoft – wegen „älterer Kryptographie-Algorithmen“ auch von Unbefugten erzeugt werden konnten.120 Die IT-Sicherheitsfirma RSA wiederum warnt heute vor ihrem eigenen Softwareentwicklungswerkzeug »BSafe«, das von der NSA gelieferte, unsichere Bausteine enthält.121

dossier74_InfoWar_IT-Unsicherheit

Abbildung 2: Der IT-Unsicherheitszyklus

Die Hintertüren in kritischen Sicherheitssystemen und die systematische Kompromittierung geschützter Kommunikation sind das Ergebnis dessen, was von kritischen IT-Experten seit Jahren als „IT-Unsicherheitszyklus“ bezeichnet wird:122 Die für die Manipulation zwingend notwendigen Sicherheitslücken in den Computersystemen potenzieller Gegner erzeugen einen Kreislauf der IT-Unsicherheit, bei dem IT-Sicherheitslücken den Information Warfare ermöglichen, dessen Bekämpfung wiederum militärische Mitteln erfordert. Schwachstellen dieser Art sind nicht nur schwer aufzufinden, sondern kompromittieren insbesondere die Schutzmechanismen weiterer Systeme, in die sie als Sicherheitsbausteine eingebaut sind, und haben damit weitreichende Folgen. Der Einbau solcher Hintertüren für Information-Warfare-Attacken schlägt also zwar auf die zurück, die sie eingebaut oder zugelassen haben, rechtfertigt aber seinerseits ihre Existenz.

Mit solchen technischen und nichttechnischen Methoden ist es der NSA eigenen Aussagen zufolge in den letzten Jahren gelungen, bahnbrechende Erfolge bei der Entschlüsselung verschlüsselter Kommunikationsinhalte zu erzielen, selbst solcher Inhalte, die schon vor längerer Zeit gespeichert wurden. Dies ist – mit kleinen Einschränkungen, die im Folgenden betrachtet werden – als klares Indiz dafür zu werten, dass es der NSA gelungen sein dürfte, Kryptierverfahren zu knacken.

Unbegrenzter Cyberkrieg gegen Freund und Feind

Die unbegrenzten Möglichkeiten von NSA und GCHQ, auf Kommunikationswege und Computersysteme zuzugreifen und Schadsoftware zu verbreiten, machen in Kombination mit starken Fähigkeiten zur Entschlüsselung deutlich, dass diese Dienste technisch keine Grenzen für ihre Arbeit akzeptieren. Sie verfügten zudem allein im Jahr 2013 über insgesamt mindestens zwölf Mrd. US$ für die Datensammlung und -analyse sowie zum Brechen von Codes und Sicherheitsvorkehrungen. Auch hier erübrigt sich jeder Vergleich mit privaten Hackern oder Kriminellen. NSA und GCHQ sind unstrittig die weltweit wichtigsten Hackerorganisationen mit Zugangswegen, die alles andere auf diesem Gebiet in den Schatten stellen.

Mittlerweile wurde bekannt, dass NSA und GCHQ Regierungsmitglieder wie die deutsche Bundeskanzlerin, die Staats- und Regierungschefs aller G10-Staaten und diverser BRICS-Staaten, die Europäische Union und die Vereinten Nationen sowie zahllose Zivilpersonen ausspähen. Auch vor den engsten Freunden in Großbritannien macht die NSA nicht Halt. Trotz eines von den USA mit den Briten schon in den 1940er Jahren abgeschlossenen »No Spy«-Abkommens hält die NSA auch die Bespitzelung britischer Staatsbürger in deren Land für rechtens.123

Die NSA späht ferner auch Militärs aus, selbst die verbündeter Staaten. Dies ist zumindest der Kenntnisstand deutscher IT-Sicherheitseinrichtungen. So beantwortet das CERT der Bundeswehr die Frage „Wer bedroht uns eigentlich?“ schon seit einigen Jahren nicht mehr nur mit den üblichen Hinweis auf Hacker, sondern auch mit dem Verweis auf „Traditionelle Geheimdienste (Freund und Feind)“.124

Eigenen Aussagen zufolge befindet sich die NSA mitten im Information Warfare und zwar in einer Angreiferrolle. Die Ziele von NSA und GCHQ machen klar, dass die Gegner in diesem Krieg Freund und Feind sind, Militärs ebenso wie Regierungsmitglieder oder Privatpersonen. Die bekannt gewordenen Fakten erlauben nur einen Schluss: Insbesondere die NSA befindet sich im unbegrenzten Cyberkrieg gegen Freund und Feind.

Lösungsansätze – international und zivilgesellschaftlich

Die Stärkung der NSA für die Spionage gegen Terrorgruppen seit Beginn der Obama-Präsidentschaft 2009 hat zu einer deutlichen Ausweitung der Kompetenzen der NSA im militärischen Bereich wie gegenüber dem zivilen Sektor geführt. Der permanente Kriegszustand im Kampf gegen den Terror, verbunden mit der flächendeckenden Überwachung der Zivilbevölkerung – leicht erkennbar an nicht vorhandener Verschlüsselung –, hat sicher allerlei »Nützliches« erbracht, aber so gut wie nichts zur Beendigung der Konflikte oder zur Verhinderung von Attentaten beigetragen, um die es eigentlich ging.125

Die NSA-Enthüllungen wurden bisher vor allem aus der Perspektive des Datenschutzes bewertet: Es ist auch in einem »Informationskriegszustand« nicht hinnehmbar, dass die Privatsphäre dem Belieben von Geheimdiensten anheim fällt. Der Datenschutz hat aber weder die Ressourcen noch die Befugnis zur Spionageabwehr. Die Datenschutzperspektive ist daher gleichermaßen richtig wie unvollständig, da es in diesem uneingeschränkten Cyberkrieg gegen Freund und Feind um eine umfassende Kompromittierung der IT-Sicherheit geht. NSA-Direktor Alexander hat mit seiner Aussage (siehe Zitat auf S.1) Recht: Es ist für eine funktionierende Hochtechnologienation weder unter rechtlichen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Option, die Daten von Unternehmen oder staatlichen Organisationen und das Funktionieren aller Arten von IT-Systemen dem Belieben unbekannter staatlicher Stellen preiszugeben und vor den Cyberkriegern bedingungslos zu kapitulieren.

Dies wäre der richtige Anlass, die Reaktionen auf solche Cyberkriege zu debattieren, Maßnahmen zum Schutz und zur »Rüstungskontrolle« zu entwickeln und auf technischer Seite an der Wiederherstellung von Mechanismen für Sicherheit und Schutz im Internet zu arbeiten. Bereits 1994 wurde von zivilen Experten für das »Büro für Technikfolgenabschätzung« des Deutschen Bundestages ein Gutachten erstellt126 und in der Folge diskutiert127 und mit weiteren Vorschlägen angereichert.128 Eine der zentralen Forderungen war vor allem, die Ahndung von Vorfällen zivilen Stellen vorzubehalten.

Immerhin wurde 2001 das »Übereinkommen über Computerkriminalität« des EU-Rates zur schnellen internationalen Kooperation bei IT-Sicherheitsvorfällen beschlossen und von einer großen Zahl von Staaten ratifiziert. Allerdings nimmt diese Konvention jegliche Zusammenarbeit genau dann aus, wenn die jeweiligen Geheimdienste beteiligt sind oder die nationale Sicherheit betroffen ist.129

Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen legt Russland seit 1998 jedes Jahr einen Vorschlag für einen bindenden Cybersicherheit-Vertrag zum Verbot von Informationswaffen vor,130 fand dafür bislang aber kein Gehör. Im Dezember 2009 meldeten die Medien, die USA führten Verhandlungen mit Russland, um eine „Verbesserung der Internetsicherheit und eine Begrenzung der militärischen Nutzung des Internets“ zu erreichen.131 2011 trafen sich erstmals russische und US-amerikanische Fachleute, um Fragen der Rüstungskontrolle im Cyberspace zu erörtern.132 Größte Besorgnis der Beteiligten war, dass sich bisher kein Schadcode eingrenzen ließ. Selbst der erkennbar gegen eine weite Verbreitung abgesicherte »Stuxnet«-Trojaner wurde entdeckt, weil er sich unkontrolliert ausgebreitet hatte.

Wie die Erfahrung zeigt, ist bei IT-Sicherheitsvorfällen der Urheber oft schwer auszumachen, egal, ob es sich um staatliche Akteure oder um beauftragte Dritte handelt. Vor diesem Hintergrund wurde aufseiten der NATO mit dem so genannten »Tallinn-Handbuch« der Versuch unternommen, bestehende internationale Vereinbarungen auf Cyberkonflikte anzuwenden133 und konkrete Ansätze für den Umgang mit Cyber-Warfare-Aktionen zu finden. Das Handbuch geht von Vorkommnissen zwischen Spionage und militärischer Reaktion aus, und es geht über klassisches Kriegsrecht hinaus.

Danach sind die von den USA ausgehenden Spionage- und Sabotageangriffe, selbst wenn sie unabhängig von staatlichen Stellen orchestriert würden, bereits dann als Bruch internationalen Rechts zu werten, wenn sie Schaden anrichten und nicht von Strafverfolgern unterbunden werden. Noch eindeutiger ist die Lage, wenn die Angriffe von staatlichen Stellen wie der NSA oder dem GCHQ selbst verübt werden.134 Die von der NATO beauftragten Experten halten es für gerechtfertigt, wenn solcherart angegriffene Staaten gleichwertige Gegenmaßnahmen ergreifen.135 Sollten Cyberangriffe sogar die Auswirkung von Militärschlägen erreichen, sind aus Sicht der Experten auch militärische Reaktionen zulässig.136 Eine militärische Reaktion auf den Information Warfare der NSA durch Verbündete steht zwar nicht an, jedoch könnte die Schwere der Vorfälle das Interesse an internationalen Lösungen steigern.

Ende 2013 wurden auf Betrieben der britischen und französischen Seite die Regeln des Wassenaar-Abkommens zum Export von Dual-use-Gütern verschärft, um auch den Export von Überwachungssoftware einzuschränken.137 Zwar gab es vorher schon Einschränkungen für Software zur Überwachung des IP-Verkehrs und die Verschärfung war vor allem eine Reaktion auf die Exporte in den arabischen Raum und ist außerdem ausgesprochen unscharf formuliert, doch ist dies bei allen Einschränkungen138 immerhin als ein Schritt gegen die weitere Proliferation von Überwachungstechnologie zu sehen.

Zwischenstaatliche Regelungen sind eine für die vertrauensvolle Zusammenarbeit unverzichtbare Ebene. Die Beteiligung von Geheimdiensten an Information Warfare führt aber zu dem berechtigten Einwand, dass es keinerlei internationale Abkommen zur Begrenzung oder gar »Abrüstung« geheimdienstlicher Arbeit gibt. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die ungleich verteilten Ressourcen für Information Warfare einer solchen Kooperation geopfert werden könnten. Würden diese Ausnahmen für Militärs und Geheimdienste in der internationalen Kooperation jedoch beseitigt, ließe sich durchaus eine supranationale Einrichtung vorstellen, vergleichbar der »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« und mit eigenen Möglichkeiten zur Analyse und Kontrolle.

Parallel zu solchen Überlegungen gibt es aussichtsreichere Ansätze für unabhängige, staatsferne Einrichtungen. IT-Sicherheitsunternehmen, Privatpersonen oder Vereine, wie etwa der Chaos Computer Club, haben oft schneller als andere Daten, Analysen und Informationen zu Schadsoftware aufgearbeitet. Sie haben bisher auch keinerlei Rücksicht auf die Interessen der in die Nutzung der Schadsoftware verwickelten staatlichen Stellen genommen. Diese Instanzen sind außerdem wichtig genug, um von staatlicher Seite allenfalls begrenzt unter Druck zu geraten. Eine weit stärkere Kooperation solcher Akteure mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen, wie dem »Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.«, und zivilen CERTs wäre eine unabdingbare Voraussetzung für die unabhängige Kontrolle von Information-Warfare-Aktivitäten der Geheimdienste.

Nötig ist daher eine zivilgesellschaftliche und sicherheitspolitische Debatte. Wenn dafür von Regierungsseite keine Hilfe kommt, steht es Verbänden und Unternehmen, der Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Gruppen frei, sich gegen Information Warfare auf der eigenen IT-Infrastruktur zu organisieren. IT-Experten sind in der Lage, anstehende Probleme zu erkennen und Lösungen auszuarbeiten. Zusammen mit anderen sollte es ihre Aufgabe sein, technische und politische Lösungen zu entwickeln, um den Schutz der Privatsphäre und die Sicherheit von IT-Systemen wiederherzustellen.

Anmerkungen

Übersetzung der Zitate so nicht anders angegeben durch die AutorInnen.

1)Center for Strategic and International Studies (CSIS): U.S. Cybersecurity Policy and the Role of U.S. Cybercom. Transcript einer Veranstaltung der »CSIS Cybersecurity Policy Debate Series« mit General Keith Alexander, Washington, 3.6.2010, S.5. http://www.nsa.gov/public_info/_files/speeches_testimonies/100603_alexander_transcript.pdf

2) So die Historie von Bletchley Park zum Zweiten Weltkrieg; bletchleypark.org.uk. http://www.bletchleypark.org.uk/content/hist/worldwartwo/captridley.rhtm

3) Alan Turing (1937): On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society. 1937, S.230–265. http://plms.oxfordjournals.org/content/s2-42/1/230

4) GCHQ History: Bletchley Park – Post World War; www.gchq.gov.uk. http://www.gchq.gov.uk/history/Pages/Bletchley-Park—Post-War.aspx

5) George F. Howe: The Early History of NSA. Declassified for Public Release 2007; nsa.gov/public_info/_files/cryptologic_spectrum/early_history_nsa.pdf. http://www.nsa.gov/public_info/_files/cryptologic_spectrum/early_history_nsa.pdf

6) Günther W. Gellermann (1991): …und lauschten für Hitler. Bonn.

7) Siehe z.B. J.K. Petersen (2012): Handbook of Surveillance Technologies. 3rd edition, CRC Press, S.139.

8) Josef Forschepoth (2012): Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen.

9) NSA: TEMPEST – A Signal Problem. Publikation aus den 1950er Jahren; declassified 2007. http://www.nsa.gov/public_info/_files/cryptologic_spectrum/tempest.pdf;

10) Diese Abhöraktion wurde als »Operation ENGULF« bekannt; nach: Peter Wright und Paul Greengrass (1989): Spy Catcher. Enthüllungen aus dem Secret Service. Frankfurt, S.90ff.

11) »Operation RAFTER«; nach: Wright und Greengrass, a.a.O., S.99ff

12) »Operation STOCKADE«; nach: Wright und Greengrass, a.a.O., S.116ff.

13) Das U.S. Cyber Command wurde 2010 gegründet und gehört zum U.S. Strategic Command. Siehe: Mission Statement des U.S. Cyber Command; stratcom.mil. http://www.stratcom.mil/factsheets/Cyber_Command/;

14) James Bamford (1982): The Puzzle Palace. Inside the National Security Agency – America’s Most Secret Intelligence Organization. Harmondsworth, S.346ff.

15) Bamford, a.a.O., S.220ff.

16) Bamford, a.a.O., S.239. Sowjetische Jäger schossen im Juni 1952 aber auch schwedische Signalaufklärer über der Ostsee ab; vgl. den Bericht in der ASN Aviation Safety Database unter aviation-safety.net http://www.signal spaning.se/tp79001/0222-systemrapport-DC3.pdf und die Zusammenfassung »Catalina-Affäre« auf Wikipedia. http://aviation-safety.net/database/record.php?id=19520613-0 | http://en.wikipedia.org/wiki/Catalina_affair

17) Bamford, a.a.O., S.232ff. Ähnlich der »U.S.S. Liberty« wurde 2006 auch das im Mittelmeer zur Unterstützung eines UN-Einsatzes operierende deutsche Aufklärungsboot »Alster« von israelischen Kampfflugzeugen beschossen; vgl. »Zwischenfall mit deutscher Marine«. Spiegel Online, 28.10.2006. 2012 wurde die »Alster« dann von der syrischen Marine ins Visier genommen: »Syrische Marine bedrohte deutsches Spionageschiff«“. Stern, 15.01.2012. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/zwischenfall-mit-deutscher-marine-opposition-verlangt-freigabe-des-video-beweises-gegen-israel-a-445206.html | http://www.stern.de/politik/ausland/zwischenfall-im-mittelmeer-syrische-marine-bedrohte-deutsches-spionageschiff-1773955.html

18) Siehe »Heinan Island incident« in der englischen Ausgabe von Wikipedia. http://en.wikipedia.org/wiki/Hainan_Island_incident

19) Wie etwa 2011 beim Abschuss einer U. S.-Drohne über dem Iran; siehe »Iran–U.S. RQ-170 incident« in der englischen Ausgabe von Wikipedia. http://en.wikipedia.org/wiki/Iran%E2%80%93U.S._RQ-170_incident

20) NSA: TEMPEST – A Signal Problem, a.a.O.

21) Vgl. Jim McNair: Soviets Now Getting Computers Capitalist Way-buying Them. Chicago Tribune, 1.7.1990. http://articles.chicagotribune.com/1990-07-01/business/9002220886_1_soviet-computer-seymour-goodman-soviet-union

22) U.S. Senate Select Committee on Intelligence (1986): Meeting the Espionage Challenge. A Review of United States Counterintelligence and Security Programs. Washington, S.36f; intelligence.senate.gov. http://www.intelligence.senate.gov/pdfs99th/99522.pdf

23) IBM stimmte 1998 einer Strafzahlung von 8,5 Mio. Dollar zu wegen der Lieferung von 17 Computer an ein russisches Atomwaffenlabor. Siehe Computer Zeitung Nr. 32, 6.8.1998, S.4.

24) Die Untersuchung endete, als Koch 1989 erhängt in einem Wald nahe Hannover aufgefunden wurde; vgl. Susanne Nolte (2009): Sündenfall – Zum 20. Todestag von Karl Koch. http://www.heise.de/ix/artikel/Suendenfall-794636.html

25) „Bis zu den Verhaftungen wegen Spionage und der Enthüllung technischer Sicherheitslücken im Jahr 1985 hatten die Menschen und die meisten Regierungsmitglieder der USA den Umfang und die Intensität der Bedrohung durch feindliche Spionage nicht wirklich verstanden.“ U.S. Senate Select Committee on Intelligence, a.a.O., S.37

26) U.S. Senate Select Committee on Intelligence, a.a.O., S.84f

27) Jay Peterzell: Spying and Sabotage by Computer. Time, 203.1989, S.41.

28) Jay Peterzell, a.a.O.

29) Ein Kurzbericht dazu ist archiviert unter securitydigest.org. http://securitydigest.org/virus/mirror/www.phreak.org-virus_l/1990/vlnl03.091

30) James Bamford, a.a.O., S.475f.

31) Richard Ellis (1982): Strategic Connectivity. In: Seminar on Command, Control, Communications and Intelligence, Cambridge, S.1-10, hier S.4.

32) Department of the Army (1982): The AirLand Battle and Corps. TRADOC Pamphlet 525-5. In: Militärpolitik Dokumentation, Heft 34/35, S.13-40.

33) Datenbrillen wie »Google Glass« gehen zurück auf Konzeptstudien und Prototypen aus Großbritannien für »Future Warriors« (1984) und die »Force XXI« der U.S. Army (1994); diese sahen Anwendungen zur »Erweiterung der Realität« (Augmented Reality) für sensorbestückte und mit Computern ausgerüstete Soldaten vor.

34) T. P. Rona: Weapon Systems and Information War. Boeing Aerospace Co., Seattle, July 1976.

35) J.S. Nye, Jr. und; W.A. Owens: America’s Information Edge. Foreign Affairs, March/April 1996, S.20-36.

36) Information Dominance Edges Toward New Conflict Frontier. Signal, August 1994, S.37-40.

37) U.S. Department of the Army: Field Manual 100-6. Information Operations. Washington, 27. August 1996. http://fas.org/irp/doddir/army/fm100-6/index.html

38) Vice Chairman of the Joint Chiefs of Staff: Memorandum – Joint Terminology for Cyberspace Operations. Washington, Nov. 2010, S.2.

39) U.S. Department of Defense: Field Manual 3-13. Inform and Influence Activities Jan. 2013, S.2-2.

40) U.S. Department of Defense:Field Manual 3-36. Electronic Warfare. Nov. 2012, S.1-11.

41) Mehr dazu in: Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems – Informationstechnik für Führung und Kontrolle. Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 24, Februar 1997.

42) Evan Thomas und John Barry: A Plan Under Attack. Newsweek, 7.4.2003, S.25-37, hier S.30.

43) Evan Thomas und Daniel Klaidman: The War Room. Newsweek, 31.3.2003, S.24-29, hier S.28.

44) Mark Thompson: Opening With a Bang. Time, 17.3.2003, S.30-33, hier S.30f.

45) Evan Thomas und John Barry. a.a.O.. Markus Günther: Unser Angriff hat keine Dynamik mehr. General-Anzeiger, 28.3.2003, S.3. Kurt Kister: Schlacht an vielen Fronten. Süddeutsche Zeitung, 29.3.2003, S.5.

46) Evan Thomas und Martha Brant: The Secret War. Newsweek, 21.4.2003, S.22-29, hier S.28f.

47) David A. Fulghum und Robert Wall: Baghdad Confidential. Aviation Week & Space Technology, 28.4.2003, S.32-33, hier S.32.

48) Evan Thomas und John Barry, a.a.O., hier S.32.

49) EW Expands into Information Warfare. Aviation Week & Space Technology, 10.10.1994, S.47-48.

50) JEWC Takes on New Name to Fit Expanded Duties. Aviation Week & Space Technology, 10.10.1994, S.54-55.

51) Information Dominance Edges Toward New Conflict Frontier. a.a.O., S.38ff.

52) Matthew M. Aid: Inside the NSA’s Ultra-Secret China Hacking Group. Foreign Policy, 10.6.2013. http://www.foreignpolicy.com/articles/2013/06/10/inside_the_nsa_s_ultra_secret_china_hacking_group?page=0,1
Siehe auch: Jacob Appelbaum, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Holger Stark, Christian Stöcker: Die Klempner aus San Antonio. Der Spiegel Nr. 1/2014, S.100-105. a

53) Matthew M. Aid (2009): The Secret Sentry. The Untold History of the National Security Agency. New York, Berlin, London. Siehe dazu Alex Kingsbury: The Secret History of the National Security Agency. U.S. News, 19.06.2009. http://www.usnews.com/opinion/articles/2009/06/19/the-secret-history-of-the-national-security-agency_print.html

54) Erich Schmidt-Eenboom (1963): Der BND – Schnüffler ohne Nase. Düsseldorf, S.221.

55) Mike Witt: Tactical Communications. Military Technolgy, Nr. 5/1991, S.19-25, hier S.22.

56) Vgl. die detaillierte Aufarbeitung in: Ingo Ruhmann und Christiane Schulzki-Haddouti: Kryptodebatten. Der Kampf um die Informationshoheit. In: Christiane Schulzki-Haddouti (Hrsg.) (2003): Bürgerrechte im Netz. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S.162-177.

57) Ralf Klischewski und Ingo Ruhmann: Ansatzpunkte zur Entwicklung von Methoden für die Analyse und Bewertung militärisch relevanter Forschung und Entwicklung im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie. Gutachten für das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages, Bonn, März 1995.

58) Ingo Ruhmann, Ute Bernhardt, Dagmar Boedicker, Franz Werner Hülsmann, Thilo Weichert: An Appraisal of Technological Instruments for Political Control and to Improve Participation in the Information Society. Study for the Scientific and Technological Options Assessment Programme of the European Parliament. Luxembourg, Januar 1996, PE: 165.715.

59) European Parliament (2001): Report on the existence of a global system for the interception of private and commercial communications (ECHELON interception system) (2001/2098(INI)). http://www.europarl.europa.eu/comparl/tempcom/echelon/pdf/rapport_echelon_en.pdf

60) Invocation of Article 5 confirmed. NATO Press release, 2.10.2001. http://www.nato.int/docu/update/2001/1001/e1002a.htm

61) Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks upon the United States – The 9/11 Commission Report. New York, 2004. http://www.9-11commission.gov/report/911Report.pdf

62) Besonders prägnant ist der Konflikt zwischen den beiden für die Verfolgung Verantwortlichen bei der CIA (Michael Scheuer) und dem FBI (John O’Neill); Letzerer kam im World Trade Center um. Vgl. Michael Scheuer (20014): Imperial Hubris. Dulles. Deutlich auch: Michael Scheuer: Bill and Dick, Osama and Sandy. Washington Times, 4.07.2006. http://www.washingtontimes.com/news/2006/jul/4/20060704-110004-4280r/
O’Neill und Scheuer beendeten unabhängig voneinander vor dem 11. September 2001 ihre Arbeit bei den jeweiligen Ermittlungsgruppen wegen Konflikten mit ihren Vorgesetzten.

63) M.S: Vassiliou (2010): The Evolution towards Decentralized C2. Institute for Defense Analyses, S.9f.

64) http://www.companycommand.com/ | http://www.platoonleader.org/

65) NSA-Direktor General Keith Alexander nach CSIS, a.a.O., S.3.

66) Ebd., S.4.

67) Bundeswehr baut geheime Cyberwar-Truppe auf. Der Spiegel, Nr. 7/2009.

68) Kommando Strategische Aufklärung; www.kommando.streitkraeftebasis.de. http://www.kommando.streitkraeftebasis.de/portal/poc/kdoskb?uri=ci%3Abw.skb_kdo.ksa.ksa

69) Bundesministerium des Inneren: Nationaler Plan zum Schutz der Informationsinfrastrukturen. Berlin, 18.08.2005. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/OED_Verwaltung/Informationsgesellschaft/Nationaler_Plan_Schutz_Informationsinfrastrukturen.pdf

70) Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: Aufgaben und Ziele; bsi.bund.de. https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/IT-Krisenmanagement/IT-Lagezentrum/itlagezentrum_node.html

71) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gisela Piltz und anderer. Bt.-Drs. 16/12089. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Petra Pau und anderer. Bt.-Drs. 17/5695.

72) A Borderless Dispute. Newsweek, 20.2.1995, S.6.

73) Florian Rötzer: Neues vom israelisch-arabischen Hackerkonflikt. telepolis,. 16.12.2000. http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/4267/1.html

74) So z.B. attrition.org , die 2001 die Dokumentation wegen Überlastung einstellten. http://www.attrition.org

75) Lena Jakat: Die Kinder des 6. April und der Tag der Entscheidung. Süddeutsche Zeitung, 31.1.2011. http://www.sueddeutsche.de/politik/krise-in-aegypten-die-kinder-des-april-rufen-zum-protest-1.1053426

76) Ägypten ist offline und ohne Mobilfunk. Heise News, 28.1.2011. http://www.heise.de/newsticker/meldung/Aegypten-ist-offline-und-ohne-Mobilfunk-4-Update-1179102.html

77) Konrad Lischka: Software aus dem Westen – Schnüffel-Angebot für Ägyptens Stasi. Spiegel Online, 8.3.2011. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/software-aus-dem-westen-schnueffel-angebot-fuer-aegyptens-stasi-a-749705.html

78) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Andrej Hunko und anderer: Ausbildung in Ländern des Arabischen Frühlings zu »neuen Ermittlungstechniken«, zur Internetüberwachung und zum Abhören von Telekommunikation. Bt.-Drs. 17/13185, Antwort auf Frage 1.

79) McAfee (2009): Virtual Criminology Report 2009. Virtually Here: The Age of Cyber Warfare. Santa Clara. http://resources.mcafee.com/content/NACriminologyReport2009NF

80) Charles Clover: Kremlin-backed group behind Estonia cyber blitz. Financial Times, 11.03.2009. http://www.ft.com/cms/s/0/57536d5a-0ddc-11de-8ea3-0000779fd2ac.html#

81) Eneken Tikk, Kadri Kaska, Kristel Rünnimeri, Mari Kert, Anna-Maria Talihärm, Liis Vihul (2008): Cyber Attacks Against Georgia: Legal Lessons Identified. Tallinn. http://www.carlisle.army.mil/DIME/documents/Georgia%201%200.pdf
Overview by the US-CCU of the Cyber Campaign against Georgia in August of 2008. US-CCU Special Report, August 2009.

82) David E. Sanger: Obama Order Sped Up Wave of Cyberattacks Against Iran. New York Times, 1.6.2012, S. A1. http://www.nytimes.com/2012/06/01/world/middleeast/obama-ordered-wave-of-cyberattacks-against-iran.html

83) Alexaner Gostev: Kaspersky Security Bulletin 2012. Cyber Weapons. Securelist, 18.12.2012. http://www.securelist.com/en/analysis/204792257/Kaspersky_Security_Bulletin_2012_Cyber_Weapons

84) Diese wurden »Flame«, »Tilded« und »Gauss« genannt. Vgl. Kapersky Lab: Resource 207 -Kaspersky Lab Research Proves that Stuxnet and Flame Developers are Connected. 11.6.2012. http://www.kaspersky.com/about/news/virus/2012/Resource_207_Kaspersky_Lab_Research_Proves_that_Stuxnet_and_Flame_Developers_are_Connected

85) Alexander Gostev, a.a.O. Inzwischen ist klar, dass Banken und Handel auch in Europa Ziele der NSA sind.

86) Symantec Security: W32.Narilam – Business Database Sabotage. 22.11.2012. http://www.symantec.com/connect/blogs/w32narilam-business-database-sabotage

87) Kasperski Lab, Global Research and Analysis Team: »Red October«. Detailed Malware Description; securelist.com. https://www.securelist.com/en/analysis/204792265/Red_October_Detailed_Malware_Description_1_First_Stage_of_Attack
John Leyden: »Red October« has been spying on World Leaders for 5 years. The Register, 14.01.2013.
http://www.theregister.co.uk/2013/01/14/red_october_cyber_espionage/

88) Zum Vergleich aus der gleichen Zeit und mit einer vergleichbaren Zahl von Installationen bieten sich Microsoft-Daten zur Schadsoftware-Beseitigung aus Deutschland an. Danach verursachten 2009 die drei meist verbreiteten Trojaner hier 400.000 Infektionen. Microsoft: Microsoft-Analyse zur IT-Sicherheit, Ausgabe 8 (Juli bis Dezember 2009). http://www.microsoft.com/de-de/download/details.aspx?id=11722

89) Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel; Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle. Dossier 24 in Wissenschaft und Frieden, Heft 1-1997.

90) F. Winters: AFIWC – putting intelligence at your fingertips. intercom, Feb. 2003, S.6f. http://www.afnic.af.mil/shared/media/document/AFD-070205-047.pdf

91) William Arkin: Telephone Records are just the Tip of NSA’s Iceberg, Montreal: Centre for Research on Globalization, 14.5.2006. http://www.globalresearch.ca/telephone-records-are-just-the-tip-of-nsa-s-iceberg/2444

92) Siobhan Gorman: Costly NSA initiative has a shaky takeoff. Baltimore Sun, 11.2.2007. http://articles.baltimoresun.com/2007-02-11/news/0702110034_1_turbulence-cyberspace-nsa
»Turmoil« und »Turbulence« werden im Übrigen in den NSA-Dokumenten zu »XKeyScore als Vergleich heran gezogen, siehe zB. S.8 der vom »Guardian« dokumentierten »XKeySore«-Präsentation der NSA. http://www.documentcloud.org/documents/743252-nsa-pdfs-redacted-ed.html

93) William Arkin: NSA Code Names Revealed. William M. Arkin Online, 13.03.2012. http://williamaarkin.wordpress.com/2012/03/13/nsa-code-names-revealed/

94) Jacob Appelbaum, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Holger Stark und Christian Stöcker: NSA-Programm »Quantumtheory«: Wie der US-Geheimdienst weltweit Rechner knackt. Spiegel Online, 30.12.2013. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/quantumtheory-wie-die-nsa-weltweit-rechner-hackt-a-941149.html

95) Snowden-Dokumente: NSA beobachtet Porno-Nutzung islamischer Zielpersonen. Spiegel Online, 27.11.2013. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/snowden-dokument-nsa-beobachtet-porno-nutzung-islamischer-prediger-a-935898.html

96) Christopher Drew und John Markoff: Contractors Vie for Plum Work, Hacking for U.S. New York Times, 31.3.2009, S. A1. http://www.nytimes.com/2009/05/31/us/31cyber.html

97) David E. Sanger, John Markoff, Thom Shanker: U.S. Plans Attack and Defense in Web Warfare. New York Times, 27.4.2009, S. A1. http://www.nytimes.com/2009/04/28/us/28cyber.html

98) John Markoff und Thom Shanker: Halted ’03 Iraq Plan Illustrates U.S. Fear of Cyberwar Risk. New York Times, 2.8.2009, S. A1. http://www.nytimes.com/2009/08/02/us/politics/02cyber.html

99) Mark Thomson: Panetta Sounds Alarm on Cyber-War Threat.Time, 12.10.2012. http://nation.time.com/2012/10/12/panetta-sounds-alarm-on-cyber-war-threat

100) U.S. National Security Council: The Comprehensive National Cybersecurity Initiative (unclassified). Washington, March 2010. http://www.whitehouse.gov/cybersecurity/comprehensive-national-cybersecurity-initiative

101) The White House: Cyberspace Policy Review. Assuring a Trusted and Resilien Information and Communication Infrastructure. Washington, Mai 2009. http://www.whitehouse.gov/assets/documents/Cyberspace_Policy_Review_final.pdf

102) The White House: The Comprehensive National Cybersecurity Initiative. Washington. http://www.whitehouse.gov/issues/foreign-policy/cybersecurity/national-initiative

103) David E. Sanger, John Markoff, Thom Shanker: U.S. Plans Attack and Defense in Web Warfare. New York Times, 28.4.2009, S. A1. http://www.nytimes.com/2009/04/28/us/28cyber.html

104) Empfehlenswert sind die umfangreiche Dokumentation und das Material, das »The Guardian« zur Verfügung stellt; http://www.theguardian.com/world/nsa

105) Sotschi 2014: Russland bereitet Groß-Überwachung bei Olympia vor. Spiegel Online, 7.10.2013. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/russische-netz-ueberwachung-in-sotschi-prism-auf-steroiden-a-926446.html

106) Frankreich soll massenhaft Internet-Kommunikation. überwachen. sueddeutsche de, 5.6.2013. http://www.sueddeutsche.de/politik/abhoerskandal-frankreich-soll-massenhaft-internet-kommunikation-ueberwachen-1.1713094

107) David Schaffner: Widerstand gegen Big Sister.tagesnazeiger.ch, 28.7.2011. http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Widerstand-gegen-Big-Sister%20/story/23599183

108) Siehe z.B. die Dokumente der parlamentarischen Beratung »Inquiry into potential reforms of National Security Legislation« unter aph.gov.au. http://www.aph.gov.au/Parliamentary_Business/Committees/House_of_Representatives_Committees?url=pjcis/nsl2012/index.htm

109) Angaben im Folgenden aus der vom Guardian dokumentierten NSA-Präsentation »XkeySore« vom 25.2.2008; online auf documentcloud.org. http://www.documentcloud.org/documents/743252-nsa-pdfs-redacted-ed.html

110) Siehe »Boundless Informant: NSA explainer – full document text«, von theguardian.com eingestellt am 8.6.2013. http://www.theguardian.com/world/interactive/2013/jun/08/boundless-informant-nsa-full-text

111) Konrad Lischka und Christian Stöcker: NSA-System Xkeyscore – Die Infrastruktur der totalen Überwachung. Spiegel Online, 31.7.2013.; http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/xkeyscore-wie-die-nsa-ueberwachung-funktioniert-a-914187.html

112) Appelbaum et al., a.a.O., S.101.

113) Memorandum by the Vice Chairman of the Joint Chiefs of Staff: Joint Terminology for Cyberspace Operations. Washington, Nov. 2010. http://www.nsci-va.org/CyberReferenceLib/2010-11-Joint%20Terminology%20for%20Cyberspace%20Operations.pdf
Siehe auch: Department of the Army: Field Manual 1-02. Operational Terms and Graphics. Sept. 2004, S.1-42.

114) Appelbaum et al., a.a.O., S.104.

115) Barton Gellman und Ellen Nakashima: U.S. Spy agencies mounted 231 offensive cyber operations in 2011, documents show. Washington Post, 31.8.2013. http://articles.washingtonpost.com/2013-08-30/world/41620705_1_computer-worm-former-u-s-officials-obama-administration

116) Matthew M. Aid: Inside the NSA’s Ultra-Secret China Hacking Group. a.a.O.

117) Appelbaum et al., a.a.O., S.102f.

118) Bruce Schneier: NSA surveillance: A guide to staying secure. The Guardian, 6.9.2013. http://www.theguardian.com/world/2013/sep/05/nsa-how-to-remain-secure-surveillance

119) Barton Gellman und Greg Miller: U.S. spy network’s successes, failures and objectives detailed in »black budget« summary. Washington Post, 29.8.2013. http://www.washingtonpost.com/world/national-security/black-budget-summary-details-us-spy-networks-successes-failures-and-objectives/2013/08/29/7e57bb78-10ab-11e3-8cdd-bcdc09410972_print.html
Im Detail: FY 2013 Congressional Budget Justification, National Intelligence Program Summary. http://s3.documentcloud.org/documents/781537/cbjb-fy13-v1-extract.pdf

120) Microsoft Security Research & Defense: Microsoft certification authority signing certificates added to the Untrusted Certificate Store. 3.6.2012. http://blogs.technet.com/b/srd/archive/2012/06/03/microsoft-certification-authority-signing-certificates-added-to-the-untrusted-certificate-store.aspx

121) Marin Majica: Sicherheitsfirma RSA warnt vor sich selbst. zeit.de, 20.09.2013. http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2013-09/rsa-bsafe-kryptografie-nsa

122) Ingo Ruhmann: Cyber-Terrorismus. Panikmache oder reale Gefahr? In: Ulrike Kronfeld-Goharani (Hrsg.) (2005): Friedensbedrohung Terrorismus. Ursachen, Folgen und Gegenstrategien. Kieler Schriften zur Friedenswissenschaft, Band 13, S.222-240.

123) James Glanz: United States Can Spy on Britons Despite Pact, N.S.A. Memo Says. New York Times, 20.11.2013. http://www.nytimes.com/2013/11/21/us/united-states-can-spy-on-britons-despite-pact-nsa-memo-says.html

124) Siehe z.B. Norbert Wildstacke: Cyber Defense – Schutzlos in einer vernetzten Welt? Das CERT Bundeswehr. Folienvortrag vom 16.2.2009, S.3. http://www.afcea.de/fileadmin/downloads/Young_AFCEAns_Meetings/20090216%20Wildstacke.pdf

125) Die NSA-Überwachung führte in bestenfalls 1,8% der von der US-Regierung angeführten Terrorismusfälle zu Ermittlungsergebnissen, so die Studie von Peter Bergen, David Sterman, Emily Schneider, Bailey Cahall: Do NSA’s Bulk Surveillanvce Programs Stop Terrorists? Washington: New America Foundation, Januar 2014, S 4. http://newamerica.net/publications/policy/do_nsas_bulk_surveillance_programs_stop_terrorists

126) Ralf Klischewski und Ingo Ruhmann, a.a.O.

127) So z.B. auf der Tagung »Rüstungskontrolle im Cyberspace« 2001 in Berlin. Siehe Stefan Krempl: Entspannung an der Cyberwar-Front? telepolis, 30.6.2001. http://www.heise.de/tp/artikel/3/3610/1.html

128) Insbesondere: Olivier Minkwitz und Georg Schöfbänker: Information Warfare – Die neue Herausforderung für die Rüstungskontrolle. telepolis, 31.0.2000. http://www.heise.de/tp/artikel/6/6817/1.html
Siehe auch Ingo Ruhmann: Rüstungskontrolle gegen den Cyberkrieg? telepolis, 4.1.2010. http://www.heise.de/tp/artikel/31/31797/1.html

129) Artikel 27 Absatz 4 des »Übereinkommens über Computerkriminalität«, abgeschlossen in Budapest am 23.11.2001. http://conventions.coe.int/treaty/ger/treaties/html/185.htm

130) Annex to the letter dated 12 September 2011 from the Permanent Representatives of China, the Russian Federation, Tajikistan and Uzbekistan to the United Nations addressed to the UN Secretary-General (A/66/359) Veröffentlicht in: Tim Maurer (2011): Cyber Norm Emergence at the United Nations – An Analysis of the Activities at the UN Regarding Cyber-Security. Cambridge: Belfer Center for Science and International Affairs. http://belfercenter.ksg.harvard.edu/files/maurer-cyber-norm-dp-2011-11-final.pdf

131) John Markoff und Andrew E. Kramer: In Shift, U.S. Talks to Russia on Internet Security. New York Times, 13.12.2009, S. A1.

132) K. Rauscher und A. Korotkov: First Joint Russian-U.S. Report on Cyber Conflict: 3. Feb. 2011. http://www.cybersummit2011.com/component/content/article/26

133) Michael N. Schmitt (ed.) (2013): The Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare. Cambridge.

134) Ebd., S.29ff.

135) Ebd., S.36f.

136) Ebd., S.63ff

137) The Wassenaar Arrangement on Export Controls for Conventional Arms and Dual-Use Goods and Technologies: Public Statement, 2013 Plenary Meeting. Wien, 4.12.2013. http://www.wassenaar.org/publicdocuments/2013/WA%20Plenary%20Public%20Statement%202013.pdf

138) Matthias Monroy: Erneuertes Wassenaar-Abkommen Spionagesoftware könnte zukünftig mehr Exportkontrolle unterliegen. Netzpolitik.org, 13.12.2013. https://netzpolitik.org/2013/erneuertes-wassenaar-abkommen-spionagesoftware-koennte-zukuenftig-mehr-exportkontrolle-unterliegen/

Ingo Ruhmann ist Informatiker, wissenschaftlicher Referent und Lehrbeauftragter an der FH Brandenburg.Ute Bernhardt ist Informatikerin, wissenschaftliche Referentin und Lehrbeauftragte. Beide sind ehemalige Vorstandsmitglieder im »Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.« und arbeiten zu Datenschutz, IT-Sicherheit sowie Informatik und Militär. Die Online-Version dieses Textes auf wissenschaft-und-frieden.de enthält soweit verfügbar die URLs zu den oben aufgeführten Quellen.

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Das Dossier 74 »Information Warfare und Informationsgesellschaft« der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« 1/2014 ist zugleich Beilage der Zeitschrift »FIfF Kommunikation« 1/2014, die schwerpunktmäßig dem Thema der FIfF-Jahrestagung 2013, »Cyberpeace«, gewidmet ist. Die »FIfF Kommunikation« erscheint vierteljährlich, in der Regel in einer Auflage von 1.200 Druckexemplaren. Ihr Herausgeber ist das »Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.« (FIfF). Das FIfF zählt zur Gruppe der Herausgeber von »Wissenschaft und Frieden«. Ausgewählte Beiträge der »FifF Kommunikation« sind auf unseren Internetseiten zu finden. Das FIfF wurde 1984 gegründet als eine Vereinigung von und für Menschen aus der Informatik und aus informatik- und informationstechniknahen Berufen, die sich kritisch mit Folgewirkungen ihres Berufsfeldes auseinandersetzen. Aktuelle Arbeitsthemen sind u.a. militärische Nutzung der Informatik und Informationstechnik, Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch Datenmissbrauch sowie humanitäre Folgen der Rohstoffbeschaffung, Produktion und Entsorgung informationstechnischer Produkte.

Das FIfF im Internet: fiff.de

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Friedenslogik statt Sicherheitslogik

Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung

von Ulrich Frey, Christiane Lammers, Hanne-Margret Birckenbach, Sabine Jaberg, Christine Schweitzer und Andreas Buro

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.
Dieses Dossier wurde gefördert von Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst

Einführung

Die »Versicherheitlichung« der internationalen und nationalen Politik wurde in den letzten Jahren zur allgemeinen Handlungsmaxime, woraus konkrete Konzepte für die »vernetzte Sicherheit« entstanden. Dies führte in den letzten Jahren dazu, dass international tätige zivilgesellschaftliche Organisationen sich verstärkt mit der Anschlussfähigkeit an bzw. der Abgrenzung von sicherheitspolitischen Konzeptionen auseinandersetzten. Grundsätzliche Überlegungen zur Unterscheidung von Ziel- und Wertvorstellungen, von Eigendynamiken, Handlungsprinzipien und Methoden zwischen Friedensarbeit/ -politik und Sicherheitspolitik wurden vertieft.

Zu Beginn dieses Reflexionsprozesses standen zunächst die Unvereinbarkeit mit den eigenen ethischen Überzeugungen sowie die praktischen Auswirkungen der Versicherheitlichung auf die Friedens- und Entwicklungsarbeit im Vordergrund. Unter dem Tagungstitel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« wurde 2012 bei der Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung erstmals eine genauere theoretische Fundierung und Gegenüberstellung der beiden »Logiken« vorgenommen und die Praxis der eigenen, sehr unterschiedlichen Arbeitsfelder daraufhin befragt.

Für das nun vorliegende Dossier haben wir zwei damalige Referentinnen gebeten, ihre Grundlagenreferate zur Verfügung zu stellen. Sie haben sie für das Dossier weitergedacht, aktualisiert und dabei auch neue politische Fragestellungen und Diskussionen aufgegriffen: Hanne-Margret Birckenbach erklärt den Begriff der Friedenslogik. Sie unterscheidet dabei zwischen Methode und politischem Programm und stellt Dimensionen und Prinzipien dar. Sabine Jaberg schält die Handlungslogik des Sicherheitsdenkens heraus und weist auf Möglichkeiten hin, die Problematik abzuschwächen.

Um dem Leser/der Leserin zu verdeutlichen, dass »Friedenslogik« nicht reine Theorie ist, sondern – jetzt und nicht erst in ferner Zukunft – in der Politik und vor Ort praktisch umsetzbar ist, haben wir in das Dossier zwei weitere Beiträge aufgenommen: In dem einen skizziert Christiane Lammers die verschiedenen Handlungsräume, d.h. die Möglichkeiten, im Sinne der Friedenslogik in gewaltförmigen Konflikten tätig zu werden. Sie verweist zur Verdeutlichung auf konkrete zivilgesellschaftliche Praxisbeispiele, vorwiegend aus dem Israel/Palästina-Konflikt. Für den zweiten fallbezogenen Beitrag haben Christine Schweitzer und Andreas Buro ihre im Rahmen des Monitoring-Projekts »Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention« erarbeiteten Vorschläge zu einem gewaltfreien, politischen Vorgehen im syrischen Bürgerkrieg weiterentwickelt. Die differenzierte Sicht auf Syrien ist auch deshalb wichtig, da dieser blutige Konflikt angesichts neuer Konfliktherde schon fast in Vergessenheit zu geraten droht. Am Ende dieses Beitrags wird ein Blick auf die Entwicklung in der kurdischen Grenzregion Rojava im Norden Syriens geworfen, die demokratische Perspektiven aufzeigt.

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung möchte mit diesem Dossier zur Konzeptionierung und Politikfähigkeit einer alternativen, aktiven Friedenspolitik beitragen. Das Dossier soll dazu anregen, sich intensiv mit den beiden Denk-Modellen »Frieden« und »Sicherheit« auseinanderzusetzen und die Konsequenzen des einen wie des anderen Modells durchzudenken. Daraus, so hoffen wir, soll Handeln – politisches wie gesellschaftliches – erwachsen, das aktiv Frieden befördert.

Ulrich Frey ist Mitglied des SprecherInnenrats der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied der Redaktion von W&F.

Friedenslogik und friedenslogische Politik

von Hanne-Margret Birckenbach

Der Begriff Friedenslogik bezeichnet sowohl eine Methode des Denkens, deren Schritte sich aus dem Erkenntnisinteresse an Frieden ergeben, als auch ein konsistentes politisches Programm, das sich an diesem Denken orientiert.

Als Methode hilft Friedenslogik zu erkunden, wie Frieden durch konstruktive Konfliktbearbeitung gefördert werden kann und welche Prinzipien für die Planung und Unterstützung von Friedensprozessen notwendig sind. Einige der Möglichkeiten werden bereits realisiert, andere existieren noch nicht, können aber geschaffen werden.

