Einstein weiterdenken: Wissenschaft – Verantwortung – Frieden

Einstein weiterdenken: Wissenschaft – Verantwortung – Frieden

Herausforderungen und Handlungsperspektiven

von Wolfgang Liebert

Vom 14.-16. Oktober 2005 fand in Berlin zum Ende des Einstein-Jahres die Internationale Friedenskonferenz »Einstein weiterdenken: Wissenschaft – Verantwortung – Frieden« statt, zu dem ein Trägerkreis bundesweit organisierter wissenschaftlicher NGOs eingeladen hatte.1 650 Gäste aus Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit diskutierten in neun Foren wissenschafts- und friedenspolitische Themenstellungen, die an Einsteins Engagement anknüpfen, aber auch die Problemstellungen für die heutige Zukunft darstellen. Im Folgenden wird das unter Federführung von Wolfgang Liebert entstandene Resümee der Foren in gekürzter Form abgedruckt.

Eine knappe Zusammenfassung der Diskussion in den neun – größtenteils parallelen – Foren ist angesichts der großen Vielfalt der dort vorgestellten Analysen und Perspektiven kaum möglich. Unter der Leitlinie, heutige Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten zu benennen, wird hier dennoch der Versuch unternommen, ein – Resümee zu ziehen.2 Die Sichtweise auf die vorgestellten Ergebnisse dieses zentralen Teils der Konferenz bleibt trotz intersubjektiver Verständigung darüber subjektiv geprägt.3

Wenn wir heute »Einstein weiterdenken« wollen, haben wir zu realisieren, dass die Welt und die Welt der Wissenschaft sich seit Einsteins Tod verändert haben. Die bipolare Welt der Blockkonfrontation ist verschwunden; der alte Kolonialismus ist überwunden. Heute gibt es Bemühungen, eine unipolare Welt mit hegemonialen Ansprüchen durchzusetzen, und die Gegenbemühung um eine multipolare Welt. Beides ist begleitet von tiefgreifenden Globalisierungsprozessen, unterfüttert durch ökonomische Kräfte und dominierende volks- und weltwirtschaftliche Konzepte, sowie einen ebenfalls tiefgreifenden wissenschaftlich-technologischen Wandel. Eine enorme Dynamik steckt dahinter. Lebenswirklichkeiten werden dadurch beeinflusst –teils auch uniformiert. Parallel dazu sind im weltweiten Maßstab Phänomene der Ungleichzeitigkeit und Ungerechtigkeit weiter gewachsen: mangelnde Entwicklungschancen und Bedrohung verstärkt durch globalisierte Ökonomie. Die Kosten für unsere natürliche Mitwelt sind weit deutlicher sichtbar und in den Auswirkungen spürbarer als zu Einsteins Zeiten. Ich nenne nur den menschlichen Dauerangriff auf die Böden, die Gewässer, die Luft, das pflanzliche und animalische Leben auf dem Planeten, den wir bewohnen.

Die Welt der Wissenschaft hat sich ebenfalls stark verändert. Dominierend ist nicht mehr das Bild reiner Grundlagenforschung – vom Typ der Arbeiten Einsteins, die sich dem Pathos der Wahrheitssuche und den wissenschaftsinternen Standards verpflichtet wissen konnten – und daneben die davon getrennt gedachte Anwendungsforschung. Wir leben heute weitgehend im Zeitalter von »Technoscience« – oder der »Technowissenschaft«–, wo Forschungshandeln und Technikentwicklung zunehmend amalgamieren. Technische und industrielle Anwendungen, technikgestützte Methoden, grundlagennahe Erkenntnis und die Nutzung bereits sedimentierten Wissens bedingen sich gegenseitig und gehen Hand in Hand. Versprechungen für Anwendungshorizonte, technische Problemlösungsangebote haben Vorrang vor theoretischer Arbeit. Notwendigerweise werden die lieb gewonnenen – aber doch eigentlich nur virtuellen – Grenzziehungen zwischen wissenschaftsinternen und wissenschaftsexternen Prozessen und Werthaltungen so durchlässig, dass weite Teile heutiger Forschung mitten in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse geraten oder geraten müssten. Auf der anderen Seite ist wissenschaftlich-technisches Know-how längst zur Kapitalressource geworden mit der Konsequenz, dass teilweise der öffentliche Zugang zum vorliegenden Wissen erschwert oder unmöglich wird, so wie wir es aus dem militärischen Bereich schon lange kennen.

(…) In den neun Foren der Tagung wurden wesentliche – sicher nicht alle – Herausforderungen diskutiert, die unter den Konferenzstichworten »Wissenschaft, Verantwortung, Frieden« subsumiert werden können.

In den letzten Jahren sind die weltweit gezählten, gewaltförmig ausgetragenen Konflikte und Kriege zahlenmäßig etwas zurückgegangen. Auch wenn die Kategorisierung zumeist nicht ganz einheitlich ausfällt: Es sind noch immer über 40. Die These wurde vertreten, dass Asymmetrien verschiedenster Art wesentliche Ursachen dieser Kriege und Konflikte sind. Spätestens seit der Zeitenwende 1989/90 ist die Hemmschwelle zu (militärischen) Interventionen von außen gesunken. Wenn immer wieder von der Notwendigkeit gesprochen wird, zu humanitären Interventionen mit oder ohne militärische Kräfte bereit zu sein, dann macht es Sinn, sich anzusehen, ob die dabei vorgegebenen humanitären Ziele erreichbar erscheinen. Auf der Konferenz vorgetragene Analysen äußern große Vorbehalte und Skepsis.

Die Interessen der starken, intervenierenden Staaten scheinen oft den vorgegebenen Sinn des Eingreifens zu verfehlen oder zu verkehren. So führt die zunehmend leitende Anti-Terrorpolitik zu unzureichenden und sehr eingeschränkten Prioritäten in den Zielländern, gerade auch was Nachkriegsaktivitäten angeht. Es geht vorrangig um die Stärkung staatlicher Autorität und Verwaltung mit dem Ziel der Grenzsicherung, der Kontrolle und Überwachung »zweifelhafter« Bevölkerungsteile etc. Auch nichtstaatliche Organisationen (NGOs) werden zunehmend in Strategien integriert, die eher der Bekämpfung von Aufständischen zu dienen scheinen – unabhängig davon, wo mögliche Konfliktursachen liegen könnten. Der Vorwurf wurde erhoben, dass hier post-koloniale Verhaltensweisen wiederkehren: kurzfristige Vorteile werden gesucht – auch im Falle nicht-militärischer Intervention – z.B. durch die Konzentration auf die Stärkung von oft nicht unproblematischer Regierungsgewalt, und häufig als verfehlt anzusehendes »nation building«. Die zumeist komplexen Ursachengeflechte für Konflikte bleiben demgegenüber verdeckt und können so die Grundlage für neue oder fortgesetzte Kriegshandlungen sein.

Das Verständnis von Sicherheit, die man schaffen will, verändert sich unter der Hand mit, insbesondere dadurch, dass in Interventionen und Interventionskriegen zunehmend private Akteure eingebunden werden. Das verstärkt eine Tendenz zu technisch orientiertem (auch sozio-technischem) Vorgehen. In der Hauptsache kommen Akteure mit entsprechender Kompetenz zum Zuge, vom Militär, über Sicherheits- und Logistikfirmen bis zu NGOs. Eine sehr selektive Ausfüllung von Sicherheitsbedürfnissen ist die Folge, die bestehende Ungleichheit verstärken und neue schaffen kann.

Man ahnt, dass die Verwischung der Grenzen zwischen staatlich-militärischem und privatwirtschaftlich organisiertem Anteil bei Interventionen auch die Funktion haben kann, die öffentliche Unterstützung in den eingreifenden Staaten zu sichern, u.a. weil die Opferstatistiken dann ggf. anders aussehen.

Folgerungen aus diesen Befunden sind mindestens:

  • Es besteht ein völkerrechtlicher Regulierungsbedarf, was den »neuen Söldnertypus« im Bereich logistischer, technischer oder sonstiger Unterstützer bei Interventionen angeht;
  • die politische Definitionsmacht über Ziele und Durchführung von Interventionen muss wiedergewonnen und so eine internationale Legitimierbarkeit nachweislich werden;
  • extreme Zurückhaltung bei Interventionen scheint geboten. Dies gilt auch hinsichtlich verfolgter Ziele bei nicht-kriegerischen Interventionen. (…)

Die Option ziviler Konfliktbearbeitung sollte verstärkt Beachtung finden, zumal für die letzten zwei Jahrtausende empirisch gesehen die gewaltfreie Konfliktlösung als Standardlösung für die überwältigende Mehrzahl an Konflikten angesehen werden kann. (…) Überdies wurde die These vertreten, dass es so gut wie keinen Krieg gegeben habe, der als Lösung der zugrunde liegenden Konflikte angesehen werden könnte.

Zivile Konfliktbearbeitung und Krisenpräventionsstrategien werden als Realisierungen ursprünglich pazifistischer Ideen interpretiert. Es wird anerkannt, dass in Deutschland brauchbare Ansätze und Konzepte im Präventionsbereich entwickelt worden sind. Ein großes Defizit bestehe aber in der mangelnden Tatkraft, entsprechende Strategien und Modelle auch umzusetzen und durchsetzungsfähig zu machen. Man fragt sich, welche Hindernisse oder Widerstände auf der Ebene staatlichen Handelns dem eigentlich entgegenstehen.

Eine pazifistische Grundhaltung steht im Zentrum aktiver Handlungsstrategien, die zum Auffinden gewaltfreier – oder zumindest gewaltärmerer –Lösungen führen sollen. Es bestand Einigkeit, dass dies nur als gesellschaftlicher, partizipativer Suchprozess gelingen könne und kaum als eine an Staatlichkeit gebundene fest gefügte Prozedur. Am historischen Beispiel Einsteins wurde deutlich gemacht, dass es blanke kontextlose Ja-Nein-Entscheidungen zu pazifistischen Positionen nicht geben könne. Verschiedene Spielarten pazifistischer Haltungen könnten – zeitgeschichtlich gebunden und je nach konkret vorliegenden Rahmenbedingungen – als angemessen erscheinen. Die Hauptschwierigkeit liege darin, eine angemessene Einschätzung über die jeweils aktuell vorliegenden und stets hochkomplexen Rahmenbedingungen bekommen zu können.

In dem eben Besprochenen geht es sicher auch um die Perzeption von Macht, Machtgefällen und Intentionen staatlichen Handelns. Sehr schlüssig wurde vorgetragen, dass die Ausbalancierung globaler und regionaler Machtungleichgewichte einen wesentlichen Beitrag zur Konfliktbewältigung und Kriegsverhütung leisten könnte. Zur Einhegung von Machtpotenzialen müssten die Bemühungen um eine internationale Verrechtlichung (insbesondere staatlichen Handelns) konsequent verstärkt werden.

(…) Bei der Debatte über den Umgang mit bzw. Veränderung von dominierenden Strukturen der Weltökonomie gab es unterschiedliche Einschätzungen: Scharfe Kritik des neoliberalen Durchmarsches, der keine Entwicklungschancen für eine große Anzahl von Ländern im Süden mehr biete, Kritik an der Reichtumskonzentration in Ländern des Nordens und ihrer militärischen Absicherung durch die NATO auf der einen Seite. Andererseits eine etwas pragmatischere Kritik am neoliberalen Paradigma, deren Folgen für Hintanstellung sozialer Belange, Verstärkung der Armut – gerade auch bei Frauen in den ärmsten Ländern – zwar eindeutig benannt wurden, aber die Rolle der internationalen Finanz- und Welthandelsorganisationen – trotz ihrer Unbeweglichkeit und ungerechten Politik – verhaltener kritisiert, denn ihre Abschaffung sei noch fataler als ihre Beibehaltung, die wenigstens die absolute Hegemonie einzelner Staaten noch etwas eindämme. Als Perspektive wurde insbesondere die Stärkung der UN als Weltordnungskraft – auch im ökonomischen Bereich – ausgemacht.

(…) Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten viel geschehen: Die Kodifizierung des Völkerrechts hat große Fortschritte gemacht, aber mit der Universalisierung der Anerkennung, der Rechtsbefolgung, hapert es noch. Beispielsweise ist die internationale Schiedsgerichtsbarkeit durch die Möglichkeit der Ratifizierung eines Zusatzprotokolls zum Statut des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vorangekommen, aber selbst ein Land wie Deutschland will sich bislang nicht der geforderten Vorabanerkennung von Schiedssprüchen unterwerfen. Gefordert wurde, dass Deutschland mutig diese wichtige Aufwertung des IGH unterstützen solle, um mehr Chancen für eine präventive Konfliktschlichtung zu schaffen.

Im Bereich des supranationalen Schutzes individueller Menschenrechte besteht noch immer eine Lücke im Völkerrecht. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte als Vorbild für eine weltweite Institutionalisierung dienen, die mit dem immerhin schon beschlossenen Menschenrechtsrat noch zu unvollständig vorankommt.

Die Schritte zur Reform der UN werden nach dem ernüchternden Milleniumsgipfel (Sept. 2005) als unzureichend angesehen, insbesondere gemessen an der ursprünglichen Zielsetzung, einen neuen Konsens im Dreierpaket »Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte« zu erreichen. Auch die Aufwertung der Rolle internationaler NGOs als Gegengewicht zu den oft beschränkten nationalstaatlichen Sichtweisen und Interessen kommt kaum voran. Dabei würden so die nationalstaatlichen Gewalten in angemessener Weise relativiert, während die Untergrabung ihrer Wirksamkeit durch die Globalisierungsprozesse bereits erfolge.

Die Bedeutung der demokratischen Kontrollierbarkeit der Staaten von innen heraus in Hinblick auf das friedfertige Verhalten demokratischer Staaten untereinander (Demokratie-Theorem) verliert im gleichen Zuge an Gewicht. Die denkbare Alternative einer sogenannten kosmopolitischen Demokratie als friedensstiftendem Konzept bleibt unkonturiert und bietet keine klare Perspektive für die mit der Globalisierung und der beschleunigten technologischen Entwicklung verstärkten weiteren Problemlagen. (…) Gleichwohl erscheint eine antizipierende Politik im globalen Maßstab bitter nötig, auch wenn man sich der großen Unsicherheiten in der Analyse und bei den denkbaren Handlungskorridoren bewusst sein müsse. Der Hoffnung wurde Ausdruck gegeben, dass jenseits der Fixierung auf international verrechtlichte Institutionen flexiblere Foren und Aktionsmöglichkeiten gefunden werden könnten, die sich nicht an unzureichenden existierenden Strukturen abarbeiten, sondern von vordringlichen Inhalten gesteuert bleiben – und das auf Dauer.

Bekanntlich sind die Gefährdungen als Folgen des Klimawandels – soweit heute verstanden – eklatant. Die Ökosysteme unserer Erde sind vielen weiteren Bedrohungen durch Eingriffe und Fehlverhalten von uns Menschen ausgesetzt. Gleichzeitig brauchen wir eine ausreichende – und ökologisch verträgliche – landwirtschaftliche Produktion zur Ernährung der noch immer wachsenden Weltbevölkerung. Nachhaltiger Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen erscheint notwendiger denn je, wenn die Zuspitzung und Neuentstehung von Konfliktpotenzialen vermieden werden soll.

(…) Eine entscheidende Frage ist, wie die Wissenschaften lernen können, eine verantwortliche Rolle zu spielen. Die Klimaforscher haben u.a. mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change eine Institution entwickeln können, die vielleicht Modellcharakter haben könnte. International vernetzter Sachverstand als unabhängige Informations- und Beratungskapazität für Politik und Öffentlichkeit (unter Einbeziehung der Regierungen) kann wirkungsvoll sein. Weitere solche Aktivitäten werden auf den Weg gebracht, so eine internationale Initiative zur naturverträglichen Landwirtschaft (International Assessment of Agricultural Science and Technology for Development [IAASTD]) oder ein international entwickelter Weltnaturschutzplan der International Union for the Conservation of Nature (IUCN).

Spezifische wissenschaftliche Kooperationen zwischen dem Norden und dem Süden im Bereich der Ernährungssicherheit wären anzustreben. Dazu könnten gehören: Verbesserung und Verstärkung der Pflanzenzüchtung auch unter Nutzung moderner biotechnischer Analysemethoden, Suche nach züchterischer Optimierung regional bedeutsamer Nahrungspflanzen wie Hirse oder Maniok. Ähnliches gilt für Kooperationen im Gesundheitswesen, z.B. in Bezug auf die Entwicklung und Produktion benötigter Impfstoffe.

An erster Stelle ist für die Wissenschaften die Aufgabe gestellt, zu verstehen, worum es sich bei den anthropogenen Belastungen und Zerstörungen des Netzes des Lebendigen auf der Erde eigentlich handelt. Wie wären diese komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu fassen und welche Umgangsweisen können entwickelt werden? Eine Studie des National Research Council der USA benannte bereits 1999 die Aufgabe: „Developing an integrated and place-based understanding of … threats and the options for dealing with them …“ Dies bedeutet, dass sowohl stabile internationale Netze von Forschungs- und Beobachtungseinrichtungen wie zugleich örtliche und regionale Netze von Forschungs- und Handlungsinstitutionen vonnöten sind.

Im Bereich der wissenschaftlichen Unterstützung für mehr Nachhaltigkeit ist mit pompösen, millionenschweren Excellenzclustern der sogenannten Eliteforschung wohl nicht viel auszurichten. Eher sind etwas bescheidenere Projekte, die nach angepassten Lösungen suchen, von Nöten. Dazu müssen entsprechende Finanz- und Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden.

Die Geldmittel fließen noch immer überwiegend in andere Bereiche. Die weltweiten Rüstungsausgaben sind in den letzten Jahren wieder deutlich nach oben geschnellt. Dieses Jahr wurde die 1.000 Mrd. Dollar Grenze überschritten. Fast die Hälfte geht auf das Konto der USA. Über 70% teilen sich USA und die NATO-Staaten. Das spricht eine deutliche Sprache, wenn es um die Diskussion weltweiter Droh- und Einsatzpotenziale geht.

Im Bereich der staatlich finanzierten Rüstungsforschung liegen die USA mit über 100 Mrd. Dollar, d.h. 2/3 der weltweiten Ausgaben, noch weiter vorn. (…) Ein weiterer technologischer Schub wird in vielen Bereichen vorbereitet. Das Spektrum ist groß: Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft von Langstrecken-Waffen, effektive Aufklärung und Überwachung auf dem Schlachtfeld und im globalen Maßstab, Electronic and Information Warfare, exotische Waffensysteme wie Laser und Mikrowellenwaffen, teilautomatisiertes Schlachtfeld auf informationstechnologisch gestützter Netzwerkbasis (Network Centric Warfare) im Rahmen der »Revolution of Military Affairs« bis hin zu neuen Atomwaffen, die zum tatsächlichen Einsatz bestimmt sind.

Die Dynamik im wissenschaftlich-technischen Bereich müsste in Rüstungskontrollüberlegungen einbezogen werden. Präventive Rüstungskontrolle bietet sich als Analyseinstrument an mit dem Ziel, Handlungsperspektiven aufzuzeigen. (…) Eingehender diskutiert wurde der Bereich der Weltraumtechnologien. Das aktuelle US-Budget für »Ballistic missile and space defense« soll mehr als 20 Milliarden Dollar umfassen. Akute Gefahr besteht durch die Absicht, erstmalig Waffensysteme im Weltall zu stationieren. Dringlich wäre ein rechtzeitiges umfassendes Verbot jeglicher Weltraumwaffen. (…) Vertrauensbildende Maßnahmen im Vorfeld könnten ein Testmoratorium oder No-first-use Erklärungen verschiedener Seiten sein.

Die europäische Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik wurden ebenfalls diskutiert. Die Europäische Sicherheitsstrategie (2003), der EU-Verfassungsentwurf und der Aufbau einer Europäischen Verteidigungsagentur sind Indizien für eine Schwerpunktsetzung auf militärische Strukturen und Kapazitäten. Dies steht im massiven Widerspruch zum propagierten Bild von der »Friedensmacht Europa«, auch wenn bislang im Rüstungsbereich noch keine großen Finanzmittel bewegt werden. Allerdings lässt die Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur befürchten, dass die schrittweise Europäisierung der Streitkräfte erhebliche Kosten verursachen werden, industrielle Interessen bedient werden und im Hintergrund bereits »power projection« an Einfluss gewinnt. Hinzu treten Pläne für ein milliardenschweres europäisches Sicherheitsforschungsprogramm, das auf technische Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in Europa setzt und dabei wohl letztlich ein eigenes Rüstungsforschungsprogramm etablieren soll.

Die Rüstungskontrollpolitik der EU engagiert sich eher selektiv in einigen wichtigen Bereichen, aber sorgt dafür, dass eigene Rüstungsinteressen, die zumeist noch durch nationale Interessen bestimmt sind, nicht beschnitten werden. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind offenbar keine zentralen Prioritäten europäischer Politik. (…) So sucht man beispielsweise die Schaffung einer Europäischen Rüstungskontrollagentur oder die Festschreibung von Abrüstungsmaßnahmen vergeblich im europäischen Verfassungsentwurf.

Neben der zielgerichteten traditionellen Rüstungsforschung wurden in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland und den USA Dual-use-Programme lanciert, die u.a. dafür sorgen sollten, dass zivile Wettbewerbsfähigkeit und militärische Entwicklungslinien in kostengünstigerer Weise parallel verfolgt werden können. (…) Die USA scheinen heute solche Konzepte angesichts der dort immer weiter verschwimmenden Grenzlinie zwischen ziviler und militärischer Forschungsarbeit weniger Bedeutung zu zumessen. Dennoch gibt es einen verstärkten Druck in Europa, Dual-use-Forschung auf europäischer Ebene zu implementieren. Das angekündigte Europäische Sicherheitsforschungsprogramm könnte der Türöffner dafür werden. Die Entwicklung solcher Grauzonen in Forschung und Technikentwicklung werden als sehr problematisch angesehen.

Anhand von Beispielen wurde gezeigt, dass Dual-use oft gar nicht technologisch determiniert und unausweichlich ist, wie von interessierter Seite behauptet, sondern bewusst durch die Technikentwicklung erst erzeugt wird. Bei genauerer Analyse zeigt sich häufig, dass Möglichkeiten bestehen, sich durch Gestaltung der Forschung und Technikentwicklung aus erkannten Grauzonen auch wieder hinaus zu manövrieren. Das kann besonders wichtig werden in Feldern mit hoher Relevanz für die weltweite Proliferationsproblematik. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage gestellt, in wie weit traditionelle Formen nachsorgender Technikkontrolle langfristig stabil und zielführend sein können.

