Frieden und Friedensforschung

Frieden und Friedensforschung

Das Verfassungsgebot und seine Wissenschaft

von Dieter S. Lutz

Aus Anlass der Eröffnung des Stiftungssitzes der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) in Osnabrück, nahm der Vorsitzende des Stiftungsrates, Dieter S. Lutz, Stellung zur grundsätzlichen Bedeutung der Friedensforschung. Er bilanzierte die Arbeit des ersten Jahres der DSF und bedankte sich bei den Unterstützern der Stiftung, allen voran Bundespräsident Johannes Rau und Forschungsministerin Edelgard Bulmahn. Wir dokumentieren im Folgenden die ersten beiden Teile der Rede.
Seit vielen Wochen und Monaten gehört es zunehmend zu meiner Aufgabe als Friedensforscher, nicht zum Thema Frieden, sondern aus aktuellen Anlässen zum Thema Krieg sprechen zu müssen und immer öfter zu immer neuen Gewaltakten und/oder Fehlentscheidungen Vorträge und Reden zu halten.

Verfassungsgebot Friedenspolitik

Aus dieser Aufgabe ist mittlerweile eine sich wiederholende Pflicht geworden – und ich bedaure es sagen zu müssen: Eine zunehmend unerträgliche und mich oftmals selbst zutiefst deprimierende Pflicht. Gewalt und Krieg – so das Empfinden – sind »normal« geworden.

Diesem Empfinden muss widerstanden, ja es muss bekämpft werden. Richtig ist zwar, was der vormalige Bundespräsident Herzog bereits 1996 sagte: „Der Krieg, der in der Geschichte der Menschheit immer ein Unglück war, ist in den vergangenen Jahrzehnten, wenn ich so sagen darf, ein immer größeres Unglück geworden.“1

Gerade aber weil Herzog recht hat und gerade weil die Gefahr besteht, dass „Krieg ein immer größeres Unglück“ wird, dürfen Krieg und Gewalt nicht als normal hingenommen werden. Kriege sind weder natur- noch gottgegeben. Sie müssen als gerade nicht normal bekämpft, das heißt vorbeugend verhütet werden.

Normal, meine Damen und Herren, kommt von Norm. Die höchste Norm der Bundesrepublik Deutschland – sei es mit Blick auf die Politik ihrer Staatsorgane, sei es mit Blick auf die Handlungen eines jeden einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin aber ist das Grundgesetz. Dies gilt auch für die Wissenschaften und ihre Träger (Universitäten, Stiftungen, Institute, Forscher/innen, Lehrende) – und das trifft erst recht – wie das Studium der Verfassung zeigt – auf die Friedensforschung zu.

In dieser unserer Verfassung – dem Grundgesetz – vom 23. Mai 1949 eingeschlossen findet sich eine ganze Anzahl bemerkenswerter Normen. Sie formen in ihrer Gesamtheit ein verfassungsrechtliches Friedensgebot, das weltweit wohl einmalig ist. Seine Regelungen sollten der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Willen des Parlamentarischen Rates in bewusster Abkehr von der kriegerischen Vergangenheit des Deutschen Reiches einen – wie es der Abgeordnete der FDP und spätere Bundespräsident Heuss ausdrückte – „exzeptionellen Charakter“ verleihen und einen wertgebundenen demokratischen und friedlichen Staat konstituieren.2

Ich meine: Wir sollten stolz sein auf diese Normen ebenso wie auf unsere »Normalität« als Ausfluss eben dieser Normen.

Neben den vielfältigen Grundrechten gehören zu diesen Normen die Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 9 Abs. 2, Art. 24 Abs. 1, 2 und 3, Art. 25 sowie Art. 26 Abs. 1 und 2 GG. Mit diesen Regelungen wollte der Parlamentarische Rat 1948/49 den bewussten und nachdrücklichen Neuanfang: Der Friedenswille des deutschen Volkes sollte in eindeutiger Abkehr von einem System, das selbst vor Angriffskriegen, Massenmorden und Versklavungen nicht zurückgeschreckt war, zum unabänderlichen Leitgedanken und Wesensmerkmal des Grundgesetzes erhoben werden. Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg!

Nach dem Willen des Parlamentarischen Rates sollten an der von der Verfassung getroffenen Wertentscheidung für Frieden zukünftig sowohl alle anderen Normen des Grundgesetzes gemessen werden – auch des später eingeführten Wehrverfassungsteils – als auch und gerade ihre Umsetzung in Politik. Deutsche Politik sollte Friedenspolitik sein. Zwar lässt das Grundgesetz auch Rüstungspolitik und militärische Sicherheitspolitik zu. Die Präferenz der Verfassung war und ist aber eindeutig: Sie wollte nach 1949 die Chance zum Neuanfang; sie wollte und will Frieden und Sicherheit aktiv und vorrangig auf nichtmilitärischer Basis durch die Stärkung des Rechts und durch gleichberechtigte internationale Kooperation.

Der Wille des Parlamentarischen Rates, Frieden zum unabänderlichen Leitgedanken und Wesensmerkmal der Verfassung zu erheben, wird ganz besonders deutlich in Artikel 26 Absatz 1 GG. Dort heißt es: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

Wie weit Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG reicht, beantwortet die Norm bei exakter wörtlicher Auslegung selbst: Verboten ist nicht nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern jede beabsichtigte Handlung, die auch nur „geeignet“ ist, einen Angriffskrieg „vorzubereiten“. Die verbotene Friedensstörung selbst braucht also noch nicht eingetreten zu sein, der Angriffskrieg noch nicht begonnen zu haben. Nach Art. 26 Abs. 1 GG genügt bereits die bloße »Eignung«…

Damit aber noch nicht genug: Friedensstörende Handlungen sind ausdrücklich verfassungswidrig. Was verfassungswidrig ist, steht außerhalb der Verfassung. Wenn aber alles, was den Frieden stört, außerhalb der Verfassung steht und ihr entgegengesetzt ist, so muss die Ordnung des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland vom Frieden her bestimmt sein. Sie muss als ein oberstes Bekenntnis das Friedensgebot in sich tragen. Der Grundwert »Frieden« des Grundgesetzes ist somit eine elementare Grundentscheidung für die gesamte Verfassung, welche die ganze Rechtsordnung überlagert bzw. der die einzelnen Verfassungsnormen untergeordnet sind. Diese Bindung an die Grundprinzipien der Verfassung gilt nicht nur für den Verfassungsinterpreten, sondern auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber. Das Friedensgebot ist zweifelsfrei unantastbar. Frieden ist Norm auf Dauer.

Ergo: Deutschland war in diesem Sinne »normal« vor der Wiedervereinigung und ist es in diesem Sinne auch nach der Wiedervereinigung. Die gegenwärtig in Politik, Wissenschaft und Medien immer wieder benutzte Redewendung, Deutschland müsse nunmehr endlich normal werden, entbehrt insofern ihrer Grundlage…

Gerne wäre ich noch auf die anderen Regelungen des verfassungsrechtlichen Friedensgebotes, darunter insbesondere auch auf den Auftrag der Präambel des Grundgesetzes „dem Frieden zu dienen“, eingegangen. Eine Schlussfolgerung sei mir aber noch erlaubt: Wenn es richtig ist, dass Frieden und mit ihm das Friedensgebot unantastbare Wertentscheidungen und Leitzielbestimmungen des Grundgesetzes sind, so besitzt die Friedensforschung auch unabhängig von der allgemeinen Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG einen eigenen Verfassungsrang. Nach über 50 Jahren wird es Zeit, diesen positiv zu bestimmen und die hieraus resultierenden Konsequenzen und möglichen Schlussfolgerungen breit zu diskutieren. Zur Illustration: Warum nimmt die Bundesregierung alljährlich das Gutachten der so genannten »Fünf Weisen«, also ein Gutachten von Ökonomen entgegen (und finanziert es auch), nicht aber das Friedensgutachten der fünf führenden Friedensforschungseinrichtungen in Deutschland? Warum gibt es noch immer keinen friedens- und sicherheitspolitischen Expertenrat (Friedensrat) im Bundeskanzleramt? Warum hat die Friedensforschung keinen oder kaum Einfluss auf den Schulunterricht?

In der Tat: Diese und ähnliche Fragen und Überlegungen sind es, die unter dem Vorzeichen der »Normalität«“ diskutiert werden müssen. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) wäre ein geeigneter Ort hierfür. Anders als vergleichbare oder ähnliche Einrichtungen ist diese Stiftung bewusst auf die Norm Frieden ausgerichtet. Ich darf dies so deutlich sagen, zum einen, weil ich maßgeblich Satzung und Stiftungsnamen mitgestalten durfte, zum anderen, weil ich doch hoffe, als langjähriger Leiter eines erfolgreich arbeitenden Institutes für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sowie als Begründer des Baudissin-Fellowship-Programms für Offiziere unverdächtig zu sein, was die Notwendigkeit angeht, auch Konfliktforschung und sicherheitspolitische, ja selbst militärpolitische Forschung zu fördern.

Mit diesem Plädoyer an die Friedenswissenschaft, die eigenen normativen und auch verfassungsrechtlichen Grundlagen aufzuarbeiten und in ihren Konsequenzen breit zu diskutieren, lassen Sie mich nunmehr zum zweiten Teil kommen, der Zwischenbilanz der Aktivitäten der DSF nach einem Jahr.

Bilanz – ein Jahr DSF

Am 27. April 2001 trat der Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) zu seiner konstituierenden Sitzung im historischen Friedenssaal des Rathauses der Stadt Osnabrück zusammen. Stiftungsratsmitglieder der mit einem Stiftungskapital von DM 50 Millionen ausgestatteten DSF sind acht Friedensforscherinnen und Friedensforscher, drei Abgeordnete des Deutschen Bundestages sowie vier Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung…

Mit der Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung wurde nach über zweijähriger Vorbereitungszeit die in der Koalitionsvereinbarung vereinbarte Wiederaufnahme der „finanziellen Förderung der Friedensforschung und der Vernetzung bestehender Initiativen“ umgesetzt. Ziel und Zweck der Deutschen Stiftung Friedensforschung ist es, die Friedensforschung in Deutschland dauerhaft zu stärken und gleichzeitig zu ihrer politischen und finanziellen Unabhängigkeit beizutragen. Ihren Stiftungszweck verwirklicht sie u.a. durch die Förderung von friedenswissenschaftlichen Forschungsvorhaben sowie durch die Förderung des friedenswissenschaftlichen Nachwuchses.

Bereits auf seiner konstituierenden Sitzung beschloss der Stiftungsrat als erste Fördermaßnahme im Grundsatz ein umfassendes Nachwuchsförderungsprogramm. Der Stiftungsrat hofft, mit dem sehr detaillierten Programm Formen der nachhaltigen Stärkung und Förderung der Friedensforschung gefunden zu haben, die Dynamik über den Tag hinaus entwickeln. Das Konzept setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Positiv beschieden wurden Initiativen zur Förderung eines geistes- und sozialwissenschaftlichen Hauptfachstudienganges »Friedens- und Konfliktforschung« an einer deutschen Hochschule, ferner Initiativen zur Förderung eines interdisziplinären und praxisorientierten Postgraduiertenstudienganges »Friedensforschung und Sicherheitspolitik«. Drittens wurde ein Doktorandenstipendienprogramm und viertens schließlich ein Postdoktorandenprogramm beschlossen. Strittig blieb vorläufig der fünfte Vorschlag, die Einrichtung einer Stiftungsprofessur »Friedensforschung und Naturwissenschaften«.

Bei seiner Entscheidung folgte der Stiftungsrat im Wesentlichen einer umfangreichen Vorlage des Gründungsvorstandes. Die Mitglieder des Gründungsvorstandes – Egon Bahr, Christiane Lammers und ich – gingen in dieser Vorlage in Anlehnung an eine Situations- und Defizitanalyse der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) davon aus, dass gegenwärtig in Deutschland in weiten Bereichen ein erheblicher Mangel an qualifiziertem wissenschaftlichem Nachwuchs herrscht (»Der Doktorandenmarkt ist leergefegt«). Dies galt nach unserer Meinung – angesichts der starken Beschneidung der Finanzmittel in den vergangenen Jahren nicht verwunderlich – auch und gerade für die Friedensforschung. Der Gründungsvorstand der DSF empfahl deshalb nachdrücklich, für einen überschaubaren Zeitraum die Nachwuchsförderung zur Priorität der Stiftung zu erheben.

Dieser Empfehlung folgend hat der Stiftungsrat in den vergangenen Monaten – nach vorausgegangenen öffentlichen Ausschreibungen – die Etablierung von drei Doktorandenbetreuungssystemen in Hamburg, Frankfurt und Marburg beschlossen. Genehmigt wurden u.a. für einen Zeitraum von vier Jahren vier mal zwei, insgesamt also 24 Doktorandenstipendien. Beschlossen wurde ferner ein umfangreiches Stipendienprogramm für den interdisziplinären Postgraduiertenstudiengang »Friedensforschung und Sicherheitspolitik«, der von der Universität Hamburg mit einem Master-Grad zertifiziert wird. Dieser Studiengang wird von rund einem Dutzend wissenschaftlicher Einrichtungen getragen, seine Förderung dient also gleichzeitig immer auch der synergetischen Vernetzung der Friedensforschung in Deutschland. Genehmigt wurden für einen Zeitraum von fünf Jahren bis zu 15 Stipendien jährlich.

Öffentlich ausgeschrieben wurde mittlerweile auch das Vorhaben zur Förderung eines geistes- und sozialwissenschaftlichen Hauptfachstudienganges Friedensforschung. Unsere Vermutung war, dass sich drei bis vier Universitäten bewerben werden. Tatsächlich beworben haben sich erfreulicher weise acht Universitäten. Strittig geblieben war auf der konstituierenden Sitzung des Stiftungsrates – wie bereits erwähnt – der Vorschlag zur Einrichtung einer Stiftungsprofessur »Friedensforschung und Naturwissenschaften«. Auch hier hat sich der Stiftungsrat mittlerweile zu einem positiven Votum entschlossen. Auf der letzten Stiftungsratssitzung vor 14 Tagen wurde entschieden, eine öffentliche Ausschreibung vorzubereiten. Vorausgegangen war ein Symposion mit Anbietern und Nachfragern aus Wissenschaft und Praxis, die ein eindeutiges Bild über die Notwendigkeit der Einrichtung einer solchen Stiftungsprofessur, ja sogar von mehreren solcher Stellen in Deutschland zeichneten.

Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass die DSF in den wenigen Monaten ihres Bestehens allein mit ihrem Nachwuchsförderungsprogramm ein erhebliches Arbeitspensum vorgelegt hat. Bei dieser Einschätzung habe ich die vielen Grundlagenarbeiten, wie sie die Neugründung einer Stiftung mit sich bringt, zum Beispiel die Erstellung von Geschäftsordnung, Vergaberichtlinien, Formularen usw., noch gar nicht einmal berücksichtigt. Darüber hinaus meine ich, dass die DSF bereits heute, nur ein Jahr nach ihrer Gründung, bereits beginnt, strukturbildend zu wirken. Überlegungen an verschiedenen Universitäten, zum Beispiel entsprechende Studiengänge gegebenenfalls auch ohne Förderung einzurichten, sprechen für diese Aussage.

Aber mehr noch: Die Stiftung war in den vergangenen Monaten nicht nur im Bereich der Nachwuchsförderung aktiv. Sie hat mittlerweile auch zwei Runden der Forschungsförderung im engeren Sinne hinter sich.

Anträge an die DSF können zwei mal im Jahr gestellt werden. Im Jahr 2001 waren Antragstermine der 15. August und der 15. Dezember. Künftig wird der Sommertermin der 15. Juni sein.

Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 41 Anträge mit einem Gesamtvolumen von 4,932 Mill. € an die DSF gestellt. Davon wurden 15 Anträge mit einem Volumen von 1,580 Mill. € positiv beschieden. Hinzu kamen 25 Anträge über sog. Kleinprojekte mit einem Gesamtvolumen von 219.000 €. Von diesen wurden 19 Anträge mit einem Volumen von 125.000 € positiv beschieden. Insgesamt hat die DSF also bis April 2002 von 66 Anträgen mit einem Umfang von 5,142 Mill. € 34 Anträge mit einem Volumen von 1,705 Mill. € genehmigt. Die Entscheidung über die Anträge erfolgte im Übrigen auf der Grundlage von mindestens zwei externen Gutachten, manchmal sogar auf der Basis von drei oder vier Gutachten.

Die inhaltlichen Schwerpunkte der genehmigten Projekte lagen bei Fragen der Rüstungskontrolle, der Konfliktprävention und -bearbeitung, ferner des Völkerrechts und bei Gender-Aspekten. Regional bezog sich die Mehrzahl der Anträge auf Europa, insbesondere den Balkan. Unter den Vorhaben finden sich eine Großkonferenz und acht Tagungen sowie im Rahmen der Durchführung der Forschungsprojekte 19 weitere Tagungen, Workshops und Lernwerkstätten. Gefördert wurden schließlich im Rahmen der Kleinprojekte acht Publikationen…

Mit der DSF besitzen Wissenschaft und Politik in Deutschland erstmals ein »Instrument«, Friedensforschung und friedenswissenschaftlichen Nachwuchs in konzentrierter Weise zu fördern. Allerdings ist das Stiftungskapital der DSF – gegenwärtig – noch immer sehr begrenzt.

Anmerkungen

1) Herzog, Roman: Demokratie als Friedensstrategie. Reden und Beiträge des Bundespräsidenten, herausgegeben von Dieter S. Lutz, Baden-Baden 1997, S. 184.

2) Vgl. dazu: Lutz, Dieter S.: Krieg und Frieden als Rechtsfrage im Parlamentarischen Rat 1948/49, Baden-Baden 1982.

Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz ist Direktor des Hamburger Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik (IFSH).

Friedens- und Konfliktforschung politisieren

Friedens- und Konfliktforschung politisieren

von Peter Strutynski

„Bemerkenswert“ fand es sicher nicht nur der Kasseler Friedensforscher Peter Strutynski, „dass im Programm der AFK-Jahrestagung kein einziges Referat überschrieben war mit dem Titel: »Der 11. September und die Friedensforschung« oder »Die Folgen des 11. September für die Friedenswissenschaft« oder etwas Derartigem“. Für ihn zeugt das „Festhalten an dem Generalthema der Tagung »Macht Europa Frieden?« von einer akademischen Abgeklärtheit“, die notwendig zu sein scheint, „um tagespolitischen Aufgeregtheiten zu trotzen und sich nicht den Medien und der herrschenden Politik (…) zu unterwerfen.“ Gleichzeitig warf er aber die Frage auf nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik und wies darauf hin, dass sich die Friedenswissenschaft seit ihrer Etablierung zu Beginn der 70er Jahre explizit politisch verstanden habe, „als politischer Faktor, der auf staatliche Akteure mittels wissenschaftlicher Expertise und gesellschaftlicher Bewegung Druck auszuüben versuchte.“ In einem zweiten Teil seines Referates (den wir hier dokumentieren) setze er sich dann mit dem Selbstverständnis der Friedenswissenschaftler/innen heute auseinander.
Das letzte Jahrzehnt, insbesondere die Beendigung des Ost-West-Konflikts und damit das Ende einer ganz besonderen weltpolitischen Konstellation, hat die Zunft der Friedensforschung gründlich durcheinander gerüttelt. Der Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen – es hat ihn gegeben, auch wenn vielleicht die neuen Paradigmen noch nicht verfügbar, geschweige denn allgemein akzeptiert sind – fällt zusammen mit einem sichtbaren Generationswechsel der wissenschaftlichen Akteure. Jüngere Fachvertreter zeichnen sich manchmal durch ein sehr viel pragmatischeres Herangehen etwa an Fragen des Völkerrechts aus. In Jahrzehnten gereifte Überzeugungen in Sachen Gewaltverbot, souveräne Gleichheit aller Staaten, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit von Staaten (alles Grundsätze nach Artikel 2 der UNO-Charta) verlieren an Bedeutung gegenüber der Betonung weltgesellschaftlicher Prinzipien wie die universellen Menschenrechte, deren Durchsetzung nicht mehr an die Grenzen eines Staates gebunden sein soll. Dieses Rütteln an den Grundfesten des Völkerrechts findet durchaus seine Entsprechung in der Praxis der Staaten sowie überraschenderweise auch der Vereinten Nationen selbst.

Norman Paech und Gerhard Stuby (2001, S. 553 ff) haben anhand der Karriere des Begriffs der »humanitären Intervention« in verschiedenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats in den 90er Jahren gezeigt, dass sich die Vereinten Nationen vom zweiten Golfkrieg über Somalia und Haiti bis zur NATO-Intervention in Jugoslawien auf einer abschüssigen Linie befinden, an deren Ende dereinst das strikte Gewaltverbot zu existieren aufgehört haben wird. Nicht nur von der Bundesregierung (bei ihrem Antrag zur Beteiligung am US-Krieg »Enduring Freedom«), sondern auch von vielen Völkerrechtlern werden die UN-SR-Resolutionen 1368 und 1373 (2001) zu den Terroranschlägen des 11. September als Kriegsermächtigung gegen Afghanistan gewertet – eine gewagte Interpretation, die aber, sollte sie Schule machen, zur weiteren Aushöhlung des Völkerrechts führen wird.

So wie der Kalte Krieg den friedenswissenschaftlichen Diskurs und die Haltung der daran Beteiligten geprägt hat, wird auch die neue politische Realität der post-bipolaren Ära nicht ohne Wirkung bleiben. Friedensforscher/innen stellen sich auf unterschiedliche Weise auf die neuen Gegebenheiten ein. Ich möchte dies an drei kurzen Beispielen erläutern.

Zur FR-Diskussion über den Brief von Lutz/Mutz an den Deutschen Bundestag

Stefanie Christmann analysierte in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (FR, 24.04.01), dass die Bundestagsdebatten vor und während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien von einer „Realitätsverweigerung“ vieler Abgeordneter gekennzeichnet gewesen seien. Am 16. Oktober 1998 habe der Bundestag im „scheinbar virtuellen Raum“ vor allem darin gewetteifert, „sich gegenseitig guten demokratischen Stil zu bescheinigen“. Der Gedanke an den militärischen Ernstfall sei von den meisten Abgeordneten – zumal nach dem Verhandlungsergebnis zwischen Holbrooke und Milosevic – „weit von sich“ geschoben worden. Und die Debatten während des Krieges waren von Bildern bestimmt: dokumentarischen Bildern von endlosen Flüchtlingsströmen an der Grenze zu Makedonien und imaginären Bildern von „Deportationen“, „Massakern“, „KZs“ und „bestialischen Tötungen von Frauen, Kindern und Föten“. Die wenigen Kriegsgegner, die überhaupt Rederecht erhielten, wurden wie die außerparlamentarische Friedensbewegung der Kollaboration mit Milosevic bezichtigt; Gregor Gysi musste sich von Außenminister Fischer sogar als „Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus“ beschimpfen lassen. Gerade weil in einer solch emotionalisierten Atmosphäre keine rationale Diskussion gedeihen konnte, wäre eine Aufarbeitung der Informations- und Desinformationspolitik der Bundesregierung bzw. der NATO aus der historischen Distanz und unter Berücksichtigung aller bis dahin bekannt gewordenen »dirty secrets« dringend nötig gewesen.

Dies war für die Hamburger Friedensforscher Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz auch der Grund für einen Offenen Brief, den sie am 2. Jahrestag des Kosovo-Kriegs an die Bundestagsabgeordneten schickten (FR, 24.03.2001). Darin forderten sie

  • die Durchführung eines Bundestags-Hearings zur Aufarbeitung des Krieges,
  • die Einsetzung einer Kommission des Rechtsausschusses des Bundestags, an deren Ende eine umfassende rechtliche und rechtsethische Würdigung des NATO-Kriegs stehen könnte, und
  • dass mit Unterstützung der Medien von Seiten des Bundestages, aber auch der Bundesregierung eine Serie öffentlicher Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wird, in denen Lehren aus dem Krieg gezogen werden sollten.

Auf diese vergleichsweise moderaten Vorschläge antwortete wenig später der SPD-Abgeordnete Gernot Erler, in seiner Fraktion zuständig für Internationale Politik. Seine Zurückweisung des Briefs der Friedensforscher unterschied sich kaum von der Polemik, die seinerzeit im Bundestag gegen die Kriegsgegner betrieben worden war. Den Friedensforschern wurde ihre wissenschaftliche Seriosität abgesprochen, ihnen wurde vorgeworfen, sich nachträglich in den Dienst einer gezielten „Kampagne“ gegen den Krieg und gegen die Bundesregierung zu stellen, mit „fragwürdigen“ Mitteln und mit „Tricks“ zu arbeiten, ihnen wurde „hartnäckige Ignoranz“ bescheinigt und am Ende wurde insbesondere noch einmal der Verschlag von Lutz/Mutz für ein Bundestags-Hearing zurückgewiesen, „in denen Sie Ihren Hang zu öffentlichen Tribunalen austoben könnten“. (Erler 2001)

Der Briefwechsel – wir haben die ganze Debatte auf der Homepage des Kasseler Friedensratschlags dokumentiert (http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/fr-debatte.html) – verdeutlicht die abgrundtiefe Kluft, die zwischen der kriegs- und interventionskritischen Friedensforschung und der herrschenden Politik besteht. Wenn es um Krieg oder Frieden und wenn es um die moralische Rechtfertigung von Kriegen geht, hört die Gemütlichkeit der dafür Verantwortlichen auf.

Zur Pazifismus-Diskussion

Dies lässt sich auch an der so genannten Pazifismus-Debatte zeigen, die der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ludger Volmer vor kurzem losgetreten hat. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Auseinandersetzung um Volmers Thesen durchaus Gewinn bringend für den Selbstverständigungsprozess der Friedensforschung sein kann. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass es sich hier nicht um eine rein ethische Diskussion handelt, sondern dass es um unterschiedliche Politikentwürfe für die Gestaltung der internationalen Beziehungen der Zukunft geht. Volmer relativiert den Pazifismus-Begriff bis zur unbegrenzten Vieldeutigkeit, indem er jeder möglichen historischen Situation einen spezifischen Pazifismus-Inhalt unterschiebt. Da gab es den „politischen Pazifismus der frühen Sozialisten“, den Ohne-Mich-Pazifismus der Nachkriegszeit, den antiimperialistischen Pazifismus der Vietnam-Generation, den „Nuklear-Pazifismus“ der 80er Jahre und es gab den OSZE- und EU-Pazifismus der 90er Jahre. Alle waren sie unterschiedlich motiviert, alle hatten andere soziale und politische Träger und Adressaten und alle hatten für ihre Zeit ihre Berechtigung. Aber eben nur für ihre Zeit. Denn gemeinsam ist diesen vielen historischen Pazifismen nach Auffassung Volmers, dass keiner von ihnen eine Antwort auf die heutigen Bedrohungen bereit hält.

Heute müsse ein neuer Pazifismus zum Tragen kommen. Den nennt Volmer den „politischen Pazifismus“. Er definiert ihn folgendermaßen: „Einsatz für das Primat der Politik und die Unterordnung militärischer Schritte unter politische Strategien, für die zentrale Rolle der Vereinten Nationen, die Geltung des humanitären Kriegsvölkerrechts und die Verhältnismäßigkeit der Mittel, für humanitäre Hilfe und Menschenrechte, für Auswärtige Kulturpolitik und den Dialog der Kulturen, für Entwicklungshilfe und Institutionenbildung, für global governance und eine internationale Strukturpolitik, die auf globale Gerechtigkeit zielt.“

In dieser Anhäufung von Begriffen aus dem Vokabular der Friedens- und Konfliktforschung verschwinden die »militärischen Schritte« zu einem unbedeutenden Rest; sie werden zu einer fast vernachlässigbaren Größe. Vergleicht man indessen die realen Aufwendungen, die für die UNO, für humanitäre Hilfe, für auswärtige Kulturpolitik (Wie viele Goethe-Institute sind in der Ära Fischer aus Geldmangel schon geschlossen worden?), für Entwicklungshilfe oder für »global governance« ausgegeben werden, mit den Mitteln, die in Rüstung, Militär und Krieg gesteckt werden, so drehen sich die Größenverhältnisse geradezu um. Auch kann schwerlich vom Krieg als »ultima ratio« gesprochen werden, wenn man sieht, wie die Bundesregierung bemüht ist, fast jede sich bietende Gelegenheit zur Intervention beim Schopf zu ergreifen. Das fast schon peinliche Andienen von Bundeswehreinheiten für den US-Krieg in und um Afghanistan im Oktober und November letzten Jahres war nicht gerade eine Meisterleistung beim Kampf um die „Prima Ratio, die zivilen Mittel der Krisenprävention“, die Volmer für sein Konzept des politischen Pazifismus reklamiert.