Als politisches Programm bezeichnet Friedenslogik den Willen, die Friedensfähigkeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure auszuweiten und sich dabei auf friedenslogisch erarbeitete Analysen und Prinzipien zu stützen. Friedenslogische Politik erweitert und schafft dafür Voraussetzungen. Sie stellt eine geeignete Infrastruktur bereit und nutzt sie in konkreten Konfliktfeldern der Außen- und Innenpolitik. Sie korrigiert den Einfluss wirtschafts- und bündnispolitischer Interessen, sofern diese nicht mit den friedenslogischen Prinzipien vereinbar sind. Sie entwickelt ein breites Spektrum politischer und diplomatischer Aktivitäten zur Friedensentwicklung und setzt dabei auch auf zivilgesellschaftliche Institutionen und auf BürgerInnen, die sich beispielsweise in Friedens- und Entwicklungsdiensten, in der Friedensbildung oder bei Beteiligungs- und Beratungsverfahren in politischen und sozialen Konfliktfeldern auf kommunaler, nationaler sowie internationaler Ebene engagieren. Friedenslogische Politik wirbt im In- und Ausland für zivile Konfliktbearbeitung und budgetiert die dafür erforderlichen Ressourcen.

Entstehungskontext und Ziele

Friedenslogik steht in pazifistischen Traditionen und wurde durch die kritische Friedens- und Konfliktforschung fundiert. Ziel ist die Entwicklung von Ideen für eine Praxis aktiver Friedensförderung und deren Umsetzung.

Als friedensethische und -politische Orientierung wurde Friedenslogik während des Kalten Krieges begründet. Ausgangspunkt war die von Friedensbewegungen in West und Ost geteilte Ablehnung der »Logik und Praxis der Abschreckung« mit atomaren Massenvernichtungswaffen. Die Ablehnung dieser Abschreckungslogik wiederum ergab sich u.a. aus dem religiös fundierten Leitbild vom »gerechten Frieden«. Dieses Leitbild wurde erstmals von der »Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« 1988/1989 in der DDR gefordert. Sie stützte sich auf den vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Vancouver 1983 ausgerufenen »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung«, der ökumenisch weltweit weitgehend akzeptiert war (Frey 2012).

Als in den 1990er Jahren internationale Organisationen, wie z.B. die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sich verstärkt um Konfliktprävention und präventive Diplomatie bemühten, entstand auch in der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung ein neues Interesse an Friedensursachen und den Möglichkeiten ziviler, konstruktiver Konfliktbearbeitung. Die Diskussion wurde vor allem von friedenspolitisch aktiven zivilgesellschaftlichen Kräften konzeptionell und praktisch aufgegriffen und weiterentwickelt. Parallel wurden jedoch gegenläufige politische Entwicklungen vorangetrieben: 1. die »Versicherheitlichung« von Politikfeldern (Brock 2005), 2. die Zurückdrängung des Friedensbegriffs in der deutschen Außenpolitik, 3. die Ausweitung militärischer Interventionspolitik und 4. die staatliche Vereinnahmung entwicklungs-, menschenrechts- und friedenspolitischer Kräfte im Rahmen des Konzepts der umfassenden und vernetzten Sicherheit. Die in Deutschland geführte Debatte »Friedenslogik versus Sicherheitslogik« reagiert auf diese Gegenentwicklungen und entwickelt friedenslogisches Denken und Handeln als Alternative zu sicherheitslogisch dominierten Ansätzen.

Begriffe

Friedenslogische Vorgehensweisen wurzeln in Friedens- und Konflikttheorien sowie in Erfahrungen und Erkenntnissen in den Politikfeldern Abrüstung, Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktbearbeitung. Anders als Sicherheitslogik unterscheidet Friedenslogik zwischen Frieden und Sicherheit.

Grundbegriff Frieden

Frieden ist der erkenntnis- und praxisleitende Grundbegriff. Er wird als soziale, normative wie empirische Kategorie verstanden. Frieden bezeichnet 1. ein visionäres handlungsleitendes Ziel menschlichen Zusammenlebens ohne Verletzung von Grundbedürfnissen. Frieden meint 2. eine Qualität von sozialen Beziehungen. Ihr Merkmal ist andauernde problemlösende Kooperation, auch wenn die Beteiligten unterschiedliche Interessen haben. Frieden meint 3. eine empirische Entwicklung im sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, internationalen und transnationalen Leben. In dieser Entwicklung bilden sich Strukturen, die auch in schweren Konflikten Rückgriffe auf massive direkte Gewalt unwahrscheinlich machen, weil Kooperation sich verdichtet, Fähigkeiten zum konstruktiven Konfliktaustrag institutionalisiert und Grundbedürfnisse zunehmend geachtet und befriedigt werden. Das gemeinsame Interesse friedenslogischer Analyse und Politik gilt der Kernfrage, wie eine Praxis eingeleitet und verstärkt werden kann, die diesem Friedensbegriff entspricht.

Sicherheit als Grundbedürfnis

Sicherheit dagegen ist kein Grundbegriff, sondern ein Wert, der im friedenslogischen Denken eine hohe Bedeutung hat. Denn Sicherheit bezeichnet ein Grundbedürfnis, dessen Verletzung als Gewalt verstanden wird. Friedenslogische Politik will Sicherheit vor Gewalt einschließlich der Freiheit von Not und Furcht (menschliche Sicherheit). Aus friedenslogischer Sicht kann Sicherheit vor Gewalt nachhaltig nicht auf paradoxe Weise durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder durch Machtüberlegenheit, sondern nur über den Aufbau kooperativer und problemlösungsorientierter Beziehungen erreicht werden.

In diesem Sinn folgte bereits das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« friedenslogischem Denken. Dieses Konzept wurde zwischen 1980 und 1982 in den Vereinten Nationen von der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit erarbeitet (Independent Commission 1982). Die aktuelle Debatte um Friedenslogik greift diesen Pfad auf und erweitert ihn um zivilgesellschaftliche Akteure sowie um entwicklungs- und menschenrechtspolitische Themen und Instrumente, insbesondere um Konzepte und Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung.

Wirkungsannahmen

Friedenslogische Analysen kritisieren die Erwartung, Militär könne erfolgsversprechend als »letztes Mittel« (ultima ratio) eingesetzt werden, wenn alle anderen Mittel versagt haben. Vielmehr wird angenommen, dass die militärische Option in der Praxis zwangsläufig zum »ersten Mittel« wird. Denn die hohen materiellen und ideellen Vorabinvestitionen in Militär und Rüstung werden auf Kosten von Investitionen in zivile Mittel getätigt. Die Folge ist, dass zivile Mittel nicht im ausreichenden Maß geschaffen und daher nicht erfolgreich eingesetzt werden können. Friedenslogische Analysen gehen weiter von folgenden Annahmen aus:

  • Friedensursachen: In Friedensprozessen existieren keine monokausalen und linearen Ursache-Wirkung-Beziehungen. Wirkungsketten entwickeln sich nur in komplexen Konfigurationen. Angesichts ihrer Vielfalt und Individualität kann es keinen Masterplan, wohl aber einen Orientierungsrahmen für friedenslogische Politik geben.
  • Friedensdynamik: Nach dem Modell der regulierenden Rückkopplung (Fischer 2007) entsteht eine Friedensdynamik, wenn die Wirkungschancen friedenshinderlicher Faktoren, wie direkte Gewalt, Ignoranz, Kommunikations- und Kooperationsabbruch, blockiert und die Wirkungschancen friedensförderlicher Faktoren, wie Gewaltverzicht, Anerkennung berechtigter Interessen, Bemühungen um Kommunikation und Kooperation, unterstützt werden.
  • Steuerbarkeit: Konfliktentwicklungen sowie ihre Rahmenbedingungen können sowohl seitens der Beteiligten wie auch seitens externer Akteure nur begrenzt gesteuert werden. Die Steuerbarkeit nimmt mit Zunahme von Gewalt ab.
  • Interdependenz: Friedensprozesse können einseitig initiiert werden, aber sie sind auf Wechselseitigkeit angewiesen. Auch mächtige Akteure stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn sie mehr beeinflussen wollen als ihr eigenes Konfliktverhalten. Auch sie können in der Regel Friedensprozesse nur zusammen mit allen anderen Konfliktparteien auf den Weg bringen, nicht gegen sie. Auch unter den Bedingungen von Asymmetrie ist die Mitwirkung aller Konfliktparteien unabdingbar.
  • Politische Kultur: Je stärker friedenslogisches Bewusstsein in der politischen Kultur ausgeprägt ist, umso größer sind die Chancen, dass politische Akteure Gewaltentwicklungen vorbeugen und in der Eskalation dem Druck widerstehen, militärisch zu intervenieren.
  • Zielbindung der Mittel: Je besser die eingesetzten Mittel mit dem Ziel Frieden übereinstimmen, umso eher ist Frieden die Folge. Formulierungen wie „Frieden durch friedliche Mittel“ (Galtung 1998) oder „Si vis pacem, para pacem“ (Eva und Dieter Senghaas 1996) bringen diesen Zusammenhang zum Ausdruck.

Dimensionen und Prinzipien

Fünf Dimensionen und Handlungsprinzipien haben sich für friedenslogisches Denken und Handeln als grundlegend herausgestellt.

Dimension Gewalt und das Prinzip Gewaltprävention

In dieser Dimension geht es um die Definition des Problems. Sicherheitslogisch gesehen wird ein Problem erst dann relevant, wenn es als eine Bedrohung wahrgenommen wird, vor der die eigene politische Ordnung und die ihr angehörenden Menschen zu schützen sind. Im friedenslogischen Denken dagegen wird ein Problem relevant, weil Gewalt droht oder geschieht und Menschen unter ihr leiden, unabhängig davon, wer sie für welchen Zweck und wie massiv ausübt. Die Aufmerksamkeit gilt direkten Gewalttaten und deren Vorbereitung ebenso wie Gewaltstrukturen, Rechtfertigungsmustern sowie den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Gewaltformen.

Friedenslogische Politik will Gewalt in jeder dieser Formen vermeiden. Sie ist sensibel für Eskalationsprozesse und folgt vor, während und nach Konflikten immer dem Prinzip der Gewaltprävention. Sie wird vorausschauend deeskalierend tätig und wartet nicht ab, bis die Verletzung von Menschenrechten zu gewaltsamen Aufständen und deren Niederschlagung führen oder sogar die extremen Ausmaße von Völkermord und Krieg annehmen. Auch solange sich Konflikte unterhalb der Gewaltschwelle befinden, vermeidet friedenslogische Politik alles, was den relativen Frieden gefährden könnte, sei es ein Abbruch von Kommunikation oder die Vergrößerung des militärischen Potentials, etwa durch Rüstungsexporte. Sie setzt sich selbst unter Erfolgsdruck und investiert daher ausreichend in die zur Gewaltprävention erforderlichen Mittel. Damit beugt sie auch einer Entwicklung vor, an deren Ende politische Entscheidungsträger wider Willen in eine Militärintervention gedrängt werden. Indem friedenslogische Politik rechtzeitig einen Weg einschlägt, der Gründe für Militärinterventionen gar nicht erst entstehen lässt und der Ressourcen bindet, stehen diese für Militärinterventionen immer weniger zur Verfügung. Diese Option scheidet daher langfristig aus.

Dimension Konflikt und das Prinzip Konflikttransformation

In dieser Dimension geht es um die Entstehung des Problems und seine Ursachen. In sicherheitspolitischer Perspektive entsteht eine Bedrohung außen und auf der anderen Seite. Aus friedenslogischer Sicht dagegen entsteht Gewalt nicht außerhalb, sondern zwischen Konfliktparteien, die ihre Interessen ungehindert auch gegeneinander durchsetzen wollen und bereit sind, dabei auch die Interessen Unbeteiligter zu missachten. Die Chance, Frieden zu stiften, wird in der Veränderbarkeit dieser Beziehungsmuster gesehen, in denen Menschen zu Tätern, Mittätern, Leidtragenden und Opfern von Gewalt werden. In der Regel handelt es sich um komplexe Konstellationen, in denen sich mehrere Konflikte, an denen unterschiedliche Akteure beteiligt sind, überlagern. Friedenslogische Analysen thematisieren daher die diversen Konfliktlinien, warnen vor den Mechanismen einer Eskalationsdynamik und klären Bedingungen, unter denen eine konstruktive Wende eingeleitet werden kann.

Friedenslogische Politik nutzt solche Konfliktanalysen und orientiert sich am Prinzip Konflikttransformation. Sie erkennt Konflikte frühzeitig auch wenn es noch nicht zu direkten Gewalthandlungen gekommen ist, und bemüht sich darum, unvereinbare Einstellungen, Verhaltensweisen, Interessen und Diskurse der Beteiligten konstruktiv in einer Weise zu verändern, dass diese sich für einander und damit auch für Problemlösungen öffnen können. Sie beachtet, dass es sich in jedem Fall um einen komplexen Prozess handelt, der auf allen Seiten Veränderungen erforderlich macht. Sie beginnt bei sich selbst in dem Wissen, dass es für jeden Akteur aussichtsreicher ist, sein eigenes Konfliktverhalten mit Wirkung auf alle anderen Akteure zu verändern, als umgekehrt. Sie dämpft die Angst vor solchen Schritten und stärkt das Vertrauen in ihre Wirksamkeit.

Dimension Problembearbeitung und das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung

In dieser Dimension geht es um die Ziele und Mittel der Problembearbeitung. In sicherheitslogischer Perspektive soll die vermeintliche Bedrohung der eigenen Interessen beseitigt oder kontrolliert werden. Dies geschieht durch Mittel, die die Distanz zwischen den Konfliktparteien vergrößern, nämlich durch interne Formierung in Bündnissen einerseits und den Einsatz von Mitteln zur Abwehr, Abschreckung oder militärischen Bekämpfung der Gefahr andererseits. In friedenslogischer Perspektive geht es dagegen darum, Verbindungen zu knüpfen, Annäherungen einzuleiten und die Dialogfähigkeit zwischen den Konfliktparteien zu organisieren. Je länger und gewalthaltiger ein Konflikt ist, umso komplexer und langwieriger verlaufen Prozesse der Konflikttransformation, desto differenzierter müssen auch die eingesetzten Mittel sein.

Für friedenslogische Politik folgt daraus das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung. Sie nutzt die Mittel der konstruktiven Konfliktbearbeitung in ihrer Breite und mit langem Atem, ist Legislaturperioden übergreifend und krisenfest angelegt. Sie überprüft die Dialog- und Prozessverträglichkeit der eingesetzten Mittel. Zwang, Drohungen, Sanktionen, Beschämung und Kränkung beschränken Kommunikation, vergrößern Distanz, fördern autistische Entscheidungen und zerstören Voraussetzungen für Dialog. Konsultationen, Konferenzen, Verhandlungen, Zusammenarbeit in einzelnen Projekten erhöhen dagegen die Interaktionsdichte, fördern Interdependenz und wecken Interesse an einer Fortsetzung. In Fällen, in denen zwischen den Konfliktparteien ein direkter partnerschaftlicher Dialog auf Augenhöhe (noch) nicht möglich ist, sucht friedenslogische Politik dialoghemmende Faktoren wie Asymmetrien auszugleichen, nutzt die Vermittlungsdienste externer Akteure oder stellt diese bereit.

Projektzusammenarbeit ist allerdings nur dann dialog- und prozessförderlich, wenn einzelne Vorhaben nicht als Belohnung für Wohlverhalten, sondern um ihrer selbst willen durchgeführt werden. Friedenslogische Politik bricht daher humanitäre und entwicklungspolitische Projekte zur Grundversorgung der Bevölkerung, zur verbesserten Kommunikation, zur Friedensbildung und zur Partizipationserweiterung sowie die Zusammenarbeit mit Mediatoren niemals ab, um eine Regierung für Fehlverhalten zu strafen. Friedenslogische Politik konzipiert solche Projekte vielmehr als Grundlage für langfristige Veränderungen in den Konfliktbeziehungen und bleibt auch in Krisenzeiten hartnäckig engagiert. Einseitig verhängte Konditionen wie die Kopplung humanitärer oder entwicklungspolitisch sinnvoller Hilfe an die Umsetzung ordnungspolitisch weitreichender Forderungen widersprechen dem Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung.

Das Prinzip ist umso wirksamer, je zahlreicher die Dialogfäden werden. Denn Dialoge benötigen viel Zeit, bevor sie zustande kommen und bevor sich Ergebnisse abzeichnen. Daher fördert friedenslogische Politik die Partizipation von vielfältigen Akteuren, die auf zivilgesellschaftlichen Ebenen Aufklärungsarbeit leisten, das Entstehen von Interesse am Dialog beschleunigen, politischen Transformationsschritten gesellschaftlichen Rückhalt geben, in der Breite wirken sowie Spezialprobleme im Detail klären können. Auch öffnet sie ihre Türen für Friedensjournalismus, setzt ebenfalls auf die Mitwirkung von wirtschaftlichen Unternehmen sowie von zivilgesellschaftlichen Netzwerken, zollt auch machtpolitisch schwachen Friedenskräften und lokalen Initiativen Respekt, sucht sie auf, lässt sich von ihnen beraten, bringt sie ins Gespräch, unterstützt sie materiell wie ideell und öffnet Zugänge im Rahmen von flachen Hierarchien und horizontalen Strukturen.

Angesichts der Überlappung von Konfliktlinien sucht friedenslogische Politik Gelegenheiten für einen verstärkten Austausch von und mit möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Kräften. Sie organisiert diesen Austausch mehrgleisig, Ebenen und Lager übergreifend. Sie stiftet horizontale und vertikale Verbindungen zwischen den einzelnen Dialogfäden und fördert Friedensallianzen. Friedenslogische Politik respektiert die Vielfalt der Akteure und ihre Eigenarten, schafft Verbindungen zwischen Ressorts und Ebenen, beteiligt Regierungen, Parlamente, den diplomatischen Apparat und internationale Organisationen, insbesondere die Vereinten Nationen (VN).

Dimension Legitimität und das Prinzip der Einhaltung universaler Normen

In dieser Dimension geht es um die Quellen, mit denen die Legitimität von Interessen und Mitteln der Problembearbeitung beurteilt werden. In sicherheitslogischer Perspektive ist das Interesse an der eigenen Sicherheit gegenüber allen anderen Interessen vorrangig. Daher gelten Mittel als legitim, solange sie dem Schutz der Eigeninteressen dienen.

Friedenslogische Denkmuster dagegen prüfen die Legitimität von Interessen, des Konfliktverhaltens und der Mittel der Problembearbeitung auf der Grundlage universaler Normen. Auch wenn die Bewertung einzelner Fragen häufig strittig und die Normenbildung niemals abgeschlossen ist, so existieren doch geeignete und anwendbare Maßstäbe einer globalen Ethik, um das Handeln von direkt Konfliktbeteiligten wie auch von intervenierenden Akteuren zu beurteilen. Zu solchen Maßstäben gehören

  • rechtlich gefasste Normen, die sich aus dem Völkerrecht, aus dem System der Menschenrechte sowie aus internationalen Verträgen ergeben,
  • globale Vereinbarungen wie Entwicklungsziele (Millennium Development Goals) oder die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen,
  • ethische Grundregeln, die – mit Nuancen – allgemein gelten können.

Ein solcher Katalog ethischer Grundregeln wurde 1993 in der »Erklärung zum Weltethos« der Weltreligionen zusammengetragen. Er beinhaltet eine Kultur der Gewaltlosigkeit, Toleranz, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit sowie die Regel der Gegenseitigkeit: „Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ (Küng 2012) Ein weiterer Normenkatalog wurde 1997 mit der »Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten« formuliert und von einem breiten Spektrum hochrangiger Politiker von allen Kontinenten als Ergänzung zum Menschenrechtsdiskurs in die Vereinten Nationen eingebracht (Goodhill 2011). Für die deutsche Diskussion bildet vor allem die grundgesetzliche Verankerung der Menschenwürde den zentralen Anknüpfungspunkt zur Beurteilung von Legitimität (Heinemann-Grüder und Bauer 2013).

Friedenslogische Politik folgt dem Prinzip der Einhaltung universaler Normen und prüft an ihnen die Legitimität der eigenen Interessen und Handlungsweisen sowie die zur Problembearbeitung eingesetzten ideologischen, militärischen, ökonomischen und politischen Machtquellen. Sie sorgt für Transparenz hinsichtlich der Einhaltung des Prinzips und macht damit auch ihr eigenes Handeln vorausschaubar, nachvollziehbar und vertrauenswürdig. Wo universale Normen mit regionalen, lokalen Werten oder mit Bündniserwartungen konkurrieren, sucht friedenslogische Politik nach Wegen, Vereinbarkeit zu erreichen. Dies kann durch Anpassung an die universalen Normen wie durch Mitarbeit an deren Weiterentwicklung geschehen. Initiativen zum Fairen Handel, zur Verpflichtung von Wirtschaftsunternehmen auf die Standards des Globalpaktes (Menschenrechte, Umwelt, Korruption) und eine humanisierende Asyl- und Migrationspolitik haben sowohl Anpassung als auch Weiterentwicklung im Auge. Doppelstandards gefährden einen auf Interessenausgleich und Kooperation bedachten Friedensprozess.

Dimension Fehleinschätzungen und das Prinzip Reflexivität

In dieser Dimension geht es um die Irrtumsmöglichkeit und Fehlerhaftigkeit menschlichen Handelns und um die Reaktion, wenn die angestrebten Ziele der Problembewältigung nicht erreicht werden. Sicherheitslogische Denkmuster verschließen den Blick für selbstverschuldetes Scheitern. Sein Eingeständnis gilt als Schwäche, die durch Kontinuität, Verstärkung und Erweiterung der eingesetzten Mittel als ausgleichbar erscheint. Friedenslogische Denkmuster öffnen dagegen den Blick für die Grenzen, Bedingtheit und Vorläufigkeit des Handelns, für Fehleinschätzungen, für die Diskrepanzen zwischen intendierten und unerwünschten Ergebnissen, für Alternativen und für die Möglichkeiten, Schäden zu beheben, Verletzungen zu heilen und Neuanfänge zu wagen. Das Eingeständnis von Fehlern gilt ihr nicht als Schwäche, sondern als eine Fähigkeit, die zu verbesserten Resultaten führen kann.

Friedenslogische Politik übernimmt Verantwortung für den Prozess der Konflikttransformation. Sie plant die Möglichkeit ein, dass ihre Bemühungen fehlschlagen oder zusammenbrechen, und vermeidet irreversible Prozesse. Sie folgt dem Prinzip der Reflexivität und ist darauf angelegt, zu lernen, Entscheidungen zu revidieren, angerichteten Schaden und Verletzungen zu heilen und neue Wege zu gehen. Sie organisiert sich Kritik und hört sie. Supervisionen, Beobachtungen, Bewertungen sind Bestandteil der Arbeit an Konflikttransformation. Das in der entwicklungspolitischen Diskussion erprobte »Do-No-Harm«-Konzept ist für eine friedenslogische Politik richtungsweisend (Anderson:2004). Friedenslogische Politik ist überdies fehlerfreundlich nach außen, also sensibel für selbstkritische Signale aller Konfliktparteien und ermöglicht Umkehr.

Offene Fragen

Realitätstüchtigkeit

Friedenslogische Denkmuster und Politikentwürfe stehen unter dem Verdacht, unrealistisch, machtblind und nicht praktikabel zu sein. Einige Befunde sprechen gegen solche Einwände:

  • Friedenslogisch geprägte Praxisfelder haben sich teilweise mit politischer Unterstützung von Regierungen und Parlamenten entwickeln können. Sie haben sich in Kreisen der Zivilgesellschaft verbreitet und bieten heute vielen BürgerInnen Orientierung für ein qualifiziertes soziales und politisches Engagement im In- und Ausland. Ein Beispiel für professionalisiertes Engagement sind die Projekte des Zivilen Friedensdienstes.
  • Insbesondere im Rahmen internationaler Organisationen werden friedenslogische Prinzipien vielfach praktiziert. Auch in einigen außenpolitischen Aktionsfeldern – zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit und auswärtigen Kulturpolitik – sind friedenslogische Akzente in Abgrenzung von traditionellen sicherheits- und militärpolitischen Denk- und Handlungsmustern erkennbar.
  • Friedenslogische Prinzipien können politisches Handeln bestimmen, auch ohne dass sich Regierungen explizit dazu bekennen. So wurde das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit niemals als Regierungskonzept beschlossen. Gleichwohl haben die Regierenden in Ost und West am Ende des Kalten Krieges dieses Konzept und seine Prinzipien stillschweigend angewendet. Sie haben damit zum friedlichen Ende des Ost-West-Konfliktes und zur unerwartet gewaltarmen Auflösung der Sowjetunion und ihres Bündnissystems beigetragen. Voraussetzung war die breite und aktive Unterstützung des Konzepts in der Gesellschaft.

Allein die Höhe der Militär- und Rüstungsausgaben belegt jedoch, dass Friedenslogik den Primat sicherheitslogischen Denkens in der Politik bislang nicht hat ablösen können. Damit ist die Frage aufgeworfen: Unter welchen Bedingungen und wie können Regierungen motiviert werden, verstärkt friedenslogischen Denk- und Handlungsmustern zu folgen und darauf zu achten, dass sie die Entwicklung friedenslogisch inspirierter Politikpfade nicht durch Rückgriffe auf sicherheitslogische Traditionen gefährden? Diskutiert werden vor allem drei Ansätze:

  • Ausweitung, Qualifizierung und Politisierung der vielfältigen zivilgesellschaftlichen Praxis ziviler Konfliktbearbeitung; ähnlich wie im Fall der Energiewende soll so demonstriert werden, welche Alternativen es gibt und wie sie geschaffen werden können,
  • Überzeugungsarbeit in der Zivilgesellschaft und Aufbau von Gegenmacht, die den Regierenden einen Umstieg von Sicherheitslogik auf Friedenslogik abverlangt,
  • Erhöhung der Wirkungssicherheit durch verbesserte Nachweise der Ergebnisse, die durch Maßnahmen ziviler Konfliktbearbeitung erreicht werden.

Übergänge

Die Veränderung von Politik entsprechend friedenslogischer Prinzipien ist ein Prozess, der Legislaturperioden überschreitend gestaltet werden muss. Offene Gestaltungsfragen betreffen zum Beispiel

  • Koexistenz von Sicherheitslogik und Friedenslogik: Welche Brücken existieren aktuell zwischen dem sicherheitslogischen Konzept der »vernetzten Sicherheit« und einem Konzept des »vernetzten Friedens« und wie können sie genutzt werden? Wie kann in einer von Sicherheitslogik dominierten politischen Kultur dennoch eine Praxis friedenslogischer Politik ausgeweitet werden?
  • Konflikte zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren: Wie können staatliche und nichtstaatliche Akteure in der zivilen Konfliktbearbeitung kooperieren, ohne dass Letztere in einen Widerspruch zu friedenslogischen Zielen geraten, weil ihre Arbeit in das Konzept der vernetzten Sicherheit eingebettet ist und dort instrumentalisiert wird? Welche Verfahren zur Konfliktregelung können zwischen diesen machtungleichen Akteursgruppen institutionalisiert werden?
  • Zukunft von Militäreinsätzen: Kann Militär in der Gewaltprävention eine Rolle spielen? Wie ist Militär aus-, ab- und umzurüsten, wenn es wenig strittige Polizei- und Pufferfunktionen im Rahmen der Vereinten Nationen wahrnehmen soll?

Verantwortung in eskalierten Konflikten

Auf absehbare Zukunft wird es immer wieder Konflikte geben, die bis zum Krieg und Völkermord eskalieren – sei es, weil Gewaltprävention nicht versucht wurde, sei es, weil sie nicht erfolgreich war. Regierungen werden weiterhin unter Druck geraten, ihre Aktionsmacht gerade auch gegenüber der eigenen Öffentlichkeit zu beweisen, Sanktionen zu verhängen und militärisch zu intervenieren. Dieser Druck baut sich immer wieder auf, obwohl die Einwände bekannt sind. Sie reichen von der Einsicht, dass mit einer Schädigung des Aggressors dessen Bereitschaft zur Umkehr sinkt, seine gesellschaftliche Unterstützung wächst und die Lage der Bevölkerung sich verschlimmert, bis hin zu der Erfahrung, dass in der Regel eine Militärintervention unter Beachtung der Eigeninteressen von Interventionsmächten trotz der verschwenderischen Bevorratung militärischer Mittel gar nicht möglich ist, und wenn doch, nicht in der Lage ist, Krieg und Völkermord zu beenden, geschweige denn Frieden zu bewirken.

Friedenslogische Politik muss daher auch für den Fall von Konflikten, die sich mörderisch zuspitzen, Vorkehrungen treffen. Diese sollen die eigene Politik vor konfliktverschärfenden Fehlentscheidungen bewahren und es ermöglichen, friedenslogische Prinzipien als Teil einer universalen Friedensverantwortung auch gegen hohen, innengeleiteten medialen Druck überzeugend zu vertreten. Bedenken gegen Militärinterventionen und Warnungen vor deren wahrscheinlichen negativen Folgen müssen erkennbar von frühzeitig und kontinuierlich praktizierten friedensstiftenden Aktionen begleitet werden. Zu ihnen gehört immer die Ausweitung diplomatischer Bemühungen um Deeskalation und die Einhaltung von humanitären Mindeststandards. Zu ihnen gehören ferner immer Aktionen, die Menschen tatsächlich aus Not befreien, sei es durch Finanzierung der Arbeit des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in den Lagern, sei es durch die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in den Mitgliedsstaaten der EU. Mehr Transparenz und Offenheit für journalistische Begleitung solcher Aktionen, rhetorische und mediale Deeskalationsbemühungen, großzügige humanitäre Aktionen unter breiter öffentlicher Beteiligung und Konsultationen mit nichtstaatlichen Akteuren ziviler Konfliktbearbeitung sind Möglichkeiten, auch in eskalierten Konflikten friedenslogische Alternativen öffentlich sichtbar zu machen.

Literatur

Mary B. Anderson (2004): Experiences with Impact Assessment: Can we know what Good we do? In: Alex Austin et. al. (eds.): Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook for Conflict Transformation. Berlin: Berghof Research Center for Constructive Conflict Management (heute: Berghof Foundation), S.193-206.

Hanne-M. Birckenbach (2012): Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft. Wissenschaft und Frieden 2-2012, S.42-47.

Lothar Brock (2005): Neue Sicherheitsdiskurse. Vom »erweiterten Sicherheitsbegriff« zur globalen Konfliktintervention. Wissenschaft und Frieden 4-2005, S.18-21.

Dietrich Fischer (2007): Peace as a self-regulating process. In: Charles Webel and Johan Galtung (eds.): Handbook of peace and conflict studies. Abingdon/UK: Routledge, S.187-205.

Ulrich Frey (2012): Zur Elementarisierung einer Friedenslogik statt Sicherheitslogik: Gerechter Friede und menschliche Sicherheit. In: Gerechter Friede – eine unerledigte Aufgabe. Zur Kritik der evangelischen Friedensethik. epd-Dokumentation 26 vom 26.06.2012.

Independent Commission on Disarmament and Security Issues (1982): Common Security. A Blueprint for Survival. New York.

Johan Galtung (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Jane Goodhill (Hrsg.) (2011): Menschenpflichten. Eine (Liebes-) Erklärung in 19 Artikeln. Frankfurt am Main: Edition Büchergilde.

Andreas Heinemann-Grüder und Isabella Bauer (Hrsg.) (2013): Zivile Konfliktbearbeitung. Vom Anspruch zur Wirklichkeit. Opladen: Budrich.

Sabine Jaberg (2012): Sicherheitspolitik zwischen immanenten Tücken und Gestaltungsspielräumen – einige kategoriale Reflexionen. Sicherheit und Frieden 2-2012, S.87-93.

Hans Küng (2012): Handbuch Weltethos. Eine Vision und ihre Umsetzung. München: Piper.

Misereor (Hrsg.) (2014): Bericht 2014 – Globales Wirtschaften und Menschenrechte. Deutschland auf dem Prüfstand. Aachen: MISEREOR.

Plattform Zivile Konfliktbearbeitung e. V. (2013): Friedenspolitische Forderungen zur Bundestagswahl 2013. Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen. Mai 2013; konfliktbearbeitung.net.

Eva und Dieter Senghaas (1996): Si vis pacem, para pacem. Überlegungen zu einem zeitgemäßen Friedenskonzept. In: Berthold Meyer (Red.): Eine Welt oder Chaos? Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.245-275.

Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist Friedensforscherin und war bis 2012 Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Die Autorin dankt insbesondere Ulrich Frey, Christiane Lammers und Sina Schüssler für ihre hilfreichen und anregenden Kommentare zu einer ersten Fassung des Manuskripts.

Sicherheitslogik

Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen

von Sabine Jaberg

Gibt es eine Sicherheitslogik? Wer diese Frage mit »Ja« beantwortet, unterstellt, dass die Verwendung des Sicherheitsbegriffs einen gewissen Denkstil präjudiziert, der auch die ihm folgende Praxis prägt. Demnach handelt es sich beim Versuch, diese Logik aufzuspüren, nicht um akademisches Glasperlenspiel. Zentrale Bedeutung kommt Thomas Hobbes’ Schrift »Leviathan«1 von 1651 zu. Dies gilt zumindest dann, wenn zwei Prämissen geteilt werden: Erstens habe das Werk in historisch-genetischer Perspektive das Sicherheitsdenken freigesetzt. Daraus ergebe sich zweitens die Möglichkeit, dessen Logik mit Hilfe hermeneutischer Verfahren herauszufiltern. Im Folgenden soll es zuerst darum gehen, die Tücken der Sicherheitslogik aufzuzeigen, um danach Möglichkeiten der Sicherheitspolitik auszuloten, diese zumindest abzumildern.

Tücken der Sicherheitslogik

Die Sicherheitslogik weist mehrere tückische Charakteristika auf: Sie ist selbstbezüglich, kennt keine immanenten Grenzen und neigt zur Dramatisierung der Lage ebenso wie zur Eskalation im Handeln (siehe auch Tabelle 1).

Tabelle 1: Tücken der Sicherheitslogik und ihre Auswege

Tücken Auswege? Erfolg/Effekte?
Selbstbezüglichkeit(eigene Interessen als Monokategorie, prinzipieller Feindverdacht gegenüber anderen Akteuren, blinde Flecken: Struktur, eigener Anteil am Problem) Blickfeldveränderung 1: selbstreflexive Wende innerhalb realistischer Sicherheitspolitik (z.B. internationale Sicherheit, Berücksichtigung struktureller Ursachen und des eigenen Problemanteils) Symptommilderung
Blickfeldveränderung 2: Neuerfindung eines inklusiven Sicherheitsbegriffs, Theoriensprung zum Idealismus (z.B. »human security«) Ergänzung zum eigenbezüglichen Sicherheitsbegriff
Grenzenlosigkeit Errichtung äußerer Schranken (insbesondere Recht, aber auch Diskurs, soziale Bewegungen, andere Mächte) abhängig von der Unterwerfungsbereitschaft der Politik und der Stärke der Gegen­kräfte
a) Mittel Konditionierung der Sicherheitspolitik jenseits von Selbstverteidigung auf nicht-militärische Mittel Unterminierung möglich durch weiten, vernetzten Sicherheits­begriff und Umdeutungen von Angriffs- in Verteidigungskriege
b) Zeitrahmen Option 1: Befristung des Selbstverteidigungsrechts äußerstenfalls auf unmittelbar bevorstehende militärische Angriffe (Präemption) Unterminierung möglich durch Umdeutungen von präventiver bzw. antizipatorischer Selbstverteidigung in Präemption
Option 2: Befristung des Selbstverteidigungsrechts auf gegenwärtige Angriffe eher normative Klarheit als substantielle Lösung
c) Sektor, geographische Reichweite Beschränkung des Sicherheitsbegriffs auf existentielle Bedrohungen durch personale Großgewalt Begrenzung zunächst »nur« des Sicherheitsdiskurses
d) Subjektivierung / Totalisierung Begründungszwang / Mitwirkung aller Gewalten Versachlichung / Pluralisierung der Sicherheitspolitik
Dramatisierung der Lage / Eskalation im Handeln (»securitization«) sparsame Verwendung des Sicherheitsbegriffs / Fokussierung des Sicherheitsdiskurses auf personale Großgewalt Begrenzung des Dramatisierungspotentials und der Eskalations­anlässe

Selbstbezüglichkeit

Hobbes selbst verzichtet zwar auf eine explizite Definition des Sicherheitsbegriffs, den er jedoch implizit im Sinne einer Schutzverpflichtung des Staats gegenüber seinen Bürgern begreift. Unter Staat versteht Hobbes jene „allgemeine Macht […] unter deren Schutz gegen auswärtige und innere Feinde die Menschen bei dem ruhigen Genuß der Früchte ihres Fleißes und der Erde ihren Unterhalt finden können“.2 Die erfolgreiche Ausübung dieser Schutzfunktion stellt nach Hobbes die notwendige Voraussetzung dar, unter der dem Individuum ein den Naturzustand überwindender Gesellschaftsvertrag überhaupt zugemutet werden kann. Denn mit ihm tritt es „[s]ein Recht, [s]ich selbst zu beherrschen“,3 an eine übergeordnete Instanz ab. Da sich die Existenz eines Staats einzig aus der Schutzfunktion rechtfertigt, wird die Sicherheitsgewährleistung für die eigene Bevölkerung zum entscheidenden Maßstab des Handelns. Dem Staat geht es als Schutzpatron seiner Bevölkerung letzten Endes um seine Sicherheit, seine Macht, seine Interessen. Sie hat er nach Hobbes gegen »innere und äußere Feinde« zu verteidigen. Demnach korrespondiert die Selbstbezüglichkeit mit einer Fokussierung auf den Akteur, die den jeweils anderen zuerst unter Feindverdacht nimmt. Damit generiert die Sicherheitslogik zwei blinde Flecken: Zum einen gerät der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, aus dem Sichtfeld. Zum anderen gilt der Feind nicht nur als Symptom, sondern er erscheint auch als Urheber der Gefahr. Dieser personalisierte Blick vermag tiefer liegende strukturelle Ursachen kaum zu erfassen.

Entgrenzungen

Sicherheitslogik kennt aus sich selbst heraus keine Grenzen.4 Im Gegenteil bemüht sie sich darum, Hindernisse, die ihrer Entfaltung im Wege stehen, zu beseitigen:

  • Die erste Entgrenzung bezieht sich auf die für prinzipiell zulässig erachteten Mittel. Bei Hobbes liest sich dies folgendermaßen: „[W]em die Erhaltung […] der allgemeinen Sicherheit obliegt, dem muß auch der freie Gebrauch aller dazu dienlichen Mittel zugestanden werden.“5 Dazu zählt nicht zuletzt die Entscheidung über Krieg und Frieden: „[D]ie höchste Gewalt [muß] Krieg gegen andere Staaten nach Gutdünken beschließen oder mit ihnen Frieden machen, das heißt beurteilen können, ob ein Krieg ihrem Staate vorteilhaft oder nachteilig sein werde […].“ 6 Die einzigen beschränkenden Instanzen sind demnach funktionale Angemessenheit und einzelfallbezogene Kosten-Nutzen-Kalküle.
  • Die zweite Entgrenzung befreit Sicherheit aus jedem Zeitrahmen. Denn dem Staat gebührt – so Hobbes – „das Recht, sowohl in der Gefahr selbst wie zu ihrer Abwendung schon vorher das Nötige zu veranstalten, damit die Bürger im Innern und von außen her in Sicherheit leben […]“.7 Folglich adressiert die Sicherheitslogik nicht nur reaktiv akute Gefahren, sondern greift bereits »präventiv« auf potentielle Bedrohungen aus.
  • Die dritte Entgrenzung erlaubt es der Sicherheitslogik, sich in jeden inhaltlichen Sektor und in jeden geographischen Raum vorzuschieben. Denn für Hobbes ist „mit der höchsten Gewalt auch das Recht verbunden zu entscheiden, was zur Erhaltung oder zur Störung des Friedens dienen kann“.8 So autorisiert er den Staat zur „Beurteilung aller Meinungen und Lehren, weil diese nicht selten Grund […] von Bürgerkrieg sind“.9 Allerdings dient dieses innenpolitische Beispiel lediglich der Illustration. Hobbes hat es ganz unter dem Eindruck blutiger Auseinandersetzungen zwischen Krone und Parlament (1642-1648) in England gewählt. Unter anderen Zeitumständen hätten andere Bedrohungen im Mittelpunkt gestanden. Dabei bedeuten geographische Entfernungen keine prinzipiellen Schranken. Entscheidend ist allein die Einschätzung der höchsten Gewalt, was den Frieden – im Sinne staatlicher Schutzverpflichtung – gefährden und was ihn fördern kann.
  • Die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit leitet argumentativ zur vierten Entgrenzung über. Hobbes gibt keine überprüfbaren Kriterien vor, die eine Bedrohung erfüllen muss, um mit gutem Grund als Sicherheitsgefährdung zu gelten. Er bestimmt lediglich die Instanz, der das Entscheidungsmonopol obliegt: den „Oberherren“.10 An seiner Person hänge die Einigkeit des Staats und von dieser die Stärke der Kriegsheere ab. Damit leistet die Sicherheitslogik einer radikalen Subjektivierung Vorschub. Sicherheit ist demnach das, was der »Oberherr« als Sicherheit einstuft und behandelt. Sie begünstigt darüber hinaus eine Totalisierung. Denn jede Gewaltenteilung trüge nach Hobbes zur Schwächung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Staats und damit zur Erosion seiner Schutzfunktion bei.

Dramatisierung und Eskalation

Hobbes’ Sicherheitsbegriff besitzt sowohl einen Lage- als auch einen Handlungsbezug. Deren Zusammenspiel nennt die so genannte Kopenhagener Schule in ihrem »securitization«-Ansatz „security form“ 11 oder auch „grammar of security“.12

  • Sicherheit beschreibt eine Lage, in der der Schutz der eigenen Bevölkerung gegen auswärtige und innere Feinde gewährleistet ist. Als Folge können die Menschen – um Hobbes’ Redewendung aufzugreifen – die Früchte ihres Fleißes in Ruhe genießen. Demnach wäre im Stadium der Unsicherheit die Bevölkerung inneren oder äußeren Feinden schutzlos ausgeliefert und könnte ihrem Alltag nicht ungestört nachgehen. Sicherheit gewährleistet das physische Überleben, Unsicherheit gefährdet es. Insofern enthält jede Sicherheitsbedrohung eine existentielle Dimension.
  • Der Sicherheitsauftrag legitimiert den Staat nach Hobbes dazu, sich zu jeder Zeit all jener Instrumente zu bedienen, die er für erforderlich erachtet – militärische Gewalt eingeschlossen. Der Verweis auf die Sicherheitsdimension leistet damit einer Eskalation im Handeln Vorschub. Er gestattet den Rekurs auf das äußerste Mittel, den Krieg. Ohnehin erhebt Hobbes das „Recht über die Kriegsheere […] an und für sich“ zur „höchste[n] Gewalt“, weil seines Erachtens „darin die ganze Stärke des Staates besteht“.13 Gemäß Sicherheitslogik stellen Hochrüstung und Kriege »normale« Handlungsformen dar.

Auswege der Sicherheitspolitik

Wie kann Sicherheitspolitik die Tücken der Sicherheitslogik überformen? Gegen Selbstbezüglichkeit helfen Blickfeldveränderungen. Grenzenlosigkeit verlangt nach Schranken. Das Dramatisierungs- und Eskalationspotential ruft nach einer Refokussierung des Sicherheitsdiskurses.

Blickfeldveränderungen

Der Selbstbezüglichkeit wirken zwei Strategien zur Veränderung des Blickfelds entgegen:

  • Innerhalb einer »realistischen« Weltsicht lässt sich die Selbstbezüglichkeit zwar nicht überwinden, aber doch mildern. Hierzu bietet sich die Kategorie internationaler Sicherheit an – sei es im Weltmaßstab als »globale Sicherheit« oder im geographisch begrenzten Raum als »regionale Sicherheit«. Anders als beim nationalen Pendant geht es hier nicht um die isolierte Betrachtung eines Staats, sondern dieser wird Teil einer Gesamtkonstellation. Eine solche Einbindung nötigt ihn systematisch, um der eigenen Sicherheit willen auch Interessen und Perspektiven anderer Akteure zu berücksichtigen. Wenngleich letzteren aus Sicht des jeweiligen Staats keine eigenständige, sondern lediglich eine von seinem Kalkül abhängige Wertigkeit zukommt, so eröffnen sich hier Chancen auf eine eher kooperativ als konfrontativ angelegte Sicherheitspolitik. Und je selbstreflexiver sie wird, desto eher lassen sich blinde Flecken wie der eigene Beitrag zur Problementstehung ausleuchten und verkürzte Perspektiven vom Akteur auf zugrunde liegende Strukturen verlängern.
  • Zumindest auf den ersten Blick besteht eine radikalere Alternative darin, den Sicherheitsbegriff aus dem angestammten Theorierahmen des »Realismus« herauszulösen und in einen eher »idealistischen« Kontext einzufügen. Dies käme einer Neuerfindung des Sicherheitsbegriffs gleich. In eine solche Richtung weist der »human security«-Ansatz. All seine Varianten verfügen über zwei Gemeinsamkeiten: Sie fokussieren ohne Umweg über den Staat direkt auf den einzelnen Menschen. Und sie ersetzen das Prinzip der Exklusivität durch das der Inklusivität. Mithin geht es nicht mehr um die besondere Sicherheit von Angehörigen eines bestimmten Staatsverbands, sondern um die Sicherheit eines jeden Menschen. Offenbar unternimmt das Konzept der »human security« eine sicherheitspolitische Reformulierung friedenswissenschaftlicher Basiskategorien.14 In Johan Galtungs Begriffsrepertoire ausgedrückt entspricht die enge »kanadische« Variante »freedom from fear« dem »negativen Frieden« im Sinne einer Abwesenheit personaler Großgewalt. Demgegenüber betont die weite »japanische« Variante »freedom from want« ähnlich dem »positiven Frieden« den Aspekt nachhaltiger menschlicher Entwicklung. Deshalb bezieht sie zusätzliche lebensrelevante Faktoren ein. Hierzu zählen Ökonomie, Gesundheit, Ökologie, Gesellschaft und Politik. Die »europäische« Variante fokussiert wiederum etwas enger auf Menschenrechte und Rechtssicherheit.15 Im Konzept menschlicher Sicherheit ist es durchaus möglich, die Grenze zwischen idealistischem Friedensdenken und realistischem Sicherheitsdenken zu überwinden. Auf den zweiten Blick dürfte eine Herangehensweise, die sich aus Perspektive des wohlhabenden und befriedeten »Westens« zunächst altruistisch auf andere zu beziehen scheint, eher als Ergänzung denn als Alternative zum etablierten eigennützigen Sicherheitsbegriff taugen, der seit Jahrhunderten den Staat als Schutzpatron seiner Bevölkerung konstruiert.

Errichtung von Schranken

Immanentes Begrenzungspotential kennt die Sicherheitspolitik kaum: Es erschöpft sich in negativen Kosten-Nutzen-Kalkülen bzw. im Verdacht auf unangemessene Zweck-Mittel-Relationen. Bereits im Konstrukt internationaler Sicherheit sind es aus Sicht des politischen Akteurs letztlich die Interessen und Fähigkeiten der anderen, die dem eigenen Sicherheitsstreben Grenzen setzen. Dauerhafte Schranken lassen sich demnach nicht den Eigenbewegungen der Sicherheitslogik entnehmen, sondern sie müssen ihr von außen gesetzt werden.

Als begrenzende Instanz kommt vornehmlich das Recht in Betracht. Seine Aufgabe besteht ja gerade darin, Erlaubnis- und Verbotsräume möglichst klar voneinander zu separieren, aber auch Verfahren der Entscheidungsfindung zu fixieren. Allerdings stehen nicht alle sicherheitsrelevanten Aspekte einer Verrechtlichung offen. Insbesondere politische Diskurse lassen sich nicht auf diese Weise reglementieren, leben sie doch vom freien Austausch der Argumente. Deshalb gilt es, sowohl die konzeptionelle Ausgestaltung als auch die praktische Umsetzung amtlicher Sicherheitspolitik kritisch zu begleiten, Gegendiskurse zu etablieren und politischen Druck aufzubauen.

Welche Schranken ließen sich mit welchen Effekten setzen?

