Dem Krieg den Krieg erklären

Dem Krieg den Krieg erklären

von Jürgen Nieth

Der von US-Präsident Bill Clinton am 1. September bekannt gegebene Entschluss, die Entscheidung über den Bau und die Stationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) seinem Nachfolger zu überlassen, wurde weltweit mit Erleichterung aufgenommen. Zu offensichtlich war nach dem gescheiterten Abwehrtest vom 7. Juli, dass der politische Anspruch, einen begrenzten Raketenangriff abzuwehren, derzeit technisch nicht einzulösen ist. Zwar wurde mit der Verschiebung Zeit gewonnen, doch Anlass zur Beruhigung gibt es nicht. Al Gores Kontrahent George Bush Jr. lässt keinen Zweifel daran, dass er ein noch viel größeres NMD möchte. Nur zu berechtigt sind daher die Befürchtungen Russlands und Chinas, sie könnten ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA verlieren.

Es zeigt sich erneut, dass selbst der mächtigste Politiker nicht an den Gesetzmäßigkeiten der Physik rütteln kann. Eine Rakete kann eben nicht mit der Fliegenklatsche vom Himmel geholt werden. Allerdings zählt in der Politik der Anschein oft mehr als die Wahrheit. Allzu deutlich wurde dies im Golfkrieg, als das völlige Versagen der Patriot-Abwehrrakete der USA als grandioser Erfolg verkauft wurde.

Selbst wenn NMD auf absehbare Zeit nicht zuverlässig funktionieren sollte, schafft es dennoch Tatsachen. Es erhöht die Unsicherheit zwischen den potenziellen GegnerInnen, die dagegen rüsten um ihre Abschreckung zu sichern. Auch die USA und andere NATO-Staaten werden sich kaum auf einen löchrigen Raketenabwehrschirm verlassen wollen und daher ihre eigenen Kernwaffen behalten bzw. modernisieren.

Die Risiken der immer noch viel zu großen Nuklear- und Raketenarsenale sind nicht virtuell, sie sind ganz real. Dies zeigt einmal mehr das gesunkene russische Atom-U-Boot, das der Welt einen Schrecken über die Gefahren von Nuklearunfällen eingejagt hat. Statt dieses Ereignis aber zur Kritik an der Atomrüstung zu nutzen, kritisierten die westlichen Medien lediglich den sowjetischen Führungsstil Wladimir Putins. Kaum erwähnt wird, dass Putins Großmachtpolitik nicht nur ein Produkt innenpolitischer Machtspiele ist, sondern auch eine Reaktion auf westliche Dominanzbestrebungen, von der NATO-Osterweiterung über den Kosovokrieg bis zur Raketenabwehr. Mit NMD würden die nuklearen Risiken noch multipliziert. Dies zeigt nichts deutlicher als der Vorschlag der USA, Russland solle seine Atomwaffen nicht abrüsten, sondern in höchste Alarmbereitschaft versetzen, um NMD überwinden zu können.

Aus den Erfahrungen des Kalten Krieges kann es nur die Konsequenz geben, Atomwaffen nicht zu bekämpfen, sondern vollständig zu beseitigen. Die Abrüstung ballistischer Raketen blieb bislang allerdings nur ein Randthema. So beklagte Jayantha Dhanapala, Leiter der Abrüstungs-Abteilung der Vereinten Nationen, am 3. Juli: „Warum bleibt die öffentliche Debatte heute in einem Duell zwischen Abschreckung und Abwehr gefangen, während die Abrüstung von Raketen nur eine geringe Aufmerksamkeit erfährt?“

Die mit der NMD-Verschiebung gewonnene Zeit könnte für politische Initiativen zur internationalen Raketenkontrolle genutzt werden. Konkrete Vorschläge für ein globales Raketenkontrollsystem möchte Russland auf den Weg bringen. Schritte in Richtung auf eine multilaterale Raketenkontrolle und verbesserte Frühwarnung wurden Ende März 2000 bei einem Expertengespräch in Ottawa diskutiert. Als Modell für umfassende Raketenabrüstung könnte ein 1992 von der Federation of American Scientists erarbeiteter Vorschlag dienen. Ein Raketenteststopp würde den Entwicklungsstand bei Raketen einfrieren.

Bei der Entwicklung solcher Abrüstungskonzepte ebenso wie bei der kritischen Analyse von Rüstungsprogrammen wie NMD spielt die Friedenswissenschaft eine wichtige Rolle. Dass die technischen Grenzen der Raketenabwehr ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, ist der beharrlichen Aufklärung durch PhysikerInnen zu verdanken. Einer der aktivsten und zähesten Gegner von NMD ist Ted Postol, Professor am MIT, der sich dabei mit mächtigen GegnerInnen anlegt und seinen Job riskiert. In der NMD-Debatte drehte Postol den Spieß um: Er verklagte die Verantwortlichen, bei einem der Abwehrtests einen Erfolg nur vorgetäuscht zu haben.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es weiterhin einen großen Bedarf an kritischer friedenswissenschaftlicher Expertise gibt, einer der Bereiche, in denen Frieden zum Beruf werden kann. Leider stehen den immer neuen Konfliktherden nicht die adäquaten Mittel gegenüber. Nicht einmal die mit hohen Vorschusslorbeeren bedachte deutsche Stiftung für die Friedensforschung konnte bislang vom Stapel laufen. Wie einfach war es dagegen im vergangenen Jahr, in kürzester Zeit Milliardenbeträge (also das Tausendfache) für den Krieg zu bewilligen. Wenn es für den Krieg immer noch mehr Geld gibt als für die präventive Bewahrung des Friedens, dann müsste Deutschland dem Krieg den Krieg erklären.