Und Ludger Volmer bemüht noch andere Versatzstücke der friedenswissenschaftlichen Diskussion. Das nimmt auch nicht Wunder, kennt er sich in dem Laden doch ganz gut aus! „Politischer Pazifismus“ – ich übersetze: militärischer Interventionismus – trage zur »Globalisierung« der Sicherheitspolitik bei und würde somit nur nachvollziehen, was „in Wirtschaft und Umweltfragen längst unser Bewusstsein bestimmt.“ Beim „Kampf gegen den Terror“ – ich übersetze wieder: beim Krieg in Afghanistan – habe die internationale Staatengemeinschaft, „legitimiert durch die Vereinten Nationen“, „ansatzweise im Sinne einer Weltinnenpolitik gehandelt“. Und dann fragt er in seiner himmelschreienden Unaufdringlichkeit: „Doch war es nicht Weltinnenpolitik, was Pazifisten wollten?“ – Nun ist die Friedensforschung nicht dafür verantwortlich, dass eloquente Politiker sich ihrer Begriffe bedienen und sie dabei bis zur Unkenntlichkeit umdeuten. Wir sollten uns aber schon die Frage stellen, ob bestimmte Begriffe – ich nenne neben der »Weltinnenpolitik« die »Zivilgesellschaft« und das »global governance« – von uns auch wirklich genügend durchdacht und konkretisiert wurden, sodass sie einem Zugriff von der falschen Seite besser standhalten.

Harald Müller, der Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, hat in der Debatte um die Volmer-Thesen inhaltlich dessen Position eingenommen. Er sei kein Pazifist und teile hinsichtlich des militärischen Eingreifens in Afghanistan die „Bewertung von Staatsminister Volmer“ – auch Müller vermeidet den Ausdruck »Krieg« (Müller 2002). In seiner Argumentation allerdings werden überwiegend Bedenken gegen Militärinterventionen geäußert. Insbesondere stellt er fest, dass der vermeintliche „Nexus zwischen Demokratie und Frieden“ die Tendenz habe sich aufzulösen. Denn einmal werde die Kriegsschwelle der Demokratien dadurch gesenkt, dass der Universalismus der Menschenrechte ein „mächtiger Feindbildproduzent“ geworden sei. Zum Zweiten neige die moderne Kriegführung zu ihrer perfekten Inszenierung; die Medien wirkten durch die Personalisierung der Gegnerschaft am Entwurf eines „wirkungskräftigen Feindbilds“ mit. Und zum Dritten würden die Parlamente durch die Exekutiven systematisch in „Entscheidungszwangslagen“ gebracht, sodass eine unabhängige Prüfung des Regierungshandelns kaum noch möglich sei. Da dies so sei, komme der „pazifistischen Kritik“ heute eine umso größere Bedeutung zu: Sie „zwingt die Befürworter der humanitären Intervention dazu, die Messlatte sehr hoch zu legen, bevor sie die Gewaltanwendung befürworten.“ Nur wenn man böswillig ist, könnte man gegen Müllers Position einwenden: Da wird der Pazifist als Pflichtverteidiger in einem letztlich aussichtslosen Verfahren gebraucht, als advocatus pacis sozusagen, der die Kriegsbefürworter nicht vom Krieg abhalten soll und kann, sie aber zwingt, die Begründung für den Krieg »wasserdicht« zu machen. Übrig bleibt die auch vom Pazifisten verlangte Akzeptanz des gesprochenen Urteils, im Zweifelsfall also die Entscheidung für eine »demokratische Intervention«. (In dem Bericht des AFK-Vorstands wird der Begriff des »demokratischen Interventionismus« gebraucht, zwar in Anführungsstrichen, aber ohne erkenntliche Distanzierung. Ich vermag in diesem Begriff keine Verbesserung gegenüber dem »humanitären Interventionismus« zu erblicken. In beiden Fällen beißt sich das positiv besetzte Adjektiv mit dem pejorativen Klang des Substantivs.)

Zur Diskussion um Expertenräte

In den letzten Jahren sind wiederholt Vorschläge gemacht worden, die den offenkundigen Defiziten der parlamentarischen Demokratie in Sachen Partizipation beikommen wollen. Dabei gibt es zwei Richtungen: Die einen wollen mehr Partizipation bei der politischen Willensbildung durch eine Ausweitung von Elementen der unmittelbaren Demokratie, etwa durch die Einführung von Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid auf Bundesebene. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, halte aber diesen plebiszitären Ansatz für bedenkenswert und für eine Demokratie eigentlich auch für längst überfällig.

Der andere Weg ist verschlungener und meiner Meinung nach kritischer zu bewerten, obwohl auch er auf den ersten Blick sympathisch ist. Ich meine die Forderung nach der Einrichtung einer Art »Dritter Kammer«, die seit geraumer Zeit von Mohssen Massarat vorgetragen wird (vgl. z.B. Massarat 2000). Ausgangspunkt für sein Konzept ist die gesellschaftskritische Diagnose, dass die repräsentativen »Elitedemokratien« für die Lösung der Gegenwartsprobleme nicht nur überfordert seien, sondern systematisch selbst immer neue Probleme hervorbrächten. Dies liege u.a. daran, dass der im Parlamentarismus des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte Zwang zum Kompromiss zwar gut gewesen sei bei Fragen der Wohlfahrtsverteilung, bei existenziellen Entscheidungen mit langfristigen Folgewirkungen sich aber als untauglich erweise. Wenn sich z.B. die Nutzung der Atomenergie als Irrweg herausgestellt hat, sei es unsinnig einen Kompromiss dergestalt einzugehen, dass man nun weniger Atomenergie produziert. Massarat nennt dies das »Kompromissdilemma«. Ein zweites Strukturdefizit moderner Demokratien liege darin, dass der klassische Politiker – vom Parteitagsdelegierten bis zum Parlamentsabgeordneten – die Folgen seiner Entscheidungen in zahlreichen komplexen Politikfeldern gar nicht mehr nachvollziehen könne. Da er dennoch entscheiden müsse – dafür sei er schließlich gewählt – entscheide er vorwiegend nach Loyalitätsgesichtspunkten. Dies liefere ihn unweigerlich an die »Expertokratie« aus und entwerte somit sein demokratisches Mandat, nach Massarat das »Komplexitätsdilemma«. Drittens schließlich habe die Elitedemokratie keine überzeugenden Lösungskonzepte zur Überwindung der globalen Gegenwartsprobleme wie Armut, Umweltzerstörung, Krieg und Massenarbeitslosigkeit. Die nationalstaatliche Demokratie werde mit diesem »Nachhaltigkeitsdilemma« nicht fertig.

Einen Ausweg aus diesen drei Dilemmata sieht Massarat nur in einer Stärkung der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen. Sie seien die »Dritte Kraft« und neues »Subjekt« zukunftsfähiger Reformen. Um diesen Bewegungen einen angemessenen Artikulationsrahmen und erweiterte Partizipationschancen einzuräumen, sollten themenspezifische »Dritte Kammern« eingerichtet werden, die sich – „an der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen etablierten Institutionen (…) und der Zivilgesellschaft neben dem Parlament und dem Bundesrat“ – um „wichtige gesellschaftliche Politikfelder“ kümmern sollen. Die Kammern – für jedes Politikfeld sollte eine eigene Kammer bestehen – sollen ähnlich wie der Bundesrat über „Einspruchs- und Interventionsoptionen“ verfügen.

Dieter S. Lutz hat sich ebenfalls für eine »Dritte Kammer« ausgesprochen (Lutz 2002). Er nennt sie »Zukunftsrat« und stellt sich darunter ein Expertenparlament vor, das neben dem »Generalistenparlament« existieren solle. „Unabhängige und renommierte Experten“ müssten seiner Ansicht nach „mit den Hoheitsrechten für existenzielle Menschheitsfragen“ ausgestattet werden, auf Bundesebene und auf der Ebene der 16 Bundesländer.

So überzeugend bei Lutz und Massarat die Diagnose der Gebrechen der Patientin »parlamentarische Demokratie« ausfällt, so fraglich ist deren Therapie. Ein Expertenrat, der sich weit gehend aus hochkarätigen Wissenschaftlern und einer Anzahl NGO-Vertreter zusammensetzt, garantiert noch lange keine wirklich zukunftsfähigen Entscheidungen. Darf man denn davon ausgehen, dass sich die »Experten« in ihren Empfehlungen immer für das »Richtige«, also für ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und weltweite Gerechtigkeit entscheiden? Warum sollte bei den Wahlen zu den Zukunftsräten etwas anderes heraus kommen als bei den Wahlen zu den Parlamenten? – Ein wenig kommt es mir vor, als würde hier der Versuch gemacht, aus lauter verständlichem Frust über Rot-Grün hinter deren Rücken doch noch zum Ziel zu kommen. Das wird nicht funktionieren, weil Parlament und Exekutive ihre Entscheidungsmacht nicht aus der Hand geben werden. Wer die Politik auf den höchsten Ebenen verändern will, braucht keine neuen Gremien, sondern eine neue Politik. Und die muss von unten wachsen und von neuen und alten sozialen und politischen Bewegungen getragen werden. Umso besser für die Bewegungen, wenn sich in ihnen die viel beschworenen Experten ebenfalls engagieren. Pierre Bourdieu verlangt von den Wissenschaftlern, dass sie „an der kollektiven Erfindung der kollektiven Strukturen eines erfinderischen Geistes“ arbeiten, „dem eine neue soziale Bewegung entspringen kann. Das heißt, sie müssen neue Inhalte aufzeigen, neue Ziele formulieren und die neuen Mittel für internationale Aktionen entwickeln.“ (Bourdieu 2002)

Empfehlungen

Ob als Wissenschaftler, die sich der Friedensforschung verschrieben haben, oder als Staatsbürger, die sich in der Friedensbewegung engagieren: Wir kommen nicht daran vorbei, an der Veränderung von Bewusstseins-, Verhaltens- und Machtstrukturen arbeiten zu müssen. Für die AFK und für das Verhältnis von AFK zur Friedensbewegung – das ich mir gern als ein Binnenverhältnis denke – könnte das neben dem bereits Gesagten Folgendes bedeuten:

  • Ich wünsche mir häufiger politische Stellungnahmen der AFK zu außen- und sicherheitspolitischen Fehlentwicklungen. Je aktueller bzw. frühzeitiger solche Positionen formuliert und in Kreisen der »Zunft« sowie der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, desto besser. Der Vorstand der AFK braucht sich dann keine allzu großen Sorgen um die Befindlichkeiten der Mitglieder zu machen, wenn er sich dabei auf den vermutlich großen Bereich konzentriert, in dem unter den Mitgliedern Konsens besteht. Kontroverse Positionen können ruhig auch benannt werden. Sie dürfen allerdings das Hauptanliegen der Stellungnahme nicht verwässern.
  • Die AFK bzw. ihre Mitglieder sollten von sich aus den Kontakt zur Friedensbewegung suchen und herstellen und sich als Gesprächspartner anbieten. Friedensforscher haben der Friedensbewegung viele Informationen, Daten und analytische Einsichten voraus; die gilt es unters Volk zu bringen – das gilt übrigens vor allem auch für jene Wissenschaftler, welche die Friedensbewegung aus politischen Gründen mit einer gewissen Reserviertheit betrachten: Gerade wenn man sich – wie Harald Müller – über „pazifistischen Starrsinn“ ärgert, müsste man doch interessiert sein, den Starrsinn mit fundierten Informationen zu erschüttern. Und der Friedensbewegung schadet es überhaupt nicht, wenn sie mit differenzierten und abweichenden Positionen konfrontiert wird.
  • Der engere Kontakt zur Friedensbewegung könnte auch den einen oder die andere Wissenschaftlerin dazu veranlassen, über die Art der Präsentation ihrer Forschungsergebnisse nachzudenken. Ich beobachte einen ungebrochenen Hang zur Geheimsprache, zur Abstraktion und zur Verliebtheit in originelle, aber oftmals unwesentliche Theorievarianten. Sprache kann auch Mauern errichten, die den Wissenschaftler von der Gesellschaft trennen. Lassen wir zum Schluss noch einmal Pierre Bourdieu zu Wort kommen: „Es ist ein absolut gültiger Grundsatz, etwas, was man für eine Entdeckung hält, zuerst der Kritik der Kollegen auszusetzen, aber warum sollte das kollektiv erworbene und kollektiv überprüfte Wissen ihnen allein vorbehalten bleiben?“

Literatur

Pierre Bourdieu (2002): Für eine engagierte Wissenschaft. In: Le Monde diplomatique, Februar 2002, S. 3

Gernot Erler (2001): Antwort auf den Offenen Brief der Friedensforscher Lutz und Mutz vom 11. April 2001. ((www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/erler.html)

Dieter S. Lutz (2002): Ist die Demokratie am Ende? In: Frankfurter Rundschau, 14. Januar 2002

Dieter S. Lutz, Reinhard Mutz (2001): „Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten“. Offener Brief an die Bundestagsabgeordneten vom 24. März 2001. (www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/lutz-mutz.html)

Mohssen Massarat (2000): Dritte Kammern. Weniger Staat – mehr Zivilgesellschaft. Ein Schritt zur nachhaltigen Demokratie. In: Universitas, Februar 2000, S. 185-197

Harald Müller (2002): Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. In: Frankfurter Rundschau, 24. Januar 2002

Norman Paech, Gerhard Stuby (2001): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Ein Studienbuch, Hamburg

Ludger Volmer (2002): Was bleibt vom Pazifismus? In: Frankfurter Rundschau, 7. Januar 2002

Ulrike C. Wasmuht (1997): Aktuelle Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung. In: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Gewalt und Konfliktbearbeitung. Befunde, Konzepte, Handeln, Baden-Baden, S. 55-75

Dr. Peter Strutynski lehrt an der Uni Kassel und ist Sprecher des »Bundesausschusses Friedensratschlag«

Militarisierung der Außenpolitik?

Militarisierung der Außenpolitik?

Zur zukünftigen internationalen Rolle der Bundesrepublik

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Persönlichkeiten aus der Friedensforschung und der Politik haben sich mit folgenden »12 Thesen über falsche und richtige Zielpunkte für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik« an die Öffentlichkeit gewandt und eine Diskussion eingefordert.
Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestags am 16. November 2001 über den Einsatz deutscher Streitkräfte im »Krieg gegen den Terror« – der Krieg, der von der US-Administration zur militärischen Durchsetzung und Sicherung langfristiger strategischer Ziele benutzt wird – ist der Weg zu einer neuen deutschen Militärdoktrin geöffnet worden, die eine qualitativ neue globale Rolle der deutschen Außenpolitik und damit der Bundesrepublik Deutschland einleitet:

Indem als ständiges potenzielles Einsatzgebiet der Bundeswehr, insbesondere auch der Bundesmarine, neben dem NATO-Gebiet nicht nur die unmittelbare europäische Randzone, sondern auch der gesamte Raum „arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika, sowie die angrenzenden Seegebiete“ festgelegt wird und dies offensichtlich auch zum Zweck der Absicherung einer profitablen Nutzung von Naturressourcen (Öl) in diesem Raum, reiht sich die Bundesrepublik uneingeschränkt in die westliche Global-Strategie der massiven militärischen Ressourcen-Zugangssicherung ein.