  • Über die Einschränkung der Mittel gibt bereits die Charta der Vereinten Nationen (UN) Auskunft: Sie unterwirft die Staaten bei der Verfolgung ihrer Anliegen in Artikel 2 (Absatz 4) einem absoluten Gewaltverbot. Einzig im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ erlaubt sie in Artikel 51 den Einsatz militärischer Mittel. Unterhalb dieser Schwelle legt sie Sicherheitspolitik auf friedliche Instrumente fest. Allerdings versuchen Staaten gemäß der Sicherheitslogik, Verbotsräume für sich zu öffnen – sei es, dass sie Angriffskriege in Verteidigungskriege umdeuten oder diese gar inszenieren, sei es, dass sie das militärische Instrument in komplexe (vernetzte, umfassende) Sicherheitskonzeptionen einspeisen und auf diese Weise gleichsam verschwinden lassen.
  • Zumindest das Selbstverteidigungsrecht als äußerster Ausdruck der Sicherheitslogik lässt sich in einen festen Zeitrahmen einspannen. Auch hier hält die UN-Charta eine entsprechende Regelung parat. Denn Artikel 51 erlaubt den Einsatz militärischer Mittel einzig zur Abwehr eines (gegenwärtigen) bewaffneten Angriffs – und auch dies nur solange, bis der UN-Sicherheitsrat „die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Das Gewohnheitsrecht gestattet darüber hinaus äußerstenfalls noch die präemptive Selbstverteidigung gegen unmittelbar bevorstehende kriegerische Attacken. Kategorisch verboten ist jedoch eine militärische Generalprävention, die auch alles ins Visier nimmt, was sich erst in Zukunft möglicherweise zu einer Gefährdung aufbauen könnte. Allerdings versuchen Staaten immer wieder, in verbotene Räume vorzustoßen. Erinnert sei an die Konstruktion eines »Rechts« auf „antizipatorische Selbstverteidigung“, das die USA in ihrer nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 dann für sich reklamieren, „wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird“.16 Noch hat sich die Umdeutung (verbotener) militärischer Generalprävention zur zeitgemäßen Variante (erlaubter) präemptiver Selbstverteidigung nicht durchgesetzt. Sie entspricht aber ganz der Sicherheitslogik. Hier drängt sich dann die Frage auf, ob im Interesse der Friedensverträglichkeit nicht auf die Konstruktion eines missbrauchsanfälligen Rechts auf Präemption verzichtet werden sollte. Allerdings brächte dies eher eine Klärung auf der normativen Ebene als eine substantielle Lösung. Faktisch käme den geschätzten Konsequenzen einer anderweitig nicht mehr abzuwendenden militärischen Attacke wohl entscheidendes Gewicht zu. Drohte gar die Totalvernichtung, nähme die Pflicht zur Erduldung des Angriffs absurde Züge an: Dann ließe sich zwar der Tatbestand der Aggression eindeutig nachweisen, das Opfer, das sich gegen sie wehren dürfte, existierte aber nicht mehr. Darauf dürfte sich kaum ein Staat einlassen. Dennoch gilt: Je restriktiver das Recht auf Selbstverteidigung einschließlich der Präemption gefasst ist, desto stärker mahnt es zur militärischen Zurückhaltung.
  • Die Tendenz der letzten Jahre, sowohl den sektoralen Einzugsbereich als auch die geographische Reichweite des Sicherheitsbegriffs auszuweiten,17 d.h. immer mehr Probleme der Sicherheitslogik zu unterwerfen, gilt es umzukehren. Hierzu bietet sich an, den sicherheitspolitischen Diskurs auf existentielle Bedrohungen durch personale Großgewalt zu beschränken. Hierunter werden zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege, Völkermorde oder auch folgenträchtige terroristische Anschläge gefasst. Allerdings lassen sich etablierte Diskurse nicht einfach korrigieren oder gar aus der Welt schaffen, die mit ihnen eroberten Erlaubnisräume nicht zügig schließen. Insofern können Plädoyers für eine Engführung des Sicherheitsbegriffs zunächst lediglich Impulse für entsprechende Beschränkungen setzen.
  • Der Subjektivierung und Totalisierung von Sicherheitspolitik lässt sich Einhalt gebieten. Der Ermessensspielraum des »Oberherrn« kann zum einen durch öffentliche Diskurse beschnitten werden, die sachgemäße Begründungen einfordern und Alternativen thematisieren. Aber auch eine institutionell abgesicherte Pluralisierung sicherheitspolitischer Entscheidungsprozesse vermag einer Subjektivierung gegenzusteuern, sofern unterschiedliche Institutionen auch unterschiedliche Sichtweisen einbringen. Zumindest jedoch schiebt die Gewaltenteilung, die heutige Demokratien gegenüber dem Hobbes’schen Leviathan auszeichnet, der Totalisierung einen Riegel vor. Ganz in diesem Sinne stellt das Bundesverfassungsgericht mit seinem Streitkräfteurteil von 1994 die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten unter einen konstitutiven Parlamentsvorbehalt. Das schließt jedoch weder Versuche der Exekutive zur Erweiterung ihres autonomen Ermessenspielraums noch Bestrebungen zur Zusammenführung von Sicherheitsapparaten aus.

Refokussierung des Sicherheitsdiskurses

Sicherheitspolitik zielt auf das eigene Überleben. Die damit einhergehende Gefahr einer Dramatisierung der Lage und einer Eskalation des Handelns in den Notwehrmodus lässt sich zwar nicht bannen, durch Reduktion entsprechender Anlässe aber verkleinern. Hierzu bietet sich an, den Sicherheitsdiskurs auf existentielle Bedrohungen in Form personaler Großgewalt zu begrenzen. Hierin spiegelt sich der Hobbes’sche Schutzgedanke konzentriert wider. Gleichzeitig verbleibt die Auseinandersetzung mit den meisten Problemen im »Normalmodus«, der politische Lagen weder existentiell auflädt noch militärische Lösungen favorisiert. Gleichwohl besteht zum einen das Dramatisierungs- und Eskalationspotential dort fort, wo der Sicherheitsbegriff weiterhin Verwendung findet – und seien Lageanalysen noch so sorgfältig erstellt, Handlungsoptionen noch so skrupulös ausgelotet. Zum anderen droht die Gefahr, wonach vom Sicherheitsdenken »befreite« Räume von Diskursen »besetzt« werden, die sich zwar um andere Begriffe ranken, aber ebenfalls den Einsatz militärischer Mittel legitimieren können. Dazu zählen eher dem »Realismus« entsprungene Kategorien (z.B. Macht, Interesse, Bündnissolidarität),18 aber auch dem »Idealismus« zugeneigte Figuren wie die »responsibility to protect«.19 Diese nimmt die Staatengemeinschaft in die Pflicht, Menschen vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Jedes der genannten »Argumente« für den Einsatz der Streitkräfte bedürfte einer eigenen kritischen Überprüfung.

Fazit

Der friedenswissenschaftliche Anspruch gerät in ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite sind der Sicherheitslogik einige Tücken eingeschrieben, die den Verzicht auf den Sicherheitsbegriff nahe legen. Demgemäß forderte Ekkehart Krippendorff bereits in den 1980er Jahren, die Politik von „falschen Fragestellungen wie der nach »Sicherheit« zu befreien“.20 Auf der anderen Seite lässt sich in Anlehnung an Franz-Xaver Kaufmann argumentieren, eine vollständige Abstinenz gegenüber dem Sicherheitsbegriff ignoriere einen (anthropologisch wie sozial relevanten) Teil der »Wirklichkeit«.21 Denn das Streben nach Sicherheit gilt durchaus als konstitutives menschliches Attribut. Sicherheit avanciert somit zur quasi unvermeidbaren Kategorie.

Im Umgang mit dem Spannungsfeld bestehen zwei Optionen, die praktisch einander sinnvoll ergänzen können: Da gibt es zum einen die Entspannungsstrategie, die Sicherheitspolitik im Sinne der vorherigen Ausführungen entdramatisiert und deeskaliert. Zum anderen zielt eine Umgehungsstrategie darauf, die nunmehr im Sicherheitsparadigma konstruierten Problemfelder (z.B. Migration, Piraterie) im Lichte eines gerechten Friedens neu zu formulieren. Dem öffentlichen Diskurs täte eine solche Pluralisierung allemal gut. Allerdings sollte dies nicht von der Pflicht entbinden, das mühsame Ringen um eine „friedensverträgliche Sicherheitspolitik“ 22 (Karlheinz Koppe) aufzunehmen. Sicherheit ist zu wichtig, um sie ihren Apologeten zu überlassen.

Anmerkungen

1) Thomas Hobbes (1651): Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Philip Reclam jun., 1980. Als Leviathan bezeichnet Hobbes den Staat.

2) Ebd., S.155.

3) Ebd., S.155.

4) Ein Hinweis auf diesen Sachverhalt findet sich bereits bei Lothar Brock: Der erweiterte Sicherheitsbegriff: Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung. Die Friedens-Warte, 3-4/2004, S.323-343, hier S.325.

5) Hobbes, op.cit., S.163.

6) Ebd., S.162.

7) Ebd., S.160.

8) Ebd., S.161.

9) Ebd., S.161.

10) Ebd., S.162.

11) Barry Buzan, Ole Waever, Jaap de Wilde (1998): Security. A New Framework for Analysis. Boulder, London: Lynne Rienner, S.33.

12) Ebd., S.33.

13) Hobbes, op.cit., S.162.

14) Johan Galtung (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt, S.7-59.

15) Cornelia Ulbert und Sascha Werthes (2008): Menschliche Sicherheit – Der Stein der Weisen für globale und regionale Verantwortung? In: dies. (Hrsg.): Menschliche Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, Eine Welt – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden 21, S.13-27.

16) Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika (2002). Washington: White House, Übersetzung des Amerika-Dienstes, S.23.

17) Christopher Daase: Der erweiterte Sicherheitsbegriff. Frankfurt am Main: Projekt Sicherheitskultur im Wandel an der Goethe-Universität Frankfurt, Working Paper 1/2010.

18) Neue Macht. Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch (2013). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United States (GMF).

19) Frazer Egertonund W. Andy Knight (eds.) (2012): The Routledge Handbook of the Responsibility to Protect. London; New York: Routledge.

20) Ekkehart Krippendorff (1983): Einseitige Abrüstung. In: Ekkehart Krippendorff und Reimar Stuckenbrock (Hrsg.) (1983): Zur Kritik des Palme Berichts. Atomwaffenfreie Zonen in Europa. Berlin: Verlag- und Versandbuchhandlung Europäische Perspektiven, Schriftenreihe des AK atomwaffenfreies Europa 1), S.211-222, hier S.217.

21) Franz-Xaver Kaufmann (1973): Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 2., umgearbeitete Auflage.

22) Karlheinz Koppe: Exkurs zum Friedensbegriff in der Friedenswissenschaft. In: Dieter Senghaas und Karlheinz Koppe (Hrsg.) (1990): Friedensforschung in Deutschland. Lagebeurteilung und Perspektiven für die neunziger Jahre. Dokumentation eines Kolloquiums Berlin 17.-19. Juli 1990. Bonn: Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, S.106-110, hier S.110.

Dr. Sabine Jaberg ist Dozentin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedensforschung an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

Handlungsräume ziviler Konfliktbearbeitung im Zeichen der Friedenslogik – eine Skizze

von Christiane Lammers

Zivile Konfliktbearbeitung« ist ein Begriff mit mehreren Bedeutungen: Er heißt auf jeden Fall: Konflikte mit nicht-militärischen Mitteln bearbeiten; er kann auch heißen: nicht staatliches Handeln, d.h. Handeln durch zivilgesellschaftliche Akteure.

Hiervon ausgehend wird im Folgenden skizziert, welchen Beitrag Dritte, also Nichtbeteiligte, leisten können, damit eine »gerechte«, nicht gewaltförmige Bearbeitung eines Konflikts ermöglicht wird.

90 Prozent der derzeitigen gewaltförmigen Konflikte sind innerstaatliche und damit auch innergesellschaftliche Konflikte. Ob nach dem Ende des Ost-Westkonflikts oder, um ein zweites Datum eines Paradigmenwechsels zu nennen, nach dem 11. September 2001 eine Zunahme des Anteils innergesellschaftlicher Konflikte zu verzeichnen ist, ist durchaus strittig. Dies mag einer unterschiedlichen Wahrnehmung oder dem Blick auf bestimmte Konfliktursachen oder -auswirkungen geschuldet sein. Konfliktakteure und von Konflikten Betroffene sind immer Menschen. Damit haben Konflikte neben der politischen auch eine individuelle und eine gesellschaftliche Dimension. Die Konfliktursachen liegen weniger in dem abstrakten oder eindimensionalen Ringen um staatliche Macht und nationale Interessen als vielmehr in gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Ebenso bleiben die Konfliktauswirkungen nicht auf staatliche und politische Institutionen begrenzt, sondern ein gewaltförmiger Konflikt verändert die gesellschaftliche Wirklichkeit. Gewalthandeln wird auf den verschiedenen Ebenen tradiert, Gewalt wird gesellschaftlich »kultiviert«, und sie verselbständigt sich. Aus Gewalt entsteht oft neue Gewalt; die Komplexität eines Konfliktes nimmt insbesondere bei einer Eskalation hin zu Gewalt nicht ab, sondern zu.

Eine »Einmischung« Dritter kann in solchen Konflikten hilfreich und aus humanitären Gründen auch geboten sein, entscheidend für die zivile Konfliktbearbeitung und ihren Erfolg sind aber die Konfliktbeteiligten: Der Schlüssel liegt bei den staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Konflikt selbst.

Was ist nötig, damit die Einmischung Dritter sinnvoll ist?

  • Eine adäquate Konfliktanalyse ist zu erstellen, um die Ursachen und den Verlauf eines Konflikts zu verstehen.
  • Die Auswirkungen des Konflikts und mögliche weitere Folgen sind zu bedenken.
  • Die Dimensionen des Konflikts sind zu erkennen.
  • Die Akteure sind zu identifizieren: diejenigen, die im Konflikt agieren, die von dem Konflikt betroffen sind, wie auch die, die den Konflikt konstruktiv oder destruktiv beeinflussen können.

Möglichst frühzeitig sollte die Analyse erarbeitet werden, um rechtzeitig, wo möglich präventiv, tätig werden zu können.

Gesellschaftliche Handlungsräume

Wie können externe zivilgesellschaftliche Kräfte die zivile Bearbeitung von Konflikten unterstützen? Zunächst ist der Blick auf die eigenen Zusammenhänge zum Konfliktgeschehen zu richten:

  • Konfliktsensibilität entwickeln, genau hinschauen, solidarische Verantwortung entwickeln;
  • das Wissen über konkrete Konflikte an politische und gesellschaftliche Akteure weitergeben;
  • die eigene Verstrickung in aktuelle Konflikte problematisieren und eigene Handlungskonsequenzen ziehen;
  • die staatliche Unterstützung einwerben, die die Partner vor Ort und man selbst für die Arbeit in der Konfliktregion benötigen;
  • die entsprechenden, auch internationalen, politischen Rahmenbedingungen und Maßnahmen einfordern, die friedensförderndes Handeln ermöglichen und gewalttätiges Handeln verhindern.

Desweiteren werden im Folgenden acht Handlungsräume benannt, die zivilgesellschaftliche Akteure als Dritte in Konflikten mitgestalten können. Exemplarisch wird jeweils kurz auf konkrete Projekte zivilgesellschaftlicher Organisationen verwiesen. Die meisten Beispiele wurden aus der Arbeit im Israel/Palästina-Konflikt ausgewählt, um zu verdeutlichen, dass es auch jenseits einer politischen Konfliktlösung Handlungsmöglichkeiten gibt. Gerade in Bezug auf diesen Jahrzehnte dauernden Konflikt ist die Verschränkung zwischen der gesellschaftlichen und der politischen Dimension besonders eng, und es wird keine politisch nachhaltige Lösung ohne eine gesellschaftliche Konfliktbearbeitung geben.

Humanitäre Hilfe

In Nablus und Hebron bieten die Ärzte ohne Grenzen medizinische, psychologische und soziale Unterstützung für die vom Konflikt betroffenen Menschen an. Im Jahr 2012 nahmen die psychologischen Beratungen um 50 Prozent zu. In Ost-Jerusalem, wo die Teams psychologische und soziale Hilfe anbieten, verdreifachte sich die Anzahl der Patienten. Fast ein Drittel von ihnen ist unter 18 Jahren. Angststörungen, Depressionen, Verhaltensauffälligkeiten und posttraumatische Belastungsstörungen kommen sehr häufig vor.

Seit 2002 organisiert das Komitee für Grundrechte und Demokratie, aufbauend auf langjährige Erfahrung mit dem Projekt »Ferien vom Krieg« mit inzwischen mehr als 20.000 Kindern und Jugendlichen aus den Balkankriegsgebieten, Feriencamps für israelische und palästinensische Kinder und Jugendliche. Neben dem Ferienerlebnis ist der »Dialog zwischen Feinden« ein zentrales Element der Camps.

Schutzmaßnahmen ergreifen

In dem von Pax Christi und anderen entwickelten »Ökumenischen Friedensdienst in Palästina und Israel« begleiten Freiwillige gefährdete Personen bei ihren Alltagsgeschäften und schützen sie durch ihre gewaltfreie Präsenz.

Amnesty International und andere verbreiten Petitionen an die israelische Regierung gegen die Inhaftierung von Militärdienstverweigerern und versuchen diese so durch internationale Aufmerksamkeit zu schützen.

Die Organisation International Women’s Peace Service initiiert internationale Ernteeinsätze in palästinensischen Olivenhainen, die von der Abholzung durch israelische Siedler bedroht sind.

Zur Deeskalation beitragen

Nicht für den Nahen Osten, aber für viele andere Konfliktgebiete baute das Bonn International Center for Conversion eine umfassende Expertise zur Demilitarisierung und Demobilisierung auf und ist weltweit beratend tätig.

In Palästina gibt es eine lange Tradition des gewaltfreien Widerstands, die jedoch immer wieder in den Hintergrund gedrängt wird. Der Bund für Soziale Verteidigung nahm Kontakt zu 14 gewaltfreien Organisationen und Gruppen in der Westbank auf, um gemeinsame Aktivitäten auf palästinensischer Ebene anzuregen. Zur Stärkung der Partnerschaft machte ein Mitglied einer Widerstandsgruppe 2011 einen Europäischen Freiwilligendienst in der BSV-Geschäftsstelle.

Lösungsvorschläge für die Konfliktdimensionen mitentwickeln

Im Fall des Tschad-Pipeline-Projekts erarbeitete ein internationales Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, an dem u.a. Brot für die Welt und EIRENE beteiligt waren, Lösungsvorschläge, wie die Folgen des Pipelinebaus und der Ölförderung konkret durch politische Maßnahmen abgefedert werden können.

Empowerment fördern und Kompetenzen stärken

Die Gewalt Akademie Villigst hat nicht nur in Deutschland palästinensische und israelische Jugendliche in Deeskalationstraining ausgebildet; sie hat auch mitgewirkt an der Gründung des »SOS-Gewalt/Zentrum für Gewaltstudien in Israel« in Jerusalem und dem »SOS-Gewalt/Zentrum für Gewaltstudien in Palästina« in Ramallah. Die beiden Zentren kooperieren in Seminaren und bei der Fortbildung von MitarbeiterInnen sowie im wissenschaftlichen Austausch und beim Einsatz von Volontären aus Europa.

Von 2003 bis 2008 kooperierten die KURVE Wustrow und die Union of Palestinian Women Committees in einem Projekt des Zivilen Friedensdienstes mit dem Ziel, Frauen, die vornehmlich aus dem ländlichen Bereich kommen, zu stärken, dezentrale Trainingsstrukturen auf der Graswurzelebene aufzubauen sowie eine Gruppe von TrainerInnen zu vernetzen.

Dialogforen auf allen Ebenen unterstützen

Auch die Gewerkschaften sind gefragt: Am neutralen Sitz des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel trafen sich z.B. 2005 der Generalsekretär des palästinensischen Gewerkschaftsbundes und der Präsident der israelischen Gewerkschaftszentrale Histadrut. Sie verpflichteten sich, ein Abkommen zu unterstützen, das der Ausbeutung in den israelischen Unternehmen vorbeugt, den Zugang und die Legalisierung von Arbeit vereinfacht und allen Arbeitern eine bessere soziale und Gesundheitsversorgung sichert.

Der Ökumenische Rat der Kirchen gründete 2007 das Palästinensisch-Israelische Forum, um das interreligiöse Eintreten für Frieden zu koordinieren und neue Dialog-Projekte anzustoßen.

Als Drittpartei Mediationsverfahren durchführen

Die Institute Berghof-Conflict Research, Inmedio und CSSProject for Integrative Mediation haben vielfältige Kompetenz in internationalen Mediationsverfahren auf den unterschiedlichen Ebenen. Sie sind nun daran beteiligt, modellhafte High-level-Mediationsverfahren auf europäischer Ebene zu entwickeln.

Die Konfliktkultur aufbrechen helfen

Die »Friedensschule« in Wahat al Salam (Oase des Friedens), die auch durch eine deutsche Gruppe unterstützt wird, beherbergt neben überregionalen Kursen für arabische und jüdische Jugendliche und Erwachsene auch eine konsequent zweisprachige Grundschule mit Kindergarten und Mittelstufe. Sie vermittelt Kindern aus dem Dorf und der Umgebung Zugang zu beiden Kulturen und deren Wertschätzung. Das bilinguale Erziehungssystem dient inzwischen als Model für ähnliche Versuche im Land.

Das Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung unterstützt seit 2002 mit wissenschaftlicher Beratung das Projekt »Die Texte der Anderen«, ein israelisch-palästinensisches Schulbuchprojekt zur Geschichte des Nahostkonfliktes.

Schlussbemerkungen

Dargestellt wurden oben ausschließlich zivilgesellschaftliche Handlungsbeispiele. Sie können (auch) als Aufforderung an die Politik verstanden werden, in eben diesen Handlungsräumen friedenspolitische Initiativen zu entwickeln und umzusetzen. Manche der aufgeführten Beispiele mögen aufgrund der Vielzahl, der Komplexität und der Gewalttätigkeit der Konflikte banal, wirkungslos oder zu langwierig scheinen. Vielleicht ist die Suche nach der einfachen, schnellen, selbst machbaren Lösung aber gerade das größte Hindernis für die Umsetzung der Friedenslogik.

Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied der Redaktion von W&F.

Syrien aus friedenslogischer Sicht

Konfliktentwicklung und politische Handlungsoptionen

von Christine Schweitzer und Andreas Buro

Historisch gehörte Syrien zum Osmanischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Frankreich die Verwaltung der Region übertragen. 1946 wurde Syrien unabhängig. 1958-1961 schloss es sich mit dem von Gamal Abdel Nasser regierten Ägypten zusammen; ein Militärputsch beendete dieses panarabische »Experiment«. Seit 1963 regiert in Syrien die Baath-Partei; wirkliche Oppositionsparteien wurden nie zugelassen. Die Verfassung von 1973 bezeichnet Syrien als sozialistische Volksrepublik mit Präsidialsystem. Der gegenwärtige Präsident Baschar al-Assad ist der Sohn von Hafiz al-Assad, der von 1971 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 autoritär regierte. Syrien ist ein Land mit ca. 22,5 Millionen EinwohnerInnen. Drei Viertel der Bevölkerung sind Sunniten, die Regierung wird aber vorwiegend von der ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung umfassenden schiitischen Gruppe der Alawiten gestellt. Christen machen ebenfalls zehn Prozent der Bevölkerung aus. Ethnisch sind rund 90 Prozent der Bevölkerung Araber und neun Prozent Kurden.

Der Aufstand und seine Strukturen

Der Konflikt in Syrien lässt sich in mehrere Phasen unterteilen:

1. Der zivile Widerstand

Kurz nach Beginn der Aufstände 2010/11 in Tunesien und Ägypten kam es auch in Syrien zu einzelnen Protesten, die aber zunächst wenig Widerhall fanden. Der März 2011 gilt vielen BeobachterInnen als der eigentliche Beginn der Unruhen, als in der im Süden Syriens gelegenen Stadt Dar’a nach dem Freitagsgebet am 18. März eine Demonstration von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Ab diesem Zeitpunkt begannen Hunderttausende, regelmäßig auf die Straße zu gehen. Die Regierung verfolgte anfänglich die Strategie, durch hartes Durchgreifen – schon ab Mai 2011 mit Hilfe des Militärs –, gekoppelt mit politischen Konzessionen, der Lage Herr zu werden. Im Juli 2011 beteiligten sich an einem Tag bis zu drei Millionen Menschen an Protesten gegen das Regime. Auch später im Juli wurden bei Demonstrationen in einzelnen Städten mehrere hunderttausend TeilnehmerInnen gezählt.

Anfänglich wurde der damals noch ausschließlich zivile Widerstand durch lokale Bürgerkomitees unterschiedlicher Zusammensetzung organisiert, die sich in den meisten Städten gegründet hatten. Ungefähr die Hälfte der rund 300 lokalen Komitees schloss sich – bei vielen Doppelmitgliedschaften – in zwei großen Netzwerken zusammen: den Local Coordination Committees of Syria (LCC) und der Syrian Revolution General Commission (SRGC). Auf nationaler Ebene gab es 2011-2012 zwei Zusammenschlüsse, die einen Führungsanspruch anmeldeten: den Syrian National Council und das National Co-ordination Committee. Der Syrian National Council wurde Anfang Oktober 2011 in der Türkei gegründet und besteht ungefähr zur Hälfte aus Mitgliedern, die in Syrien leben, und zur Hälfte aus solchen im Exil. Ende 2012 wurde in Doha die »National Coalition for Syrian Revolutionary and Opposition Forces« ins Leben gerufen, die ebenfalls sowohl Menschen in Syrien wie im Exil umfasst und vom Ausland als »die« Vertretung der syrischen Opposition angesehen wird, aber keineswegs die volle Zustimmung aller Oppositionellen genießt.

2. Ziviler und gewaltsamer Widerstand Hand in Hand

Im Herbst 2011 kam es zu einer Militarisierung des Widerstandes, als Soldaten, die aus der syrischen Armee desertiert waren, die »Freie Syrische Armee« bildeten. Sie beanspruchten anfänglich, die zivilen Demonstrationen vor Angriffen der staatlichen Sicherheitskräfte zu schützen. Eine gewisse Zeit existierten ziviler und gewaltsamer Widerstand parallel. Die syrische Regierung nutzte die Eskalation, um mit massivem Militäreinsatz gegen den Aufstand vorzugehen.

Auf internationaler Ebene erfuhr Syrien in diesem Jahr politische und materielle Unterstützung vor allem aus Russland und Iran (Waffenlieferungen), während die meisten arabischen Länder und der Westen die Kräfte gegen das Assad-Regime förderten. Die arabische Liga suspendierte die Mitgliedschaft Syriens in November 2011.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befasste sich im Februar 2012 erstmalig mit Syrien, es kam aber zu keiner Resolution, weil Russland und China dagegen stimmten. Erst 2013 wurde in Folge des Einsatzes von Giftgas eine erste UN-Resolution verabschiedet.

2012 eskalierte der Konflikt weiter. Besonders die Stadt Homs, von Anfang an eine der Hochburgen des Widerstands, wurde zum Ziel des Versuchs der Regierung, den Widerstand mit militärischen Mitteln zu brechen. An anderen Orten gab es aber auch in dieser Zeit noch gewaltlosen Widerstand.

Ein von den Vereinten Nationen vermittelter und durch BeobachterInnen zu kontrollierender Waffenstillstand im April 2012 war nur von kurzer Dauer, und die BeobachterInnen wurden schon im Juni wieder abgezogen. Als Kofi Annan, der von den Vereinten Nationen zum Sondervermittler bestimmt worden war, nach wenigen Monaten enttäuscht zurücktrat, benannten die Vereinten Nationen Lakhdar Brahimi zu seinem Nachfolger.

3. Syrien wird zum Schlachtfeld ausländischer Milizen

Im Laufe des Jahres 2012 kamen aus dem Ausland immer mehr radikal-islamische Kämpfer. Sie wurden und werden teilweise von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten ausgerüstet und finanziert. Sie stehen oftmals dem Netzwerk von al Kaida nahe oder gehören ihm direkt an. Elf der Gruppierungen bildeten im Herbst 2013 eine militärische Allianz mit dem Ziel, einen islamischen Staat zu schaffen. Die militärischen Auseinandersetzungen weiteten sich zwischen 2012 und 2013 auf weitere Städte (z.B. Aleppo) aus. Zahlreiche Bombenanschläge, Massaker an ZivilistInnen und die Bombardierung von Städten prägen den Krieg. In vielen Fällen, so auch bei dem Einsatz von Giftgas am 21.8.2013 in einem Vorort von Damaskus, bei dem fast 1.500 Menschen umkamen, ist die Urheberschaft nicht eindeutig zu klären. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig.1

Der Giftgaseinsatz führte zur Drohung mit einer internationalen Militärintervention unter Führung der USA. Diese wurde vor allem durch die Vermittlung der russischen Regierung (in Zusammenarbeit mit den USA) Anfang September 2013 abgewendet. Die syrische Regierung ließ sich darauf ein, dem Chemiewaffenübereinkommen beizutreten, ihre Giftgasvorräte offenzulegen und durch die Vereinten Nationen vernichten zu lassen. Die Vernichtung des Giftgases hat inzwischen begonnen.

Während die internationale Aufmerksamkeit sich auf die Chemiewaffen konzentrierte, ging der Krieg in Syrien ungehindert weiter. Bis Ende Februar 2014 sind über 100.000 Menschen umgekommen; rund zwei Millionen leben in Flüchtlingslagern vor allem in Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Über neun Millionen (manche Hilfswerke sprechen von zwölf Millionen) Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, also die Hälfte der gesamten syrischen Bevölkerung. Aus einigen Regionen, besonders den kurdischen Gebieten im Norden, wurde das staatliche Militär weitgehend vertrieben und ferngehalten. Islamische Milizen versuchten vielerorts, die Kontrolle zu übernehmen. Die Folge waren bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen.

Im Januar 2014 begann nach langer Vorbereitungszeit eine internationale Konferenz in der Schweiz, in der die Regierung Assad, die Opposition und eine Reihe von Anrainerstaaten sowie die »Kontaktgruppe« unter der Vermittlung der Vereinten Nationen über eine Lösung des Konflikts beraten sollten. Bislang blieb sie nach zwei Verhandlungsrunden – eine dritte soll es geben, ist aber noch nicht terminiert – ohne relevantes Ergebnis.

Internationale Interessen am Konflikt

Syrien ist heute das Schlachtfeld für Konflikte, bei denen die Wünsche der syrischen Bevölkerung nach Frieden, Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Minderheiten rücksichtslos ignoriert werden. Saudi-Arabien und Katar fördern trotz unterschiedlicher Adressaten sunnitische Milizen, die al Kaida nahe stehen. Ihr Motiv: Aus Syrien soll ein sunnitisch-islamistischer Partnerstaat werden. So würde der Rivale Iran als potentielle Regionalmacht geschwächt. Der Iran hält mit der Entsendung von schiitischen Kämpfern und Waffenlieferungen dagegen. Russland setzt seine Waffenlieferungen an das Assad-Regime fort. Die libanesische Hisbollah schickt eigene Kämpfer nach Syrien, um das befreundete Regime in Damaskus zu stützen, das für ihr eigenes Überleben wichtig ist. Dabei riskieren sie die Ausweitung des Krieges in den Libanon. Die Türkei wiederum finanziert und bewaffnet islamistische Milizen und Teile der Freien Syrischen Armee, damit sie gegen die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden vorgehen. Frankreich liefert Waffen an die Freie Syrische Armee und leistet politische, finanzielle und mediale Unterstützung. Auch die USA sind geostrategisch involviert. Der Sturz des Assad-Regimes würde dazu beitragen, den Iran zu isolieren, zu schwächen und einen Regimewechsel zu erreichen. Damit würden die USA den Mittleren und Nahen Osten unter ihre Kontrolle bringen. Ihr Zögern, dies in Syrien mit militärischen Mitteln zu erreichen, dürfte einerseits an der Kriegsmüdigkeit der US-Gesellschaft nach den langen Kriegen im Irak und Afghanistan liegen. Andererseits aber auch daran, dass schwer absehbar ist, wer nach einem Sturz von Assad die Macht übernehmen würde.

Eine amerikanische Alleinkontrolle der Region kann der russischen und der chinesischen Regierung, aber auch den regionalen Anrainerstaaten nicht gefallen. Den Russen geht es nicht nur um den Kriegshafen in Tartus,2 sondern vor allem um die Abwehr der US-Dominanz in dieser großen, bis Zentralasien reichenden Region. Sie wollen aber auch keine Stärkung der islamistischen Kräfte, da sie befürchten, diese könnten sich verstärkt im Süden Russlands einmischen. Ein grundlegendes Problem aller Außenakteure liegt darin, dass ihre Ziele untereinander nicht kompatibel sind.

Politische Handlungsoptionen aus friedenslogischer Sicht

Ein friedenslogischer Ansatz könnte sein, die unterschiedlichen internationalen Unterstützer der Konfliktparteien dazu zu bewegen, den Einfluss, den sie durch ihre Unterstützung gewonnen haben, zu nutzen, um ihre Adressaten zum Niederlegen der Waffen zu veranlassen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Es müsste eine Situation hergestellt werden, bei der alle Seiten bereit sind, miteinander zu reden. Ein solcher regionaler Ansatz müsste den Iran, Libanon, Israel-Palästina und Russland einschließen, wahrscheinlich auch den Irak und weitere Konfliktherde in dem Raum.

Um das zu erreichen, ist eine Konzentration auf die Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt notwendig. Der Stellvertreterkrieg in Syrien soll die Achse Iran, Syrien, Hisbollah im Libanon und Hamas in Gaza zerbrechen, um so eine Schwächung des Iran und letztlich einen Regimewechsel zu erreichen. Dieses gegen Iran gerichtete Ziel eint die Absichten der USA und der EU mit denen von Saudi-Arabien und Katar, wenn auch die angestrebten Ziele der Umgestaltung sich unterscheiden. Saudi-Arabien und Co. steuern eine sunnitisch-islamistische Herrschaft in Syrien an, während die USA und Co. eine Erstarkung der islamistischen Kräfte verhindern wollen und eher einen laizistisch orientierten Staat mit verschiedenen Religionsgemeinschaften anvisieren.

Während des letzten Jahres deutete sich jedoch an, dass die USA eine zweite Option ansteuern und ihr ursprüngliches Ziel des »regime change« in Iran zugunsten einer Annäherung an den Iran aufgeben könnten. Wenn die USA tatsächlich eine friedliche Lösung für den Syrien-Konflikt anstreben, müssen sie eine Verständigung mit Teheran suchen: direkte Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen durch schrittweise Aufhebung von Sanktionen, Unterstützung der von den Vereinten Nationen beschlossenen »Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Mittleren und Nahen Osten« und so weiter.

Die Chance zur Verständigung zwischen den USA und Iran, die sich nach dem Präsidentenwechsel in Teheran aufgetan hat, ist allerdings bisher in Washington wie in Teheran noch stark umstritten. Zum einen bedeutet eine Verständigung mit Teheran und ein gemeinsames Bemühen, den Krieg in Syrien zu beenden, für die USA gleichzeitig, den militärischen Zugriff auf den Mittleren und Nahen Osten aufzugeben. Zum anderen wollen im Iran unterschiedliche Gruppierungen das Feindbild USA aus innenpolitischen Gründen erhalten.

Gelingt jedoch die Verständigung und sitzt Teheran erst mit am Verhandlungstisch, dann werden auch Russland, China und die EU-Staaten kooperativer sein, da damit die US-Vorherrschaft in Mittel- und Nahost zumindest in Frage steht und neue Konstellationen der multipolaren Koexistenz ins Auge gefasst werden können. Auch die sunnitischen Kriegsakteure, wie Saudi-Arabien und Katar, und die kurdenfeindliche Türkei werden ihre kriegsfördernden Aktionen nicht mehr durchhalten können. Für eine Nah- und Mittelost-Konferenz, die auf lange Dauer angelegt sein muss und nicht nur die Frage der Massenvernichtungswaffen, insbesondere der Atomwaffen, behandelt, bleibt dann die Aufgabe, schrittweise eine Annäherung zwischen den beiden konkurrierenden Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien zu bewirken.

In einer solchen auf Verhandlungen orientierten Situation können vermutlich die Konflikte im Inneren Syriens eher reguliert werden. Doch auch dann hat die Zivilbevölkerung in Syrien keine starke Lobby und wäre den Interessen der Mächte von außen und ihren Verhandlungsfortschritten unterworfen. Daraus ergibt sich die Frage, ob und welche Prozesse im Inneren Syriens friedensfördernd wirken und wie sie gestützt werden könnten.

Friedensperspektive aus der syrischen Gesellschaft heraus? Ein Beispiel

Im Norden des von Kämpfen zerrissenen Landes liegt das kurdische Siedlungsgebiet, das sich Rojava (Der Westen) nennt. Rojava weist eine große kulturelle und religiöse Vielfalt auf. Viele Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens – inzwischen etwa 1,2 Millionen – haben sich dorthin gerettet, denn Rojava versucht, sich aus den Kämpfen herauszuhalten. Es hat sich zum autonomen Gebiet innerhalb Syriens erklärt und alle Separatismusvorwürfe energisch zurückgewiesen. Dort sollen alle Ethnien gleiche Rechte haben und nicht etwa der kurdischen Mehrheit unterworfen sein. Inzwischen wurden eigene Verwaltungsstrukturen geschaffen und es wurde ein Nationaler Rat gebildet. Frauen sollen den Männern gleichgestellt werden.

Freilich sind die proklamierten Ziele bisher keineswegs Wirklichkeit. Gewalt von außen fördert Gewalt im Inneren. Der UN-Generalsekretär wies auf die Anwerbung von Kindersoldaten für die Verteidigung von Rojava hin. Traditionen sind nicht von heute auf morgen überwindbar, Demokratie muss erst eingeübt werden, ebenso gute Regierungsführung, unabhängige Justiz und die strikte Durchsetzung internationaler Menschenrechtsstandards. Europäische Gesellschaften wissen aus ihrer Geschichte, wie lange solche Prozesse dauern können und wie mühevoll sie sind.

Gegenwärtig gerät das Rojava-Projekt zudem in Gefahr. Von der Türkei aus und mit deren Unterstützung kämpfen islamistische Gruppierungen (ISIS und die al Nusra Front) gegen das Autonomiegebiet. Sie wollen einen Gottesstaat errichten. Die Türkei hat ihre Grenzen für den wichtigen Transithandel geschlossen. Ankara hat noch immer nicht seinen Frieden mit den Kurden gemacht. Aus dem kurdischen Teil des Irak kommt wegen der dortigen inneren Auseinandersetzungen kaum Hilfe oder sie wurde sogar unterbunden. Es fehlen Grundnahrungsmittel, wärmende Kleidung und Brennstoffe. Die Notlage wird immer drückender.

Der gewichtige friedenslogische Hintergrund des Rojava-Projekts

Das Autonomiegebiet begreift sich als ein demokratisch organisierter Modellbaustein eines zukünftigen föderalen Vielvölkerstaates Syrien. Das ist ein großer, jedoch vernünftiger Anspruch. Er beinhaltet, die syrische Gesellschaft und ihre zukünftige politische Organisation zum Inhalt einer nationalen Zukunftsdiskussion zu machen. Es scheint erste Ansätze in diesem Sinne auch in anderen Regionen Syriens zu geben. Sie könnten Zusammenarbeit vereinbaren und Koexistenz praktizieren.

Wir machen uns keine Illusionen, das ist kein leichter Weg. Aber wo ist der bessere? Ein militärischer Sieg einer der Konfliktparteien wird nicht Aussöhnung schaffen, sondern nur die Voraussetzungen für nächste Kriege.

Das Rojava-Projekt ist deshalb kritisch zu begleiten und wo politisch sinnvoll und möglich zu unterstützen – durch Druck auf die deutsche Regierung, durch Hilfen zur Milderung der Nöte, durch Bekanntmachung dessen, was wirklich geschieht und durch Kritik auch an falschen Entwicklungen. Solidarität heißt nie bedingungslose Zustimmung, sondern schließt solidarische Kritik ein. Es ist unsicher, ob Rojava im skizzierten Sinne erfolgreich sein wird. Die Versuchung, auf Gewalt zuzugreifen und interne Schwierigkeiten durch Repression zu beantworten, ist groß. Die Erfolgschancen hängen davon ab, ob sich andere Regionen an einem solchen Verständigungsprozess beteiligen werden.

Die hier friedenslogisch begründete Zuwendung zum Rojava-Projekt schließt selbstverständlich Hilfsappelle zur Unterstützung durch Institutionen, wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, dem UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) oder von Hilfsorganisationen wie medico international usw., nicht aus, auch nicht politische Forderungen an die Kriegsakteure von innen und außen.

Anmerkungen

1) Siehe den Beitrag »Syrien. Vorrang für zivil oder Spielball internationaler Politik?« der AutorInnen in W&F 4-2013, S.32-36, zu den verschiedenen Interpretationen, die sich um den Giftgaseinsatz ranken.

2) Russland hat einen Marinestützpunkt in Tartus, der den einzigen Mittelmeerstützpunkt der russischen Marine darstellt.

Dr. Christine Schweitzer ist Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung und Geschäftsführerin im Bund für Soziale Verteidigung. Prof. Dr. Andreas Buro ist emeritierter Professor für internationale Politik an der Goethe Universität in Frankfurt, Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Mentor der westdeutschen Friedensbewegung.

Positionspapier »Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen«

Anfang des Jahres wurde u.a. vom Bundespräsidenten, vom Bundesaußenminister und von der Bundesverteidigungsministerin eine Debatte über die Wahrnehmung der außenpolitischen »Verantwortung« Deutschlands angestoßen. Ähnlich wie die Sicherheitsdiskussion tendiert auch die Verantwortungsdiskussion dazu, sich allein auf die Verfügbarkeit von militärischen Mitteln zu konzentrieren. Einer hiermit verbundenen sprachlichen und tatsächlichen Militarisierung gilt es zu wehren.

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung verweist hierzu auf ihr Positionspapier zur Bundestagswahl 2013, das Schritte hin zu einer auf Friedenslogik statt auf Sicherheitslogik gründenden deutschen Außenpolitik formulierte.

Näheres siehe konfliktbearbeitung.net/node/626e.

Sustainable Development aus der Sicht von Studierenden

Sustainable Development aus der Sicht von Studierenden

von Naturwissenschaftler Initiative, INES, BdWi, Ökologie-Stiftung NRW

In Zusammenarbeit mit der StudentInnengruppe der Naturwissenschaftler Initiative – Verantwortung für den Frieden, den Studierenden von INES ( International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility), dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlert (BdWi) und der Ökologie-Stiftung NRW.

| Zu diesem Dossier

Ziel dieses Dossiers ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung (sustainable Development; UNCED 1992) und den daraus abzuleitenden Anforderungen an die Hochschulentwicklung.

Die Reform von Lehre, Forschung und der Institution Hochschule im Sinne der nachhaltigen Entwicklung ist schon deshalb besonders schwierig, weil der englische Begriff »sustainable development« mit mehr als 70 unterschiedliche Definitionen in der Literatur konkretisiert wird. Dabei gewinnt man gelegentlich den Eindruck, daß die Beliebtheit des Begriffes aus seiner Beliebigkeit entstammt. Im folgenden wollen wir eine Definition bieten, die den Rahmen relativ weit faßt und deutlich macht, daß Nachhaltigkeit ein mehrdimensionales Konzept beinhaltet. Der Internationale Rat für lokale Umweltinitiativen (ICLEI) hat in diesem Zusammenhang den Begriff »Zukunftsbeständigkeit« geprägt. Wie der englische Begriff beinhaltet Zukunftsbeständigkeit eine soziale, ökologische und ökonomische Komponente:

Zukunftsbeständigkeit der Gemeinschaft: Konsens über Grundwerte, gesunde Lebensbedingungen und Verteilungsgerechtigkeit zwischen den derzeit lebenden Menschen und zwischen Generationen.

Voraussetzung hierfür ist die Zukunftsbeständigkeit des Wirtschaftssystems. Stützung auf menschliche Arbeit und erneuerbare Ressourcen statt auf Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen; Ökonomie mit niedriger Entropie.

Voraussetzung hierfür ist die ökologische Zukunftsbeständigkeit. Erhaltung der Artenvielfalt, der menschlichen Gesundheit sowie der Sicherung von Luft-, Wasser- und Bodenqualitäten, die ausreichen, um das Leben und das Wohlergehen der Menschen sowie das Tier- und Pflanzenleben für die Zukunft zu sichern. (Stefan Kuhl et al 1996, S. 118ff.)

Die Definition macht deutlich, welche komplexen Ansprüche und Ziele das Konzept der nachhaltigen Entwicklung (hier Zukunftsbeständigkeit) beinhaltet. Das Dossier stellt aus Sicht von Studierenden notwendige Reformen von Lehre und Forschung sowie der Institution Hochschule dar. Die Thematik Hochschulreform durch nachhaltige Entwicklung wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und konkrete Alternativen werden skizziert. Die Vorstellung bereits vorhandener innovativer Projekte an Hochschulen in diesem Bereich zeigt konkrete Praxisbeispiele mit Vorbildfunktion. Wir können keinen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die Problematik »Hochschule und Nachhaltigkeit« bieten. Jedoch ist es unser Ziel, die vorhandenen Ansätze in die Hochschulreformdebatte stärker einzubringen und auch bereits im »Kleinen« umzusetzen.

Jörn Birkmann, Sandra Striewski

zum Anfang | Sich wandelnde Anforderungen an Studierende

von Sandra Striewski

Der Anspruch an die Studierenden zwischen Universität und Praxis hat sich in den letzten Jahren immer mehr scherenförmig auseinander entwickelt. So wird einerseits in der Praxis immer mehr soziale Kompetenz, Engagement und fächerübergreifendes Wissen erwartet, das Arbeiten in Gruppen und neue Formen des Teamworks sind gang und gäbe. Andererseits wird in der Universität immer mehr spezielles Fachwissen vermittelt und gefordert, der disziplinäre Leistungsanspruch wird größer, wie z.B. die neu entflammte Diskussion um die Studiengebühren beim Überschreiten der Regelstudienzeit oder das Bestreben, daß sich Universitäten ihre Studierenden selbst auswählen dürfen, zeigen.

Selbst in Projektarbeiten, die die Zusammenarbeit und den Teamgeist fördern sollen, tritt der Wettbewerb immer stärker hervor. Außerdem vermissen viele Studierende fachübergreifendes Wissen innerhalb ihres Studienganges, um einen »Weitblick« zu erhalten und interdisziplinär arbeiten zu können. Noch immer denken Studierende in ihren fachbezogenen Kategorien, die Kommunikationsbarrieren innerhalb unterschiedlicher Fachbereiche sind erheblich.

Ethische Fragestellungen werden häufig ausgeklammert. Der Umgang mit verantwortlichem Handeln bleibt den Studierenden selbst überlassen. Es liegt an ihnen, sich mit ethischen Aspekten oder den potentiellen Folgen ihres Tuns auseinanderzusetzen, so z.B. durch das Bestreben technische Vorgänge zu optimieren. Der Blick für den Gesamtkontext kann verloren gehen, d.h. es geht letztlich nur darum, einen Vorgang zu effektivieren, unabhängig davon, ob es sich um einen Wärmetauscher eines Kohlekraftwerkes oder Atomkraftwerkes handelt, ob die Materialeigenschaften eines Metalls für die Raumfahrt verbessert werden sollen oder ob ein leichterer Kunststoff für eine Nachfolgegeneration der Tamagotschis hergestellt werden soll.

Situation

Zwei Drittel aller Studierenden müssen neben dem Studium arbeiten gehen, um sich ihren Lebensunterhalt sichern zu können. Immer mehr Studierende versuchen trotzdem, ihr Studium schnell zu absolvieren, um der wachsenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gerecht zu werden und eine drohende Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Dies ist sicherlich ein Grund, warum sich immer weniger Studierende in politischen Gremien und außeruniversitären Initiativen engagieren.

Perspektiven

In NRW ist durch die Eckdatenverordnung eine neue Gesetzgebung geschaffen worden, um u.a. die lange Studiendauer zu verkürzen und Studiengänge zu »entrümpeln«. In einigen Fachbereichen haben sich Studierende und Professoren zusammengesetzt und gemeinsam nach der neuen Gesetzgebung neue Prüfungsordnungen entworfen.

Die Prüfungsmodalitäten sind dadurch erheblich verbessert worden, so ist ein schnelles Studium möglich. Dies entspricht den Anforderungen des Marktes und es erlaubt trotz knapper werdender Mittel der Hochschulen, eine größere Zahl Studierende durch die Hochschulen zu schleusen.