Jürgen Scheffran

Zur Stiftung Friedensforschung

Zur Stiftung Friedensforschung

von Christiane Lammers

Nach Jahren der politischen Ignoranz gegenüber der Friedensforschung liegt nun Frühlingsduft in der Luft: Am 20. Januar beschloss der Dt. Bundestag die Bundesregierung aufzufordern, eine Deutsche Stiftung für Friedensforschung zu gründen. Verschiedene Abstimmungsprozesse waren zwischenzeitlich durchlaufen worden: Nachdem im Forschungshaushalt 1999 bereits sechs Mio. DM für die Friedens- und Konfliktforschung eingestellt worden waren, wurden Ende August 11 Initiativgutachten in Auftrag gegeben um eine breite Expertise für die inhaltlichen und strukturellen Erfordernisse zur Förderung der Friedensforschung zu erhalten, im Oktober wurde die sogenannte Struktur- und Findungskommission berufen, die sich auf inhaltliche Leitlinien für die Arbeit der Stiftung in den nächsten fünf Jahren einigte. Im November beschloss der Haushaltsausschuss die finanziellen Voraussetzungen für das 50 Millionen DM umfassende Stiftungskapital schrittweise über drei Jahre zu schaffen. Im Januar folgte dann der o.g. Gründungsbeschluss des Bundestages und inzwischen gibt es auch einen mehrfach überarbeiteten Satzungsentwurf, der die Struktur und die Aufgaben der Stiftung regelt. Was fehlt ist nur noch die Benennung der Stiftungsgremien und dann kann es hoffentlich noch im Mai losgehen.

Der Gründungsprozess ist erfreulicherweise sehr schnell vonstatten gegangen. In Details gab es zwar einige »Merkwürdigkeiten« wie z.B. die Vergabepraxis der »Prioritären Ersten Maßnahmen«, deren Abwicklung über die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, die in Relation zum Gesamtbudget enorm hohen Verwaltungs-Overhead-Kosten, die zwischenzeitliche Infragestellung der Existenz der AFB u.a. Dies ist jedoch Schnee von gestern, jetzt sollte im Mittelpunkt der Überlegungen stehen, ob die Stiftung inhaltlich und strukturell geeignet ist die Defizite der Friedensforschung in der Bundesrepublik zu beheben.

Seit Beginn der Friedensforschung wird über ihren Gegenstand debattiert. Da der Friede kein »Punkt in der Geschichte«, sondern ein Prozess ist, ist er auch als Gegenstand von Forschung nicht statisch, sondern zukunftsorientiert. Die Forschung selbst ist wert- und handlungsorientiert. Unstrittig ist innerhalb der Friedensforschung, dass diese auf den Abbau von Gewalt (personaler und struktureller) abzielt. Aber eben dies sind die Anknüpfungspunkte des sogenannten Ideologieverdachts – auch jüngst in der Bundestagsdebatte im Januar wieder zu hören. Die so verdächtige Friedensforschung wird immer stärker zur ganz normalen außen- und sicherheitspolitischen Forschung umdefiniert. Mag sein, dass deshalb von Pazifismus, Gewaltlosigkeit, Militär- und Machtkritik als Bezugspunkte der Friedensforschung keine Rede mehr ist, dass deshalb die FriedensforscherInnen aufgefordert wurden, einseitig Brücken zur Stiftung Wissenschaft und Politik u.a. außenpolitischen, nicht friedenswissenschaftlichen, Forschungseinrichtungen zu schlagen. So erklärt sich vielleicht auch der Sitz und die Stimme des Verteidigungsministeriums im neuen Stiftungsrat. Vieles deutet jedenfalls daraufhin, dass das kritische Potenzial der Friedensforschung – wenn überhaupt – weiterhin nur randständig gefördert werden soll. In dieses Bild passt auch die ständige Rede von der »Politikberatung« als wichtiges Augenmerk für die zu fördernde Friedensforschung und für die Stiftung als Ganzes.

Die Komplexität des Gegenstandes »Frieden« drückt sich auch in der Multidisziplinarität der Friedensforschung aus. FriedensforscherInnen sind von Haus aus Gesellschafts-, Erziehungs-, Rechts-, Geistes-, Natur- oder IngenieurwissenschaftlerInnen. Zur Förderung der Friedenswissenschaft ist es notwendig, diese Pluralität zu erhalten und in eine Inter- oder Transdisziplinarität zu überführen. Hier liegen nach wie vor wesentliche Defizite der Friedensforschung methodischer, theoretischer und struktureller Art und es ist bisher nicht erkennbar, ob und wie das Problem durch die Stiftung aufgegriffen wird.

Die Friedensforschung ist neben ihren immanenten Problemen auch besonders durch die allgemeinen wissenschaftspolitischen Strukturprobleme betroffen. Dies gilt sowohl für die Einzeldisziplinen als auch für sie selbst als Transdisziplin. Stichworte sind: Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den mainstreams in den Disziplinen, Nachwuchsförderung, Frauenförderung, Einheit von Forschung und Lehre.