Für die zur Zeit einzige Supermacht USA und für die weiterhin an ihre Geschichte als Kolonialmächte und an ihre globalen Interessen gebundenen europäischen Nuklearmächte mag diese Strategie gegenwärtig als »normale Politik« erscheinen. Die deutsche Außenpolitik verspielt mit einer solchen Militärdoktrin wesentliche Spielräume für deutsche Vermittler- und Brückenfunktionen, die im europäischen und im deutschen Interesse liegen und die angesichts der Gefahren sich zuspitzender Konfrontationen für alle Seiten von wachsender Bedeutung sind.

Die derzeitige internationale Entwicklung ist geprägt durch fortschreitende Aushöhlung und Destruktion der Grundlagen unserer internationalen Ordnung: durch global wachsende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik (zunehmendes Gewicht militärischer Machtprojektion), durch Aushöhlung und Zerstörung von Völkerrecht (z.B. des UN-Gewaltmonopols, des internationalen Kriegsrechts), durch gravierenden Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen. Neoimperiale Tendenzen werden sichtbar.

Die Alternative zu dieser Entwicklung heißt: gemeinsame Sicherheit aus gegenseitigen Dependenzen, organisiert in durch Interessenausgleich ermöglichten Partnerschaften und in regionalen Sicherheitssystemen. Die Bundesrepublik kann diese Alternative entscheidend fördern, wenn sie klar und führend als Zivilmacht erkennbar ist, in und für Europa und weit darüber hinaus.

Eine so definierte Außen- und Sicherheitspolitik erfordert grundsätzliche politische Entscheidungen über ihre Zielpunkte und ihre Prioritäten:

1. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundesrepublik Deutschland darf nicht die »normale Mittelmacht« mit globalem Ehrgeiz sein, wie sie Großbritannien und Frankreich darstellen. Deutschland darf auch nicht wegen Fehlens eines klaren Rollenkonzepts in eine solche »Normale-Mittelmacht«-Rolle hineinschliddern. Eine solche Rolle wird aber inzwischen zunehmend von deutschen politischen Kräften angestrebt.

2. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundeswehr kann deshalb nicht eine Bundeswehr mit globalen Fähigkeiten sein. Mögliche Einsatzgebiete der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs müssen beschränkt werden auf Europa und – unter klar definierten Voraussetzungen – auf die unmittelbaren Randzonen Europas (Mittelmeer einschließlich Mittelmeerküsten). Ausnahme: Beteiligung der Bundeswehr an UN-Blauhelmeinsätzen (weltweit). Die Bundesrepublik benötigt keine global einsatzfähige Hochseeflotte und keine Marineinfanterie für Kampflandungen gegen fremde Küsten. Die gegenwärtige Planung für eine große global-fähige Lufttransportflotte muss wesentlich nach unten korrigiert werden.

3. Die Bundesrepublik Deutschland muss auch allen langfristig möglichen Wegen, die nukleare Teilhabe Deutschlands zu erweitern oder Deutschland sogar auf den Rang einer »normalen« Kernwaffen-Macht zu heben, eindeutig absagen.

4. Von der Geschichte nicht nur des 20.Jahrhunderts, von der zentraleuropäischen Lage und vor allem von den jetzt anstehenden internationalen Sicherheitsproblemen her ist die Kernaufgabe deutscher Außen- und Sicherheitspolitik heute: Aufbau und Stärkung von deutschen, europäischen und außereuropäischen Vermittlungs- und Brückenfunktionen, von zivilen Konfliktlösungspotenzialen.

5. Übergeordneter Zielpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und vorrangiges Einsatzgebiet der Ressourcen deutscher Außenpolitik (das sind Personal, Finanzmittel, Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen, Beratungstätigkeit, Vertrauensbildung) muss – neben der Wahrung unmittelbarer deutscher Interessen – die Errichtung und Unterstützung von regionalen Sicherheitssystemen sein, um die Politik militärischer Interventionen durch einen »Welthegemon« überwinden zu können, also: Aufbau der dafür erforderlichen Institutionen: Rechtsentwicklung, zugehörige internationale politische Rahmenstrukturen, regionale Mediationsinstrumente, zivile Friedensdienste, regionale Gerichtsbarkeit und Sanktionsstrukturen, einschließlich regionaler/internationaler Polizei, Personalaufbau.

6. Die Bundesrepublik sollte ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa, insbesondere in der Europäischen Union, nutzen, um in Europa diejenigen politischen Kräfte und Regierungen zu ermutigen, die bereit sind, dem Aufbau und der Förderung regionaler Sicherheitssysteme Priorität zu geben. Die Anstrengungen für die Errichtung von »Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit« im Mittelmeerraum und im Gebiet Mittlerer Osten/Mittelasien müssen wesentlich verstärkt werden.

7. Die Bundesregierung muss eine breite internationale Initiative für die Revitalisierung und Weiterentwicklung der UNO einleiten, auch damit endlich beschleunigt Wege zu einem auf Dauer gerechteren internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem zugunsten der Dritten Welt beschritten werden können.

8. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss mit allen Kräften der fortschreitenden Aushöhlung und dem Zerfall des Völkerrechts, insbesondere des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen, entgegenwirken. Die Grenze zwischen Krieg und Bekämpfung von internationalem Terrorismus muss erhalten bleiben. Selbstmandatierung darf nicht internationales Gewohnheitsrecht werden. Es kann nicht sein, dass sich die UNO zur Reparatureinrichtung für den durch Militärinterventionen entstandenen Schaden entwickelt.

9. Die Finanzmittel für die zivile Komponente der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wesentlich erhöht werden. Erforderlich ist eine kritische Bestandsaufnahme aller Aktivitäten und Ressourcen. Dazu gehört auch eine transparente Grob-Bilanzierung der finanziellen Kosten-Nutzen-Verhältnisse bei Entwicklung, Aufbau und Einsatz einerseits von zivilen Mitteln (klassische Außenpolitik bis zu Szenarien moderner Konfliktprävention), andererseits von unterschiedlichen militärischen Mitteln (einschließlich Kriegs- und Wiederaufbaukosten). Notwendig ist daran anschließend eine Überprüfung der Reformkonzepte für die Bundeswehr.

10. Betrachtet man den Gesamtaufwand, den die Bundesrepublik heute für Diplomatie, Finanzierung internationaler Institutionen, Kreditfinanzierung von Wiederaufbau, die Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen treibt, zeigt sich, dass Deutschland sich stärker als andere vergleichbare Staaten für zivile Stabilitätsförderung engagiert. Diese Tatsache ist unserer politischen Elite nicht hinreichend bewusst. Damit erhöht sich die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik auf einen Kurs steigender Militarisierung der Außenpolitik begibt.

11. Wir brauchen endlich die öffentliche Diskussion über die heute realistischen – zivilen und militärischen – Bedrohungsszenarien, über die als Antwort auf diese Bedrohungen tatsächlich angemessenen und unangemessenen sicherheitspolitischen Konzepte und Instrumente, über ihre möglichen Konsequenzen, über die zu mobilisierenden Ressourcen und über die Entwicklung des Völkerrechts.

12. Diese Diskussion darf nicht absehen von der festen Einbindung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den Rahmen der Europäischen Union, vom Aufbau der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Sie wird auch nicht davon absehen, dass die europäischen Staaten und die USA gegenseitig auf eine immer neu zu definierende partnerschaftliche Kooperation angewiesen sind. Aber die Kernfrage der Debatte lautet für den Bürger der Bundesrepublik: Wofür/wann/wo/unter welchen Bedingungen/auf welcher Rechtsgrundlage sollen deutsche Streitkräfte gegebenenfalls eingesetzt werden? Welche militärischen Fähigkeiten sind in diesem Rahmen notwendig? Was kann und muss der deutsche Beitrag zur zivilen Komponente der Sicherheitspolitik sein? Wenn dieser Debatte weiter ausgewichen wird, werden sicherheitspolitische und politische Schlüsselentscheidungen des Bundestages weiter mit sachfremden Begründungen gefasst werden (letztes Beispiel: Militär-Airbus A400M) mit der Folge eines weiter schrumpfenden Vertrauens der Bürger in das Parlament.

10. Februar 2002

Dr. Patricia Bauer (Mitglied des AFK-Vorstandes, Uni-Osnabrück); Dr. Michael Berndt (Politikwissenschaftler, FH Kassel); Dr. Ulrike Borchardt (Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Uni Hamburg); Horst Grabert (Staatssekretär im Kanzleramt und Botschafter a.D., Kleinmachnow); Dr. Jutta Koch (Lehrbeauftragte, FU Berlin); Andreas Kuhnert (MdL Brandenburg, Potsdam); Dr. Wilhelm Nolte (Oberstleutnant a.D., Hamburg); Dr. Walter Romberg (Finanzminister a.D., Teltow); Dr. Rolf Schmachtenberg (Berlin/Bonn); Dr. Lutz Schrader (Politikwissenschaftler, FU Hagen); Dr. Lutz Unterseher (Politikberater, Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik, Berlin); Roland Vogt (Landesvorsitzender Bündnis 90/Grüne Brandenburg, Potsdam).

Naturwissenschaftliche Zugänge zur Friedensforschung

Naturwissenschaftliche Zugänge zur Friedensforschung

von Wolfgang Liebert

Wissenschaftlich-technische Innovation heißt auch heute noch in weiten Bereichen zuallererst militärische Neuerungsmöglichkeit. Diese führte in der Ost-West-Konfrontation zu einem schier unausweichlich empfundenen Rüstungswettlauf, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit verbundenen zunehmenden Auflösung der antagonistischen Rüstungspartnerschaft erscheint die Rüstungsdynamik keineswegs gebrochen. Das alte Worst-Case-Denken des Kalten Krieges lebt fort und wird lediglich aktualisiert: »Ich muss technologisch immer mindestens einen Schritt vorausdenken, um damit allen möglichen GegnerInnen einen Schritt voraus zu bleiben.« So stehen die USA und mit ihnen das NATO-Bündnis zunehmend im Rüstungswettlauf mit sich selbst.
Anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt am 9. März 2000 nahm Wolfgang Liebert vor o.g. Hintergrund zu den Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung Stellung. Der folgende Artikel gibt diese Ausführungen stark gekürzt wieder.

Durch die Erzeugung und Zurverfügungstellung modernster Gewaltmittel werden die Möglichkeiten politischer Macht irreversibel beeinflusst. Technologien, werden sie einmal beherrscht, sind nur schwerlich wieder zu verbannen, so sehr auch die Politik das Gegenteil hoffen mag. Das gefährliche Know-how geht einher mit dem Vorhandensein entsprechend ausgebildeter und sozialisierter Menschen und ExpertInnen und den zugehörigen institutionalisierten Strukturen. Das hat Rückwirkungen auf die Lebensgrundlagen der Gesellschaft selbst. Wir beobachten das in drastischer Weise im Bereich der Rüstungsdynamik und bei militärtechnisch geprägten Sicherheitsarchitekturen.

In der Friedens- und Konfliktforschung wird versucht, ein Gegengewicht gegen die Tendenzen aufzubauen. Das fällt strukturell schwer, stehen doch die finanziellen Ressourcen für die Forschung in Deutschland immer noch im Verhältnis 1:1000 im Vergleich mit dem übermächtigen Rüstungskomplex.

Aus unserer Perspektive ist wesentlich: Wir halten es für illusionär, darauf zu hoffen, dass politische Akte allein die nachhaltige Umkehr bewirken können. Im Vorfeld und begleitend müssen die technologische Dynamik und ihre Tiefenstruktur, die unser Bewusstsein prägen und mit den gesellschaftlichen Prozessen verbunden sind, genauso scharf in den Blick genommen werden. Gesellschaften stehen heute real ja gar nicht vor der Wahl, diese oder jene entwickelte Technologie zu nutzen. Mannigfache Vorprägungen sorgen für eine automatische Einführung fast jeder Technologie, die zur Verfügung gestellt werden kann. Demgegenüber ergibt sich im Bereich militärischer oder militärisch nutzbarer Technologie ein Regelungsbedarf auf Ebenen, die den Beschaffungs- oder Nutzungsentscheidungen vorgelagert sind; es besteht eine frühzeitige Gestaltungsnotwendigkeit im Vorfeld fertiger, nutzbarer Artefakte.

Carl Friedrich von Weizsäcker und seine Mitarbeiter haben vor gut 30 Jahren mit der Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« darauf hingewiesen, dass „solange Machtpolitik getrennter Mächte und technischer Fortschritt zusammenwirken“ kaum ein Stillstand der Rüstung organisierbar ist. Dabei spielte die „Undurchschaubarkeit der technischen Weiterentwicklung“ eine wichtige Rolle und führte zu der Mahnung, nicht auf die Kriegsverhinderung durch Abschreckung zu vertrauen. Wir versuchen heute weiterzugehen mit unserem Anspruch, eine spezifische Ergänzung der bislang eher politik- und sozialwissenschaftlich geprägten Friedens- und Konfliktforschung zu leisten. Wir möchten mehr Durchschaubarkeit in der technologischen Dynamik erzeugen, mit dem Ziel, nicht lediglich technische Stabilisierungen des Status quo zu erreichen, sondern ein Zurückdrehen der Rüstungsspirale zu bewirken. Eine grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung ist nötig, um eine Präventionsstrategie zu entfalten, die nicht nur von Fall zu Fall reagiert, sondern auch umfassendere Lösungskonzepte anstrebt.

Aufgabe der Friedens- und Konfliktforschung (FuK-Forschung) insgesamt sollte es sein, gestörte, konfliktträchtige soziale Verhältnisse, seien sie innergesellschaftlich, zwischenstaatlich, global oder auch im Wechselverhältnis zur Natur anzusiedeln, zu analysieren mit dem Ziel, gerechte und Frieden stiftende Lösungen aufzufinden. Dabei sind vielfältige Aspekte zu berücksichtigen: politische und soziale Strukturen, Macht- und Hierarchieverhältnisse, sozialpsychologische Dynamiken, Gewaltpotenziale, wissenschaftlich-technische Triebkräfte und Sachverhalte, Interessenskonstellationen und anderes mehr.

FuK-Forschung muss zunehmend eine Frühwarnfunktion in Hinblick auf innergesellschaftliche, regionale oder globale Konfliktkonstellationen übernehmen. Formen der nicht-militärischen und gewaltfreien Konfliktaustragung müssen im Vordergrund stehen, da hier immer noch das unübersehbar große Defizit für zwischenstaatliches, gesamtgesellschaftliches und individuelles Handeln besteht.

FuK-Forschung muss sich der Praxis einer prospektiven und konstruktiven Friedenspolitik verpflichtet fühlen. Was für die Forschung insgesamt gilt, wird in der FuK-Forschung besonders deutlich: Die Subjektivität wissenschaftlicher Tätigkeit muss ernst genommen werden und sollte offengelegt werden. Ein normativer Orientierungsrahmen ist in der FuK-Forschung unvermeidbar und sogar notwendig.

Die Kompetenz der Forschenden darf sich dabei nicht nur im Beschreiben und Analysieren des Ist-Zustandes erweisen, sondern ebenso in einer Zukunftsorientierung, die Visionen des Soll-Zustandes klärt und gangbare Wege in diese Richtung aufzeigt. Das Bedienen der politischen Apparate mit sachdienlichen Fachinformationen allein steht im Widerspruch zu den vornehmsten Aufgaben einer nach vorne gerichteten FuK-Forschung, die von der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände ausgehen muss, um schließlich Wege in vernünftig sondiertes Neuland zu ermöglichen.

Natürlich ist es für die Friedensforschung erforderlich, eine Nähe zur Politik anzustreben, allerdings nicht im Sinne der Unterstützung für eine »Realpolitik«, die den Pragmatismus des Gewordenen pflegt oder unter Preisgabe von Idealen nur dem Erfolg Versprechenden nachläuft.

Die Aufgabe heutiger Friedensforschung sehe ich als eine transzendental-pragmatische: Mögliche Bedingungen für das Ziel des Friedens müssen gründlich analysiert werden und gangbare Wege dorthin aufgezeigt werden. Das alte Diktum, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, muss in Zeiten ökologischer Krisen und angesichts der offensichtlichen Ungerechtigkeiten in der Welt sehr ernst genommen werden.

Ansätze der Forschung

Aus diesen Überlegungen ergeben sich aus unserer Sicht Notwendigkeiten für die Forschung.

Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung

Wir sehen Friedens- und Konfliktforschung als Teil einer transdisziplinär angelegten Nachhaltigkeitsforschung. Es geht darum, spezifische Hindernisse auf dem Weg in eine nachhaltigere und zukunftsfähige Entwicklung aus dem Wege zu räumen. Zukunftsfähige Entwicklung ist ein offener gesellschaftlicher Suchprozess. Im Bereich der FuK-Forschung geht es in aller Regel um ein vielfältiges Geflecht disziplinenübergreifender Fragestellungen politischer, gesellschaftswissenschaftlicher, sozialpsychologischer, zeitgeschichtlicher, pädagogischer, sozio-ökonomischer, völkerrechtlicher, naturwissenschaftlicher, technischer, ethischer Provenienz, um einige wesentliche Aspekte zu benennen. FuK-Forschung ist somit keineswegs mit einer etablierten politikwissenschaftlichen Teildisziplin, den »Internationalen Beziehungen«, zu identifizieren.

Wir verfolgen einen problem- und lösungsorientierten Ansatz in unserer Arbeit. Dabei ist weit über traditionelle disziplinäre Zugänge hinauszugehen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird dann Sinn stiftend, wenn bereits bei der Wahrnehmung und Definition anzugehender Problemlagen disziplinenübergreifend gearbeitet wird und ein ständiger Bezug darauf im Forschungsprozess ersichtlich wird. Wir nehmen das neue Wort der Transdisziplinarität auf, um deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Integration von Problembewusstsein, relevanten disziplinären Perspektiven, gesellschaftlichen Bezügen und Lösungsorientierung in einer neuen Ausrichtung der Forschung geht, sondern auch um einen bewussten Reflexionsprozess, der auf die Themenstellungen und Bearbeitungsmodalitäten zurückwirkt. Dazu gehört die Verantwortung der Wissenschaft, eine kritische Haltung und Offenheit für eine Veränderung traditioneller Formen von Forschung und Lehre, die Generierung von Querschnittsthemenfeldern, die beständiger zu bearbeiten sind und nicht in additiv multidisziplinärer oder begrenzter interdisziplinärer Projektarbeit abbildbar sind. Beständigere Brücken über die traditionellen Disziplinengrenzen hinweg sollen geschlagen werden, die die vielfältigen relevanten Wechselbeziehungen in den Blick nehmen. Offensichtliche Problemstellungen müssen einerseits verstanden und tiefgehend analysiert werden, aber gleichzeitig sollen praktische Handlungsmöglichkeiten befördert werden.

Naturwissenschaftliche Schwerpunkte

Friedensforschung – wie in anderem Zusammenhang auch Technikforschung – steht in der Gefahr, neben einer Analyse allgemeinerer und gesellschaftswissenschaftlich definierter Zusammenhänge den notwendigen Bezug zur naturwissenschaftlich-technischen Basis der Sachthemen unterzubelichten. In vielen Fällen hat sich auch gezeigt, dass die naturwissenschaftliche Rüstungsforschung geradezu der Motor für militärtechnische Modernisierungsschübe und entsprechende militärstrategische Konzeptionen wurde – und nicht so sehr politische oder militärstrategische Vorgaben. Es zeichnet sich sogar ab, dass die Forschungs- und Technologieentwicklung insgesamt, auch die augenscheinlich zivile, zunehmend wichtig wird für militärische Innovationen. Die aktuelle Gefahr besteht, dass Schritte zur Abrüstung weiter mit einer qualitativen Aufrüstung einhergehen. Die neuen oder qualitativ verbesserten Waffensysteme, die in den nächsten Jahrzehnten eingesetzt werden sollen, werden bereits jetzt in den Forschungslabors vorbereitet.

Neuartige internationale Konfliktsituationen sind absehbar, die an die Verletzung einer Nachhaltigkeitsorientierung mit regionaler und globaler Wirkung gekoppelt sind. Es wächst die Gefahr, dass Umwelt- und Ressourcenkonflikte militärisch ausgetragen werden oder zumindest als Begründungsmuster militärischer Interessen herangezogen werden. Dies in ihren Ursachen und Folgen zu verstehen, sie zu entschärfen oder ohne Einsatz von Gewalt überstehen zu können ist für die Zukunft von lebenswichtiger Bedeutung. Auch hier ist die Verschränkung von sozialen und technikbedingten Faktoren der Konflikt- und Lösungskonstellation zu analysieren.

Eine unabhängige Forschung, die sich entsprechender Themenstellungen annimmt, ist in einigen wenigen Ländern bereits fest verankert, insbesondere in den USA und in skandinavischen Ländern. In Deutschland konnte sich ähnliches bislang kaum dauerhaft etablieren. Vielversprechende Ansätze in unserem Land werden nun vom Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit e.V. (FONAS) vertreten und der interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht.

Abrüstung und präventive Rüstungskontrolle

Nach wie vor gibt es internationale Konflikte um die Abrüstung und Nichtverbreitung bzw. die Beibehaltung und Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen. Eine Fülle von Detailfragen ist zu bearbeiten, verbunden mit konzeptionellen Überlegungen. Der Bann der Biowaffen muss wasserdichter gemacht werden durch die Entwicklung und Implementierung angemessener Verifikationsmethoden. Das bislang erst teilweise erreichte internationale Verbot von Massenvernichtungswaffen muss umfassend durchgesetzt werden. Daher hat IANUS die Aushandlung einer Nuklearwaffenkonvention vorgeschlagen und an der Erarbeitung eines Entwurfes mitgewirkt, der nun in der UN zirkuliert. Es ist zu klären, wie Waffenstoffe unschädlich gemacht oder beseitigt werden können. Wie beschäftigen uns mit der besonders virulenten Frage nach dem Umgang mit den vorliegenden riesigen Plutoniummengen im militärischen wie im zivilen Bereich. Die Kontrolle und Begrenzung der Weiterentwicklung von Trägersystemen und Raketen sind bislang nur unzureichend entwickelt. Hierzu werden ebenfalls Vorschläge entwickelt.

In der Anfangsphase der bundesdeutschen Friedensforschung konnte Ekkehard Krippendorf 1968 noch formulieren, „dass Abrüstungsforschung strictu sensu ein totes Gleis von Friedensforschung“ darstelle. Heute kommen entscheidende Impulse zur Wiederbelebung der Abrüstungsforschung und Neudefinition der Rüstungskontrolle aus unseren naturwissenschaftlichen und interdisziplinären Kreisen. Wir versuchen, präventive Rüstungskontrolle als Antwort auf die alte, klassische Rüstungskontrolle aus der Zeit des Kalten Krieges zu konzeptionieren, die tatsächlich eher ein Konzept der Rüstungsbegrenzung durch kontrollierte Aufrüstung war. Wir wehren uns gegen die Umfunktionalisierung von scheibchenweiser Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Instrument um den Status quo zu erhalten. Natürlich muss die positive Seite der klassischen Rüstungskontrolle erhalten bleiben: die Schaffung von Krisenstabilität zwischen atomar noch immer hochgerüsteten Staaten und ihren Bündnissystemen. Aber die Technologiedynamik muss an der Wurzel angegangen werden. Insbesondere muss endlich die qualitative militärische Fortentwicklung in den Griff bekommen werden, denn zunehmend überholt die technologische Fortentwicklung die Durchgriffskraft politischer Regelungen. Technologisch determinierte Rüstungswettläufe können nur unterbunden werden, wenn eine vorausschauende Analyse erfolgen kann und Eingriffsmöglichkeiten frühzeitig diskutiert werden.

Die strukturelle Frage ergibt sich, ob nicht Rüstungskontrolle, Abrüstung, Nichtweiterverbreitung sowie Kriegs- und Krisenprävention miteinander verkoppelt werden müssen. Präventive Rüstungskontrolle soll als Schritt in diese Richtung entwickelt werden.

Ambivalenz und Dual-use

Im Kontext der Rüstungskontrolle ist zu berücksichtigen, dass sich Tendenzen des bewussten Dual-use in der Forschungs- und Technologieförderung verstärken. War es früher in der bundesdeutschen Forschungspolitik der Versuch, verdeckt und intransparent – bei vergleichsweise kleineren Rüstungsforschungsetats – militärisch relevante Projekte über Umwegfinanzierungen und unter Nutzung einer breiter angelegten Grundlagenforschung zu stärken, so gibt es heute in der westlichen Hemisphäre weit verbreitete Bemühungen, mit dem Argument der Kostenersparnis eine frühzeitige Parallelität von zivilen und militärischen Entwicklungslinien und Techniknutzungskonzepten zu erzeugen. Damit werden neue, zivil-militärisch ambivalente Grauzonen im Forschungs- und Technologiebereich erzeugt, die genauer analysiert werden müssen und offenbar rüstungskontrollpolitische Bemühungen weiter erschweren.

Die Problematik wird dadurch verschärft, dass sich längst auch andere Länder die Dual-use-Strategie zu nutzen machen, die, unterstützt durch den weltweiten zivilen Technologie- und Wissenstransfer und in nachholender Eigenentwicklung, ebenso militärische Interessen verfolgen. Dies ist besonders bedrohlich, wenn damit die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen ermöglicht wird. Die Erforschung und Entwicklung einer Reihe gentechnisch herzustellender Impfstoffe ist nur schwerlich von der Erforschung und Entwicklung von Kampfmitteln zu trennen. Bei der gegenwärtigen Nutzung der Kernenergie werden Forschungsanlagen und Technologien genutzt und es werden Materialien erzeugt oder verwendet, die für die Herstellung von Kernwaffen oder ihre qualitative Fortentwicklung höchste Bedeutung haben.

Eine Analyse der Ambivalenz muss konkret anhand von relevanten Forschungs- und Technologiefeldern durchgeführt werden. Das Ziel ist die Auffindung von inner- und außerwissenschaftlichen Bifurkationspunkten, damit Handlungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden können.

Die zivil-militärische Ambivalenz naturwissenschaftlich-technischer Forschung und Entwicklung lässt sich aber nicht von dem umfassendem Problem des ambivalenten Fortschritts von Naturwissenschaft und Technik insgesamt abtrennen. Die Ambivalenz ist auch in Hinblick auf andere Widersprüche – beispielsweise zwischen ökonomischer Effizienz und Interessenlage und ökologischen Interessen und Risiken – zu problematisieren, denn sicher wird es Fälle geben, in denen man auf die Förderung ambivalenter Forschungsgebiete nicht verzichten möchte, da starke zivile Interessen berührt sind. Dann kommt es darauf an zu prüfen, inwieweit solche zivile Entwicklungen und Anwendungen tatsächlich wünschenswert sind, zielorientiert verfolgt werden können, für unsere zukünftige Gesellschaft unverzichtbar sind und wie sie gegebenenfalls speziell zu fördern sind.

Prospektive Technikfolgenabschätzung

So tritt die Forderung nach Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit im Bereich von Forschung und Technik hinzu. Diskurse der Technikfolgenabschätzung greifen auch hier bislang zumeist zu spät, da sie noch all zu oft nachsorgend angelegt sind. Wir plädieren daher für einen problemorientierten und vorausschauenden Ansatz, der technikfixierte Verkürzungen zu vermeiden sucht. Dabei spielen drei von Wolfgang Bender formulierte Leitkriterien eine wesentliche Rolle: Erhaltung, Entfaltung und Gestaltung. Erhaltung der Menschheit und der Lebenswelt, die nach vorne gerichtete Entfaltung der mit-natürlichen menschlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie die Gestaltung der Forschungs- und Technologieentwicklung. Die Langfristfolgen wissenschaftlicher Tätigkeit müssen endlich angemessen in den Blick genommen werden. Für uns erscheint es nur konsequent, sich ausgehend von dem Bereich der Massenvernichtungswaffen mit einer verantwortbaren Energieversorgung der Zukunft unter einer gezielten Analyse nuklearer Technologien zu beschäftigen oder sich grundlegenden Problemstellungen im Bereich der modernen Biotechnologien oder der Weltraumnutzung zuzuwenden.

Wir hoffen auf konsensuale Beschreibbarkeit der jeweils wesentlichen Betrachtungsebenen. Wir wissen um die dann zu erwartenden Differenzen bei der Bewertung wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten. Schließlich streben wir eine gesellschaftliche Gestaltung des Fortschritts in Wissenschaft und Technik an, die ohne die Mitwirkung der Beteiligten auf der Innenseite der wissenschaftlichen Entwicklung nicht gelingen kann. Ebensowenig kann auf eine ausreichende Transparenz nach außen verzichtet werden, die eine ernst zu nehmende Mitwirkung der politischen EntscheidungsträgerInnen und der interessierten Öffentlichkeit überhaupt erst ermöglicht. Die Alternativenstruktur der Wissenschaft, die es uns erlaubt, diesen oder jenen Pfad der Forschung und Entwicklung einzuschlagen, kann genutzt werden, um gesellschaftlich akzeptable und akzeptierte Forschungsaufgaben anzupacken – mit entsprechenden Konsequenzen für die Forschungsförderung.

Es gilt, Zukunftsfähigkeit zu gewinnen, gerade auch im Bereich von Forschung und Technik. Voraussetzung dafür ist die Bewusstmachung und Klärung der Werte und Ziele auf diesem Weg.

Arbeit in der Hochschule

Viele der hier angesprochenen Arbeitsgebiete beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Konflikten, die durch moderne Technologien mitverursacht sind oder durch diese qualitativ verändert wurden. Bei der Suche nach kooperativen Lösungen geht es um empirische und theoretische Klärung von Konfliktursachen, Konfliktkonstellation und Konfliktdynamik. Es geht um die Bearbeitung von Kooperationshindernissen und die Auffindung von Möglichkeiten ihrer Überwindung. Dies kann nur gelingen bei Berücksichtigung bzw. Einbeziehung aller KonfliktpartnerInnen. Ein normativer Anspruch wird mit dem Bezug auf Sicherheit und Nachhaltigkeit erhoben.