(…) Die Revolution im Bereich der Biotechnologie steht vor einem tiefgreifenden Dilemma. Einerseits kann zur Aufklärung krankheitserregender Mechanismen von infektiösen Mikroorganismen und zum besseren Verständnis komplexer mikrobiologischer Interaktionsprozesse in Lebewesen beigetragen werden. Andererseits können in solchen Forschungsprozessen auch die Wirkungen von Bio- und Toxinwaffen besser verstanden werden, sie könnten verstärkt werden, zu Killerviren verändert werden oder es könnten gänzlich neue gefährliche Agenzien geschaffen werden. (…)

Einigkeit bestand, dass die Gefahr der Proliferation hier nicht durch traditionelle Kontrolllisten in den Griff zu bekommen ist. Es besteht dringender Bedarf für ein Monitoring der Forschung im Sinne präventiver Rüstungskontrolle, für Bewusstsein bildende Maßnahmen bei den Beteiligten in der Forschung, für Aufklärung über Verbotstatbestände der Biowaffenkonvention und über Möglichkeiten in Forschung und Methodenwahl verantwortbare Wege einzuschlagen.

Es wurde vorgeschlagen, die Dual-use-Problematik im größeren Zusammenhang der Ambivalenz von Forschung und Technik zu sehen, in der weit mehr Aspekte als die zivil-militärische Doppelgesichtigkeit zu diskutieren wären. Als Analyseinstrument zur Beschaffung unabhängiger Informationen wurde ein Konzept des prospektiven Technology Assessments vorgeschlagen. Dies soll helfen, frühzeitige Gestaltungsmöglichkeiten in Forschung und Technologie aufzufinden. Es sollten also nicht so sehr Grenzziehungen gegenüber dem nicht Gewollten, sondern stärker Positivbestimmungen für verantwortliche Forschungsorientierung aufgefunden werden.

Ähnliches wird für den Bereich der heutzutage erforschten sogenannten Schlüsseltechnologien gesehen, die in den Bereich der sogenannten Technowissenschaft fallen. Beispielhaft wurde nanotechnologische Forschung im Zusammenspiel mit Bio-, Kommunikations- und Informationstechnik diskutiert. Hier geht es um einen Forschungstyp, der sehr pragmatisch unter Nutzung von Grundlagenwissen, aber ohne höheren theoretischen Anspruch, neue materielle Möglichkeiten auf kleinstem Maßstab konstruktiv erschaffen will. Es findet dabei auch eine gewisse Orientierung an Lebensprozessen statt, u.a. um diese in den Dienst hybrider Technologien an der Schnittstelle von lebendigen Wesen und Maschinen stellen zu können.

(…) Neben irritierenden Großversprechen werden realistische Anwendungen mit hohem Umsatzpotenzial etwa im Bereich neuer Materialien, von Umwelttechniken oder von Militärtechnologie gesehen. Umgekehrt können bereits einige erwartbare Risiken benannt werden: Umwelt- und Gesundheitsrisiken durch Nanopartikel, Problematik denkbarer Genkontrolle und anderes.

Die Entlastung erhoffende Forderung nach einem Zurück zur reinen grundlagenorientierten Wissenschaft, bei der man sich von der Gesellschaft abgekoppelt fühlen will, ist hier prinzipiell nicht möglich. Es wurde betont, dass es im Gegenteil um die Anerkennung des sozialen Kontextes gehe, in den solche Forschung offensichtlich eingebettet ist. Aus der Ernstnahme der sozio-ökonomischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge müsse gefolgert werden, dass das »metaphysische Programm«, das solcher Forschung offenbar zugrunde liege, explizit gemacht werde. Dann sind offene Prozesse der gesellschaftlichen Aushandlung über die eingeschlagenen Forschungswege denkbar. Wissenschaft und Technik entpuppen sich als menschlich-gesellschaftliches Handlungsfeld, das reflexions- und reaktionsfähig gemacht werden kann und muss.

In scharfer Distanz dazu wurde aber auch eine pessimistische Sichtweise beschworen. Solcher Art Technologie des Lebens sei einer Technologie des Todes nahe, sie würde »Kettenreaktionen« heraufbeschwören, über die wir weder technisch noch geistig verfügen könnten. (…) Pragmatisch wurde gefordert, nicht den großen Versprechungen zu folgen, sondern den Weg gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse über Ziele und Pfade der Forschung begehbar zu machen (Motto: »from promise to process«).

(…) Die notwendige öffentliche Diskussion wird aber oft unmöglich gemacht. Privatwirtschaftliche Interessen stehen dem Informationsanspruch der Öffentlichkeit entgegen. Wir haben z.B. gelernt, dass Sicherheitsforschung im Bereich gentechnischer Produktforschung in weiten Teilen von den interessierten Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmungen selber durchgeführt wird. Die Ergebnisse werden häufig gar nicht oder nur teilweise veröffentlicht und entziehen sich damit der unabhängigen Überprüfbarkeit – auch innerhalb der Scientific Community.

Innerwissenschaftliche Kritik und gesellschaftliche Teilhabe an der wissenschafts- und forschungspolititschen Willensbildung werden in solchen Bereichen unmöglich. Demokratisch akzeptable Bewertungs- und Aushandlungsprozesse, die zu einer Zielorientierung des Innovationsprozesses innerhalb der Gesellschaft führen müssten, werden in besonderer Weise ausmanövriert. Es sei daran erinnert, dass zwei eminente Wissenschaftlerpersönlichkeiten, ein Physiker und ein Biochemiker, als »Whistleblower« in der Rüstungsforschung bzw. in der Sicherheitsforschung im Bereich gentechnisch veränderter Nahrungsmittel im Rahmen der Konferenz mit einem Preis der VDW und der IALANA geehrt wurden: Theodore Postol und Arpad Pusztai.

Dabei wurde deutlich, dass Whistleblowing immer eines zum Ziel hat: Öffentlichkeit herstellen, sei es in der eigenen Forschungseinrichtung, sei es in der jeweiligen Scientific Community, sei es in den Medien und einer breiteren Öffentlichkeit. Whistleblowing umschreibt, so gesehen, nur eine Hilfskonstruktion zur Einforderung und Ermöglichung einer als notwendig erachteten öffentlichen Diskussion. (…) Die Herstellung entsprechender Strukturen und die Weckung des Bewusstseins bei den Beteiligten muss das eigentliche Ziel verantwortlicher Forschungsorganisation sein.

Der rechtliche Schutz und die gesellschaftliche Akzeptanz des Whistleblowing als notwendiges Gegenmittel gegen inakzeptable Geheimhaltungspraktiken gerade auch in der Forschung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin. Auch ein deutscher oder europäischer »Freedom of Information Act« (Vorbild USA und Schweden) ist zu fordern. Dies ist auch deshalb notwendig, da privatwirtschaftliche Interessen und Vorgehensweisen längst alte Traditionen des freien Zugangs zu Wissen und Information empfindlich zu untergraben drohen.

Gewiss haben die Foren keinen »Masterplan« für die Bearbeitung aller drängenden Weltprobleme erarbeitet, aber sehr deutlich wurden Querschnittsaufgaben, die vor uns liegen:

  • Die Antizipation von Problemlagen, die bereits am Horizont erkenntlich sind – gerade im Feld technischer Entwicklungen. Hier sind Beiträge aus der Wissenschaft notwendig.
  • Die Problematisierung der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen in verschiedenen Bereichen (Privatisierung des Kriegs, Forschungsförderung, Proliferationsgefahren).
  • Die Beachtung der wachsenden Dynamik grenzüberschreitender Problemlagen, die über- und zwischenstaatliches Handeln herausfordern, aber gleichzeitig die Möglichkeiten staatlichen Handelns in Frage stellen.
  • Die Organisation der menschlich-gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich weit mehr als zur Zeit dem Kriterium der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt. Dies auf dem Hintergrund, dass wir in einer Welt leben, in der die einen auf dem Rücken der anderen (und der Natur) ihre konsumorientierten Lebensmöglichkeiten erweitern.
  • Das Einlassen auf Suchprozesse, um Auswege aus den gegenwärtigen und absehbaren Problemlagen zu finden; Demokratisierung und Partizipation fallen dabei immer wieder als zentrale Stichwörter.

Anmerkungen

1) Der Trägerkreis der Konferenz bestand aus: Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF), Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), NaturwissenschaftlerInnen-Initiative „Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit“, Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

2) Eine detailliertere Dokumentation der Beiträge zur Konferenz wird in einer Buchveröffentlichung (geplant für Frühjahr 2006) erfolgen.

3) Dieses Resümee konnte nur unter wesentlicher Mitwirkung der Forenverantwortlichen und Moderatoren zustande kommen. Zu nennen sind: Annegret Falter, Stephan Albrecht, Alfred Nordmann, Frank Vogelsang, Götz Neuneck, Oliver Meier, Jörg Calließ, Sven Chojnacki, Manuel Fröhlich, Claudia von Braunmühl, Christiane Lammers, Corinna Hauswedell.

Dr. Wolfgang Liebert ist Wissenschaftlicher Koordinator und Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TU Darmstadt.

„Aller guten Dinge …“

„Aller guten Dinge …“

von Wilhelm Nolte

Aller guten Tagungen sind drei! Im Januar die AFK-Nachwuchstagung, im Februar das AFK-Kolloquium, im Oktober die Einstein-Konferenz. Die erstere hatte der Nachwuchs weitestgehend selbst geplant und organisiert, genauer seine SprecherIn Madeleine Hagemeister und Mark Franken. In die Organisationsarbeit der letzteren ist die AFK kurzfristig eingesprungen. Auf Heller und Pfennig, Euro und Cent wird der Geschäftsführer für den Trägerkreis dem Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Förderungsvolumen verausgaben, belegen und schlussabrechnen müssen, das alle AFK-eigenen Kassenträume sprengt. Das Einstein-Konferenz-Büro in Berlin erwartet an die 500 Teilnehmer. Ein ganz und gar eigenes Tagungsvorhaben war das Kolloquium »Gerechtigkeit – Demokratie – Frieden: (De-)Eskalation von Gewalt?« mit und in der Evangelischen Akademie Iserlohn. So erfährt die Arbeit der AFK einerseits willkommene Förderung durch Dritte: durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung für die Nachwuchstagung und durch die Berghof-Stiftung für Konfliktforschung für das Kolloquium. Und selbst fördert die AFK die Vorhabensarbeit Dritter.

AFK-Planung 2006

Bei allem setzt die AFK darauf, dass ihre vielen Aktivitäten, wenn schon nicht ihre Kasse füllen, so ihr doch »gut tuen« – ihr Interessenten und Nachwuchs zuführen. Auf besonderes Interesse setzt sie gerade aktuell bei ihrer Planung des Kolloquiums 2006. Am Ort der – dann neuen – Regierung will die AFK eben diese herausfordern, friedenspolitisch »Farbe zu bekennen«. Hier soll es gehen um »Berliner Friedenspolitik: Anspruch – Wirklichkeit – Zukunft«. Zu den Veranstaltungen am Freitag soll die Öffentlichkeit eingeladen werden. Im Einführungsvortrag geht es um » Berliner Friedenspolitik – von außen gesehen«. Namhafte ausländische Experten werden hierzu derzeit angefragt. Hiernach wird eine Diskussionsrunde »Deutsche Friedenspolitik zwischen Theorie und Praxis« zu verorten suchen. Wo steht sie, wo will sie hin, wo wird sie »landen«? mit der neuen Regierung? Drei RegierungsvertreterInnen werden sich zwei FriedensforscherInnen aus der AFK gegenüber sehen, die friedenswissenschaftlich begründet die neue friedenspolitische Agenda »auf Herz und Nieren« prüfen wollen. Für die Gesprächsleitung bemüht sich der Vorstand um eine/n versierte/n, professionelle/n, namhafte/n ModeratorIn. Schließlich denkt der Vorstand noch an eine professionelle Fernseh- oder Hörfunkaufzeichnung. Erste Vorgespräche lassen verstärkt hoffen, dass die AFK mit ihrem nächsten Kolloquium »auf Sendung« geht.

Nach einem vollen Arbeitstag in Arbeitsgruppen – am Samstag (AG-Themen: Deutschland in der Weltgesellschaft, Entwicklung und Frieden = Krisenprävention?, Deutsche Europapolitik, Friedensbildung durch Softpower? Wie viel inneren Unfrieden verträgt friedliche Außenpolitik?) wendet das Programm das Interesse in der Schlussrunde auf Widersprüche deutscher Außenpolitik und erfragt Deutsche Friedenspolitik in non-gouvernementaler Sicht. Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien werden sich hierzu artikulieren – und mit der Friedensforschung debattieren.

In der Hauptstadt, und mit dem (rund) 100-Tage-nach-der-Wahl-Thema erwarten wir, d.h. unser bewährter Veranstalter-Organisator Uwe Trittmann für die Evangelische Akademie Iserlohn und der AFK-Vorstand, vermehrten Zulauf. Dabei wird organisatorisch alles wie gewohnt ablaufen können: Einladung und Programm erhalten die Mitglieder mit dem Jahresschlussbrief, Anmeldungen ergehen an die Evangelische Akademie Iserlohn. Nur gereist und getagt wird nach und in Berlin, am 3./4./5. März (!) 2006. Das Tagungshaus ist das Hotel Christopherus-Haus im Evangelischen Johannesstift Berlin-Spandau.

Die Teilnehmerinnen am nächsten Gender-Workshop der AFK werden dorthin schon zwei Tage früher anreisen. Hier geht es der AFK-Frauenbeauftragten, die den Workshop organisiert, um die Problematik »Is Gender The Answer ? Geschlechterperspektiven für Friedens- und Sicherheitspolitik«. Interessenten wenden sich unmittelbar an die Frauenbeauftragte Dr. Simone Wisotzki, c/o HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt/Main ; wisotzki@hsfk.de. Weitere Informationen zum Workshop-Vorhaben sind auf der AFK-homepage www.afk-web.de zu finden.

So stehen am Anfang des nächsten Jahres gleich wieder zwei Tagungen der AFK. Ob es wieder auch zu einer dritten kommen wird? Wenn’s der nächste Vorstand will? Der nächste Vorstand? Richtig: In Berlin wird die AFK auch ihre obligatorische Mitgliederversammlung durchführen – und wählen.

Wilhelm Nolte, Geschäftsführer der AFK

Ausgezeichnet für den Frieden

Ausgezeichnet für den Frieden

von Redaktion

Friedensnobelpreise, Alternative Nobelpreise, Friedenspreise des Deutschen Buchhandels – wenigen Persönlichkeiten und Namen werden diese Auszeichnungen zuerkannt. Doch wie ist das mit dem täglichen und/oder beruflichem Engagement für Frieden und Gerechtigkeit, mit der Anerkennung der Arbeit an der Basis? Hier haben – vor allem in den letzten Jahren – Stiftungen, Organisationen und Kirchen die Initiative ergriffen, um in erster Linie junge engagierte AktivistInnen und WissenschaftlerInnen auszuzeichnen. Hier einige Beispiele – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit.

Aachener Friedenspreis

Mit dem Aachener Friedenspreis sollen Personen oder Gruppen gewürdigt und vorgestellt werden:

  • die »von unten« dazu beitragen, die Verständigung der Völker und der Menschen untereinander zu fördern, Feindbilder ab- und Vertrauen aufzubauen,
  • die Gerechtigkeitssinn, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft gezeigt haben,
  • die sich durch Gewaltlosigkeit, Zivilcourage, Sachlichkeit und Herz auszeichnen.

Der Friedenspreis wird seit 1988 jährlich vergeben (oft doppelt) und ist mit je 1.000 Euro dotiert. (www.aachener-friedenspreis.de)

Bremer Friedenspreis der Stiftung die Schwelle

Es werden Personen, Initiativen oder Projekte für einen besonderen Beitrag in einem oder mehreren der folgenden Bereiche ausgezeichnet: Versöhnung, Menschenrechte, Überwindung des Rassismus, soziale Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, interkulturelle oder interreligiöse Verständigung. Es werden Preisträger in drei Kategorien ausgewählt:

  • Kleinprojekte und engagierte Einzelpersonen mit besonderem Schwerpunkt auf unkonventionelle Initiativen an der Basis der Friedensarbeit,
  • Initiativen und Organisationen, die sich in besonders beispielhafter Weise für die Ziele des Schwelle-Friedenspreises eingesetzt haben,
  • Persönlichkeiten, die sich nachhaltig und mutig in der Öffentlichkeit für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen.

Der Preis wurde 2003 zum ersten Mal vergeben und ist mit je 5.000 Euro dotiert. Eine Auswahl der eingereichten Arbeiten wird darüber hinaus in englischer und deutscher Sprache publiziert. (www.dieschwelle.de/content/deutsch/preis.html)

Christiane-Rajewsky-Preis

Der Nachwuchspreis der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) wird jährlich an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verliehen, die einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben. In Betracht kommen für die Friedens- und Konfliktforschung einschlägige, in der Regel schriftliche Arbeiten, die eines der folgenden Kriterien erfüllen:

  • Studien und besondere Forschungsleistungen, z.B. Examensarbeiten, Dissertationen und mediale Produktionen,
  • besondere Leistungen in der Vermittlung der Friedens- und Konfliktforschung in Lehre, Gesellschaft und Politik,
  • herausragende Leistungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit für die Friedens- und Konfliktforschung.

Die BewerberInnen sollten nicht älter als 35 Jahre sein. Der Preis wird seit 1991 vergeben, und die Preissumme beträgt 500 Euro. (www.afk-web.de/html/nachwuchspreis.html)

Das Salzkorn

Mit dem »Förderpreis für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Evangelischen Kirche von Westfalen«, will die Kirchenleitung insbesondere die Vielfalt des ehrenamtlichen Engagements in wichtigen gesellschaftspolitischen Themenfeldern bekannt machen und würdigen. Ausgezeichnet werden westfälische Initiativen und Gruppen, deren Arbeit sich in kreativer, innovativer, handlungsorientierter und bewusstseinsbildender Weise den Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung widmet. Der Preis wird jährlich in folgenden fünf Bereichen vergeben:

  • Eine-/Dritte-Welt-Arbeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit,
  • Menschen- und Bürgerrechtsarbeit,
  • Innergesellschaftliche soziale Fragen, Chancengleichheit von Frauen und Männern,
  • Friedens- und Versöhnungsarbeit,
  • Ökologie, Schöpfungsbewahrung, Lebensstil.

Der Preis wurde 1994 erstmalig vergeben (damals noch »Förderpreis Konziliarer Prozess«), das Preisgeld beträgt insgesamt 5000 Euro. (www.ekvw.de)

Göttinger Friedenspreis

Die Stiftung Dr. Roland Röhl wurde zur Förderung der Konflikt- und Friedensforschung gebildet. Sie verleiht jährlich den Göttinger Friedenspreis an Einzelpersonen oder Personengruppen, die sich durch grundlegende wissenschaftliche Arbeit oder durch herausragenden praktischen Einsatz um den Frieden besonders verdient gemacht haben. Der Preis wurde 1999 zum ersten Mal verliehen und ist mit einer Geldprämie verbunden. (www.goettinger-friedenspreis.de)

Lothar-Kreyssig-Friedenspreis

Der Preis wird seit 1999 an Personen verliehen, die sich für die Versöhnung mit Menschen in Europa und in Israel einsetzen. Er ist mit 3.000 Euro dotiert. (www.kirchenprovinz.de)

Peter-Becker-Preis der Philipps-Universität/Marburg

Der von dem Anwalt Peter Becker gestiftete Preis wird von der Philipps-Universität-Marburg alle zwei Jahre verliehen. Er soll die Arbeit an zivilen Friedensprozessen befördern. Mit dem Preis sollen WissenschaftlerInnen geehrt werden, die ihre Theorien mit Praxisorientierungen versehen. Das Preisgeld des 2005 erstmalig verliehenen Preises beträgt 10.000 Euro. (www.uni-marburg.de)

UNIFEM-Preis

Das Deutsche Komitee für UNIFEM vergibt den Preis für laufende Projekte und Programme von Frauen und Frauengruppen in den sich entwickelnden Ländern, die nachweislich:

  • zur nachhaltigen Entwicklung beitragen,
  • Hilfe zur Selbsthilfe verwirklichen und zum Ziel haben, von Fremdhilfe unabhängig zu werden,
  • beispielhaft für andere Frauen sind und zum Nachahmen ermutigen,
  • die politische und wirtschaftliche Macht von Frauen fördern und ihre Führungskompetenz stärken,
  • das wirtschaftliche Potenzial von Produzentinnen und Unternehmerinnen stärken,
  • die Fähigkeit von Frauen verbessern, ihr Leben innerhalb du außerhalb des Hauses selbst zu bestimmen und die Richtung des sozialen Wandels zu beeinflussen.

Der Preis wird seit 1999 jährlich vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert. (www.unifem.de/de/preis.html)

Versöhnungspreis der Klaus Jensen Stiftung

Die in Trier ansässige Klaus Jensen Stiftung unterstützt fachlich und finanziell Projekte zu Gewaltprävention, Mediation und Versöhnung. Der Versöhnungspreis wird seit 2003 jährlich verliehen und ist mit 10.000 Euro dotiert. (www.klaus-jensen-stiftung.de/prei.html)

Quo vadis DSF?

Quo vadis DSF?

Zu den Schwierigkeiten der Forschungsförderung in Sachen Frieden / Interview mit Christiane Lammers

von Christiane Lammers und Jürgen Nieth

Die Wiederaufnahme der Förderung der deutschen Friedensforschung zählte zum Wahlprogramm von Rot-Grün 1998. Tatsächlich wurde sehr schnell nach der Wahl die gemeinnützige Stiftung Deutsche Friedensforschung gegründet und mit einem Startkapital von 50 Millionen DM ausgerüstet. Christiane Lammers, Mitarbeiterin der LAG Friedenswissenschaft in NRW und Mitglied der W&F-Redaktion war seit ihrer Gründung am Aufbau der Stiftung beteiligt und fast 5 Jahre stellvertretende Vorsitzende der DSF. Im April ist sie von dieser Funktion zurückgetreten. Jürgen Nieth sprach mit ihr über die Arbeit der Stiftung und die Hintergründe ihres Rücktritts.

W&F: Darf man fragen, was die Gründe für diesen plötzlichen Rücktritt waren?