Die Chance, mehr soziale Kompetenzen besonders in technische Studiengänge zu integrieren, hängt jetzt von den Studierenden ab, da nun ein frei wählbarer Bereich – zumindest in einigen technischen Studienrichtungen – eingeräumt worden ist. Innerhalb dieses Bereiches können die Studierenden alle an der Universität angebotenen Vorlesungen und Seminare nutzen. Inwieweit diese Möglichkeit genutzt wird und die Anerkennung fachfremder Seminare erfolgt, wird sich in naher Zukunft zeigen. Die Veränderungen in Hinblick auf Praxisbezug sind aber nicht weitreichend genug. Die Eckdatenreform hat auf der einen Seite Verbesserungen ermöglicht, die einen größeren frei wählbaren Bereich beinhalten, andererseits aber wiederum die Konkurrenzsituation unter den Studierenden bei gleichbleibender sozialer Belastung und kürzer Studienzeit verschärft. Durch unterschiedliche bundesweite Studienreformen kann sich die Wettbewerbssituation unter den Hochschulen verstärken.

Die Studierenden und die Lehrenden stehen in der Verantwortung, die Hochschulpolitik neu zu gestalten, dafür ist mehr Demokratie in den politischen Gremien unbedingt notwendig. Der notwendige Paradigmenwechsel hin zu mehr Interdisziplinarität und der Orientierung an nachhaltiger Entwicklung an den Hochschulen muß jetzt, fünf Jahre nach dem Erdgipfel (UNCED) in Rio de Janeiro und der Copernicus-Charta, erfolgen.

Sandra Striewski ist Studentin der Chemietechnik und Vorstandsmitglied der Naturwissenschaftler-Initiative

zum Anfang | Noch nicht erkannt. Nachhaltigkeit: Anforderungen an Hochschulen

von Jörn Birkmann

Die Hochschulen haben in den letzten Jahren nur wenig Impulse zur Lösung der globalen Umwelt- und Entwicklungskrise gegeben. Die hochgradige Spezialisierung und die damit einhergehende Förderung des Fachspezialistentums verstellen den Blick auf ganzheitliche Zusammenhänge und eine umfassende Folgenabschätzung der eigenen Lern-, Lehr- und Forschungsinhalte. Auch die enorme Technikgläubigkeit, mit der Vorstellung Umwelt und Gesellschaft technisch managen zu können, hat einen nicht unwesentlichen Anteil an der heutigen globalen Umwelt- und Entwicklungskrise.

Demgegenüber hat der Diskurs über die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows, 1972) und eine auf Nachhaltigkeit zielende Entwicklung bis heute nur einen geringen Stellenwert in den Lern-, Lehr- und Forschungsaktivitäten der Universitäten. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung bleibt für viele deutsche Hochschulen nur ein theoretisch zu diskutierender Begriff, an dessen praktischer Umsetzung aber nur wenig Interesse besteht. Jedoch sollten sich gerade die Hochschulen der Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung stellen und wichtige Impulse zur Lösung der globalen Umwelt- und Entwicklungskrise geben (vgl. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, 1996, S. 28-29).

Eine Reform der Hochschulen unter dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, auf der Basis der intra- und intergenerativen Verteilungsgerechtigkeit, muß das gesamte System Hochschule auf den Prüfstand stellen. Um die notwendige Weichenstellung in Richtung einer dauerhaft zukunftsfähigen Entwicklung zu erreichen muß das Konzept auf Lehre und Forschung, wie auch auf die institutionelle Verfassung und den Betrieb der Hochschule Anwendung finden. Analog zu den Anforderungen an die Erarbeitung einer Lokalen Agenda 21 für Städte und Gemeinden (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 1992), sollten auch die Hochschulen in Zusammenarbeit aller Hochschulmitglieder und unter der Mitwirkung weiterer gesellschaftlicher Akteure eine eigene Agenda für das 21. Jahrhundert aufstellen, die Wege zu einer nachhaltigen Hochschule aufzeigt.

Die Lehre muß den Studierenden die Grundlagen für einen verantwortungsvollen Umgang mit den globalen Herausforderungen bieten, stellen doch sie als angehende ForscherInnen, LehrerInnen, IngenieurInnen etc. ein besonderes Potential als gesellschaftliche MultiplikatorInnen dar. Die Frage, ob wir die globale Umwelt- und Entwicklungskrise lösen können, hängt nicht unwesentlich davon ab, ob wir das Problem erkennen. Deshalb muß die Thematik der nachhaltigen Entwicklung ein stärkeres Gewicht in allen Studienfächern bekommen. Da sich die komplexen ökologischen Probleme nicht an den Fachbereichsgrenzen der Hochschulen orientieren, sondern sich gerade als komplexe Mensch-Umwelt-Interaktionen darstellen, müssen die Gräben zwischen den Wissenschaftsdisziplinen überwunden werden. Anstatt monodisziplinärem EinzelkämpferInnentum müssen neue Lehr- und Lernformen, die nicht nur fachliche Grundlagen, sondern auch die Fähigkeit zum Teamwork und damit soziale Kompetenz vermitteln, erprobt werden. Wenn Wissenschaft nicht selbst zum Risiko werden soll, müssen Studierende und WissenschaftlerInnen den eigenen disziplinären Zugriff auf die Wirklichkeit kritisch betrachten und stärker als bisher die Folgen für die Gesellschaft reflektieren (vgl. Huber et al., S. 14).

Die Forschung ist der zweite wesentliche Bereich, der einer Neuorientierung im Sinne einer auf Nachhaltigkeit zielenden Entwicklung bedarf. Die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des immer noch weitgehend unreflektierten Umgangs mit Forschungsergebnissen sind erheblich. Deshalb muß sich eine verantwortungsvolle Forschungsförderung dem Ziel der Bewahrung der Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen verpflichten. Forschung muß sich vom Leitbild einer wachstums- und angebotsorientierten Technik lösen und ökologische Kreisläufe und Verfahrensweisen zum Schutz des Menschen und Umwelt in den Mittelpunkt stellen.

Damit die Entwicklung und Umsetzung der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung nicht eine vorübergehende Erscheinung bleibt, ist eine institutionelle Verankerung in den Hochschulen notwendig. Für die Entwicklung von Lösungen und die Verständigung, welche Maßstäbe, beispielsweise für die intra- und intergenerative Verteilungsgerechtigkeit, angelegt werden sollen, sind gleichberechtigte Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten aller Gruppen und Mitglieder der Hochschule, sprich eine Demokratisierung der Hochschule, erforderlich. Die momentanen Hochschulverfassungen mit ihren Kategorien: ProfessorInnen, Mittelbau und Studierende, spiegeln eher eine mittelalterliche Drei-Stände-Gesellschaft wider, in der der zahlenmäßig am höchsten vertretene Anteil, die Studierenden, mit den geringsten Machtbefugnissen ausgestattet ist. Diese Strukturen mit der eingebauten „ProfessorInnen-Mehrheit“ widersprechen den geforderten Eigenschaften eines selbständigen und eigenverantwortlichen Handelns. Gerade die Studierenden sollten die zukunftsweisenden Entscheidungen mitgestalten können, schließlich sind sie diejenigen, die hinterher mit ihnen umgehen müssen (vgl. Birkmann et al., 1997).

Zu guter Letzt sollten auch die Studierendenwerke an den Hochschulen stärker dem Konzept einer nachhaltigen Entwicklung Rechnung tragen. Die Verpflegungsbetriebe bieten ein weites Handlungsfeld. Die Reduzierung von Verpackung und die Verwendung von Lebensmitteln aus ökologischem und regionalem Anbau sowie fair gehandelte Produkte ermöglichen eine direkt meßbare Entlastung der Umwelt und leisten einen Beitrag zu einem Mehr an globaler Gerechtigkeit.

Fazit

Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 21 verlangt einen zukunftsfähigen Umbau aller Bereiche der Hochschule, von der Lehre über die institutionellen Strukturen bis zum Betrieb. Die Schaffung einer nachhaltigen Hochschule bedarf also nicht nur Anstrengungen einzelner Personen, sondern aller für die Hochschule verantwortlichen Gruppen: PolitikerInnen in Bund und Ländern, WissenschaftlerInnen, Angestellte, Studierende und ihre jeweiligen Interessensvertretungen. In einem gemeinsamen Lern- und Gestaltungsprozess gilt es die Hochschule selber zu einem lern- und leistungsfähigen Organismus zu entwickeln. Gegen die strukturelle Verantwortungslosigkeit müssen Wege und Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie sich Hochschulen der Herausforderung einer auf Nachhaltigkeit zielenden Entwicklung stellen und dabei innovative Lösungskonzepte für die globale Umwelt- und Entwicklungskrise entwickeln können.

Literatur

Birkmann, Jörn; Bonhoff, Claudia; Daum, Wolfgang…(Hrsg.): Nachhaltigkeit und Hochschulentwicklung – Projekte auf dem Weg der Agenda 21, Projekt-Verl., 1997

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (Hrsg.): Umweltpolitik. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro. Agenda 21, Dokumente. Bonn

Büro für Technickfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (Hrsg.): Möglichkeiten einer Neuorientierung der Forschungspolitik. Bonn, 1996.

Hüber, L. et al. (Hrsg.): Über das Fachstudium hinaus, Weinheim, 1994

Meadows, Dennis; Meadows, Donella: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Hamburg, 1973.

Jörn Birkmann ist Student der Raumplanung und Mitinitiator des Projektes »Nachhaltige UniDo«

zum Anfang | Nachgefragt – Jörn Birkmann interviewt Martin Hellwig und Jörg Gleisenstein

Frage: Ist Dir das Konzept der nachhaltigen Entwicklung ein Begriff? Wird das Konzept Nachhaltigkeit in der Lehre thematisiert?

Martin: Ja, seit einem Jahr. Im Lehrstoff ist das Thema allerdings überhaupt kein Thema. Erst durch die studentische Politik und durch Seminare habe ich mich damit auseinandergesetzt.

Jörg: Mir ist das Konzept durch das Studium bekannt. Die Abwägung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte spielt dort eine wichtige Rolle. Unabhängig vom Studium bin ich aber auch durch Umweltkatastropen, mit denen man quasi aufgewachsen ist, wie der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder dem Waldsterben, für Umweltprobleme sensibilisiert worden.

Frage: Nachhaltige Entwicklung verlangt also eine Gesamtschau öknomischer, ökologischer und sozialer Aspekte, sprich eine interdisziplinäre Sichtweise. Wird interdisziplinären Ansätzen in den Studiengängen Rechnung getragen?

Jörg: Sehr unterschiedlich. In den klassischen Studiengängen gibt es wenig Ansätze, sich interdisziplinär mit dem Konzept der Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Demgegenüber steht die Neueinrichtung von Umweltstudiengängen, die oftmals interdisziplinäre Ansätze beinhalten. Des weiteren gibt es für Studierende die Möglichkeit, auch Vorlesungen von anderen Fakultäten zu besuchen. Auch das Studium-Generale bietet eigentlich eine Möglichkeit, sich interdisziplinär einem Thema zu nähern. In der Realität geht das Studium-Generale jedoch über einzelne Vorträge von Professoren nicht hinaus. Es fehlt an einem umfassenderen Ansatz, der auch bestehende Studiengänge erfaßt und nicht nur durch die Neueinrichtung eines Studiengangs die notwendigen Veränderungen erzielt.

Frage: Besteht denn überhaupt ein Interesse bei Studierenden und WissenschaftlerInnen, sich interdisziplinär mit dem Thema nachhaltige Entwicklung zu befassen?

Martin: Mein Elektrotechnik-Studium an der FH ist ein sehr technisch geprägter Studiengang, in dem ethische Fragestellungen nur eine marginale Rolle spielen. Dennoch bieten gerade die starke Technikgläubigkeit und das lineare Fortschrittsverständnis gute Anknüpfungspunkte, um das Thema Nachhaltigkeit in der Lehre zu thematisieren. Die Praxis im Studium ist jedoch leider eine andere, dort gilt das Motto: Lerne nur was wichtig ist, wichtig ist das, was der spätere Job und Arbeitgeber verlangt. Alles andere außerhalb des regulären Studienplanes ist reiner Luxus.

Frage: Warum interessieren und engagieren sich nicht mehr Studierende für interdisziplinäre Angebote sowie die Thematisierung von Umweltbelangen an und in der Hochschule?

Jörg: Einerseits existieren nur wenig Angebote, so daß der Aufwand, sich für diese Dinge einzusetzen, sehr hoch ist. Andererseits kann auch ein Grund darin liegen, daß die Hochschule für viele Studierende nicht ihr Lebensmittelpunkt ist. Es stellt sich für viele Studierende die Frage: Lohnt es überhaupt, sich an der Hochschule zu engagieren oder hat man nicht außerhalb der Universität mehr Erfolg?

Frage:Wo liegen die Barrieren für interdisziplinäre Angebote, die das Thema Nachhaltigkeit aufgreifen könnten ?

Jörg: Es liegt ganz klar an den disziplinären Strukturen. Interdisziplinäre Angebote sind, wenn überhaupt, nur schwach vorhanden. Selbst interdisziplinäre Forschung hat noch keine wirksamen Auswirkungen auf die Lehre gehabt. Die Verbesserung des Studienangebotes für Studierende geschieht nur zögerlich. Es fehlt an der Umsetzung und Implementierung interdisziplinärer Studienangebote, wie beim Thema nachhaltige Entwicklung, in bereits bestehende Studiengänge.

Frage: Martin teilst Du diese Ansicht? Wo liegen Deiner Meinung nach Hemmnisse?

Martin: Ja, ich erkenne die gleichen Probleme, zusätzlich sehe ich in der Altersstruktur der Lehrenden ein wesentliches Hemmnis, sich mit dem Thema Nachhaltigkeit und Interdisziplinarität zu beschäftigen. Viele unserer Professoren sind über 50 Jahre. Sie haben oft wenig Interesse am Ende ihrer Laufbahn noch einmal eine völlig neue Richtung, beispielsweise Nachhaltigkeit oder regenerative Energien, zu erforschen und zu lehren.

Frage: Wie könnte man dieses Problem mildern?

Martin: Man könnte stärker als bisher junge Leute aus der Praxis an der Uni beschäftigen, die einerseits ein großes Interesse an alternativen Techniken haben, andererseits ein hohes Maß an Praxiserfahrung in die Lehre einbringen.

Frage: Von der Lehre zurück zu den Studierenden. Wie könnte man das Interesse, das Engagement und das Problembewußtsein der Studierenden für Umwelt- und Entwicklungsfragen stärken? Welche Veränderungen sind notwendig?

Jörg: Ich meine, das Problembewußtsein für Umwelt- und Entwicklungsfragen ist vorhanden. Jedoch müssen die Rahmenbedingungen verändert werden. Es müssen wieder Perspektiven für studentisches Engagement geschaffen werden. Es müssen dringend die Freiräume erweitert werden. Hierzu sind Reformen sowohl im Bereich der sozialen Situation von Studierenden wie auch der Studiensituation selbst notwendig. Statt in Vorlesungen stumpf über Dingen zu brüten, müssen beispielsweise interdisziplinäre Angebote die Möglichkeit bieten, Projekte gemeinsam zu bearbeiten.

Martin: Ich denke, man muß bei Studierenden und ihrem sinkenden Engagement ganz deutlich die sich rapide verschlechternden Studienbedingungen als Ursache erkennen. Mehr Semesterwochenstunden, weniger BAföG und mehr Prüfungen in weniger Zeit sind einfach klare Einschnitte, die die Möglichkeit erheblich reduzieren, sich neben dem regulären Studienplan zu engagieren. Zudem sind immer mehr Betriebe auf junge AbsolventInnen aus, die man im Betrieb noch formen und zurechtstutzen kann.

Frage: Welche Chancen und Probleme seht Ihr bei der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nachhaltigen Entwicklung auf Hochschulebene?

Jörg: Wenn man davon ausgeht, daß nachhaltige Entwicklung die Schicksalsfrage für die Entwicklung der Menschheit ist, müssen sich die Hochschulen viel stärker als bisher dieser Herausforderung stellen. Das Konzept ist dabei nicht nur auf die Bereiche Lehre und Forschung anzuwenden, sondern auch auf Fragen der Partizipation von Gruppen und Personen. Die universitäre Organisation und der laufende Betrieb der Universität müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Das Konzept der Nachhaltigkeit bietet die Möglichkeit, Strukturen grundlegend zu hinterfragen.

Martin: Ja, es hinterfragt automatisch das bestehende Wachstumsparadigma und die derzeitige Fortschrittsgläubigkeit. Eine intensivere Auseinandersetzung kommt mit Sicherheit zu dem Schluß, daß technische Einsparkonzepte nicht allein des Problems Lösung sind. Nachhaltige Entwicklung verlangt daher die Beschäftigung mit einem grundsätzlichen und tiefgreifenden Wandel. Probleme sehe ich darin, daß in der FH die Studierenden das Thema nur anstoßen können, durchsetzen können sie es nicht.

Jörg: Ich meine, man muß über das reine Anstoßen hinaus auch Sachen organisieren. Studierende sollten mit Unterstützung fortschrittlicher WissenschaftlerInnen gemeinsam an der Umsetzung der Vision der Nachhaltigkeit arbeiten. Gerade die Altachtundsechziger sollte man an ihre Verantwortung erinnern.

Martin Hellwig studiert elektrische Energietechnik an der FH Aachen; seit Mai 97 ist er im Vorstand des Freien Zusammenschlusses von StudentInnenschaften (fzs) tätig.
Jörg Gleisenstein studiert Raumplanung an der Uni-Dortmund, seit Juni 97 ist er AStA-Vorsitzender der Universität Dortmund.

zum Anfang | Die Verbetriebswirtschaftlichung der Hochschulen und die strukturelle Verantwortungslosigkeit der Wissenschaft

von Torsten Bultmann

Wer in Orientierung an den Prämissen »nachhaltiger Entwicklung« einen fordernden oder kritischen Blick auf die Hochschulen wirft, muß davon ausgehen, daß diese selbst ein Teil des Problems sind, zu dessen Lösung sie etwas beitragen sollen. Dies ist methodisch unabdingbar, um sich politisch nicht zu verzetteln. Ökologische Gefährdungen etwa sind auch eine Krise der traditionellen Formen, in denen Wissen erzeugt, weitergegeben und (sozial-)technisch angewandt wird. Bereits ein oberflächlicher Blick etwa auf Studienordnungen, dominante Leistungsmuster, Personal- und Entscheidungsstrukturen oder die beziehungslose Abgrenzung der Fachdisziplinen gegeneinander verdeutlicht, daß die »innere« Hochschulverfassung auch ein Abbild der traditionellen ökonomisch-technischen Fortschrittsdynamik ist, welche die Probleme miterzeugt hat, die den Ausgangspunkt der Nachhaltigkeitsdebatte bilden.

Die Frage ist nun, wie die überkommenen Hochschulstrukturen so modifiziert und schrittweise verändert werden können, daß perspektivisch eine (Eigen-)Entwicklungsdynamik in Richtung Beförderung von Nachhaltigkeit entsteht. Dieser Ansatz wirkt, zugegeben, bescheiden. Die Frage nach adäquaten Strukturen, nach Möglichkeiten einer Veränderung der Prozeßdynamik, scheint mir jedoch wesentlich politischer und radikaler zu sein, als etwa auf die ökologische Krise vor allem mit emphatischen normativ-moralischen Selbstverpflichtungen – Stichwort »wachsende Verantwortung der Wissenschaft« – zu reagieren, welche im Regelfall die tragenden Konstitutionsbedingungen des Wissenschaftssystems unangetastet lassen. Die Minimalvoraussetzung einer neuen Entwicklungslogik ist etwa die Verankerung fachlicher Alternativen zum akademischen Mainstream und die Repräsentation unterschiedlicher Interessen in der Entwicklung von Bildungsprogrammen und wissenschaftlichen Prioritäten. Nur entscheidungsoffene – und in letzter Konsequenz: nicht-hierarchische – Strukturen sind fehlertolerant, lernfähig und ermöglichen eine umfassendere Sichtweise auf Probleme (Stichwort Komplexität). Als notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung von Nachhaltigkeit würde ich folglich formulieren, daß das Hochschulsystem öffentlich finanziert, politisch reguliert und – weit über das bisher systemprägende ProfessorInnenkartell hinaus – demokratisch verfaßt ist.

Sicher nichts Neues, aber diese Prämissen wirken in dem Moment nicht mehr altbacken und zeitlos, wenn man sich vor Augen führt, daß damit auch die entscheidende Konfliktlinie mit der offiziellen Hochschulpolitik beschrieben ist. Deren konzeptionelle Quintessenz, wie sie sich als Schnittmenge von Ministerien, Wirtschafts- und führenden Wissenschaftsverbänden herausbildet, läßt sich im Kern in zwei Hauptansatzpunkten beschreiben.

Erstens: Eine Reform der Organisations- und Leitungsstrukturen in Richtung einer betriebswirtschaftlich verfaßten »Selbststeuerung«. Die so bedingte Aufwertung von Exekutiv- und Managementfunktionen ist folgerichtig verbunden mit der schrittweisen Relativierung und perspektivischen Abschaffung kooperativer Selbstverwaltungsgremien – bis hin zur öffentlich effektvoll inszenierten Absage an das historisch überlieferte Modell einer politisch konstruierten »Gruppenuniversität«. So der ehemalige WRK-Präsident George Turner im Handelsblatt (31.5.96): „Als ein wesentliches Hindernis zur Effizienzsteigerung der Hochschulen erweist sich die Entscheidungs- und Gremienstruktur. Die Hochschulen sind nicht aufgabenorientiert, sondern politisch konstruiert.“ Die Aussage unterstellt, es gäbe so etwas wie eine Aufgabe der Hochschule an sich, welche jenseits politischer und gesellschaftlicher Vereinbarungen bestimmbar sei. Darüber läßt sich vielleicht philosophisch streiten. Die praktische (und juristische) Konsequenz dieser Position wäre jedoch eine ganz unphilosophische: in dem Maße, wie politische Strukturen abgebaut werden, verschiebt sich die Definitionsmacht über wissenschaftliche Prioritäten folgerichtig stärker auf traditionelle akademische Eliten und diejenigen wissenschaftsexternen Kräfte, die dem Rest der Gesellschaft ihren Effizienzbegriff aufherrschen – womit wir wieder das alte »Gespensterdreieck« aus politischem Konservatismus, Patriarchat und Kapital stabilisiert hätten.

Zweiter Ansatzpunkt: eine stärkere administrative Regulierung des Studienverhaltens, wie sie insbesondere im aktuellen Entwurf der 4. HRG-Novelle ablesbar ist. Dazu gehören die Verdichtung von Prüfungen, Zwangsberatungen, Studienstandsnachweise ebenso wie Absichten einer stärkeren internen Stufung von Studiengängen. Im Referentenentwurf der HRG-Novelle wird Studienerfolg vor allem als ökonomische Größe definiert, die sich an der Studienzeit mißt. Organisatorisches Ziel ist die Erhöhung der studentischen Durchlaufgeschwindigkeit. Die darauf abzielenden Regulierungsansätze sind signifikanterweise vollständig von Aufgabenstellungen einer inhaltlichen Studienreform entkoppelt. Zu dieser ausschließlich wirtschaftlichen Bewertung der sozialen Funktion Bildung gehört ebenso die Festschreibung einer besonderen »Studierfähigkeitsfeststellung« in Form von Hochschulaufnahmeprüfungen zusätzlich zum Abitur. Aus wirtschaftlichem Blickwinkel sind Investitionen in Studienplätze nur dann potentiell rentabel, wenn ihre Inanspruchnahme an eine vorhergehende individuelle Leistungsprognose gekoppelt ist – womit in letzter Konsequenz das Recht auf Bildung abgeschafft wäre.

Der zentrale politisch-ideologische Modus operandi der gegenwärtigen Hochschulreform ist der Begriff der Effizienz. Unter Bedingungen rigider öffentlicher Haushaltskürzungen wirkt dies alles plausibel; etwa wenn die Hochschulen künftig stärker nach Leistung finanziert werden sollen. Die Stichworte dazu lauten: Indikatorisierung, leistungsorientierte Differenzierung der staatlichen Grundmittel, Übergang von der Input- zur Output-Finanzierung, deren Maßstab im Kern die quantitative Messungen isolierbarer wissenschaftlicher Resultate in Zeiteinheiten ist (Absolventen, Drittmittel, akademische Grade, Preise und Patente etc.). Uns wird eine Qualitätssteigerung durch mehr Wettbewerb versprochen.

Die Formel »Effizienz« ist zunächst sehr suggestiv, weil sie die Vorstellung einer rein funktionalistischen Sachneutralität erzeugt. Die Suggestion, es gäbe eine Effizienz an sich, ist jedoch Quatsch. Effizient kann ein Vorgang – etwa ein individueller Studienprozeß oder ein erfolgreiches Forschungsvorhaben – nicht in sich selbst (oder bezogen auf ein zeitliches Maß), sondern nur in Relation zur Erreichung definierter Ziele sein. Ebensowenig wie man generell den qualitativen gesellschaftlichen Nutzeffekt von Bildung und Wissenschaft quantitativ bestimmen kann, läßt sich aus der bloßen Relation von Menge und Geschwindigkeit ein Kriterium für die wissenschaftliche Beförderung nachhaltiger Entwicklung gewinnen. Meine These ist, daß wir uns in dem Maße von dieser sozialökologischen Zielsetzung entfernen, wie derartige Hochschulsteuerungsfunktionen nach dem Vorbild kapitalistischer Betriebswirtschaft Erfolg haben.

Natürlich spricht nichts gegen eine wirtschaftlich transparente Verwendung knapper Mittel. Wenn dies jedoch in Relation zu einem öffentlich legitimierbaren Nutzen von Wissenschaft erfolgen soll, müssen quantitative Kennziffern auf ein gesellschaftliches – und im Kern nur gesellschaftspolitisch definier- und legitimierbares – Konzept bezogen werden. Das jedoch ist eine genuin politische Frage, die durch ökonomische Selbststeuerungsmechanismen nicht beantwortbar ist. Die Frage lautet in einem demokratietheoretisch exakten Sinne: Wer entscheidet worüber? Eine wirkliche Hochschulreform müßte – anstelle der bloßen Quantifizierung und Beschleunigung von Arbeitsabläufen – an der Frage der Zielvereinbarungen ansetzen, welche den Wissenschaftsprozeß inhaltlich bestimmen. Im Kern ist dies die demokratische Frage.

Wenn ich als Gegenposition abschließend die Prämissen einer wirksamen politischen Hochschulreform grob umreißen sollte, dann müßte diese auf der Anerkennung zweier Tatsachen beruhen:

  • Hochschulen sind marktkomplementäre Einrichtungen: Die Aufgabe von Wissenschaft und Studium ist es gerade, Probleme und Aufgaben der langfristigen gesellschaftlichen Daseinsvorsorge zu bearbeiten, die in der Ware-Geld-Beziehung nicht erfaßbar sind.
  • Hochschulen sind hochgradig interessenpluralistische und zielambivalente Institutionen. Aus neoliberaler Sicht ist dieser Sachverhalt, d.h. die Tatsache, daß zu viele politisch organisierte Interessen mitreden, das entscheidende Hindernis für Effizienz und Zielklarheit. Ich drehe diese Aussage um: Interessenvielfalt ist kein Hindernis, sondern ein Vorteil, der entsprechende strukturelle Konsequenzen für innere Organisationsstrukturen der Hochschule und deren äußere gesellschaftliche und politische Einbindung haben müßte. Erstens: weil in einer pluralen Gesellschaft keine Gruppe aufgrund ihrer Marktmacht oder Nähe zum Staat beanspruchen kann, Wissenschaftsentwicklung ausschließlich in ihrem Sinne zu beeinflussen. Zweitens: weil die Vielfalt an Kooperationsbeziehungen, in denen Hochschulen stehen, unterschiedliche und umfassendere Sichtweisen auf Probleme fördert, und somit diese Vielfalt auch der wissenschaftlichen Entwicklung dienlich ist – vor allem jedoch der Vermeidung von Verengungen und Fehlentwicklungen. Hochschulinterne Demokratisierung und Öffnung zur Gesellschaft bedingen sich gegenseitig. Beides zusammengenommen ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Entwicklungsform potentiell ökologisch verantwortbarer Wissenschaft.

Torsten Bultmann ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)

zum Anfang | „… solange wir nicht die unbezahlte Hausarbeit aller Frauen in Frage stellen.“
Feministische Wissenschaft und Verzerrungen in der Nachhaltigkeitsdebatte

Barbara Nohr

Am Anfang war die Lücke: Frauen und ihre Lebenswelt kamen in der durch die männliche Optik beschränkten Wissenschaft entweder gar nicht vor oder wurden aus einer einseitigen Männerperspektive heraus als Objekte beschrieben. Das war und ist nicht verwunderlich – hat sich doch die Wissenschaft in all ihren Zweigen weitgehend ohne die Beteiligung von Frauen entwickelt. So wurde beispielsweise die Rolle von Frauen in der Geschichtsforschung weitgehend ignoriert, ihre Leistungen (z.B. durch unbezahlte Arbeit) für die Erschaffung und den Erhalt der Gesellschaft, Werke von Frauen in den Literatur- und Kulturwissenschaften blieben weitgehend unberücksichtigt. Dieser offensichtlich eingeschränkte Blick ließ feministische Wissenschaftlerinnen zunehmend am Gesamtgebäude Wissenschaft zweifeln: „Was ist das für eine Wissenschaft, die es, was uns betrifft, mit der Wahrheit nie sonderlich ernst genommen hat?“ – fragten sich die Veranstalterinnen der ersten Sommeruniversität für Frauen in Berlin 19761. Die Berliner Sommeruniversität für Frauen sollte den Versuch darstellen, Wissenschaft neu zu denken und gestalten: „Wir wollen nicht nur die akademische Wissenschaft um einen sogenannten Frauenaspekt additiv ergänzen, wir wollen nicht nur Forschungslücken erst entdecken und dann ausfüllen. Wir wollen mehr als nur Objekt und Subjekt der Wissenschaft werden: wir wollen sie und die Gesellschaft verändern“ (18).

Folgende Anforderungen stellten die Frauen an Hochschule und Wissenschaft:

  • Die Hochschule soll für alle (Frauen) offen sein und allen etwas bieten.
  • In der Hochschule soll interdisziplinär geforscht werden.
  • Die Wissenschaft soll sich an einer kollektiven Praxis von gesellschaftlicher Macht für alle Frauen orientieren, „sei es in unseren Kämpfen im Umkreis der Frauenzentren, sei es in denen an unseren Arbeitsplätzen“ (20).
  • Die Situation von großen Massen, von Klassen und vor allem der vernachlässigten weiblichen Bevölkerung soll behandelt werden.
  • Die Geschlechterhierarchie soll – ebenso wie andere Formen sozialer Ungleichheit – aufgedeckt und kritisiert werden. Gleichzeitig geht es darum, Konzepte für ihren Abbau zu entwickeln.
  • Bezogen auf die Frauenuniversität geht es um Autonomie, im Sinne von Selbstbestimmung und institutioneller Unabhängigkeit.
  • Die eigenen (weiblichen) Erfahrungen sollen wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden.

Die letztgenannte Forderung knüpft an die Parole der neuen Frauenbewegung »Das Private ist politisch« an. Dabei sollte es in erster Linie darum gehen, sogenannte private (und damit tabuisierte) Erfahrungen von Frauen wie Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung in der Ehe zu politisieren und als Strukturkomponente der patriarchalen Gesellschaft zu entlarven. Ein zweites wesentliches Thema bildete die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die daraus resultierende Ausbeutung und Unterdrückung: „Wir wissen, daß wir uns an der Universität nicht befreien können, solange wir nicht die unbezahlte Hausarbeit aller Frauen in Frage stellen,“ so die Organisatorinnen der Berliner Sommeruniversität.

Mit der Zeit hat sich das, was sich feministische Wissenschaft oder Wissenschaftskritik nennt, wesentlich ausdifferenziert.2 Nachdem feministische Wissenschaftskritik insbesondere in die Geistes- und Sozialwissenschaften (halbwegs, aber immerhin …) Eingang finden konnte, werden zunehmend die Technik- und Naturwissenschaften kritisch durchleuchtet und in ihrer patriarchalen Prägung kritisiert.

Frauen für eine andere technische Zivilisation

Als herausragende (weil viel diskutierte) Veröffentlichung diesbezüglich kann die 1990 unter Federführung von Doris Janshen verfaßte »Denkschrift für eine andere Zivilisation – Hat die Technik ein Geschlecht?«3 angesehen werden. Die Autorinnen fürchten „Zerstörung und Verlust der Grundlagen für zukünftiges Leben“ (ebd. 7). Insbesondere durch Technik sind die alltäglichen Lebensgrundlagen bedroht: „Schönheit und bereichernde Kraft der Technik treten immer mehr zurück hinter ihre Nutzung als einem Werkzeug für Herrschaft und Zerstörung“ (ebd.). Die Autorinnen wollen, daß dies anders wird: „Das zivilisatorische Projekt der Technik ist fest in Männerhand. Zulange haben wir Frauen geschwiegen. (…) Wir wollen eine Technik, die Mensch, Tier und Umwelt dient“ (ebd.). Grundpfeiler ihrer Programmatik sind die »weiblichen« Eigenschaften: „Beziehungsfähigkeit, Empathie, Orientierung mehr aufs Leben als auf die Sache“ (ebd. 8). Vor allem Frauen „rückt die Technik auf die Haut“ (16ff.): „Sind die zwischenmenschlichen Beziehungen – womöglich auch die den Frauen zugeschriebene besondere Beziehungsfähigkeit – durch den kühlen Atem der Rationalisierung bedroht?“

Zur baldigen Umsetzung fordern sie eine Technische Universität der Frauen, in der nicht nur Wege zur Gleichstellung der Geschlechter erarbeitet werden sollen, sondern weit mehr: „technische Ansatzpunkte für eine Überlebenschance der Menschheit“ (Denkschrift 23) werden von ihr erwartet. Die männliche Technikdomäne soll menschendienlich umgebaut werden, die Autorinnen wollen „zum Aufbruch in die zivilisatorische Wende (…) motivieren“ (ebd. 28).

Hier fallen einige Parallelen zu Konzepten »nachhaltiger Entwicklung« ins Auge: der Wille zur Wende, die Furcht vor den Folgen bisherigen (Miß-)Wirtschaftens und nicht zuletzt der moralische Zeigefinger. Zuvor jedoch eine Kritik an der differenztheoretischen und letztlich konservativen Grundlage der Denkschrift.4

Sicherlich ist es in Anbetracht der umweltpolitischen Lage wünschenswert und notwendig, nach neuen Formen des Wirtschaftens zu suchen. Oder: nach gangbaren Wegen in Richtung »nachhaltige Entwicklung« – wie es die Agenda 21 formuliert. Aufgabe einer feministischen Wissenschaft kann es jedoch nicht sein, die »Wende« oder »Umkehr« o.ä. den Frauen zu überantworten, wie es in Konzepten der Technischen Universität für Frauen und der oben zitierten Denkschrift zu lesen ist. Mit moralischem Zeigefinger sollen hier Frauen unter Verweis auf den drohenden Untergang unseres Planeten in die Pflicht genommen werden, die Menschheit vor weiterer patriarchaler Zerstörungswut zu retten und »weibliche« Gegenkonzepte zu entwickeln. Diese differenztheoretische Glorifizierung des »Weiblichen« knüpft – wie Angelika Wetterer herausgearbeitet hat – an ganz und gar nicht feministische Traditionen an: „In die Falle sind schon Generationen von Frauen getappt, die »weiblich« wurden oder blieben oder zumindest zu leben versuchten, weil davon das Wohl der Kinder, der Familie, der Nation oder wessen auch immer (angeblich) abhing. Selten jedenfalls ihr eigenes“ (Wetterer 1996: 267). Frauenpolitische Konzepte müssen statt einer oberflächlichen Aufwertung des »Weiblichen« die Auflösung von hierarchischen Geschlechterverhältnissen zum Ziel haben. Das schließt nicht aus, kritische Fragen an die Technikentwicklung hinsichtlich der spezifischen Betroffenheit von Frauen zu stellen (s.u.).

Schnittstelle Nachhaltigkeit?

Auch die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« formuliert als ihr zentrales Anliegen eine Wende: „die Umstellung der Weichen“ (19).

Und auch hier wird die Verantwortung – implizit – den Frauen zugeschoben. Eine nachhaltige Entwicklung erfordert – darüber ist man sich einig – ein ressourcenschonendes Wirtschaften. Im Blickpunkt dieser Ressourcenschonung stehen jedoch – zumindest was die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« anbelangt – die privaten Haushalte5, also der Reproduktionsbereich.

Energiebewußtes Verhalten schließt dann beispielsweise den Verzicht auf immer neue elektrische Anwendungen (zum Beispiel elektrische Dosenöffner) genauso ein, wie die Rückbesinnung auf energiesparende Verhaltensweisen, die an die natürlichen Möglichkeiten angepaßt sind (zum Beispiel Wäschetrocknen an der Leine anstatt im Wäschetrockner)“ (Zukunftsfähiges Deutschland, S. 341), lautet eine in diesem Zusammenhang vielzitierte Passage. Der o. g. Verzicht formiert sich dabei mal wieder auf dem Rücken eines unbezahlten Reproduktionssektors. Dessen Bedeutung und Wertschätzung wird zwar von den Autoren mit moralischen Appellen aufgewertet, wobei jedoch geflissentlich übersehen wird, daß gerade dieser Bereich zum »natürlichen Betätigungsfeld« der Frauen gerechnet wird.6 Insgesamt kann der Studie ein individualistischer Ansatz vorgeworfen werden, dessen konkrete Einsparungsvorschläge sich eben nicht in erster Linie an die Industrie oder gegen die Unmengen von Ressourcen, die zur Aufrechterhaltung dieser Art des Wirtschaftens und Regierens nötig sind, richten. Statt dessen werden die Abschaffung von Küchengeräten, Energieeinsparungen und Ernährungsumstellungen empfohlen, die insbesondere Frauen eine erhebliche Mehrarbeit abverlangen.

Kann feministische Wissenschaftskritik einen Beitrag leisten?

Solange wir in einer zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft leben, muß eine feministische Wissenschaft auf diese als Ausgangsbedingung wissenschaftlicher Analysen und politischen Handelns Bezug nehmen. Dieser Anspruch muß auch an Studien wie »Zukunftsfähiges Deutschland« gestellt werden. Natürlich ist es sinnvoll, nach anderen Formen des Wirtschaftens zu suchen, allerdings nach solchen, die nicht auf dem Rücken von Frauen ausgetragen werden. Also nach solchen, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gerade nicht fortschreiben, sondern im Gegenteil aufzuheben versuchen. Hier bleibt für FeministInnen – und dabei sind nicht nur WissenschaftlerInnen angesprochen – noch eine Menge zu tun. Wenig hilfreich sind m.E. Konzepte, die auf »Weiblichkeit« als heilsbringendes Prinzip bauen. Im Gegenteil müssen sich Frauen zwar einerseits darüber bewußt sein, daß sie in einer patriarchalen Gesellschaft wie der BRD andere, untere Plätze zugewiesen bekommen und daher oftmals andere Perspektiven haben. Es gilt jedoch, gerade diese „Zumutungen“ (Wetterer) zu dekonstruieren und gleichzeitig aufzupassen, daß die vorhandenen Hierarchien nicht noch verstärkt werden.

In diesem Sinne geht m.E. das inhaltliche Konzept der Internationalen Frauenuniversität während der EXPO 2000 in die richtige Richtung (wobei sich die Frage stellt, inwieweit eine derartige Selbstinszenierung des Kapitals, wie sie die EXPO 2000 verfolgt, mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar ist).7

Bestimmend für die inhaltliche Arbeit an der Frauenuniversität sollen folgende Leitgedanken sein:

  • Eine feministische Orientierung, indem das Geschlechterverhältnis zum Bezugspunkt der Analyse gemacht wird.
  • Die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Wissenschaftsentwicklung und gesellschaftlichen Veränderungen.
  • Eine interdisziplinäre Ausrichtung einzelner Projektbereiche.
  • Die Diskussion und Erarbeitung der Projektthemen in ihrer internationalen, globalen Dimension.
  • Die Anwendung von Methoden und Medien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Bereichen.

Eine Wissenschaft, die feministische Ansätze, wie sie eingangs beschrieben wurden, ernsthaft umsetzt, käme sicherlich zu anderen Lösungen, als die in der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« entworfenen.

Barbara Nohr ist Sozialwissenschaftlerin

zum Anfang | Fairer Sportsgeist an den Hochschulen!?

von Martin Hellwig

Die momentane Nachhaltigkeitsdebatte um ein »zukunftsfähiges Deutschland« macht auch vor den Hochschulen nicht halt. Besonders sie sind gefragt, wenn es darum geht, Deutschland fit für das 21. Jahrhundert zu machen.

Und das in zweifacher Hinsicht: Einmal geht es darum, daß die Hochschulen sich an diesem Prozeß einer »Nachhaltigen Entwicklung« mit ihrem Innovationspotential beteiligen. Zum anderen müssen die Hochschulen, um im globalen Nachhaltigkeitsspiel mitspielen zu können, sich selbst dieser Entwicklung öffnen. Dazu ist es logischer Weise nötig, den zur Zeit herrschenden Problemen an den Hochschulen, wie studentische Überlastung und finanzielle Unterversorgung, etwas entgegenzusetzen. Und zwar etwas Nachhaltiges.

Als ebenso grandiose wie einfache Lösung aller Probleme der deutschen Hochschulen wird von vielen BildungspolitikerInnen, bzw. solchen, die es sein wollen, seit einiger Zeit das Prinzip des Wettbewerbs propagiert.

Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BdA), Dieter Hundt, der in diesem Zusammenhang nicht von einer Lehrstellen-, sondern von einer Bildungskatastrophe spricht, hat da schon ganz konkrete Vorstellungen: „… es muß klar sein, daß es Bildungswettbewerb nur dann geben kann, wenn wir Vergleichbarkeit und Meßbarkeit haben. Abitur ist nur gleich Abitur, wenn wir eine einheitliche Meßlatte einziehen, über die jeder springen muß, der studieren will.“ (FR vom 17.10.97, S. 4)

Bildung muß also meßbar und vergleichbar gemacht werden. Damit Bildung auf dem freien Hochschulmarkt noch eine Chance hat, muß sie effektiver und preiswerter gestaltet werden. Sie muß sich an den Erwartungen und Forderungen von Angebot und Nachfrage orientieren, standortgerecht sein und der Profilbildung dienen. Um Meßbarkeit zu bekommen, müssen Meßgrößen eingeführt werden. Die Frage, mit welchen Größen so etwas abstraktes und komplexes wie Bildung gemessen werden kann, stellt sich zurecht. Hier bietet die Markwirtschaft technokratische Ansätze: Was in eine Hochschule hineingesteckt wird und dabei herauskommt, kann anhand von Finanzierungsdaten, Erstsemesterlnnenzahlen, Abbrecherlnnen- und Absolventlnnenzahlen sowie Durchschnittsstudienzeiten ermittelt werden. Alles innerhalb einer mathematischen Formel miteinander in Beziehung gesetzt, bekommt man die Effektivität und das Preis-Leistungs-Verhältnis der jeweiligen Hochschule. Da bei jeder Hochschule dieselben Daten und dieselbe Formel verwendet werden, können die Ergebnisse miteinander verglichen und in einer Ranking-Liste überschaubar dargestellt werden. Der Kreis schließt sich, wenn die finanzielle Ausstattung abhängig vom Listenplatz gemacht wird.

Damit eine Hochschule einen Platz in der oberen Region innehat, und damit gute Aussichten auf Forschungsaufträge, Drittmittel und internationale Anerkennung, müssen also die ErstsemesterInnenzahlen und die Abrecherlnnenquoten gesenkt werden. Wenn weniger in den Hochschulen drin sind, können weniger ihr Studium abbrechen und die, die übriggeblieben sind, ihr Studium erfolgreich abschließen.

Der Chef der Arbeitgeberverbände beschreibt das so: „Studierfähigkeit und Elitenauswahl sind die Ziele eines demokratischen Bildungsideals, nicht bloße Massenproduktion von Abschlüssen. Deutschland kann es sich nicht länger leisten, daß eine föderalistisch verbrämte Intransparenz die Schulszene (auch die Hochschulszene, M.H.) bestimmt.“ Und weiter: „Ich meine, es ist im Grunde selbstverständlich, daß wir in der Schule (auch in der Hochschule, M.H.) einen fairen Sportsgeist fördern und klar machen, daß Leistung und Belohnung zusammengehören.“ (FR vom 17.10.97, S. 4)

Nicht nur Schulen und Hochschulen sollen sich den Kräften des Marktes aussetzen, sondern auch die Schülerlnnen und Studentlnnen. Sie sollen Bildung schneller und effektiver konsumieren, auf Schnickschnack wie BAföG und Wohngeld möglichst verzichten und an einem Engagement außerhalb der (Hoch-)Schule nur interessiert sein, wenn es um Einwerbung von Drittmitteln, schul- oder studienbezogenen Kontakten ins Ausland oder das Anfertigen von Diplom- bzw Doktorarbeiten geht. StudentInnen sollen sich untereinander Konkurrenz machen, wenn sie sich bei ihrer Wunschhochschule bewerben. Die mittels Auswahlgespräch ermittelten Besten (???) bekommen einen Studienplatz; eine Zwischenprüfung nach dem vierten Semester siebt die nicht ganz so »Fleißigen und Ehrgeizigen« heraus, so daß Industrie und Wirtschaft wirklich nur noch die bekommen, die möglichst schnell, möglichst viel und möglichst kritiklos Wissen in sich aufgenommen haben; bereit zur profitorientierten Verwertung und zur Jagd nach dem Machbaren.

Tendenzen einer solchen Entwicklung sind sehr deutlich bei der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) zu sehen. Dort wird den Hochschulen die Möglichkeit gegeben, durch Auswahlgespräche und Exmatrikulation bei nichtbestandener Zwischenprüfung »Leistung« zu belohnen und ihr Profil deutlicher zu konturieren. Durch die Androhung von Studiengebühren, wie sie im neuen HRG zwar nicht steht, aber auch nicht bundeseinheitlich verboten wird, wird das Studium auf das Lernen für und das Bestehen von Prüfungen reduziert. Nicht nur die, die am besten Auswendiglernen können, kommen durch, sondern vor allem die, die sich das Auswendiglernen auch noch leisten können.

Die Vordenkerlnnen einer nachhaltigen Entwicklung haben sicherlich Recht mit der Annahme, daß es so wie bisher nicht mehr weiter gehen kann. Auch die Hochschulen müssen ihren Weg ändern. Die Frage ist nur wohin und wie?

Durch mehr Wettbewerb die angebliche Qualität der Ware Bildung und damit die des Standorts Deutschland zu sichern, ist ein Weg. Aber hierbei sind Richtung und Methode falsch. Die anstehenden ökologischen und ökonomischen Probleme lassen sich nicht mit Strategien eines Systems lösen, welches für diese Probleme verantwortlich ist. »Sustainable Development« bietet technokratische Ansätze, die sich innerhalb der Grenzen bewegen, die wir überschreiten müssen, wenn wir uns wirklich nachhaltig entwickeln wollen.

Dabei sind im Zusammenhang mit Hochschule zwei Gedanken wichtig:

  • Erstens dürfen wir nicht länger alles durch die Standortbrille betrachten. Nicht alles, was höher, weiter und schneller ist, ist gleichzeitig auch besser. Und nicht alles, was gut ist für den Standort Deutschland, ist auch gut für die Menschen, die in ihm leben. Es ist fatal, das Wohlergehen einer Gesellschaft mit dem Wohlergehen der Wirtschaft gleichzusetzen und das menschliche Miteinander auf Wirtschaftsdaten zu reduzieren. Durch die Individualisierung der Probleme verschwimmt die Verantwortlichkeit und damit auch die Möglichkeit, hieraus wirksame Lösungsansätze zu entwickeln.
  • Zweitens läßt sich Qualität von Bildung nicht am Input oder Output von Hochschulen messen. Weniger StudentInnen entlasten die Hochschulen nur kurzfristig, staatliche Finanzmittel werden immer spärlicher fließen und private Stiftungen oder Firmen lassen nur noch wenige Hochschulen offen. Die Reduzierung der Anzahl der StudentInnen auf ein von Industrie und Wirtschaft bestimmtes Niveau verhindert die Entwicklung der zur Problemlösung notwendigen Kreativität und lnterdisziplinarität. Nur durch die Gedanken, Vorstellungen und Ideen vieler lassen sich die drängenden und lebensbedrohenden Fragen nach dem Wie und Wohin beantworten, lassen sich Strategien entwickeln, die wirkliche menschenfreundliche Lösungen hervorbringen.

Nachhaltige Entwicklung darf nicht an den Grenzen des Systems aufhören. Für die Hochschulen bedeutet das Einstieg in einen gesellschaftlichen Diskurs um die Neubestimmung der Aufgaben, der Strukturen und der Inhalte. Diskussionen darüber müssen transparent und offen geführt und Entscheidungen demokratisch und unter Einbezug aller getroffen werden. Veränderungen dürfen sich nicht auf die technokratische Ebene beschränken, sie müssen die inhaltliche Ebene mit einbeziehen.