Die Hochschule ist unserer Ansicht nach ein richtiger – vielleicht sogar der beste – Platz, um solche Forschung fruchtbringend durchführen zu können. Dies garantiert notwendige Freiräume und ein hohes Maß an Unabhängigkeit, die Voraussetzung sind für eine glaubwürdige Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Der interdisziplinäre Ansatz kann und muss hier besonders befördert werden. Die Kombination von Forschung und Lehre anhand unserer praxisrelevanten Themen ist wichtig für die Befruchtung des akademischen Prozesses. Insbesondere kann dies über die Lehre zu Veränderungsprozessen führen, die Auswirkungen auf die Verhaltensweisen zukünftiger Generationen von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen haben. Das frühzeitige Bedenken der Konsequenzen unseres wissenschaftlichen Tuns für die Zukunft braucht seinen Platz innerhalb der Universität. Aber wir lernen auch selbst, von den Studierenden, im Dialog untereinander, in unseren Suchprozessen in Forschungs- und Lehrprojekten.

Eine Erweiterung des wissenschaftlichen Arbeitens aus den Disziplinen heraus bei Überwindung ihrer beschränkten Fähigkeit zur Wahrnehmung und Behandlung komplexerer Probleme ist die eine Seite unseres Ansatzes. Unseren Suchprozess in die Friedensforschung und Technikforschung hinein habe ich beschrieben. Umgekehrt sind wir davon überzeugt, dass Elemente der Friedensforschung und -lehre zum Selbstverständnis einer heute verantwortbar betriebenen Naturwissenschaft gehören sollten. Daher ist es wichtig, dass friedenswissenschaftliches Engagement nicht nur in spezielle außeruniversitäre oder universitätsnahe Institute ausgegliedert wird, sondern seinen Platz in der Hochschule hat.

Es gilt, den Gedanken der lebensweltlich und problemorientierten Interdisziplinarität in die Disziplinen einfließen zu lassen. Die Erkenntnis der Janusköpfigkeit der Wissenschaft, der verschiedenen Möglichkeiten ihres Gebrauchs, gehört in die Disziplinen selbst, dies betrifft insbesondere die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer. Natürlich erweisen sich hier etablierte Strukturen als höchst widerständig. Im Grunde befinden wir uns mitten in der virulenten Diskussion um Sinn, Zweck, Aufgabe und Selbstverständnis der Universität. Wir sind zu einem interdisziplinären Dauerexperiment geworden und zu einem kleinen Kristallisationspunkt des Nachdenkens über Wissenschaft und Hochschule, ihre Rollen in der Gesellschaft, der tätigen Wahrnehmung von Verantwortung, der Bemühung um eine engagierte Wissenschaft sowie einer Selbstverständigung darüber innerhalb einer heterogenen Allianz Gleichgesinnter.

Wir sind uns dessen bewusst, dass wir trotz unserer breit angelegten Bemühungen nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen, dem Problemfeld Gewinnung des Friedens, bearbeiten können. Auch wenn unser Engagement nicht auf das rein Akademische begrenzt ist und wir im Schnittfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit arbeiten, so wissen wir, dass es einer Fülle darüber hinausgehender, vornehmlich praktischer Friedensaktivitäten bedarf.

Dr. Wolfgang Liebert ist Wissenschaftlicher Koordinator von IANUS an der TU Darmstadt und Mitbegründer des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP)

Dem Krieg den Krieg erklären

Dem Krieg den Krieg erklären

von Jürgen Nieth

Der von US-Präsident Bill Clinton am 1. September bekannt gegebene Entschluss, die Entscheidung über den Bau und die Stationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) seinem Nachfolger zu überlassen, wurde weltweit mit Erleichterung aufgenommen. Zu offensichtlich war nach dem gescheiterten Abwehrtest vom 7. Juli, dass der politische Anspruch, einen begrenzten Raketenangriff abzuwehren, derzeit technisch nicht einzulösen ist. Zwar wurde mit der Verschiebung Zeit gewonnen, doch Anlass zur Beruhigung gibt es nicht. Al Gores Kontrahent George Bush Jr. lässt keinen Zweifel daran, dass er ein noch viel größeres NMD möchte. Nur zu berechtigt sind daher die Befürchtungen Russlands und Chinas, sie könnten ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA verlieren.

Es zeigt sich erneut, dass selbst der mächtigste Politiker nicht an den Gesetzmäßigkeiten der Physik rütteln kann. Eine Rakete kann eben nicht mit der Fliegenklatsche vom Himmel geholt werden. Allerdings zählt in der Politik der Anschein oft mehr als die Wahrheit. Allzu deutlich wurde dies im Golfkrieg, als das völlige Versagen der Patriot-Abwehrrakete der USA als grandioser Erfolg verkauft wurde.

Selbst wenn NMD auf absehbare Zeit nicht zuverlässig funktionieren sollte, schafft es dennoch Tatsachen. Es erhöht die Unsicherheit zwischen den potenziellen GegnerInnen, die dagegen rüsten um ihre Abschreckung zu sichern. Auch die USA und andere NATO-Staaten werden sich kaum auf einen löchrigen Raketenabwehrschirm verlassen wollen und daher ihre eigenen Kernwaffen behalten bzw. modernisieren.

Die Risiken der immer noch viel zu großen Nuklear- und Raketenarsenale sind nicht virtuell, sie sind ganz real. Dies zeigt einmal mehr das gesunkene russische Atom-U-Boot, das der Welt einen Schrecken über die Gefahren von Nuklearunfällen eingejagt hat. Statt dieses Ereignis aber zur Kritik an der Atomrüstung zu nutzen, kritisierten die westlichen Medien lediglich den sowjetischen Führungsstil Wladimir Putins. Kaum erwähnt wird, dass Putins Großmachtpolitik nicht nur ein Produkt innenpolitischer Machtspiele ist, sondern auch eine Reaktion auf westliche Dominanzbestrebungen, von der NATO-Osterweiterung über den Kosovokrieg bis zur Raketenabwehr. Mit NMD würden die nuklearen Risiken noch multipliziert. Dies zeigt nichts deutlicher als der Vorschlag der USA, Russland solle seine Atomwaffen nicht abrüsten, sondern in höchste Alarmbereitschaft versetzen, um NMD überwinden zu können.

Aus den Erfahrungen des Kalten Krieges kann es nur die Konsequenz geben, Atomwaffen nicht zu bekämpfen, sondern vollständig zu beseitigen. Die Abrüstung ballistischer Raketen blieb bislang allerdings nur ein Randthema. So beklagte Jayantha Dhanapala, Leiter der Abrüstungs-Abteilung der Vereinten Nationen, am 3. Juli: „Warum bleibt die öffentliche Debatte heute in einem Duell zwischen Abschreckung und Abwehr gefangen, während die Abrüstung von Raketen nur eine geringe Aufmerksamkeit erfährt?“

Die mit der NMD-Verschiebung gewonnene Zeit könnte für politische Initiativen zur internationalen Raketenkontrolle genutzt werden. Konkrete Vorschläge für ein globales Raketenkontrollsystem möchte Russland auf den Weg bringen. Schritte in Richtung auf eine multilaterale Raketenkontrolle und verbesserte Frühwarnung wurden Ende März 2000 bei einem Expertengespräch in Ottawa diskutiert. Als Modell für umfassende Raketenabrüstung könnte ein 1992 von der Federation of American Scientists erarbeiteter Vorschlag dienen. Ein Raketenteststopp würde den Entwicklungsstand bei Raketen einfrieren.

Bei der Entwicklung solcher Abrüstungskonzepte ebenso wie bei der kritischen Analyse von Rüstungsprogrammen wie NMD spielt die Friedenswissenschaft eine wichtige Rolle. Dass die technischen Grenzen der Raketenabwehr ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, ist der beharrlichen Aufklärung durch PhysikerInnen zu verdanken. Einer der aktivsten und zähesten Gegner von NMD ist Ted Postol, Professor am MIT, der sich dabei mit mächtigen GegnerInnen anlegt und seinen Job riskiert. In der NMD-Debatte drehte Postol den Spieß um: Er verklagte die Verantwortlichen, bei einem der Abwehrtests einen Erfolg nur vorgetäuscht zu haben.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es weiterhin einen großen Bedarf an kritischer friedenswissenschaftlicher Expertise gibt, einer der Bereiche, in denen Frieden zum Beruf werden kann. Leider stehen den immer neuen Konfliktherden nicht die adäquaten Mittel gegenüber. Nicht einmal die mit hohen Vorschusslorbeeren bedachte deutsche Stiftung für die Friedensforschung konnte bislang vom Stapel laufen. Wie einfach war es dagegen im vergangenen Jahr, in kürzester Zeit Milliardenbeträge (also das Tausendfache) für den Krieg zu bewilligen. Wenn es für den Krieg immer noch mehr Geld gibt als für die präventive Bewahrung des Friedens, dann müsste Deutschland dem Krieg den Krieg erklären.

Jürgen Scheffran

Zur Stiftung Friedensforschung

Zur Stiftung Friedensforschung

von Christiane Lammers

Nach Jahren der politischen Ignoranz gegenüber der Friedensforschung liegt nun Frühlingsduft in der Luft: Am 20. Januar beschloss der Dt. Bundestag die Bundesregierung aufzufordern, eine Deutsche Stiftung für Friedensforschung zu gründen. Verschiedene Abstimmungsprozesse waren zwischenzeitlich durchlaufen worden: Nachdem im Forschungshaushalt 1999 bereits sechs Mio. DM für die Friedens- und Konfliktforschung eingestellt worden waren, wurden Ende August 11 Initiativgutachten in Auftrag gegeben um eine breite Expertise für die inhaltlichen und strukturellen Erfordernisse zur Förderung der Friedensforschung zu erhalten, im Oktober wurde die sogenannte Struktur- und Findungskommission berufen, die sich auf inhaltliche Leitlinien für die Arbeit der Stiftung in den nächsten fünf Jahren einigte. Im November beschloss der Haushaltsausschuss die finanziellen Voraussetzungen für das 50 Millionen DM umfassende Stiftungskapital schrittweise über drei Jahre zu schaffen. Im Januar folgte dann der o.g. Gründungsbeschluss des Bundestages und inzwischen gibt es auch einen mehrfach überarbeiteten Satzungsentwurf, der die Struktur und die Aufgaben der Stiftung regelt. Was fehlt ist nur noch die Benennung der Stiftungsgremien und dann kann es hoffentlich noch im Mai losgehen.

Der Gründungsprozess ist erfreulicherweise sehr schnell vonstatten gegangen. In Details gab es zwar einige »Merkwürdigkeiten« wie z.B. die Vergabepraxis der »Prioritären Ersten Maßnahmen«, deren Abwicklung über die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, die in Relation zum Gesamtbudget enorm hohen Verwaltungs-Overhead-Kosten, die zwischenzeitliche Infragestellung der Existenz der AFB u.a. Dies ist jedoch Schnee von gestern, jetzt sollte im Mittelpunkt der Überlegungen stehen, ob die Stiftung inhaltlich und strukturell geeignet ist die Defizite der Friedensforschung in der Bundesrepublik zu beheben.

Seit Beginn der Friedensforschung wird über ihren Gegenstand debattiert. Da der Friede kein »Punkt in der Geschichte«, sondern ein Prozess ist, ist er auch als Gegenstand von Forschung nicht statisch, sondern zukunftsorientiert. Die Forschung selbst ist wert- und handlungsorientiert. Unstrittig ist innerhalb der Friedensforschung, dass diese auf den Abbau von Gewalt (personaler und struktureller) abzielt. Aber eben dies sind die Anknüpfungspunkte des sogenannten Ideologieverdachts – auch jüngst in der Bundestagsdebatte im Januar wieder zu hören. Die so verdächtige Friedensforschung wird immer stärker zur ganz normalen außen- und sicherheitspolitischen Forschung umdefiniert. Mag sein, dass deshalb von Pazifismus, Gewaltlosigkeit, Militär- und Machtkritik als Bezugspunkte der Friedensforschung keine Rede mehr ist, dass deshalb die FriedensforscherInnen aufgefordert wurden, einseitig Brücken zur Stiftung Wissenschaft und Politik u.a. außenpolitischen, nicht friedenswissenschaftlichen, Forschungseinrichtungen zu schlagen. So erklärt sich vielleicht auch der Sitz und die Stimme des Verteidigungsministeriums im neuen Stiftungsrat. Vieles deutet jedenfalls daraufhin, dass das kritische Potenzial der Friedensforschung – wenn überhaupt – weiterhin nur randständig gefördert werden soll. In dieses Bild passt auch die ständige Rede von der »Politikberatung« als wichtiges Augenmerk für die zu fördernde Friedensforschung und für die Stiftung als Ganzes.

Die Komplexität des Gegenstandes »Frieden« drückt sich auch in der Multidisziplinarität der Friedensforschung aus. FriedensforscherInnen sind von Haus aus Gesellschafts-, Erziehungs-, Rechts-, Geistes-, Natur- oder IngenieurwissenschaftlerInnen. Zur Förderung der Friedenswissenschaft ist es notwendig, diese Pluralität zu erhalten und in eine Inter- oder Transdisziplinarität zu überführen. Hier liegen nach wie vor wesentliche Defizite der Friedensforschung methodischer, theoretischer und struktureller Art und es ist bisher nicht erkennbar, ob und wie das Problem durch die Stiftung aufgegriffen wird.

Die Friedensforschung ist neben ihren immanenten Problemen auch besonders durch die allgemeinen wissenschaftspolitischen Strukturprobleme betroffen. Dies gilt sowohl für die Einzeldisziplinen als auch für sie selbst als Transdisziplin. Stichworte sind: Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den mainstreams in den Disziplinen, Nachwuchsförderung, Frauenförderung, Einheit von Forschung und Lehre.

Zunehmend ist eine Entwicklung zu beobachten, nach der sich die Friedensforschung in halbwegs gut ausgestatteten Instituten außerhalb der Hochschulen etablieren kann, die Integration in den Hochschulalltag jedoch nicht vorwärts kommt. Nach wie vor gibt es in der Bundesrepublik keinen explizit friedenswissenschaftlichen Studiengang. Hinzu kommt, dass in mit Friedensfragen beschäftigten NGOs nicht nur ein Bedarf an Expertise, sondern auch eine Professionalität entstanden ist, die selbst wissenschaftliche Kompetenzen entwickelt hat. Diese in den gesamtwissenschaftlichen Prozess mit einzubeziehen müsste im Sinne der Friedensentwicklung eines der Ziele der Förderung der Friedensforschung sein.