C. L.: Ich mag personell festgefahrene Gremien nicht und halte es für gut, wenn durch Wechsel an den Spitzen von Gremien neue Ideen, andere Hintergründe und bereichernde Erfahrungen zum Tragen kommen können…

W&F: …dafür gibt es Wahlperioden, dann kann mensch auf eine erneute Kandidatur verzichten…

C. L.: …prinzipiell stimmt das! Meinen Rücktritt habe ich vor dem Stiftungsrat auch damit begründet, dass in der Arbeit des nach dem Tod von Dieter S. Lutz neu zusammengesetzten Vorstands Unstimmigkeiten auftraten. Nach außen sichtbar ging es zunächst vor allem um Detailfragen, die mir aber eine produktive Kooperation zunehmend schwerer gemacht haben. Im Hintergrund standen unterschiedliche Prämissen, die die Ausrichtung der Stiftung im Zuge der nun nach fünf Jahren geschaffenen Etablierung betreffen. Insofern spielten inhaltliche Gründe bei meinem Rücktritt auch eine Rolle.

W&F: Kannst Du das etwas spezifizieren? Was waren Deine Zielsetzungen?

C. L.: Im September 2000 habe ich in einem Brief an den Kollegen und an der Konzeptionierung der Stiftung intensiv beteiligten späteren Vorsitzenden des Stiftungsrats, Dieter S. Lutz, umrissen, welche Ziele bei der Stiftungsgründung für mich eine herausragende Bedeutung haben. Diese betrafen die Auswahl der Personen für den Stiftungsrat, die inhaltlichen Prioritätensetzung, die strukturellen Defizite der Friedensforschung und auch den Transfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft/Politik/Öffentlichkeit.

W&F: Und was sollte die Stiftung auf diesen Gebieten leisten?

C. L.: Ich habe damals betont, dass meines Erachtens tagespolitische Probleme – wichtige Mainstreamer der Friedensforschung focussierten z.B. auf das Problem der sogenannten Rückkehr des Krieges nach Europa – zu große Beachtung fanden und im Vorfeld der Stiftungsgründung die in der Friedensforschung selbst liegenden Defizite eine zu kleine Rolle spielten. Konkret ging es mir um Folgendes, ich darf zitieren: „Die Theorie- und Methodenbildung der Friedensforschung ist unterentwickelt; dies hängt stark mit der mangelnden Implementierung in der Lehre zusammen. Interdisziplinarität findet höchstens in einigen wenigen Forschungsprojekten – außeruniversitär – statt, wobei einige Fachdisziplinen leider so gut wie keine Rolle spielen. Gerade in Bezug auf die Naturwissenschaften machen sich die meisten FriedensforscherInnen, die in der Regel SozialwissenschaftlerInnen sind, keine Vorstellungen über Hindernisse und Schwierigkeiten. Die »Hardware«-Friedensforschung – Militärtechnologien, militärische Strukturen, Ökonomie – findet an Hochschulen und auch sonst kaum statt.“ Wir waren uns damals einig, dass der Nachwuchsförderung, der fächerübergreifenden, problemorientierten Zusammenarbeit sowie dem Einbringen friedenswissenschaftlicher Expertise in die gesellschaftliche Debatte eine besondere Bedeutung zukommt. Wir hatten außerdem die vielleicht etwas naive Vorstellung, dass innovative, noch nicht so abgesicherte und etablierte Wissenschaftsansätze eine Chance zur Förderung erhalten könnten und das Förderungsprozedere seitens der Stiftung wesentlich zeitnaher und unbürokratischer als üblich ablaufen könnte.

W&F: Und wie sieht die Bilanz aus?

C. L.: Für mich liegt der wesentlichste Erfolg der Stiftung in der Verwirklichung des Nachwuchsförderungsprogramms. Hier vor allem in der Implementierung der Masterstudiengänge, mit denen ich die Hoffnung verbinde, dass NachwuchswissenschaftlerInnen in einer quantitativ nennenswerten Größenordnung ausgebildet werden. Somit kann eine personelle Basis geschaffen werden, die nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den mehrheitlich außerhalb der Forschung befindlichen Berufsfeldern zur Professionalisierung der Friedensarbeit beiträgt. Besonders erfreulich ist auch, dass die geförderten Studiengänge unterschiedlich disziplinär und inhaltlich/strukturell ausgerichtet sind und trotzdem bei allen praxisorientierte und fachübergreifende Lehrangebote integriert wurden. Den zweiten Erfolg sehe ich in der im Herbst anlaufenden naturwissenschaftlichen Stiftungsprofessur in Hamburg. Ich hoffe, dass es dort gelingt, nicht nur die dringend notwendige naturwissenschaftliche Expertise in der Friedensforschung zu stärken, sondern dass diese auch in die grundständige Lehre der Naturwissenschaften ausstrahlt. Vielleicht erweist sich die erhebliche finanzielle Mittel bindende Förderungsart »Stiftungsprofessur« ja als so erfolgreich, dass die Stiftung in einigen Jahren zu dem Entschluss kommt, in dem anderen, völlig unterbelichteten Bereich, nämlich den Wirtschaftswissenschaften, Ähnliches zu wagen.

W&F: Das hört sich ja sehr positiv an, womit bist Du unzufrieden?

C. L.: Nicht ganz so sicher ob des Erfolges bin ich mir bei der Projektförderung, d.h. dem, was gemeinhin als Kerngeschäft der Forschungsförderung definiert wird. Für mich stellt sich die Frage, ob bei der gegenwärtigen Strategie wirklich gesichert ist, dass die Projekte und ihre Ergebnisse sowohl für die durchführenden Institutionen wie auch für die mitarbeitenden WissenschaftlerInnen, für die Friedensforschung wie auch für die Friedensarbeit eine größere Relevanz entwickeln können. Völlig unbefriedigend finde ich, dass wir seitens der Stiftung die mangelnde Interdisziplinarität in der Forschung zwar als Problem erkannt, aber bisher keinen Handlungsansatz hierfür gefunden haben. Für mich ist die fächerübergreifende Zusammenarbeit deshalb so wichtig, weil sie adäquater auf die Problem- und Praxisorientierung hinführt.

W&F: Du hattest oben von Vorschlägen zur Struktur und zumTransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft/Politik/Öffentlichkeit gesprochen…

C. L.: Der Transfer von Wissen bedarf heute eigener Kompetenzen, die nicht unbedingt zu den Qualifikationsmerkmalen und engeren Arbeitsfeldern von WissenschaftlerInnen gehören. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass die Stiftung hier unterstützend tätig werden sollte z.B.

  • durch Organisation von Veranstaltungen und Arbeitskreisen, deren Adressaten nicht nur die Parteien sind, sondern auch die in diesem Feld engagierten zivilgesellschaftlichen Gruppen;
  • durch Erstellung von Exposés und adäquate Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung von speziellen Forschungsregistern und Handbüchern;
  • durch Vergabe von finanziellen Veröffentlichungshilfen und Serviceleistungen für MultiplikatorInnen, Weiterbildungseinrichtungen etc.

Für diese Tätigkeiten fehlen der DSF bisher die Ressourcen, und offen ist, ob die Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, mit der die Stiftung begonnen hat zu kooperieren, mittelfristig institutionell gesichert ist.

Kritisch sehe ich weiter, dass sich die dem Bürokratismus immanente Tendenz sich stetig auszuweiten, leider auch die Stiftung zunehmend erfasst. Dies betrifft den sehr misslichen zeitlichen Abstand zwischen Antragstellung und Bewilligung, aber auch die zunehmende Focussierung auf konventionelle Arbeitsformen in der Wissenschaft. Dass innovative Projekte, die sich inhaltlich, methodisch oder strukturell auf neuem Boden oder nicht im Mainstream bewegen, geringere Chancen zur Förderung haben, halte ich nicht für gut. Die Stiftung könnte sich hier auf einen dezidiert anderen Arbeitsauftrag berufen als etwa die DFG:

Ich habe übrigens auch vor dem Stiftungsrat betont, dass ich die Geschäftsführung der Stiftung in Osnabrück ausdrücklich hierfür nicht verantwortlich mache, da sie sich sehr bemüht, die Verwaltungsdimensionen zugunsten des inhaltlichen Auftrags der Stiftung einzudämmen. Es handelt sich um grundsätzlichere Fragen, mit denen sich schon die Entscheidungsträger auseinandersetzen müssten.

W&F: Wenn ich Deine anfangs skizzierten Punkte richtig verstanden habe, siehst Du zusätzlich auch ein Problem in der Bodenhaftung der Stiftung, also in der Frage, wen oder auch was will die Stiftung mit der von ihr geförderten Forschung erreichen?

C. L.: Ja! Vor allem kritisiere ich, dass die Zivilgesellschaft als Bezugspunkt der Friedensforschung und Friedensarbeit völlig unterschätzt wird. Ihre Einbindung in die Entscheidungsgremien der Stiftung wurde zu keiner Zeit diskutiert, vermutlich gibt es hierüber auch seitens der beteiligten Wissenschaftler/-innen keinen Konsens. Ist es nicht paradox, wenn wir einerseits in der Forschung im Kontext postkonfliktualer Gesellschaften den Focus so stark auf die Rolle und die Handlungskompetenz der zivilgesellschaftlichen Akteure legen und andererseits im eigenen Land Politikberatung und -gestaltung fast ausschließlich in Richtung auf staatliche und parlamentarische Funktionsträger hin definieren? Friedens-, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen sind oft unbequem, sie haben ebenso wie die Parteien, die Gewerkschaften und die Kirchen an Basis verloren. Trotzdem sind dort Menschen engagiert, deren Arbeit und gesellschaftliche Funktion, gerade in einer sich individualisierenden, entsolidarisierenden Demokratie, geschätzt und unterstützt werden sollte.

W&F: In der Gründungsurkunde der Stiftung heißt es: „Die DSF soll das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker fördern. Sie soll mithelfen, Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, dass Krieg, Armut, Hunger und Unterdrückung verhütet, Menschenrechte gewahrt und die internationalen Beziehungen auf die Grundlage des Rechts gestellt werden.“ Ist sie dem gerecht geworden?

C. L.: Letztlich knüpft dies an die sehr schwierige Frage an, inwiefern Wissenschaft überhaupt zu einer »besseren« Welt beitragen kann. Friedenspolitik ist, wie die Umweltpolitik beispielsweise auch, eine Frage der Aufklärung, der Entwicklung von Alternativen, aber letztlich auch der politischen Entscheidungen. Hier haben wir gerade in den letzten Jahren erlebt, wie schwierig es ist, in diesem Land friedenspolitische Notwendigkeiten gegenüber anderen Interessen geltend zu machen.

W&F: Du hast nun ein sehr breites Aufgabenfeld der Stiftung gezeichnet. Kann sie das überhaupt leisten?

C. L.: Man muss noch mal darauf hinweisen, dass zum Ende der Regierung Kohl die Förderung der Friedensforschung fast auf Null zurückgefahren war. Da waren die Gründung und Finanzierung der Stiftung wichtige Schritte nach vorne, und die DSF hat sicherlich Bedeutsames und vor allem Nachhaltiges geleistet. Andererseits war die Bundesförderung der Friedensforschung zehn Jahre vor Rot-Grün, also Anfang der neunziger Jahre, noch wesentlicher höher, als was die Stiftung heute jährlich verausgaben kann. Selbst der Bundesrechnungshof hat in seinem Prüfbericht festgestellt, dass eine Erhöhung des Stiftungskapitals vonnöten ist, um die Stiftung wirklich ihren Aufgaben entsprechend dauerhaft zu erhalten. Trotz dieser Faktenlage war der politische Wille in der Koalition zugunsten einer nennenswerten Erhöhung des Stiftungskapitals – etwa um 15-20 Mio. Euro – nicht herzustellen, ganz im Gegensatz zu milliardenschweren Entscheidungen im Rüstungssektor. Ich hoffe, dass auch nach den anstehenden Bundestags-Neuwahlen die bisherigen Leistungen der Stiftung seitens der in den Stiftungsgremien mit entscheidenden Regierungsvertretern/innen anerkannt bleiben und vielleicht mit einer stärker insistierenden Opposition die Notwendigkeit einer Wissenschaft für den Frieden mindestens ebenso respektiert aufblüht.

W&F: Vielen Dank!

Geförderte Großprojekte der DSF:

Laufende Forschungsprojekte:

  • Neue Formen der Gewalt im internationalen System: Möglichkeiten und Grenzen der Prävention. Projektleitung (PL): Prof. Dr. Wolf-Dieter Eberwein, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
  • Präventive Rüstungskontrolle: Analyse von Potentialen für Rüstungskontrolle und Verifikation biologischer Waffen unter besonderer Berücksichtigung neuer Entwicklungen in der Biotechnologie. PL: Prof. Dr. Kathryn Nixdorf, TU Darmstadt, Institut für Mikrobiologie und Genetik
  • Kernwaffenrelevante Materialien und Rüstungskontrolle. PL: Dr. Wolfgang Liebert, TU Darmstadt, Internationale Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS)
  • Between past and future. An assessment for the transition from conflict to peace in post-genocide Rwanda. PL: Prof. Dr. Lothar Brock, HSFK
  • Demobilisierung und Remobilisierung in Äthiopien ab 1991. PL: Prof. Dr. Helmut Bley, Universität Hannover, Historisches Seminar
  • Rüstungskontroll-Expertengemeinde und Diskursgestaltung. PL: Prof. Dr. Harald Müller / Dr. Bernd W. Kubbig, HSFK
  • Informationsanforderungen bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nach der Charta der Vereinten Nationen. PL: Prof. Dr. Joachim Wolf, Institut für Friedenssicherung und Humanitäres Völkerrecht, Ruhr-Universität Bochum
  • Die OSZE und der Aufbau multiethnischer Polizeien auf dem Balkan. Analyse eines bedeutenden Beitrags zum internationalen Post-Conflict Peacebuilding. PL: Dr. Wolfgang Zellner, Centre for OSCE Research (CORE), Hamburg
  • Die Rolle externer wirtschaftlicher Akteure in Bürgerkriegsökonomien und ihre Bedeutung für Kriegsbeendigungsstrategien in Afrika südlich der Sahara. PL: Dr. Michael Brzoska, Bonn International Conversion Centre (BICC)
  • Geschichte der Kriegsberichterstattung in 20. Jahrhundert: Strukturen und Erfahrungszusammenhänge aus der akteurszentrierten Perspektive. PL: Prof. Dr. Ute Daniel, Historisches Seminar TU Braunschweig
  • Der Beitrag des Zivilen Friedensdienstes zur zivilen Konfliktbearbeitung in Bosnien-Herzegowina und Kosovo. PL: Dr. Ulrich Ratsch, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST)
  • Der Anschlag von New York und der Krieg gegen Afghanistan in den Medien – Eine Analyse der geopolitischen Diskurse. PL: Prof. Dr. Paul Reuber und Dr. Günter Wolkersdorfer, Institut für Geographie Westfälische Wilhelms-Universität Münster
  • Die De-/Konstruktion von Krieg in der internationalen meinungsführenden Presse: Der »Fall« Irak (2003). PL: Prof. Dr. Una Dirks, Universität Hildesheim, und Prof. Dr. Rüdiger Zimmermann, Universität Marburg
  • Neue nicht-tödliche Waffen – Physikalische Analysen für vorbeugende Begrenzungen. PL: Prof. Dr. Dieter Suter, Universität Dortmund
  • Post-Conflict: Rebuilding of States – Völkerrechtliche Aspekte der Wiederherstellung von Staatlichkeit. PL: Prof. Dr. Volker Epping, Universität Hannover, und Dr. Hans-Joachim Heintze, Universität Bochum
  • Die Wirkungsweise gewaltfreier Praxis: Zentrale Konfliktaustragungskonzepte im interkulturellen Vergleich. PL: Prof. Dr. Heinz-Günther Stobbe, Universität Siegen
  • Waffenkontrolle durch Wissenschaftskontrolle? Zur Rolle der Naturwissenschaftler(inne)n in staatlichen Biowaffen-Programmen. PL: Dr. Jan van Aken, Universität Hamburg
  • Staatszerfall als friedens- und entwicklungspolitische Herausforderung: Was können multidimensionale Governance-Ansätze leisten? Eine konzeptionelle Untersuchung mit empirisch-analytischer Anwendung auf Somalia und Afghanistan. PL: Dr. Tobias Debiel, INEF, und Dr. Conrad Schetter, ZEF, Universität Bonn
  • Die internationale Organisation des Demokratischen Friedens. PL: Prof. Dr. Andreas Hasenclever, Universität Tübingen, und Dr. Matthias Dembinski, HSFK
  • Ethnopolitische Konflikte im nördlichen Schwarzmeergebiet: Gedächtnis, Gewalt und Geschichtspolitik im postsowjetischen Raum. PL: Prof. Dr. Stefan Troebst, GWZO Universität Leipzig

Deeskalation – Paradigma für Konfliktforschung?

Deeskalation – Paradigma für Konfliktforschung?

von Corinna Hauswedell

Die verschärften Spannungen auf vielen internationalen- Krisenschauplätzen bringen es mit sich, dass man in Politik und Wissenschaft gegenwärtig weniger mit Idealzuständen von Frieden und Sicherheit als mit den Prozessen von Eskalation bzw. Deeskalation von Konflikten befasst ist. Die Definition des Universallexikons stellt Deeskalation. (und ihren Gegenbegriff Eskalation) eindeutig in den begrifflichen Kontext politischer und militärischer Gewaltanwendung (bzw. deren Minderung) beschreibt allerdings eher Richtungen und Methoden im Umgang mit Gewaltkonflikten als Zielperspektiven oder dauerhafte Lösungsansätze. In diesem pragmatischen Definitionsansatz liegen sowohl Chancen als auch Gefahren: Chancen für ein Krisenmanagement, das jenseits von ideologischer Bevormundung und zum Nutzen der Konfliktbetroffenen möglicherweise Schlimmeres abwenden kann, aber auch Gefahren, dabei im Gestrüpp widerstreitender Interessen hängen zu bleiben und nicht zu den Wurzeln der Konflikte vorzudringen. Es soll hier dafür plädiert werden, Deeskalation gerade wegen dieser Ambivalenzen als Paradigma für zeitgemäße Friedens- und Konfliktforschung näher zu untersuchen. Die Komplexität der vorfindbaren Konfliktstrukturen und ihrer Bearbeitungsmodi macht einen transdisziplinären Zugriff auf das Paradigma Deeskalation notwendig; dieser könnte auch den Diskurs zwischen akademisch-analytischen und praxeologischen Ansätzen neu befruchten.1

Deeskalation stellt demnach zunächst keine eigenständige theoretische Kategorie dar; sie bildet eher einen historischen und aktuellen politischen Erfahrungsvorrat, den es zu systematisieren gilt. Wegen der traditionellen Arbeitsteilung der akademischen Disziplinen stehen nach wie vor politikwissenschaftliche, soziologische, psychologische und andere sozialwissenschaftliche Forschungen zur Beendigung bzw. Verhinderung von Kriegen und Gewaltkonflikten relativ unverbunden nebeneinander. Die Ökonomie, das Völkerrecht, die Ethnologie und Anthropologie, aber auch die Naturwissenschaften, wenn es um Rüstung und Abrüstung geht, wären zu befragen.

Auf seiner Jahrestagung im Dezember 2004 hat der Arbeitskreis Historische Friedensforschung einen Versuch unternommen, diese Diskussion aus zeithistorischer Perspektive anzuregen.2 Die Entspannungsbemühungen während des Ost-West-Konfliktes und deren Grenzen wurden in komparativer Absicht einigen erfolgreichen und gescheiterten Deeskalations- und Transformationsansätzen vorwiegend innerstaatlicher Konflikte in den neunziger Jahren gegenüber gestellt. Die Veranstalter fragten u.a. danach, welche Bedeutung unterschiedliche Weltordnungsvorstellungen für Konzepte der Deeskalation haben können.

Im Rahmen der »Strategic Studies«, der klassischen realistischen Schule des Kalten Krieges, wurde in den 1960er und 1970er Jahren systematisch über Eskalation als Mittel der Konfliktbewältigung nachgedacht, so z.B. in dem renommierten US Think Tank der RAND Corporation; erinnert sei auch an die programmatische Schrift »On Escalation«, die Herman Kahn 1965 verfasste.3 Aber auch der Begriff der Deeskalation nahm in jener Zeit Gestalt an, als Reflex auf den Vietnamkrieg, den heißen Krieg im Kalten Krieg. Die anglo-amerikanisch geprägte Forschung über Conflict Resolution, diesich mit Namen wie Alexander George, Louis Kriesberg, Charles Osgood, Robert Randle oder William Zartman verbindet, nahm dort ihren Anfang.

Ausgangspunkte und Gründe, um über Deeskalation nachzudenken, waren also in der Vergangenheit und sind es heute konfrontative Zuspitzungen im internationalen System, Krisen und Krieg. Deeskalation nimmt vor allem die Konfliktdynamik und ihre Akteure ins Visier. Im Kontext des Konfliktgeschehens zwischen und innerhalb von Staaten und Gesellschaften kann Deeskalation einen aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation beschreiben. Er findet in der Regel mit dem Ziel statt, die Interaktion zwischen den Konfliktparteien so zu beeinflussen, dass gewaltförmiges und militärisches Handeln bzw. entsprechende Bedrohungen abgebaut und Chancen für einen friedensgerichteten, zivilen Konfliktaustrag eröffnet werden.

Wie nachhaltige Friedensprozesse in Gang zu setzen sind, rückte seit dem Ende des Kalten Krieges, und mit neuer Dringlichkeit seit dem »Krieg gegen den Terror« und dem Irakkrieg 2003 ins Zentrum internationaler Ordnungsvorstellungen. In den aktuellen Debatten über sogenannte neue Kriege, humanitäre Intervention und Nachkriegskonsolidierung ist die transdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung in besonderer Weise gefordert, zu untersuchen, wie denn Bedingungen für eine zivile Konfliktbearbeitung, für staatliche und nichtstaatliche Strategien einer politischen Streitbeilegung, aussehen können.

Der Blick in die Zeitgeschichte seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges eröffnet ein breites Spektrum unterschiedlicher Szenarien von Deeskalation. Diese reichten von vielfältigen Formen politischer Entspannung4, einseitiger und multilateraler Vertrauensbildung, Vermittlung und Mediation, klassischer staatlicher sowie sogenannter »track- two«-Diplomatie, über Sanktionsregime, Waffenstillstandsvereinbarungen und Abrüstung bis hin zu Friedensschlüssen und zur Förderung gemeinsamer oder kollektiver Sicherheit, etwa im Rahmen des KSZE-Prozesses seit 1975. Politischer Dialog und Kommunikation erwiesen sich in all diesen Deeskalationsansätzen stets als zentrale Kategorien. Der Wandel der internationalen Beziehungen, Ordnungsvorstellungen und Konfliktwahrnehmungen seit 1945 – während des bipolaren Kalten Krieges und seit der Zäsur von 1989/90 – hat auch die Akteursperspektiven für Deeskalation verändert. Während der militärisch und ideologisch hoch gerüsteten Ost-West-Konfrontation wurden Deeskalationsstrategien vor allem mit dem Ziel der Kriegsvermeidung entwickelt, nicht immer erfolgreich, wie die zahlreichen Stellvertreterkriege zeigen. Und Krisen zwischen den Supermächten waren immer ein Tanz auf dem atomaren Vulkan. War der Ost-West-Konflikt ein sich selbst erhaltendes System von Eskalation und Deeskalation?