Zunehmend ist eine Entwicklung zu beobachten, nach der sich die Friedensforschung in halbwegs gut ausgestatteten Instituten außerhalb der Hochschulen etablieren kann, die Integration in den Hochschulalltag jedoch nicht vorwärts kommt. Nach wie vor gibt es in der Bundesrepublik keinen explizit friedenswissenschaftlichen Studiengang. Hinzu kommt, dass in mit Friedensfragen beschäftigten NGOs nicht nur ein Bedarf an Expertise, sondern auch eine Professionalität entstanden ist, die selbst wissenschaftliche Kompetenzen entwickelt hat. Diese in den gesamtwissenschaftlichen Prozess mit einzubeziehen müsste im Sinne der Friedensentwicklung eines der Ziele der Förderung der Friedensforschung sein.

Zum momentanen Zeitpunkt darf man skeptisch sein, ob es den Stiftungsgremien gelingen wird entsprechende Programme zu entwickeln um auf die beschriebenen Förderungsdefizite zu reagieren. Sicherlich ist es ein wichtiger Schritt, dass nun zumindest für die nächsten 10 Jahre eine eigenständige Förderungsinstitution geschaffen wurde, mit einer geplanten jährlichen Ausschüttung von fünf Millionen DM. Vieles wird nun aber davon abhängen, inwiefern tatsächlich die Stiftungsgremien politikunabhängig im Sinne der Friedensforschung und ihren Anforderungen entscheiden können. Dafür wird mit entscheidend sein, wer in die Stiftungsgremien berufen wird. Auch hierfür wurde leider kein der Friedenswissenschaft entsprechender Diskurs, sondern ein eher autokratisches Verfahren gewählt.

Last not least sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass für fünf Millionen gerade einmal ein halber Panzer, aber nicht der Frieden zu kaufen ist.

Göttinger Friedenspreis für IANUS

Göttinger Friedenspreis für IANUS

von Jürgen Nieth

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TU Darmstadt ist am 9. März mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet worden. Die Jury würdigt damit die innovativen Leistungen der Arbeitsgruppe auf dem Gebiet fächerübergreifender und praxisorientierter Friedenswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Mit IANUS „habe sich ein für die deutsche Wissenschaftslandschaft neuer und ungewöhnlicher Arbeitszusammenhang naturwissenschaftlich-technisch fundierter, militärkritischer Expertise etabliert.“

Jurymitglied Corinna Hauswedell schlug bei der Preisverleihung den Bogen von den »Göttinger 18«, jener Gruppe von Naturwissenschaftlern, die 1957 mit ihrem Protest gegen die geplante Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen Geschichte schrieben, zu den Trägern des Göttinger Friedenspreises 2000: Naturwissenschaftlern, die sich gleichsam mit ihrem Wissen gegen die Massenvernichtungswaffen engagieren. IANUS habe sich Ansehen erworben „in vielfältigen in- und ausländischen Kooperationen …, in der fachlichen Beratung nationaler und internationaler politischer und parlamentarischer Gremien der Rüstungskontrolle und Technikfolgenabschätzung, als kritische Medienressource sowie bei der Entwicklung politischer Initiativen, beispielsweise zum Abbau und zur Begrenzung von Nuklearwaffen, zur Verifikation der Biowaffenkonvention, bei der Abrüstung und Konversion von Raketentechnologien und Weltraumwaffen.“

Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn hob in einem Grußwort hervor, IANUS trage „zur Belebung, zur Vertiefung und Verstetigung eines vielfältigen und breit gefächerten Austausches zwischen der Friedens- und Konfliktforschung und der politischen Öffentlichkeit in Deutschland und im europäischen Rahmen bei, ohne die Friedensgestaltung nicht möglich ist.“

Der niedersächsische Wissenschaftsminister, Thomas Oppermann, betonte in seinem Grußwort, dass IANUS der Tatsache Rechnung trägt, „dass Friedensforschung auch Technikfolgenabschätzung und die Entwicklung neuer, menschlicher Technologien umfassen muss“. Friedensforschung sei heute, da die Zahl der mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte weiter zunehme, „vielleicht noch wichtiger als zu Zeiten des Kalten Krieges.“ Hinzu komme, dass sich immer öfter Kriege aus Konflikten um die knappen Ressourcen der Natur entwickelten. Deshalb müsse Friedensforschung ökologische Aspekte mit einbeziehen.

Der antike und
der moderne Janus

Dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung Ulrich Albrecht gelang in seiner Laudatio eine pointierte kulturhistorische Parallelisierung der Gestalt des JANUS: „Im Wintersemester 1988/89 war ich … augenscheinlich Zeuge der Entstehung der IANUS-Gruppe. Aufgrund einer über die Jahre anhaltenden persönlichen Verbindung möchte ich diesen Tag der Freude nutzen, um die Laudatio eher heiter anzulegen,_ als Reflexion über den selbstgewählten Namen der Gruppe.