Zum momentanen Zeitpunkt darf man skeptisch sein, ob es den Stiftungsgremien gelingen wird entsprechende Programme zu entwickeln um auf die beschriebenen Förderungsdefizite zu reagieren. Sicherlich ist es ein wichtiger Schritt, dass nun zumindest für die nächsten 10 Jahre eine eigenständige Förderungsinstitution geschaffen wurde, mit einer geplanten jährlichen Ausschüttung von fünf Millionen DM. Vieles wird nun aber davon abhängen, inwiefern tatsächlich die Stiftungsgremien politikunabhängig im Sinne der Friedensforschung und ihren Anforderungen entscheiden können. Dafür wird mit entscheidend sein, wer in die Stiftungsgremien berufen wird. Auch hierfür wurde leider kein der Friedenswissenschaft entsprechender Diskurs, sondern ein eher autokratisches Verfahren gewählt.

Last not least sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass für fünf Millionen gerade einmal ein halber Panzer, aber nicht der Frieden zu kaufen ist.

Göttinger Friedenspreis für IANUS

Göttinger Friedenspreis für IANUS

von Jürgen Nieth

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TU Darmstadt ist am 9. März mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet worden. Die Jury würdigt damit die innovativen Leistungen der Arbeitsgruppe auf dem Gebiet fächerübergreifender und praxisorientierter Friedenswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Mit IANUS „habe sich ein für die deutsche Wissenschaftslandschaft neuer und ungewöhnlicher Arbeitszusammenhang naturwissenschaftlich-technisch fundierter, militärkritischer Expertise etabliert.“

Jurymitglied Corinna Hauswedell schlug bei der Preisverleihung den Bogen von den »Göttinger 18«, jener Gruppe von Naturwissenschaftlern, die 1957 mit ihrem Protest gegen die geplante Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen Geschichte schrieben, zu den Trägern des Göttinger Friedenspreises 2000: Naturwissenschaftlern, die sich gleichsam mit ihrem Wissen gegen die Massenvernichtungswaffen engagieren. IANUS habe sich Ansehen erworben „in vielfältigen in- und ausländischen Kooperationen …, in der fachlichen Beratung nationaler und internationaler politischer und parlamentarischer Gremien der Rüstungskontrolle und Technikfolgenabschätzung, als kritische Medienressource sowie bei der Entwicklung politischer Initiativen, beispielsweise zum Abbau und zur Begrenzung von Nuklearwaffen, zur Verifikation der Biowaffenkonvention, bei der Abrüstung und Konversion von Raketentechnologien und Weltraumwaffen.“

Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn hob in einem Grußwort hervor, IANUS trage „zur Belebung, zur Vertiefung und Verstetigung eines vielfältigen und breit gefächerten Austausches zwischen der Friedens- und Konfliktforschung und der politischen Öffentlichkeit in Deutschland und im europäischen Rahmen bei, ohne die Friedensgestaltung nicht möglich ist.“

Der niedersächsische Wissenschaftsminister, Thomas Oppermann, betonte in seinem Grußwort, dass IANUS der Tatsache Rechnung trägt, „dass Friedensforschung auch Technikfolgenabschätzung und die Entwicklung neuer, menschlicher Technologien umfassen muss“. Friedensforschung sei heute, da die Zahl der mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte weiter zunehme, „vielleicht noch wichtiger als zu Zeiten des Kalten Krieges.“ Hinzu komme, dass sich immer öfter Kriege aus Konflikten um die knappen Ressourcen der Natur entwickelten. Deshalb müsse Friedensforschung ökologische Aspekte mit einbeziehen.

Der antike und
der moderne Janus

Dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung Ulrich Albrecht gelang in seiner Laudatio eine pointierte kulturhistorische Parallelisierung der Gestalt des JANUS: „Im Wintersemester 1988/89 war ich … augenscheinlich Zeuge der Entstehung der IANUS-Gruppe. Aufgrund einer über die Jahre anhaltenden persönlichen Verbindung möchte ich diesen Tag der Freude nutzen, um die Laudatio eher heiter anzulegen,_ als Reflexion über den selbstgewählten Namen der Gruppe.

Wer oder was ist IANUS? Die Arbeitsgruppe hat seinerzeit gewiss mit Bedacht den Namen dieses antiken Gottes gewählt, als Vorbild. Also weiter gefragt: Was hat Janus seinerzeit und in der Neuzeit gemacht – schließlich geht es um eine Laudatio. Wer waren die Partner oder gar die Partnerin? … In beiden Fällen sind … Folgen aus den Partnerschaften entstanden, die viele Ähnlichkeiten aufweisen, wie gleich aufgezeigt werden wird. Schließlich gefragt: Was wird aus IANUS, was ist seinerzeit aus Janus geworden?

1. Wer ist Janus? Im alten Rom der Gott der Anfänge, der Türen und Tore, der Durchblicke und Durchgänge. Das ist eine bezeichnende Perspektive für die heutigen IANIer: Der Arbeitsgruppe ging es und geht es um Anfänge, um Durchblicke, um Verbindungen zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft.

In der bildenden Kunst wird Janus dargestellt mit zwei – in entgegengesetzte Richtung blickenden – Gesichtern, manchmal gar mit vier Gesichtern. Er sieht einfach alles, darunter – so ja auch der moderne IANUS was andere nicht sehen. Sein griechischer Vorgänger wurde Panoptes, der Allesseher, genannt … Der blickte einfach alles, und die Griechen stellten sich vor, dass sein ganzer Kopf mit Augen besetzt war.

2. Die Taten des Janus, damals und heute. Vom antiken Janus wird der Schutz, modern ausgedrückt, von Whistleblowern, berichtet, von Menschen, die Geheimnisse etwa zur Wahrung des Friedens, verraten. Eine solche war im alten Rom das Mädchen Tarpeia, die seither in der Ewigen Stadt als Urbild von Verrat gilt … Tarpeia hatte den Sabinern, die ihre geraubten Frauen wiederhaben wollten, mit List den Zugang zu einem Vorwerk des Kapitols geöffnet. Der galante Janus half dem fliehenden Mädchen mit einem Akt chemischer Kriegsführung: Er überschwemmte das Tor hinter der Fliehenden vor den Verfolgern mit einer heißen Schwefelquelle.

Die aufklärerische Tätigkeit in Sachen neuer Waffentechnik bleibt ein Hauptmerkmal der Tätigkeit des modernen IANUS, es handelt sich um eine Gruppe von Whistleblowern, in der Sicht mancher Konservativer womöglich um eine Vereinigung, die mit krimineller Energie Tatsachen erhellt, die mancher im Establishment lieber nicht so ans Licht gezogen sehen möchte. Bevor ich weitere Taten der IANIER hervorhebe, muss ich auf die Partnerin von Janus, dem antiken, eingehen.

3. Die Partnerin. Seine sagenhafte Umsicht nützte dem antiken Janus sehr bei dem Versuch, eine Partnerin zu gewinnen. Seine Auserwählte hieß Cardea, sie war gleichfalls Göttin, eben »dea«, und Cardo ist für diese Jagdgöttin ein merkwürdiger Vorname, heißt dies doch wörtlich übersetzt Türangel, Türzapfen. Bekanntlich waren die Alten sehr frei im Umgang mit Bildern aus der Sexualität, und die Verbindung zwischen Janus und Cardea fassten sie mit der Weise, wie Türzapfen und Türangel ineinander greifen. Aber in einer Laudatio geht es vorrangig um die übertragene Bedeutung, Cardo, oder die Göttin Cardea, steht methaphorisch zugleich für Drehpunkt, Angelpunkt, Wende. Cardo mundi hieß bei den Alten die Weltachse, die Grenzscheide, und dieser sich zugewandt zu haben darf beiden, dem antiken Janus wie den heutigen IANIERn, bescheinigt werden.

Cardea … neckte ihre Verehrer, indem sie die in eine bestimmte Höhle zum Rendezvous bestellte und nachzukommen versprach, dann lief sie fort. Beim antiken Janus war sie da an den Falschen geraten, der blickte die Sache mit seinem rückwärtigen Gesicht und errang ihre Gunst. Ich weiß nun nicht, wie oft die modernen IANIER, die ja auch auf Jagdgötter bei ihrer Suche nach Fakten in der Fortentwicklung der Rüstung angewiesen bleiben, in falsche Höhlen, Sackgassen gelockt worden sind, und wenn sie dies blickten, was dann geschehen ist.

Janus war jedenfalls seinerzeit so beglückt, dass er seiner Cardea die Fähigkeit verlieh, Vampire zu vertreiben. Und die Vertreibung von Rüstungsvampiren ist ja auch eine Spezialität des modernen IANUS. An die Studierenden geben die modernen IANIER lobenswerterweise dieses Vermögen, Vampire zu vertreiben, wirksam weiter. Ich halte es für sehr wichtig, dass IANUS eine Forschungsgruppe an der Universität ist, nicht eine abgehobene Expertentruppe im gesellschaftlichen Nirgendwo.

4. Wie geht es weiter mit Janus? Dem griechischen Panoptes ist es ja herzlich schlecht ergangen. In der Gigantomachie, der Schlacht der Götter mit den Giganten, ist er jämmerlich umgekommen. Da bietet der römische Janus eine heiterere Perspektive. Eine der römischen Sagen weiß, dass Janus König von Latium wurde und nach der Gigantenschlacht Chronos, die Zeit, bei sich aufnahm. Eine andere Sage macht ihn zum Urgroßvater von Romulus und Remus, den Begründern des modernen Rom, der Weltstadt. Noch einmal stoßen wir in diesem Zusammenhang auf den Krieg, auf den Kriegsgott Mars. Rhea Silvia, die Enkelin von Janus, ihr mythischer Name sagt kaum mehr als: Die Herrin der Wälder, schöpfte in einem Mars geweihten heiligen Hain an einer Quelle Wasser, und der Gott nahte sich ihr und machte sie zur Mutter seiner Zwillinge Romulus und Remus. Andere Quellen formulieren weniger diskret: Mars, der Krieg, bekommt Söhne, indem er deren Mutter vergewaltigt. Der Zusammenhang von Krieg und Vergewaltigung, ein sehr aktuelles Thema, ist mithin schon im antiken Mythos vorgegeben …

Der moderne IANUS und sein antikes Vorbild weisen zugleich über ihr eigenes Tun weit hinaus. Eine Tür ist nicht lediglich eine Klappe, sondern sie verbindet, ein Inneres mit einem Äußeren, der Blick hat zwei Richtungen. Deshalb erhoben die Alten dies zum Mythos und stellten sich einen Gott mit zwei Gesichtern vor. Der moderne IANUS ist angetreten mit der Auffassung, dass Physik nicht lediglich Physik sei, sondern sowohl vielfältige Wirkungen in Richtung Gesellschaft entfaltet, als auch umgekehrt gesellschaftliche Wirkungen in der Fortentwicklung der Physik erkennbar sind. Diese Ambi-Valenz, diese Doppelwertigkeit, ist von IANUS erkannt und in pionierhafter Weise zum Thema wissenschaftlicher Arbeit gemacht worden. Dem gebührt Anerkennung, und diese wird der Gruppe heute durch die Verleihung des Göttinger Friedenspreises der Stiftung Dr. Roland Röhl zuteil …“

Über den Preisträger

IANUS ist 1987 an der TU Darmstadt von einer Gruppe von Hochschulmitgliedern gegründet worden, die ihre Lehrtätigkeit zu Fragen der Friedensforschung bündeln und eine gemeinsame Forschungstätigkeit initiieren wollten. Der Arbeit von IANUS liegt die Überzeugung zu Grunde, dass traditionelle disziplinäre Forschungsansätze nicht mehr ausreichen, angemessen auf die neuen Herausforderungen zu reagieren mit denen die Wissenschaft angesichts aktueller Problemlagen konfrontiert ist. Mit dem schwerpunktmäßig naturwissenschaftlich-technischen Ansatz sieht sich IANUS als notwendige Erweiterung zu der früher eher sozialwissenschaftlich orientierten Friedens- und Konfliktforschung. Die Gruppe ist in vielfältige Kooperationen mit in- und ausländischen wissenschaftlichen Institutionen eingebunden und leistet einen wichtigen Beitrag an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von IANUS ging die Initiative aus, zur Bildung einer international agierenden NGO von Wissenschaftlern (INESAP), die Sachverhalte, Forschungsergebnisse, Einschätzungen und konzeptionelle Überlegungen im Bereich der Nichtweiterverbreitung und Abrüstung von Atomwaffen in die internationale Politik einspeist. National gesehen gibt es eine enge Kooperation im Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Zur Zeit arbeiten bei IANUS insgesamt 16 Hochschullehrer, wissenschaftliche MitarbeiterInnen, DoktorandInnen aus sieben natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, eine Sekretärin und zehn studentische Hilfskräfte. Nach einer Startfinanzierung durch die VW-Stiftung wurden durch IANUS erhebliche Mittel bei US-amerikanischen und deutschen Stiftungen, bei der Deutschen Forschungsgesellschaft, beim Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages und vom Schweizer Wissenschaftsrat eingeworben.

Wolfgang Liebert, der im Namen der Preisträger eine programmatische Dankesrede hielt, ging auf die veränderten Rahmenbedingungen für die Friedensforschung in Deutschland ein, auf die neuen Aspekte der Rüstungs- und Technologiedynamik und die Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung. Er sprach die Hoffnung aus, dass sich viele IANUS-artige Initiativen an deutschen Hochschulen entwickeln mögen, die überlebensfähig werden und eine strukturverändernde Kraft entwickeln können.

Der Göttinger Friedenspreis

Der Göttinger Friedenspreis, der 1999 zum ersten Mal verliehen wurde, ist mit DM 10.000 dotiert und mit ihm sollen herausragende Initiativen und Leistungen aus Friedenswissenschaft und aktivem Friedensengagement gefördert werden. Er erinnert an den Göttinger Wissenschaftsjournalisten Roland Röhl, der sich als promovierter Chemiker journalistisch mit Fragen der Sicherheitspolitik sowie der Friedens- und Konfliktforschung befasste. Der 1997 verstorbene Wissenschaftler hatte in seinem Testament verfügt, dass sein Nachlass zur Bildung des Stiftungsvermögens verwandt wird.

Vorschläge für die Preisverleihung 2001 können bis zum 1. September 2000 an die Jury eingereicht werden:
z. Hd. Prof. Dr. Ernst Kuper, Zentrum für Europa- und Nordamerika Studien, Humboldt-Allee 3,
37073 Göttingen,
E-mail: usen@gwdg.de

Jürgen Nieth

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

von Johan Galtung

Frieden und Gewaltlosigkeit unterliegen als gesellschaftliche Prozesse einem ständigen Wandel. Damit diese Entwicklung nach vorne geht, zu mehr Frieden, bedarf es täglicher Arbeit. In seinem Artikel – der auf einer Rede vom 14. September 1999 in Byblos/Libanon während einer Tagung zu »Jugend und interkultureller Dialog« basiert – untersucht Johan Galtung die Schlüsselwerte für eine solche »Kultur des Friedens«.