Martin Hellwig studiert elektrische Energietechnik und ist Vostandsmitglied des Freien Zusammenschlusses der StudentInnenschaften (fzs).

zum Anfang | Statt reden – studieren. Das interdisziplinäre Studienreformprojekt »Nachhaltige UniDO«

von Jörn Birkmann

Seit gut einem Jahr bietet das interdisziplinäre Studienrefromprojekt »Nachhaltige UniDO« Studierenden die Möglichkeit, sich außerhalb des gewohnten Studienrahmens mit der Konkretisierung des Konzeptes der nachhaltigen bzw. zukunftsfähigen Entwicklung am eigenen Lern- und Erfahrungsraum – Universität Dortmund – zu beschäftigen. Studierende und WissenschaftlerInnen haben sich zum Ziel gesetzt, in interdisziplinären Projekten, nicht nur über das hehre Anliegen theoretisch zu diskutieren, sondern durch einen gemeinsamen Lern- und Gestaltungsprozeß konkrete Schritte und Maßnahmen für eine »nachhaltige« bzw. »zukunftsfähige« Hochschule zu entwickeln und umzusetzen.

Der Kontext

Nachhaltige Entwicklung (sustainable Development) wurde auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 als Leitbild einer verantwortungsvollen und zukunftsorientierten Politik festgeschrieben (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 1992). Mit der Agenda 21, dem zentralen Beschlußdokument der UNCED, sollen die Weichen für eine zukunftsverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise gestellt werden. Es gilt, durch die gleichrangige Behandlung ökologischer, ökonomischer und sozialer Belange, die Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Gut fünf Jahre nach der UNCED wird das Konzept Nachhaltigkeit, wie insbesondere die UN-Sondergeneralversammlung im Juni 97 zeigte, auf nationalstaatlicher Ebene im Problemstau abgestellt. Demgegenüber haben sich jedoch zahlreiche Initiativen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene gebildet, die die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu verwirklichen suchen.

In diesem Zusammenhang bewegt sich auch das interdisziplinäre Studienreformprojekt »Nachhaltige UniDO«. Das Studienreformprojekt ist von Studierenden und engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Unterstützung des Rektorates, des Hochschuldidaktischen Zentrums sowie des Institutes für Umweltforschung initiiert worden. Zentraler Ansatzpunkt des interdisziplinären Studienreformprojektes ist die Frage, welche Forderungen an Wissenschaft und Praxis aus dem Postulat der Nachhaltigkeit abzuleiten sind und wie sie umgesetzt werden können. Untersuchungsgegenstand ist die Universität selbst: Lehr- und Forschungsaktivitäten, Organisation, Infrastruktur sowie Studierende und Wissenschaftler etc. Das Gesamtprojekt setzt sich aus zahlreichen interdisziplinären Teilprojekten zusammen, die jeweils eine bestimmte Problemstellung aus unterschiedlichen Perspektiven (Fachdisziplinen) beleuchten und erforschen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Lern- und Erfahrungsraum Universität bietet dabei einen starken Praxisbezug.

Der Ablauf

In einer öffentlichen Auftaktveranstaltung werden zu Beginn des Semesters die Projektvorschläge von den BetreuerInnen vorgestellt. Neben der interdisziplinären Zusammensetzung der BetreuerInnen muß auch die Fragestellung interdisziplinär bearbeitbar sein. Die jeweiligen Fragestellungen werden im Verlauf der Projekte je nach der Zusammensetzung der TeilnehmerInnen ergänzt und konkretisiert. Im zurückliegenden Studienjahr reichten die Projektvorschläge von der Fragestellung einer nachhaltigeren Energienutzung, über die Analyse des Mobilitätsverhaltens der Studierenden bis zur Entwicklung von Indikatoren für die Beurteilung der Nachhaltigkeit des Organismus UniDO.

Neben den interdisziplinären Studienarbeiten und der inhaltlichen Betreuung durch die WissenschaftlerInnen dient ein Rahmenprogramm mit Vorträgen und Exkursionen zur vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nachhaltigkeit. Im vergangenen Semester boten die unterschiedlichen ReferentInnen, vom Vertreter der Chemieindustrie über die Vorsitzende der Enquete Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt« bis hin zur Theologin aus Aachen, eine umfangreiche Darstellung des Konzeptes Nachhaltigkeit von verschiedenen Standpunkten aus. Die Rahmenveranstaltungen bieten den Studierenden, die sehr unterschiedliches Wissen über das Thema Nachhaltigkeit besitzen, eine gemeinsame Wissensbasis als Grundlage ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit.

Aufgrund der doch erheblichen Sprachunterschiede zwischen einzelnen Fachdisziplinen wird eine Schreib- und Präsentationswerkstatt angeboten, die die interdisziplinäre Teamarbeit in den Projektgruppen fördert und erleichtert. Ein Problem innerhalb des Projektes »Nachhaltige UniDO« stellt teilweise die Anerkennung der interdisziplinären Leistung im jeweiligen Studiengang dar. Trotz der Forderung nach mehr Interdisziplinarität verlangen die meisten Fakultäten, für die Anerkennung interdisziplinärer Studienleistungen als ordentliche Facharbeit eine tiefgreifende einzelwissenschaftliche Leistung im Sinne ihrer Disziplin. Das diese Forderung nicht immer mit dem Ziel der interdisziplinären Projektarbeit vereinbar ist, ist offensichtlich, so daß Strukturen geschaffen werden müssen, die der interdisziplinären Teamarbeit mehr Raum bieten.

Die Projekte

Das erste interdisziplinäre Teilprojekt erarbeitete Indikatoren zur Beurteilung der Nachhaltigkeit für den Organismus Uni DO. Die Hochschule wurde dabei als ein Organismus, der in vielen lebendigen Wechselbeziehungen steht, betrachtet. Neben der Thematisierung des Konzeptes der Nachhaltigkeit aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen wurden verschiedene Indikatorenkonzepte auf ihre Fähigkeit hin analysiert, sowohl ökologische, wie auch soziale und ökonomische Aspekte abbildbar bzw. meßbar zu machen. Der Syndromansatz des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen« (WGBU) spielte in diesem Projekt eine wesentliche Rolle. Als ein zentrales Krankheitsbild des Organismus UniDO wurde die stark steigende Daten- und Informationsflut ausfindig gemacht, die einhergeht mit ständigen Neuanschaffungen von Informations- und Kommunikationstechnologien, die wiederum mehr Daten und Informationen aufnehmen und produzieren. Daß dieses Syndrom erhebliche Umweltauswirkungen nach sich zieht, wurde am Beispiel des Elektronikschrottes verdeutlicht.

Das zweite Projekt analysierte die Wohnstandorte der Studierenden und untersuchte daraus resultierende Mobilitätszwänge und Umweltfolgen. Die Untersuchung ergab unter anderem, daß nur rund ein Drittel der Studierenden in Uninähe wohnen und von den zahlreichen Fernpendlern ein Drittel mit dem Auto zur Uni fährt. Es wurden konkrete Maßnahmenvorschläge und mögliche Alternativen zur derzeitigen Pendleruni erarbeitet.

Das dritte Projekt befaßt sich mit technischen und verhaltensorientierten Maßnahmen zur Energieeinsparung an der Uni Dortmund. Neben der Erarbeitung möglicher technischer Energieeinsparmöglichkeiten wurden mit einer Befragung unter Studierenden und WissenschaftlerInnen erhebliche Einsparpotentiale durch mögliche Verhaltensänderungen ermittelt. Diese Maßnahmenvorschläge zur Verhaltensänderung und zu technischen Neuerungen sollen nun in einem weiteren Projekt in ein konkretes Kampagnenprogramm umgesetzt werden.

Mit dem Thema Energie befaßt sich auch das vierte Projekt, daß das neue Blockheizkraftwerk (BHKW) der Uni Dortmund auf seine ökologischen und ökonomischen Vor- und Nachteile hin untersuchte. Es stellte fest: „Selbst bei Berücksichtigung der hohen Kapitalkosten reduzieren sich für das Referenzjahr 1995 die Energiekosten der Universität um über 800.000 DM. Damit wurden die ursprünglich geplanten Werte übertroffen.“ (Birkmann et al, 1997)

Leitung des Projektes

Auf Vorschlag der studentischen Initiatoren wird das Projekt von einem Koordinationskreis geleitet, in dem sowohl Studierende, WissenschaftlerInnen und die beiden Institute, das Institut für Umweltforschung und das Hochschuldidaktische Zentrum, gleichermaßen vertreten sind. Diese Strukturen des Koordinationskreises bieten die Möglichkeit, daß Studierende, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und ProfessorInnen gleichberechtigt und hierarchiefrei zusammenarbeiten.

So kann der Koordinationskreis wesentlich innovativer agieren, als die gesetzlich verankerten Selbstverwaltungsgremien.

Fazit

Obwohl es erhebliche Probleme bei der Initiierung und Anerkennung (als Studienleistung) des interdisziplinären Projektes »Nachhaltige Uni DO« gab, kann ich als Mitinitiator und Teilnehmer nur dazu motivieren, an anderen Orten gleiche Projekte ins Leben zu rufen.

Erst durch das Projekt sind die Schritte zu einer nachhaltigeren Universität klarer geworden. Die Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung wird nicht mehr in abgeschlossenen Expertenkreisen geführt, sondern am faßbaren Beispiel, dem eigenen Lern- und Erfahrungsraum Hochschule, konkretisiert. Diesen Schritt hat das Projekt »Nachhaltige UniDO« durch verschiedene Teilprojekte bereits erreicht. Trotz der noch nicht quantifizierbaren Umweltentlastungen ist die gemeinsame Betrachtung ökologischer, sozialer und ökonomischer Aspekte in interdisziplinären Studienprojekten ein wichtiger Baustein für mehr Zukunftsfähigkeit in Lehre und Forschung.

Mit der Aufnahme des interdisziplinären Projektes »Nachhaltige Uni DO« in das Aktionsprogramm »Qualität der Lehre« des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen als innovatives Reformprojekt von überregionaler Bedeutung, kurz »Leuchturmprojekt«, sind auch die finanziellen Weichen für die Zukunft gestellt.

Zu hoffen bleibt, daß damit die fachübergreifende Beschäftigung mit dem Themenkomplex nachhaltige Entwicklung einen festen Platz an der Universität Dortmund erhält und einen Beitrag zur Reform der Hochschule leistet.

Literatur

Birkmann, Jörn; Bonhoff, Claudia; Daum, Wolfgang…(Hrsg.): Nachhaltigkeit und Hochschulentwicklung – Projekte auf dem Weg der Agenda 21, Projekt-Verlag, 1997.

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (Hrsg.): Umweltpolitik. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro. Agenda 21, Dokumente. Bonn.

Jörn Birkmann ist Student der Raumplanung und Mitinitiator des Projektes »Nachhaltige UniDo«

zum Anfang | Studienbüros an der TU Berlin

von Carsten von Wissel

Gremien – die Orte, an denen Entscheidungen in Universitäten stattfinden soll(t)en – weisen ein entscheidendes Problem auf: ihr Hang zum Minimalkonsens. Entscheidungen werden vielfach vermieden, wenn sie zustandekommen, liegt ihnen häufig ein Prinzip von Interessenausgleich an Stelle eines von Sachangemessenheit zugrunde. Für sich genommen erscheint das schon problematisch, problemverschärfend wirkt sich jedoch aus, daß es eine Vielzahl von Organisationszielen gibt. Diese sind im Sinne von Zielhierarchien nicht auskommuniziert und konkrete Organisationsziele werden schon gar nicht von jeweils allen Beteiligten konsensual geteilt.

Die Aufgabenerfüllung in Forschung und Lehre liegt in den Händen der HochschullehrerInnen. Orientierungsrahmen sind die Verhaltens- und Leistungsnormen ihrer Disziplinen, der organisationale Rahmen bleibt sekundär. Daraus resultiert Segmentierung und Kommunikationsreduktion. Dies wirkt sich z.B. bei der Organisation der Lehre aus, aber nicht nur dort. Disziplinübergreifende Kommunikation beschränkt sich auf ein Minimum. Die Disziplinen – so ein weitverbreitetes Bewußtsein – sind aufeinander zunächst einmal nicht angewiesen.

Diese Gemengelage kumuliert in einer nicht unbedingt konsistenten Gremienstruktur, bestehend aus modernen und durchaus vormodernen Elementen. Das Entscheidungssystem oszilliert zwischen Demokratie, ständisch geprägter Oligarchie und präsidialer – wiederum demokratisch und ständisch gebremster – Monokratie. Es läge nahe, Universitäten zumindest idealtypisch als Konsensgebilde zu denken und die Entscheidungsinstanzen dementsprechend zu strukturieren, auch die Komplexität, die Handhabung von Wissen als Basisaufgabe läßt daran denken. Die Gremienstruktur ist jedoch nicht so. Die Notwendigkeit, auch im Konfliktfall zu einem alle Beteiligten einschließenden Konsens zu gelangen, wird durch die festgeschriebene Mehrheit der HochschullehrerInnen eliminiert. Die »Ratio« des Systems ist also, daß eine Personalkategorie Konsensfähigkeit und Qualität ihrer Programmentwicklung und -formulierung vernachlässigen kann, da sie im Konfliktfall alleine imstande ist, sich durchzusetzen.

Auswirkungen, Lösungsversuche

Der Mainstream der Hochschulsteuerungsdebatte kommt ohne Umschweife zur Wurzel des Übels. Ursache sei die innere (mitunter gar zu weit getriebene) Demokratisierung der akademischen Selbstverwaltung, die dazu führe, daß die notwendigen Entscheidungen im Gewirr partizipativer Strukturen hängenblieben. Es ginge – so läßt sich vieles lesen – letztlich nur darum, Dezision einzuziehen und schon hätte man Hochschulen zu effizienten Dienstleistungseinrichtungen transformiert. Man bräuchte dann bloß noch ein effizientes Management, das die gegenüber (demnächst ja zahlenden) KundInnen fälligen Dienstleistungen erbringt und koordiniert. Es bleibt mir allerdings schleierhaft, wie und warum man mit derlei Instrumentarium die oben umrissene Situation in den Griff zu bekommen gedenkt. Die Diagnose, daß es an Entscheidungen fehlt, ist zwar richtig, es erscheint mir aber zweifelhaft, ob das Problem mit Entscheidungen von oben gelöst werden kann. Schließlich dürfte es unmöglich sein, Qualitätsverbesserung von Forschung und Lehre zu dekretieren. Soweit die nicht anschlußfähigen Fragen an die VertreterInnen der Managementlehre. Nun komme ich zum Anschlußfähigen.

Es gibt sowohl die gerne betonte Verantwortungskrise (kaum jemand der in den Gremien Mitentscheidenden hat gegenüber anderen Rechenschaft abzulegen), als auch die Managementkrise (Universitäten sind unstrittig selbststeuerungsdefizitäre tankerhafte Großorganisationen und es gibt ebenfalls ohne jeden Zweifel die den Universitäten vorgehaltene Effizienzkrise; Entscheidungsprozesse und Leistungserbringungsprozesse verlaufen in der Tat ineffizient, vieles ist teuerer als es sein müßte, nicht alle, aber viele der Gründe sind hausgemacht.

Dies sind die drei Standardkrisen, sie alle aber haben einen Kontext. Man könnte ihn schlagworthaftig als Kommunikations- und Informationskrise bezeichnen:

  • Disziplinen grenzen sich gegeneinander ab, Kommunikation wird reduziert, interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht selten negativ sanktioniert, ansonsten nur instrumentell kollaboriert. Dies erschwert eine fachübergreifende Problemformulierung und bringt z.B. Umweltwissenschaften nicht gerade voran – demzufolge sind Universitäten im umweltwissenschaftlichen Bereich im Rückstand.
  • Interessenartikulation und Entscheidungsfindung erfolgt statusgruppenbezogen. Dies gilt sowohl für HochschullehrerInnengruppen, als auch für Personalvertretungen; auch Viertelparität vermochte hieran kaum etwas zu ändern. Auf gleicher hierarchischer Ebene ist Kollegialität die Leitlinie: Ergebnis ist dann der vielbeklagte Minimalkonsens.
  • Forschung und Lehre, Verwaltung, Leitung – alles folgt den jeweils eigenen immanenten Bewegungsgesetzen und Präferenzordnungen, wechselseitige Anforderungen werden jeweils als Zumutungen wahrgenommen, jedes Funktionssystem pflegt seine Organisationsmythen und Vorurteilssammlungen über sich und die anderen.
  • Es fehlt nicht zuletzt an substantiellem Steuerungswissen. Die Organisation Universität weiß zu wenig über sich selbst. Intelligente Modelle wie Kennzahlensteuerung oder Steuerung mit Zielvereinbarung setzen Indikatoren- bzw. Zielfindung voraus. Dies kann sinnvollerweise nicht von oben nach unten dekretiert werden.

Dies alles zeigt, daß es mit Entscheidungen noch nicht getan ist. Partizipation wird hier an zwei Stellen bedeutsam: Zum einen kann nur sie eine Komplexitätsangemessenheit von Entscheidungen gewährleisten, zum anderen sind die Möglichkeiten, diese zu unterlaufen, bei weitem zu zahlreich. Das Schicksal nicht akzeptierter, von Universitätsleitungen getroffenen Entscheidungen ist in der Regel ein immer gleiches, die Projekte verlaufen im Sande. Kommunikation, die darauf zielt, einen Konsens hinsichtlich von Oberzielen (als Beispiel-Oberziel sei hier »gutes Studium« genannt) einzuholen, könnte hier Abhilfe schaffen.

Studienbüros: Potentiale des Modellversuchs

Studienbüros sind unmittelbar auf Fachbereichsebene angesiedelt. Sie sind (jeweils abhängig von der Studierendenzahl) mit ein bis zwei auf fünf Jahre eingestellten Wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und einer Verwaltungskraft (leider nicht überall) ausgestattet. Über Entscheidungskompetenzen verfügen sie nicht. Bezogen auf weiter oben angerissene Krisensyndrome schalten sich die Studienbüros primär bei der Kommunikationskrise ein und das auf Ebene des Fachbereiches, wo es zwar auch Verkrustungen, aber solche mit dünneren Krusten gibt. Studienbüros könnten dann, ideale Ausgangsbedingungen unterstellt:

  • Vernetzen zwischen den Instituten und zwischen den Fachbereichen, sowohl auf der Ebene der Serviceabsprachen, als auch auf der Ebene von Studienberatung, da sie wissen, wo welche Inhalte oder auch Probleme vorzufinden sind und zu anderen Studienbüros (damit zu anderen Fachbereichen) einen kurzen Dienstweg unterhalten.
  • Beraten, z.B. bei der Erstellung von Studien- und Prüfungsordnungen, da sie über Regelungssystematiken und Regelungswürdigkeiten orientiert und in der Regel dagegen gefeit sind, in Studien- und Prüfungsordnungen ein Instrumentarium zur Absicherung von Lehrkapazitäten zu sehen.
  • Begleiten, z.B. Studienreformprojekte oder studentische Evaluationsprojekte, da sie in einen gremien- und regelungskompatiblen Diskurs übersetzen können.
  • Koordinieren, z.B. im Bereich der Studienfachberatung des Fachbereichs, da sie über die fachbereichsunmittelbare Perspektive verfügen.
  • Anregen und initiieren, z.B. wiederum Studienreformprojekte etc., aber auch Selbstverständnisdiskussionen der Fachbereiche, da es zu ihren Aufgaben gehört, Relevanzen und mitunter fragwürdige Konsense zu hinterfragen.
  • Entscheidungen vorbereiten, Vorlagen erstellen, Informationen in den Entscheidungsprozeß geben, am Selbstvergewisserungsprozeß des Fachbereichs mitwirken.

Im Unterschied zu anderen administrativen Steuerungsmodellen liegt die Stoßrichtung des Modellversuchs Studienbüros nicht auf Dezision und einer Zurückdrängung von Partizipation, sondern auf Kommunikation, Partizipation und Entscheidungsvorbereitung. Zentral ist dabei, daß Entscheidungsvorbereitung und Entscheidung nicht zusammenfallen. Gremien der akademischen Selbstverwaltung werden somit instand gesetzt, ihre Verantwortung im Bereich von Studium und Lehre wahrzunehmen und im besten Fall ihre strukturelle Verantwortungslosigkeit zu überwinden. D. h. es wird versucht, Entscheidungsrationalität durch Information zu erhöhen, Entscheidungsvermeidung durch Information zu überwinden. Prozesse können beschleunigt werden, da durch die Bereitstellung von Information Ungewißheit minimiert werden kann.

Carsten von Wissel ist Diplom Politologe und Mitarbeiter im Studienbüro (FB 7) der TU Berlin
Der Text ist eine stark gekürzte und überarbeitete Variante von „Chancen und Grenzen eines Modellversuchs. Studienbüros an der Technischen Universität Berlin“, erschienen in Forum Wissenschaft Heft 2/97.

zum Anfang | Innovative Studienmodelle in der Ingenieurausbildung

von Thomas Pelz

Ausgangspunkt des Projektes waren folgende Einschätzungen zur Situation der Ingenieurausbildung:

  • Aufgrund von Veränderungen in den Unternehmen ergeben sich neue Anforderungen an Ingenieurinnen und Ingenieure: Sie bearbeiten verstärkt Aufgaben, die sich nicht nur auf technische Themen beschränken, ihre kommunikativen Fähigkeiten werden intensiv gefordert, da sie zunehmend im Austausch mit anderen Personen arbeiten und schließlich geraten sie immer mehr in unternehmerische Verantwortung.
  • An den Hochschulen bietet jedoch derzeit die Ingenieurausbildung oft ein anderes Bild: Das gängige Ingenieurstudium bezieht sich weiterhin zu einem sehr großen Anteil auf rein technische Fachinhalte und der hohe Anteil von Vorlesungen u.ä. Lehrveranstaltungsformen unterstützt die Studierenden nicht beim Erwerb kommunikativer Fähigkeiten und sozialer Kompetenzen.
  • An einigen Hochschulen gibt es neue Ansätze in der Ingenieurausbildung. Doch trotz des Erfolges dieser Reformansätze, hat nur ein kleiner Teil der Studierenden die Möglichkeit an ihnen teilzunehmen, zudem laufen diese Ansätze oft zeitlich befristet.

Vor diesem Hintergrund startete Mitte 1995 das Projekt »Innovative Studienmodelle in der Ingenieurausbildung« an der TU Berlin, dessen Arbeit von einem Beirat aus Ingenieurinnen und Ingenieuren, Hochschulangehörigen und Gewerkschaftsvertretern begleitet wurde.8

Als erster Arbeitsschritt wurden sieben Leitbilder formuliert, welche die Reform der Ingenieurausbildung als eine umfassende Aufgabe beschreiben, bezogen auf Lehrinhalte, Lehrformen, Studienorganisation und Studienstruktur.

Leitbild 1: In der Ingenieurbildung müssen sich die gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Bezugspunkte der Technik und des technischen Handelns wiederfinden.

Leitbild 2: Das Ingenieurstudium muß inhaltlich und methodisch nach dem Prinzip einer lernenden Organisation gestaltet werden.

Leitbild 3: Die berufliche und gesellschaftliche Praxis sowie deren Reflexion müssen in die Ingenieurausbildung einbezogen werden.

Leitbild 4: Förderung von Frauen in der Ingenieurausbildung.

Leitbild 5: Der methodische Anteil der Ingenieurausbildung muß die Befähigung zum Handeln fördern und an den aktuellen und erwarteten realen Ingenieurtätigkeiten orientiert werden.

Leitbild 6: Große Teile der Ingenieurausbildung müssen in problemorientierten und selbstorganisierten Lehr- und Lernformen angeboten werden.

Leitbild 7: Das Ingenieurstudium muß studierbar werden.

Die Formulierung dieser Leitbilder, hier nur gekürzt wiedergegeben, geschah mit der Absicht, eine hochschul- und fachbereichsübergreifende Aussagekraft zu erreichen. Sie wenden sich in ihrer Aussage demzufolge an alle Hochschulen, ihre Konkretisierung und Umsetzung auf die jeweilige Situation vor Ort bleibt die Aufgabe der Beteiligten.

Anschließend wurden diese Leitbilder exemplarisch in ein konkretes Studienszenario umgesetzt. Dieses Studienszenario:

  • verknüpft die Grundlagenvermittlung – der Begriff »Grundlagen« geht dabei weit über rein technische Inhalte hinaus – während des gesamten Studiums mit der »exemplarischen Anwendung«, d.h. mit der Durchführung von Projekten. Diese vermitteln anfangs neben den Grundlagen auch die Arbeitsweise in Projekten, im Laufe des Studiums wird ihre Ausrichtung zunehmend interdisziplinär.
  • unterteilt die zehnsemestrige Ingenieurausbildung in vier Module, denen unterschiedliche Aufgaben zugewiesen sind:

Modul 1: Studieneinstieg, führt die Studierenden nicht nur in das Studium ein, sondern ermöglicht ihnen auch eine Entscheidung, ob die Ingenieurausbildung für sie das passende Studium ist.

Modul 2: Grundlagen, vermittelt die mathematischen, naturwissenschaftlichen, technischen und systemtechnischen Grundlagen und führt diese anhand von anwendungsbezogenen Lehrveranstaltungen (Projekten) zusammen.

Modul 3: Vertiefung, bietet den Studierenden die Möglichkeit der fachlichen Vertiefung, beinhaltet aber auch einen Anteil an Lehrveranstaltungen, in dem nicht-technische Kenntnisse, z.B. BWL, Arbeitsorganisation, Technikbewertung, vermittelt werden.

Modul 4: Praxisbezogene Vertiefung und Weiterbildung, bietet den Studierenden Möglichkeiten der inhaltlichen Vertiefung und der Auseinandersetzung mit zukünftigen Berufsfeldern.

  • versucht durch vielfältige Zugangs- und Abgangsmöglichkeiten (u.a. auch einen vorzeitigen Bachelor-Abschluß) nicht nur Studierenden ein Studium zu ermöglichen, deren Lebenssituation ein ununterbrochenes Vollzeitstudium nicht zuläßt, sondern auch Studierende in das Studium zu integrieren, die bereits im Arbeitsleben gestanden haben und mit ihren Erfahrungen die Ausbildung bereichern.

Nahezu alle im Studienszenario vorgesehenen, derzeit ungewöhnlichen Studienanteile stützen sich auf Erfahrungen aktueller Reformvorhaben, die mit ihrer Arbeit die Möglichkeiten und den Erfolg dieser Anteile längst nachgewiesen haben.

Perspektivisch ist jetzt schon abzusehen, daß es nicht bei dem jetzigen Abschluß des Projektes bleiben wird. Angeregt durch vielfältige Diskussionen auf der Tagung »Ingenieurinnen und Ingenieure für die Zukunft«9, welche zum Abschluß des eigentlichen Projektes im April 1997 an der Fachhochschule Frankfurt/M. veranstaltet wurde, ist im September 1997 ein Netzwerk10 gegründet worden, dessen vorläufige Arbeitsschwerpunkte folgendermaßen beschrieben werden:

  • Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedern des Netzwerkes über die Gestaltung der Ingenieurausbildung ermöglichen;
  • Informationen über aktuelle Reformansätze verbreiten und
  • den hochschulübergreifenden Diskurs zu Fragen der Ingenieurausbildung zwischen den Lehrenden unterstützen.

Dieses Netzwerk wird die Reform der Ingenieurausbildung weiter vorantreiben. Interessierte können und sollten sich an diesem Prozeß beteiligen.

Thomas Pelz ist Diplomingenieur der Verfahrenstechnik und Mitarbeiter im Projekt »Innovative Studienmodelle in der Ingenieurausbildung«.

zum Anfang | Kommentar: Die Zukunft der Hochschule

von Knut Aufermann

Von der letzten Nachtschicht gekennzeichnete StudentInnen laufen über den Campus, auf der Stirn eine durch die Standort-Deutschland- und Globalisierungs-Debatte geprägte Sorgenfalte. Die Universität ist ein Übergangsstadium zum Geldverdienen geworden. Nur wer schnell und zielstrebig ist, kommt durch.

Unkündbar lächelnde ProfessorInnen lehnen sich zurück und erfüllen ihre Lehraufträge halbherzig. Nach dem langen Weg zur C4-Stelle erscheint am Horizont die verdiente Emeritierung.

PolitikerInnen mit spitzem Rotstift sitzen in ihren Bürosesseln und stürzen sich auf jede schwache Stelle, die sich zeigt. Gutgemeinte Evaluationen degenerieren dabei zu Datenlieferungen für unqualifizierte Kürzungen.

Aber ist denn wirklich alles so schlimm?

Es gibt sie doch, die ProfessorInnen, die ihre gesamte Freizeit darauf verwenden, Drittmittel einzutreiben, um ihren MitarbeiterInnen Promotionsstellen finanziell abzusichern. Nebenbei sind sie im Studienreformausschuß aktiv und schreiben noch an einem endlich gut verständlichen Lehrbuch.

Engagierte Studierende, die die Universität als einen Ort der Kultur begreifen, werden hochschulpolitisch aktiv und organisieren Semesterabschlußparties und Demonstrationen gegen Studiengebühren.

Und dann sind da noch die hochmotivierten DoktorandInnen. Sie forschen in interdisziplinären Teams aus mehreren Fachbereichen über sozio-ökologische Themen, die einen gesellschaftsrelevanten Hintergrund haben.

In welche Richtung geht die Entwicklung?

Leider bewegen sich die Hochschulen schon lange zu den zuerst genannten Beobachtungen. DozentInnen, die sich für eine Verbesserung der Lehrqualität einsetzen, werden wenig unterstützt und gewürdigt. Wer kann es ihnen verdenken, wenn sie sich in ihre Wissenschaft zurückziehen, um sich nicht aufzureiben. Die Beteiligungen an den Wahlen der studentischen Räte liegen im allgemeinen zwischen zehn und 20%. Die Gewählten sind von ihrer geringen Einflußnahme über kurz oder lang frustriert oder basteln an ihrer Karriere. Die Forschung wird durch ökonomische Gesichtspunkte bestimmt, bei der die Güte der Forschungsthemen und der zu erwartenden Ergebnisse z. B. durch die Förderung der DFG festgelegt wird.

Konkurrenz wird als Heilmittel für die lethargisch wirkenden Universitäten angesehen, was deren Anstrengungen verstärkt, beim nächsten Spiegel-Ranking bessere Statistiken zu präsentieren. Wen interessiert schon, wie die Bildungsanstalten von innen aussehen?

Und so beginnt leise das Sterben. Erst sind es nur Planstellen, dann Studienrichtungen, Fachbereiche und ganze Fakultäten, die verschwinden. Und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis aus Geldmangel die erste Hochschule schließen muß.

Ich wäre darüber nicht traurig, wenn sich dadurch der Druck auf die Entwicklung alternativer Bildungsangebote erhöhen würde. Die Universitäten in ihrer jetzigen Situation sind nicht zukunftsfähig.

Es braucht viel Mut und Kraft, die ausgetretenen Wege zu verlassen und dies muß von Lehrenden und Lernenden gemeinsam getan werden. Jede neue Initiative für ein alternatives Bildungsangebot bringt einen neuen Baustein für eine bunte, vielschichtige Zukunft. Darunter verstehe ich ausdrücklich nicht die Bildung neuer Eliten, sondern es geht um die Aufweichung des linearen Ausbildungssystems in einer komplexen Welt.

Anmerkungen

1) Vgl. Gisela Bock: Frauenbewegung und Frauenuniversität. Die politische Bedeutung der Sommeruniversität. In: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen. Juli 1976. Berlin 1977. Zurück

2) Vgl. Heike Kahlert: Wissenschaft in Bewegung. Frauenstudien und Frauenforschung in der BRD. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Frankfurt/New York 1996, Band 2. Zurück

3) Doris Janshen (Hg.): Hat die Technik ein Geschlecht? Denkschrift für eine andere technische Zivilisation. Berlin, Orlanda Frauenverlag, 1990. Zurück

4) Ich beziehe mich dabei auf die von Angelika Wetterer formulierte Kritik in ihrem Aufsatz: Die Frauenuniversität als paradoxe Intervention. In: Sigrid Metz-Göckel/Angelika Wetterer (Hg.): Vorausdenken-Querdenken-Nachdenken. Texte für Aylâ Neusel. Ffm/New York 1996. Zurück

5) Hier folge ich (teilweise) der feministischen Kritik an Nachhaltigkeit, wie sie u.a. von Claudia Bernhard formuliert wird in ihrem Aufsatz »Der nachhaltige Antifeminismus« in: Schwertfisch: Zeitgeist mit Gräten. Politische Perspektiven zwischen Ökologie und Autonomie. Yeti Press, Bremen 1997. Vgl. auch im selben Band: Frauen-Fisch-AG: Zwischen Sparstrümpfen und Gigabytes. Zurück

6) Frauen-Fisch-AG, S. 45. Zurück

7) Kritik am Konzept der Internationalen Frauenuniversität – insbesondere hinsichtlich der Entscheidungsstrukturen – habe ich an anderer Stelle formuliert, vgl. fzs-Rundbrief August 1997. Zurück

8) »Innovative Studienmodelle in der Ingenieurausbildung«, Abschlußbericht eines Projektes der Zentraleinrichtung Kooperation an der TU Berlin, Berlin/Düsseldorf, 2. Auflage, 1997. Zurück

9) Eine Tagungsdokumentation erscheint in Kürze: Ingenieurinnen und Ingenieure für die Zukunft, Neef, W. und Th. Pelz (Hg.), Berlin, 1997. Zurück

10) Vorläufige Adresse des Netzwerkes: Zentraleinrichtung Kooperation, TU Berlin, Steinplatz 1, 10623 Berlin; e-mail: netz.ing@zek.tu-berlin.de. Zurück

Knut Aufermann ist Student der Chemie und Mitarbeiter im INES-Student-Network. Jörn Birkmann ist Student der Raumplanung und Mitinitiator des Projektes »Nachhaltige UniDo«
Torsten Bultmann ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
Jörg Gleisenstein studiert Raumplanung an der Uni-Dortmund, seit Juni 97 ist er AStA-Vorsitzender der Universität Dortmund.
Martin Hellwig studiert elektrische Energietechnik an der FH Aachen; seit Mai 97 ist er im Vorstand des Freien Zusammenschlusses von StudentInnenschaften (fzs) tätig.
Barbara Nohr ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in Göttingen / Bonn
Thomas Pelz ist Diplomingenieur der Verfahrenstechnik und Mitarbeiter im Projekt »Innovative Studienmodelle in der Ingenieurausbildung«
Sandra Striewski ist Studentin der Chemietechnik und Vorstandsmitglied der Naturwissenschaftler-Initiative
Carsten von Wissel ist Diplom Politologe und Mitarbeiter im Studienbüro (FB 7) der TU Berlin

Frieden studieren

Neue Masterstudiengänge für Friedens- und Konfliktforschung an deutschen Hochschulen

Frieden studieren

von Tanja Brühl / Thomas Held / Britta Krause / Christiane Lammers / Regine Mehl / Jörg Meyer / Thomas Nielebock / Lars Schmitt / Patricia Schneider / Lutz Schrader

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn (AFB)

| Neue Masterstudiengänge für Friedens- und Konfliktforschung

von Christiane Lammers

Friedensprozesse zu befördern ist nicht nur eine Frage des politischen Willens und der hierfür zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen. Es bedarf der Kenntnisse sowohl der Gewalt – und Kriegsursachen als auch der friedensstiftenden Maßnahmen, Strukturen und Perspektiven. Hierfür soll und will die Friedens- und Konfliktforschung als fächerübergreifende Wissenschaft Ergebnisse ihrer Arbeit zur Verfügung stellen. Wissenschaft im Allgemeinen lebt davon, dass sie Ergebnisse aufeinander aufbaut, dass eine stetige Auseinandersetzung über vermeintlich objektivierbare Erkenntnisse stattfindet und nachwachsende Generationen an der Arbeit vorangegangener partizipieren können. Dabei erhebt sie, und dies gilt für die Friedenswissenschaft besonders, den Anspruch, »ihr Wissen nicht für sich selbst behalten zu wollen«, sondern dieses der Praxis zur Verfügung zu stellen. Dieser Transfer, mit dem auch ein gesellschaftlicher Bedarf korrespondiert, eröffnet wissenschaftlich Ausgebildeten, also Akademikerinnen und Akademikern, nicht nur die Möglichkeit weiterhin als Forschende im Wissenschaftsbetrieb tätig zu sein, sondern in der Mehrheit in den Anwendungsbereichen, der sogenannten Praxis, ihren (Arbeits)Platz zu finden.

In Kürze sind damit die Begründungen des unbedingten Zusammenhangs von Forschung und Lehre umschrieben. Nun mag es erstaunen, dass sich die Friedensforschung in der Bundesrepublik bisher ohne eine adäquate, durch Curricula strukturierte Lehre fortentwickeln musste. Die Gründe (mangelnder politischer Wille, starres disziplinäres Hochschulsystem, Dominanz der »realistischen Schule«) sowie die Konsequenzen sind vielschichtig und können hier nur angedeutet werden: unzureichende Grundlagenforschung, wenig aufeinander bezogene Forschung und geringe Forschungsdiskussionszusammenhänge, geringe Ausprägung spezifischer Theorie- und Methodenansätze insbesondere in Bezug auf Interdisziplinaritäts- und Praxis-Ansprüche, ungenügende öffentliche Wahrnehmung, zu geringe Anzahl an Nachwuchswissenschaftler/innen.

Naheliegend in diesem Zusammenhang und trotzdem bemerkenswert, da der sonst üblichen Praxis von Forschungsförderungseinrichtungen nicht gerade entsprechend, war es, dass die Deutsche Stiftung Friedensforschung unmittelbar nach ihrer Gründung den Beschluss fasste, prioritär die Entwicklung und Umsetzung von friedenswissenschaftlichen Studiengängen zu fördern. Aufgrund dieser Initiative sind die im Folgenden dargestellten Studiengänge erwachsen.

Strukturell möglich geworden ist die Umsetzung im Wesentlichen durch den sogenannten »Bologna-Prozess«: Der Vereinbarung der europäischen Bildungsminister und -ministerinnen (1999), die Studiengänge und Studienabschlüsse in ganz Europa bis 2010 aneinander anzugleichen. (Näheres hierzu z.B. unter www.bildungsserver.de.) Neue Begriffe prägen seitdem den Alltag an den Hochschulen: Bachelor und Master, Module und Modularisierung, ECTS (European Credit Transfer System) und Leistungspunkte, Interdisziplinarität und soft skills. Dabei handelt es sich nicht nur um Worthülsen, sondern mit dieser Umstellung ist eine in ihren Folgen noch nicht absehbare Veränderung der Hochschullandschaft verbunden. Die Diskussion darüber findet, wenn überhaupt, nur unter den unmittelbar Betroffenen (Hochschulmitarbeiter/innen und Studierenden) statt. Ein nicht gerade wünschenswerter Zustand, da die Konsequenzen gesellschaftlich relevant sein werden. Schließlich geht es nicht um didaktische Probleme, sondern um die Frage, welches Wissen mit welcher Intention vermittelt werden soll.

Für die Friedenswissenschaft wurden Antworten hierauf gefunden. Diese dokumentiert dieses Dossier: Manchmal sind sie unterschiedlich, in vielem aber auch sehr ähnlich. Gemeinsam ist ihnen das Bemühen, qualifizierte Ausbildung für die Friedensarbeit zu ermöglichen.

Christiane Lammers, Koordinatorin der LAG Friedenswissenschaft NRW und stellv. Vorsitzende des Stiftungsrats der Deutschen Stiftung Friedensforschung

| Frieden lehren

Peace & Conflict Studies in Masterstudiengängen an Hochschulen im globalen Vergleich

von Regine Mehl

Die allmähliche Unwandlung der Abschlussprüfungen an Universitäten und Hochschulen von spezifisch deutschen Studienabschlüssen hin zu weltweit anerkannten Bachelor-, Master- und PhD-Zertifikaten (undergraduate-, graduate- und postgraduate-studies), hat es im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland ermöglicht, dass bisher an fünf Universitäten neue Masterstudiengänge entwickelt und eingerichtet wurden, die zwar unterschiedlich benannt sind, aber – trotz aller Unterschiede – Ähnliches vermitteln möchten. Ob diese formale Angleichung an das im wesentlichen anglo-amerikanisch geprägte System der Wissensvermittlung und des Wissenschaftsverständnisses auch einen Qualitätsschub für den akademischen und gesellschaftspolitisch relevanten Transfer friedenswissenschaftlicher Inhalte in Deutschland erbringen wird, kann gleichwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden.

Dass Inhalte und Methoden, die die Friedenswissenschaft (d.h. Friedens- und Konfliktforschung sowie Friedenspädagogik) prägen, bislang nicht zum Gegenstand eines eigenständigen Lehrstoffs erhoben wurden, könnte auch auf der Annahme basieren, dass diese multidisziplinär (und erwünscht auch interdisziplinär) angelegt sei, ihre Gegenstände daher die Inhalte des gesamten universitären Fächerkanons zu bereichern hätten. Dies realisierte sich allerdings – vor allem im Bereich der Theoriebildung – nur selten, womit sich die Friedenswissenschaft mit der feministischen Wissenschaftstheorie bzw. den policy-orientierten »gender-studies« in guter Gesellschaft befindet.

Ganz anders hingegen sind die Erfahrungen in jenen Ländern, in denen »Peace and Conflict Studies« schon lange – in den USA seit 1948 – in der universitären Lehre als eigenständiges Fach verankert sind.

Friedenslehre hat Geschichte – aber nicht in Deutschland

1948 wurde im Manchester College (Indiana, USA) das erste »Peace Studies« Programm weltweit für einen Bachelorstudiengang entwickelt und als eigenständiges Lehrfach im College verankert.1 Seither – auch aufgrund der positiven Erfahrungen durch das große Interesse der Studierenden an Friedensthemen nach den Verwerfungen des II. Weltkriegs und dem entsprechenden Engagement der Vereinigten Staaten auf den europäischen und asiatischen Kriegsschauplätzen – sind die »Peace and Conflict Studies« (PACS) in etlichen Universitäten auf dem amerikanischen Kontinent, in West- und Nordeuropa sowie vereinzelt auf anderen Kontinenten in ausgefeilten Curricula entwickelt worden. Heute sind sie in mehr als 100 Universitäten weltweit als eigenständiges Lehrfach mit interdisziplinärem Anspruch vertreten.2

Der Impuls ging von den Vereinigten Staaten gewissermaßen »zurück nach Europa«, nachdem zuvor britische und irische Quäker, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in die neue Welt emigriert waren, dort die Idee gewaltfreier Konfliktbearbeitung in zwischenstaatlichen Beziehungen sowohl zivilgesellschaftlich (in Friedensbewegungen sowie in universitärer Forschung und Lehre) als auch auf der staatlichen Ebene etablierten.

Vor allem der britische Mathematiker Lewis Fry Richardson (1881-1953), Quäker und überzeugter Pazifist, hat diesen positiven »Backlash« der emigrierten Kollegen aus den Vereinigten Staaten aufgegriffen und sich – beeinflusst durch die Verwüstungen der beiden Weltkriege – vehement für die akademische Etablierung der »Peace Studie« als pazifistischer Alternative zur bereits weithin etablierten Lehre von den internationalen Beziehungen eingesetzt. Daher ist auch eines der weltweit anerkanntesten friedenswissenschaftlichen Institute nach ihm benannt: das »Richardson Institute for Peace and Conflict Research« an der Universität Lancaster in England (gegründet 1959).

Im selben Jahr initiierte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung die Gründung des »Peace Research Institute Oslo« (PRIO). Bei dieser und weiteren Institutsgründungen innerhalb und außerhalb von Hochschulen in Großbritannien und Skandinavien ist bemerkenswert, dass man sich zwar stets um die curriculare Vermittlung von Friedensforschungsinhalten nach dem anglo-amerikanischen Vorbild bemühte, d.h. um eine Verbindung von theoretischer Forschung und praktischer Anwendung. Nichtsdestoweniger nahm die rein akademische Forschung stark Überhand. Erst Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre kamen im Zuge der Entwicklung einer modernen Friedenspädagogik und unter dem Druck, über die praktische Vermittlung und Umsetzung der Forschungsresultate aus dem »Elfenbeinturm« Rechenschaft ablegen zu sollen, neue Initiativen auf, einschlägige Curricula zu entwickeln – allerdings nicht in der Bundesrepublik Deutschland.3

Friedenslehre – aber welche?

Im Laufe der letzten 30 Jahre führten Wissenschaftspositivismus und -pragmatismus überall auf der Welt, wo »Peace and Conflict Studies« als curriculare Studiengänge entwickelt worden sind, alsbald zu einer gegenständlichen Begriffsausdehnung – weit über den von L. F. Richardson konsequent befürworteten pazifistischen Ansatz hinaus. Immer mehr Elemente (Methoden, Theorien) der klassischen Disziplin der Internationalen Beziehungen wurden in den Forschungs- und Lehrbereich der Friedenswissenschaften integriert. Ohne diese »Bodenhaftung« wäre eine rein normative Orientierung wissenschaftlich auch nicht valide und hielte seriöser Überprüfung nur in den seltensten Fällen stand.

Diese Wissenschaft, die das Interdisziplinäre programmatisch und daher in allen Peace-Studies-Programmen weltweit einfordert, hatte es in Deutschland bis zur Gründung der in diesem Dossier dargestellten Studiengänge nicht geschafft, dass für sie ein eigenständiges Curriculum im Rahmen des Fächerkanons an den Hochschulen entwickelt worden war. Diejenigen, die sich als akademische Vertreter/innen und Lehrer/innen der Friedenswissenschaft verstanden, fühlten sich vielmehr berufen, deren inhaltliche Anliegen in ihre traditionell vorgegebenen Forschungs- und Lehrgebiete zu integrieren. In anderen europäischen Ländern, im angelsächsischen Raum, aber auch in Universitäten in Asien, Afrika und Lateinamerika wurde die immanent geforderte Interdisziplinarität als Herausforderung verstanden, um daraus Studiengänge zu entwickeln, die breiten formalen und inhaltlichen Ansprüchen genügen sollten – interdisziplinär angelegt, wissenschaftlich valide, am gewalthaltigen Konfliktgeschehen und am gewaltfreien Umgang mit Konflikten und Krisen orientiert.

Eine multidisziplinäre Sonderrolle im internationalen Vergleich nehmen Masterstudienkurse an japanischen Universitäten ein: Hier sind die »Peace Studies« stets nur ein kleiner Teilbereich der breiter verstandenen »Global Studies« oder »International Studies«. Studierende, die sich für die friedenswissenschaftliche Ausbildung interessieren, müssen in der Regel ihren Masterabschluss innerhalb dieser äußerst umfangreichen Rahmenstudien anstreben.4

Betrachtet man die vielen verschiedenen Studiengänge »Peace and Conflict Studies« im Einzelnen und vergleicht sie untereinander, so fallen nicht nur inhaltlich-definitorische Unschärfen ins Auge, sondern es verfestigt sich ein Eindruck, der auch der forschenden Friedenswissenschaft seit jeher zum Vorwurf gemacht wird: Es handelt sich um einen thematisch schwierig einzugrenzenden »Gemischtwarenladen«, der von allem etwas, aber nur wenig fokussiert vertieftes Wissen anbietet. Man mag daher die Konsequenz, die in Deutschland bis vor einigen Jahren noch daraus gezogen worden war, keine eigenen Studiengänge zu entwickeln, dafür aber die thematische Breite im klassischen Fächerkanon anzubieten, für gerechtfertigt halten. Ebenso sind aber aus dieser Situation auch Argumente für die Entwicklung eigener, fokussierter Curricula abgeleitet worden und haben zu den bislang fünf neuen Studiengängen geführt.

Peace and Conflict Studies: zwei Begriffe – viele Themen

Allen Peace-Studies-Masterstudiengängen, die für diesen Beitrag zum Vergleich herangezogen wurden (etwa 50) ist gemeinsam, dass sie nach einem Creditpoint-System bewertet werden. Allerdings werden Pflicht- und Wahlkurse sehr unterschiedlich gewichtet und zum Teil auch inhaltlich völlig anders aufgebaut.5

Die stets in Anspruch genommene Interdisziplinarität nimmt sich in der praktischen Zusammensetzung der Studiengänge als bunte Multidisziplinarität aus, sowohl was die wahlweise Inanspruchnahme sozial- und geisteswissenschaftlicher Methoden als auch was die thematischen Inhalte aus dem gesamten Fächerkanon der Sozial-, Geschichts- und anderen Geisteswissenschaften,(weniger der Naturwissenschaften) betrifft.