Heute treten die eingangs erwähnten Ambivalenzen im Umgang mit Deeskalation noch deutlicher zu Tage. Die neue unipolare Weltkonstellation mit ihren großen Machtasymmetrien hat einerseits zu einer Enttabuisierung militärischen Handels geführt und tritt dabei auch im Gewande interessengeprägter politischer Doppelmoral auf. Andererseits wurden aber auch neue Ressourcen für friedensfördernde Prozesse sichtbar: Zwischen 1989 und 2000 sind etwa vierzig Friedensvereinbarungen zur Regelung vornehmlich innerstaatlicher Gewaltkonflikte getroffen worden; der Verhandlungsfrieden hat den Siegfrieden als dominante Form des Friedensschlusses abgelöst. Das war etwas Neues, auch für die vom Ost-West-Konflikt geprägte Friedens- und Konfliktforschung, die sich gleichzeitig mit ernüchternden Analysen hinsichtlich der geringen Nachhaltigkeit vieler dieser Friedensschlüsse konfrontiert sah.5 Liegen also auch den Befriedungen der »kleinen Kriege« vorwiegend fragwürdige oder ineffiziente Deeskalationsstrategien zugrunde?

Die Handlungsspielräume für Deeskalation und die Kenntnisse über ihre Wirkungsmechanismen haben sich erweitert. Neben den Nationalstaaten treten zunehmend internationale, staatliche und nichtstaatliche Organisationen, gesellschaftliche Gruppen und Individuen als handelnde Subjekte im Konfliktgeschehen auf. Staatliche Souveränität wird durch eine Vielzahl von widersprüchlichen Faktoren begrenzt bzw. in Frage gestellt, die mit der Globalisierung, ihren Licht- und Schattenseiten, zusammen hängen. Dies gilt im Nord-Süd- wie im West-Ost-Verhältnis. Es sind dies u.a. Probleme ökonomischer Integration bzw. Desintegration, die Gefährdung sozialer und ethnischer Gefüge, die Verletzung von Menschenrechten sowie der Zerfall von Staatlichkeit.6

Kriseninterventionen von außen bzw. durch Drittparteien, einschließlich gezielter Militäreinsätze (mit und ohne Mandat der UNO), begründet mit notwendiger politischer Stabilisierung, humanitärer Hilfe oder Demokratisierung, erlebten in den 1990er Jahren eine neue, nicht unumstrittene Konjunktur, auf dem Balkan, auf dem afrikanischen Kontinent, in Afghanistan. Die Bundeswehr ist seit 1994 mit fünfzig Einsätzen beteiligt. Dienten diese Interventionen der Deeskalation im Sinne der Reduzierung militärischer Gewalt und der Eröffnung ziviler Handlungsspielräume? Das Bild ist mindestens widersprüchlich. Wenn offensichtlich die Grenzen und Übergänge zwischen zivilem und militärischem Handeln in Konflikten fließender werden, erscheint eine vertiefte Befassung mit den verfügbaren Erfahrungen der Deeskalation besonders dringend geboten.

Krieg und Frieden rücken also – auch in der wissenschaftlichen Betrachtung – näher zusammen. Übergangsphasen und -formen unbeendeter Gewaltanwendung und instabiler Friedensprozesse erfordern aber eine größere Trennschärfe bei der Analyse der Faktoren, die tatsächlich deeskalierend und in diesem Sinne friedensfördernd wirken. Unterschiedliche Friedensmissionen in Afrika, z.B. in Liberia, aber auch der Kongo deuten darauf hin, dass Deeskalation – und oft auch mit ihr einhergehende Entwicklungshilfe – nicht immer an die tiefer liegenden Konfliktursachen heranreicht, ja zuweilen für diese sogar kontraproduktiv sein kann. Unter der Oberfläche momentaner Stabilisierung können ökonomische und politische Gewaltkulturen bzw. Machtverhältnisse weiterwirken, die eine Demokratisierung der Konfliktgesellschaften verhindern (siehe Beitrag von Zappatelli und Trivelli auf Seite 27, d. Red.). Der Umgang des Westens mit vielen arabischen Staaten war über Jahrzehnte von ähnlichen Mustern oberflächlicher Stabilisierung autoritärer Herrschaft geprägt. Hier liegt eine Ursache dafür, dass, wie die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer auf dem letzten Historikertag darlegte, die Zäsuren von 1989 und auch der 11. September 2001 in der islamischen Welt anders wahrgenommen wurden als im Westen.

Deeskalation hat deshalb auch die legitimatorische Funktion von Gewalt in Konflikten ins Visier zu nehmen. In bewaffneten Konflikten und Kriegen geht es selten nur um militärische Strategien, Waffen und Soldaten und auch nicht nur um ökonomische Interessen, die viel diskutierten Kriegsökonomien,7 oder um Territorialansprüche, sondern eben auch um die Deutungshoheit im Konflikt, um Meinungs- und Definitionsführerschaft über gesellschaftlich-historisch gewachsene Traditionen, Mythen und Symbole der Konfliktparteien. Deeskalationsstrategien müssen heute in wachsendem Maße die Interdependenz solcher verschiedenartigen subjektiven und objektiven Faktoren reflektieren: Dies sind einerseits solche Faktoren, die eher der Sphäre der politisch-militärischen »Hardware« internationaler Ordnungspolitik entspringen und andererseits solche, die stärker aus der »Software« sozialpsychologischer bzw. kulturell-mentaler Gegebenheiten von langanhaltenden Konflikten und Gewaltverhältnissen erwachsen. Aus der Komplementarität beider Sphären, die man auch als die Außen- und Innenwelt der Konflikte bezeichnen könnte, ergibt sich erst das vollständige Bild einer wirkungsvollen zivilen Konfliktbearbeitung.

Für die friedenswissenschaftliche Analyse bedeutet dies, nolens, volens, auch eine erneute Hinwendung zu den Phänomenen des Krieges.8 Anhand von komparativen Analysen wäre über die Depolitisierung bzw. Repolitisierung, mithin auch über die Legitimation von politischer Gewalt neu nachzudenken, um zu verstehen, wo, wie und wann Deeskalationsstrategien einsetzen können. Interessant könnte eine Weiterentwicklung pragmatischer Konzepte der angelsächsischen »Conflict Resolution« sein, z.B. der Theoreme über den »ripe moment« bzw. das »mutually hurting stalemate«, anhand derer William Zartman (u.a. am Beispiel von Südafrika oder auch Nordirland) einen möglichen Beginn von Verhandlungen beschrieben hat.9 Aus zahlreichen innergesellschaftlichen, bürgerkriegsähnlichen Konflikten lassen sich, gerade wenn auch relativ starke staatliche Akteure beteiligt sind, neue Erkenntnisse über die Asymmetrien von Gewaltdynamik und Friedensdynamik gewinnen,10 die für Deeskalationsstrategien von Nutzen sein können.

Vergleicht man also die bipolare mit der unipolaren Welt, ist zu fragen: Lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten oder Deeskalation zwischen und innerhalb von Staaten aus der Zeit des Kalten Krieges für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägten internationalen Konstellation von heute bereit stellen? Erleichterte der Wegfall der bipolaren Konfrontation den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte? Oder droht u.U. eine neue Überlagerung endogener Konfliktstrukturen durch eine globale Konfrontation des Westens mit dem Islamismus unter dem Rubrum des Antiterrorkampfes? Hieran schließen sich unmittelbar Fragen nach den Inhalten und Zielen von Deeskalation an: Können so unterschiedliche Perspektiven einer Deeskalation wie Gewaltminderung und Abrüstung einerseits11 und die Sicherung von Menschenrechten und Demokratie andererseits miteinander in Einklang gebracht werden? Eröffnet nicht die aktuelle Menschenrechtsdebatte im Kontext eines »gerechten Friedens« Dilemmata für Deeskalation, die nicht vereinbar sind? Die nordirische Völkerrechtlerin Christine Bell12 verweist beispielsweise auf die Spannungsfelder zwischen Inklusion und Exklusion von Konfliktparteien, zwischen Versöhnung und Gerechtigkeit, Amnestie und Strafverfolgung etc., plädiert aber dafür, diesen in jedem Friedensprozess klassischen »clash« von Pragmatismus und Prinzipien, von verhandelbaren und nicht verhandelbaren Zielen, durch eine verabredete Reihenfolge und eine geduldige Organisation des Wandels zu lösen, die nicht auf Sieg oder Niederlage einer Seite hinauslaufen darf. Neuere Forschungen über das »Management von Friedensprozessen«,13 nehmen zwar die pragmatischen Ansätze der frühen 1990er Jahre zur Kriegsbeendigung, Kriegsfolgenbewältigung und Friedenskonsolidierung auf, die von der UN-Agenda for Peace beeinflusst waren,14 warnen aber angesichts komplexer Gewaltverhältnisse vor einen»quick fix« und beschreiben auch Deeskalation als ambivalenten, keineswegs gradlinigen Prozess.

Der internationale politische Diskurs reflektiert die neueren wissenschaftlichen Debatten über Konfliktbearbeitung nur selektiv. So enthält der Report, den die Reformkommission des UN-Generalsekretärs Ende 2004 vorgestellt hat,15 zwei bemerkenswerte Akzente mit Blick auf internationale Deeskalationschancen (obwohl der Begriff selbst dort nicht zu finden ist).

  • Das Prinzip Kollektiver Sicherheit wird erstmals explizit als Strategie der Staatengemeinschaft formuliert; was eine implizite Absage an unilaterales Handeln der Supermacht bedeutet.
  • Entwicklung wird als elementare Voraussetzung für Sicherheit propagiert, ein Vorrang wird zivilen außenpolitischen Instrumenten der Prävention im Umgang mit den Verwerfungen der Globalisierung gegeben.

Problematisch hingegen, auch unter dem Gesichtspunkt wirksamer Deeskalationsstrategien erscheint der Umgang mit dem sogenannten erweiterten Sicherheitsbegriff, der ja u.a. auch in der sicherheitspolitischen Strategie der EU zugrunde gelegt wurde.16 Wenn alles mit allem zusammenhängt, also eine Verbindung und Gleichrangigkeit so verschiedener Bedrohungen wie Terror und Massenvernichtungswaffen, Seuchen und Unterentwicklung, Genozid und organisiertes Verbrechen stattfindet, wird dies in der Konsequenz zu Verwischungen führen – in der Analyse ebenso wie in den Handlungsoptionen für die Konfliktbearbeitung. Die eigentlich erforderliche größere Trennschärfe, d.h. Fähigkeit zur Unterscheidung und Hierarchisierung von Konfliktpotenzialen mit Blick auf ihre Gewalthaltigkeit, kann im Einheitsbrei allgegenwärtiger Bedrohungen leicht verloren gehen. Für die wenigsten dieser Bedrohungen ist das Militär die richtige Antwort, in den meisten Fällen sein Einsatz vielmehr kontraproduktiv. Hinsichtlich der Frage, ob und wann militärische Mittel eine geeignete Art der Konfliktintervention darstellen, entstehen mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff deshalb mehr Probleme als Lösungen. Mit der Diskussion, ob und wie militärische und zivile Strategien und Instrumente in bewaffneten Konflikten friedensfördernd zusammenwirken können, stehen wir erst am Anfang. Dem »trial and error« der Politik muss friedenswissenschaftliche Forschung mit fundierten Konflikt- und Bedrohungsanalysen und der Evaluierung erfolgreicher und gescheiterter Deeskalationen, also durch komparative und interdisziplinäre Studien, zur Seite stehen.

Als relativ gesichert können gegenwärtig zwei zentrale politische Leistungspotenziale von Deeskalation gelten. Sie lassen sich aus Konflikten ableiten, die erfolgreich in eine zivile Kooperationsperspektive überführt werden konnten. Interessanterweise sind dies Erfahrungen, die in ähnlicher Weise sowohl bei der Beendigung des Kalten Krieges als auch in einer ethno-politischen Konfliktkonstellation wie z.B. dem Nordirlandkonflikt beobachtet wurden. Sie scheinen unabhängig von der weltpolitischen Ordnungsperspektive und sowohl im zwischenstaatlichen wie im innerstaatlichen Handlungsrahmen Gültigkeit zu besitzen:

  • Nachhaltige politische Entspannung und Gewaltverzicht zwischen Konfliktparteien, staatlichen und nichtsstaatlichen Akteuren, entsteht nur mit Hilfe von Kommunikationsstrategien, die auf der Anerkennung der anderen Seite, gegebenenfalls auch der »Hardliner«, beruhen und auf gleichberechtigte Teilhabe an dem anvisierten Transformationsprozess abzielen.
  • Abrüstung, die ein strategisches Ziel jeder Deeskalation sein sollte, ist in der Regel keine Einbahnstraße und bedarf eines regionalen bzw. multilateralen Kontextes. Sie lässt sich eher im Ergebnis eines neuen Sicherheitskonsenses erreichen, denn als dessen Voraussetzung. Rüstungskontrollregime – dies gilt für Massenvernichtungswaffen in ähnlicher Weise wie für Kleinwaffen und hängt auch mit deren politischer Symbolfunktion zusammen – sind zur Vertrauensbildung essentiell, um Ausstiegsszenarien vorzubereiten.

Die potenziellen Stärken einer Deeskalation liegen also bisher vor allem in der Initiierung des politischen Dialoges zum Aufbrechen einer Konfliktstruktur und in der klaren Adressierung der sicherheitspolitischen Dimension eines Gewaltkonfliktes. Davon, wie es gelingt, mittels Deeskalation den Konfliktaustrag weitergehend zu zivilisieren, hängt es ab, ob den Zielperspektiven wie der Sicherung von Menschenrechten und Demokratie in dem jeweiligen Konfliktfall Geltung verschafft werden kann. Diese Binnenkonsolidierung von Konflikten, die nicht ohne Zivilgesellschaften funktioniert, ist die eigentliche Bewährungsprobe jeder behutsam und geduldig zu führenden Deeskalation. Deshalb, also wegen der von den Konflikten betroffenen Menschen, sollten Deeskalationsstrategien von vornherein die Konfliktursachen, die unterschiedlichen Interessenlagen und Vorteilserwartungen der Konfliktparteien in den Blick nehmen. Deeskalation, nicht Eskalation soll sich auszahlen. Die Ordnungsvorstellungen der mächtigen Staaten sind, vor allem wenn sie sich geopolitisch gerieren, nicht immer die besten Ratgeber für eine so verstandene Deeskalation.

Bereits der griechische Stratege und Historiker Thukydides wusste: „Von allen Bekundungen der Macht beeindruckt die Menschen nichts so sehr wie Zurückhaltung.“

Deeskalation (lat.), Abschwächung, schrittweise Abrüstung, stufenweise Verringerung militär. Mittel, allmähl. Abbau von Spannungen; Gegensatz: Eskalation.

Eskalation (frz.), stufenweise Verschärfung eines polit. oder militär. Konflikts durch gegenseitige Provokationen und Heraufschrauben von Forderungen. Wirksames Krisenmanagement besteht in der Eindämmung der E. und ihrer schließl. Umkehrung in eine Deeskalation.

(Einträge im Universallexikon)

Anmerkungen

1) Der Text basiert in Teilen auf einem öffentlichen Vortrag, gehalten an der Bucerius Law School, Hamburg, am 9.12.2004.

2) Die Ergebnisse dieser Tagung »Deeskalation von Gewaltkonflikten nach 1945 – Eine vergleichende Geschichte der Konfliktbearbeitung« werden in diesem Jahr als Buch publiziert in der Reihe »Frieden und Krieg – Beiträge zur Historischen Friedensforschung«, Klartext Verlag, Essen. Aus historischer Perspektive vgl. auch J. Dülffer/ M. Kröger/R.-H. Wippich (Hg.): Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg, München 1997.

3) Herman Kahn: On Escalation. Metaphors and Scenarios, London, Pall Mall Press 1965 (Hudson Institute Series on International Security and World Order.

4) Vgl. auch den Beitrag von Gottfried Niedhart in dieser W&F-Ausgabe, S. 19.

5) Vgl. z.B. die Studie von Collier, Paul et al: »Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy«, World Bank Report 2003 (http://econ.worldbank.org/prr/CivilWarPRR/), in der u.a. davon ausgegangen wird, dass ca. 2/3 der seit 1945 eingeleiteten Friedensprozesse innerhalb der ersten zehn Jahre einen Rückfall in die Gewalt erleben.

6) Vgl. u.a. Tobias Debiel (2004): Konfliktbearbeitung in Zeiten des Staatsverfalls: Erfahrungen und Lehren zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: U. Blanke (Hrsg.): Krisen und Konflikte – Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung, Berlin, 2004, S. 21-38.

7) François Jean and Jean-Christophe Rufin (Ed.): Économie des guerres civiles, Hachette, Paris, 1996.

8) Christopher Daase: Der Krieg und die Friedensforschung, Kleine Polemik zugunsten der Polemologie, in: H. Schmidt/U.Trittmann (Hg.): Kultur und Konflikt, Festschrift für Johan Galtung, Münster 2002, S. 83-95.

9) William Zartman: Ripe for Solution. Conflict und Intervention in Africa, New York/Oxford, 1985, sowie Ders.: Ripeness revisited: The Push and Pull of Conflict Management, Draft Paper (vorgelegt auf der o.g. Tagung, im Dezember 2004 in Loccum, s. Anm.2).

10) Peter Waldmann: Zur Asymmetrie von Gewaltdynamik und Friedensdynamik am Beispiel von Bürgerkriegen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten, in: W. Heitmeyer/H.-G. Soeffner (Hg.): Gewalt, Frankfurt/M. 2004, S. 246-265.

11) Vgl. hierzu den Beitrag von Herbert Wulf in dieser W&F-Ausgabe, S. 15.

12) Vgl. auch Christine Bell: Peace Agreements and Human Rights, Oxford 2000.

13) Vgl. u.a. John Darby/Roger Mac Ginty (Ed.): The Management of Peace Processes, London 2000.

14) Vgl. z.B. für den deutschsprachigen Kontext Volker Matthies (Hg.): Vom Krieg zum Frieden, Bremen 1995.

15) United Nations High-level Panel on Threats, Challenges and Change. A More Secure World: Our Shared Responsibility. New York 2004.

16) Vgl. Corinna Hauswedell/Herbert Wulf: Die EU als Friedensmacht? Neue Sicherheitsstrategie und Rüstungskontrolle, in: Friedensgutachten 2004, Hg. von C. Weller, U. Ratsch, R. Mutz, B. Schoch, C. Hauswedell, Münster-Hamburg-London 2004, S. 122-130.

Dr. Corinna Hauswedell ist für das Bonn International Center for Conversion Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und Sprecherin des Arbeitskreises Historische Friedensforschung

Think Tanks für Abrüstung und Frieden?

Think Tanks für Abrüstung und Frieden?

von Andrew Lichterman

Als Think Tank – Denkfabrik – werden in den USA alle Organisationen bezeichnet, die sich schwerpunktmäßig mit der Erforschung und Analyse von Politik befassen. Die meisten Think Tanks sind angetreten um mit ihrer Arbeit vor allem die Regierung zu informieren und – entweder direkt oder indirekt – zu beeinflussen. Versorgt ein Think Tank auch eine breitere Öffentlichkeit mit Informationen, so beliefert er diese entweder mit abgespeckten Versionen der Materialien, die er zur Beeinflussung von Regierungen erstellt hat, oder er nutzt moderne Techniken der »Public Relations« – ein höflicher Begriff für Propaganda –, um die »öffentliche Meinung« für sich zu gewinnen. Nur wenige sind angetreten, um als Experten sozialen Bewegungen zur Seite zu stehen. Andrew Lichterman über den Einfluss US-amerikanischer Think Tanks auf Rüstung / Rüstungskontrolle und die Friedensbewegung.

Die großen Think-Tanks in den USA konzentrieren sich auf die Lieferung von Informationen mit hohem Gebrauchswert für Regierungsforen, in denen Entscheidungen fallen, und auf Analyseformen, die dort besonders gut ankommen. Nur wenige Think Tanks kümmern sich um Informationen und Unterstützung für soziale Bewegungen.

Dieses Grundmuster ist bei den Themen Rüstungskontrolle und Abrüstung und nationale Sicherheit besonders ausgeprägt. Unter diesen Schlagworten wird in den Vereinigten Staaten der professionelle Diskurs der politischen Mitte über Krieg und Frieden geführt. Allerdings ist hier inzwischen von Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht viel übrig geblieben. Bei dem Thema Abrüstung geht es fast nur noch um die Abrüstung des einen oder anderen potentiellen Gegners und unter Rüstungskontrolle wird vor allem die Sicherung des militärischen Vorteils mit anderen Mitteln verstanden; es geht um die Nutzung von Verträgen und Diplomatie zur Beibehaltung möglichst vieler eigener militärischer Fähigkeiten bei gleichzeitiger Begrenzung derer anderer Länder. Die meisten Rüstungskontrollexperten der USA arbeiten im Inland, aber auch im Ausland, direkt für die Regierung oder für Organisationen, die sich explizit oder implizit als Berater der Regierung verstehen. Abrüstung und Frieden brauchen aber Menschen auf der ganzen Welt, die die zur Gewaltanwendung neigenden Eliten und bewaffneten Bürokratien in ihren jeweiligen Ländern unter Kontrolle bringen.

In den Vereinigten Staaten ist aber der Abstand größer geworden zwischen denjenigen, die in sozialen Bewegungen aktiv sind, und denen, die behaupten, sie in den Machtzentren bei Themen wir Krieg und Frieden, Rüstungskontrolle und Abrüstung zu vertreten. Teilweise ist das auf die immer geringere politische Mobilisierung in den Vereinigten Staaten zurückzuführen. Sichtbar wird das auf jeder Ebene, vom lokalen Engagement der ehrenamtlich Aktiven bis hin zur Wahlbeteiligung. Die neuen sozialen Bewegungen, die sich in den 1960ern herausbildeten, bewirkten in den Vereinigten Staaten erhebliche soziale Reformen, die Ausweitung von Bürgerrechten, zahlreiche Umweltschutzmaßnahmen und eine gewisse Begrenzung der militärischen US-Interventionen rund um den Globus. Im Rückblick muss man wohl sagen, dass diese Bewegungen etwa Mitte der 1980er ihren Höhepunkt überschritten haben.