Frieden und Gewaltlosigkeit sind wie Gesundheit und ein gesunder Lebenswandel keine isolierten Begebenheiten, sondern ständiges aufwärts Streben. Wie in einer gute Ehe müssen wir tagtäglich daran arbeiten. Und dafür benötigen wir eine Kultur des Friedens, die uns über die Ziele und Prozesse des Friedens informiert.

Die kommt jedoch nicht automatisch. Ein Beispiel: ein Land wird angegriffen und besetzt, ein Volk wird unterdrückt. Was wäre natürlicher als sich mit Gewalt selbst zu verteidigen? In einer Kultur des Krieges und der Gewalt sicherlich. Aber in einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit wird selbst die Selbstverteidigung mit Gewalt in Frage gestellt, ganz zu schweigen von einem gewaltsamen Angriff. Eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit erzeugt einen und wird erzeugt von einem Gandhi, der Indien gewaltlos von der kolonialen Unterdrückung zur Unabhängigkeit führte, wie auch einem Martin Luther King Jr., der die US-amerikanischen Schwarzen ohne Gewalt auf ihrem Weg zur Aufhebung der Rassentrennung und zur Freiheit anführte. Als der Ruf aus den Kirchen von Leipzig am 9. Oktober 1989 erschallte, gerade einmal vor 10 Jahren, und die großen Montagsdemonstrationen gegen post-stalinistische Repression begannen, wurden diese zwei Namen immer wieder genannt. Einen Monat später fiel die Mauer und der Kalte Krieg verflüchtigte sich.

Gleiches geschah in Südafrika: Die Rückbesinnung auf die Gewaltlosigkeit eines Luthuli zusammen mit einigen anderen Faktoren bereitete den Weg für den Triumph der Demokratie – one person, one vote – unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Ich bin mir sicher, dass die KurdInnen auch erfolgreich gewesen wären wenn sie sich von der Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit hätten inspirieren lassen. Aber das mag ja noch geschehen. Das Gleiche gilt für die PalästinenserInnen.

In all den oben berichteten erfolgreichen Fällen – und es gibt noch viele mehr in der zweiten Hälfte dieses so schlecht gemachten Jahrhunderts – hätten systematische Maßnahmen von Gewalt z. B. durch englische Kolonialherren, die Stasi und ihre vielleicht doch nicht so informellen MitarbeiterInnen, dem Ku Klux Klan im tiefen Süden der USA, der US-amerikanischen Nationalgarde und der Polizei vielleicht zu noch mehr Bereitschaft zum Töten, Zerstören und Unterdrücken geführt. Doch dieser Teufelskreis der »Gewalt, die Gewalt erzeugt« wurde aufgebrochen.

Was ist denn nun die Kultur des Friedens? Acht Schlüsselwerte oder Friedensdimensionen, die auf den UN Resolutionen aufgebaut sind, werden oft als die »offizielle« Definition genannt:

  • gewaltloses Handeln zur Lösung von Konflikten, sozialen Änderungen und sozialer Gerechtigkeit;
  • Schutz und Respekt der Menschenrechte;
  • demokratische Teilnahme an der Regierung;
  • Toleranz und Solidarität über Konfliktgrenzen hinaus;
  • anhaltende Entwicklung;
  • Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit;
  • freier Fluss und Teilung von Informationen;
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Welch guter Katalog von positivem Frieden von einem Komitee definiert! Herausstechendes Manko: es fehlen wichtige grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf.

Einen anderen Ansatz findet man in dem Dokument »Einer globalen Ethik entgegen: Eine erste Erklärung«, die von über 150 führenden VertreterInnen von Religionen aus aller Welt formuliert wurde. Sie war das Ergebnis einer 1993 in Chicago stattgefundenen Zusammenkunft des »Parlaments der Religionen« zum Anlass des 100 Jahrestages des ersten Parlaments dieser Art, das 1893 auch in Chicago zusammenkam. Sie enthält

  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit und dem Respekt vor dem Leben;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Toleranz und einem Leben in Wahrheit;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichem Umgang zwischen den Geschlechtern.

Zwischen diesen »Verpflichtungen« und den vier »Geboten«, die man in fast allen Religionen findet gibt es eine Verbindung, die da heißt: töte nicht, stehle nicht, lüge nicht, verletze nicht sexuelle Moral.

Es gibt jedoch noch eine Verbindung, und zwar zu den vier Bereichen der Macht:

  • Militärische Macht/Zwangsgewalt,
  • wirtschaftliche/belohnende Macht,
  • kulturelle/normative Macht
  • sowie politische/entscheidungsfindende Macht.

Das oben erwähnte Dokument, das die vier Gebote in vier Verpflichtungen überträgt, sagt in den Worten der Friedensforschung: Macht – ja, aber ohne Härte, ohne Töten, ohne Ausbeutung, ohne Dominanz, ohne Ausgrenzung. Respektiere das Leben, das Wertvollste was wir haben; lebe ein Leben in Solidarität mit denen, die im Elend leben indem Du für eine gerechte wirtschaftliche Ordnung arbeitest; akzeptiere die wunderbare kulturelle Vielfalt der Welt als eine Quelle beiderseitiger Bereicherung; erstrecke Gleichberechtigung und partnerschaftliche Zusammenarbeit über alle Trennungslinien der Gesellschaft, wie die zwischen Männern und Frauen, hinweg.

So haben die VertreterInnen diverser Religionen tatsächlich eine Theorie der Macht ohne Härte formuliert, ob absichtlich oder unabsichtlich bleibt dahin gestellt.

Die acht Bestandteile der Friedenskultur, wie sie von der UN/UNESCO definiert werden, passen grob gesagt in folgende Formel: Eine „Kultur der Gewaltlosigkeit“ passt zu „gewaltlosem Handeln“; eine „Kultur der Toleranz“ passt zu „Toleranz und Solidarität“; eine Kultur der „Gleichberechtigung und des partnerschaftlichen Umgangs zwischen Männern und Frauen“ passt zu „Menschenrechte/ Gleichberechtigung der Geschlechter“.

Aber dann gibt es für die „Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung“ kein Gegenüber in der UN/UNESCO-Liste, die andererseits die „anhaltende/zukunftsfähige Entwicklung“ (die wirtschaftliche Gerechtigkeit mag irgendwo dort versteckt sein), „Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit“ und den „freien Fluss und das Teilen von Informationen“ betont. Diese zwei wichtigen Komponenten mögen allerdings auch irgendwo in dem Begriff »Kultur«, der so häufig in dem Dokument des Parlaments der Religionen benutzt wird, versteckt sein.

Ich selbst spreche und schreibe über direkte Gewalt, strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt – die letztere in der Definition als jede Art von Kultur, die dazu benutzt wird, die anderen zwei zu legitimisieren. Frieden besteht aus direkten Handlungen der Liebe, Freundschaft und Solidarität, die gefestigt werden müssen indem sie in Friedensstrukturen eingebettet werden und die durch kulturellen Frieden, durch eine Friedenskultur legitimisiert werden.

Dies sind unterschiedliche Aspekte und Perspektiven, dennoch wissen wir im Großen und Ganzen worüber wir reden. Dennoch, der UNESCO Katalog ist nicht kulturell genug, sondern macht sich tatsächlich mehr Gedanken über direkte Aktionen und Strukturen als über Kulturen. Das müssten wir aber von einem hauptsächlich politischen – und sehr lobenswerten – Programm erwarten. Es spiegelt aber auch Widerwillen und eine fast peinliche Unfähigkeit wider, wenn es um Kultur im Allgemeinen geht, insbesondere um große Kulturen, Zivilisationen. Manche Kulturen legitimieren eine Ausweitung, andere nicht, bei jenen steht Frieden mehr im Mittelpunkt als bei anderen. Wie gehen wir damit um?

Dies bringt uns direkt zum zweiten Teil: Globalisierung, ein Wort, das heutzutage in aller Munde ist. Ein schönes Wort. Zwei Beispiele dafür haben wir schon behandelt: die UN/UNESCO-Liste der acht Werte und das Parlament der Religionen mit seinen vier Geboten/Verpflichtungen. Wir alle fühlen, dass unzählige Menschen hinter diesen beiden Konzepten des Friedens stehen. Die Anteilnahme ist sehr, sehr groß. Die ganze Welt ist irgendwie daran beteiligt.

Aber ich fürchte, dass es gar nicht so viel wahre Globalisierung in unser so schlecht gemanagten Welt gibt. Mit Globalisierung ist oft eher Amerikanisierung gemeint, so wie auch der Begriff Modernisierung oft nur als Deckwort für Verwestlichung benutzt wird.

Eine Region der Welt möchte den Rest der Welt durch Klonen formen: durch den Export einer wissenschaftlichen Logik (aristotelisch/kartesisch), einer monetären Logik (gewinnorientiert) und einer Staatslogik (machtorientiert). Der Begriff »Verwestlichung« trifft zwar genau zu, ist aber zu ehrlich um zu überzeugen.

Ein führendes Land jener Region will ausreichend militärische Macht um der oberste Sheriff der Welt zu sein. Es hat eine Wirtschaft ohne Grenzen als Ziel, die vor allem die Interessen der großen Firmen vertritt und die Millionen Menschen noch mehr ins Elend, sogar täglich 100.000 Menschen in den Tod treibt. Es verbreitet seine plebejische und höchst populäre Kultur über die ganze Welt, schwimmt auf seinen kurzlebigen Produkten und/aber beschränkt gleichzeitig die effektive Macht der Entscheidungsfindung auf sich selbst und die Länder seiner eigenen Wahl. Es macht selbst die UN-Generalversammlung, ja sogar den UN-Sicherheitsrat handlungsunfähig im Falle seines Widerspruchs und bricht internationale Gesetze. Ein ägyptischer Araber, Boutros Boutros Ghali hatte wegen dieses Problems keine Chance mehr, als UN Generalsekretär wieder gewählt zu werden.

Unter dem Deckmantel eines neutralen, parteilosen und landesunabhängigen objektiven Prozesses, der Globalisierung genannt wird, findet eine riesige Selbstwerbung und aggrandizement statt. Kein Zweifel: dies stellt einen Kontext dar und leitet uns zum nächsten Thema über: Was bedeutet dies für Frieden und Gewaltlosigkeit?

Anstelle von »Gewaltlosem Handeln zur Lösung von Konflikten« mussten wir zwei von der USA geführte Versuche, Konflikt mit Gewalt zu lösen, mit ansehen: 1991 gegen den Irak und 1999 gegen Jugoslawien. Abgesehen von der Tatsache, dass sie höchst zerstörerisch waren, konnte keiner der Konflikte gelöst werden. Beide hatten tiefe und komplexe Ursachen, beide hätten mit friedlichen Mitteln bewältigt werden können (s. www. transcend.org für von TRANSCEND entwickelte friedliche Konfliktlösungen); beide sind jetzt noch weiter entfernt von einer Lösung als je zuvor. Feinde des Westens, MoslemInnen und orthodoxe ChristInnen, werden in großem Ausmaß getötet und ihre Umgebung zerstört, was nur noch zu einer Verhärtung und Verschärfung der Konflikte geführt hat. Darüber hinaus wurden jegliche Anstrengungen die Konflikte friedlich, kreativ und ohne Bedrohung zu lösen herunter gespielt, während man auf den richtigen Moment wartete um zuschlagen zu können.

Beachtung der Menschenrechte? Dieses Verhalten entspricht ganz bestimmt nicht der Vereinbarung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, diesem so wichtigen Dokument der Menschenrechte, das noch nicht einmal von den USA unterzeichnet wurde.

Demokratische Beteiligung? Im Gegenteil; die Welt scheint noch oberlastiger zu werden als je zuvor. Elizabeth Liagin schrieb in einem kürzlich in Commentary from Malaysia erschienenen Artikel, dass mit den heutigen Fruchtbarkeitsraten „die durchschnittliche Frau im Jemen während ihres Lebens sieben Kinder zur Welt bringt und, wenn die Geburtsrate gleich bleibt, 49 Enkel, 343 Urenkel und zweieinhalbtausend Ur-Urenkel hat!“ Die Zahlen für den Westen wären 1, 1-2, 2-3.

In der Weltbevölkerung ist der Westen jetzt schon eine kleine Minderheit (ca. 16%); in den USA leben weniger als 5 Prozent. Dies könnte ein wenig Bescheidenheit hervor rufen – insbesondere in einer Zivilisation und einem Land, in dem der Demokratie, (»one person, one vote« und Mehrheitswahlrecht) so viel Beachtung zugemessen wird. Aber der Eindruck den man erhält ist eher Verkrampfung, ein Festhalten an veralteten Strukturen. Er erinnert an das Südafrika der Apartheid. Der Kampf um anhaltende Privilegien wird verschleiert unter dem Mantel der unechten Globalisierung und die Kriegskultur, der einfache Rückgriff auf Gewalt und Krieg, wird verkleidet als »humanitäre Intervention«.

Man kann noch viel darüber sagen. Es geht aber auch um einige reale Themen. Denn der Amerikanisierung folgt keine Kultur der Gewaltlosigkeit, keine Kultur der Solidarität und der gerechten wirtschaftlichen Ordnung, keine Kultur der Toleranz sondern eher die Tendenz zur Denunzierung kritischer Stimmen in anderen Kulturen als »fundamentalistisch«. Was die Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichen Zusammenarbeit angeht, siehe oben.

Der Schluss ist eindeutig: Wir, und insbesondere die Jugend, sollten uns intensiv für eine wahre Globalisierung einsetzen, nicht für eine Karikatur die am besten als Amerikanisierung bekannt ist. Es kann sogar sein, dass wir uns die Geschichte neu ansehen müssen, dass es darum geht, weniger die Kriegshelden, den Mann auf dem Pferderücken zu verherrlichen sondern vielmehr FriedensheldInnen wie Mütter die ein neues Menschenkind zur Welt bringen; dass wir die zahllosen Fälle der Konfliktlösung ohne Gewalt, die um uns herum stattfinden, mehr betonen müssen.

Es kann also sein, dass wir Demokratie neu beleben müssen. Wie wäre es mit einem besonderen Parlament für Frauen, für Jugendliche, für Kinder?

Und es kann sein, dass wir auch unsere Menschenrechte neu überdenken müssen. Menschenrechte, die nicht nur die – im Großen und Ganzen löblichen – westlichen Werte beinhalten, sondern die auch Werte anderer Zivilisationen widerspiegeln. Menschenrechte, die die Grenzen von Konflikten überschreiten.

Johan Galtung, Dr. h.c. mult, Professor der Friedensforschung, Direktor TRANSCEND: ein Friedens- und Entwicklungsnetzwerk