Wer oder was ist IANUS? Die Arbeitsgruppe hat seinerzeit gewiss mit Bedacht den Namen dieses antiken Gottes gewählt, als Vorbild. Also weiter gefragt: Was hat Janus seinerzeit und in der Neuzeit gemacht – schließlich geht es um eine Laudatio. Wer waren die Partner oder gar die Partnerin? … In beiden Fällen sind … Folgen aus den Partnerschaften entstanden, die viele Ähnlichkeiten aufweisen, wie gleich aufgezeigt werden wird. Schließlich gefragt: Was wird aus IANUS, was ist seinerzeit aus Janus geworden?

1. Wer ist Janus? Im alten Rom der Gott der Anfänge, der Türen und Tore, der Durchblicke und Durchgänge. Das ist eine bezeichnende Perspektive für die heutigen IANIer: Der Arbeitsgruppe ging es und geht es um Anfänge, um Durchblicke, um Verbindungen zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft.

In der bildenden Kunst wird Janus dargestellt mit zwei – in entgegengesetzte Richtung blickenden – Gesichtern, manchmal gar mit vier Gesichtern. Er sieht einfach alles, darunter – so ja auch der moderne IANUS was andere nicht sehen. Sein griechischer Vorgänger wurde Panoptes, der Allesseher, genannt … Der blickte einfach alles, und die Griechen stellten sich vor, dass sein ganzer Kopf mit Augen besetzt war.

2. Die Taten des Janus, damals und heute. Vom antiken Janus wird der Schutz, modern ausgedrückt, von Whistleblowern, berichtet, von Menschen, die Geheimnisse etwa zur Wahrung des Friedens, verraten. Eine solche war im alten Rom das Mädchen Tarpeia, die seither in der Ewigen Stadt als Urbild von Verrat gilt … Tarpeia hatte den Sabinern, die ihre geraubten Frauen wiederhaben wollten, mit List den Zugang zu einem Vorwerk des Kapitols geöffnet. Der galante Janus half dem fliehenden Mädchen mit einem Akt chemischer Kriegsführung: Er überschwemmte das Tor hinter der Fliehenden vor den Verfolgern mit einer heißen Schwefelquelle.

Die aufklärerische Tätigkeit in Sachen neuer Waffentechnik bleibt ein Hauptmerkmal der Tätigkeit des modernen IANUS, es handelt sich um eine Gruppe von Whistleblowern, in der Sicht mancher Konservativer womöglich um eine Vereinigung, die mit krimineller Energie Tatsachen erhellt, die mancher im Establishment lieber nicht so ans Licht gezogen sehen möchte. Bevor ich weitere Taten der IANIER hervorhebe, muss ich auf die Partnerin von Janus, dem antiken, eingehen.

3. Die Partnerin. Seine sagenhafte Umsicht nützte dem antiken Janus sehr bei dem Versuch, eine Partnerin zu gewinnen. Seine Auserwählte hieß Cardea, sie war gleichfalls Göttin, eben »dea«, und Cardo ist für diese Jagdgöttin ein merkwürdiger Vorname, heißt dies doch wörtlich übersetzt Türangel, Türzapfen. Bekanntlich waren die Alten sehr frei im Umgang mit Bildern aus der Sexualität, und die Verbindung zwischen Janus und Cardea fassten sie mit der Weise, wie Türzapfen und Türangel ineinander greifen. Aber in einer Laudatio geht es vorrangig um die übertragene Bedeutung, Cardo, oder die Göttin Cardea, steht methaphorisch zugleich für Drehpunkt, Angelpunkt, Wende. Cardo mundi hieß bei den Alten die Weltachse, die Grenzscheide, und dieser sich zugewandt zu haben darf beiden, dem antiken Janus wie den heutigen IANIERn, bescheinigt werden.

Cardea … neckte ihre Verehrer, indem sie die in eine bestimmte Höhle zum Rendezvous bestellte und nachzukommen versprach, dann lief sie fort. Beim antiken Janus war sie da an den Falschen geraten, der blickte die Sache mit seinem rückwärtigen Gesicht und errang ihre Gunst. Ich weiß nun nicht, wie oft die modernen IANIER, die ja auch auf Jagdgötter bei ihrer Suche nach Fakten in der Fortentwicklung der Rüstung angewiesen bleiben, in falsche Höhlen, Sackgassen gelockt worden sind, und wenn sie dies blickten, was dann geschehen ist.

Janus war jedenfalls seinerzeit so beglückt, dass er seiner Cardea die Fähigkeit verlieh, Vampire zu vertreiben. Und die Vertreibung von Rüstungsvampiren ist ja auch eine Spezialität des modernen IANUS. An die Studierenden geben die modernen IANIER lobenswerterweise dieses Vermögen, Vampire zu vertreiben, wirksam weiter. Ich halte es für sehr wichtig, dass IANUS eine Forschungsgruppe an der Universität ist, nicht eine abgehobene Expertentruppe im gesellschaftlichen Nirgendwo.

4. Wie geht es weiter mit Janus? Dem griechischen Panoptes ist es ja herzlich schlecht ergangen. In der Gigantomachie, der Schlacht der Götter mit den Giganten, ist er jämmerlich umgekommen. Da bietet der römische Janus eine heiterere Perspektive. Eine der römischen Sagen weiß, dass Janus König von Latium wurde und nach der Gigantenschlacht Chronos, die Zeit, bei sich aufnahm. Eine andere Sage macht ihn zum Urgroßvater von Romulus und Remus, den Begründern des modernen Rom, der Weltstadt. Noch einmal stoßen wir in diesem Zusammenhang auf den Krieg, auf den Kriegsgott Mars. Rhea Silvia, die Enkelin von Janus, ihr mythischer Name sagt kaum mehr als: Die Herrin der Wälder, schöpfte in einem Mars geweihten heiligen Hain an einer Quelle Wasser, und der Gott nahte sich ihr und machte sie zur Mutter seiner Zwillinge Romulus und Remus. Andere Quellen formulieren weniger diskret: Mars, der Krieg, bekommt Söhne, indem er deren Mutter vergewaltigt. Der Zusammenhang von Krieg und Vergewaltigung, ein sehr aktuelles Thema, ist mithin schon im antiken Mythos vorgegeben …

Der moderne IANUS und sein antikes Vorbild weisen zugleich über ihr eigenes Tun weit hinaus. Eine Tür ist nicht lediglich eine Klappe, sondern sie verbindet, ein Inneres mit einem Äußeren, der Blick hat zwei Richtungen. Deshalb erhoben die Alten dies zum Mythos und stellten sich einen Gott mit zwei Gesichtern vor. Der moderne IANUS ist angetreten mit der Auffassung, dass Physik nicht lediglich Physik sei, sondern sowohl vielfältige Wirkungen in Richtung Gesellschaft entfaltet, als auch umgekehrt gesellschaftliche Wirkungen in der Fortentwicklung der Physik erkennbar sind. Diese Ambi-Valenz, diese Doppelwertigkeit, ist von IANUS erkannt und in pionierhafter Weise zum Thema wissenschaftlicher Arbeit gemacht worden. Dem gebührt Anerkennung, und diese wird der Gruppe heute durch die Verleihung des Göttinger Friedenspreises der Stiftung Dr. Roland Röhl zuteil …“

Über den Preisträger

IANUS ist 1987 an der TU Darmstadt von einer Gruppe von Hochschulmitgliedern gegründet worden, die ihre Lehrtätigkeit zu Fragen der Friedensforschung bündeln und eine gemeinsame Forschungstätigkeit initiieren wollten. Der Arbeit von IANUS liegt die Überzeugung zu Grunde, dass traditionelle disziplinäre Forschungsansätze nicht mehr ausreichen, angemessen auf die neuen Herausforderungen zu reagieren mit denen die Wissenschaft angesichts aktueller Problemlagen konfrontiert ist. Mit dem schwerpunktmäßig naturwissenschaftlich-technischen Ansatz sieht sich IANUS als notwendige Erweiterung zu der früher eher sozialwissenschaftlich orientierten Friedens- und Konfliktforschung. Die Gruppe ist in vielfältige Kooperationen mit in- und ausländischen wissenschaftlichen Institutionen eingebunden und leistet einen wichtigen Beitrag an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von IANUS ging die Initiative aus, zur Bildung einer international agierenden NGO von Wissenschaftlern (INESAP), die Sachverhalte, Forschungsergebnisse, Einschätzungen und konzeptionelle Überlegungen im Bereich der Nichtweiterverbreitung und Abrüstung von Atomwaffen in die internationale Politik einspeist. National gesehen gibt es eine enge Kooperation im Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Zur Zeit arbeiten bei IANUS insgesamt 16 Hochschullehrer, wissenschaftliche MitarbeiterInnen, DoktorandInnen aus sieben natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, eine Sekretärin und zehn studentische Hilfskräfte. Nach einer Startfinanzierung durch die VW-Stiftung wurden durch IANUS erhebliche Mittel bei US-amerikanischen und deutschen Stiftungen, bei der Deutschen Forschungsgesellschaft, beim Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages und vom Schweizer Wissenschaftsrat eingeworben.

Wolfgang Liebert, der im Namen der Preisträger eine programmatische Dankesrede hielt, ging auf die veränderten Rahmenbedingungen für die Friedensforschung in Deutschland ein, auf die neuen Aspekte der Rüstungs- und Technologiedynamik und die Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung. Er sprach die Hoffnung aus, dass sich viele IANUS-artige Initiativen an deutschen Hochschulen entwickeln mögen, die überlebensfähig werden und eine strukturverändernde Kraft entwickeln können.

Der Göttinger Friedenspreis

Der Göttinger Friedenspreis, der 1999 zum ersten Mal verliehen wurde, ist mit DM 10.000 dotiert und mit ihm sollen herausragende Initiativen und Leistungen aus Friedenswissenschaft und aktivem Friedensengagement gefördert werden. Er erinnert an den Göttinger Wissenschaftsjournalisten Roland Röhl, der sich als promovierter Chemiker journalistisch mit Fragen der Sicherheitspolitik sowie der Friedens- und Konfliktforschung befasste. Der 1997 verstorbene Wissenschaftler hatte in seinem Testament verfügt, dass sein Nachlass zur Bildung des Stiftungsvermögens verwandt wird.

Vorschläge für die Preisverleihung 2001 können bis zum 1. September 2000 an die Jury eingereicht werden:
z. Hd. Prof. Dr. Ernst Kuper, Zentrum für Europa- und Nordamerika Studien, Humboldt-Allee 3,
37073 Göttingen,
E-mail: usen@gwdg.de

Jürgen Nieth

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

Gewaltlosigkeit im Kontext der Globalisierung

von Johan Galtung

Frieden und Gewaltlosigkeit unterliegen als gesellschaftliche Prozesse einem ständigen Wandel. Damit diese Entwicklung nach vorne geht, zu mehr Frieden, bedarf es täglicher Arbeit. In seinem Artikel – der auf einer Rede vom 14. September 1999 in Byblos/Libanon während einer Tagung zu »Jugend und interkultureller Dialog« basiert – untersucht Johan Galtung die Schlüsselwerte für eine solche »Kultur des Friedens«.

Frieden und Gewaltlosigkeit sind wie Gesundheit und ein gesunder Lebenswandel keine isolierten Begebenheiten, sondern ständiges aufwärts Streben. Wie in einer gute Ehe müssen wir tagtäglich daran arbeiten. Und dafür benötigen wir eine Kultur des Friedens, die uns über die Ziele und Prozesse des Friedens informiert.

Die kommt jedoch nicht automatisch. Ein Beispiel: ein Land wird angegriffen und besetzt, ein Volk wird unterdrückt. Was wäre natürlicher als sich mit Gewalt selbst zu verteidigen? In einer Kultur des Krieges und der Gewalt sicherlich. Aber in einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit wird selbst die Selbstverteidigung mit Gewalt in Frage gestellt, ganz zu schweigen von einem gewaltsamen Angriff. Eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit erzeugt einen und wird erzeugt von einem Gandhi, der Indien gewaltlos von der kolonialen Unterdrückung zur Unabhängigkeit führte, wie auch einem Martin Luther King Jr., der die US-amerikanischen Schwarzen ohne Gewalt auf ihrem Weg zur Aufhebung der Rassentrennung und zur Freiheit anführte. Als der Ruf aus den Kirchen von Leipzig am 9. Oktober 1989 erschallte, gerade einmal vor 10 Jahren, und die großen Montagsdemonstrationen gegen post-stalinistische Repression begannen, wurden diese zwei Namen immer wieder genannt. Einen Monat später fiel die Mauer und der Kalte Krieg verflüchtigte sich.

Gleiches geschah in Südafrika: Die Rückbesinnung auf die Gewaltlosigkeit eines Luthuli zusammen mit einigen anderen Faktoren bereitete den Weg für den Triumph der Demokratie – one person, one vote – unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Ich bin mir sicher, dass die KurdInnen auch erfolgreich gewesen wären wenn sie sich von der Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit hätten inspirieren lassen. Aber das mag ja noch geschehen. Das Gleiche gilt für die PalästinenserInnen.

In all den oben berichteten erfolgreichen Fällen – und es gibt noch viele mehr in der zweiten Hälfte dieses so schlecht gemachten Jahrhunderts – hätten systematische Maßnahmen von Gewalt z. B. durch englische Kolonialherren, die Stasi und ihre vielleicht doch nicht so informellen MitarbeiterInnen, dem Ku Klux Klan im tiefen Süden der USA, der US-amerikanischen Nationalgarde und der Polizei vielleicht zu noch mehr Bereitschaft zum Töten, Zerstören und Unterdrücken geführt. Doch dieser Teufelskreis der »Gewalt, die Gewalt erzeugt« wurde aufgebrochen.

Was ist denn nun die Kultur des Friedens? Acht Schlüsselwerte oder Friedensdimensionen, die auf den UN Resolutionen aufgebaut sind, werden oft als die »offizielle« Definition genannt:

  • gewaltloses Handeln zur Lösung von Konflikten, sozialen Änderungen und sozialer Gerechtigkeit;
  • Schutz und Respekt der Menschenrechte;
  • demokratische Teilnahme an der Regierung;
  • Toleranz und Solidarität über Konfliktgrenzen hinaus;
  • anhaltende Entwicklung;
  • Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit;
  • freier Fluss und Teilung von Informationen;
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Welch guter Katalog von positivem Frieden von einem Komitee definiert! Herausstechendes Manko: es fehlen wichtige grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf.

Einen anderen Ansatz findet man in dem Dokument »Einer globalen Ethik entgegen: Eine erste Erklärung«, die von über 150 führenden VertreterInnen von Religionen aus aller Welt formuliert wurde. Sie war das Ergebnis einer 1993 in Chicago stattgefundenen Zusammenkunft des »Parlaments der Religionen« zum Anlass des 100 Jahrestages des ersten Parlaments dieser Art, das 1893 auch in Chicago zusammenkam. Sie enthält

  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit und dem Respekt vor dem Leben;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Toleranz und einem Leben in Wahrheit;
  • die Verpflichtung zu einer Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichem Umgang zwischen den Geschlechtern.

Zwischen diesen »Verpflichtungen« und den vier »Geboten«, die man in fast allen Religionen findet gibt es eine Verbindung, die da heißt: töte nicht, stehle nicht, lüge nicht, verletze nicht sexuelle Moral.

Es gibt jedoch noch eine Verbindung, und zwar zu den vier Bereichen der Macht:

  • Militärische Macht/Zwangsgewalt,
  • wirtschaftliche/belohnende Macht,
  • kulturelle/normative Macht
  • sowie politische/entscheidungsfindende Macht.

Das oben erwähnte Dokument, das die vier Gebote in vier Verpflichtungen überträgt, sagt in den Worten der Friedensforschung: Macht – ja, aber ohne Härte, ohne Töten, ohne Ausbeutung, ohne Dominanz, ohne Ausgrenzung. Respektiere das Leben, das Wertvollste was wir haben; lebe ein Leben in Solidarität mit denen, die im Elend leben indem Du für eine gerechte wirtschaftliche Ordnung arbeitest; akzeptiere die wunderbare kulturelle Vielfalt der Welt als eine Quelle beiderseitiger Bereicherung; erstrecke Gleichberechtigung und partnerschaftliche Zusammenarbeit über alle Trennungslinien der Gesellschaft, wie die zwischen Männern und Frauen, hinweg.

So haben die VertreterInnen diverser Religionen tatsächlich eine Theorie der Macht ohne Härte formuliert, ob absichtlich oder unabsichtlich bleibt dahin gestellt.

Die acht Bestandteile der Friedenskultur, wie sie von der UN/UNESCO definiert werden, passen grob gesagt in folgende Formel: Eine „Kultur der Gewaltlosigkeit“ passt zu „gewaltlosem Handeln“; eine „Kultur der Toleranz“ passt zu „Toleranz und Solidarität“; eine Kultur der „Gleichberechtigung und des partnerschaftlichen Umgangs zwischen Männern und Frauen“ passt zu „Menschenrechte/ Gleichberechtigung der Geschlechter“.

Aber dann gibt es für die „Kultur der Solidarität und einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung“ kein Gegenüber in der UN/UNESCO-Liste, die andererseits die „anhaltende/zukunftsfähige Entwicklung“ (die wirtschaftliche Gerechtigkeit mag irgendwo dort versteckt sein), „Erziehung zu Frieden und Gewaltlosigkeit“ und den „freien Fluss und das Teilen von Informationen“ betont. Diese zwei wichtigen Komponenten mögen allerdings auch irgendwo in dem Begriff »Kultur«, der so häufig in dem Dokument des Parlaments der Religionen benutzt wird, versteckt sein.

Ich selbst spreche und schreibe über direkte Gewalt, strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt – die letztere in der Definition als jede Art von Kultur, die dazu benutzt wird, die anderen zwei zu legitimisieren. Frieden besteht aus direkten Handlungen der Liebe, Freundschaft und Solidarität, die gefestigt werden müssen indem sie in Friedensstrukturen eingebettet werden und die durch kulturellen Frieden, durch eine Friedenskultur legitimisiert werden.

Dies sind unterschiedliche Aspekte und Perspektiven, dennoch wissen wir im Großen und Ganzen worüber wir reden. Dennoch, der UNESCO Katalog ist nicht kulturell genug, sondern macht sich tatsächlich mehr Gedanken über direkte Aktionen und Strukturen als über Kulturen. Das müssten wir aber von einem hauptsächlich politischen – und sehr lobenswerten – Programm erwarten. Es spiegelt aber auch Widerwillen und eine fast peinliche Unfähigkeit wider, wenn es um Kultur im Allgemeinen geht, insbesondere um große Kulturen, Zivilisationen. Manche Kulturen legitimieren eine Ausweitung, andere nicht, bei jenen steht Frieden mehr im Mittelpunkt als bei anderen. Wie gehen wir damit um?

Dies bringt uns direkt zum zweiten Teil: Globalisierung, ein Wort, das heutzutage in aller Munde ist. Ein schönes Wort. Zwei Beispiele dafür haben wir schon behandelt: die UN/UNESCO-Liste der acht Werte und das Parlament der Religionen mit seinen vier Geboten/Verpflichtungen. Wir alle fühlen, dass unzählige Menschen hinter diesen beiden Konzepten des Friedens stehen. Die Anteilnahme ist sehr, sehr groß. Die ganze Welt ist irgendwie daran beteiligt.

Aber ich fürchte, dass es gar nicht so viel wahre Globalisierung in unser so schlecht gemanagten Welt gibt. Mit Globalisierung ist oft eher Amerikanisierung gemeint, so wie auch der Begriff Modernisierung oft nur als Deckwort für Verwestlichung benutzt wird.

Eine Region der Welt möchte den Rest der Welt durch Klonen formen: durch den Export einer wissenschaftlichen Logik (aristotelisch/kartesisch), einer monetären Logik (gewinnorientiert) und einer Staatslogik (machtorientiert). Der Begriff »Verwestlichung« trifft zwar genau zu, ist aber zu ehrlich um zu überzeugen.

Ein führendes Land jener Region will ausreichend militärische Macht um der oberste Sheriff der Welt zu sein. Es hat eine Wirtschaft ohne Grenzen als Ziel, die vor allem die Interessen der großen Firmen vertritt und die Millionen Menschen noch mehr ins Elend, sogar täglich 100.000 Menschen in den Tod treibt. Es verbreitet seine plebejische und höchst populäre Kultur über die ganze Welt, schwimmt auf seinen kurzlebigen Produkten und/aber beschränkt gleichzeitig die effektive Macht der Entscheidungsfindung auf sich selbst und die Länder seiner eigenen Wahl. Es macht selbst die UN-Generalversammlung, ja sogar den UN-Sicherheitsrat handlungsunfähig im Falle seines Widerspruchs und bricht internationale Gesetze. Ein ägyptischer Araber, Boutros Boutros Ghali hatte wegen dieses Problems keine Chance mehr, als UN Generalsekretär wieder gewählt zu werden.