Zu ihrem Niedergang trugen viele Faktoren bei, nicht zuletzt eine starke und selbstbewusste Gegenbewegung der Rechten. Außerdem wurden in den letzten zwei Jahrzehnten nur wenig Geld und fast keine systematischen Überlegungen in die lokale Organisation und den Aufbau von Institutionen investiert, die Voraussetzung für sozialen Wandel sind. Am progressiven Ende des politischen Spektrums wurden, insbesondere im Zusammenhang mit Frieden und Abrüstung, die Mittel überwiegend in solche Initiativen gelenkt, die kurzfristig die Gesetzgebung und Wahlpolitik beeinflussen sollten. In den späten 1980ern und frühen 1990ern zogen sich etliche große amerikanische Friedensorganisationen von lokalen und regionalen Aktivitäten zurück und schlossen ihre lokalen Büros, setzten aber gleichzeitig die Arbeit in Washington fort und »professionalisierten« sie zunehmend. Einen deutlichen Umbruch erzwang auf jeden Fall das Ende des Kalten Krieges, mit dem auch die Angst verschwand, die für viele Amerikaner die Triebfeder zur Unterstützung von Friedens- und Abrüstungsinitiativen gewesen war.

Mehr Lobbyarbeit aber weniger vor Ort

Die meisten Organisationen setzten jetzt zwar ihre professionalisierte Forschungs- und Lobbyarbeit in den Machtzentren fort, das hatte aber zur Folge, dass sie weniger zur Organisation von Aktivitäten in der breiten und vielfältigen politischen Landschaft der USA beitragen konnten.

Bis zu einem bestimmten Grad war diese Entwicklung seit Anfang der 1980er Jahre unausweichlich. Die Freeze-Kampagne war der gezielte Versuch, dem Kongress und der Öffentlichkeit nukleare Abrüstung »zu verkaufen«, ohne in die Diskussion Fragen wie Militarismus und Empire einzubeziehen. Gemeinnützige amerikanische Stiftungen drängten die Friedens- und Abrüstungsgruppen noch weiter in diese Richtung, indem sie erhebliche Mittel an solche Gruppen vergaben, die ihre Arbeit auf den zunehmend professionalisierten Diskurs über Rüstungskontrolle und Abrüstung beschränkten. Die Gruppen wurden an den Rand gedrängt, die eine Verbindung herstellten zwischen den astronomischen Militärausgaben der USA und der wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit innerhalb und außerhalb der USA. Das nukleare und konventionelle Wettrüsten wurde von der politischen Mitte größtenteils so dargestellt, als ginge es vor allem darum, die »sowjetische Bedrohung« mit Abschreckung zu kontern. Folglich verschwand für die Allgemeinheit mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die »Bedrohung« – obwohl weiterhin Tausende Atomwaffen stationiert waren und die gigantische Militärmaschinerie der USA weiterrollte. So war es nicht verwunderlich, dass die »Graswurzel«-Unterstützung für die großen Friedens- und Abrüstungsorganisationen schwand. Experten, die jahrelang Rüstungskontrolle nur zur Eindämmung des gefährlichen Wettrüstens mit der Sowjetunion gefordert hatten, blieb jetzt höchstens noch die Kritik an unnötig hohen Rüstungskosten.

Alternative Think-Tanks reduzierten ihre Ziele

Während die Aktivitäten auf lokaler und regionaler Ebene verkümmerten, stellten sich die professionalisierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen auf das sinkende Interesse an Abrüstungsthemen ein und bewegten sich immer mehr im engen Rahmen der politischen Alternativen und Methoden, die in Washington als »glaubwürdig« gelten. Sie beschränken sich inzwischen weitgehend auf die äußerst begrenzten Versuche, die eine oder andere extreme Erscheinungsform eines außer Kontrolle geratenen militärisch-industriellen Komplexes zu verhindern. Selten nur hinterfragen sie die vorherrschende Mär von der »nationalen Sicherheit« und die Definition »nationaler Interessen« der USA. Statt dessen konzentrieren sie sich auf technische Bedenken und die Kostenfrage.

Damit nicht genug: Die allermeisten Think Tanks, Lobbyorganisationen und PR-Agenturen, die sich in den Metropolen des Empire tummeln, repräsentieren konzentrierten Reichtum und Macht. Das American Enterprise Institute, die Heritage Foundation, das National Institute for Public Policy und Dutzende andere üppigst finanzierte rechte Think Tanks und Institute bieten amerikanischen Militärideologen auch dann ein exponiertes Podium und eine institutionelle Heimat, wenn diese gerade keine Machtposition halten. Sind diese wieder in Amt und Würden, verfügen sie mittels der Think-Tanks über einen fast unbegrenzten Nachschub von »Experten« zur Untermauerung ihrer Politik. In der Kapitale des mächtigsten Empires, das die Welt je gesehen hat, sind heute alle diejenigen, die auch nur für einen moderateren Einsatz der Waffen plädieren, in der entschiedenen Minderheit. Kaum jemand spricht sich noch öffentlich gegen das Projekt der globalen militärischen Dominanz im Dienste des Empires aus.

In diesem Klima haben nicht nur die Intellektuellen der Think Tanks sondern auch die Experten der meisten in Washington angesiedelten Friedens- und Abrüstungsorganisationen zunehmend weniger gefordert, weil dies angeblich die einzige »praktische« Strategie zu sein schien. Absichtlich oder unabsichtlich entsteht durch das Ausbleiben einer breiteren, fundamentaleren Politikkritik der Eindruck, die globale militärische Vorherrschaft der USA sei akzeptabel, könnte aber billiger, effektiver und vielleicht mit weniger Risiko erreicht werden. Unfähig oder unwillig, einer alternativen Vision von menschlicher Sicherheit in den USA – und auf der Welt – eine Stimme zu verleihen, bieten die »professionalisierten« Gruppen im Bereich Rüstungskontrolle und Abrüstung wenig, dass zur Inspiration und Mobilisierung der potentiellen Unterstützer von Abrüstungsbemühungen eingesetzt werden könnte. Und schon gar nicht ist dies der Fall, wenn es um Fragen der sozialen, ökonomischen und ökologischen Wurzeln globaler Konflikte geht.

Kompromissstrategien ohne Erfolg …

Daraus resultierten seit dem Ende des Kalten Krieges etliche Kompromiss-Strategien, von denen keine viel mit Abrüstung oder Frieden zu tun hatte. Für vorgeblich »gewinnträchtige« Positionen, beispielsweise zum Umfassenden Teststoppvertrag für Kernwaffen (CTBT) oder zur Raketenabwehr, wurden von Anfang an große Konzessionen gemacht, aber auch sie konnten sich letztlich nicht durchsetzen. Der CTBT und Raketenabwehr gehörten zu den wichtigsten Abrüstungsthemen, um die sich die Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen in Washington in den 1990ern kümmerten, und dennoch hinterfragte kaum eine der Gruppen die grundsätzliche Legitimation oder den wirklichen Zweck dieser Waffen.

… beim Teststoppvertrag

In der Diskussion über den CTBT und die Zukunft der Kernwaffen stellten sich die meisten Organisationen dem »Stockpile Stewardship-Programm« der Regierung nicht entgegen. Dieses wurde dem Kongress und der Öffentlichkeit als Voraussetzung dafür verkauft, dass die »Sicherheit und Zuverlässigkeit« der Kernwaffenarsenale der USA auch ohne unterirdische Atomwaffentests garantiert werden könnte. In Wirklichkeit entpuppte sich das Programm als Antriebsmotor für die technische, ökonomische und ideologische Neukonsolidierung des Kernwaffen-Establishment, und ermöglicht somit die Neubestückung des Kernwaffenarsenals für die neuen Militärmissionen der Ära nach dem Kalten Krieg. Die Abrüstungsgruppen hielten still, weil sie daran glaubten, dass »Stockpile Stewardship« der politische Preis für die Ratifizierung des CTBT durch die USA sei. Folglich wurden weder die massive Modernisierung des Kernwaffenkomplexes noch die Legitimität von Kernwaffen in Frage gestellt. Und das schon direkt nach dem Ende des Kalten Krieges, als die Zeit für entsprechende Kritik so günstig war wie nie zuvor. Wer eine umfassende Diskussion einforderte, wurde in der Community kritisiert und marginalisiert. Und heute gibt es keinen CTBT, das Kernwaffen-Establishment hat an wirtschaftlicher und politischer Macht gewonnen, die Budgets wurden um Milliarden Dollar erhöht, und wir steuern unaufhaltsam auf die Produktion neuer Kernwaffen mit neuen Fähigkeiten zu.

… bei der Raketenabwehr

Zur Raketenabwehr gibt es zwei Argumentationslinien. Die erste und am häufigsten vertretene kritisiert die Pläne aus technischen Grünen: Die Abwehr strategischer ballistischer Raketen in der Flugphase funktioniert nicht, kostet zu viel und kann von einem einigermaßen ernstzunehmenden Gegner mit einfachen Mitteln getäuscht oder überwältigt werden. Die zweite betont, dass Raketenabwehrsysteme die Stabilität der »nuklearen Abschreckung« bedrohen – ein Argument, das implizit die Legitimität von Abschreckung billigt. Die Behauptung, dass Raketenabwehr lediglich zum Schutz von US-Territorium und –Bevölkerung vor einem überraschenden Angriff mit Kernwaffen dient, wurde kaum jemals angezweifelt. Nur wenige Kritiker wiesen bisher darauf hin, dass die USA mit der Raketenabwehr dem eigentlichen Ziel näher kommen wollen, nämlich auf jeder Ebene in jedem Krieg über »Eskalationsdominanz« zu verfügen, auch in den Kriegen, die von den Vereinigten Staaten selbst ausgehen. Raketenabwehrsysteme mit kürzerer Reichweite zum Schutz von Militärkräften und –basen der USA im Ausland fanden kaum Beachtung. Zusätzlich ermöglichte die Zuspitzung auf die Frage, ob Raketenabwehr überhaupt funktionieren wird, im Parlament den Kompromiss, auf den sich die Demokraten und die damalige Regierung festlegten: Keine Stationierung von Raketenabwehr, aber Milliarden Dollar für die weitere Forschung. Dieser »pragmatische« Ansatz schlug komplett fehl, und heute haben wir zwar keinen Raketenabwehrvertrag mehr aber Forschungsprojekte für zahlreiche Technologien einer mehrschichtigen globalen Raketenabwehr sowie ein rasant wachsendes neues Geschäftsfeld des militärisch-industriellen Komplexes, das wiederum die technologische und politische Basis für die weitere Militarisierung und höchstwahrscheinlich sogar Bewaffnung des Weltraums ist.

Professionalisierter Rüstungs- kontrolldiskurs wenig hilfreich

Diese trostlosen Aussichten verweisen auf eine weitere Konsequenz dessen, dass der professionalisierte Rüstungskontroll-Diskurs die Überlegungen und Aktionen stark einengt. So wie diese Sicht der Welt keinen Platz hat für das transformative Potential sozialer Bewegungen, hat sie auch keinen Platz für systematische Überlegungen über die Folgen die es hat, wenn ein erheblicher Teil der Gelder einer Gesellschaft in Institutionen gepumpt wird, die Waffen entwickeln, herstellen und stationieren. Es ist kein Zufall, dass sich einerseits die Abrüstungsexperten in den Vereinigten Staaten professionalisiert haben und andererseits keine Forschung und Analyse mehr stattfindet zu den Folgen des wissenschaftlich-technisch-militärisch-industriellen Komplexes, einem gängigen Thema der Friedensbewegung von den 1960ern bis zu den 1980ern. Heute gibt es nur wenig Daten zu den strukturellen Auswirkungen eines halben Jahrhunderts High-Tech-Militarismus auf die Wirtschaft und Gesellschaft des mächtigsten Staats der Erde.

Eine Haltung, die klar die Legitimität von Kernwaffen angefochten, das Verhältnis zwischen nuklearer Angriffsfähigkeit, Raketenabwehr und der Rolle von Raketenabwehr und Kernwaffen zur Unterstützung der konventionellen Streitmacht deutlich angesprochen, und sich vernehmbar gegen das Streben nach globaler militärischer Dominanz der USA nach dem Kalten Krieg gestellt hätte, wäre vielleicht auch nicht erfolgreich gewesen. Aber zumindest hätte sie einen erheblichen Beitrag geleistet zur Aufklärung der amerikanischen Bevölkerung über die wirkliche Rolle des US-Militärs und seiner verheerendsten Waffen. So hätte es eine viel bessere Möglichkeit gegeben, Menschen, die an eine gerechtere und friedlichere Welt glauben, zur Arbeit an diesen Themen zu inspirieren, sie in die Bewegung einzubinden, die entsprechenden Organisationen zu stärken und eine große, aktive Gemeinschaft für den Frieden aufzubauen. Wir hätten nebenbei etwas Neues geschaffen. Statt dessen haben wir praktisch alles verloren und stehen mit nichts da. Wir sind konfrontiert mit einem wiederauflebenden nuklear gerüsteten nationalen Sicherheitsstaat und kaum noch unabhängigen lokalen oder regionalen Institutionen oder Organisationspotentialen, um die Friedensbewegung neu zu beleben.

Geld für alternative Think-Tanks oder für Aktionen

Dennoch plädieren immer mehr einflussreiche Organisationen vom links-liberalen Ende des politischen Spektrums in den USA dafür, Methoden nachzuahmen, mit denen die Rechte bei den meisten Wahlen den Kurs bestimmt. Es wird vorgeschlagen, noch mehr Geld in den Ausbau schlagkräftiger »progressiver« Think Tanks und in gezieltere und effektivere Werbe- und Öffentlichkeitskampagnen zu stecken. Solche Aktivitäten dürfen aber nicht mit Organisation verwechselt werden, und wer glaubt, dass auf diese Art wirklich progressive und demokratische Programme vorangetrieben würden, ignoriert die grundlegenden Unterschiede zwischen progressiven Zielen und den Zielen der Geldgeber und Institutionen der Rechten. Eine soziale Bewegung lässt sich nicht mit einer Anzeigenkampagne aufbauen. Sie erfordert vielmehr echtes Engagement – von jedem. Sie kann nur mit der Qualifikation und dem Einsatz Millionen normaler Bürger getragen werden. Grundsätzlich geht es bei einer sozialen Bewegung nicht darum, eine bestimmte Botschaft zu »verkaufen«, sondern Menschen anzuleiten, dass sie selbst denken lernen, effektiv miteinander arbeiten, ihre eigenen Institutionen aufbauen und so nach und nach politische Macht gewinnen und behalten. Beim Organisieren geht es darum, Wissen zu teilen und Koalitionen zu formen, zunächst auf lokaler und regionaler Ebene. Es geht eben nicht um Manipulation und Indoktrination oder, wie manche Befürworter des neuen verwässerten Top-Down-Progressivismus uns glauben machen wollen, darum, ein attraktives liberales Markenzeichen zu entwickeln.

Werden Ressourcen der lokalen und regionalen Organisationen umgelenkt in immer noch professionelle Propagandaaktivitäten, führt dies zudem nur noch schneller zu fundamentalen Strukturverschiebungen, die sowohl die sozialen Bewegungen als auch die Demokratie untergraben. Zu den Verschiebungen gehört der Niedergang autonomer Institutionen mit menschlichen Dimensionen, in denen auch Durchschnittsmenschen eine Stimme haben und gegenseitige Unterstützung finden können, sowie der Ersatz echter Diskussionen durch immer noch ausgefeiltere Techniken zur Manipulation des menschlichen Bewusstseins.

Und zu guter Letzt ignoriert der Anspruch, dass mit Hilfe solcher Methoden die Chancen auch nur moderater Reformen in Bereichen mit Relevanz für progressive Menschen steigen, einen weiteren Unterschied zwischen dem progressiven und dem rechten Projekt. Die modernen Techniken zur Massenbeeinflussung sind extrem kostspielig. Mit wenigen Ausnahmen lehnen aber die reichsten Organisationen und Menschen in dieser Gesellschaft jegliche Initiativen ab, die wegführen würden von einer militarisierten Ökonomie und Gesellschaft hin zur einer faireren Verteilung von Reichtum im Inland oder auf globaler Ebene, hin zu ökologisch rationaleren Technologien und Formen der sozialen Organisation und zu einer demokratischen Kontrolle des Arbeitsplatzes. Sie geben für solche Ziele auch nicht ansatzweise das Geld aus, das sie bereitwillig in Kampagnen für weniger Gewerkschaften, weniger Vorschriften, »freie Märkte« (allerdings mit angemessenen staatlichen Hilfen für die Unternehmen), mehr Waffen und mehr »innere Sicherheit« zur Verfügung stellen. Sie wollen nicht Demokratie fördern, im Gegenteil, sie fürchten Demokratie. Sie sind mit einer reinen Propagandapolitik zufrieden, weil die am ehesten der Herrschaft weniger über viele gerecht wird.

Eine neue Vision

Diejenigen, die wirklich in den Machtzentren für Frieden arbeiten, und diejenigen, die breitere soziale Bewegungen mobilisieren wollen, brauchen einander. Angesichts des konzentrierten Reichtums der Verteidigungsindustrie und der Profiteure einer aggressiven, militarisierten Außenpolitik kann es im US-Kongress oder anderen Regierungsforen keinen Fortschritt geben, solange nicht große und stabile soziale Bewegungen etwas vollständig anderes einfordern. Diese Bewegungen brauchen zuverlässige Informationen darüber, was die Regierung und das Militär vorhaben, sowie fähige und aufgeschlossene Repräsentanten, die ihre Anliegen in Regierungsforen vertreten. Neues Denken und neue Visionen werden aber nicht von denen entwickelt, die auf die enge Welt in Washington fokussiert sind und sich selbst beschränken auf Optionen und Argumente, die heutzutage bei Kongressabgeordneten ankommen. Dieses ganze Gefüge schlittert schließlich seit Jahrzehnten nach rechts.

Eine neue Vision braucht eine ganz andere Art von Beziehung zwischen den entstehenden Bewegungen, die Frieden und Abrüstung mit globaler wirtschaftlicher Gleichberechtigung und ökologischer Nachhaltigkeit verknüpfen, und den Mainstream-Think Tanks und konventionell organisierten Lobbygruppen, die in diesem Land nach wie vor die »progressive« Debatte bestimmen. Dass sich trotz der unerbittlichsten Propagandaschlacht in der US-Geschichte ein überraschend breiter Graswurzel-Widerstand gegen den Irakkrieg formierte, macht Hoffnung, dass dies möglich ist.

Andrew Lichterman ist seit langem in der Friedens- und Umweltbewegung der USA aktiv. Er lebt und arbeitet in der Nähe von San Francisco in Kalifornien. Kontakt: http://www.marginalnotes.org Übersetzt von Regina Hagen

Friedensbewegung und Friedensforschung

Friedensbewegung und Friedensforschung

Ein vielschichtiges Verhältnis

von Andreas Buro

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die »Ostermärsche gegen Atomwaffen in Ost und West« sich über die ganze Bundesrepublik ausweiteten und sich später als außerparlamentarische Opposition in der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« etablierten, wurde immer wieder eine eigene deutsche Friedensforschung gefordert. Etabliert gab es diese damals noch nicht, es gab nur einzelne Forscher, die sich ausgesuchter Themen annahmen. Die Atomwaffengegner waren gezwungen, sich ihre Kenntnisse weitgehend aus ausländischer wissenschaftlicher Literatur zu holen. Bertrand Russell und Linus Pauling, beide zweifache Nobelpreisträger, spielten eine große Rolle, aber auch der kritisch recherchierende Journalismus. Beispielhaft hierfür Robert Jungk mit seinem Buch »Heller als Tausend Sonnen«. Die Friedensbewegung setzte große Hoffnungen in eine zukünftige deutsche Friedensforschung, sie erhoffte sich in ihr einen starken, militärkritischen und auf Abrüstung orientierten Partner.

Bundespräsident Heinemann war es, der sich Anfang der siebziger Jahre für eine Förderung der Friedensforschung stark machte und in der »Aufbruchstimmung« jener Zeit – dem Beginn einer neuen Ostpolitik – wurden meist in Anlehnung an Universitäten die ersten deutschen Friedensforschungsinstitute gegründet, gefördert aus Bundes- und/oder Landesmitteln sowie von staatlichen und privaten Stiftungen. Die bekanntesten: die »Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung« in Frankfurt am Main und das Hamburger »Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik«. Dazu kamen Forscher oder Forschergruppen an Universitäten und Institutionen, die an militär- und friedenspolitischen Themen arbeiteten, finanziert aus Mitteln der Universitäten oder aus Drittmitteln. Institute wie die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen und auch die Bundeswehrhochschulen nahmen sich friedenspolitischer Themen an, wobei überraschenderweise Letztere nicht selten kritischere Ansätze vertraten als die zivilen Institutionen.

Die Friedensforschung war alles andere als homogen. Sie reichte von der eher konservativen Politikberatung, die militärische Optionen durchaus einschloss, bis hin zur gewaltfreien, sozialen Verteidigung, die besonders Theo Ebert in Berlin analysierte. Es gab eine große Bandbreite, und die Ansätze und Methoden waren für die auf Abrüstung drängende Friedensbewegung nur zum Teil von Interesse.

Während des Ost-West-Konflikts befasste sich ein großer Teil der Friedensforschung mit Fragen der Rüstungskontrolle. Ihr ging es darum, die wahnsinnige Steigerung von Zerstörungspotenzialen möglichst unter Kontrolle zu bringen, so dass diese nicht »aus Versehen« gezündet und Europa, vielleicht auch die USA und die UdSSR, vernichtet hätten. Hier handelte es sich nach Einschätzung vieler Friedensbewegter um eine Forschung zur Verhinderung von nicht gewollten Zerstörungsakten, um eine kontrollierte Aufrüstung, nicht aber um eine Orientierung auf Abrüstung und Friedensaufbau. Zu diesem Bereich gehörten auch die Bedrohungsszenarien, wie sie in den Eskalationsleitern von Kahn dargestellt wurden. Hinter ihnen stand eine Forschungsfrage mit höchst praktischer Bedeutung. Es ging darum für die westliche Seite die »Eskalationsdominanz« zu sichern – also Kriegsforschung unter dem Deckmantel der Friedensforschung.