Formal sind die einzelnen Module fast aller Curricula ähnlich gestaltet: Der Studiengang beginnt stets mit der Geschichte der »Peace Studies« und entsprechender Theoriebildung als Grundlagenwissen. Es schließen sich Pflichtkurse an, die im ersten oder zweiten Jahr des in den meisten Fällen viersemestrigen Studiengangs durch Praktika von unterschiedlicher Länge ergänzt werden. Spätestens im zweiten Studienjahr, mancherorts schon im ersten, können Wahlkurse zur Vertiefung und Spezialisierung – je nach Interesse – belegt werden.

Im Gegensatz zu den Peace-Studies-Curricula, die jetzt in Deutschland eingeführt wurden und die unter friedenswissenschaftlicher Perspektive und beginnend mit einem grundlegenden Basismodul sich inhaltlich in einer Spanne zwischen sicherheitspolitisch, auf die staatliche Ebene orientierten Themen und eher zivilgesellschaftlich orientierten Themen, wie Konfliktbearbeitungsmethoden und -fähigkeiten, bewegen, bieten die Masterstudiengänge an den amerikanischen Universitäten und Colleges einen bunten Strauß sehr viel ausdifferenzierterer Themenbereiche an. In Deutschland könnte dieses Phänomen Anlass sein, einmal mehr die multidisziplinäre und wenig fokussierte Beliebigkeit der »Peace Studies« kritisch zu hinterfragen und zum anderen das eigene Curriculum auf thematische Lücken hin zu überprüfen.

Das »Flaggschiff« in den USA – und für viele der Maßstab schlechthin, was Friedenslehre überhaupt sein kann oder sein sollte – ist das »Joan B. Kroc Institute for International Peace Studies« an der University of Notre Dame (Indiana).6 Sich mit einem Zertifikat aus dem Kroc-Institut auf dem entsprechenden Arbeitsmarkt zu bewerben, bedeutet bis heute, ganz vorne auf einer Bewerbungsliste zu landen. Am Aufbau sowohl des BA- als auch des Masterstudiengangs haben sich seit Gründung des Instituts im Jahr 1986 weltweit viele Peace and Conflict Studies-Programme orientiert. Für die Studierenden des Masterprogramms sind fünf Hauptmodule Pfichtbestandteil eines Studiums, das durch die zusätzliche Wahl verschiedenster weiterer Module viele Ausdifferenzierungen gemäß den eigenen Neigungen und Interessen erfährt: (1) Globale Politik und internationale Normen; (2) Religion und ethische Aspekte von Konflikt; (3) Politische Ökonomie von Krieg, Frieden und nachhaltiger Entwicklung; (4) Kultur, Krieg und Frieden sowie (5) Konfliktanalyse und Konflikttransformation.7

Naturgemäß sind die Curricula überall im Grunde davon geprägt, welche Kernkompetenzen die jeweiligen Lehrenden in Aufbau und inhaltliche Gestaltung des Studiengangs einbringen und in der Lehre umsetzen können. Neben der grundsätzlichen Orientierung am Curriculum des Kroc-Instituts finden sich bei den Studiengängen sowohl in den USA als auch in der übrigen Welt eine signifikante Anzahl thematischer Schwerpunktsetzungen, die vom jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld und den sozioökonomischen Kontexten des eigenen Landes geprägt sind. In den US-amerikanischen Masterstudiengängen spielt die Lehre über die Konflikte, Krisen und Kriege, in denen die US-Administration involviert ist, eine herausragende Rolle. An Hochschulen, die von religiösen Gemeinschaften finanziell stark unterstützt bzw. getragen werden, stehen religiöse und ethische Fragen in Konflikten und Friedensprozessen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.8

Insgesamt weisen die »Peace and Conflict Studies« in den USA und Kanada eine relativ ausgeprägte zivilgesellschaftliche Komponente auf, da viel über Friedens- und Menschenrechtsbewegungen und deren Kontexte gearbeitet und gelehrt wird. Die Betrachtung der sog. Meso-Ebene, die die Friedensfähigkeit von Gesellschaften, zivilgesellschaftliches Engagement bei Gruppenkonflikten und Konfliktbearbeitungsfähigkeiten zu beschreiben oder gar zu messen versucht, ist häufig stärker ausgeprägt, als die Betrachtung der Themenbereiche der sog. Makroebene, die die jeweiligen staatlichen (Macht-) Strukturen und ihre handelnden Akteure beschreiben will.9

Einige Masterstudiengänge in den USA nennen sich »Peace and Justice Studies« und verweisen damit auf thematische Schwerpunkte oder haben wie in Australien (Adelaide), Kolumbien, Argentinien oder Südafrika entsprechende Schwerpunkte in den Curricula, in denen ein gerechter gesellschaftlicher Wiederaufbau nach Bürgerkriegen und Versöhnung sowie ausgleichende Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung für kriegsgeschädigte Regionen wissenschaftlich erforscht und gelehrt werden.10

Drei Masterstudiengänge der besonderen Art sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, weil man sie aufgrund massiver Demokratiedefizite (Indonesien und Nigeria) und eines besonders schwierigen Umfelds (Israel) dort nicht unbedingt vermuten würde: An der Universität Ibadan (Nigeria), an der Universität Gadjah Mada (Indonesien) und an der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan (Israel) leisten die Masterstudiengänge nicht nur eine umfassende grundlegende und weiterführende Ausbildung, sie sind darüber hinaus trotz ihrer immensen thematischen Vielfalt in allen Bereichen auf das Wesentliche fokussiert, was »Peace and Conflict Studies« ausmacht: die Analyse konfliktursächlicher Gewalt und Verwerfungen sowie die praktische und visionäre Entwicklung ausgleichender Politikkonzepte, deren Kernpunkt die Überwindung staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt ist.11

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass das »Alte Europa« mit dem 1973 gegründeten »Department of Peace Studies« und dessen BA-, Master- und PhD-Studiengang an der Universität Bradford (England) ebenfalls globale Maßstäbe setzte, an dem sich inzwischen andere Universitäten (vor allem in Großbritannien und Irland sowie in den skandinavischen Ländern) orientieren.12 Die Vielfalt der Abschlüsse ist Vorbild: Bradford bietet nicht nur einen undergraduate- und einen PhD-Studiengang an, sondern auch drei verschiedene Masterabschlüsse innerhalb des Peace-Studies-Curriculums:

  • MA in Peace Studies
  • MA in Konfliktbearbeitung und
  • MA in Internationaler Politik und Sicherheitsforschung.

Thematische Breite und Tiefe, die durch eine sehr gute personelle und infrastrukturelle Ausstattung des Fachbereichs gewährleistet werden können, suchen in Europa ihresgleichen.

In England ist außerdem das schon erwähnte »Richardson Institute for Peace and Conflict Research« mit seinem Masterangebot beispielgebend, etwa für den Aufbau der entsprechenden Studiengänge in Irland an der Universität Limerick und am Trinity College in Dublin. Diese beiden zuletzt genannten stellen im Aufbau ihrer Studiengänge außerdem den Nordirlandkonflikt ins Zentrum der Lehre und damit das beispielhafte Lernen über einen gewalthaltigen und in den Ursachen historisch weit zurückgehenden Konflikt.13

Insgesamt findet man das dichteste Netz von Peace and Conflict Studies-Masterangeboten in Europa in Großbritannien und Irland, gefolgt von den skandinavischen Ländern, etwa an den Universitäten Göteborg und Uppsala (Schweden) sowie an den Universitäten Oslo und Tromsø (Norwegen).14

Vielfalt der Peace and Conflict Studies – eine Herausforderung

Dieser Beitrag konnte nur einen kleinen und punktuellen Einblick in die thematisch und methodisch multidisziplinäre und äußerst bunte Welt der »Peace and Conflict Studies« geben. In einem permanenten Prozess der Weiterentwicklung sind die Protagonist/inn/en dieser Studiengänge dazu aufgerufen, sich – bei aller Schwierigkeit und methodischen Komplexität – fortlaufend um Interdisziplinarität, begriffliche Klarheit in der Vielfalt, um normative Orientierung versus positivistischer Linearität und um die angemessene akademische und populäre Vermittlung der Inhalte dieser »Überlebenswissenschaft« (Gustav Heinemann) zu bemühen.

Ob als Appell verstanden oder als Selbstverständlichkeit – der Beitrag der »Peace and Conflict Studies«, Bewusstsein friedensfördernd zu verändern, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Weiterführende Websites

Für umfassende Informationen empfehlen sich diese beide Meta-Websites, über die nahezu alle akademischen Peace and Conflict Studies Programme global verlinkt sind http://directory.google.com/Top/Society/Issues/Peace/Peace_Studies/ www.incore.ulst.ac.uk/services/cds/ metadata/programs.html.

Dr. Regine Mehl ist Leiterin der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn (AFB), www.priub.org.

| Die Förderung von Masterstudiengängen durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung

Zielsetzungen und Förderaktivitäten

von Thomas Held

Die Ausschreibung von Fördermitteln zur Einrichtung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Masterstudiengängen »Friedens- und Konfliktforschung« an deutschen Hochschulen vom Dezember 2001 stieß auf ein unerwartet großes Interesse. Aus den insgesamt acht Bewerbungen konnten nach dem Begutachtungsverfahren drei Studiengangprojekte, die ihre eigenen Ausbildungsschwerpunkte setzen und unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, in die Förderung aufgenommen werden:

  • Master für Friedensforschung und Internationale Politik, Institut für Politikwissenschaft, Universität Tübingen
  • Master in Peace and Conflict Studies, Zentrum für Konfliktforschung, Universität Marburg
  • Master in Peace Studies, FernUniversität Hagen

Der Studienbetrieb konnte in allen drei Projekten zum Wintersemester 2004/2005 erstmals aufgenommen werden. Die über einen Zeitraum von fünf Jahren geförderten Studiengangprojekte wurden jeweils mit einer Personalstelle (C3-Professur, Juniorprofessur, wissenschaftliche Mitarbeiterstelle) ausgestattet, um den umfangreichen Lehrverpflichtungen nachkommen zu können.

Darüber hinaus fördert die Stiftung ein einjähriges interdisziplinäres Aufbaustudium »Friedensforschung und Sicherheitspolitik«, das vom Kooperationsverbund der deutschen Friedensforschungsinstitute getragen und an der Universität Hamburg zertifiziert wird.

Mit dem Programm zur Struktur- und Nachwuchsförderung verfolgt die Stiftung die Zielsetzung, grundlegende Defizite in Forschung und Ausbildung im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung zu beseitigen und mit der Umsetzung der Fördermaßnahmen neue Akzente in Wissenschaft und Hochschule zu setzen.

Die Curricula der Masterprogramme sollen Raum für innovative Lehrkonzepte und Ausbildungswege bieten, die sich durch ihre inter- und transdisziplinäre Offenheit auszeichnen und zudem praxisorientierte Studienelemente enthalten, die eine Rückkopplung des Theorie- und Methodenwissens ermöglichen.

Des weiteren ist eine Internationalisierung des Studienangebots, z. B. über englischsprachige Lehrangebote, Austauschprogramme und Praktika, gefordert, um zum einen die interkulturelle Kompetenz zu fördern und zum anderen internationalen Ausbildungsstandards zu genügen. Die Stiftung legt großen Wert darauf, dass die Studienangebote sowohl den Erwerb wissenschaftlicher als auch berufsrelevanter Qualifikationen und Kompetenzen einbeziehen.

Die Förderung der Masterstudiengänge zielt somit zum einen auf die Ausbildung und Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses, zum anderen soll der Studienabschluss geeignet sein, die vielfältigen Berufsfelder in Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur zu erschließen. Die Stiftung wird die Fördermaßnahmen mit Evaluierungen begleiten, um Rückschlüsse über die Realisierung der Zielsetzungen ziehen zu können.

Dr. Thomas Held ist Geschäftsführer der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) (www.bundesstiftung-friedensforschung.de)

| Universität Tübingen

Masterstudiengang »Friedensforschung und Internationale Politik«

von Thomas Nielebock

Seit dem Wintersemester 2004/05 bietet das Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen den zweijährigen interdisziplinären Masterstudiengang »Friedensforschung und Internationale Politik« an. Bei einem erfolgreichen Abschluss dieses Studiengangs verleiht die Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Tübingen den akademischen Grad »Master of Arts Friedensforschung und Internationale Politik«.

Zum Wintersemester 2004/05 haben 15 Studierende das Studium in diesem Studiengang aufgenommen, darunter sieben ausländische Studierende oder solche, die ihren ersten Studienabschluss im Ausland erworben haben.

Studienziel

Das Studienangebot richtet sich an Hochschulabsolventinnen und -absolventen mit einem sozialwissenschaftlichen Erststudium, die in friedenswissenschaftlichen und friedenspolitisch relevanten Bereichen tätig werden wollen. Mit der erneuten Zunahme der Komplexität von Politik durch vermehrte grenzüberschreitende sowie globale Konfliktlagen und Herausforderungen durch Globalisierung und Fragmentierung im Zuge der Denationalisierung von Politik wächst zugleich auch der Bedarf an sozialwissenschaftlicher Kompetenz, insbesondere auf den Gebieten der Krisenprävention, Konfliktbearbeitung, Friedensförderung und des Weltregierens. Im Masterstudiengang »Friedensforschung und Internationale Politik sollen die notwendigen Kompetenzen vermittelt werden, um mit den neuen Herausforderungen für den Frieden umgehen zu können.

Als mögliche Berufsfelder der Absolventinnen und Absolventen dieses Studiengangs sind zu nennen der Diplomatische Dienst, die Arbeit in internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs; Wirtschaft), Wissenschaft und Forschung, Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktmanagement, die Medien und die politische Bildung.

Im Mittelpunkt des Masterstudiengangs stehen sowohl das forschende als auch das erprobende Lernen friedenswissenschaftlicher Zusammenhänge. Zum einen sollen die Dynamiken, Prozesse und Strukturen gewaltförmiger Konflikte analysiert und diese Analyse durch praxisrelevante Erfahrungen vertieft werden. Zum anderen geht es darum, Chancen und Möglichkeiten von Kooperation zur Bewältigung internationaler und innergesellschaftlicher gewaltträchtiger Konflikte kennen zu lernen. Gestützt auf methodisch gesicherte und theoretisch fundierte Grundlagenforschung werden Konzepte, Institutionen und Strategien der Gewaltprävention und friedlicher Konfliktbearbeitung kritisch überdacht, entworfen und weiterentwickelt. Ferner werden Einblicke in die ethischen Fragen der Internationalen Politik vermittelt, wird Frieden als normativer Leitwert beruflicher und insbesondere wissenschaftlicher Arbeit nahe gebracht.

Die Seminare und Vorlesungen geben einen fundierten Einblick in verschiedene Bereiche der internationalen Politik unter friedenswissenschaftlicher Perspektive (z.B. Sicherheit, Umwelt, Menschenrechte, Wirtschaft). Es stehen Probleme wie Krieg und Frieden in verschiedenen Weltregionen auf dem Programm sowie

  • Weltordnungsprobleme und Internationales Regieren als Herausforderung für Kooperation und den friedlichen Wandel im internationalen System,
  • die Rolle Internationaler Organisationen (z.B. EU, UNO, MERCOSUR, NATO),
  • die Bedeutung regionaler Integrationsprozesse als Wege zur Schaffung von Zonen stabilen Friedens,
  • die Möglichkeiten von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (NGOs; Multinationale Konzerne), kooperative Strategien bei der Bearbeitung transnationaler Probleme zu verfolgen.

Die Analyse der Außenpolitik ausgewählter Länder und Theorien über internationale Beziehungen und Frieden sowie Methodenprobleme der Analyse internationaler Politik aus friedenswissenschaftlicher Perspektive sind ebenfalls fester Bestandteil des Lehrangebots.

Die Lehrmethoden sind vielfältig und sollen ein forschendes und selbst erprobendes Lernen der Studierenden ermöglichen. Aus diesem Grunde wird ein Großteil der Lehrveranstaltungen in Form von Seminaren durchgeführt. Im Zentrum steht dabei der Seminartyp, bei dem die Studierenden eine Problemstellung durch Recherche und Analyse selbst bearbeiten müssen. Daneben werden aber Seminare auch in Form von Lektürekursen, als Projektkurse (u.a. im Bereich der Friedenspädagogik), als Kurse zur Konzipierung von Forschungsprojekten sowie mit mehrtägigen Simulationselementen (Model United Nations; Mediation in internationalen Konflikten) durchgeführt. Einige der Lehrveranstaltungen schließen Exkursionen (u.a. Wien, Straßburg, Brüssel zum Thema Europäische Sicherheit; New York im Rahmen des Simulationsprojekts Model United Nations) und Kompaktphasen mit ein. Außerdem werden Seminare auch von Lehrbeauftragten angeboten, die in für die Schwerpunkte relevanten Berufsfeldern als ausgewiesene Expertinnen und Experten tätig sind und so neben dem politischen Praxisbezug auch zugleich einen Einblick in ein Berufsfeld geben. Das Lehrprogramm sieht auch englischsprachige Veranstaltungen vor.

Friedensforschung in Tübingen

Mit der Einführung des Masterstudiengangs »Friedensforschung und Internationale Politik« knüpft die Universität Tübingen an eine langjährige und erfolgreiche Tradition friedenswissenschaftlicher Grundlagenforschung und Lehre an.

Nachdem sich Ende der sechziger Jahre Lehrende und Studierende, die an Fragen der Friedensforschung interessiert waren, als Arbeitgruppe Friedensforschung (AGFF) konstituiert hatten, wurde 1972 mit der Einrichtung des Lehrstuhls »Internationale Beziehungen/ Friedens- und Konfliktforschung« und dessen Besetzung mit Professor Volker Rittberger, Ph.D., eine erste dauerhafte Verankerung dieses Forschungs- und Lehrschwerpunktes an der Universität Tübingen erreicht. 1991 wurde die Abteilung »Internationale Beziehungen/ Friedens- und Konfliktforschung« gebildet und 1996 der Magisterstudiengang »Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen« eingerichtet.

Seit 1968 hat die AGFF und spätere Abteilung Internationale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung eine ganze Reihe von Projekten durchgeführt, die von der Friedenserziehung, über Abrüstungsfragen bis hin zu Theorien der Internationalen Beziehungen reichten. Die inhaltlichen Forschungsschwerpunkte des Instituts lagen in den letzten Jahren insbesondere auf der Analyse internationaler Regime und internationaler Organisationen, der vergleichenden Außenpolitikanalyse unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Außenpolitik seit der Vereinigung und der Analyse der Rolle nicht-staatlicher internationaler Organisationen (NGOs).

Ein erst jüngst etablierter Forschungsbereich untersucht im Zuge der zunehmenden Entstaatlichung des Krieges und Denationalisierung im Sicherheitsbereich die wachsende Rolle nicht-staatlicher Akteure. Der Forschungsschwerpunkt gilt dabei insbesondere dem eskalationsfördernden bzw. de-eskalierenden Potenzial von Unternehmen und Religionsgemeinschaften in Konflikten.

In der Lehre werden seit Anfang der 1970er Jahre regelmäßig Veranstaltungen angeboten, die in die Hauptfragestellungen der Friedens- und Konfliktforschung einführen und die zu ausgewählten Problemstellungen Vertiefungen zulassen. Mit der Etablierung des Masterstudiengangs »Friedensforschung und Internationale Politik« und der damit einhergehenden und von der Deutschen Stiftung Friedensforschung geförderten Einrichtung einer gleichnamigen Professur erfährt diese langjährige Lehrtradition eine deutliche Verstärkung. Die Professur wurde mit Dr. Andreas Hasenclever besetzt, dessen Forschungsschwerpunkte die Rolle von Religionsgemeinschaften in Konflikten sowie die Theorie des demokratischen Friedens darstellen.

Mit dem Institut für Friedenspädagogik Tübingen, der Stiftung Weltethos, dem Zentrum für Konfliktmanagement und dem Graduiertenkolleg »Globale Herausforderungen – transnationale und transkulturelle Lösungswege«, zu denen vielfältige Kooperationsbeziehungen bestehen, gibt es zudem ein anregendes und herausforderndes Umfeld.

Studienprogramm

Das Studienprogramm teilt sich inhaltlich in sieben verschiedene Module. Insgesamt sind 120 Leistungspunkte für ein erfolgreiches Studium nachzuweisen.

Das obligatorische Grundlagenmodul 1 und 2 führt in die Grundfragen der Friedensforschung ein, behandelt ihre Methoden, Probleme und Theorien und vermittelt darüber hinaus Kenntnisse über die Grundzüge der Weltpolitik. Die Wahlpflicht-Module (3-7) decken möglichst breit das Gesamtspektrum der Themenfelder der Friedensforschung ab und bieten eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten an.

Thematisch geeignete Lehrveranstaltungen aus anderen Fächern gehören ebenfalls zum Studienprogramm.

Übersicht über die Lehrveranstaltungen

Modul 1: Grundlagen der Analyse internationaler Politik aus friedenswissenschaftlicher Perspektive (Pflichtbereich)

Friedens- und Konfliktforschung: normative Grundlagen, Entwicklung, Hauptfragestellungen (Kompaktseminar vor Semesterbeginn)
Methodenprobleme der Analyse internationaler Politik aus friedenswissenschaftlicher Perspektive
Theorien über internationale Beziehungen und Frieden
Ethische Fragen der Internationalen Beziehungen aus friedenswissenschaftlicher Perspektive

Modul 2: Analyse zentraler Konflikte der internationalen Politik und ihrer Bearbeitung (Pflichtbereich

Grundzüge der Weltpolitik (VL) oder Geschichte der Internationalen Beziehungen
Internationale Institutionen (VL)
Modernisierungs-, Transformations- und Entwicklungstheorien (VL)
Internationale Ordnungsprobleme/ Internationale Politikfeldanalysen
Gewaltträchtige Konflikte und deren Austrag in und zwischen Gesellschaften

Modul 3: Akteure und ihr Handeln in globaler Perspektive (Wahlpflichtbereich)

Außenpolitik-Analyse (VL)
Vergleichende Außenpolitik-Analyse (Industrieländer)
Internationale Beziehungen einer außereuropäischen Region
EU in der internationalen Politik
NGOs in der internationalen Politik
Verhandlungen und Mediation (mit Simulation)
Friedenskompetenz und Konfliktfähigkeit/ Friedenspädagogik
Globales Lernen/ Friedenspädagogik
Thematisch passende Lehrveranstaltung aus affinen Fächern (z.B. Rechtswissenschaften,
Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Psychologie, Sprachwissenschaften)

Modul 4: Weltordnungsprobleme und Internationales Regieren (Wahlpflichtbereich)

Grundzüge der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung I und II (VL)
Völkerrecht (VL)
Weltordnungspolitik/ global governance
UN System (mit Model United Nations)
Internationale Beziehungen einer außereuropäischen Region
oder Internationale Sicherheit in Europa (mit Exkursion)
Globales Lernen/ Friedenspädagogik
Integrationstheorien- und prozesse
Entwicklungen der europäischen Integration
Thematisch passende Lehrveranstaltung aus affinen Fächern (z.B. Psychologie, Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften)

Modul 5: Krieg und Frieden (Wahlpflichtbereich)

Politische Philosophie des Friedens und des Krieges
Konfliktanalyse und Internationales Konfliktmanagement
Weltordnungspolitik/ global governance
Gesellschaftliche Voraussetzungen von Frieden und Friedlosigkeit
Verhandlungen und Mediation (mit Simulation)
Integrationstheorien und -prozesse oder Struktur- und Entwicklungsprobleme in außereuropäischen Regionen
Friedenskompetenz und Konfliktfähigkeit/ Friedenspädagogik
Entwicklungs- und Strukturprobleme einer Region (VL)
oder Internationale Sicherheit in Europa (mit Exkursion)
Thematisch passende Lehrveranstaltung aus affinen Fächern (z.B. Ethnologie, Psychologie, Sprachwissenschaften)

Modul 6: Gewaltträchtige Konflikte in außereuropäischen Regionen (Wahlpflichtbereich)

Grundzüge der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung I u. II (VL)
Entwicklungs- und Strukturprobleme einer Region (VL)
Internationale Beziehungen einer außereuropäischen Region (VL)
Entwicklungstheorie und -politik
Entwicklungs- und Strukturprobleme einer Region
Konfliktanalyse und Internationales Konfliktmanagement
Weltordnungspolitik/ global governance
Gesellschaftliche Voraussetzungen von Frieden und Friedlosigkeit
Thematisch passende Lehrveranstaltung aus affinen Fächern (z.B. Ethnologie, Psychologie, Geographie, Kulturwissenschaften)

Modul 7: Europa als Friedenszone (Wahlpflichtbereich)

EU als politisches System (VL)
Europarecht (VL)
Weltordnungspolitik/ global governance
EU in der internationalen Politik
Integrationstheorien und -prozesse
Entwicklungen der europäischen Integration
Internationale Sicherheit in Europa (mit Exkursion)
Gesellschaftliche Voraussetzungen von Frieden und Friedlosigkeit
Thematisch passende Lehrveranstaltung aus affinen Fächern (z.B. Ethnologie, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften)

Abschluss

Forschungsseminar
Examensarbeit

Studienbeginn und Studiendauer

Ein Studienbeginn des MA-Studiengangs »Friedensforschung und Internationale Politik« ist immer nur zum Wintersemester möglich. Die Studiendauer für den MA-Studiengang »Friedensforschung und Internationale Politik« beträgt in der Regel vier Semester (Regelstudienzeit). In dieser Zeit sind insgesamt 120 Leistungspunkte (LP) zu erwerben.

Für die Studienanfänger beginnt das Wintersemester jeweils eine Wochevordem regulären Beginn mit dem Seminar »Friedens- und Konfliktforschung«.

Zulassungsvoraussetzungen

Zum Masterstudiengang »Friedensforschung und Internationale Politik« kann zugelassen werden, wer über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügt und die BA-Prüfung oder eine gleichwertige Prüfung im Fach Politikwissenschaft oder in einem vergleichbaren sozialwissenschaftlichen Studiengang mindestens mit der Note »gut« (2,5 und besser) abgeschlossen hat. Die Bewerbung muss bis zum 15. Juli (Ausschlussfrist) erfolgen. Gute Englisch-Kenntnisse müssen nachgewiesen werden. Ausländische Studierende müssen darüber hinaus gute Kenntnisse der deutschen Sprache und ggfs. die Sprachprüfung HDS nachweisen.

Weitere Informationen

Detaillierte Informationen finden sich unter:
www.uni-tuebingen.de/polmasterfip/ (Informationen zum Studiengang)
www.uni-tuebingen.de/pol/lehre.htm (Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis)
http://www.uni-tuebingen.de/studentensekretariat/download.html (Bewerbungsunterlagen für deutsche. Staatsangehörige)
http://www.uni-tuebingen.de/abz/abzinfo/Auslinfo/Zulassung_deutsch.pdf (deutsch) (Bewerbungsunterlagen für ausländische Staatsangehörige)
Über das Institut insgesamt informiert am ausführlichsten die Homepage des Instituts: www.uni-tuebingen.de/pol/

Dr. Thomas Nielebock ist Wiss. Mitarbeiter des Instituts für Politikwissenschaften, Abt. Internationale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung, der Eberhard Karls Universität Tübingen

| Philipps-Universität Marburg

Masterstudiengang »Friedens- und Konfliktforschung«

von Lars Schmitt

Mit dem Wintersemester 2004/05 hat die Marburger Philipps-Universität ihren Hauptfachstudiengang Friedens- und Konfliktforschung aufgenommen, der mit einem Master of Arts Degree nach vier Semestern Regelstudienzeit und einem Gesamtarbeitsaufwand von 120 Leistungspunkten abgeschlossen wird. Der Studiengang wird von der Deutschen Stiftung Friedensforschung umfangreich unterstützt. Er soll dazu qualifizieren, politische Konflikte mit globalem Bezug analysieren, Konfliktregelungsmöglichkeiten erarbeiten und darüber hinaus selbst bei der Bearbeitung von Konflikten mitwirken zu können. Die hierzu notwendigen analytischen und Handlungskompetenzen sowie weitere Schlüsselqualifikationen werden durch ein praxisorientiertes, international ausgerichtetes, interdisziplinäres Curriculum vermittelt, das mit einer problemorientierten Didaktik des dialogischen Lernens und Lehrens arbeitet, auf Kleingruppenarbeit zurückgreift und dabei Methoden wie Rollen- und Planspiele, Szenariotechniken und Videopräsentationen zur Anwendung bringt.

Mit dem Masterstudiengang erweitert die Philipps-Universität Marburg ihr Ausbildungsangebot in der Friedens- und Konfliktforschung. Seit 1996 gibt es einen sehr erfolgreichen Magister- und Diplomnebenfachstudiengang mit zuletzt 300 Studierenden pro Semester. Die große Nachfrage durch Studierende und der von einschlägigen Institutionen angemeldete Bedarf an qualifiziertem Personal – etwa im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung – haben uns dazu bewogen, mit dem Wintersemester 2004/05 einen Masterstudiengang anzubieten.

Das Studienprogramm wird vom interdisziplinären Zentrum für Konfliktforschung entwickelt und durchgeführt. Das Zentrum wurde vor drei Jahren gegründet. In ihm arbeiten zur Zeit 50 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus 14 Fachbereichen. Forschungsschwerpunkte des Zentrums sind Interdisziplinäre Theorieentwicklung, Gewaltforschung, Intergruppenkonflikte, Konfliktregelung, Trans- und internationale Konflikte, Normkonflikte und Normbildung.

Wie sollen diese Ziele erreicht werden?

Im Mittelpunkt des Masterstudiengangs stehen politische Konflikte, die einen weltgesellschaftlichen Bezug aufweisen. Dies stellt eine notwendige Reaktion auf den globalen politischen und gesellschaftlichen Wandel dar, der u.a. dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Vielzahl von Konflikten nicht mehr primär innerhalb eines Nationalstaates und zwischen souveränen Nationalstaaten ausgetragen werden. Vielmehr zeigen Phänomene wie die »neuen Kriege«, humanitäre Interventionen, wie Gewaltmärkte und interethnische Konflikte, aber auch die Etablierung transnationaler Institutionen der Konfliktregelung und die Entwicklung globaler normativer Standards eine Veränderung der traditionellen, oftmals an nationalstaatlichen Grenzen entlang verlaufenen Konfliktlinien. Dieser Wandel macht in sich bereits deutlich, dass die inhaltliche Ausrichtung der Wissensvermittlung nur einen Teil darstellen kann, jenem Wandel zu begegnen. Vielmehr ist bereits die Analyse von Konflikten zunehmend auf interdisziplinäre Kooperation angewiesen. Auch scheint die Fähigkeit an Bedeutung zu gewinnen, sich in »fremde« Perspektiven hineinversetzen, eigene (lebensweltliche, politische, kulturelle und wissenschaftstheoretische) Positionen relativieren zu können. Derartige Kompetenzen sind nur durch Übung zu erwerben. Dies macht eine didaktische Konzeption erforderlich, die ein eigenverantwortliches dialogisches Lernen in Kleingruppen fördert und mit Methoden wie Rollen- und Planspielen dieses Einüben ermöglicht. Dadurch soll nicht nur das Wissen »tiefergehend« vermittelt und der analytische Blick geschärft werden. Vielmehr ist für das zweite wichtige Qualifikationsziel, nämlich bei der Bearbeitung von Konflikten im internationalen Kontext in Konzeption und Praxis mitwirken zu können, die didaktische Ausrichtung sehr bedeutsam. Das Erreichen dieses praxisorientierten Qualifikationsziels soll darüber hinaus durch feste curriculare Bestandteile ermöglicht werden, wie zum Beispiel durch ein ca. zehnwöchiges internationales Praktikum aus dem Bereich der Konfliktregelung, eine transdisziplinär entwickelte Konfliktregelungsübung sowie durch Workshops zu Konfliktanalysen in englischer Sprache. Die Fähigkeit, im interdisziplinären Kontext forschen zu können, soll v.a. durch interdisziplinäre Forschungsseminare erworben werden.

Zur Qualitätssicherung und Weiterentwicklung werden das gesamte Masterprogramm sowie die einzelnen Module und Lehrveranstaltungen fortlaufend evaluiert. Diese Evaluation nehmen die Lehrenden und Studierenden des Masterprogramms vor. Darüber hinaus wird der Studiengang auch extern evaluiert.

Gegenstand und inhaltliche Ausrichtung

Wie bereits erwähnt stehen Konflikte im Mittelpunkt, die im Zuge des weltgesellschaftlichen Wandels virulent werden und sich lokal, regional und global in breitenwirksamen Auseinandersetzungen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Identitäten äußern. Im folgenden sind einige Beispiele von Themenbereichen des Studiengangs aufgeführt:

  • Humanitäre Hilfe und humanitäre Interventionen
  • Internationaler Terrorismus
  • Bundeswehr nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
  • Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
  • Innerstaatliche Kriege und Friedensprozesse
  • Rolle von NGO´s in Krisengebieten
  • Peace-Buildung in Post-Konflikt-Gesellschaften
  • Die Herausforderung des islamischen Fundamentalismus
  • »Versicherheitlichung« als kulturelle Grundlage demokratischer Staaten?
  • Massenmedien und gewaltsame Konflikte
  • Ungleichheit als Ursache für unterschiedliche Arten von Konflikten
  • Politischer Protest
  • Konfliktnachsorge bei ethnischen Konflikten
  • Umweltkonflikte
  • Natur als Waffe – Bioterrorismus
  • Modernisierungs- und Entwicklungskonflikte
  • Internationale Strategien zur Armutsbekämpfung
  • Gesellschaftliche Desintegration als Ursache für Menschenfeindlichkeit
  • Friedensstrategien
  • »Gewaltmärkte« und informelle Ökonomien in Bürgerkriegen

Ein Schwerpunkt des Masterstudiengangs liegt bei den Konfliktregelungen. Damit wird einerseits der für die Friedens- und Konfliktforschung charakteristische Praxisbezug und andererseits das analytische Interesse an Friedens-, Präventions- und Deeskalationsprozessen zur Geltung gebracht. Mit einem solchen Schwerpunkt sollen zugleich die jüngsten und weiterhin zu erwartenden Entwicklungen hin zu einer politischen Weltgesellschaft – sichtbar etwa am Internationalen Strafgerichtshof, am postnationalen Konzept von Staatsbürgerschaft oder an der Differenz zwischen einem neorealistischen und einem neoinstitutionalistischen Konzept von Außen- und Sicherheitspolitik – in systematischer Weise berücksichtigt werden. Von hier aus lässt sich dann eine Brücke schlagen zu den transnationalen Politikbezügen von lokal und lebensweltlich handelnden Akteuren.

Didaktik

Das didaktische Konzept, mit dem die Einheit von analytischen und praktischen Kompetenzen im Studiengang gewährleistet werden soll, stellt den studentischen Lernprozess und die qualitative Wissensveränderung – statt einer additiven Wissensvermehrung – in den Mittelpunkt. Im Kern geht es dabei um die Ermöglichung studentischen Lernens durch eine dazu geeignete Lernumgebung, die einerseits studentisches Tiefenlernen fördert und die es andererseits ermöglicht, dass sich die Studierenden kommunikative und interkulturelle Kompetenzen aneignen können. Dies wird dadurch gewährleistet, dass die Lehrveranstaltungen dialogisch konzipiert sind und die Vermittlung von analytischen Fähigkeiten selbst als einen interaktiven Prozess verstehen. Dafür geeignete Methoden sind beispielsweise Rollen- und Planspiele, Simulationen, die Erstellung von Videopräsentationen oder die Durchführung von Workshops und Diskussionsrunden, vor allem aber das Konzept des projekt- und problembasierten Lernens, bei dem Projekte mit einem klaren Problembezug von Kleingruppen selbständig erarbeitet und entsprechende Problem- und Konfliktlösungen präsentiert werden.

Neben den analytischen Kompetenzen erwerben die Studierenden Fähigkeiten, die als Schlüsselqualifikationen der Friedens- und Konfliktforschung gelten können. So wird durch diese Lernform nicht nur soziale Kompetenz im Sinne der Fähigkeit, Perspektivenwechsel vorzunehmen, eingeübt. Trainiert wird durch die Kleingruppenarbeit ferner die Teamfähigkeit der Studierenden, die lernen müssen, ein Thema gemeinsam zu erarbeiten. Diese Gemeinsamkeit kann sich dabei nicht auf die gewohnte Form der Arbeitsteilung beschränken, weil die Präsentation eine Interaktion und die dementsprechende Koordination sowie Kooperation der Gruppe erforderlich macht. Die selbständige Erarbeitung des Konflikts und die selbst gewählte Präsentationsform führt aber nicht nur zu erhöhter Kooperationsfähigkeit, sondern auch zu Selbstverantwortlichkeit und Kritikfähigkeit seitens der Studierenden, da sie die Präsentation in höherem Maße als »ihr« Projekt auffassen können, als dies bei herkömmlichen Referaten der Fall ist. Das Betreuungssystem ist vor allem eine Hilfe zur Selbsttätigkeit und sichert die notwendigen Rahmenbedingungen für ein solches Lernen. Es fängt darüber hinaus die Risiken des Scheiterns ab, die sich aus dieser Lernform zwangsläufig ergeben.

Bevor die interdisziplinären und internationalen Komponenten sowie die konkrete curriculare Umsetzung dieses Ansatzes in aller Kürze vorgestellt werden, sei noch darauf hingewiesen, dass die mit der Gesamtkonzeption einhergehende Vermittlung von Schlüsselqualifikationen (soziale Kompetenz, Organisations- und Medienkompetenz) auch für Tätigkeitsfelder außerhalb der Friedens- und Konfliktforschung immer bedeutsamer wird.

Interdisziplinarität

Am Studienangebot des Masterstudiengangs beteiligen sich unterschiedliche Disziplinen wie etwa die Politikwissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Theologie, Rechtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Medizin, Informatik oder die Biologie. Dies gilt insbesondere für die Seminare zu den Konfliktanalysen und die begleitenden Vorlesungen.

Daneben umfasst das Studienprogramm eine transdisziplinäre Übung zur Konfliktregelung und Mediation, die von verschiedenen Disziplinen gemeinsam entwickelt wurde.

Einen besonderen Stellenwert nehmen die interdisziplinären Forschungsseminare im Studienprogramm ein. Sie werden von wenigstens zwei Lehrenden aus unterschiedlichen Disziplinen angeboten, die gemeinsam mit den Studierenden ein interdisziplinäres Forschungskonzept entwickeln und im Anschluss daran kleinere Projekte dazu durchführen.

Internationalität

Der Masterstudiengang ist durch seine curriculare Modularisierung und die Verwendung des European Credit Transfer Systems (ECTS) Teil des europäischen Prozesses zur Entwicklung vergleichbarer Studienabschlüsse und Studienprogramme. Dadurch ist gewährleistet, dass einzelne Studieninhalte auch im europäischen Ausland erworben werden können und der Abschluss europaweit anerkannt wird.

Zur internationalen Ausrichtung des Masterprogramms gehört das internationale Praktikum, das die Studierenden mit einem Bericht in englischer Sprache abschließen. Darüber hinaus finden regelmäßig Lehrveranstaltungen in englischer Sprache statt, darunter eine der Grundlagenvorlesungen – »Conflict and Conflict Resolution« – sowie verschiedene Konfliktanalysen.

Teil des Studiengangs ist ferner ein Dozentenaustausch mit ausländischen Partneruniversitäten und die Durchführung von Workshops mit ausländischen Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Konfliktregionen und Institutionen, die sich mit Prozessen der Konfliktregelung befassen.

Curriculum und Studienablauf

Das Studienprogramm des Masterstudiengangs folgt einem curricularen Aufbau, erstreckt sich auf vier Semester und umfasst die folgenden sechs Module:
I. Einführungen in die Friedens- und Konfliktforschung
II. Konfliktanalysen und Konfliktregelung
III. Internationales Praktikum
IV. Interdisziplinäre Forschungsseminare
V. Inter- und multidisziplinäre Rahmenvorlesungen
VI. Masterarbeit und Abschlussprüfung

Das Modul I beinhaltet die Einführungsveranstaltungen in das Fach. Neben einer Einführungsvorlesung werden eine Übung und darüber hinaus Seminare zu sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien und zu Formen der Konfliktregelung angeboten. Hier sollen die grundlegenden fachgeschichtlichen, begrifflichen und theoretischen Kenntnisse erworben werden.

Darauf aufbauend stehen im Modul II Konfliktanalysen im Mittelpunkt, die jeweils einen Schwerpunkt auf politische, kulturelle, ökonomische und ökologische Faktoren legen. Ebenfalls Bestandteil ist eine transdisziplinäre Übung zur Konfliktreglung und Mediation. Die grundlegenden Kenntnisse des ersten Moduls werden in Modul II an ausgewählten Konflikten vertieft, die Kompetenzen im Bereich der Konfliktregelung durch eine praktische Übung erweitert.

Im Modul III absolvieren die Studierenden ein ca. zehnwöchiges internationales Praktikum im Bereich der Konfliktregelung, das vom Zentrum begleitet und mit den Studierenden vor- und nachbereitet wird.

Das Modul IV überführt die analytischen Fähigkeiten und praktischen Erfahrungen aus den Seminaren, Übungen und dem Praktikum in interdisziplinäre Forschungszusammenhänge. Es besteht aus interdisziplinären Forschungsseminaren zu politischen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen Faktoren politischer Konflikte.

Das Modul V rahmt die ersten vier Module durch Grundlagenvorlesungen zum Völkerrecht, zu den Internationalen Beziehungen und zu »Conflict and Conflict Resolution«. Hier werden Grundlagen aus Kernbereichen der Friedens- und Konfliktforschung vermittelt, die für die Analyse politischer Konflikte in der Weltgesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Außerdem werden in der Interdisziplinären Ringvorlesung globale Konfliktszenarien diskutiert.

Im Modul VI wird im Anschluss an eines der beiden Forschungsseminare die 40-60seitige Masterarbeit verfasst und eine einstündige Abschlussprüfung abgelegt.

Die inhaltlichen und thematischen Schwerpunkte der einzelnen Module werden studienbegleitend geprüft und gehen größtenteils in die Masternote anteilsmäßig ein.

Zulassungsvoraussetzungen und Studienabschluss

Zu Beginn des Studiengangs im Wintersemester 2004/05 konnten erstmals knapp 20 Studierende aufgenommen werden. Zulassungsvoraussetzungen sind ein Bachelor- oder diesem gleichwertiger Abschluss sowie gute Englischkenntnisse. Die Zulassung kann mit der Auflage verbunden werden, Veranstaltungen aus dem Bereich der empirischen Sozialforschung zu belegen, sofern keine ausreichenden Methodenkenntnisse in dem grundständigen Studiengang erworben wurden.

Als Abschluss wird ein Master of Arts (M.A.) in Friedens- und Konfliktforschung verliehen und ein Diploma Supplement ausgestellt, das alle Studien- und Prüfungsleistungen dokumentiert.

Dipl.-Soz. Lars Schmitt ist Wiss. Mitarbeiter im Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg Weitere Informationen unter: www.uni-marburg.zfk

| Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Masterstudiengang »Friedens- und Konfliktforschung«

von Britta Krause und Jörg Meyer

Der Studiengang Friedens- und Konfliktforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ist ein viersemestriger Aufbaustudiengang (Master), der sowohl interdisziplinär wie praxisorientiert angelegt ist und jeweils zum Wintersemester aufgenommen werden kann. Er soll auf eine spätere Tätigkeit in der Friedensforschung, in internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen und/oder in der Friedens- und Menschenrechtserziehung vorbereiten und gliedert sich in einen Pflichtbereich (Modul I), vier Schwerpunktbereiche (Module II-V) und einen Praxisbereich (Modul VI).

Das Modul I besteht aus fünf Pflichtveranstaltungen, die im ersten Studienjahr zu belegen sind und deren Lehrinhalte studienbegleitend nach dem zweiten Semester geprüft werden. Die Studierenden sollen in diesem Modul Kenntnisse erwerben, die als Essentials der FKF gelten können. In der Veranstaltung »Theorien und Methoden« werden umstrittene Begriffe wie Frieden, Krieg und Gewalt analysiert, konkurrierende methodische Lehren diskutiert sowie das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis problematisiert. In den weiteren Veranstaltungen wird ein Überblick über aktuelle »Strategien und Instrumente« der Konfliktbearbeitung, rechtliche Argumentationsmuster (Einführung in das Völkerrecht), verschiedene Ansätze der »Internationalen Politischen Ökonomie« und aktuelle Formen der »Menschenrechtspolitik und Menschenrechtserziehung« sowie deren möglichen zivilisierenden Leistungen gegeben.

Abgesehen von den Veranstaltungen des Pflichtmoduls ist der Studiengang bewusst so angelegt, dass die Studierenden eine individuelle Schwerpunktbildung auf einen bis maximal drei Bereiche vornehmen und sich ihr Studienprogramm selbst zusammenstellen. Deshalb werden in jedem Semester Veranstaltungen in allen vier Wahlpflichtmodulen angeboten, wobei die einzelnen Bereiche jeweils von mehreren der an dem Studiengang beteiligten Fächer (u.a. Politikwissenschaft, Soziologie, Kulturwissenschaften, Philosophie, Geschichte, Psychologie) bedient werden, um eine disziplinäre Engführung zu vermeiden. Die vier Schwerpunktbereiche umfassen Veranstaltungen zur Analyse konkreter Konfliktformationen (Modul II), zur Rolle und Wirkungsweise von internationalen Institutionen und Nicht-Regierungsorganisationen in verschiedenen Feldern wie Abrüstung, Ökonomie und Ökologie (Modul III), zu Fragen der inter-/transkulturellen Kommunikation und Bildung einschließlich der diskursiven Produktion von Gewalt (Modul IV) und zu den Möglichkeiten und Grenzen einer regionalen und lokalen Konfliktbearbeitung unter besonderer Berücksichtigung des Engagements »externer« Akteure (Modul V).

Ergänzt wird das Studium um Veranstaltungen mit klarer Praxisorientierung (Modul VI), d.h. Simulations-, Mediations- und Exkursionsseminare, die ebenfalls von verschiedenen Disziplinen bzw. auch in interdisziplinärer Form angeboten werden. Zudem ist ein mindestens vier- bis sechswöchiges Praktikum mit der Anfertigung eines Praktikumsberichts vorgesehen, das zwar durch einen Leistungs- und einen Studiennachweis kompensiert werden kann, was aber nicht empfohlen wird und von den Studierenden bisher auch noch nicht in Anspruch genommen wurde. Den Abschluss des Studiums bildet eine viermonatige Masterarbeit, die durch ein obligatorisches Kolloquium begleitet wird.

Inhaltliche Ausrichtung

Neben der fachlichen Wissensvermittlung hat die Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten und kreativer Problembewältigungskompetenzen besonderes Gewicht. Ohne die Vermittlung von faktischen Kenntnissen z.B. über bestehende Institutionen unterbewerten zu wollen, erachten wir vor allem die Förderung methodischer Fähigkeiten für besonders wichtig, die den Studierenden wichtiges Handwerkszeug in Studium und Beruf sein sollen. Dazu zählen nicht nur die bekannten Formen der Datenerhebung und -auswertung bzw. der gebräuchliche Umgang mit Texten als Quelle für Ursachenerklärungen von Kriegen oder Bedingungen des Friedens. Vielmehr sollen Texte auch dahingehend geprüft werden, in welcher Art und Weise Wissen produziert wird, welcher Formen des Begründens sich die AutorInnen bedienen und welche Wirkung wissenschaftliche Theorien entfalten.

Ziel ist es, die Kompetenzen zur eigenständigen Formulierung von Fragestellungen und multiplen Analyse friedenspolitischer Herausforderungen sowie zur kritischen Beurteilung tradierter und der Entwicklung alternativer Formen der Konfliktbearbeitung zu stärken. Dies schließt die Fähigkeit zur Reflektion des eigenen Standpunktes und zu einem kreativen statt dogmatischen Umgang mit Theorien ein, um Distanz zu vorherrschenden Denkweisen einnehmen und neue Perspektiven einbringen zu können. Deshalb sollen an die Studierenden unterschiedliche (u.a. neopositivistische, postmoderne, feministische, postkoloniale) Zugriffe aus verschiedenen Disziplinen herangetragen werden. Obwohl der Studiengang bewusst keine eindeutige inhaltliche Fokussierung vornehmen will, liegen doch die Schwerpunkte weniger im Feld der (militärischen) Sicherheitspolitik als in den Bereichen Kultur, Kommunikation, Mediation, Verhandlung und Ethik.

Didaktik

Grundsätzlich sollten sich die angebotenen Lehr- und Lernformen an den Inhalten und den Vorstellungen über die Erarbeitung dieser ausrichten. Entsprechend herrscht eine Pluralität bzw. »Freiheit der Lehrenden«. Neben eher traditionellen Veranstaltungen wie Vorlesungen (mit Klausur o.ä. für den Erwerb von Studiennachweisen) und Hauptseminaren (mit Referat, Thesenpapier und Hausarbeit für Leistungsnachweise) ist der Studiengang explizit um eine Erweiterung der Lehrformen bemüht. Das Angebot umfasst demzufolge gemäß den jeweiligen Lernzielen die unterschiedlichsten Lehrformen. Dazu zählen u.a.

  • Lektüreseminare. Diese beinhalten unterschiedliche Aufgabenstellungen bezüglich der Verarbeitung der Texte (methodische Kritik, Umwandlung in Zeitungsartikel, Anfertigung politischer Positionspapiere usw.) und zeichnen sich deshalb vor allem durch ihre hohen analytischen und praktischen Anforderungen aus.
  • Simulationsseminare (regionale Konfliktlösung, Model United Nations etc.), welche ein erprobtes und teilweise sehr erfolgreiches didaktisches Mittel sind, um die Funktion und Bedeutung verschiedener Gremien und institutioneller Strukturen für politische Prozesse für Studierende zu plausibilisieren und erfahrbar zu machen.
  • Exkursionsseminare, die einerseits der praktischen Umsetzung vermittelter Lerninhalte dienen, gleichzeitig aber (inter-/trans-)kulturelle Kompetenzen vermitteln sollen. In diesen Seminaren können etwa auch das Erstellen von Fotodokumentationen oder Filmen als Leistungen anerkannt werden.
  • Praxisorientierte Veranstaltungen (z.B. Mediation), die sich konkret mit verschiedenen Konfliktbearbeitungsstrategien befassen.
  • Selbst organisierte Seminare, die von den Studierenden sowohl programmatisch-inhaltlich bis hin zur Einladung von externen Referenten selbst gestaltet werden, gleichzeitig aber auch StudienanfängerInnen den Einstieg in den Masterstudiengang erleichtern und die Integration der Studiengruppe befördern sollen.

Darüber hinaus wird versucht, die Studierenden in die Gestaltung von Aktivitäten über das eigentliche Studium hinaus einzubeziehen, wozu u.a. die Organisation von und Teilnahme an (internationalen) Konferenzen zählt.

Adressaten

Der Studiengang richtet sich vor allem an Absolventen und Absolventinnen sozial- und geisteswissenschaftlicher Studiengänge (mindestens BA). Prinzipiell ist auch eine Zulassung aufgrund eines anderen abgeschlossenen Hochschulstudiums oder Fachholschulabschlusses möglich. In diesem Fall geben ein Motivationsschreiben und praktische Erfahrungen etwa in der Friedensarbeit oder Entwicklungszusammenarbeit den Ausschlag. Das Studium kann jeweils nur zum Wintersemester aufgenommen werden. Bewerbungsschluss für ausländische Bewerber ist der 15. Juli, für deutsche der 15. September. Der Studiengang wird vom DAAD im Rahmen des Programms »Aufbaustudiengänge mit entwicklungsländerbezogener Thematik« gefördert, so dass eine gewisse Zahl von Studienplätzen durch Stipendiaten aus Entwicklungsländern belegt ist. Da es sich um einen Aufbaustudiengang handelt, wird davon ausgegangen, dass die Studierenden bereits mit wissenschaftlichen Arbeitsweisen vertraut sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, Einführungen u.a. in die empirische Sozialforschung, die Politikwissenschaft oder die Kulturwissenschaften zu belegen. Die Lehrveranstaltungen werden teils in deutscher und teils in englischer Sprache abgehalten, weshalb entsprechende Sprachkenntnisse eine Zulassungsvoraussetzung sind.

Studienplan

(siehe Tabelle)

Inhaltsbereiche/Modul Credits insgesamt Leistungsnachweise Studiennachweise
1. Studienjahr
Modul I 24 2 3
1. und 2. Studienjahr
Modul II 56 6 LN aus mindestens zwei und max. drei Modulen 5 SN aus mindestens drei der vier Module
Modul III
Modul IV
Modul V
Modul VI 10 1 1
Für ein fakultatives Praktikum einschl. Praktikumsbericht werden 10 Credits vergeben.
Für die Master’s Thesis werden 20 Credits veranschlagt.
Endsumme 120 9 9

Modul I Grundlagen: Theorien und Methoden der Friedens- und Konfliktforschung; Einführung in das Völkerrecht; Strategien und Instrumente der Konfliktlösung und Konflikttransformation; Internationale Politische Ökonomie, Menschenrechtspolitik und Menschenrechtserziehung.

Modul II Konfliktanalysen: Methoden der multidimensionalen Konfliktanalyse, historische Fallstudien, Aufarbeitung aktueller internationaler und nationaler Konfliktformationen.

Modul III Internationale Institutionen und NGO`s/Globales Regieren: Veranstaltungen zur Geschichte und Wirkungsweise internationaler Organisationen, zur Rolle von NGO`s, zu weltwirtschaftlichen Institutionen und sozialen Polarisierungsprozessen.

Modul IV Kommunikation und Erziehung: Fragen der Menschenrechtspolitik und -bildung, politische Ethik, Rolle von Medien, diskursive Produktion von Gewalt.

Modul V Regionale und lokale Konfliktbearbeitung: Konzepte eines »Good Governance«, Analyse von Peace Keeping-Einsätzen und Maßnahmen eines Aufbaus ziviler Institutionen.

Modul VI Praxisorientierte Seminare: Veranstaltungen zur Konfliktmediation, zur Simulation von Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen, Forschungsexkursionen.

Aktuelles Veranstaltungsverzeichnis Wintersemester 2004/05

Modul I

  • Theorien und Methoden der Friedens- und Konfliktforschung (Prof. Dr. Erhard Forndran)
  • Grundlagen der Menschenrechte und der Menschenrechtspolitik (Prof. Dr. K. Peter Fritzsche)
  • Einführung in das Völkerrecht unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Globalisierung (Prof. Dr. Jost Delbrück, Prof. Dr. Erhard Forndran)

Modul II

  • Das Verhältnis von Politik und Wirtschaft in Osteuropa zwischen Dominanz und Interdependenz (PD Dr. Sabine Riedel)
  • Analyse aktueller Konfliktformationen (Dr. Dietmar Fricke)
  • Empire and Migration (Prof. Dr. Bernd-Peter Lange)
  • Der schöne Schein der Diktatur: Kulturelle Inszenierung der Macht und terroristische Gewalt im faschistischen Italien, im NS-Staat und in der Sowjetunion (Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann)

Modul III

  • Konzepte der europäischen Sicherheitspolitik (Prof. Dr. Erhard Forndran)
  • Soziale Polarisierung (PD Dr. Klaus-B. Roy)
  • International justice? International criminal law, war crimes and human rights protection (Dr. Michael W. Pletsch)
  • Globalisierung und (k)ein Ende? (Juniorprof. Dr. Raj Kollmorgen)

Modul IV

  • Internationale Frauen(rechts)bewegung. Menschenrechte-Frauenrechte 1860 bis heute (Prof. Dr. Eva Labouvie)
  • Menschenrechte und Internet (Prof. Dr. K. Peter Fritzsche)
  • Macht und Gewalt im Entwicklungsdiskurs (Dr. Aram Ziai)
  • Metaethik (Prof. Dr. Georg Lohmann)

Modul V

  • Planungs- und Entscheidungsprozesse im Rahmen von Verhandlungsregimen (Prof. Dr. Erhard Forndran)
  • Nach der Intervention: Konfliktmanagement durch externe Akteure (Dr. Jörg Meyer)
  • Territorial Management of ethnic conflict (Dr. Klaus Detterbeck)

Modul VI

  • Model United Nations (Dr. Reinhard Wesel)
  • Sozialpsychologie: Konfliktmanagement (Dr. Heidi Ittner)

Adressen

Studienberatung: Dr. Dietmar Fricke Tel. 0391-6716673; mail: dietmar. fricke@gse-w.uni-magdeburg.de
Britta Krause M.A. Tel. 0391-6716691; mail: britta. krause@gse-w.uni-magdeburg.de
Dr. Jörg Meyer Tel. 0391-6716673; mail: joerg. meyer@gse-w.uni-magdeburg.de
Hilfskraft: Torsten Hans mail: torhans@yahoo.de
Webpage mit Bewerbungsformularen: www.uni-magdeburg.de/ipw/fkf/index.html

Britta Krause, M.A., ist Wiss. Mitarbeiterin des Instituts für Politikwissenschaften und Dr. Jörg Meyer ist Studienfachbetreuer des Studiengangs an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

| Hamburg

Postgradualer Aufbaustudiengang Friedensforschung und Sicherheitspolitik

von Patricia Schneider

Der Postgraduiertenstudiengang »Master of Peace and Security Studies« (M.P.S.) der Universität Hamburg ist ein zweisemestriges, trans- und interdisziplinäres Studienprogramm, das auf einer Kombination friedenswissenschaftlicher und sicherheitspolitischer Wissensaneignung und praxisgerichteten Übungen basiert. Ziel des Studienganges ist es, hochqualifizierte Absolventinnen und Absolventen in- und ausländischer Hochschulen sowie akademisch gebildete Praktiker in grundlegende friedenswissenschaftliche und sicherheitspolitische Themen und Ansätze zu ihrer praktischen Bearbeitung einzuführen. Der Studiengang wird von der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) getragen und gemeinsam mit führenden wissenschaftlichen und sicherheitspolitisch tätigen Einrichtungen im Rahmen des »Kooperationsverbundes Friedensforschung und Sicherheitspolitik (KoFrieS)« durchgeführt.

Folgende Institute nehmen bereits am Kooperationsverbund teil:

  • Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA)
  • Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berlin
  • Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum (IFHV)
  • Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF), Berlin
  • Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP)
  • Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt/Main
  • Führungsakademie der Bundeswehr (FüAk), Hamburg
  • Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Duisburg
  • Institut für Theologie und Frieden (IThF), Barsbüttel
  • Bonn International Center for Conversion (BICC)
  • Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Heidelberg
  • Deutsches Übersee-Institut (DÜI), Hamburg
  • Internationales Institut für Politik und Wirtschaft/Haus Rissen, Hamburg
  • Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA)
  • Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
  • Centre for OSCE-Research (CORE), Hamburg
  • Universität Hamburg: Fachbereich Sozialwissenschaften
  • Universität Hamburg: Fachbereich Geschichte
  • Universität Hamburg: Fachbereich Physik
  • Universität Hamburg: Fachbereich Informatik
  • Universität Hamburg: Fachbereich Rechtswissenschaft
  • Universität Hamburg: Fachbereich Medizin/UKE

Derzeit finden weitere Kooperationsverhandlungen statt.

Der Studiengang wird aus Mitteln der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) gefördert.

Am Studiengang können Studierende aus dem In- und Ausland teilnehmen. Da Lehre und Forschung in deutscher und in englischer Sprache durchgeführt werden, sind gute Kenntnisse beider Sprachen Voraussetzung. Sie müssen durch standardisierte Tests, wie im Ausschreibungstext spezifiziert, in den Bewerbungsunterlagen nachgewiesen werden. Prüfungsleistungen, einschließlich Master-Arbeit, können durch die Studierenden wahlweise in englischer oder deutscher Sprache erbracht werden. Über die Zulassung zum Studium und die Vergabe von Stipendien entscheidet der Gemeinsame Ausschuss der Universität Hamburg und des IFSH. Die Anzahl der Zulassungen ist auf 20-30 Studierende pro Jahrgang beschränkt und unterliegt einem qualitativen Auswahlverfahren. Der Studiengang beginnt jeweils zum Wintersemester (1. Oktober – 31. August). Die Bewerbungsfrist ist vom 15. Dezember bis zum 15. März. Da es sich um einen nicht-konsekutiven, postgradualen Aufbaustudiengang handelt, der den vorherigen Erwerb von mind. 240 Leistungspunkten (ECTS) voraussetzt, reicht ein 3-jähriger BA-Studiengang i.d.R. als Vorleistung nicht aus: Die Bewerberinnen und Bewerber müssen 240 Leistungspunkte (ECTS) (i.d.R. durch ein vierjähriges Studium zu erwerben) und ein mit überdurchschnittlichem Erfolg abgeschlossenes Studium an einer deutschen oder ausländischen Hochschule nachweisen. Es können sich Absolventen aller Fachrichtungen bewerben. Bevorzugt berücksichtigt werden Bewerbungen, die Rückschlüsse auf berufliche Interessen und wissenschaftliche oder praktische Erfahrungen in Themenfeldern erlauben, welche sich auf Probleme des Friedens und der internationalen Sicherheit beziehen.

Mit Beginn des Studienjahres 2004/05 tritt eine überarbeitete, an das europäische Leistungspunktesystem angepasste Studienordnung in Kraft. In 2005 durchläuft der Studiengang als einer der ersten Studiengänge der Universität Hamburg ein Akkreditierungsverfahren durch eine externe Akkreditierungsagentur.

Der Studiengang wurde erstmals im akademischen Jahr 2002/2003 durchgeführt. Inzwischen nahmen in den ersten drei Jahren Studierende aus 18 Ländern an dem Studiengang teil (Albanien, Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Chile, China, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Mazedonien, Niederlande, Palästina, Rumänien, Russland, Serbien-Montenegro, USA).

Das Studium ist in zwei Semester gegliedert. Der Aufbau des Studiums ist modular. In der vorgeschalteten Orientierungseinheit werden die Studierenden in grundlegende Themen der Friedensforschung und Sicherheitspolitik eingeführt und die Residenzinstitute des KoFrieS stellen ihre jeweiligen Forschungs- und Lehrprofile vor. Die parallel durchgeführten fünf Schwerpunkt- und Wahlmodule finden im Wintersemester am Sitz des Studiengangs in Hamburg statt. Die drei konsekutiven Module des Sommersemesters bestehen aus den Elementen praxisgerichtetes Studieren und Praxis, Forschungsbeteiligung und Masterarbeitsphase und finden am jeweils gewählten Residenzinstitut des Kooperationsverbunds statt. Darüber hinaus können sich die Studierenden u.a. am Aufbau eines akademischen Versöhnungsnetzwerkes in Südosteuropa aktiv beteiligen (www.akademischesnetzwerk-soe.net).

1. Semester:

  • Orientierungseinheit
  • Internationale Friedens- und Sicherheitspolitik
  • Friedenssicherungs- und Konfliktvölkerrecht
  • Naturwissenschaften und Frieden
  • Friedensethik
  • Wirtschaftliche Fragen von Frieden und Krieg
  • Interdisziplinäres Querschnittsmodul

2. Semester:

  • 4-wöchiges Praxiselement am Residenzinstitut
  • gefolgt von Midterm Colloquium
  • 3-monatige Forschungsphase am Residenzinstitut
  • Final Colloquium

Die Lehrenden legen vor Beginn ihrer Kurse fest, welche Formen der Leistungskontrolle/ Modulteilprüfungen sie anbieten und geben dies der Studiengangleitung zur Kenntnis. Die Mischung der Modulteilprüfungen soll den Studierenden die Möglichkeit bieten, unterschiedliche Leistungskontrolltypen kennen zu lernen und ihre jeweiligen spezifischen Stärken ausgewogen zum Einsatz zu bringen. Sie soll ferner die durch die Lehrveranstaltungen verfolgten Ziele fördern.

Die Modulprüfungen umfassen schriftliche und mündliche Prüfungen. Zu den schriftlichen Prüfungen gehören i.d.R. Klausuren, kleine und große Hausarbeiten, ausgearbeitete Referate sowie Arbeits- und Konzeptpapiere und Berichte im Rahmen von Workshops und Exkursionen. Zu den mündlichen Prüfungen zählen i.d.R. protokollierte individuelle oder Gruppenprüfungen, Referate (mit Diskussion), Workshop- oder Konferenzbeiträge.

Die Hauptlehrveranstaltungstypen sind Vorlesungen, Vertiefungsseminare und Blocklehrveranstaltungen. Insbesondere der letzte Veranstaltungstypus lässt Raum für innovative Lehrmethoden wie Simulationen, Rollenspiele, Gruppenarbeit etc. Die ersten drei Tage der Woche sind i.d.R. für die regulären Lehrveranstaltungen reserviert, die übrigen Tage für Blocklehrveranstaltungen. Jede Lehrveranstaltung, die Forschungsphase und das Gesamtprogramm werden Selbstevaluationen der Studierenden und Dozenten unterzogen. Der Evaluationsbericht wird auf der unten angegebenen Homepage veröffentlicht. Dort findet sich zudem Prüfungsordnung, Vorlesungsverzeichnis, Ausschreibungstexte, Kursinformationen u.v.m.

Vor Beginn des Studiums wird ein kommentiertes Vorlesungsverzeichnis mit detaillierten Informationen zu Veranstaltungen, Leistungsanforderungen und Leistungspunkten zur Verfügung gestellt. Gesondert wird ein Dozentenverzeichnis mit näheren Informationen zu den Forschungsschwerpunkten bereitgestellt. Eine Vorauswahl der Kurse und des Residenzinstituts wird vor Studienbeginn von den Studierenden vorgenommen und nach intensiver Beratung in der Orientierungseinheit festgelegt. Zudem wird durch die Studienleitung Hilfestellung bei der Immatrikulation, Zimmersuche und weitere Studienberatung geleistet.

Aufgrund der Kürze der Studienzeit (11 Monate) und den damit verbundenen hohen Ansprüchen handelt es sich um ein sehr intensives Studienprogramm, das sich von den klassischen Studiengängen in Deutschland auch dadurch stark abhebt. Die Studienintensität lässt es nicht zu, nebenbei für den Lebensunterhalt zu arbeiten; auch gibt es keine Semesterferien. Daher erhält der Großteil unserer Studierenden vom Zulassungsausschuss (Mittel von der DSF und dem DAAD) ein Stipendium, bringt ein selbst eingeworbenes Stipendium mit oder wird durch den (früheren) Arbeitgeber (Ministerien, Bundeswehr, NGO usw.) weiterfinanziert.

Dr. phil. Patricia Schneider, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Academic Coordinator MPS Weitere Infos unter: www.ifsh.de/IFSH/studium/mps.htm

| FernUni in Hagen

Weiterbildungsstudiengang »Master of Peace Studies«

von Lutz Schrader

Der Studiengang »Master of Peace Studies« der FernUniversität Hagen, der im August 2004 durch die Bonner Agentur AQAS erfolgreich akkreditiert wurde, versteht sich wie die anderen neu eingerichteten Masterstudiengänge als Antwort auf den wachsenden Bedarf an wissenschaftlicher Kompetenz auf dem Gebiet der Konfliktbearbeitung, des Gewaltabbaus und der nachhaltigen Friedenssicherung. Der modular aufgebaute Studiengang wurde gezielt aus der wissenschaftlichen Forschung zu den Themen Konflikt, Krieg und Frieden entwickelt, die an mehreren Universitäten und Forschungsinstituten in Nordrhein-Westfalen fest verankert ist. Seine Einrichtung wurde durch eine großzügige finanzielle Förderung über einen Zeitraum von fünf Jahren seitens der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) ermöglicht.

Im Vergleich zu den anderen Masterstudiengängen weist das Hagener Angebot eine Reihe von Besonderheiten auf:

  • Die Anlage als Fernstudium kommt dem Wunsch von Hochschulabsolventen entgegen, die bereits im Beruf stehen, eine zusätzliche universitäre Qualifikation zu erwerben. Besonders für im Ausland, z.B. in Entwicklungs- und Friedensprojekten oder auch in Auslandseinsätzen der Bundeswehr und Polizei tätige Interessenten eröffnet sich so die Chance, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten auf friedenswissenschaftlichem Gebiet für eine bessere Orientierung in einem sich rasch wandelnden Arbeitsumfeld auszubauen.
  • Die Hagener Peace Studies sind das einzige gebührenpflichtige Weiterbildungsangebot in diesem Bereich in der Bundesrepublik. Die Entscheidung zu seiner Einrichtung geht auf das Bestreben der FernUniversität zurück, in einer Zeit lebenslangen Lernens verstärkt Weiterbildungsstudiengänge auf den verschiedenen universitären Qualifikationsstufen zu entwickeln und auf hohem Niveau zugänglich zu machen. Für die Studierenden ergibt sich daraus der Vorteil, eine anspruchsvolle fachliche und organisatorische Betreuung in Anspruch nehmen zu können. Das Curriculum ist deshalb so konzipiert, dass es als Teilzeitstudium neben beruflicher Tätigkeit absolviert werden kann.
  • Hervorzuheben ist ebenfalls die inter- und transdisziplinäre Ausrichtung des Studiengangs. Zwar bilden die Politikwissenschaften, und speziell die internationalen Beziehungen, einen wichtigen disziplinären Schwerpunkt. Dieser wird jedoch durch eigenständige, substanzielle historische, soziologische, völkerrechtliche, kultur- und religionswissenschaftliche, wirtschaftswissenschaftliche, philosophische und psychologische Inhalte ergänzt. Insbesondere soll die naturwissenschaftliche Friedensforschung einen noch größeren Platz innerhalb des Lehrangebots bekommen. In den Präsenzseminaren und in den Modul- und Abschlussprüfungen sind die Studierenden gefordert, die unterschiedlichen Fachperspektiven zu inter- und transdisziplinären Problembearbeitungen und Lösungsansätzen zusammen zu führen.
  • Der Studiengang wird in enger Kooperation mit über 40 Hochschullehrern und -lehrerinnen aus mehreren Universitäten und Forschungsinstituten Nordrhein-Westfalen und weiterer Bundesländern bestritten, die u.a. als Kursautoren und -betreuer oder als Referenten und Arbeitsgruppenleiter in das Lehrangebot eingebunden sind. Von ihnen werden auch wichtige Funktionen zur Konzeptionierung und Weiterentwicklung des Studiengangs wahrgenommen. Zur Gewährleistung dieses innovativen Modells kann sich das Institut Frieden und Demokratie auf das seit 1995 bestehende Netzwerk der Landesarbeitsgemeinschaft Friedenswissenschaft Nordrhein-Westfalen (LAG) stützen, in dem rd. 60 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zahlreicher Universitätslehrstühle und Forschungsinstitute des Landes zusammenarbeiten.

Die universitäre Friedenslehre am Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität kann inzwischen auf eine fast zehnjährige Tradition zurückblicken. Seit 1996 werden in Hagen qualifizierte friedenswissenschaftliche Weiterbildungsstudiengänge angeboten. Beginnend mit dem Zertifizierten Friedenswissenschaftlichen Weiterbildungsstudium (ZEF) konnte so schrittweise eine Lehrkompetenz aufgebaut werden, die sich auf eigene friedenswissenschaftliche Forschungen am Institut Frieden und Demokratie und an den im Rahmen der LAG kooperierende Einrichtungen gründet. Ein zweiter Entwicklungsschritt war im Jahr 2000 die Einrichtung des zweisemestrigen zertifizierten Interdisziplinären Friedenswissenschaftlichen Weiterbildungsstudiums »Konflikt und Frieden« (IF), das neben dem Masterstudium auch weiterhin angeboten wird.

Ziel des Masterstudiums ist es, bei den Studierenden die Fähigkeit zur kritischen, wissenschaftlich angeleiteten Selbstreflexion anzuregen und anwendungsrelevante Handlungs- und Gestaltungsfähigkeiten auszubilden. Die praxisbezogene und problemorientierte Ausrichtung in der Lehre setzt Schwerpunkte in den Bereichen interdisziplinäre Theorien des Friedens, des Krieges und Konflikts, Konzepte und Wege des Gewaltabbaus, der zivilen Konflikttransformation und der nachhaltigen Friedenssicherung sowie Kenntnisse zu Organisationen und Verwaltungshandeln im Bereich der Friedens- und Konfliktarbeit.

Jeweils im Wintersemester werden 40 Studierende aus einschlägigen Berufsfeldern aufgenommen, die sich durch eine besondere Studienmotivation auszeichnen. In der Pilotphase, die im Wintersemester 2004/2005 begonnen hat, wurde zunächst mit 25 Studierenden begonnen. Das Studium richtet sich vor allem an geistes- und sozialwissenschaftliche Hochschulabsolventen/innen, die in friedenswissenschaftlichen, friedenspolitischen oder konfliktbezogenen Bereichen tätig sind oder tätig werden wollen. Mögliche Arbeitsbereiche sind die auswärtige Politik, nationale und internationale Institutionen und Organisationen, Medien, Nicht-Regierungsorganisationen, Friedens- und Konfliktarbeit, Entwicklungszusammenarbeit, Streitkräfte und Polizei, Wissenschaft, Erziehung und Erwachsenenbildung, Sozialarbeit sowie Mediation und Beratung.

Die Organisation des Studiums

Das Studium ist modularisiert und beinhaltet neben 6 Lehrmodulen à je 12 Credits ein Einführungsseminar (1 Credit) und ein Abschlussseminar (1 Credit) sowie die anschließende Masterprüfung (16 Credits). Jedes Modul wird mit einer studienbegleitenden Prüfung (Einsendearbeiten, Hausarbeiten, mündliche Prüfungen oder Praxisberichte) abgeschlossen.

Die Belegung der Module sollte folgendermaßen innerhalb der 3 Studienjahre erfolgen: (siehe Tabelle)

1. Studienjahr 2. Studienjahr 3. Studienjahr
Einführungsseminar    
Modul 1
Modul 2
Modul 3
Modul 4
Modul 5  
  Modul 6    
  Abschlussmodul

Das Studium wird mit der Belegung des Abschlussseminars und der Masterprüfung nach sechs Semestern Teilzeit beendet. Die Master-Prüfung besteht aus der Masterarbeit (etwa 60 Seiten) und ihrer mündlichen Verteidigung (30-45 Minuten). Der Vorbereitung der Masterprüfung dient das obligatorische Abschlussseminar. Insgesamt können mit dem Studium 90 Credit Points nach dem European Credits Transfer System erworben werden.

Die Inhalte

Das Masterstudium vermittelt in modularisierter Form systematisches Wissen über Frieden, Krieg und gewaltförmige Konflikte. Theoretische Referenz ist ein prozessuales Verständnis von Frieden, das sowohl auf die Minimierung von direkter Gewalt und Gewaltstrukturen als auch auf den Aufbau nachhaltiger Friedensordnungen ausgerichtet ist. Die Förderung von Demokratie, Partizipation, Gerechtigkeit und Kooperation sind dabei zentrale Elemente und Anliegen. Ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass Friedensprozesse nur gelingen können, wenn alle relevanten Ebenen (global, zwischenstaatlich, national, lokal und personal) angemessen erforscht und berücksichtigt werden.

Die inter- und transdisziplinären Kenntnisse, die im Verlaufe des Studiums erarbeitet werden, stehen unter der normativen Prämisse »Friede mit friedlichen Mitteln«. Um dieser Maxime zu entsprechen, geht das Studium von einem Wissenschaftsverständnis aus, das sich in die politischen Auseinandersetzungen einmischt und sich der gesellschaftlichen Verantwortung für seine Ergebnisse stellt. Dabei wird der Grundsatz der Gewaltfreiheit nicht nur als sittlicher Wert verstanden, sondern als empirisch belegbare conditio sine qua non jeglicher Anstrengungen für einen belastbaren Frieden.

Das Studium dient der Gewinnung sowohl analytischer und kognitiver als auch strategischer und praktischer Kompetenzen. Vermittelt wird die Fähigkeit, die erworbenen inter- oder transdisziplinären Kenntnisse und Methoden zu verknüpfen und auf konkrete Sachverhalte anzuwenden. Dabei wird ausdrücklich auf die sozial-, geistes- und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse und Fähigkeiten der Studierenden aufgebaut. Ihre Erfahrungen, Blickwinkel und Fragestellungen sind eine wichtige Bereicherung für den gesamten Prozess des Studiums. Durch die Erweiterung und Vertiefung ihrer friedenswissenschaftlichen Kenntnisse und die Verbesserung ihrer methodischen Qualifikation sollen die Studierenden in den Stand versetzt werden, ihre berufliche und ehrenamtliche Praxis kritisch zu reflektieren und friedenswissenschaftliche Probleme selbstständig zu bearbeiten.

Folgende Lehrinhalte sind vorgesehen:

MODUL 1: Einführung in die Friedens- und Konfliktforschung / Friedenstheorien

L1(Bottom)Einführung in das Studium und in die Inhalte der Friedens- und Konfliktforschung:

  • Grundbegriffe und Methoden der Friedens- und Konfliktforschung
  • Friedenstheorien
  • Historische Friedensforschung
  • Friedenspolitik

MODUL 2: Theorien zu gewaltförmigen Konflikten bzw. Krieg

L1(Bottom)

  • Konflikttheorien
  • Zivilisationstheorie
  • Beiträge der Sozialpsychologie
  • Philosophische Dimensionen der Gewaltproblematik

MODUL 3: Aktuelle Probleme des Friedens und ihre interdisziplinäre Theoretisierung

Pflichtbereich

  • Die These des »demokratischen Friedens«
  • Frieden und Naturwissenschaften

Wahlpflichtbereich

L1(Bottom)

  • Beiträge der Pädagogik zur Gewaltforschung
  • Globalisierung und Friedenspolitik – Global Governance
  • Medien und Krieg
  • Makropolitische Konflikte der Gegenwart

MODUL 4: Konflikttransformation und Friedensprozesse

Pflichtbereich

  • Formen der Konfliktregelung
  • Pazifismus und gewaltfreie Konfliktbearbeitung
  • Einführung in das Völkerrecht

Wahlpflichtbereich

L1(Bottom)

  • Konfliktbearbeitung: analytisch-systematische Aspekte
  • Konversion und Prävention

MODUL 5: Organisationen und Verwaltung in Konflikt- und Friedensprozessen

L1(Bottom)

  • Organisationsforschung: Beiträge der Soziologie
  • Militär, Gesellschaft und Politik in der Bundesrepublik
  • Internationale Organisationen – Geschichte und Politik
  • Praxisorientierte Einführung in Verwaltungshandeln und Konflikttraining
  • Praxisorientierte Einführung in das Projektmanagement

MODUL 6: Methoden und Verfahren der Konfliktbearbeitung

L1(Bottom)

  • Einführung in die Mediation
  • Conflict Transformation by Peaceful Means
  • Transforming Civil Conflict
  • Einführung in die Transcend-Methode
  • Praxisseminare zu den Methoden zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung

Die didaktische Ausrichtung – das angeleitete Fernstudium

Differenzierte Informationen erhalten die Studierenden aus einem Handbuch, das ihnen zu Beginn des Studiums zugesandt wird. Darin werden alle wichtigen Modalitäten wie Studienaufbau, Studienformen, Betreuung und Anforderungen erläutert. Darüber hinaus bekommen sie Hinweise und Tipps zur friedenswissenschaftlichen Hochschul- und Forschungslandschaft in der Bundesrepublik wie auch zu friedenspolitischen Einrichtungen und Organisationen. Im Kern geht es darum, den Studierenden die Besonderheiten eines friedenswissenschaftlichen Fernstudiums nahe zu bringen. Schließlich soll ihnen Hilfestellung gegeben werden, damit sie sich möglichst selbstständig in einem für sie noch neuen sozialen Umfeld zurecht finden können.

Das Weiterbildungsstudium ist so zugeschnitten, dass es als Teilzeitstudium neben dem Beruf absolviert werden kann. Als Fernstudium ist es unabhängig vom Studienort Hagen durchführbar. Die weitgehend selbstständige Einteilung der Bearbeitungszeiten innerhalb des Semesters ermöglicht ein großes Maß an zeitlicher Flexibilität. Die auf selbstinduziertes Wissen ausgerichtete fernuniversitäre Lehre schafft genügend Raum, um individuelle Erfahrungs- und Wissenshintergründe produktiv einzubeziehen und kritisch zu reflektieren. Das Fernstudium arbeitet mit spezifischen Methoden. Dazu gehören z.B. das selbstständige Lernen anhand didaktisch aufbereiteter Studienbriefe, die von qualifizierten Hochschullehrerinnen und -lehrern betreut werden, sowie Präsenz- und Praxisseminare. Beständig ausgeweitet werden verschiedene Formen des e-Learning im »Lernraum Virtuelle Universität«.

Der zeitliche Aufwand des Fernstudiums liegt etwa bei 60 Stunden Bearbeitungszeit je Studienbrief bzw. Kurseinheit; dies sind bei einer Regelstudienzeit von 6 Semestern Teilzeit im Durchschnitt 20 Stunden pro Woche didaktisch angeleitetes und betreutes Selbststudium. Natürlich variiert die konkrete zeitliche Belastung je nach Vorkenntnissen, persönlichem Arbeitsstil und Studienablauf. So wird die Lektüre der Studienbriefe in aller Regel weniger Zeit in Anspruch nehmen als die Erstellung schriftlicher Prüfungsleistungen wie Einsende-, Haus- und Abschlussarbeiten.

Die Lerninhalte des Weiterbildungsstudiums werden überwiegend anhand von Studienbriefen vermittelt. Dieses Medium sind speziell für das Selbststudium aufbereitete, gedruckte Studienmaterialien, die zu Beginn jedes Semesters versandt werden. Neben den Studienbriefen gibt es drei obligatorische und mehrere fakultative Präsenzveranstaltungen in Form von Blockseminaren. In der Regel finden diese Seminare an zwei bis drei Tagen (meist an Wochenenden in einer Bildungsstätte in Nordrhein-Westfalen) statt. Die Studierenden können zusätzliche fakultative Kurse oder Seminare an den in der LAG Friedenswissenschaft kooperierenden Universitäten besuchen. Um Wissen aufzufrischen oder Wissenslücken zu schließen, besteht überdies die Möglichkeit, im Rahmen der sog. Akademiestudien gegen Gebühr weitere Kurse am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität zu belegen.

Die Modulleistungen werden studienbegleitend abgeprüft. Modulprüfungen oder Modulteilprüfungen können in Form von angeleiteten Einsendearbeiten, Hausarbeiten, Praxisberichten oder mündlichen Prüfungen erbracht werden. Das Weiterbildungsstudium wird mit einer Abschlussarbeit und einer mündlicher Prüfung beendet.

Studierende

Zur Spezifik von Fernstudiengängen gehört nicht zuletzt die Zusammensetzung der Studierendenschaft. Die Teilnehmer sind mit ihren unterschiedlichen disziplinären Herkünften, beruflichen Hintergründen und vielfältigen Praxiserfahrungen eine wichtige Quelle für die besondere Attraktivität des Studiums. Von den im ersten Durchgang immatrikulierten 25 Studierenden (13 Frauen und 12 Männer zwischen 25 und 50 Jahren) hat ein Großteil bereits in Konfliktsituationen im Ausland gearbeitet. Andere haben z.B. als AusbilderIn, LehrerIn oder ÄrztIn in ihren konkreten Tätigkeitsbereichen mit der Bearbeitung von Konflikten und deren Folgen zu tun. Dadurch entsteht die vorteilhafte Situation, dass die Studierenden viel voneinander lernen und erfahren können. Für die Lehrenden bedeutet dies, sich den Sichtweisen und Erfahrungen einer anspruchsvollen Klientel zu stellen und diese für einen gegenseitigen Lehr- und Lernprozess produktiv zu machen.

Dr. Lutz Schrader, Wiss. Mitarbeiter des Instituts Frieden und Demokratie und Koordinator des Studiengangs Weitere Informationen unter: www.fernuni-hagen.de/frieden Mail: PeaceStudies@fernuni-hagen.de

| Universität Frankfurt / TU Darmstadt

Master-Studiengang »Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung«

von Tanja Brühl

Voraussichtlich im Wintersemester 05/06 wird ein weiterer neuer friedenswissenschaftlicher Master-Studiengang beginnen »Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung«. Er wird von der Universität Frankfurt, der TU Darmstadt und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) gemeinsam angeboten werden. Prüfungs- und Studienordnung des Studiengangs werden derzeit (Dezember 2004) in den universitären Gremien beraten.

Im Laufe des viersemestrigen Studiums werden theoretische, normative und empirische Kenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Internationalen Studien vermittelt. Im Zentrum steht dabei die Weltordnungspolitik und die Weltgesellschaft in einer friedenswissenschaftlichen Perspektive. Weltordnungspolitik kann als Prozess verstanden werden, der zur Überwindung der unfriedlichen Strukturen einen Beitrag leistet. Zugleich ist die bestehende Weltordnungspolitik eine Ursache der virulenten Konflikte. Dass eine im positiven Sinne verstandene Weltordnungspolitik nicht alleine von Staaten geleistet werden kann, ist offensichtlich. Doch welche Rolle können andere Akteure wie bspw. Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen überhaupt spielen? Und welchen Handlungsfreiraum haben Staaten heute?

Aus der Sicht verschiedener Disziplinen insbesondere der Politikwissenschaft, aber auch der Soziologie, Philosophie, der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften werden Akteure, Triebkräfte, Tendenzen und Folgen der aktuellen politischen Prozesse analysiert. Der Schwerpunkt des Studiengangs liegt bei der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen. Es wird daher vornehmlich die inter- oder transnationale Ebene untersucht. Konflikte werden also vor allem als Ergebnisse der Interaktionen kollektiver Akteure verstanden; Friedens- und Kriegsprozesse auf der nationalen und internationalen Ebene analysiert. Ziel des Studienganges ist es, den Studierenden die Fähigkeit zu vermitteln, eine selbstständige differenzierte Analyse von Konflikten vorzunehmen und reflektiert Strategien der Konfliktregulierung und Friedensförderung zu entwickeln.

Organisation des Studiums

Die Studierenden besuchen in den vier Semestern rund 15 – 20 Lehrveranstaltungen aus sechs Modulen:

Grundlagen

Im ersten Semester werden die Grundlagen des Studiengangs gelegt bzw. angeglichen, und zwar sowohl im allgemeinen politik- wie auch im friedenswissenschaftlichen Bereich. Im ersten Teil wird ein Überblick über die Theorie-Paradigmen der Politikwissenschaft gegeben. Die Studierenden vertiefen darüber hinaus wahlweise ihre Kenntnisse in der Kritischen Theorie oder feministischen Theorien. Im zweiten Teil gilt es die Grundlagen der Friedens- und Konfliktforschung zu vermitteln (Auseinandersetzung mit den Konzepten von Gewalt, Frieden, Krieg usw.) und Theorien der Internationalen Beziehungen oder der internationalen politischen Ökonomie als Werkzeuge zur empirischen Analyse zu studieren.

Weltordnung / Zivilisierung

Im zweiten und dritten Semester setzen sich die Studierenden mit verschiedenen politischen Akteuren in den internationalen Beziehungen und mit konkreten Problemen der Weltordnungspolitik auseinander. Hierbei erwerben sie ein fundiertes Verständnis der Akteurskonstellationen und -motivationen und der Möglichkeit der Konfliktregulierung durch Institutionalisierung. Es werden Konflikte, Strukturen und Entwicklungstendenzen der verschiedenen Politikfelder (Sicherheit, Herrschaft, Wohlfahrt, Umwelt) analysiert.

Konflikte / Kriege / Friedensprozesse

Ebenfalls im zweiten und dritten Semester werden die zentralen Themen der Friedens- und Konfliktforschung behandelt. Das Modul vermittelt sowohl empirische Kenntnisse über Konflikte, Kriege und Friedensprozesse wie auch Theorien der Kriegs- und Kriegsursachenforschung und Kenntnisse der Friedensursachenforschung. Konflikte und Kriege der Gegenwart werden ebenso wie die Friedensprozesse kennen gelernt.

»Weltgesellschaft« – Theorie und politische Philosophie globaler Vergesellschaftung

Das Modul liefert einen breiten Überblick über die gegenwärtigen Tendenzen globaler Vergesellschaftung und ihrer Folgen. Eine Beschäftigung mit dem vielschichtigen Konzept der Weltgesellschaft ist ebenso vorgesehen wie eine Auseinandersetzung mit normativen Grundlagen der Weltordnung und Fragen der Demokratie und transnationaler Vergesellschaftung. Das Modul kann im ersten und zweiten Semester besucht werden.

Wahlmodul

Im Wahlmodul können die Studierenden einen Schwerpunkt wählen, den sie aus mindestens zwei Disziplinen (der Politikwissenschaft und einem anderen Fach) heraus beleuchten. Angeboten werden voraussichtlich »Globalisierung und Entwicklung« (Fragen der Weltwirtschaftspolitik und ihren Auswirkungen auf die Entwicklungsländer), »Globalisierung und Recht« (Beitrag des Völkerrechts und internationaler Organisationen zum Frieden) und »Technik und Entwicklung« (Beitrag der Technik zur Entwicklung), »Naturwissenschaftlich-technische Dimensionen des Friedens« (Beiträge der Naturwissenschaften zur Friedensforschung). Das Wahlmodul wird im dritten und vierten Semester studiert.

Abschluss

Im vierten Semester fertigen die Studierenden eine Master-Arbeit an. Dieser Forschungsprozess wird durch ein Kolloquium begleitet. Zudem ist eine halbstündige mündliche Prüfung zu absolvieren. Die anderen Prüfungen werden studienbegleitend abgelegt, wozu auch Hausarbeiten angefertigt werden.

Das Profil des Studiengangs

Eine Besonderheit dieses friedenswissenschaftlichen Studiengangs ist die inhaltliche Schwerpunktsetzung. Diese liegt, wie erwähnt, darin, dass die Friedensforschung aus einer Weltordnungs- und Weltgesellschaftsperspektive heraus analysiert wird. Damit greift der Studiengang bestehende Forschungsschwerpunkte der drei mitwirkenden Institutionen auf und ermöglicht Studierenden eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Forschung. Die Friedensforschung ist in Frankfurt/M. mit der Gründung der HSFK (1970) fest institutionalisiert. Derzeit erforscht die HSFK vor allem die Antinomien des Demokratischen Friedens. In den letzten Jahren ist die Zusammenarbeit zwischen der Frankfurter Universität und der HSFK im Rahmen des Kooperationsvertrags verstärkt worden. Seit kurzem haben auch die TU Darmstadt und die HSFK ihre Kooperation institutionalisiert, so dass man von einem südhessischen Schwerpunkt in der Friedensforschung sprechen kann. Forscher und Forscherinnen der Universitäten Frankfurt und Darmstadt (sowie Bielefeld) arbeiten seit 1994 in der Forschungsgruppe Weltgesellschaft zusammen, um Fragen des globalen Wandels in einen größeren staats- und steuerungstheoretischen Rahmen einzubetten. Diese im Bereich der Forschung bestehende Zusammenarbeit wird nun für die Studierenden (noch) fruchtbarer gemacht. Die Studierenden haben in dem geplanten Studiengang die Möglichkeit, innerhalb des Umfelds dreier miteinander interagierender Institutionen die Entstehung aktueller Forschungsprozesse mitzuerleben bzw. selbst daran mitzuwirken.

Eine weitere Besonderheit des Studiengangs ist die gemeinsame Bearbeitung der Themen aus verschiedenen Disziplinen heraus. Statt eines klassischen Nebenfachstudiums (in dem die Nebenfächer relativ unverbunden von dem jeweiligen Hauptfach stehen) tragen die verschiedenen einbezogenen Disziplinen gemeinsam und aufeinander bezogen zur Bearbeitung von Fragestellungen bei. Es liegt also ein integriertes interdisziplinäres Modell vor. Konkret bedeutet dies, dass ein interdisziplinäres Modul immer von mindestens zwei Fächern »beliefert« wird (dies gilt außer für das Wahlmodul vor allem auch für das Grundlagen- und das Weltgesellschaftsmodul). Ein solch integrierter interdisziplinärer Ansatz ermöglicht es den Studierenden, die wissenschaftstheoretischen wie methodisch-praktischen Unterschiede der Disziplinen zu erkennen, zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Lehrformen

Die in den sechs Modulen skizzierten Inhalte werden größtenteils in Seminaren vermittelt, um den Studierenden die Möglichkeit einer aktiven Auseinandersetzung zu ermöglichen. Vorlesungen werden eingesetzt um allgemeine Grundlagen zu legen. Zur Förderung der Analysefähigkeiten besuchen die Studierenden zudem eine vierstündige Veranstaltung (sogenanntes Empiriepraktikum), in dem sie selbst forschend tätig werden. Hier führen sie in kleinen Arbeitsgruppen unter Anleitung kleinere Forschungsarbeiten (Fallstudien) durch. Sie wenden hierbei die zuvor erlernten wissenschaftlichen Methoden an und entwickeln ein eigenes Forschungsdesign. Auch in den anderen Lehrveranstaltungen haben Arbeitsgruppen einen hohen Stellenwert. Zusätzlich werden auch Formen der Moderation und intellektueller Interaktion eingeübt, zum Beispiel über die Inszenierung von Podiumsdiskussionen. Schließlich können die Studierenden an Exkursionen oder Simulationen, wie einer Fahrt zu den Vereinten Nationen nach Genf oder einem internationalen Planspiel am UNO-Hauptsitz (National Model United Nations), teilnehmen. Entsprechend der internationalen Ausrichtung des Studiengang finden regelmäßig Veranstaltungen in englischer Sprache statt. Den Studierenden wird empfohlen, mindestens ein Semester an einer Universität im Ausland zu studieren. In einem mindestens vierwöchigem Praktikum in einem relevanten Berufsfeld können die Studierenden ihr erworbenes Fachwissen anwenden und potentielle spätere Arbeitsbereiche kennen lernen.

Das Studium kann jeweils nur zum Wintersemester aufgenommen werden. Studierende mit einem ersten berufsqualifizierenden Abschluss (i.d.R. Bachelor) in Politik- oder Sozialwissenschaften und sehr guten Englischkenntnissen können sich um die Zulassung zum Studiengang »Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung« bewerben. Weitere Informationen zum Studiengang stellen die beteiligten Institutionen nach Genehmigung der Studiengänge auf ihren homepages zur Verfügung.

Dr. Tanja Brühl, Juniorprofessur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/M Weitere Informationen: www.gesellschaftswissenschaften.uni-frankfurt.de

Anmerkungen

1) Vgl. dazu www.manchester.edu/Academics/Departments/Peace_Studies/aboutus.html.

2) Vgl. dazu www.brad.ac.uk/acad/peace/

3) Vgl. für Deutschland dazu die Stellungnahme des Wissenschaftsrates von 1970 in: Koppe, Karlheinz: Zur Entwicklung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) und der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: DGFK-Jahrbuch 1979/80 (Zur Entspannungspolitik in Europa, hgg. von der DGFK), Baden-Baden 1980, S. 886-897; hier besonders S. 896/897.

4) Vgl. dazu die entsprechenden Studiengänge an der Hiroshima Universität: http://home.hiroshima-u.ac.jp, and der Hitotsubashi Universität: www.soc.hit-u.ac.jp, an der Meiji Gakuin Universität: www.meijigakuin.ac.jp und an Tokyo University of Foreign Studies: www.tufs.ac.jp.

5) In den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Australien und Neuseeland und zum Teil in den skandinavischen Ländern werden Peace & Conflict Studies auch als undergraduate-Studiengänge mit dem Bachelorabschluss angeboten. Im Kontext dieses Beitrags wird auf diese Curricula hier nicht näher eingegangen.

6) Vgl. www.nd.edu/~krocinst/programs/masters

7) ebd.

8) Vgl. z.B. die Masterprogramme der Eastern Mennonite University: www.emu.edu/ctp/curdes.html sowie des Goshen College´s: www.goshen.edu/peace/courses.php.

9) Vgl. z.B. die Masterprogramme an der George Mason-Universität in Arlington (Virginia): www.gmu.edu/departments/ICAR/undergrad.htm, an der Universität von Syracuse (New York): www.maxwell.syr.edu/parc/ und innerhalb des Five College Program´s in Peace and World Security Studies: http://pawss.hampshire.edu.

10) Vgl. das Programm »Peace & Justice Studies« an der Tufts Universität in Medford (Massachusetts): http://ase.tufts.edu/pjs/about.html oder das Masterprogramm an der Universität von Südaustralien: www.unisanet.unisa.edu.au, das Programm Especializacion en Resolucion de Conflictos an der Pontificia Universidad Javeriana in Kolumbien: http://venus.javeriana.edu.co/cpolitic/resolucion-de-conflictos.html oder das Masterprogramm in International Relations an der Universidad des Salvador in Argentinien: www.salvador.edu.ar/ua1-112c-engl.htm.

11) Vgl. die Curricula an diesen drei Universitäten: http://pcr.csps-ugm.or.id/curriculum.hml, www.ui.edu.ng und http://faculty.biu.ac.il/~steing/conflict/faculty.html

12) Vgl. www.brad.ac.uk/acad/peace/.