Unter dem Deckmantel eines neutralen, parteilosen und landesunabhängigen objektiven Prozesses, der Globalisierung genannt wird, findet eine riesige Selbstwerbung und aggrandizement statt. Kein Zweifel: dies stellt einen Kontext dar und leitet uns zum nächsten Thema über: Was bedeutet dies für Frieden und Gewaltlosigkeit?

Anstelle von »Gewaltlosem Handeln zur Lösung von Konflikten« mussten wir zwei von der USA geführte Versuche, Konflikt mit Gewalt zu lösen, mit ansehen: 1991 gegen den Irak und 1999 gegen Jugoslawien. Abgesehen von der Tatsache, dass sie höchst zerstörerisch waren, konnte keiner der Konflikte gelöst werden. Beide hatten tiefe und komplexe Ursachen, beide hätten mit friedlichen Mitteln bewältigt werden können (s. www. transcend.org für von TRANSCEND entwickelte friedliche Konfliktlösungen); beide sind jetzt noch weiter entfernt von einer Lösung als je zuvor. Feinde des Westens, MoslemInnen und orthodoxe ChristInnen, werden in großem Ausmaß getötet und ihre Umgebung zerstört, was nur noch zu einer Verhärtung und Verschärfung der Konflikte geführt hat. Darüber hinaus wurden jegliche Anstrengungen die Konflikte friedlich, kreativ und ohne Bedrohung zu lösen herunter gespielt, während man auf den richtigen Moment wartete um zuschlagen zu können.

Beachtung der Menschenrechte? Dieses Verhalten entspricht ganz bestimmt nicht der Vereinbarung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, diesem so wichtigen Dokument der Menschenrechte, das noch nicht einmal von den USA unterzeichnet wurde.

Demokratische Beteiligung? Im Gegenteil; die Welt scheint noch oberlastiger zu werden als je zuvor. Elizabeth Liagin schrieb in einem kürzlich in Commentary from Malaysia erschienenen Artikel, dass mit den heutigen Fruchtbarkeitsraten „die durchschnittliche Frau im Jemen während ihres Lebens sieben Kinder zur Welt bringt und, wenn die Geburtsrate gleich bleibt, 49 Enkel, 343 Urenkel und zweieinhalbtausend Ur-Urenkel hat!“ Die Zahlen für den Westen wären 1, 1-2, 2-3.

In der Weltbevölkerung ist der Westen jetzt schon eine kleine Minderheit (ca. 16%); in den USA leben weniger als 5 Prozent. Dies könnte ein wenig Bescheidenheit hervor rufen – insbesondere in einer Zivilisation und einem Land, in dem der Demokratie, (»one person, one vote« und Mehrheitswahlrecht) so viel Beachtung zugemessen wird. Aber der Eindruck den man erhält ist eher Verkrampfung, ein Festhalten an veralteten Strukturen. Er erinnert an das Südafrika der Apartheid. Der Kampf um anhaltende Privilegien wird verschleiert unter dem Mantel der unechten Globalisierung und die Kriegskultur, der einfache Rückgriff auf Gewalt und Krieg, wird verkleidet als »humanitäre Intervention«.

Man kann noch viel darüber sagen. Es geht aber auch um einige reale Themen. Denn der Amerikanisierung folgt keine Kultur der Gewaltlosigkeit, keine Kultur der Solidarität und der gerechten wirtschaftlichen Ordnung, keine Kultur der Toleranz sondern eher die Tendenz zur Denunzierung kritischer Stimmen in anderen Kulturen als »fundamentalistisch«. Was die Kultur der Gleichberechtigung und partnerschaftlichen Zusammenarbeit angeht, siehe oben.

Der Schluss ist eindeutig: Wir, und insbesondere die Jugend, sollten uns intensiv für eine wahre Globalisierung einsetzen, nicht für eine Karikatur die am besten als Amerikanisierung bekannt ist. Es kann sogar sein, dass wir uns die Geschichte neu ansehen müssen, dass es darum geht, weniger die Kriegshelden, den Mann auf dem Pferderücken zu verherrlichen sondern vielmehr FriedensheldInnen wie Mütter die ein neues Menschenkind zur Welt bringen; dass wir die zahllosen Fälle der Konfliktlösung ohne Gewalt, die um uns herum stattfinden, mehr betonen müssen.

Es kann also sein, dass wir Demokratie neu beleben müssen. Wie wäre es mit einem besonderen Parlament für Frauen, für Jugendliche, für Kinder?

Und es kann sein, dass wir auch unsere Menschenrechte neu überdenken müssen. Menschenrechte, die nicht nur die – im Großen und Ganzen löblichen – westlichen Werte beinhalten, sondern die auch Werte anderer Zivilisationen widerspiegeln. Menschenrechte, die die Grenzen von Konflikten überschreiten.

Johan Galtung, Dr. h.c. mult, Professor der Friedensforschung, Direktor TRANSCEND: ein Friedens- und Entwicklungsnetzwerk