In Kontrast dazu gab es jedoch auch die systematische Kritik der Abschreckungstheorien, wie sie etwa in den Untersuchungen von Dieter Senghaas zum Ausdruck kamen. Er arbeitete den Begriff von der »organisierten Friedlosigkeit« heraus. Später gab es wichtige Anstöße für eine Strategie der Deeskalation im Ost-West-Konflikt aus dem Max-Plank-Institut in Starnberg. Dort entwickelte der ehemalige Offizier der Bundeswehr Horst Afheldt Szenarien einer Defensivstrategie. Durch sie sollte es möglich sein, die Bedrohungs- also die Schwertpotenziale zu mindern, ohne im militärischen Sinne die Verteidigungsfähigkeit zu verlieren. In einem wechselseitigen Prozess sollte so Abrüstung, also nicht nur Rüstungskontrolle, vorangetrieben werden. Afheldts Anstoß hat damals eine breite Diskussion auch in der Friedensbewegung ausgelöst. Erfolgreich war er nicht, dafür fehlte der Wille zur politischen Verständigung.

»Die Friedensforschung« zu der »die Friedensbewegung« ein bestimmtes Verhältnis entwickeln konnte, gab es nicht. Vielmehr waren es stets sehr spezifische Zugänge und Verhältnisse je nachdem, um welche Art der Friedensforschung es sich handelte. Natürlich verdichteten sich Kooperation und Auseinandersetzung zwischen Forschung und Bewegung in Zeiten starker Mobilisierung der Friedensbewegung.

Die Vielgestaltigkeit des Verhältnisses verkomplizierte sich auch dadurch, dass es nicht »die Friedensbewegung« gab, sondern nur ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze und Grundorientierungen. Ich erinnere nur an die gewaltfrei-pazifistischen Traditionen, die sich in der Friedensbewegung finden, und an den zweiten großen Traditionsstrang den Anti-Militarismus, der aus der Arbeiterbewegung und ihren Umfeldern kommt. Während die pazifistischen Kräfte sich vornehmlich an dem Ziel der Abrüstung und an gewaltfreien Strategien der Konfliktbearbeitung ausrichteten, lehnten die anti-militaristischen Kräfte den gewaltsamen Konfliktaustrag durchaus nicht vollkommen ab. Die Unterstützung des militärischen Kampfes von Befreiungsbewegungen lag in ihrem Überlegungshorizont im Sinne »des letzten Gefechts« oder »des letzten Mittels«, also als einem »Gerechten Krieg«. Daraus ergab sich nicht selten die kuriose Situation der Nähe der sozialdemokratischen und der kommunistischen Teile der Friedensbewegung, die jeweils auf ihrer Seite der Ost-West-Front-Linie eine gewisse Berechtigung zur Verteidigung sahen und deshalb der vorhin schon erwähnten Rüstungskontrollpolitik viel näher standen als die aus pazifistischen Traditionen sich nährenden Teile der Friedensbewegung. Freilich war und ist die Heterogenität innerhalb der Friedensbewegung weit größer, als die hier nur genannten beiden Traditionslinien es vermuten lassen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entstand für die Friedensbewegung eine gänzlich neue Situation. Sie musste sich aus den alten Konstellationen lösen und sich auf ganz neue Problem- und Strategiefelder einstellen. Die Stichworte lauten: Grenzen überschreitende zivile Konfliktbearbeitung; die neue unipolare Konstellation in der Weltpolitik; die Haltung zu internationalen Recht und seinen Institutionen; das Problem westlicher struktureller und militärisch gestützter Globalisierungspolitik und seiner Folgen; der Zerfall von Staaten und die verstärkte Privatisierung militärischer Gewalt; neue Formen asymmetrischer gewaltsamer Auseinandersetzungen mit ihrem auf beiden Seiten terroristischem Charakter. Ökologische und soziale Fragen gewinnen eine immer größere Bedeutung. Auch das sich verändernde Verhältnis innerhalb der Triade der hochindustrialisierten Welt, insbesondere der USA zu der EU und umgekehrt, werden immer wichtiger. Die deutsche und europäische Friedensbewegung stehen vor der großen Aufgabe, den militärischen Aufbau in der EU zur Ermöglichung eigener Angriffs- und Interventionsfähigkeit »out-of-area« zu verhindern und eine Orientierung auf eine Zivilmacht Europa, auf zivile Konfliktbearbeitung voranzutreiben und sie sollte dafür die Arbeit der Friedensforschung nutzen.

Die verschiedenen Forschungsinstitute befassen sich mit Rüstungskontrolle, Kriegsursachenforschung, ziviler Konfliktbearbeitung usw. Zum Teil bearbeiten sie eine große Bandbreite friedenspolitisch relevanter Themen, sie haben aber auch Schwerpunkte gesetzt, wie z.B. das IFSH auf Europa als Zivilmacht, die HSFK auf Demokratien und Frieden, das BICC auf Konversion, das INEF auf Global Governance und das SCHIFF auf die Zusammenarbeit in der Ostseeregion. Neue »kritische« – fast ausschließlich mit Projektgeldern arbeitende Institute und Forschungszusammenschlüsse sind entstanden, wie das Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFKG) oder der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS).

Die Friedensforschung liefert eine umfassende Expertise, die für die Friedensbewegung zugänglich ist. Neben den Veröffentlichungen der einzelnen Institute möchte ich hier als Beispiel auch das »Friedensgutachten« nennen, das gemeinsame Jahrbuch von fünf Instituten für Friedens- und Konfliktforschung. Im Jahrbuch 2003 haben das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), das Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und die Hessische Stiftung für Friedens und Konfliktforschung (HSFK) z.B. die »Frage nach der Zukunft von Kooperation oder Konfrontation in der neuen Weltordnung« in den Mittelpunkt gestellt und damit eines der wichtigsten friedenspolitischen Themen aufgegriffen: Die Ausarbeitung von Strategien zur Verschiebung der Gewichtung, weg vom militärischen Konfliktaustrag, hin zu ziviler Bearbeitung von Konflikten und Aussöhnungsprozessen.

Viele FriedensforscherInnen orientieren sich in erster Linie in Richtung Politikberatung und Politikberatung im Sinne der Friedensbewegung ist mit Sicherheit von größter Bedeutung, sie sollte aber eine engere Kooperation zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung einschließen. Eine starke Friedensbewegung gibt der Friedensforschung zusätzlich Gewicht und die Friedensbewegung ihrerseits braucht die Erkenntnisse der Friedensforschung. Sie muss sich in die Lage versetzen, aus dem großen Angebot von Forschung und Wissen, das für sie wichtige auszuwählen. Hierfür benötigt sie Forscher und Forscherinnen, die sich mit Zielen der Friedensbewegung identifizieren und die auch einmal bereit sind, Forschung im Sinne der Fragestellungen der Friedensbewegung voran zu treiben, bei gleichzeitiger kritischer Sichtung.

Das Verhältnis von Forschung und Bewegung wird dabei wie bisher durch gegenseitige Anregung und unvermeidliche Distanz gekennzeichnet sein.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Interdisziplinäre Erfahrungen in der Friedensforschung

Interdisziplinäre Erfahrungen in der Friedensforschung

von Wolfgang Liebert

Friedensforschung entwickelt sich zunehmend als interdisziplinäres Tätigkeitsfeld. Kompetenzen aus den verschiedensten Bereichen sind je nach konkret verfolgter Themenstellung notwendig für eine erfolgreiche Projektbearbeitung. Dabei spielen politische, gesellschaftswissenschaftliche, sozialpsychologische, zeitgeschichtliche, pädagogische, sozioökonomische, völkerrechtliche, naturwissenschaftliche, technische und ethische Aspekte eine wesentliche Rolle. Die Forschenden müssen eine entsprechend vielfältige Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität entwickeln. Wolfgang Liebert geht das Thema vor allem aus der Perspektive naturwissenschaftlich orientierter, interdisziplinärer Friedensforschung an.1
Häufig geht es bei der Friedensforschung um die dauerhaftere Bearbeitung von Querschnittsthemenfeldern, die kaum (oder gar nicht) mit der Verfolgung disziplinärer Fachtraditionen und daher Disziplinen unabhängig zu beschreiben sind. Die Motivation für die wissenschaftliche Arbeit und die Art und Weise der Anlage der Projekte erfolgt aus einem anderem als dem üblichen fachwissenschaftlichen Impuls. Daher macht es Sinn von einer Transdisziplinarität der Friedensforschung zu sprechen. Dementsprechend kann es auch keine disziplinär definierte Leitwissenschaft der Friedensforschung (mehr) geben.

Es mag Themenfelder und Aufgabenstellungen im Bereich naturwissenschaftlich orientierter Friedensforschung geben, die sinnvoll von Vertretern zweier (oder mehrerer) Disziplinen quasi in einer sich wechselseitig ergänzenden, additiven Anstrengung angehbar sind. Beispielsweise ist hier an eine (punktuelle) Zusammenarbeit von Natur- und Politikwissenschaftlern im Bereich der Analyse von Rüstungskontrollregimen oder von Naturwissenschaftlern und Völkerrechtlern bei der Fortentwicklung internationaler Vertragssysteme zu denken. Wechselseitige Lerneffekte der Beteiligten sind dabei möglich. Hier beginnt aber bereits die Grenzüberschreitung disziplinärer Traditionen aus einer inneren Notwendigkeit des behandelten Stoffs heraus. Die Herausforderung durch die Defizite der politischen Wirklichkeit und der fachdisziplinären Zugänge treiben zu tiefer gehenderen interdisziplinären Ansätzen. Die wissenschaftlichen Defizite liegen beispielsweise darin, dass in den Naturwissenschaften globale Zusammenhänge ausgeblendet werden oder normative Randbedingungen unthematisiert bleiben, während politikwissenschaftliche Bemühungen die naturwissenschaftlich-technischen Zusammenhänge, Notwendigkeiten oder Alternativen unberücksichtigt lassen. Die politische Wirklichkeit leidet häufig unter einem Mangel an Zusammenschau komplexer Zusammenhänge, einer ungenügenden oder ausbleibenden Identifizierung der Kernprobleme, einer Beharrung auf bekannten (augenscheinlich breit akzeptierten) Konzepten und einer Unoffenheit gegenüber neuen, stärker an die Wurzel der Probleme gehenden Lösungsansätzen – und an einem »Realismus« unter Akzeptanz der aktuellen Machtverhältnisse. Zu glauben diese Defizite könnten allein schon dadurch ausgeräumt werden, dass man Fachvertreter verschiedener Disziplinen an einen Tisch setzt, erscheint kurzatmig und auch etwas naiv, wenn man die disziplinären Traditionen, Ab- und Ausgrenzungen und Eigendynamiken ein wenig kennt.

Problemorientierte, transdisziplinär angelegte friedenswissenschaftliche Ansätze können darüber hinaus weisen. Insbesondere wenn bereits auf einem Vorlauf an Erfahrungen in interdisziplinären Forschungsbemühungen aufgebaut werden kann, die durchaus auch rein additiven Charakter haben können, besteht die Chance auf eine „Erweiterung der wissenschaftlichen Wahrnehmungsfähigkeit“2. Dies bedeutet mehr als das ehrenwerte – und allemal begrüßenswerte – Pathos des verantwortungsbewussten Naturwissenschaftlers, der aufgrund seiner Spezialkenntnisse und vertrauter Methoden Beiträge zur Lösung von Weltproblemen leisten will. Ebenso geht dies über das Zusammenwirken von Vertretern verschiedener Fachrichtungen hinaus. Die Horizonterweiterung spiegelt sich in der Genese der friedenswissenschaftlichen Tätigkeit. Dazu gehört die Auffindung der Problemstellung selbst, die Problemidentifikation, sowie die Definition konkretisierter bearbeitungsfähiger Kernprobleme, die jeweils aus einer übergeordneten und quer zu den Disziplinen liegenden Perspektive gewonnen werden.

Der interdisziplinäre oder transdisziplinäre Ansatz greift tief in Genese, Verlauf und Ergebnis entsprechender Projekte oder Projektzusammenhänge ein. Kontexte der wissenschaftlich behandelten Fragenkomplexe kommen zum frühest denkbaren Zeitpunkt in den Blick und werden dauerhaft von den Beteiligten reflektiert. Das Auffinden von Ansätzen oder Strategien zur Problemlösung mit Bezug auf die Kontexte werden von vorne herein angestrebt. Ein »mehr« gegenüber gehaltvoller disziplinärer Forschung mit entsprechender Anerkennung in der »Zunft« der Disziplin ist gewollt und ist eine der wesentlichsten Grundmotivationen für die Forschung. Andererseits können sich innerhalb eines so angelegten Projektes auch Forschungsfragen ergeben, die durchaus rein disziplinär verfolgt und als solche Beachtung finden können. In diesem Sinne können Beiträge zu »guter Disziplinarität« im Sinne Hartmut von Hentigs geleistet werden.3

Diese etwas allgemeineren Betrachtungen sollen nun anhand eines Beispiels etwas verdeutlicht werden, wobei ebenfalls eine typischerweise auftretende Vernetzungs- und Wechselwirkung zwischen naturwissenschaftlich-technischen, normativen und politischen Aspekten demonstriert werden soll.

Das Problemfeld nukleare Nichtverbreitung

Das Problemfeld nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung ist nach wie vor von hoher Brisanz und hat große Aktualität. Bei der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) hat dieser Bereich seit Jahren einen wesentlichen Stellenwert bei der Auswahl von eigenen Projekten, und es konnten reichhaltige interdisziplinäre Erfahrungen gesammelt werden. Der wesentliche allgemeine Kontext besteht in den politischen Konzeptionen mit dem Ziel der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung sowie zugehörige forschungspolitische Konzepte auf nationaler Ebene und die Versuche zu einer international vereinbarten Vorgehensweise. IANUS fokussiert dabei stärker auf die Analyse naturwissenschaftlich-technischer Faktoren für horizontale wie vertikale Proliferationsgefahren (also die Gefahr der Weiterverbreitung und Weiterentwicklung von Kernwaffen) sowie das Gelingen nuklearer Abrüstung (mit dem Ziel, diese irreversibel zu machen sowie die vollständige Abschaffung von Kernwaffen zu erreichen).

Eine weitere Differenzierung in wesentliche Problem- bzw. Arbeitsfelder kann unternommen werden, darunter:

  • Produktion und Nutzung von sowie Umgang mit waffengrädigen nuklearen Materialien: Hier können Spaltstoffe wie hochangereichertes Uran (abgekürzt HEU) oder Plutonium, aber auch andere »exotische« Transurane oder fusionsfähige Stoffe, wie Tritium betrachtet werden.
  • Nutzung und Entwicklung sensitiver nuklearer Technologien: Dabei sind Technologien zu betrachten, die in besonderer Weise die zivil-militärische Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie widerspiegeln, also insbesondere Wiederaufarbeitungstechnologien für abgebrannte Brennstoffe, mit denen Zugang zu Waffenstoffen erzeugt werden kann, oder bereits genutzte oder in Entwicklung befindliche Anreicherungstechnologien, mit denen beispielsweise HEU produziert werden kann.
  • Entwicklung fortgeschrittener nuklearer Technologien: Diese sind auf ihre Auswirkungen auf die Problematik der horizontalen und vertikalen Proliferation hin zu untersuchen. Dazu gehören beispielsweise neue Technologien, die möglicherweise verbesserte oder neuartige Zugänge zu Waffenstoffen eröffnen oder tiefere Kenntnisse über die Physik thermonuklearer Waffen ermöglichen oder durch ihre Verbreitung im zivilen Bereich besondere Proliferationsgefahren hervorrufen oder diese abschwächen. Beispiele für die drei genannten Problembereiche wären Spallationsneutronenquellen, Trägheitseinschlussfusion und neue Konzepte für große Leistungsreaktoren, wie derzeit unter dem Stichwort »Generation IV« diskutiert.
  • Entwicklungen im Bereich »Physik der Kernwaffen«: Dazu gehören die offenbar verfolgten Konzepte für verkleinerte, einsatzfähiger gemachte neue Kernwaffentypen (Stichwort »bunkerbrechende Nuklearwaffen« u. dergl.). Ebenso ist die Bedeutung von Programmen wie dem US-amerikanischen Stockpile Stewardship Programm für die Beibehaltung und Weiterentwicklung von Kernwaffen zu untersuchen sowie die Frage nach der Möglichkeit der Konstruktion einfacher Kernsprengkörper beispielsweise für terroristische Aktionen.
  • Konzeptionelle Konsequenzen in Hinblick auf internationale Vertragssysteme: Als Beispiel kann die Spannbreite bei der Diskussion um einen Fissile Material Cutoff dienen, der die Produktion von Spaltstoffen für militärische Zwecke unter Verbot stellen soll, bis hin zu einem Comprehensive Cutoff, der jegliche Produktion von nuklearen Waffenstoffen in signifikanten Mengen im militärischen wie im zivilen Bereich stoppen soll. Ein anderes Beispiel wäre die Diskussion über das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt, die Rolle des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags und der Vorschlag für eine umfassende Nuklearwaffenkonvention. Dazu gehört die Untersuchung angemessener Methoden und Konzepte der Verifikation, die für die Überwachung der Verträge geeignet erscheinen.
  • Geschichte und Wurzeln der nuklearen Proliferation: Aus der Vergangenheit können möglicherweise Lehren gezogen werden für heutige Notwendigkeiten. Dazu gehört die Analyse der ersten Atomwaffenprogramme (Manhattan Project in den USA, »Uranverein« in Deutschland), die Wege der heutigen Kernwaffenstaaten zu ihren Arsenalen, die gescheiterten Versuche und bestehenden Absichten in anderen Ländern ebenfalls in den Besitz von Kernwaffen zu gelangen.

Natürlich sind auch die Modernisierungstendenzen der Kernwaffenarsenale in den etablierten Kernwaffenstaaten, strategische Umbrüche (z.B. US Nuclear Posture Review) und die Gefahren der Weiterverbreitung von Kernwaffen (aktuell Nordkorea, Iran und terroristische Möglichkeiten) ständig im Blick zu halten. Aber im Folgenden möchte ich die exemplarische Betrachtung auf den erstgenannten Bereich beschränken.

Beispiel: Umrüstung von Forschungsreaktoren

Es gibt gute physikalische Gründe dafür, hochangereichertem Uran (HEU) neben anderen potenziellen Waffenstoffen besonderes Augenmerk zu schenken.4 Dazu gehört die relativ leichte Handhabbarkeit des Materials und das vergleichsweise einfache Kernwaffendesign, mit dem ein nuklearer Sprengkörper möglich würde. Die großen Bestände im militärischen Bereich der Kernwaffenstaaten und der unzureichende Umgang damit wären zu betrachten (physikalisch überzeugende Beseitigungsstrategien stehen zur Verfügung werden jedoch nicht oder nur schleppend umgesetzt). Aber ebenso ist die HEU-Nutzung im zivilen Bereich, die sich inzwischen auf Forschungsreaktoren beschränkt, zu thematisieren. Der weltweite HEU-Bedarf für Forschungsreaktoren liegt in der Größenordnung einer Tonne. Für einen nuklearen Sprengsatz wird Material in der Größenordnung von lediglich 10 Kilogramm benötigt. In knapp 60 Ländern laufen Forschungsreaktoren. Wenn diese mit HEU als Brennstoff betrieben werden, besteht in den Standortländern prinzipiell Zugriff auf ein Material, das als Waffenstoff verwendet werden könnte. Die damit verbundene potenzielle Dramatik darf nicht unterschätzt werden.

Aus diesem Grund sind seit 1980 Alternativen entwickelt worden, die hochdichte schwach angereicherte Brennstoffe, die nicht für Atomwaffen Verwendung finden können, für den Einsatz in Forschungsreaktoren zur Verfügung stellen. Mit den heute einsetzbaren hochdichten Konversionsbrennstoffen sind die meisten Forschungsreaktoren bereits umstellbar, so dass der HEU-Einsatz überflüssig wird. Viele Reaktoren sind bereits umgestellt; neue Reaktoren werden in der Regel unter Verzicht auf HEU ausgelegt. Es bleiben einige wenige Forschungsreaktoren mit besonders hohen Neutronenflüssen, die aber möglicherweise mit aktuell erforschten neuen Generationen von Brennstoffen konvertierbar gemacht werden können. Um einen allgemeinen Verzicht auf HEU-Nutzung im zivilen Bereich realisierbar und durchsetzungsfähig zu machen, haben diese Reaktoren eine besondere Bedeutung. Verschiedene Hochflussreaktoren in den USA und Europa sind eingehender zu betrachten, darunter auch der neue Münchner Forschungsreaktor FRM-II. Spezielle reaktorphysikalische Modellrechnungen sind notwendig, um jeweils die Frage zu klären, ob eine Umstellung auf nicht-waffentauglichen hochdichten Uranbrennstoff in der nahen Zukunft möglich werden kann.5 Und wenn ja, unter welchen Randbedingungen (u.a. was Ver- und Entsorgung und wissenschaftliche Nutzbarkeit der Reaktoren angeht) eine Brennstoffkonversion möglich wird. Dies stellt sich als ein zentraler, wissenschaftlich zu bearbeitender Kern der Problematik heraus.

So wird aus dem allgemeinen proliferationspolitischen Kontext eine universell (naturwissenschaftlich) beantwortbare Fragestellung abgeleitet: Ist der Verzicht auf waffentauglichen HEU-Brennstoff im Bereich ziviler Forschungsreaktoren möglich und machbar? Die Aufweitung der Fragestellung über den engeren Bereich der Physik hinaus ist offensichtlich und sorgt für einen veränderten Zugang in der Projektbearbeitung von Beginn an. Eine Anwendungs- und Praxisorientierung ist ebenfalls gewollt: Die Klärung der prinzipiellen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten ist nur die eine Seite der Problemstellung, hinzu kommt die Frage nach den realen Machbarkeiten unter den Randbedingungen von Forschungspolitik sowie internationaler und nationaler Politik im Bereich nuklearer Nichtverbreitung.

Von Beginn an sind normative Entscheidungen mit der Projektanlage und -durchführung berührt. Dies lässt sich bereits an der übergeordneten Zielsetzung, Beiträge zur Vermeidung der Verbreitung von Atomwaffen leisten zu wollen (was nukleare Abrüstung ausdrücklich mit einschließt), festmachen. Dass dabei auch die Wahrnehmung der Faktenlage und ihre Einschätzung eine Rolle spielen, zeigt sich bei der folgenden Entscheidung: Will man eher auf die institutionellen Maßnahmen zur Vermeidung von Proliferationsgefahren, also sog. Safeguards und andere Sicherungsmaßnahmen für HEU-Bestände und für den Umgang mit HEU setzen oder sollen weit stärker technisch-intrinsische Maßnahmen ins Spiel kommen, die eine prinzipielle Beschränkung der Möglichkeiten des Zugriffs auf den Waffenstoff HEU bewirken? Führt die Analyse der relevanten Informationen dazu, eher die zweite Position einzunehmen, wie dies in den IANUS-Projekten geschieht, so folgt daraus, die Vermeidung des Umgangs mit Waffenstoffen im zivilen Bereich als Leitlinie ernst zu nehmen (allerdings ohne die anderen Sicherungsmaßnahmen deswegen gering zu schätzen). Letztlich kristallisiert sich aus der Wertentscheidung für das Ziel einer kernwaffenfreien Welt – ohne stets virulente nukleare Proliferationsrisiken – die grundsätzliche Strategie der Vermeidung von HEU-Nutzung in zivilen Forschungsreaktoren heraus. Die normative Ausrichtung des Projekts besteht somit in der Bemühung um eine proliferationsresistente Auslegung von Forschungsreaktoren. Proliferationsresistenz soll dabei bedeuten, dass nukleare Technologien durch ihre technischen Parameter selbst robust gegen eine mögliche Nutzung für militärische Zwecke gesichert werden. Dabei muss man sich dessen bewusst bleiben, dass es eine absolute Sicherheit in diesem Bereich nicht geben kann (daher der Begriff Proliferationsresistenz in Analogie zu den bekannten Begrifflichkeiten »water resistent« und »water proof«).