13) Vgl. die Programme dieser drei Einrichtungen: www.lancs.ac.uk/users/richinst/home/index.htm, www.ul.ie/cpds/MA.htm und www.tcd.ie/ise/degree_diploma/ipsp/prog_content.html.

14) Vgl. die Programme an diesen vier Universitäten: www.padrigu.gu.se, www.pcr.uu.se/welcome_english.htm, www.uio.no/studier/program/peace-master/presentasjon/index.html und http://uit.no/cps/.

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Jenseits der »terroristischen Bedrohung«

Charakterwandel der Gewaltakteure im nordirischen Friedensprozess

von Marcel M. Baumann

Der nordirische Bürgerkrieg begann im Jahr 1968 und wurde mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens am 10. April 1998 offiziell beendet (siehe W&F Dossier Nr. 45) Doch aufgrund zahlreicher Krisen sind die Regierungsinstitutionen, die im Friedensabkommen vorgesehen waren und die eine gemeinsame Regierung von Protestanten und Katholiken garantieren sollten, seit dem 14. Oktober 2002 suspendiert. In die verfahrene Situation wurde erst am 28. Juli 2005 neue Bewegung gebracht, als die Irish Republican Army (IRA) in einer Erklärung das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt gab und gleichzeitig ankündigte, alle ihre Waffen einer von der britischen Regierung eingesetzten Kommission zu übergeben. Am 26. September 2005 bestätigte ein Bericht dieser Kommission, dass die IRA tatsächlich alle ihre Waffen übergeben hat. Die britische Regierung übte in der Folge heftigen Druck auf die Konfliktparteien aus: Den beiden größten Parteien – Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, auf der katholischen und der Democratic Unionist Party (DUP) auf der protestantischen Seite – wurde eine Frist bis zum 24. November 2006 gegeben, um offizielle Vorschläge für den Ersten Minister Nordirlands und dessen Stellvertreter abzugeben. Nach der Vorgabe der britischen Regierung muss bis zum 26. März 2007 die gemeinsame Regierung ihre Arbeit aufnehmen, ansonsten werden das Parlament und die Regierungsinstitutionen aufgelöst.

In der aktuellen politischen Auseinandersetzung wurde die Haltung Sinn Feins zur Polizei mittlerweile zur Gretchenfrage der weiteren politischen Demokratisierung Nordirlands gemacht. Seitdem die IRA alle Waffen übergeben hat, wird von der DUP die Forderung wiederholt, Sinn Fein könne nur dann in eine gemeinsame Regierung eintreten, wenn sie die Polizei offiziell anerkennt und unterstützt. Gerade von Seiten des britischen Nordirlandministers wird heftiger Druck ausgeübt, Sinn Fein solle im Januar 2007 einen Sonderparteitag abhalten und die offizielle Unterstützung der Polizei beschließen.

Doch in der DUP regt sich zunehmend der Widerstand jener, die prinzipiell gegen eine gemeinsame Regierung mit Sinn Fein sind. Problematisch ist diese Situation auch deshalb, weil sich Ian Paisley in einem Dilemma befindet. Seine Partei kann sich auf kein Mandat berufen, um mit Sinn Fein eine Regierung zu bilden: „Over our dead bodies!“, so lautete stets die Losung, wonach man nie mit Sinn Fein eine Regierung bilden würde.

Selbst wenn der Sinn Fein-Parteitagsbeschluss für eine offizielle Akzeptanz der Polizei zustande käme, würde nicht automatisch Legitimität für die Polizei aus Sicht der katholischen Bevölkerung erreicht. Vertrauen und Legitimität können nicht beschlossen werden, denn aus der Sicht der katholischen Gemeinschaft – der „angeblich interessierte Dritte“ (nach Herfried Münkler) für die IRA – war die Polizei der zentrale staatliche Kriegsakteur und hatte den Charakter einer Polizei-Truppe: „Police officers on the ground need to realise that they are not anti-terrorist police officers any more but normal police officers who have to deal with the ordinary mundane problems of their community – and I think that is proving more difficult than anybody expected“, so wird ein katholischer Jugendsozialarbeiter zitiert.

Das notwendige Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei kann nur dann entstehen, wenn sich der ehemalige Kriegsakteur zu einem Polizei-Dienst transformiert, welcher seine Aufgabe in partnerschaftlicher Art und Weise im Sinne der katholischen und protestantischen Bevölkerung durchführt.

Seitdem die Polizeifrage im Mittelpunkt der politischen Debatte steht, zeigt sich ein großer Dissens innerhalb Sinn Feins und der republikanischen Gemeinschaft als Ganzes. Noch im April 2003 hatte Brian Keenan, der als Führer der IRA gilt, in einer Rede die Polizei als »unakzeptabel« bezeichnet und jedes Bestreben, die Sinn Fein-Haltung zu ändern, scharf zurückgewiesen. Auch viele ehemalige IRA-Kombattanten verweigern der Polizei jegliche Legimität und Anerkennung. Anfang Dezember 2006 verließ z.B. Laurence O’Neill, ehemaliger IRA-Häftling und ein wichtiger Spendensammler, aus diesem Grunde die Partei: „I’m a lifelong republican but I firmly believe no republican can ever sign up to policing and that has led to a fall-out with former friends“, sagte er in einem Interview.

Die Sinn Fein-Führung hat es im Friedensprozess bisher bewusst versäumt, kritische Debatten zuzulassen: „I was a member of the republican movement for 37 years and resigned last year as a result of the lack of internal debate on matters of policy and strategy and the manner in which membership were expected to blindly follow a leadership-led policy without question or dissent“ begründete Tony Catney, ehemaliges Mitglied des Parteivorstandes (ard comhairle), der Mitte der 90er Jahre des Sinn Fein-Büro in Brüssel leitete, in einem offenen Brief seinen Parteiaustritt.

Der totalitäre Charakter von Sinn Fein verhinderte bisher echte innerparteiliche und innergesellschaftliche Debatten. Es ist daher unrealistisch, eine schnelle Lösung zu erwarten.

Restorative Justice

Die konstruktive Transformation bewaffneter Gruppen, der Restorative Justice-Ansatz kann eine »Zwischenlösung« sein, die der IRA und anderen nicht-staatlichen Kriegsakteuren eine positive Rolle im Friedenskonsolidierungsprozess ermöglicht bis die Legitimität der staatlichen Sicherheitsinstitutionen (wieder-) hergestellt wurde.

Der Kontext für Restorative Justice als eine Maßnahme der zivilen Konfliktbearbeitung liegt in jenen Gewaltphänomenen, die als »Abfallprodukt« des Friedensprozesses entstanden sind: Im November 2002 kam es zu einem besonders spektakulären Gewaltvorfall, als in Dunmurry, einem südlichen Vorort von Belfast, ein berüchtigter Autodieb bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen und danach an einen Zaun gekreuzigt wurde. Die Kreuzigung war eine Bestrafungsaktion der Ulster Defence Association (UDA) – eine bewaffnete Gruppe, die sich zu Bürgerkriegszeiten als Schutztruppe der protestantischen Gemeinschaft gegen die IRA sah. Sie gab vor „im Auftrag der Bevölkerung“ zu handeln, da die Polizei nicht zu aktiver Kriminalitätsbekämpfung fähig sei.

Die daraus resultierenden Folgen wurden in einem informellen Gespräch des Autors mit einem Anwohner deutlich, der in Belfast als Taxifahrer arbeitet und in dessen Hinterhof die Kreuzigung geschah. Als der Autor sein Unverständnis über die Kreuzigung zum Ausdruck brachte, entgegnete der Anwohner sehr verärgert: „He fucking deserved it! I had three cars stolen by him in a quarter of a year“.

Eine andere, weit verbreitete Bestrafungsaktion sind Schüsse ins Knie, das so genannte Punishment Shooting.

Gewaltaktionen wie Schüsse ins Knie sind als solche keine neuen Phänomene, sondern werden von der IRA und anderen Gruppen schon seit Beginn der 70er Jahre praktiziert. Neu ist dagegen ihre Funktion und ihr Ausmaß. Während sie zu Bürgerkriegszeiten als Bestrafung von Spionen oder Abtrünnigen in den eigenen Reihen eingesetzt wurden und um das eigene militärische Machtregime vor Ort zu sichern, werden sie im Friedenskonsolidierungsprozess als Strafen für kriminelle Vergehen verwendet – gegen Drogendealer, Kleinkriminelle u.a. Nach den Erhebungen der nordirischen Polizei ist die absolute Zahl der vigilantistischen Gewaltfälle seit 1994 dramatisch gestiegen und erreichte im Berichtsjahr 2003 den Höhepunkt von mehr als 300 Einzelfällen.

Möchte man diese Gewaltaktionen im Sinne eines »deutenden Verstehens« nachvollziehen, so muss man sich aus einer gewaltsoziologischen Perspektive die für fast alle Konflikttransformationsprozesse beobachtbaren Begleiterscheinungen bewusst machen: Ein typisches Phänomen ist ein exponentieller Anstieg krimineller Gewalt parallel zum Abschwächen politisch motivierter Gewalt. Die Instabilität von Konflikttransformationsphasen begünstigt einen Kriminalitätsanstieg – so beobachtet z.B. in den osteuropäischen Staaten, in El Salvador und in Namibia während der Phase vor der Unabhängigkeit des Landes. Die Erklärung liegt im identifizierbaren Zustand der Anomie (nach Emile Durkheim), wonach die so genannte einfache Kriminalität durch den Bürgerkrieg unterdrückt wurde, da die politisch motivierte Gewalt bewaffneter Gruppen dominierte. Im internationalen Vergleich der Kriminalitätsraten belegt Nordirland mittlerweile den zweiten Rang hinter Südafrika; gleichzeitig belegt der »Northern Ireland Crime Survey« eine überdurchschnittlich hohe Angst der Menschen, Opfer eines Verbrechens zu werden.

Die staatlichen Sicherheitsinstitutionen sind am Beginn des Friedenskonsolidierungsprozesses kaum in der Lage, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, die durch den Kriminalitätsanstieg in Gefahr gerät. Zur Schilderung der Probleme der Polizei im Vorgehen gegen kriminelle Gewalt innerhalb eines Friedenskonsolidierungsprozess wählte ein südafrikanischer Polizist den Vergleich mit einem Rugby-Team das plötzlich Fußball spielen soll. Die bewaffneten Gruppen, die sich schon zu Bürgerkriegszeiten als Schutzmächte ihrer Gemeinschaften sahen, nutzen die Situation um erneut »das Recht selbst in die Hand« zu nehmen und betreiben – nicht selten auch auf Druck der eigenen Gemeinschaft – eine gewaltsame, aktive Kriminalitätsbekämpfung.

Eine gewaltfreie Alternative zur Form der »Kriminalitätsbekämpfung durch Verbrechen« bietet die »Restorative Justice-Intervention«: Kriminalität wird nicht als Übertretung eines Gesetzes, sondern als eine Schädigung des Opfers und eine Beeinträchtigung des friedlichen und sicheren Zusammenlebens in einer Gemeinschaft definiert. Ziel ist es, einen alternativen gemeinschaftsbezogenen Prozess zu initiieren, der die gewaltsame informelle Selbstjustiz der bewaffneten Gruppen vermeidet bzw. aushebelt. Vergleichbar mit der klassischen Methode des Täter-Opfer-Ausgleichs bieten Restorative Justice-NGOs vor Ort den Betroffenen Foren bzw. Kommunikationsräume an. Darin kommen idealer Weise sowohl der (kriminelle) Täter, die Opfer als auch Vertreter der Gemeinschaft an einen Tisch. Die NGOs bieten Opfern und Tätern die Möglichkeit, mit Hilfe eines Vermittlers ihren Konflikt außergerichtlich zu regeln und sich über eine Wiedergutmachung zu verständigen. Gemeinsam wird dann versucht, eine Vereinbarung darüber zu erzielen, welche Maßnahmen nötig sind, um die eine Wiedergutmachung zu erreichen. Denkbar ist dabei stets ein Bündel von Maßnahmen, z.B. auch pädagogische Maßnahmen bezogen auf den Täter. Die Aufgabe von lokalen NGOs als »Dritte Parteien« besteht u.a. darin, die Wiedergutmachungs-Leistungen zu überprüfen. Mittlerweile sind in vielen Gebieten solche Restorative Justice-NGOs entstanden. In der Regel gingen diese auf die Initiativen ehemaliger Mitglieder der bewaffneten Gruppen und deren Organisationen zurück: Auf der katholischen Seite ist hier der Dachverband »Community Restorative Justice Ireland« (CRJI) zu nennen, auf der protestantischen die NGO »Greater Shankill Alternatives«. Der Erfolg der Organisationen liegt zum einen im relativen Rückgang der »Punishment Beatings«, wenn auch nur in kleinen Schritten. So wird z.B. der Rückgang der »Punishment Beatings« im Gebiet der »Shankill Road« auch von der lokalen Polizei bestätigt.

Zum anderen besteht der Erfolg darin, dass die grundsätzliche Akzeptanz einer gewaltlosen Lösung des Kriminalitätsproblems und von Konflikten im Allgemeinen in den Augen der Gemeinschaften und unter den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen steigt und sich dadurch die festsitzende Gewaltkultur, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, aufzulösen beginnt.

Die Verwirklichung der Restorative Justice-Philosophie in Nordirland hat damit den ehemaligen Gewaltakteuren die Chance gegeben, einen konstruktiven Beitrag zum Gelingen des Friedenskonsolidierungsprozesses zu leisten.

Fazit & Ausblick

Doch die Umsetzung des Restorative Justice-Ansatzes wird auch von erheblicher Kritik begleitet, die sich durch alle politischen Lager erstreckt. „We can’t have local warlords being turned into local law lords“, sagte z.B. Mark Durkan, Parteivorsitzender der gemäßigten katholischen Social Democratic Labour Party. Andere Kritiker behaupten, dass CRJI lediglich ein neuer Name bzw. eine neue Rolle für die IRA sei.

In der Tat operieren die Restorative Justice-NGOs in einer rechtlichen Grauzone, denn sie nehmen eine zentrale staatliche Aufgaben wahr: Rechtsdurchsetzung und Sicherheitswahrung. Die britische Regierung hat deshalb eine Konsultationsperiode gestartet, um rechtliche Klarheit zu schaffen, die jedoch noch nicht abgeschlossen wurde. Kompromisslinien werden z.B. darin gesehen, eine Form der Kooperation zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs zu implementieren, d.h. eine Verzahnung von Polizeireformen und dem Restorative Justice-Ansatz.

Hans Fritzheimer, Leiter des EU-Polizeiprojekts Proxima in Mazedonien und hochrangiger schwedischer Polizist, sagte in einem Interview mit dem Autor, dass man in Konflikttransformationsphasen keine »big bang«-Intervention von Polizeireformen erwarten könne. Polizeiorganisationen, die internationalen Standards in Bezug auf Menschrenrechte u.a. gerecht werden, können nur durch langfristige Reformen entstehen, so Fritzheimer, nicht durch eine komplette Abschaffung der alten Polizeiformen. Akzeptiert man also, dass man von der alten Polizei-Truppe keinen »big bang « erwarten kann, kann man dann von der IRA und den anderen nicht-staatlichen Gewaltakteuren einen solchen »big bang«, d.h. die sofortige Auflösung erwarten? Die Gegenthese lautet daher, dass Restorative Justice-NGOs in der Tat eine neue Rolle für die IRA sein können. Hierin besteht die Chance, den bewaffneten Gruppen einen positiven Ansatzpunkt zur langfristigen Transformation von Gewaltakteuren zu Friedensakteuren zu geben: „Just because you have a past doesn’t mean you don’t have a future“ wurde David Trimble zitiert, ehemaliger Erster Minister Nordirlands und damals Parteivorsitzender der gemäßigten, protestantischen Ulster Unionist Party.

Ein positives Zusammenwirken zwischen der Polizei und den Restorative Justice-NGOs kann derzeit aufgrund der Verweigerung Sinn Feins nicht in Gang kommen, die sich auf das mangelnde Vertrauen in der katholischen Gemeinschaft begründet. Ein denkbarer Ausweg könnte darin bestehen, dass Sinn Fein die ihnen zustehenden Sitze im Policing Board vorläufig nicht annimmt, aber stattdessen Vertreter von CRJI dafür nominiert werden. Sinn Fein könnte dadurch das politische Gesicht wahren – die Partei kooperiert nicht direkt mit der Polizei – doch gleichzeitig könnte der Dialog der Polizei mit der katholischen Gemeinschaft über die CRJI-Vertreter überhaupt beginnen.

Dadurch könnte sich eine positive Dynamik abzeichnen, wie sie in Südafrika zu beobachten war: Obwohl es gegenüber der südafrikanischen Polizei große Befürchtungen gab, sie werde in den Friedenskomitees (peace committees) eine destruktive Rolle spielen, nahm sie eine aktive Rolle ein und es kam ein Dialog mit der schwarzen Gemeinschaft in Gang.

Dieses Potential könnte in Nordirland zum Tragen kommen, wenn zunächst CRJI-Vertreter, ihre Sitze im nationalen und den regionalen Polizeiaufsichtsgremien annehmen würden. Restorative Justice könnte so die Funktion einer »vertrauensschaffenden Brücke« für den Weg der Reform der nordirischen Polizei erfüllen.

Nehmen CRJI-Vertreter die Sinn Fein-Sitze im Policing Board an, so könnte dies auch ein möglicher Kompromiss auf der makropolitischen Ebene darstellen, was die wiederholten Forderungen an Sinn Fein betrifft, die Polizei offiziell anzuerkennen.

Literatur

Baumann, Marcel M. (2006): The Restoration of Restorative Justice; in: The Blanket: A Journal of Protest and Dissent; 14. Juni 2006.

Baumann, Marcel M. (2007): Zwischenwelten: Weder Krieg, noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewalt im Prozess der Konflikttransformation; Müsnter: Lit. (i.E.)

Cox, Michael / Guelke, Adrian / Stephen, Fiona (2000) (Hrsg.): A farewell to arms? From ‘long war’ to long peace in Northern Ireland; Manchester: Manchester University Press.

Hauswedell, Corinna (2004): der nordirische Friedensprozess – ein Modell? Lehren für eine internationale Einhegung innergesellschaftlicher Konflikte, Bonn, W & F Dossier Nr. 45.

Gidron, Benjamin / Katz, Stanley N. / Hasenfeld, Yeheskel (2002) (Hrsg.): Mobilizing for Peace. Conflict Resultion in Northern Ireland, Israel/Palestine and South Africa, Oxford: Oxford University Press.

Knox, Colin / Monaghan, Rachel (2002): Informal Justice in Divided Societies. Northern Ireland and South Africa; Hampshire/ New York: Palgrave Macmillan.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1993): The Politics of Antagonism: Understanding Northern Ireland; London: Athlone Press.

McGarry, John / O’Leary, Brendan (1995): Explaining Northern Ireland: Broken Images; Oxford: Blackwell Publishing.

Moltmann, Bernhard (2002): »Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben…« Nordirland und sein kalter Frieden, HSFK-Report Nr. 8/2002, Frankfurt am Main.

Text des Karfreitagsabkommens: »Agreement reached in the multi-party negotiations« (10. April 1998): http://cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement.htm (Zugriff: 12.10.2006).

Zurawski, Nils (2001): Gewalt und Ordnung in Nordirland: RUC, Paramilitärs und restorative justice; in: Sicherheit und Frieden; Ausgabe 2 / 2001; S.96-101.

Marcel M. Baumann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser Institut für Kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg und Lehrbeauftragter am Seminar für Wissenschaftliche Politik (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau).

Energie und Zukunft

Energie und Zukunft

Memorandum zur nachhaltigen Energieversorgung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit e.V.«

von NatWis

Die aktuelle Debatte um die weltweite Energieversorgung greift zu kurz: Sie sucht technische Lösungen und klammert weitgehend die Frage nach dem Wirtschaftssystem und der ihm entsprechenden Lebens- und Produktionsweise aus. Der Zusammenhang aber zwischen naturwissenschaftlich-technischen Fakten und dem heutigen Industrie- und Wirtschaftssystem insgesamt muss thematisiert werden, um Illusionen bzw. falsche Entscheidungen über zukünftige Möglichkeiten des Wirtschaftens und Lebens auf der Erde zu vermeiden und nachhaltige, zukunftsfähige Lösungen zu finden und zu realisieren. Die Naturwissenschaftler-Initiative möchte dazu mit diesem Memorandum einen Beitrag leisten.

Die bisherigen Bemühungen, die CO2-Emissionen zu reduzieren und somit den Klimawandel zu beeinflussen, haben ihr Ziel nicht erreicht. Global steigen die CO2-Emissionen weiter erheblich an: Allein 2005 um 4,5 %, so stark wie seit 1976 nicht mehr. Die neueste Klimaprognose des Umwelt-Bundesamtes fordert, um die Erwärmung der Atmosphäre wenigstens auf 2 Grad zu begrenzen, eine Reduzierung um 40% bis 2020, um 80% bis 2050. Dabei werden die heute schon auftretenden erheblichen Folgen des Klimawandels bereits einkalkuliert. Für Deutschland wurden die bis 2005 vorgesehenen bescheidenen Reduzierungs-Ziele um 25% zwischen 1990 und 2005 nicht erreicht. Die CO2-Emissionen der europäischen Industrienationen müssten aber um ein Mehrfaches dieses Wertes reduziert werden, denn die Europäer emittieren pro Kopf das fünffache Chinas, das zehnfache afrikanischer Länder.

Gas-Kraftwerke zur Verbesserung der energietechnischen Effizienz, verbunden mit der Kraft-Wärme-Kopplung, insbesondere als dezentrale Anlagen, sind heute technisch ausgereift und wichtige Projekte. Die CO2-Abscheidung, wenn sie sich als großtechnisch realisierbar erweisen sollte und die Lagerung geklärt wäre, könnte ebenfalls einen Beitrag leisten. Diese Entwicklungen sind jedoch, soweit sie auf fossilen Brennstoffen basieren, Übergangs-Technologien. Maßnahmen zur Steigerung des Anteils der Erneuerbaren Energien müssen beschleunigt ergriffen und diese Technologien weiter entwickelt werden.

Zusammengenommen können all diese Techniken jedoch die fossilen Energieträger wohl nur zum Teil substituieren. Den durch weiteres globales Wachstum erzeugten zusätzlichen Energiebedarf können sie auf keinen Fall decken. Atomenergie aus Kernspaltung, die zur Zeit als »Renaissance der Kernenergie« von interessierter Seite in Spiel gebracht wird, ist keine verantwortbare, aber auch keine im erforderlichen Umfang realisierbare Technik zur Energiegewinnung. Es gibt also nach unserer Einschätzung keinen rein technischen Ausweg aus der Energie-Krise: Das »perpetuum mobile« wird trotz intensiver Suche nicht gefunden werden.

Bereits das Problem begrenzter Ressourcen, aber auch die unerwünschten Nebenwirkungen ihrer Nutzung, erfordern deshalb grundlegende gesellschaftlich-ökonomische Veränderungen, die in ihrer Tiefe und Tragweite wohl einen Epochenwandel von ähnlicher Größenordnung bedeuten wie der Wandel zur Industriegesellschaft vor ca. 250 Jahren.

Derzeit sind in Deutschland erhebliche Investitionen in Großkraftwerke geplant. Damit werden technische, finanzielle und gesellschaftliche Entscheidungen getroffen, die die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte festlegen. Entweder wird, geleitet durch die Interessen der dominierenden Energie-Großwirtschaft, die schon jetzt krisenhafte Entwicklung weiter betrieben – oder es werden Maßnahmen getroffen, die in Richtung einer grundlegenden Veränderung von Energiewandlung und Energienutzung führen und damit den notwendigen Epochenbruch einläuten.

Es ist höchste Zeit, zu handeln!

Die fossilen Energieträger werden knapp, die Auseinandersetzung um diese Ressource wird schärfer. Es haben bereits Kriege um Öl begonnen. Die Klimaerwärmung hat inzwischen messbare und dramatische Folgen. Nach Jahren, in denen warnende Stimmen aus Teilen der Naturwissenschaft und insbesondere der Klimaforschung überhört wurden, bleibt sehr wenig Zeit, um eine weitere Zuspitzung der globalen krisenhaften Entwicklung zu vermeiden. Folgende Notwendigkeiten aktueller Energiepolitik bestehen deshalb aus unserer Sicht:

Ausstieg aus der Atomenergie

Atomkraftwerke, wie andere Großkraftwerke ohne Kraft-Wärme-Kopplung auch, sind wenig effektiv, da sie nur Strom produzieren und 60% bis 70% ihrer Primärenergie ungenutzt verlieren. Das Risiko der Atomenergienutzung beruht im Wesentlichen auf den erheblichen Problemen in den Bereichen radioaktive Umweltbelastung von der Urangewinnung bis zum Kraftwerk, Anlagensicherheit und der bis heute offenen Frage des Umgangs mit den radioaktiven Abfällen. Bei den heutigen 443 weltweit betriebenen Reaktoren besteht das prinzipielle Risiko eines Unfallszenarios mit Kernschmelze und nachfolgender massiver Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt. Eine solche Reaktorkatastrophe ist mit extremen und langfristigen Folgen für Mensch und Umwelt verbunden. Dabei können Unfallszenarien sowohl durch die zugrunde liegende Technologie oder menschliches Versagen selbst bedingt sein (interne Ursachen), oder es können externe Ereignisse auslösend sein (Erdbeben, Flugzeugabstürze, terroristische Anschläge, Kriegseinwirkungen).

Die heutige zivile Kernenergienutzung ist janusköpfig: Sie verwendet Technologien, die speziell für die Atomwaffenprogramme der Kernwaffenstaaten entwickelt wurden und damit ein beständiges zivil-militärisches Dual-Use-Potenzial mit Proliferationsrisiko darstellen. So sind für die Anreicherung von Reaktorbrennstoff benötigte Anlagen prinzipiell auch in der Lage, hochangereichertes Uran für Waffenprogramme zu produzieren (siehe die aktuelle Diskussion um das iranische Zentrifugenprogramm). Wiederaufarbeitungstechnologien für abgebrannten Brennstoff schaffen Zugang zu Plutonium, welches ebenfalls in Kernwaffen verwendet werden kann (siehe die Diskussion um die Kernwaffenfähigkeit Nord-Koreas).

Die bei der Bestrahlung von Reaktorbrennstoff anfallenden hochradioaktiven Abfälle müssen über extrem lange Zeiträume sicher gelagert werden. Hierfür gibt es bislang weltweit keine technisch und gesellschaftlich tragfähige Lösung.

Bei einer Fortsetzung oder gar einem Ausbau der zivilen Kernenergienutzung würden diese Risiken und Probleme bestehen bleiben bzw. vervielfacht. Deshalb ist eine Fortsetzung der gegenwärtigen Kernenergienutzung oder eine Laufzeit-Verlängerung nicht verantwortbar. Der ins Feld geführte Beitrag der Atomenergie zur Lösung der Klimaproblematik wäre ohnehin gering – auch wegen der meist unerwähnt bleibenden »grauen Energie«, die vom Uran-Abbau bis zu den Herstellungsprozessen von Kraftwerken und Brennstoffen CO2 freisetzt. Der nukleare Anteil an der weltweiten Primärenergiebereitstellung liegt lediglich bei 5-6%. Selbst ein schneller Ausbau z.B. auf das Doppelte, der technisch kaum realisierbar ist (von der Planung zur Inbetriebnahme brauchte man im Schnitt 22 Jahre), würde also wenig zur Energieversorgung beitragen. Auch die in diesem Kontext diskutierten neuartigen Nuklearsysteme (vom Europäischen Druckwasserreaktor EPR bis zu Generation IV-Konzepten) lassen keine signifikanten Durchbrüche in den Bereichen der Sicherheit, der Nichtverbreitung und der Entsorgungsproblematik erwarten. Wir warnen eindringlich vor der Illusion, es könne ein inhärent sicheres Reaktorsystem und ein proliferationsresistentes nukleares Gesamtsystem ohne Entsorgungsproblematik entwickelt werden. Überdies würden bereits bei einer Fortschreibung der Kernenergienutzung auf dem gegenwärtigen Niveau die wirtschaftlich ausbeutbaren Uranlagerstätten in wenigen Jahrzehnten an eine Grenze stoßen. Daher sind Ausbauszenarien auch aus dieser Perspektive höchst fraglich.

Wegen der dafür erforderlichen riesigen Investitionsmittel würde die sich aktuell bietende Chance auf einen Umbau des deutschen Energiesystems finanziell über Jahre blockiert, der allein die Abhängigkeit von Energie-Rohstoff-Importen verringern kann.

Ob irgendwann Kernfusionsreaktoren ans Stromnetz gehen könnten, ist heute noch völlig ungewiss. Weder die technische noch überhaupt erst die wissenschaftliche Machbarkeit ist demonstriert, sie würden zudem extrem hohe Investitionskosten verursachen. Die Fusionsforschung bekommt aber – zusammen mit der nuklearen Sicherheitsforschung – immer noch knapp die Hälfte der öffentlichen Fördermittel für Energieforschung in Deutschland. Dies ist nicht zu rechtfertigen, denn es geht bei der Fusionsforschung eindeutig nicht um Effizienzsteigerung und Kostensenkung bei einer existierenden Technologie, wie in weiten Bereichen der regenerativen Technologien. Mit den Forschungsmitteln von zur Zeit jährlich etwa 500 Millionen Euro für die Fusion in Europa wird ein völlig ungedeckter Scheck auf die Zukunft ausgestellt. Denn die von den Proponenten reklamierten günstigen Eigenschaften der Fusion, die Lösungen für Probleme der heutigen Kerntechnologie versprechen, sind abhängig von einer ganzen Reihe wesentlicher technischer – insbes. auch materialtechnischer – Durchbrüche, von denen heute niemand weiß, ob sie so realisierbar sein werden. So droht beispielsweise nach heutigem Kenntnisstand auch der Fusion die Notwendigkeit einer langfristigen Endlagerung radioaktiver Abfälle, die aufgrund der Aktivierung der Reaktorstrukturmaterialien durch die harte Neutronenstrahlung entstehen. Auch wäre die Brennstoffkonzeption auf Basis des radiologisch problematischen und für Kernwaffenanwendungen begehrten Materials Tritium kritisch zu überprüfen.

Die Erfahrungen mit der Kernspaltung zeigen, dass die bei der Entwicklung in Aussicht gestellten Leistungen und die dann eingetretene Realität weit auseinanderklaffen. Mitte der 70er Jahre kündigten seriöse Wissenschaftler und Ingenieure die komplette Umstellung des Energiesystems bis zum Jahr 2000 auf Atomenergie mit 4000 bis 5000 Reaktoren weltweit an, „Stromzähler werden unnötig“. Heute haben wir 443 Reaktoren mit 5-6% Anteil, Tschernobyl hinter uns und möglicherweise bald Krieg wegen der »zivilen« Nutzung durch Iran und Nordkorea, die diese Länder kernwaffenfähig machen könnte.

Generell müssen Möglichkeiten im Wissenschafts- und Techniksystem gefunden werden, bei finanziell sehr aufwendigen Großprojekten rechtzeitig umzusteuern, wenn sich abzeichnet, dass die realen Möglichkeiten technisch und zeitlich weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückbleiben oder sich sicherheitsrelevante Probleme stellen. Heute ist daher eine Umschichtung der Forschungsfördermittel von Kernspaltung und Fusion zu regenerativen Energietechnologien anzuempfehlen.

Ausstieg aus der fossilen Energie durch deren politisch gesteuerte und sozial abgefederte Verteuerung

Die bisherigen niedrigen Energiekosten – im wesentlichen erreicht durch Nutzung der fossilen Vorräte und immer noch staatlich z.T. mit jährlichen Milliardenbeträgen subventioniert (z.B. deutsche Kohle) – haben dazu geführt, dass ohne jegliche ökonomische Hemmnisse CO2-Emmissionen produziert wurden. Damit verbundene Folgen der Klimaänderung sind inzwischen allgemein bekannt. Weniger bedacht wird, dass durch das Missverhältnis zwischen den Kosten menschlicher Arbeit und den niedrigen Energie- und Rohstoffkosten die technische Rationalisierung der Produktion in einem Ausmaß ermöglicht wurde, das inzwischen weit über sinnvolle technische Erleichterung menschlicher Arbeit hinausgeht und lediglich zur Steigerung der Renditen führt. So wurden in praktisch allen Ländern Massenarbeitslosigkeit und damit große soziale Probleme erzeugt.

Nur durch eine politisch entschiedene Verteuerung des fossilen Treibstoffs (über die durch den »Markt« schon heute erzeugte Verteuerung hinaus) kann dieses Missverhältnis korrigiert und die notwendige drastische Reduzierung des fossil betriebenen Verkehrs auf der Straße und in der Luft erreicht werden – insbesondere des Verkehrs, der lediglich durch ökonomische Kalküle bezüglich der Arbeitskosten erzeugt wird bzw. durch die Autobahnen als »just in time-Lager«. Dazu gehört auch die sonstige, technisch nicht erforderliche, ökonomisch erzwungene Mobilität (z.B. lange Wege zum Arbeitsplatz). Schließlich betreibt auch das Militär eine nicht verantwortbare Verschleuderung von fossiler Energie

Die Öko-Steuer sollte deshalb als richtiger Ansatz weiter entwickelt werden, und zwar sozial abgefedert und gezielt auf fossil erzeugte Energie und große Energieverbraucher bezogen, insbesondere in Verkehr (besonders Flugbenzin!) und Industrie. Soziale Abfederung heißt: Der Basis-Verbrauch der Haushalte für Heizung etc. bleibt günstig, Mehrverbrauch wird progressiv besteuert. Dies muss international durchgesetzt werden, um die ungleiche Inanspruchnahme von Energie zwischen Nord und Süd auszugleichen. Wie dies im einzelnen geschieht, ist in internationalen Projekten zu erarbeiten. So könnten Rahmenbedingungen geschaffen und finanzielle Mittel freigesetzt werden, um den aufgrund der Klimarisiken erforderlichen raschen Ausstieg aus dem Verbrauch fossiler Energieträger zu bewerkstelligen. Die Mittel aus einer solchen Steuer könnten zudem, wie in der Öko-Steuer bereits begonnen, für soziale und gesundheitliche Vorsorge eingesetzt werden und so die heute allein an die abhängige Arbeit gebundenen Sozialsysteme entlasten bzw. langfristig ersetzen. Zu diesem Instrumentarium gehört auch der Emissions-Zertifikate-Handel, vorausgesetzt, die Zertifikate werden schon heute drastisch und zukünftig schneller verknappt als bisher geplant und nicht wie bisher »umsonst« ausgegeben.

Förderung der Energieeinsparung

Im globalen Vergleich ist die Inanspruchnahme von Energiedienstleistungen pro Person in Deutschland und den anderen »alten« Industrieländern immer noch viel zu hoch (2003: USA rund 11 Kilowatt, Europa 6 kW, China rund 1 kW, Afrika unter 0,5 kW). Das Energie-Nutzungs-Niveau von USA oder Europa ist keineswegs übertragbar auf die gesamte Menschheit. Denn die maximale Tragfähigkeit des Biosystems für menschlich verursachten zusätzlichen Primär-Energie-Umsatz ist begrenzt und heute schon erreicht. Verträglich ist nach plausiblen Berechnungen (s. Global Challenges Network, H.P. Dürr) ein »Dauer-Leistungsbedarf« pro Person von etwa 1,5 kW – das entspricht etwa dem Niveau eines Schweizer Bürgers um 1967. Es geht also nicht nur um Energie-Effizienz, sondern im wesentlichen um Suffizienz auf immer noch hohem Niveau.

Zwar gibt es noch ein erhebliches Potential an Einsparmöglichkeiten durch technische Maßnahmen (ein Schritt in die richtige Richtung ist das Investitionsprogramm der Bundesregierung zur energetischen Sanierung von Bauten). Das wird jedoch nicht ausreichen; zudem hatten bislang Energie-Spar-Maßnahmen häufig einen quantitativen Schub zur Folge, der den Einspareffekt wieder aufhob (Rebound-Effekt). Neben der energietechnischen Optimierung (z.B. drastische Senkung des Verbrauchs bei Automobilen und Elektrogeräten) müssen also Änderungen der Wirtschaftsweise und des Lebensstils stattfinden. Zu den Änderungen des Lebensstils gehören die Beendigung der Billigfliegerei und die Reduzierung des Freizeitverkehrs, aber auch die großflächige Vermeidung unnötigen Verbrauchs im täglichen Leben. Hier hat die energetische Beratung und Aufklärung der Bevölkerung einen zentralen Stellenwert. Generell sind nach den schlechten Erfahrungen mit »Selbstverpflichtungen« der Wirtschaft entsprechende verbindliche Grenzwerte durch politische Entscheidungen festzulegen, die die Freiheit zur Verschleuderung von Energie einschränken. Aber auch eine Entwicklung langlebiger Güter und ihre Wiederverwendung nach Wiederaufarbeitung (Re-Manufacturing) zur Verlängerung der Lebenszyklen, besonders der hochtechnologischen Güter, tragen zum Energie-Sparen bei.

Ausbau der Erneuerbaren Energien

Der notwendige beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energie (EE) ist unstrittig. Dennoch werden im Verhältnis immer noch zu viele öffentliche und private Mittel für Forschung, Entwicklung, Förderung fossiler und nuklearer Energiequellen (inzwischen auch deren unvermeidbaren Rückbau) ausgegeben, anstatt sie in regenerative Energieträger umzulenken. Zudem gibt es immer noch viel zu wenig Aufklärungs- und Bildungsanstrengungen in Richtung nachhaltiger, erneuerbarer Energiesysteme, von der Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen zum bewussten Umgang mit Energie bis zu den Hochschulen, die noch zu wenige entsprechende Studiengänge anbieten. Viele Stellen, die sich bisher den Erneuerbaren gewidmet haben, werden derzeit an den Hochschulen nicht wieder besetzt.

Erneuerbare Energiesysteme haben neben der CO2-Neutralität den großen Vorteil, dass sie vielfältig gestaltet werden können – insbesondere dezentral, in räumlicher Nähe zu den Ressourcen und nahe an der Nutzung, vernetzt zum Ausgleich unterschiedlicher Lagen. Der Gewinn wird in der Region erwirtschaftet und dort auch wieder sinnvoll eingesetzt. Sie bergen damit ein ungleich geringeres Konflikt-Potential als die global sehr ungleich verteilten fossilen Ressourcen mit ihren langen Transportwegen oder gar die atomaren Energiewandlungsverfahren, mit ihren militärischen Risiken. Sie eröffnen damit auch die Chance, die Wirtschaft zu deglobalisieren, d.h. wieder stärker auf Regionen zuzuschneiden. So werden z.B. Forst- und Landwirte zu Energiewirten. Damit können EE durch die Struktur ihrer Erzeugung und Nutzung zum Abbau wirtschaftlicher Macht beitragen, die durch großtechnische Konzentration der Energieversorgung (in Deutschland im wesentlichen bei vier Konzernen) entstanden ist.

Technologisch weitgehend ausgereift ist im Bereich EE die Windenergie. Andere Techniken haben zum Teil noch Entwicklungsbedarf. Für solche Entwicklungen können an die jeweilige klimatische, kulturelle und soziale Situation angepasste technische und ökonomische Konzepte erarbeitet werden, die sich von den bisherigen Strukturen lösen. Dieses Potential ermöglicht auch dezentrale und kleinteilige Lösungen wie Mikro-Energie-Systeme, um strukturschwache Gebiete, die heute von einer ausreichenden Energieversorgung abgeschnitten sind, gemäß den lokalen Bedürfnissen schneller, sicherer und überdies weitaus preiswerter (Mikro-Finanzierung) zu versorgen als bisher. Dies betrifft rund zwei Milliarden Menschen insbesondere in den Ländern des Südens, die damit größere Chancen auf eine nachhaltige Entwicklung bekommen.

Ein Epochenwandel ist nötig und möglich

Neben den hier angeführten Maßnahmen, die heute bereits realisierbar sind, ist mittelfristig eine grundlegende Veränderung der global vorherrschenden Wirtschafts- und Lebensweise unabdingbar. Von vielen mag dies als »unrealistisch« angesehen werden.

Wir setzen aber zum einen darauf, dass die notwendigen Veränderungen politischer Natur und damit auch politisch durchsetzbar sind – in Deutschland z.B. gegen die großen Energie-Konzerne. Hier ist besonders die regionale Ebene angesprochen. Auch auf internationaler Ebene ist dies möglich, wenn die Entscheidungen treffenden Organisationen demokratisch aufgebaut und nicht unter einem nach der Wirtschaftskraft der beteiligten Länder abgestuften Einfluss stehen wie heute z.B. WTO und Weltbank. Weltweit gibt es zum anderen vielfältige Organisationen bzw. Bewegungen aus der Zivilgesellschaft, die sich zunehmend international vernetzen und vielfältige Formen des Wirtschaftens entwickeln oder schon praktizieren. Die heute noch dominierende neoliberal-kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise ist keineswegs alternativlos und schon gar nicht eine Art »Naturgesetz«; sie ist im globalen Maßstab erst durch politische Entscheidungen in den letzten Jahrzehnten ermöglicht worden und im übrigen erst rund 250 Jahre entfaltet in Betrieb. Große Länder des Südens haben in den letzten Jahren begonnen, sich von der Vorherrschaft dieses, die »Globalisierung« beherrschenden, Wirtschaftssystems zu lösen und Alternativen zu entwickeln.

Im Bereich Energie und Klima ist es besonders deutlich, dass die Naturgesetze und die stofflichen Restriktionen in einer endlichen Welt nicht verhandelbar sind, im Gegensatz zu ökonomischen, politischen und sozialen Systemen und Regeln. Hierauf sollte sich unser »Realismus« beziehen. Technik und Naturwissenschaft sind zu vielen großartigen Leistungen in der Lage, aber dauerhaft nur in »Allianz« (Ernst Bloch) mit der Natur. Viele Naturwissenschaftler neigen dazu, die »Machbarkeit« ihrer Visionen unabhängig von den praktischen Lebens-Bedingungen zu sehen, sich damit zu überschätzen und die durch die Realisierung verursachten Probleme für Mensch und Natur zu verdrängen. Auch die Technik hat gerade im Energiebereich Heilsversprechen abgegeben, die durch die Katastrophe in Tschernobyl bezüglich der Frage der technischen Sicherheit, insgesamt durch die heute deutlich gewordenen nicht intendierten negativen Folgen für die Natur und den Frieden widerlegt wurden. Naturwissenschaft und Technik sind also mit verantwortlich für die sich abzeichnende Krise im Energiebereich.

Nach diesen Erfahrungen steht es Naturwissenschaftlern und Technikern gut an, wieder mehr Realismus an den Tag zu legen, der seit jeher professioneller Standard von Naturwissenschaftlern und besonders von Ingenieuren ist. Das bedeutet auch, die hinter den angeblichen »Sachzwängen« der Ökonomie stehenden Interessen und die Ideologien der herrschenden neoliberalen Lehre nüchtern an den stofflichen Bedingungen zu messen.

Das zentrale Paradigma hinter den herrschenden ökonomischen »Gesetzen« ist das »Wachstum«, von dem die Lösung aller sozialen Probleme erwartet wird. Hier setzen wir aus naturwissenschaftlicher Sicht an:

Beendigung des Wachstums-Paradigmas

Auf die natürlichen »Grenzen des Wachstums« hat seit 1973 u.a. der Club of Rome hingewiesen. In vielen Punkten haben wir heute die Grenzen des materiellen Wachstums bereits überschritten. Die Vorstellung, dass die materielle Produktion sich weiterhin weltweit in Form der bisherigen Exponentialfunktionen steigern lässt, widerspricht grundlegenden Naturgesetzen und der Tatsache der Endlichkeit der Ressourcen. Das bisherige ökonomische Modell der Industrienationen ist also aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht global übertragbar und trägt die Logik des Misslingens in sich.

Es gilt daher, aus der bisherigen kapitalistisch geprägten Wachstums-Ökonomie auszusteigen und Modelle sozial und ökologisch angepasster Ökonomien und Techniken zu entwickeln. Solche Modelle werden beispielhaft bereits in einzelnen Ländern realisiert und müssen in internationaler Kooperation gestaltet werden, nicht in Konkurrenz der Länder und Menschen gegeneinander. Das heißt auch, dass in den bisherigen Industrieländern eine radikale Reduzierung der Inanspruchnahme energetischer und stofflicher Ressourcen erforderlich ist, um den Ländern des Südens die Möglichkeit zu geben, ihre materiellen Lebensverhältnisse zu verbessern – was ohne eine sinnvolle Steigerung der ihnen zur Verfügung stehenden Energie-Dienstleistung nicht möglich sein wird.

Weichenstellung zwischen ungesteuertem »Weiter so« oder bewusster Gestaltung der Zukunft

Nach wie vor wird von einem Großteil der politischen und wirtschaftlichen »Eliten« in den meisten Ländern die kapitalistische Wachstums- und Konkurrenz-Ökonomie für alternativlos gehalten. Der Glaube an den »Technischen Fortschritt«, der durch Wettbewerb und Markt angetrieben und damit im Sinne dieser Ökonomie und der hinter ihr stehenden Interessen geformt wird, konnte nur so lange halten, wie scheinbar unerschöpfliche Quellen der Natur zur Verfügung standen. 1986, als durch das Unglück von Tschernobyl das Scheitern des Technik-Optimismus deutlich wurde, der mögliche Folgen schlicht verdrängt, schien eine kurze Zeit lang wenigstens in einigen Ländern die Politik durch die erklärte Absicht zum Ausstieg aus der Atomenergie zu reagieren. Auch die wachsende Kenntnis von den ökologischen Folgewirkungen förderte Überlegungen, die bewusste Gestaltung des »Technischen Fortschritts« durch die Gesellschaft zum Programm zu machen.

Seit 1989/90 aber lässt sich die Politik von einer Wirtschaft mehr und mehr dominieren, die »die Märkte« zur maßgeblichen Orientierungsgröße und die ökonomische Konkurrenz zwischen Menschen und Nationen zum einzigen Antrieb machen will. Damit wird aber lediglich der uralte Kampf um die begrenzten Naturschätze verschärft, in dem heute die fossilen und nuklearen Energieträger eine zentrale Rolle spielen. Durch die ökologischen Folgewirkungen und die heutigen Möglichkeiten der Militär-Technik im atomaren, biologischen und chemischen Bereich kann dieser Kampf allerdings bis zur Vernichtung der Menschheit eskalieren.

Gegen dieses Szenario setzen wir die verantwortungsbewusste Gestaltung der Technik und des gesellschaftlichen Lebens auf der Basis nachhaltiger Entwicklung, die das ökologische und soziale Element vorrangig berücksichtigt und die Ökonomie daran anpasst. Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie sind für die Menschen da, nicht umgekehrt. In dieser Phase der Geschichte wird von uns weltweite Nachdenklichkeit, Kreativität, Mut und Tatkraft verlangt, um international und lokal zu handeln.

Epochenwandel als Chance

Die notwendige säkulare Trend-Umkehr eröffnet die Chance, in den bisherigen Industrienationen Fehlentwicklungen der Wirtschaft zu korrigieren und gleichzeitig in den armen Nationen sozialen Wohlstand zu erzeugen, der von Anfang an unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit aufgebaut wird. Hat sich bisher der Wohlstand der reichen Nationen aus ihrer Ausbeutung der fossilen Rohstoff- und Energiequellen gespeist, wird ein künftiger Wohlstand für alle Menschen auskommen müssen mit dem, was die Erde uns an knappen Rohstoffen liefern kann und was wir durch die Einstrahlung der Sonne täglich an Energie geliefert bekommen.

Die Erkenntnis, dass die Ressourcen und damit auch die technischen Möglichkeiten begrenzt sind, kann innovative gesellschaftliche Dynamiken entfalten, die durch weltweite Verständigung über das Notwendige und Wünschenswerte gefördert werden. So kann eine Wissenschaft und Technik realisiert und finanziert werden, die sich mit den sozialen und ökologischen Zielen der »Nachhaltigkeit« organisch verbindet, indem sie außer Produktion und Konsum auch die Quellen der Ressourcen einbezieht und die möglichst weitgehende Rückführung der Güter in den natürlichen Kreislauf systematisch sowie regional und ökonomisch differenziert organisiert. Hier wird sich erweisen, ob unsere Zivilisation mit all ihrer Wissenschaft und Technik ihren Namen verdient und die Herausforderung annimmt, vor die uns die sich abzeichnende Energie- und Klima-Krise stellt