Der politische Aspekt ist ebenso wenig aus der Projektbearbeitung heraus zu halten. Es geht nicht nur um die abstrakte internationale Verrechtlichung von politischen Zielsetzungen, wie sie sich beispielsweise in dem grundlegenden nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, der 1970 in Kraft getreten ist, darstellen lässt. In Reaktion auf Defizite der Vertragsvereinbarungen und der Wahrnehmung technologisch bedingter Schlupflöcher, die in der zivil-militärischen Ambivalenz nuklearer Technologien begründet sind, hat es zehn Jahre später eine internationale Konferenz der UN gegeben, die den nuklearen Brennstoffkreislauf genauer analysierte (INFCE-Konferenz). Aus deren Empfehlungen hat sich eine Tendenz herausgebildet, die als ein internationaler Norm-Bildungsprozess beschrieben werden kann, der mit Bezug auf die HEU-Problematik, den internationalen Nutzungsverzicht nahe legt und Alternativen vorschlägt. In direkter Folge entstanden in den achtziger Jahren internationale und nationale Konversionsbemühungen von Forschungsreaktoren – gerade auch in Deutschland – , die eine Umrüstung ohne Abhängigkeit von HEU-Brennstoffen zum Ziel hatten. Als dann 1993 das atomrechtliche Genehmigungsverfahren für einen neuen Forschungsreaktor in Deutschland (FRM-II), dessen Design auf Nutzung von HEU-Brennstoffen beruhte, begann, führte dies zu einem öffentlichen Engagement von Physikern und (zum Teil in Personalunion) von Friedensforschern, die eine Reflexion über Auslegungsalternativen einforderten. So hat eine zunächst distanziert wissenschaftliche Betrachtung von grundsätzlichen Proliferationsgefahren im Bereich ziviler Nukleartechnologienutzung notwendig zu einer teilnehmenden Perspektive und einer Einsicht in die Notwendigkeit zu politischem Handeln bei Wissenschaftlern geführt.

Im Falle von IANUS konnte nach dem Bonner Regierungswechsel im Jahre 1999 in einer Expertenkommission des Bundesforschungsministeriums mitgewirkt werden, die nochmals – Jahre nach Baubeginn des Münchner Reaktors – Brennstoffalternativen aufzeigte. Ebenso konnte das Bundesumweltministerium bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe der Bundesaufsicht über das Genehmigungsverfahren beraten werden. Mit Erteilen der Betriebsgenehmigung im Frühjahr 2003 besteht nun eine Umrüstungsverpflichtung für den FRM-II. Noch immer sind spannende Fragen in Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung dieser Umrüstung zu bearbeiten. Ebenso erfordern absehbare Fortschritte bei der Entwicklung neuartiger Konversionsbrennstoffe die Klärung von Umstellungsmöglichkeiten für weitere international betriebene Reaktoren.

Die oben benannte »universelle Fragestellung« drängt auf seine Beantwortung. Dabei bleiben die politischen, normativen und naturwissenschaftlich-technischen Aspekte miteinander verknüpft. Unterschiedliche Akteure versuchen verschiedenartige Gewichtungen in die Beschreibung von relevanten Tatsachen und ihren Bewertungen und daraus ableitbaren Handlungsempfehlungen einzuschreiben. Die teilnehmende Perspektive einer auf diesen Untersuchungsgegenstand bezogenen friedenswissenschaftliche Arbeit erlaubt weder die Beschränkung auf ausgesuchte Teilaspekte der Problematik, für die man eine besondere spezialisierte Expertise für sich in Anspruch nimmt, noch die rein deskriptive Haltung des distanzierten auf reine Beobachtung des Geschehens reduzierten Wissenschaftlers.

Die transdiziplinäre Perspektive hilft, als Forschungs- und Handlungsperspektive, die proliferationsresistente Gestaltung von nuklearen Technolgien herauszudestillieren. Damit tritt die friedenswissenschaftliche Bemühung auch heraus aus dem Kreis ihrer traditionelleren Themenstellungen und bewegt sich auf ein weiteres transdisziplinäres, hochaktuelles Arbeitsfeld zu: die Gestaltung unseres Umgangs mit Technik und Wissenschaft in grundlegender und praktischer Perspektive.

Mit gleichem Recht hätten andere IANUS-Projekte als Exempel für die Verdeutlichung dieser Betrachtung der friedenswissenschaftlichen Vorgehensweise herangezogen werden können oder andere Projekte innerhalb des FONAS-Projektverbundes Präventive Rüstungskontrolle6, die allesamt versuchen neue Wege der transdisziplinären, praxisbezogenen Forschung – ähnlich wie hier skizziert – zu finden.

Anmerkungen

1) W. Liebert: Naturwissenschaftliche Zugänge zur Friedensforschung, Wissenschaft und Frieden 18.Jg. 4/2000, S.19-22; J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck: Dem Missbrauch von Naturkräften entgegentreten – naturwissenschaftliche Forschung für Abrüstung und Frieden, erscheint in: U. Eckern et al. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme, Leske+Budrich, 2003.

2) Jürgen Mittelstraß: Die Häuser des Wissens. Wissenschaftstheoretische Studien: Frankfurt: Suhrkamp 1998.

3) Hartmut von Hentig: Magier oder Magister? Über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozeß. Frankfurt: Suhrkamp 1974.

4) H. Ackermann, W. Buckel, F. Fujara, W. Liebert: Zur Nutzung von hochangereichertem Uran im Forschungsreaktor FRM-II, Physikalische Blätter 55, Nr. 2, 1999, S.16-20.

5) A. Glaser: The Conversion of Research

6) FONAS und Wissenschaft und Frieden (Hrsg.): Präventive Rüstungskontrolle, Dossier Nr. 38, Wissenschaft und Frieden 19.Jg. 2001.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator und einer der Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt. Er ist zur Zeit auch Vorsitzender der Forschungsverbundes Naturwissenschaft Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS)

Friedensforschung für eine Praxis der Gerechtigkeit

Friedensforschung für eine Praxis der Gerechtigkeit

von Ulrich Ratsch

Die These, die den Titel dieses Beitrags motiviert, lautet: Die Friedenswissenschaft muss ihren Gegenstandsbereich erweitern, um auf sich verändernde politische Konstellationen und daraus erwachsende neue Fragestellungen zu reagieren. Dabei werden alte Fragestellungen nicht ersatzlos aufgegeben. Die Themen Rüstungskontrolle und Abrüstung, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Demokratisierung, Analyse akuter Krisenherde und viele andere stehen weiter auf der Agenda. Auch hat die Friedensforschung schon in der Vergangenheit den Problemen von Gerechtigkeit im nationalen und internationalen Rahmen Aufmerksamkeit gewidmet. Ich halte aber eine Gewichtsverlagerung für geboten.
Kriege werden heute vorwiegend innerstaatlich geführt (Bürgerkriege, Sezessions- und Autonomiekriege); zwischenstaatliche Kriege sind relativ selten geworden.1 Das bekannte Faktum soll ohne ausführliche Erläuterung hier nur konstatiert werden. Es hat seine Ursache in der radikalen Veränderung der Konfliktursachen. Gewaltsam ausgetragene Konflikte erwachsen heute kaum noch dem Hegemonialstreben oder territorialen Ansprüchen einzelner Staaten, sondern dem Streit um Macht zwischen Gruppen innerhalb eines Staates oder dem Autonomiestreben einer Volksgruppe oder der Absicht einer gesellschaftlichen Teilgruppe, Zugang zu Ressourcen zu erlangen. Das letzte war eines der klassischen Motive auch für das Handeln von Staaten, und auch heute ist z.B. die Kontrolle über Energiereserven und deren Transportwege ein zentrales Moment staatlicher Sicherheitspolitik.

Neue Konflikt-Konstellationen

Als Ursache gewaltsamer Konflikte tritt der Zugriff auf Ressourcen heute aber häufiger als Motiv subnational operierender Gruppen oder transnational agierender nichtstaatlicher Akteure auf. Ressourcen wirken nun als »Brandbeschleuniger« für so genannte ethnische Konflikte und für Sezessionskriege. An die Stelle berechenbarer Akteure, der Staaten, treten vergleichsweise amorphe Gruppen, deren Rationalität viel schwieriger zu fassen ist. Das Handeln staatlicher Akteure erschien so kalkulierbar, dass in den sechziger und siebziger Jahren versucht wurde, ihre Handlungsabläufe in mathematische Modelle abzubilden (spieltheoretische Modelle, Simulationstechniken), um die Genese und den Ablauf von Konflikten simulieren zu können. Schon damals war der Erfolg vergleichsweise gering. Aber noch geringer sind die Erfolgsaussichten, die Dynamik des Konfliktaustrags in Bürgerkriegen, ethnischen Spannungen und den Streitigkeiten um Ressourcen zu modellieren.

Konflikte eskalieren wegen eines Bündels von Ursachen: Wirtschaftliche und soziale Benachteiligung, ethnische Diskriminierung, Unterdrückung durch autoritäre Regime. Sie werden immer häufiger durch religiöse Fundamentalismen aufgeheizt. Entscheidend für die eskalierende Wirkung ist, dass Unterdrückung, Marginalisierung oder Diskriminierung als solche perzipiert werden. Ohne die Ungerechtigkeitserfahrung bleiben objektiv schlechte Lebensverhältnisse oft über lange Zeit ohne politische Wirkung. Armut wird als Ungerechtigkeit empfunden, wenn die Differenz zwischen den eigenen Lebensverhältnissen und denen sozial besser gestellter Menschen wahrgenommen und als Resultat vorenthaltener Chancen erkannt wird.

Zu Marginalisierung und Verelendung trägt in vielen Ländern des Südens die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bei.2 Eine der Konsequenzen sind Migrationsströme und als deren Folge Spannungen und Auseinandersetzungen. Die Umweltflüchtlinge ziehen im eigenen Land umher oder überschreiten die Grenze zu einem Nachbarstaat3. Daraus entstehen Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung, die häufig zu Unrecht als ethnische etikettiert werden.

Ungerechtigkeitserfahrung wirkt auch im Falle der Umweltursachen als Konflikt verschärfender Faktor. Zwar gibt es armutsbedingte Zerstörungen der natürlichen Lebensgrundlagen, meist liegt die Schuld aber bei externen Einflüssen: Umwidmung von Agrar-Flächen zur Exportproduktion, Ausbeutung von Wäldern für den Weltmarktbedarf an Holz oder Fleisch und anthropogene Klimaveränderungen. Nicht nur die »Alliance of small island states« (AOSIS) weist darauf hin, dass sie durch den Klimawandel bedroht sind. Mehr als 50% der registrierten »Naturkatastrophen« waren im zurückliegenden Jahr klimabedingt. Verursacher des Klimawandels sind vor allem die Staaten des Nordens und der »moderne« Sektor in den Ländern des Südens. Hauptbetroffene sind die unteren Bevölkerungsschichten im Süden. Der UNEP-Direktor Klaus Töpfer hat in diesem Zusammenhang vom Krieg des Nordens gegen den Süden gesprochen.

Die offenkundige Gleichgültigkeit des Nordens gegenüber den Opfern der »Globalisierung«, der Disparitäten des Welthandels, der genannten Umweltzerstörungen aber auch von autoritären politischen Regimen, die nicht selten vom Norden gestützt werden, verschärft die konfliktträchtige Spaltung zwischen Nord und Süd. Dabei sind Nord und Süd keine geographischen Begriffe, sondern Zuordnungen aufgrund politischer und ökonomischer Differenzen.

Die genannten Faktoren, die zu Konflikten führen können, sind nicht einfach einzelnen Staaten zuzuschreiben, es handelt sich um globale Probleme. Das trifft auch auf die Konsequenzen zu. Bürgerkriege greifen in vielen Fällen auf das Territorium benachbarter Staaten über. In den Krieg in der Republik Kongo sind unter anderem Uganda und Ruanda involviert, obwohl nicht von einem Krieg zwischen diesen Staaten gesprochen werden kann. Grenzüberschreitende legale und illegale Handelstransaktionen dienen der Finanzierung der kriegführenden Fraktionen. Von internen Auseinandersetzungen zerrüttete Staaten sind nicht in der Lage, dies wirksam zu verhindern. Die Regierungen verlieren das Machtmonopol oder gar jegliche Fähigkeit zur Durchsetzung staatlichen Handelns. Auch deshalb wird eine Theorie Internationaler Beziehungen, die als Akteure nur die Staaten mit ihren Interessen, Ansprüchen, Allianzen und Handlungsoptionen in den Blick nimmt, den heute dominierenden Konfliktszenarien nicht gerecht.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit gewaltsamer Konflikte

Die Verelendung der Menschen in Ländern des Südens ist Gegenstand der Entwicklungstheorie – aus politologischer, ökonomischer oder soziologischer Perspektive. Die Naturzerstörung wird von Teildisziplinen der naturwissenschaftlichen Ökologie, der Wirtschaftsgeographie, der Klimaforschung und anderen Spezialwissenschaften untersucht. Ich habe die Prozesse der Verelendung und Naturzerstörung als Konfliktursachen aufgeführt und aus diesem Blickwinkel der Friedensforschung zugeordnet. Die Wissenschaftler in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt) haben sich Anfang der siebziger Jahre dafür entschieden, die Analyse der sich vertiefenden Kluft zwischen Nord und Süd und der ökologischen Krise im Zusammenhang und als Teil der Friedensforschung zu sehen, und zwar nicht nur wegen ihres Beitrags zur Genese gewaltsamer Konflikte. Das dahinter stehende Motiv lässt sich knapp formulieren: Die Welt kann nicht als friedlich bezeichnet werden, solange viele Menschen unnötiges Leid erfahren.

Wenige Zahlen sollen die Brisanz dieses Problemfeldes vor Augen führen. Die KOSIMO – Datenbank des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) weist aus, dass in den gewaltsam ausgetragenen Konflikten der verschiedenen dort dokumentierten Klassen im Zeitraum von 1985 bis 1999 insgesamt zwischen 2,2 Millionen und 4,8 Millionen Opfer zu beklagen waren.4 Die Spanne der Daten entspricht der naturgemäß sehr großen Unsicherheit der verfügbaren Zahlenangaben. Gleich, ob die Wahrheit näher an den oberen oder an den unteren Grenzen des Datenbereichs liegt: Die Zahlen sind erschreckend. Ihnen lassen sich aber mindestens ebenso schreckliche Zahlen gegenüberstellen, die nicht in den Kriegs- und Konfliktdatenbanken verzeichnet sind: Noch immer sterben jährlich fünf Millionen Kinder an den Folgen von Mangelernährung, das sind im oben gewählten Zeitraum von 1985 bis 1999 ca. 75 Millionen Opfer.5 Dabei handelt es sich nicht um Opfer höherer Gewalt, von Naturkatastrophen oder anderen von Menschen nicht kontrollierbaren Einflüssen. Es sind Opfer falscher Agrarpolitik, menschlicher Umweltzerstörung, ungerechter Handelsbeziehungen und verfehlter so genannter Entwicklungspolitik.Auch Naturkatastrophen sind mit Verlusten an Menschenleben verbunden. Vulkanausbrüche und Erdbeben sind höhere Gewalt, die wir hinnehmen müssen. Die wachsende Zahl und Intensität von Katastrophen, die von anthropogenen Klimaänderungen ausgelöst werden, sind hingegen auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen, oder werden zumindest von vielen Opfern oder von Vertretern/Sprechern betroffener Bevölkerungsgruppen so wahrgenommen. Auch hierfür gibt es Zahlen: In dem betrachteten Zeitraum von 1985-1999 beträgt die Zahl dieser Opfer ca. 400.000, und zwar mit steigender Tendenz.6

Diese Fakten lassen sich pointiert zusammenfassen: Ungerechtigkeit in den Nord-Süd-Beziehungen und innerhalb einzelner Gesellschaften ist die Ursache für mindestens ebenso viele menschliche Opfer wie Kriege, Bürgerkriege, Guerillakämpfe oder Terrorismus. Das rechtfertigt, ja nötigt dazu, dass sich die Friedensforschung diesen Phänomenen widmet. Sie treten in neuen Formen und mit wechselnder Intensität auf, sind aber, ebenso wie Kriege, eine alte menschliche Erfahrung. In der FESt wurde deshalb als Gegenstand der Friedensforschung schon zu Anfang der siebziger Jahre definiert: „Frieden ist Schutz gegen innere und äußere Gewalt; Frieden ist Schutz von Not; Frieden ist Schutz der Freiheit. Diese Parameter hängen derart zusammen, dass jede politische Ordnung friedlos sein muss und Gewalt erzeugt, die einen diesen Parameter unterschlägt.“7 In einer anderen Formulierung wurde derselbe Gedanke folgendermaßen ausgedrückt: „Frieden ist eine Prozess, der darauf abzielt, Not, Gewalt und Unfreiheit zu minimieren.“

Die Änderungen der Kriegs- und Konfliktszenarien lassen diese Beschreibung des Gegenstandsbereichs der Friedensforschung heute noch zutreffender erscheinen als zu der Zeit, da sie formuliert wurde. Die Friedensforschung hat sich einige Zeit über einen erweiterten Sicherheitsbegriff gestritten und exponierte Vertreter haben sich gegen eine Verwendung eines Sicherheitsbegriffs gewandt, der z.B. »Human Security«, »Ecological Security« oder andere umfasst. Die Begründung, ein derart erweiterter Sicherheitsbegriff werde so unscharf, dass er als tragender Begriff in einer wissenschaftlichen Theorie kaum noch verwendbar wäre, ist sicher richtig, wenn man anstrebt eine »Theorie der Sicherheit« nach dem methodischen Vorbild der Naturwissenschaften zu formulieren. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieses Modell von Theorie geeignet ist, die komplexen Wechselwirkungen zu erfassen, die in der Dynamik von Konfliktabläufen eine Rolle spielen (kulturelle, sozialpsychologische, ökonomische, ökologische etc.). Hier versprechen Modellierungsverfahren, Szenariotechniken und empirisch induktive Verfahren vermutlich mehr Erfolg. Damit ist gemeint, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse in Grenzen prognostisch, auf jeden Fall aber handlungsanleitend verwendbar sein sollen. Angesichts der vielfältigen von Menschen ausgehenden Bedrohungen menschlichen Lebens und der Beeinträchtigungen menschlicher Lebenschancen darf Friedensforschung

  • sich nicht nur auf kriegerische Konflikte beschränken,
  • Konfliktabläufe nicht nur beschreiben,
  • sondern muss Ursachenanalyse zum Zweck der Prävention durchführen.

Wenn die Betonung der Konfliktprävention ernst gemeint sein soll, muss die Friedensforschung den Konfliktursachen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen und ihren Verflechtungen verstärkt Aufmerksamkeit widmen. Dies erfordert neben der beschriebenen Ausweitung des Gegenstandsfeldes verstärkte Bemühungen um interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Expertise.

Anmerkungen

1) Diese Verschiebung ist von einer Reihe von Autoren beschrieben worden. Hier nur beispielhaft: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF), Hamburg: http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/pw/Akuf/kriege_archiv.htm; Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung: Konfliktbarometeer 2001, Heidelberg: http://www.hiik.de/konfliktbarometer/index.htms; Kaldor, Mary: New and Old Wars Organized Violence in a Global Era, Cambridge, 1999. (deutsche Übersetzung: Neue Kriege, Frankfurt, 2000).

2) Zum Zusammenhang von Umweltzerstörung und Konflikten haben weltweit mehrere Gruppen gearbeitet. Beispielhaft seien nur die Arbeiten von Nils Petter Gleditsch am Peace Research Institute Oslo (PRIO) genannt, etwa: Gleditsch, Nils Petter: Environmetal Change, Security and Conflict, in: Crocker, Chester A./Hampson, Fen Osler/ Aall, Pamela. Turbulent Peace: The Challenge of Managing International Conflict, Washington D.C. 2001.

3) Entgegen der verbreiteten Befürchtung sind Ziele der Migration viel seltener im Norden des Globus zu finden als im Süden.

4) Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, http://www.hiik.de/kosimo_en.html

5) Gardner, Gary / Halwell, Brian: Underfed and Overfed, Worldwatch Paper 150, Washington D.C., 2000, S. 8.

6) Abramovitz, Janet N.: Unnatural Disasters, Worldwatch Paper 158, Washington D.C., 2001, S. 8ff.

7) Picht, Georg: Was heißt Friedensforschung?, in: Picht, Georg / Huber, Wolfgang (Hrsg.): Was heißt Friedensforschung? Stuttgart/München 1971, S. 33.

Dr. Ulrich Ratsch ist stellvertretender Direktor der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt)
Bei obigem Beitrag handelt es sich um einen leicht überarbeiteten Artikel aus Sicherheit und Frieden (S+F) 4-2002.

Friedensforschung und Geschlechterforschung1

Friedensforschung und Geschlechterforschung1

von Hanne-Margret Birckenbach

Der konstituierende Begriff der Friedensforschung ist nicht Krieg, nicht Geschichte, nicht Herrschaft, nicht Macht, sondern Frieden. Ohne Friedensbegriff, d. h. ohne theoretische Reflexion der Möglichkeit des gewaltfreien Konfliktaustrags blieb Handlungswissen der Gewaltlogik verhaftet und damit friedenspolitisch unrealistisch. FriedensforscherInnen müssen sich nicht als PazifistInnen verstehen, aber sie müssen aus professionell methodischen Gründen eine konkrete Vorstellung von Frieden entwickeln. Sie müssen natürlich mehr wissen, und daher stehen in ihren Bibliotheken auch Bücher, die sich mit »anderem« befassen. Brauchen Sie aber auch ein Verständnis der Kategorie Geschlecht?
In der Friedensforschung dominiert die Auffassung, auf Wissen aus der Geschlechterforschung am ehesten verzichten zu können. Geschlechterforscherinnen halten dagegen, ohne Beachtung der Kategorie »Geschlecht« werde man vom Frieden gar nichts verstehen. Zwischen diesen Polen bewegen sich diejenigen WissenschaftlerInnen, die argumentieren, es sei vielleicht nicht zwingend, aber doch methodisch nützlich, die Geschlechterforschung zum Kreis derjenigen Disziplinen zu rechnen, mit deren Hilfe sich etwas über die Bedingungen von Friedens entdecken lässt.

Anfänge

Die Bemühungen Friedensforschung und Geschlechterforschung in diesem Sinne zu verbinden, sind in Deutschland jetzt etwa 25 Jahre alt. Die Impulse kamen aus der transnationalen Wissenschaftskooperation. Am Rande der 8. Zweijahrestagung der International Peace Research Association (IPRA) 1979 in Königstein im Taunus, trafen sich einige – teilweise hoch angesehene – weibliche Mitglieder dieser Vereinigung außerhalb des Tagungsprogramms – fast heimlich – und berieten über die Geschlechterdimension ihrer wissenschaftlichen und politischen Erfahrungen. Von diesem Treffen nehmen die weltweiten Bemühungen, Friedensforschung und Geschlechterforschung zu verbinden, ihren Ausgang.

Es dauerte jedoch fast zehn Jahre, bis in Deutschland die Friedensforschungseinrichtungen überhaupt wahrnahmen, dass Frauen begonnen hatten, sich untereinander zu verständigen, dass sie als Forscherinnen anerkannt werden wollten und von der Friedensforschung verlangten, über die Zusammenhänge von Frieden und Geschlecht nachzudenken. Dass an den Universitäten im In- und Ausland die Geschlechterforschung in immer mehr Disziplinen Fuß gefasst hatte, beeindruckte die deutschen Kollegen zunächst ebenso wenig wie die Tatsache, dass in den 80er Jahren – vermittelt über zahlreiche Frauen- und Friedensinitiativen – in der Gesellschaft ein Interesse an den geschlechterbezogenen Fragen des Friedens artikuliert wurde, das es auch jüngeren nicht-etablierten Wissenschaftlerinnen ermöglichte, vergleichsweise unbeaufsichtigt Vorträge zu halten, Texte zu publizieren und Interviews zu geben. Als diese dann die eigene Zunft mit der These konfrontierten, dass die Geschlechterfragen auch für die Friedensforschung relevant seien, begann für diese eine spannungsgeladene Zeit.

Einige Kollegen unterstützten dieses Anliegen, einige äußerten sich vehement dagegen, andere schüttelten verständnislos den Kopf. Auch die Friedensforscherinnen waren sich keineswegs einig. Überall schienen Gefahren zu lauern: Würde das Profil der Friedensforschung nicht leiden, wenn randständige oder gar sachfremde, nur dem Zeitgeist gehorchende Fragen der Geschlechtergleichheit behandelt würden? Würden der feministische Aufbruch die Friedensforschung nicht schwächen? Wäre nicht das der Aufklärung verpflichtete Selbstverständnis der Friedensforschung durch feministische Kritik in Frage gestellt? Würde es der persönlichen akademischen Zukunft schaden, wenn frau mit dem »Frauenlager« identifiziert würde? Liefe es nicht dem akademischen Diskurs zuwider, wenn Friedensforscherinnen sich unter sich, d.h. ohne männliche Begleitung treffen wollten? Wie immer eingebildet diese Gefahren auch gewesen sein mögen, diese und ähnliche Bedenken prägten die Diskussion und spiegelten die große Unsicherheit gegenüber den Forderungen nach einer feministischen Friedensforschung. Im Nachhinein werden die meisten sagen, dass die auf allen Seiten zu beobachtenden Kränkungen doch so einfach hätten vermieden werden können, wenn Strukturen und Vermittlungskompetenzen vorhanden gewesen wären, die geholfen hätten, den Enthusiasmus gerade der jüngeren Friedensforscherinnen aufzugreifen, und wenn mehr Kollegen die Souveränität besessen hätten, die Initiativen der Frauen schlicht willkommen zu heißen, die kämpferischen Dispute zu entschärfen und den sachlichen Kern der Kontroversen in den Mittelpunkt zu rücken.

In der Sache ging es darum, ob die geringe Sichtbarkeit von Frauen in der Friedensforschung für diese überhaupt ein Problem und Geschlechterfragen für den Forschungsgegenstand Frieden relevant sein könnten. Die meisten Anstrengungen der Wissenschaftlerinnen galten daher dem Versuch, diese Relevanz innerwissenschaftlich nachzuweisen. Sie zeigten, wie die Wahl von Forschungsthemen und -ansätze durch Weltsichten und Erfahrungsbezüge geprägt werden, in der geschlechtsspezifische Leiden am Unfrieden nicht thematisiert und das Handeln von Frauen weder in friedensfördernden noch in seinen friedensgefährdenden Aspekten aufgedeckt werden kann. Sie kritisierten die Verbannung feministischer Friedensforschung in die Nische ohne Aussicht auf eine ertragsfördernde systematische Dichte, Zugang zu Forschungsmitteln und Stellen. Und sie warnten, die Ignoranz gegenüber Geschlechterfragen werde nicht nur die Defizite in der bisherigen Friedensforschung verstetigen, sondern auch zu einer Versimplifizierung feministischer Positionen, insgesamt also zu einem Verlust an Rationalität und Realität führen. Friedensforschung sei keinesfalls eine männliche Disziplin, aber eben doch auf einem Auge blind und daher veränderungsbedürftig. Als Kollegen zugestanden, eine solche Veränderungen sei zwar wünschenswert aber nicht möglich, wurde ein programmatisches Forschungskonzept formuliert, mit dem diese Skepsis entkräftet werden sollte. Darin wurde gefordert:

  • die impliziten Geschlechterannahmen in der Friedensforschung zu reflektieren,
  • in den konkreten Forschungsvorhaben Theoreme aus der Geschlechterforschung (insbesondere Mittäterschaft) aufzugreifen,
  • Frauen als Handelnde in friedenspolitischen Prozessen sichtbar zu machen und die Möglichkeit eigenständiger Forschung von Frauen zu institutionalisieren.

Niederlagen und Erfolge

Einige Wissenschaftlerinnen hatten Anfang der 90er Jahre die Idee, dieses Konzept könnte am besten durch ein eigenes Frauenfriedensforschungsinstitut erprobt werden. Angeregt durch die von der Berliner Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie veranstaltete KSZE der Frauen im November 1990, entwickelten sie ein Forschungsprogramm mit dem Titel »Frauen-Friedensforschung im Themenfeld Europäischer Friedenspolitik mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Bildung«. Sie erhielten befürwortende Gutachten und von der VW-Stiftung auch die Zusage für die notwendigen finanziellen Mittel von 1,5 Mio. DM für eine Versuchszeit von drei Jahren. Schließlich scheiterte die Umsetzung daran, dass eine Vergabebedingung nicht gegeben war. Es wurde in Niedersachsen keine Professorin mit dem Schwerpunkt Friedensforschung gefunden, die das Projekt an einer Universität verankern und inhaltlich verantworten konnte. Auch andere Projekte scheiterten. Qualifizierte Frauen, die sich besonders engagiert hatten, fanden keine weitere Anstellung oder unterlagen bei Bewerbungen gegenüber männlichen Kollegen mit den besseren Beziehungen. Das Scheitern sprach sich schnell herum, der Klatsch nahm zu, auch unter den Friedensforscherinnen wurde die Solidarität brüchig und machte Konkurrenzverhalten Platz.

Die kleine Gruppe der verbliebenen aktiven Frauen war häufig überfordert, den Anforderungen nach Interviews, Artikeln nachzukommen und es gelang immer weniger, Erfolge zu erkennen und sichtbar zu machen. Trotz aller Niederlagen ist es dennoch gelungen, auch in Deutschland Strukturen und Institutionen der Friedensforschung für Anliegen feministischer Forschungsansätze zu öffnen.

  • Gender ist in der Friedens- und Konfliktforschung heute keine Tabukategorie mehr. Friedensforscherinnen werden beachtet, gefördert sowie in die Gremien gewählt oder berufen. Sie referieren bei den einschlägigen Tagungen, publizieren und forschen nicht nur, aber auch über geschlechterbezogene Fragen. Nicht dass alle KollegInnen wissen, was mit der Kategorie Geschlecht gemeint ist, oder überzeugt davon sind, dass sie in der Friedensforschung zu Erkenntnisgewinnen führen kann. Aber die Chancen feministische Perspektiven zu thematisieren, sind gewachsen. Kaum jemand würde heute öffentlich kundtun, dass die Kategorie Geschlecht nicht in die Friedensforschung gehört und Frauen schon deshalb, weil sie zahlenmäßig in den Regierungen und Armeen nicht ins Gewicht fallen, als handelnde Gruppe nicht weiter relevant seien. Forderungen, Wissenschaftlerinnen Zugänge zu Forschungsmitteln, Vortrags- und Publikationschancen sowie Ehrenämtern zu gewähren, werden zwar gelegentlich als lästig empfunden – aber es ist auch in der Friedensforschung schwerer geworden, sich solcher Last zu entziehen.

Trotz notorischer Zeitnot gehört ein kurzes Treffen der Frauen bei jeder Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) zum offiziellen Programm. Frauen erfahren auch Anerkennung. Der Christiane-Rajewsky-Nachwuchspreis der AFK, der seit 1991 jährlich an jüngere WissenschaftlerInnen oder Initiativen, die einen herausragenden Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung geleistet haben, vergeben wird, ging überwiegend an junge Wissenschaftlerinnen. Eine Monitoring-Instanz ist institutionalisiert: Die AFK hat seit 1994 eine Frauenbeauftragte. Laut Satzung soll sie die Arbeitsbedingungen und die wissenschaftliche Tätigkeit von weiblichen Mitgliedern der AFK auf dem Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung bekannt machen, bei Konflikten vermitteln und Möglichkeiten und Initiativen zur Frauenförderung in der Friedensforschung unterstützen. Alle zwei Jahre berichtet sie der Mitgliederversammlung der AFK darüber, wie es um die Realisierung dieser Ziele steht.

Auch eine Ermutigungsinstanz hat sich etablieren können. Es ist das im Rahmen der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn (AFB) koordinierte Netzwerk Friedensforscherinnen. Frauen bestimmen heute mit über die Vergabe von Forschungsgeldern bei der Deutschen Friedensstiftung (DFS) ebenso wie bei der privaten Berghof-Stiftung für Konfliktforschung. Es gibt kleinere Fortschritte bei der Besetzung von Leitungspositionen und Dauerstellen mit Wissenschaftlerinnen. Die Unterrepräsentation von Frauen und genderspezifische Forschungsfragen sind als Defizit anerkannt (vgl. die Empfehlungen der Struktur- und Findungskommission der DSF). Eine Juniorprofessur für Friedensforschung an der Universität Frankfurt wurde mit einer Wissenschaftlerin besetzt. Während im Ausland einige Institute (z.B. die Schweizer Friedensstiftung) Geschlechterfragen fest in ihrem Friedensforschungsprogramm etabliert haben, sind in Deutschland immerhin Absichtsbekundungen formuliert worden.

  • Auch auf der inhaltlichen Eben sind deutliche Veränderungen erkennbar. Anders als in den 80er Jahren gibt es heute über Forschungsideen und -pläne hinaus im In- und Ausland eine beachtliche Reihe theoretischer und empirischer Forschungsbefunde. Diese beziehen sich auf wissenschaftstheoretische Fragen und vor allem auf Aspekte der Normenbildung im internationalen System, auf die Geschlechterbeziehungen als Macht- und Kriegsressource in bewaffneten Konflikten, auf geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Kriegs- und Machtpolitik sowie auf Differenzierungen der tatsächlichen und möglichen Frauenrollen in ethnopolitischen Konflikten. Dabei geht es nicht nur um Frauen als Opfer, Kämpferinnen, Täterinnen, Mittäterinnen und Mitarbeiterinnen in Kriegsökonomien, sondern auch um das Handeln von Friedensaktivistinnen, sei es, dass diese ein Minimum von Sicherheit für Frauen organisieren, den Bereich der sozialen Sicherheit aufrechterhalten, Trauma- und Versöhnungsarbeit leisten, Frauenorganisationen bilden, die Überlebenshilfe organisieren oder in rechtlichen Fragen behilflich sind und teilweise auch Friedensverhandlungen führen.
  • Viele Untersuchungen beziehen sich auf den in der Friedensforschung innovativsten und am stärksten nachgefragten Themenbereich der konstruktiven Konfliktbearbeitung und so kann die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung seit 2003 im Internet nicht nur über Tagungen und Dokumente, sondern auch über neue Literatur zum Thema Gender & Konflikt informieren. Denn anders als in den Anfangszeiten erhalten die Bemühungen, Geschlechterfragen des Friedens zu thematisieren, heute Rückhalt aus der politischen Praxis, vor allem aus den sicherheits- und entwicklungspolitischen internationalen Organisationen. Hier erfahren DiplomatInnen täglich wie die Eskalation von Konflikten sich auch in einer Verrohung der Geschlechterbeziehungen niederschlägt und umgekehrt die Geschlechterbeziehungen auch die Erfolgschancen von Demokratisierungsstrategien beeinträchtigen oder fördern. Auch ist vielfach belegt, dass sich die Geschlechterbeziehungen innerhalb von internationalen Friedensmissionen günstig oder ungünstig auf deren Erfolgschancen auswirken. Schließlich erkennen die sicherheits- und entwicklungspolitischen Organisationen zunehmend ihren Bedarf an friedenswissenschaftlich ausgebildeten und gender-bewusstem Personal.

Vor allem aber sind die internationalen Organisationen heute durch internationale Standards gebunden, im Interesse der Glaubwürdigkeit und Legitimität internationaler Konfliktbearbeitung die Mitwirkung von Frauen an ihrer Arbeit zu erweitern sowie die Bedürfnisse von Frauen in den Krisengebieten zu beachten. So hat das OSZE Sekretariat 1999 das Amt einer »Gender Adviser« eingerichtet, mit dem erreicht werden soll, dass die Organisation gender-mainstreaming betreibt, das Bewusstsein für Genderfragen weckt und die Karrierechancen für Diplomatinnen in der Organisation erhöht. Auch das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte hat eine »Gender Unit« geschaffen, die sich mit der Entwicklung entsprechender Projekte und ihre Einfädelung in die Feldarbeit der Missionen und der Ausbildung des Personals im Hinblick auf Geschlechterfragen befasst. Ähnlich verlangt die Resolution 1325 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, Frauen stärker in nationale, regionale und internationale Institutionen und Mechanismen zur Verhütung, Bewältigung und Belegung von Konflikten einzubeziehen und Frauen als Sonderbeauftragte, Militärbeobachterinnen, Mitglieder der Zivilpolizei, Menschenrechts- und humanitäres Personal zu entsenden. Auch wird der Generalsekretär der VN darin aufgefordert eine Studie über die Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen, Mädchen, die Rolle von Frauen bei der Friedenskonsolidierung und die Geschlechterdimension von Friedensprozessen und der Konfliktbeilegung zu veranlassen und dem Sicherheitsrat Bericht über die Studie sowie die Fortschritte bei der Umsetzung der Integration der Geschlechterperspektive in alle Friedenssicherungsmissionen zu berichten.

Perspektiven

So sehr sich die Ausgangsbedingungen verbessert haben, so wenig kann der Stand der Forschung über Frieden und Geschlecht überzeugen. Diese Bewertung gilt insbesondere für die deutsche Forschungslandschaft, die mit der Entwicklung in den angelsächsischen und nordischen Länden nicht mitgehalten hat. Wie könnte wieder Anschluss an die internationale Entwicklung gefunden werden?

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, wie eng Fortschritte in der Friedensforschung an Fortschritte in der friedenspolitischen Praxis gebunden sind. Das gilt für die Entstehung der Friedensforschung im Zuge der Entspannungspolitik ebenso wie für die Neuorientierung der Friedensforschung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Diese war mit einem umfassenden politischen Neuanfang verbunden war. Seine Merkmale waren die Einleitung einer konstruktiven Verbindung von Friedens- und Menschenrechtspolitik, die Aufwertung der internationalen Organisationen in Europa und auf globaler Ebene, Bemühungen zur Humanisierung des Sicherheitsbegriffs und die Öffnung des Arkanbereichs Sicherheitspolitik »nach unten« zu den Nicht-Regierungs-Organisationen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Parallel dazu liefen die internationale Kampagnen zur Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechte sowie die Politik des gender-mainstreaming. Folgt man der Definition, die der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen 1997 von den Zielen dieser Politik gegeben hat, dann geht es darum, die Anliegen von Frauen wie Männern in allen politischen und sozialen Bereichen und auf allen Entscheidungsebenen zur Geltung zu bringen, so dass Frauen und Männer gleichermaßen davon Nutzen haben und Ungleichheit nicht verlängert wird. Es geht um eine doppelte Zielsetzung: Geschlechtergleichheit und eine Transformation von Politikinhalten und Politikmethoden. Es geht also nicht nur darum, vorhandenen Politikprogrammen eine Frauenkomponente hinzuzufügen, Spezialprogramme für eine verwundbare Gruppe aufzulegen oder die Partizipation von Frauen auf allen Ebenen zu erhöhen, sondern einen Wandel in den Zielen, Mitteln, und Institutionen von Politik einzuleiten.

Mit diesem politische Aufbruch in den 90er Jahren waren auch für die Entwicklung der Friedensforschung und deren Öffnung für Geschlechterfragen glückliche Umstände geschaffen. Inzwischen ist jedoch eine Trendwende sowohl in der Sicherheitspolitik wie auch im gender-mainstreaming-Ansatz der Frauenpolitik zu beobachten. Diese Wende setzte lange vor dem 11. September 2001 ein und erfasste keineswegs nur die Politik der USA, sondern unter anderem auch die deutsche Politik. „Wir befinden uns in einer widersprüchlichen Situation“, hieß es in einem Telefax, das Feministinnen und Pazifistinnen aus Belgrad im Januar 1993 an Frauengruppen im Ausland schickten, als die Diskussionen über Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina eine ungewöhnliche Welle der Empörung auslösten. „Auf der einen Seite ist die Vergewaltigung in Kriegszeiten zum ersten Mal in der Geschichte auf höchster internationaler Ebene zum Thema geworden; gleichzeitig ist die Motivation derjenigen, die an dieser Diskussion beteiligt sind, keineswegs der Schutz der Rechte und das Wohlbefinden der Frauen, sondern ihre Funktionalisierung für Zwecke der Kriegspropaganda und der Intensivierung ethnischen und nationalistischen Hasses. Das Leiden von Frauen wird zur Legitimation weiterer militärischer Eskalation benutzt.“ Das war eine sehr frühe wenig beachte Warnung vor der Doppelbewegung, die heute immer deutlicher bewusst wird: Remilitarisierung der Sicherheitspolitik, in der die zivile Konfliktbearbeitung zum Appendix wird, auf der einen Seite und Zurückdrängung des transformatorischen Gehalts von gender-mainstreaming durch Instrumentalisierung von geschlechtsspezifisch aufbereiteten Menschenrechtsfragen auf der anderen Seite. Wie diese Doppelbewegung wieder zurückgedrängt werden und gender-mainstreaming mit peace-mainstreaming verbunden werden kann, müsste heute zu den Kernfragen der Friedensforschung gehören. So kann es heute auch nicht mehr darum gehen, immer erneut rechtfertigend zu begründen, warum auch die Geschlechterdimension des Friedens erforscht werden und die Zahl der Friedensforscherinnen in den Instituten wachsen muss. Vielmehr muss vor allem die Verbindung von Friedens- und Geschlechterforschung in konkreten Projekten so fundiert werden, dass die Ergebnisse Aufschluss darüber geben, was im Interesse der Friedensförderung geschehen kann. Zu den wesentlichen Desiderata gehören die folgenden Aspekte.

  • Die wissenschaftliche Literatur zu »gender and peace« besteht überwiegend aus verstreuten Essays, Arbeitspapieren und Einzelarbeiten, die zwar unter Frauen diskutiert werden, aber von Kollegen wenig in dem Sinne beachtet werden, dass sie auch deren Arbeiten anregen. Auch bestärkt diese Isolation vermutlich geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen und Wahrnehmungsmuster in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft. Vor allem fehlen theoretisch und empirisch fundierte Monographien, systematische Forschungs- und Findungsberichte sowie Einführungstexte, die zusammenfassen, was man über die Geschlechteraspekte der Friedensthematik heute bereits wissen kann, professionell wissen muss und welche Schlüsse sich daraus für die Friedensforschung und Friedenspraxis ziehen lassen.
  • Die Erfahrungen internationaler Organisationen mit dem gender-mainstreaming sind kaum und vor allem nicht systematisch ausgewertet. Nur wenig ist über die Versuche bekannt, in der Praxis die Analyse aktueller Konflikten mit der Analyse von Geschlechterverhältnissen zu kombinieren. Auch die Erfahrung von Praktikern, dass gender-mainstreaming in der Konfliktbearbeitung ebenso unerwünschte Folgen für die Konfliktbearbeitung nach sich ziehen kann, wie die Ignoranz gegenüber Fraueninteressen, ist wissenschaftlich nicht aufgearbeitet. Ferner ist unbekannt, wie sich der Charakter der sicherheits- und entwicklungspolitischen Organisationen durch das gender-mainstreaming verändert. Verlieren sie damit möglicherweise an machtpolitischem Gewicht? Wandeln sich Organisationen wie UNO und OSZE von gewichtigen Organisationen kollektiver Sicherheit zu weniger gewichtigen Dienstleistungsakteuren, zeichnet sich sogar ihre »Hausfrauisierung« ab?
  • Feministische Wissenschaftlerinnen haben bislang – nicht anders als ihre Kollegen – mit Priorität über kriegerische und nur wenig über friedliche Entwicklungen gearbeitet. Das bedeutet, dass wir am wenigsten über das wissen, was Friedensforscherinnen am ehesten interessieren müsste, nämlich das tatsächliche und potenzielle Handeln von Frauen in Situationen, in denen es gelingen könnte, eine Gewaltentwicklung noch abzuwenden.

Anmerkungen

1) Der Text basiert auf einem Vortrag beim Interdisziplinären Kolloquium »PazifistInnen / Pazifismus. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung« am 9. und 10. Mai 2003. Veranstalter waren die Heinrich Böll Stiftung, deren Feministisches Institut und das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung.

Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach, Jean-Monnet-Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft