Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung


Feministische Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung

Tagung des Netzwerks Friedensforscherinnen, Universität Koblenz-Landau – Campus Koblenz, 7.-8. Februar 2019

von Lena Merkle und Christine Buchwald

Die Tagung der Frauensprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) fand in Kooperation mit der Friedensakademie Rheinland-Pfalz und der Graduiertenschule Genderforschung als zweitätige Veranstaltung am Campus Koblenz statt. Aufgrund des Work-in-progress-Charakters der Veranstaltung wurde den einzelnen Beiträgen eine längere Diskussionszeit eingeräumt, und die Vortragenden waren dazu angehalten, ihre eigenen Fragen und Probleme mit einzubringen, um diese zu diskutieren.

Der inhaltliche Fokus der Veranstaltung lag auf feministischen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung. Die etwa 30 Teilnehmenden der Tagung, von denen gut die Hälfte auch selbst vortrug, hatten bei der Keynote Lecture am ersten Tag und in insgesamt sechs Panels am zweiten Tag die Möglichkeit zum Austausch.

Eröffnung

Die Keynote Lecture wurde von Sabine Grenz, Universität Wien, gehalten. Sie sprach in ihrem Vortrag über »Feministische Methodenreflexion empirischer Daten­erhebung«. Dabei reflektierte sie zunächst den historischen und theoretischen Hintergrund der empirischen Datenerhebung und betonte die Machtwirkung, die zwischen Forschenden und Beforschten entsteht, sowie die dabei konstruierten Rollenbilder und den permanenten Zustand der Selbstkritik feministischer Forschung. Dies ist besonders relevant, da die Interviewsituation, insbesondere bei persönlichen Themen wie Sexualität, Vertraulichkeit und Vertrauen voraussetzt. Dabei kommt der interviewenden Person eine wichtige Rolle zu, da sie die Situation prägt und die Inhalte des Interviews auf sie zugeschnitten erzählt werden. Die Herausforderung für die Interviewenden besteht darin, die hohe Komplexität von Geschlechtlichkeit zu beachten, deren Vieldimensionalität und Deutungsabhängigkeit verschiedene Interpretationen ermöglicht. Daher gilt es auch, die eigenen Erwartungen kritisch zu hinterfragen und Einzelfälle ergebnisoffen zu betrachten.

Panels

Im Panel zu kulturwissenschaftlichen Perspektiven ging zunächst Malica Christ aus philosophisch-politischer Perspektive auf intersektionale Erfahrungen geflüchteter Frauen ein. Mithilfe einer »Matrix of Domination« wurden die komplexen Unterdrückungserfahrungen geflüchteter Frauen phänomenologisch betrachtet. Es folgte eine Studie von Juan Botia Mena zur Aneignung von Sophokles‘ Antigone durch Frauen im sozialen Protest in Kolumbien. Die Rolle der Frau, die ihren Bruder (oder einen anderen Verwandten) nicht zu Grabe tragen kann, wird dabei im Kontext des kolumbianischen Konfliktes in Filmen und Theaterstücken symbolisch reproduziert. Schließlich stellte Nicole Pruckermayr das interdisziplinäre Projekt »Comrade Con­rade« aus Graz vor, welches sich kritisch mit Straßennamen auseinandersetzt und die Umbenennung von Straßen, die nach historisch problematischen Personen benannt sind, zum Ziel hat. In dem Projekt wird u.a. das Machtgefälle deutlich, das zwischen Aktivist*innen auf der einen und bürokratischen Strukturen sowie ökonomischen Interessen auf der anderen Seite besteht.

Im Panel »Opfer, Kämpferinnen, Aktivistinnen I« präsentierte Clemens Starke seine Überlegungen zur veränderten Geschlechtergerechtigkeit im Südjemen. In Interviews mit lokalen Aktivistinnen will er herausarbeiten, wie sie den Wandel der Geschlechterbeziehungen wahrnehmen und welche Perspektiven sie selbst sehen. Mit dem Einfluss, den die Anwesenheit von Frauen in bewaffneten Einheiten auf das Ausmaß sexueller Gewalt hat, beschäftigte sich dagegen Viktoria Reisch. Anhand der FARC (Kolumbien) und der YPG/YPJ (Nordsyrien) testete sie die These, dass die Anwesenheit von Frauen in bewaffneten Einheiten das Ausmaß sexueller Gewalt wahrnehmbar reduziert. Sie kam durch verschiedene Argumente, wie z.B. dem Erreichen einer kritischen Masse von Frauen in den Armeen, zu dem Schluss, dass die Theorie in diesen beiden Fällen eher ein gegenteiliges Bild ergeben würde.

Das Panel »Opfer, Kämpferinnen, Aktivistinnen II« bot zunächst einen Beitrag von Paula Castro Blanco, Glendy Meja Garcia, Katharina König und Angela Rodriguez Prada zur Rolle von Frauen im ländlichen Raum im friedlichen Widerstand in Kolumbien. Die Vortragenden zeigten den enormen Ressourcenreichtum weiblichen Widerstandes auf. Frauen, die oftmals erst aufgrund der Lücken, die im Krieg gestorbene Männer hinterließen, relevante Positionen übernahmen, wurden zu Anführerinnen des friedlichen Widerstands. Max Jansen verglich in seinem Beitrag die Darstellung von Frauen durch internationale Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit mit der Selbstdarstellung der Frauen von Jinwar, einem Frauendorf in Rojava. Hier zeigt sich die oftmals vorherrschende Rollenbilder bestätigende und Frauen objektivierende Darstellung durch die Organisationen im Kontrast zur diversen und (selbst-) ermächtigenden Eigenporträtierung in Jinwar.

Im Panel zu Friedensbildung verdeutlichte Laura Stumpp den Mehrwert, der sich aus der Lektüre von und der Beschäftigung mit Grada Kilomba und bell hooks für eine andere Lehrgestaltung ergibt. Anhand von Zitaten und Videos erläuterte sie die Reflexion der beiden Autorinnen über ihre eigene Lehrgestaltung. Im Anschluss konzentrierte sich Marilena Müller auf einen anderen Bereich der Friedensbildung: die Friedenspädagogik. Durch eine theoretische Fundierung will sie anhand der Felder »Lernziele«, »Inhalte« und »Methoden« Kriterien entwickeln, wie gendersensitive Friedenspädagogik gestaltet werden kann. Es gibt zwar in der Praxis schon entsprechende Ansätze, es fehlt aber an eben dieser theoretischen Fundierung.

Ein weiteres Panel befasste sich mit Friedensaufbau. Manuela Scheuermann hinterfragte das »Gender Balancing« in Organisationen der Vereinten Nationen am Beispiel des United Nations Department of Peacekeeping Operations, UNDPKO. Während auf dem Makrolevel wenig Kritikpotenzial vorhanden ist, da die Vereinten Nationen nach außen Gender Mainstreaming signalisieren, zeigen sich auf dem Mikrolevel viele versteckte Barrieren. Trotzdem fragte Manuela Scheuermann, ob die Gleichung »UNDPKO = Militarismus = Maskulinismus« nicht zu kurz greift. Antje Busch zeigte am Beispiel Bougainville (Papua Neuguinea) auf, welche Auswirkungen die politische Partizipation von Frauen als Ausdruck eines Postkonflikt-Empower­ment haben kann. Auch wenn noch Verbesserungspotenzial besteht, zeigt sich doch ein positiver Trend, z.B. durch die paritätische Besetzung der Gemeinderäte. Kristina Hatas konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf den Zusammenhang zwischen der Debatte über die Einmischung der internationalen Gemeinschaft in vermeintlich innerstaatliche Belange und der Entwicklung des internationalen Strafrechts in Bezug auf genderbasierte Gewalt. Insbesondere die nur zurückhaltende Einmischung in vermeintlich innerstaatliche Problemlagen führt dazu, dass bestimmte Verbrechen – gerade genderbasierter Gewalt – für das internationale Strafrecht nicht sichtbar sind.

Schließlich fand ein Panel zu struktureller Gewalt statt. Kristina Hinz analysierte Rollendarstellungen von Frauen und Männern im brasilianischen Diskurs zum Kampf gegen Drogen. Hier zeigt sich die diskursive Marginalisierung der Favela-Bewohner*innen durch die Politik sowie die dichotome Wahrnehmung von Frauen als »unsere« und »deren« Frauen, wobei nur die eigenen schützenswert seien. Coretta Lemaitre beschäftigte sich mit der US-amerikanischen evangelikalen »Purity Culture«, die trotz enormer sozialer Bedeutung oftmals nur unscharf definiert ist und in scharfem Kontrast zu politischen Entscheidungen evangelikaler Christen steht, etwa der enormen Unterstützung für Donald Trump trotz dessen dem evangelikalen Wertekonstrukt widersprechenden Aussagen. In einem Beitrag zur Rolle von Frauen im Radio in Burkina Faso von Vivane Schönbächler wurde die historische gewachsene Bedeutung des Mediums deutlich, ebenso dessen politische Relevanz in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit für eine Gesellschaft, in der insbesondere in der jungen Generation Frauen nicht gehört werden. Die Möglichkeit, beim Radio zu arbeiten, bietet da eine besondere Chance für Frauen. Schließlich wurden im Beitrag von Vanessa Seibert die juristischen Möglichkeiten betrachtet, die bestehen, um die weibliche Beteiligung an Peacekeeping-Missionen zu erhöhen. Zwar gibt es einzelne Beispiele von (überwiegend) weiblichen Einheiten sowie die Erklärung der Vereinten Nationen, die Partizipation von Frauen stärken zu wollen, doch es bestehen bisher keine verbindlichen Verpflichtungen.

Resümee

Die Tagung war die Auftaktveranstaltung einer Reihe von Tagungen, die die Frauensprecherinnen der AFK initiieren, und soll noch in diesem Jahr fortgesetzt werden. Dafür sprechen auch der Erfolg der Veranstaltung und die positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden. Doch auch als einzelne Veranstaltung bildet die Tagung einen gewichtigen Beitrag zu den notwendigen feministischen Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung.

Ein ausführlicherer Tagungsbericht ist auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (afk-web.de) abrufbar.

Lena Merkle und Christine Buchwald

Frauen sind besonders betroffen

Frauen sind besonders betroffen

Geschlechtsspezifische Auswirkungen atomarer Strahlung

von John Borrie et al.

Ionisierende Strahlung,1 die bei einem Einsatz von Atomwaffen– auch vermeintlich »kleinen« und «präzisen« –, bei atmosphärischen Atomwaffentests sowie bei AKW-Unfällen freigesetzt wird, hat für die überlebenden Frauen und Männer unterschiedliche Folgen. Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Atomwaffendetonationen und weitere genderbezogene Aspekte der nuklearen Rüstung und Abrüstung wurden im Kontext der internationalen Diskussion um die humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes immer wieder diskutiert. Auch bei den
darauffolgenden Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen spielte das Thema eine Rolle und wurde schließlich in der Präambel des »Vertrags über das Verbot von Kernwaffen» aufgegriffen.2
Im Herbst 2016 veröffentlichten im Kontext dieser Diskussionen zwei Forschungsinstitute (siehe Hinweise zu den Autor*innen am Textende) die Studie » Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns«, die sich gezielt mit den frauenspezifischen Auswirkungen ionisierender Strahlung befasst. W&F dokumentiert aus dieser Studie das
Kapitel 3, »The gendered impact of nuclear weapon detonations«, leicht gekürzt und ohne Fußnoten. Die englischsprachige Studie steht unter unidir.org und ilpi.org zum Download.

Ob absichtlich oder versehentlich herbeigeführt – die Detonation von Atomwaffen in bewohnten Gebieten würde nicht nur unermessliche Zerstörungen verursachen und unmittelbar sowie infolge der Strahlenkrankheit zahlreiche Todesopfer fordern, sondern die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen weit darüber hinaus beeinträchtigen. […]

Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege für diese Folgen, nicht zuletzt aus den Atomwaffeneinsätzen über Hiroshima und Nagasaki in Japan 1945 und aus den Atomwaffentests, die einige Staaten danach im Kalten Kriegdurchführten. Allerdings wurde bislang kaum untersucht, ob sich die Strahlung auf Frauen und Männer unterschiedlich auswirkt und wenn ja, wie. Nachfolgend erläutern wir einige Faktoren, warum Atomwaffendetonationen sowohl biologisch als auch in anderen Aspekten geschlechtsspezifische Auswirkungen haben.

Geschlechtsspezifische biologische Auswirkungen

Die Detonation einer oder mehrerer Atomwaffen in einem bewohnten Gebiet würde zahlreiche Menschen töten und verletzen, Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Die meisten Todesfälle und Verletzungen wären die unmittelbare Folge der Druck- und der Hitzewelle, aber auch des Blitzes (der die Augen schädigt und zur Erblindung führen kann) und der akuten ionisierenden Strahlung. Je nachdem, in welcher Höhe über der Erdoberfläche die Atomwaffe detoniert, käme noch der Fallout hinzu, d.h. der Niederschlag radioaktiv verseuchter Partikel aus der Atmosphäre, der im Laufe der Zeit
ebenfalls zu Gesundheitsschäden führen würde. Allerdings wirkt sich ionisierende Strahlung auf Männer und Frauen nicht gleichermaßen aus.

Aus wissenschaftlichen Studien über die stochastischen [vom Zufall abhängigen] Wirkungen ionisierender Strahlung ist bekannt, dass Frauen anfälliger sind für die schädlichen Gesundheitsfolgen als Männer. Die Ursache dafür ist noch nicht abschließend geklärt; es wird vermutet, dass dafür Hochrisiko-Körpergewebe, z.B. die Reproduktions- und Fettgewebe, ausschlaggebend sind, von denen Frauen über 50 Prozent mehr verfügen als Männer, sowie Unterschiede im Metabolismus [Stoffwechsel] von Frauen und Männern. Was auch immer die Ursache ist – die höhere Anfälligkeit ist unzweideutig belegt.
Eine Studie zur Lebenserwartung von Überlebenden der Atombombenabwürfe 1945 auf Hiroshi­ma und Nagaski ergab, dass Frauen, die der ionisierenden Strahlenbelastung ausgesetzt waren, nahezu doppelt so häufig solide Krebstumoren entwickelten und daran starben wie Männer. Geschlechtsspezifische Krebsarten und Krebserkrankungen der weiblichen Brust scheinen Hauptursache für das erhöhte Risiko für Frauen zu sein: Wenn diese Krebsarten aus der Analyse herausgerechnet werden, sind die absoluten Krebsraten ­nahezu identisch. Studien zur Rate solider Krebs­tumoren infolge des Fall­outs
von überirdischen Atomwaffentests der Sowjet­union in Kasachstan deuten ebenfalls auf höhere Raten bestimmter Krebsarten bei Frauen hin.

Dazu kommt das Risiko, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft hohen Dosen ionisierender Strahlung ausgesetzt waren, an Missbildungen und geistigen Behinderungen leiden. Auch die Gefahr einer spontanen Fehl- oder Totgeburt ist höher, wenn Frauen in der Schwangerschaft einer gewissen Strahlendosis ausgesetzt sind. Studien über die Folgen des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 (bei dem eine große Menge ionisierender Strahlung an die Umwelt abgegeben wurde) ergaben außerdem ein erhöhtes Risiko von Kindern und Jugendlichen, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, und Mädchen
erhielten die Diagnose besonders häufig. Desweiteren deutet manches darauf hin, dass durch ionisierende Strahlenbelastung verursachte Genveränderungen an die nächste Generation vererbt werden, dies ist aber noch nicht eindeutig nachgewiesen.

Obgleich ionisierende Strahlung häufig erst nach einer gewissen Zeit erhöhte Raten gewisser Krebsarten und Genschäden bewirkt, kann dieser Effekt eindeutig auf die Erstexposition durch die Strahlung einer Atomwaffendetonation zurückgeführt werden. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die biologischen Folgen ionisierender Strahlung zu geschlechtsspezifischen gesundheitlichen Auswirkungen führen und dass Frauen anfälliger sind für die Gesundheitsfolgen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffendetonationen als Männer.

Weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen

Neben den biologischen gibt es noch weitere geschlechtsspezifische Auswirkungen der ionisierenden Strahlung von Atomwaffen. In den meisten Gesellschaften werden Männern und Frauen unterschiedliche soziale und kulturelle Rollen und Verantwortlichkeiten zugeordnet. Diese geschlechtsspezifischen Rollen führen zu unterschiedlichen sozialen Auswirkungen für Frauen und Männer. Eine Reihe sozialer und kultureller Geschlechterunterschiede können an den Punkten psychische Belastung, Umsiedlung, soziale Stigmatisierung und Diskriminierung festgemacht werden – eine Art Nachhall von
Atomwaffendetonationen über Raum und Zeit hinweg. Diese Auswirkungen scheinen für Frauen besonders gravierend zu sein.

Auswirkungen auf die Psyche

Die unsichtbare Verseuchung der Umwelt durch Strahlung kann unabhängig von der Strahlendosis traumatische psychische Auswirkungen haben. Mangel an Informationen und Unsicherheit über Gesundheitsrisiken können genauso zum Stressfaktor werden wie die Angst vor den Spätfolgen einer Strahlenbelastung. Es gibt Anhaltspunkte, dass die psychischen Auswirkungen einer Strahlenbelastung für Frauen schwerwiegender sind, was mit ihrer Rolle als Mütter zusammenhängen könnte. Einige Beispiele:

  • Nach dem Fallout infolge des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl 1986 klagten in den meisten europäischen Ländern mehr Frauen über Stress als Männer, und es ist nachgewiesen, dass Frauen häufiger Schutzmaßnahmen ergriffen.
  • In der Stadt Gomel, ca. 100 km nördlich von Tschernobyl, litten Mütter mit Kindern unter 18 häufiger an psychischen Problemen.

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island in den USA 1979 fanden Forscher heraus, die „verzweifelsten Menschen in der Umgebung von Three Mile Island waren Mütter kleiner Kinder, die der Gouverneur von Pennsylvania unmittelbar nach dem Unfall aufgefordert hatte, die Gegend zu verlassen, um ihre Familien zu schützen“.

Es gibt noch weitere Implikationen für Frauen. Nach dem Unfall von Tschernobyl beispielsweise wurde schwangeren Frauen in der Ukraine zu einer Abtreibung geraten, ohne dafür konkrete Gründe zu benennen. Es wird behauptet, dass in den Monaten nach Tschernobyl in Westeuropa aus diesem Grund Tausende zusätzlicher Abtreibungen durchgeführt wurden.

Evakuierung und Umsiedlung

Die Zerstörungen durch Atomwaffendetonationen in bewohnten Gebieten sowie die Gefahr von radioaktivem Fallout zwingen zur Evakuierung und Umsiedlung vieler Menschen. Umsiedlung führt unabhängig von den auslösenden Faktoren zu einer Reihe von Problemen, die Frauen und Männer unterschiedlich betreffen.

In Krisen- und Konfliktsituationen ist es wahrscheinlicher, dass Frauen von sexueller Gewalt betroffen sind, schlechteren Zugang zu Hilfsleistungen haben und ihr Recht auf Gesundheit, Wohnung, Land und Eigentum schwerer in Anspruch nehmen könnnen, wodurch sich ohnehin vorhandene Diskriminierungsmuster verschärfen. Das kann bei Frauen langfristig zu noch mehr psychischem Stress und einer insgesamt schlechteren Gesundheitssituation führen. Außerdem wird in vielen Gesellschaften erwartet, dass Frauen die meisten, wenn nicht sogar alle häuslichen Arbeiten durchführen, was ihre Möglichkeiten
verringert, am politischen und sozialen Leben sowie an Prozessen der Entscheidungsfindung teilzunehmen. Umsiedlung und ihre Folgen verstärken diese Mechanismen, da Aufgaben wie Anstehen für und Zubereiten von Nahrung oder Wasserholen noch mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Kulturelle und indigene Rechte

Langfristige oder permanente Umsiedlung infolge von Atomwaffendetonationen, auch solchen zu Testzwecken,3 kann zur Einschränkung kultureller und indigener Rechte mit einer geschlechtsspezifischen Dimension führen. Indigene Frauen der Marshallinseln sind ein Beispiel dafür: In einer matriarchalen Gesellschaft, in der Grund und Boden von der Mutter auf das Kind übergehen, verloren die Marshallesinnen aufgrund der Umsiedlung von ihrem Land im Kontext der Atomwaffentests im Kalten Krieg ihr kulturelles Recht, in ihrer Gesellschaft die Rolle als Hüterinnen
des Landes auszuüben. Umsiedlung bedeutete für diese Frauen auch, dass sie auf ihrem eigenen Grund und Boden kein Einkommen mehr erwirtschaften konnten, da sie den Zugang zu den Materialien verloren, die sie zur Herstellung von handwerklichen und Haushaltsgegenständen brauchten. Auch die Männer der Marshallinseln waren von der Umsiedlung spezifisch betroffen: Sie sicherten bis dato die Nahrung für ihre Familien als Sammler und Fischer, leben jetzt aber in einer Umwelt, in der das Überleben weitgehend von Geldeinkommen abhängt.

Soziale Stigmatisierung und Diskriminierung

Ein weiteres Charakteristikum der Zeit nach den Atomwaffentests auf den Marshallinseln waren gemäß Schilderungen der Marshallesinnen entwürdigende Untersuchungen durch medizinisches und wissenschaftliches Personal der USA. Die Untersuchungen erhöhten den Stress der Frauen, trugen aber auch zu ihrer sozialen Stigmatisierung bei.

Japanische Überlebende der Atombomben auf Hiroshima und Nagsaki waren ebenfalls mit sozialer Stigmatisierung aufgrund der Strahlung konfrontiert. Sie wurden als »kontaminiert« angesehen und in Japan mit Furcht und Misstrauen behandelt. Dieses Stigma betraf zwar sowohl männliche als auch weibliche »hibakusha« – dieser Begriff bezeichnet Überlebende der Atombombenabwürfe –, die Bilder und Vorstellungen vom weiblichen Körper scheinen aber zur stärkeren Diskriminierung von Frauen beigetragen zu haben, insbesondere in Bezug auf Ehe und Fortpflanzung. Auf den Marshallinseln erlebten
Frauen, die den Atomwaffentests der USA ausgesetzt waren, beim Thema Eheschließung und Mutterschaft Stigmatisierung und Ängste.

Andere kulturelle und soziale Folgen

Geschlechtsspezifische kulturelle Praktiken können bei Frauen und Männern auch zu unterschiedlichen Strahlenfolgen führen, beispielsweise aufgrund von Essgewohnheiten; dies war nach dem Atomkraftwerksunfall von Tschernobyl genauso der Fall wie auf den Marshallinseln. Der Unfall von Tschernobyl hatte auch Auswirkungen auf das innere soziale Gruppen- und Familiengefüge – bis hin zum Umgang von Ehepartnern miteinander. Ursächlich war die Sorge um die Strahlenbelastung und die Angst vor kranken Kindern.

Folgen für die Umwelt

Diese Studie hat zwar einen anderen Schwerpunkt, es muss aber unbedingt erwähnt werden, dass Atomwaffendetonationen gravierende Folgen für die Umwelt haben […]. So ergab vor einigen Jahren eine Studie, dass selbst ein »begrenzter« regionaler Atomkonflikt langfristige globale Auswirkungen hätte, u.a. auf das Klima, die Nahrungsproduktion und die Massenmigration, da durch die Atomdetonationen so viele Partikel in die Atmosphäre gelangen würden,4 dass das Sonnenlicht die Erdoberfläche nicht mehr wie bisher erreichen könnte und dadurch die Temperaturen
global auf Jahre hinaus sinken würden. Menschen nahe oder gar unter der Armutsgrenze wären besonders betroffen. […]

Anmerkungen

1) Ionisierende Strahlung kann den Körper auf zwei Arten schädigen. Zum einen kann sie Körperzellen durch strahlungsbedingte Verbrennungen oder das akute Strahlensyndrom direkt zerstören. Diese deterministischen Ausirkungen treten bei den Opfern einer Atomwaffendetonation sofort oder kurz nach dem Ereignis auf. Zum anderen kann ionisierende Strahlung Mutationen der DNA verursachen, z.B. Krebs oder Genveränderungen (stochastische Auswirkungen). Werden Mutationen nicht repariert, kann sich die Zelle in eine Krebszelle verwandeln.
Diese stochastischen Auswirkungen treten in der Regel lange Zeit (unter Umständen viele Jahre) nach der eigentlichen Strahlenbelastung auf, sind aber genauso wie die deterministischen Auswirkungen unmittelbar auf die Atomwaffendetonation zurückzuführen.

2) Der entsprechende Absatz lautet: „[… in der Erkenntis, dass den katastrophalen Folgen von Kernwaffen nicht ausreichend begegnet werden kann, dass sie nicht an nationalen Grenzen haltmachen und gravierende Auswirkungen auf den Fortbestand der Menschheit, die Umwelt, die sozioökonomische Entwicklung, die Weltwirtschaft, die Ernährungssicherheit und die Gesundheit heutiger und künftiger Generationen haben und dass sie unverhältnismäßig stark Frauen und Mädchen treffen, darunter
aufgrund der ionisierenden Strahlung, […]“
.

3) Zwischen 1945 und 1980 wurden Hunderte oberirdische Atomwaffentests durchgeführt. [die Übersetzerin]

4) Anders als bei den oberirdischen Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre, die über der Wüste oder über dem Meer durchgeführt wurden, werden beim Einsatz von Atomwaffen über bewohntem Gebiet Erde, Trümmerpartikel und Ruß in die Atmosphäre geschleudert und mit dem Wind über die Erdkugel verteilt. Ein regionaler Atomkrieg mit 100 Atomwaffen würde daher eine lang anhaltende Partikelwolke rund um den Globus und in vielen Regionen der Erde eine große Hungersnot verursachen. [die Übersetzerin]

Die Studie »Gender, Development and Nuclear Weapons – Shared goals, shared concerns« wurde verfasst von John Borrie (Rechercheleiter bei UNIDIR), Anne Guro Dimmen (Beraterin bei ILPI), Torbjørn Graff Hugo (Leiter des Projekts Massenvernichtungswaffen bei ILPI), Camilla Waszink (Programmdirektorin für Waffen und Abrüstung bei ILPI) und Kjølv Egeland (Berater bei ILPI und Doktorand an der University of Oxford).
Das United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR) ist in Genf angesiedelt. Das inzwischen geschlossene International Law and Policy Institute
(ILPI) hatte seinen Sitz in Oslo.

W&F dankt für die Übersetzungs- und Nachdruckrechte dieses Kapitels.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Gewalt, Geschlecht und Militär


Gewalt, Geschlecht und Militär

Die Bundeswehr auf feministischem Terrain?

von Tim Bausch und Carolina Rehrmann

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden befasst sich in seinem Repertoire mit Themen der Gewalt und deren Folgen. Gegenwärtig werden im Rahmen der Sonderausstellung »Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden? Gewalt und Geschlecht« auch gendersensible Exponate angeboten. Die Ausstellung konstituiert sich neben den geschlechtlichen Koordinaten auch über Aspekte der Gewalt und des Friedens. Der Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht leuchtet ein. Schließlich sind geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Machtstrukturen und somit auch immer von Formen der (symbolischen) Gewalt geprägt. Ist Feminismus also en vogue? Was bedeutet es, wenn sich die Bundeswehr mit solchen Themen beschäftigt? Die Ausstellung mit etwa 1.000 Objekten und Werken lädt noch bis 18. Oktober 2018 dazu ein, genauer hinzuschauen.

Unser Beitrag widmet sich der aktuellen Sonderausstellung »Gewalt und Geschlecht. Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden?« des Militärhistorischen Museums in Dresden. Bewusst nutzen wir den dort vorgefundenen Erfahrungsraum für weiterführende Gedanken zur Kunst- und Institutionskritik.

Prolog | Wissensvermittlung zwischen Repräsentation und autonomer Kritik

Nach einer kurzen theoretischen Reflexion zu den Prämissen der Gendertheorie widmen wir uns den Ausstellungsinhalten, die zunächst zusammengefasst und alsdann kritisch bewertet werden.

Leitend ist dabei die Auffassung, dass Ausstellungen als hybrides Darstellungsmedium (vgl. Muttenthaler/Wonisch 2006, S. 37) in besonderer Weise dazu geeignet sind, den*die Besucher*in über die ästhetische Verknüpfung haptischer, akustischer und visueller Elemente intellektuell und sinnlich zu stimulieren. Ausstellungen können den Raum spielerisch zur Verbindung oder auch zur Kontrastierung unterschiedlicher Narrative nutzen und dabei umkämpftes Wissen spür- und erfahrbar machen, indem sie den*die Besucher*in zu geistiger Reflexion und emotionalem Erleben einladen. Da künstlerische Interventionen mit politischer Positionierung einhergehen, sollte jede*r kritische Besucher*in sich fragen, wie sich das Grundnarrativ einer Ausstellung zur sozialen Wirklichkeit verhält.

Dementsprechend können sich Ausstellungen darauf beschränken, lediglich soziale Rangordnungen abzubilden oder Kontingenz (die Möglichkeit eines Ereignisses, bei gleichzeitiger Nichtnotwendigkeit), Multiperspektivität und Relativität betonen. Im letzteren Fall werden Hierarchien und symbolische Positionierungen etwa durch Ironisierungen, Distanzierungen und Überformungen bewusst infrage gestellt. Erst dadurch gewinnt die Kunst ihre eigentliche Autonomie (vgl. Adorno: l’art pour l’art).

In diesem Sinne verstehen wir Ausstellungen als kreative Erfahrungsräume, die idealiter nicht bloß informieren, sondern irritieren sollten, um vor allem das Marginalisierte jenseits rationalistischer Paradigmen sichtbar zu machen. Im Sinne einer Orientierung an der Trias von Emanzipation, Imagination und Utopie belassen wir es deshalb nicht bei einer deskriptiven und abstrahierten Reproduktion der Inhalte, sondern nutzen den Erfahrungsraum der Ausstellung für weiterführende Impulse und Gedanken.

Sonderausstellung | Im Modus der Dekonstruktion

Die heteronormative Prämisse von der gleichsam naturgegebenen Passivität und unkontrollierten Gefühlswallung der Frau gegenüber angeborenen aggressiven Impulsen des Mannes nebst seiner Gabe zur rationalen Reflexion erscheint (auch wenn die zwei Letzteren zugegeben in einem gewissen Spannungsfeld stehen) so alt wie die Menschheit selbst. Im Kielwasser von Poststrukturalismus und Postmoderne mit ihrem Siegeszug des Hybriden, Relativen und Subjektiven machte die Genderwissenschaft derartigen Stereotypen den Garaus. So verweist sie einerseits auf die soziale Konstruktion geschlechterspezifischer Selbstverständlichkeiten und Verhaltensweisen, beispielsweise mit Blick auf die wirkmächtige Idee der ethnisch-exklusiven Nation und ihren zugewiesenen Genderrollen (so basieren die Ideen Vater Staat und Mutter Nation vornehmlich auf männlichem Kampfgeist und weiblicher Reproduktion). Andererseits macht sie die inhärenten Machtstrukturen sichtbar (vgl. Butler 1990/ 2009 und Yuval-Davis 1997).

Indes: Was einer weiß, macht einen noch lange nicht heiß. Einblicke in kritisch-reflexive Wahrheiten haben die hohen Sphären (populistischer) Machtpolitik und die alltäglichen des Normalen, Bekannten und Bequemen bisher im globalen Kontext wenig tangiert, ganz besonders nicht in den elementaren Katalysatoren der Zivilisationsgeschichte: Krieg und Frieden. Denn sind soziale Rollen nicht erst seit der Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche heute mehr denn je effektivstes Mittel für Anerkennung, erfolgreiche Performance und Gewinnmaximierung geworden, so sind klassische Genderrollen einmal mehr mit traditionellen Strukturen verbunden, die nationale Identitäten und sexuelle Beziehungen genauso formen wie sie Vormundschaft und Exklusion begründen. Kritik an der als selbstverständlich empfundenen Norm ist daher nicht nur unbequem, sondern mitunter gefährlich, weil sie zugleich an viel mehr rüttelt als an einem bis heute auch in Wissenschaftskreisen oftmals stiefmütterlich behandelten Klischee.

Zeit also, dass sich eine an Bildern und Geschichte(n) reiche Ausstellung unter dem Titel »Gewalt und Geschlecht – Männlicher Krieg, weiblicher Frieden?« dem Thema widmet. Die Sonderausstellung wird im militärhistorischen Museum in Dresden gezeigt – man hätte sich vielleicht keinen passenderen Ort vorstellen können. Erklärtes Ziel ist es, im Sinne der kritischen Dekonstruktion Mauern des herkömmlichen Denkens einzureißen und den Blick der Besucher*innen auf die vielen Facetten der historischen und gegenwärtigen Essentialisierung von Frau und Mann im Sinne der oben genannten Dichotomie zu lenken. Ausgehend von Bourdieus (2006) Sentenz von der Verankerung männlicher Hegemonie durch die »Waffen der physischen und symbolischen Gewalt« präsentiert sich die Ausstellung als bunter Querschnitt von Photographien, Gemälden und Dokumenten durch die Jahrhunderte, Kulturen und Gesellschaftsbereiche von stilisierter wie untypischer Männlichkeit und (vor allem) Weiblichkeit.

Historische Kriegsphotographien zeigen Bilder männlicher Gewalt. Sie reichen von Massakern der Nazis bis zum Apartheidregime und sensibilisieren für die Problematik sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die entgegen tradierter Vorstellungen keineswegs nur Nebenprodukt von Krieg ist, sondern als Waffe zur Demoralisierung des Feindes und als verlockender Lohn für den Kampfgeist des Soldaten einen elementaren Bestandteil von Kriegsführung darstellt: Sie zeigen Frauen als Kriegstrophäe der Wehrmacht, Sexdienstleisterinnen der US-Armee in Vietnam oder von IS-Terroristen zwangsprostituierte Jesidinnen. Ebenso im Fokus stehen der normierte Frauenkörper als Hüter der (männlichen) Ehre und die Sanktionierung jeglichen Abweichens – im drastischsten Fall durch »Ehrenmord«.

Die Ausstellung bemüht sich um die Sichtbarmachung der dramatischen Folgen von Gewaltkonflikt, Patriarchat und Sexismus im Kontext moderner Kriegsführung mit ihrem hohen Anteil an Zivilopfern und liegt damit im Zeitgeist des friedenspolitischen Gendermain­streaming (vgl. zu Letzterem u.a. United Nations 2002). Wer die Ursprünge derartiger diskriminierender Strukturen sucht, findet endlose kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte. Historische Gemälde und Dokumente geben in diesem Sinne den Blick auf die tieferen Wurzeln normativer Genderrollen frei. Sie reichen von höfischen Geschlechterklischees, von Inquisition und der mittelalterlichen Züchtigung »streitsüchtiger« Frauen durch die so genannten Halsgeigen über den »Kraftmesser« als Jahrmarktattraktion für das Messen von Männlichkeit bis zu neuzeitlicher Medizin, die Frauen natürliche Neigungen zu Hysterie und anderen psychischen Leiden unterstellen wollte.

Auf Basis dieser Herleitung spannt die Ausstellung dann einen Bogen zur modernen Gesellschaft, der von Männerportraits auf Zeitschriftencovern, der traditionellen Geschlechtertrennung in bestimmten Berufsgruppen, sexueller Gewalt gegen Frauen durch digitale Medien bis zur Stilisierung von Genderrollen durch die Spielzeugindustrie reicht. Am Ende wird so den widerstrebenden Sphären der Norm eine effektive Bühne bereitet: Sie ist als Gegenstück zum ersten Ausstellungsteil konzipiert und zielt auf die Dekonstruktion des Stereotyps weiblicher Passivität und Unzulänglichkeit. Den Besucher*innen präsentieren sich Portraits weiblicher Gladiatorinnen, Frauenbilder als Märtyrerinnen in der biblischen Lehre, Regentinnen wie Katharina von Medici, Informationstafeln über die mittelalterliche Macht von Maitressen und politische Ikonen der Neuzeit und Gegenwart, wie Indira Gandhi und Benazir Bhutto, zu denen sich Peschmerga-Kämpferinnen, Modeschöpferinnen, Spitzensportlerinnen und Drohnenpilotinnen gesellen. Auch von Frauen verübte Grausamkeiten, wie die der »Hexe von Buchenwald« Ilse Koch, die taktische Nutzung der Geschlechterstereotypen durch weibliche Selbstmordattentäterinnen oder etwa der weitverbreitete Widerwille, eine Frau wie Beate Zschäpe als Akteurin rechtsextremer Mordserien anzuerkennen, werden schließlich thematisiert.

Würdigung | Kritische Einordnung und weiterführende Gedanken

Die Ausstellung bietet eine ganze Bandbreite an unterschiedlichsten Exponaten, die einem breiten Publikum die genderrelevanten Facetten von Krieg und Frieden vermitteln. Dabei verbindet sich Populärkulturelles der Gegenwart mit Historischem, soziale Lebenswelt mit Gewaltkontext, die unterschiedliche Formen struktureller und direkter Zwänge thematisieren. In diesem Sinne ist die sozialwissenschaftliche Grundierung durch Pierre Bourdieus (2006) Konzept der »symbolischen Gewalt«, wie sie im Ausstellungskatalog und in den Informationstafeln erscheint, durchaus überzeugend, auch wenn die Ausstellung sowohl in ihrer thematischen Breite als auch in der Voraussetzung wissenschaftlicher Expertise für ein breites Publikum sehr anspruchsvoll und möglicherweise zu wenig fokussiert erscheint.

Was indes mehr ins Auge sticht, ist das, was fehlt. Denn die Ausstellung tut nicht weh und wagt sich kaum in die Sphären des Sensiblen und Kontroversen – vor allem nicht in Bezug auf die Bundeswehr selbst. Auch kann man sich fragen, inwiefern eine Reifizierung (Vergegenständlichung) dessen stattfindet, was dem Anspruch nach dekonstruiert werden soll. In der Exposition steht nämlich – hier spiegelt die Ausstellung auch den thematischen Schwerpunkt der Genderwissenschaft wider – wieder einmal vor allem die Frau als Projektionsfläche männlicher Phantasien und als Sinnbild der sie umgebenden Machtstrukturen im Fokus.

Tradierte Frauenbilder als Stereotypen zu entlarven, indem man Gegenbeispiele anführt, erscheint vor diesem Hintergrund zwar folgerichtig. Eine wirkliche Dekonstruktion der impliziten Selbstverständlichkeiten im idealtypischen Verständnis von Mann und Frau bietet sich aber kaum, weil die Kritik an der zweiten Seite der Medaille weitgehend ausspart bleibt: die Sphäre idealisierter bzw. selbstverständlicher Männlichkeit. Bilder männlichen Kampfgeistes und (struktureller) Gewalt durch Männer finden sich zwar in etlichen, aber zugleich auch altbekannten, kaum irritierenden Variationen. Genau die Prämissen vermeintlich angeborener männlicher Eigenschaften (wie der Hang zu aggressiven Impulsen und die Fähigkeit zu kalter Rationalität) lassen die Kriege alternativlos und Konfliktstrukturen als natürlich erscheinen. Dies erfolgreich in Frage zu stellen, hätte (wie die Ausstellung es für die Idee des Weiblichen ja durchaus tut) bedeutet, die sozialen Konstruktionsprozesse sichtbar zu machen, die den heteronormativen Idealtypus Mann entstehen lassen.

In der Darstellung tradierter Männlichkeitskulte und der Verherrlichung von Gewalt oder über Homosexualitäts- oder Transgenderdebatten hätte sich die Ausstellung beispielsweise eines breiten Fundus an bestehenden, kritischen Diskursen bedienen können, die viel mehr Irritations- und Anregungspotential besitzen. Das gilt im vorliegenden Kontext natürlich besonders für die (De-) Konstruktion aggressiver Männlichkeit (und die verbundene Abwertung von Weiblichkeit) im Militär. Denn die auch durch kleinere Reformen im Kern unangetasteten patriarchalen Strukturen der Institution Bundeswehr und sie betreffende kritische Kontroversen bleiben hier ausgespart. Es wäre ehrlicher gewesen, das Zusammenwirken von Geschlecht und Gewalt in der eigenen Sphäre kritischer zu reflektieren, indem man das Militär als Form organisierter Gewalt und seinen latenten oder offenen Chauvinismus und Sexismus als Disziplinarmacht sichtbar macht – eine Grundproblematik, die sich auch durch die Anhebung des Frauenanteils in der Bundeswehr nicht grundsätzlich verändert hat. Eine gendersensible Ausstellung, die die Strukturen der eigenen Institution weitestgehend unkommentiert lässt – einmal mehr vor dem Hintergrund, dass das militärhistorische Museum einst lediglich der Schau von Kriegsgeräten diente – erscheint damit leicht als Imagestrategie. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Krista Hunt (2006) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »embedded feminism«. Darunter wird die strategische Einverleibung feministischer Diskurspositionen verstanden. Diese Form der Inkorporierung dient mächtigen Akteur*innen als Form der (Selbst-) Legitimierung eigener Ziele. Entsprechend ist hier Feminismus das Mittel zu einem anderen Zweck.

So überrascht es nicht, dass die Sonderausstellung sich in ihrem deutlichen Fokus auf Weiblichkeit und Zivilgesellschaft kaum in die festen Ausstellungskomponenten integriert. Sie bleibt so – wenn überhaupt – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Kritisch-reflexive und holistische Ansätze, die den Einfluss von Gesellschaft, Kultur und Staatsapparat in der Konstruktion von Genderstereotypen und verbundenen Hierarchien des Militärs zeigen und um kritische Aufklärung bemüht sind, finden sich kaum. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sich die Bundeswehr populärer, zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten bedient, ohne die Sphären des für sie selbst Unbequemen zu tangieren. Solch eine Betrachtung stellt sicher, dass die kritische Kampfzone kein Terrain an militärische Akteure verliert und ist damit Symptomkosmetik statt Ursachenbekämpfung.

Das wirkt umso plausibler, wenn man die gegenwärtigen Marketingstrategien der Bundeswehr betrachtet. Sie erscheinen sowohl als Antwort auf eben jene, beispielsweise an den jüngsten Skandalen sexueller Gewalt oder dem Druck auf weibliche Rekruten (wie in der Debatte um die verunglückte Soldatin auf der Gorch Fock) entzündete, Grundsatzkritik als auch als Instrument der Attraktivitätssteigerung für die Rekrutierung neuen Personals nach der Abschaffung der Wehrpflicht. Plakate im öffentlichem Raum mit der Aufschrift Auch bei uns haben Frauen das letzte Wort: Als Chefin“ zeugen von solchen Strategien.

Neben dieser kritischen Selbstreflexion der militärischen Sphäre hätte die Ausstellung vielfältige Möglichkeiten einer Infragestellung des Selbstverständlichen über Irritation, Interaktion und schmerzhafte Denkanstöße nutzen können, die postkolonialen und postmodernen Diskursen zentralen Platz einräumen (man denke an Banksys Walled Off Hotel, siehe auch Bausch/Stein 2017). Schließlich besitzt das Darstellungsformat theoretisch die nötigen didaktischen Eigenschaften, um neue Denkbewegungen zu fördern. „In der Begegnung mit dem Unverfu¨gbaren u¨bersteigt der Besucher seine perso¨nlichen, ihn im Alltag fesselnden Beschränkungen, und bleibt doch er selbst.“ (Klein 2004: S. 163) Kritisches Denken, so könnte man sagen, bedarf eben auch immer einer Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren, um die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überschreiten oder zumindest herauszufordern. Durch die Konfrontation mit Transsexualität als Gegenstück zum Heteronormativen, durch ambi- oder polyvalente Collagen, Installationen und Filmsequenzen, die die Welt aus der Perspektive eines anderen Geschlechts konkret erfahrbar machen, oder etwa durch Illustration von politischen Protestbewegungen, die mit Genderrollen spielen, hätten solche Irritationsmomente erreicht werden können. Besucher*innen hätten so animiert werden können, die Selbstverständlichkeit des eigenen Geschlechts zu hinterfragen, indem man ihnen einen Spiegel vorhielte und so Empathie für die Wirkmacht von Geschlechterrollen motivierte. Nur so würden neue Handlungsräume sichtbar, neue Fragen aufgeworfen und kritische Diskurse für die Zukunft angestoßen.

Eine gelungene Ausstellung sollte also immer auch Kontroversen hin zu gesellschaftlichen Utopien befördern. Schließlich darf es Kritik nicht nur darum gehen, um es frei nach Marx zu formulieren, die Welt zu erklären, sondern sie zu verändern. Wissenschaft und Kunst müssen in diesem Sinne neben kritischer Reflexion immer auch den Mut besitzen, eine »Kartographie des Möglichen« (Rancière 2016) zu skizzieren.

Literatur

Bausch, T.; Stein, A. (2017): Zur Repräsentationsproblematik von Konflikten und der Macht zu definieren – Potenziale und Grenzen partizipativer und mehrperspektivischer Ausstellungsformate. In: Warnecke, A.; Reitmair-Juárez, S. (Hrsg.): Um Gottes Willen? Die ambivalente Rolle von Religionen in Konflikten. Stadtschlaining: Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution, S. 68-85.

Bourdieu, P. (2013): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, J. (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge: New York [u. a.].

Butler, J. (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Klein, A. (2004): Expositum – Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld: transcript.

Krista, H. (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Hunt, K.; Rygiel, K. (eds.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire & Burlington: VT.

Mutterthaler, R.; Wonisch, R. (2006): Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld: transcript.

Rancière, J. (2016): Interview Thomas Claviez und Dietmar Wetzel mit Jacques Rancie`re. In: Claviez, T.; Wetzel D. (Hrsg.): Zur Aktualität von Jacques Rancie`re – Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS.

United Nations (2002): Gender Mainstreaming – An Overview. Office of the Special Advisor for Gender Issues and Advancement of Women: New York.

Yuval-Davis, N.: (1997): Gender and Nation. Sage Publications: New York

Tim Bausch arbeitet und promoviert am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Als Sprecher der Jungen AFK vertritt er auch selbige Institution in der Redaktion der W&F. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Bewegungsforschung auch ästhetische Protestformen. 
Dr. Carolina Rehrmann arbeitet am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Neben dieser Tätigkeit arbeitet Carolina Rehrmann außerdem am Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit (geschlechtlichen) Rollen und Rollenbildern.

Historisches Vorbild


Historisches Vorbild

Bertha von Suttner und die Frauen für Frieden

von Anne Bieschke

Wichtiger Bestandteil der Bewegungsarbeit der Friedensfrauen war immer auch die Erarbeitung und Bewusstmachung der eigenen Geschichte. Sie stellen sich in die Tradition früherer Aktivistinnen und Bewegungen und knüpfen an sie an. So werden die historischen Vorläuferinnen zu wichtigen Bestandteilen der eigenen Identität. Selbst ohne personelle oder strukturelle Kontinuitäten gelingt dies vor allem anhand der Themen und Argumente, durch ähnliche Aktionsformen, die Übernahme von Ritualen oder Feiertagen und das Gedenken an berühmte Frauen, die sich um den Frieden verdient gemacht hatten. Bertha von Suttner ist hierbei wohl die hervorragendste Persönlichkeit.

Die Frauenfriedensbewegung kann inzwischen auf eine etwa 150-jährige Geschichte zurückblicken, die teils von Kriegen unterbrochen wurde, teils Zeiten der Latenz erfuhr, ohne jedoch ganz abzubrechen. Auch für sie gilt die Erkenntnis: „Kaum ein Thema gegenwärtiger sozialer Bewegungen ist wirklich neu. […] Rückblickend ist festzustellen, dass soziale Bewegungen ihre Geschichte und Vorgeschichte immer wieder aufs Neue entdecken und in gewisser Weise »erfinden«.“ (Roth 2008, S. 21) Das Geschlecht ist für die Frauenfriedensbewegung dabei das wichtigste verbindende Element und ausschlaggebend für das Gefühl einer Zusammengehörigkeit über Generationen hinweg. Daneben fungieren »Vorfahrinnen« der Frauenfriedensbewegung bis heute als wichtige Vorbilder und als Quellen des Empowerment auf emotionaler Ebene. Es ist möglich, aus der Geschichte Mut zu schöpfen, die eigene Argumentation zu prüfen und von den früheren Theoretikerinnen zu lernen oder gegebenenfalls deren Fehler und Misserfolge zu reflektieren.1

Die Erarbeitung der eigenen Geschichte durch die Frauenfriedensbewegung wirkt jedoch nicht nur nach innen. Nach außen sind Aktionen, die Bezug auf die Geschichte und auf in der breiten Öffentlichkeit bekannte Personen nehmen, ein Mittel, die Sichtbarkeit und die Wirksamkeit der eigenen Aktionen zu erhöhen. Der Geschichtswissenschaft geben genau diese Aneignungen der eigenen Geschichte Auskunft über die innere Verfasstheit und das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung.

Wohl am häufigsten wurde und wird, wenn es um weibliches Friedensengagement geht, Bezug genommen auf Leben und Werk Bertha von Suttners. Bertha von Suttner, österreichische Pazifistin, geboren 1843, erarbeitete in ihren Schriften nicht nur Grundlagen des (weiblichen) Friedensengagements, sondern war auch Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde (1891) und der Deutschen Friedensgesellschaft (1892). Vor allem durch ihren Roman »Die Waffen nieder!« ist Bertha von Suttner vielen ein Begriff. Der Roman, den sie im Jahr 1889 zunächst in kleiner Auflage veröffentlichte, wurde eines der erfolgreichsten Antikriegsbücher seiner Zeit. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis – eine Auszeichnung, zu der sie selbst einige Jahre zuvor Alfred Nobel angeregt hatte. Für viele Friedensfrauen ist sie ein Vorbild, weil sie sich dezidiert als Frau für den Frieden einsetzte und dies in einer Zeit, in der die Handlungsspielräume von Frauen im »öffentlichen Raum« sehr begrenzt waren (Hausen 1976).

Die »Westdeutsche Frauenfriedensbewegung«

In den 1950er Jahren wurde Bertha von Suttner zum ersten Mal dezidiert als historisches Vorbild rezipiert, und zwar durch die 1951 gegründete Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). Zeit ihres Bestehens zeigte die WFFB sich geschichtsbewusst und stellte sich ausdrücklich in die Tradition Bertha von Suttners (Notz 2015) und der alten Frauenbewegung, wie die beiden Mitbegründerinnen Ingeborg Küster und Elly Steinmann betonten: „Durch die Westdeutsche Frauenbewegung ist die deutsche Frauenbewegung fortgeführt worden, die Tradition jener Frauen, die zu ihrer Zeit bereit gewesen sind, unter schwierigen Bedingungen das Notwendige zu tun.“ (Küster/Steinmann 1990, S. 233)

Die Frauen gaben sich das Motto „Wir sind Hüterinnen, Wachen ist unser Auftrag, unser Amt ist der Friede“ (Faßbinder 1956, S. 3), das den besonderen Bezug des weiblichen Geschlechtes zum Frieden, aber auch zur Wahrung von Traditionen hervorhob.

Ihre Hauptziele waren die Verhinderung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbindung in ein westliches Militär- oder Verteidigungsbündnis. Daneben setzten sich die Frauen auch für eine Verbesserung der Beziehungen zur DDR ein. 1952 protestierten etwa 1.600 Frauen in Bonn gegen den Deutschlandvertrag, 1954 demonstrierten sie gegen die allgemeine Wehrpflicht, 1955 gegen die Pariser Verträge und 1964 gegen eine multilaterale Atomstreitmacht – hierzu beteiligten sich ca. 700 Frauen der WFFB an einer Demonstration in Den Haag, einer der Wirkungsstätten von Bertha von Suttner. Ab Mitte der 1960er Jahre engagierte die WFFB sich vornehmlich gegen den Vietnamkrieg. Das Ende der WFFB wurde von der Aufgabe ihrer Frauenzeitschrift »Frau und Frieden« eingeläutet, die bis 1974 erschien (Küster/Steinmann 1990). Zu diesem Zeitpunkt ließen auch die übrigen Tätigkeiten der WFFB immer weiter nach und versiegten schließlich ganz.

Die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre

Während die WFFB sich dezidiert in der Tradition der Vorgängerbewegung sah, war die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre ein Kind der Neuen Frauenbewegung. Als Teil dieser sowie der Friedensbewegung verstand sie sich durchaus auch als eigenständige Bewegung, die gegen Aufrüstung (NATO-Doppelbeschluss) protestierte und sich für einen Frieden stark machte, der die Gleichberechtigung der Geschlechter einschließt.

Eine erste Welle des Protests und die Bildung neuer Frauengruppen lösten Ende der 1970er Jahre die u.a. von Verteidigungsminister Apel in den Raum gestellte Frage aus, ob Frauen auch zum Wehrdienst verpflichtet werden sollten. Die Diskussion blieb nicht auf die Frauen- und Frauenfriedensbewegung beschränkt, sondern wurde durchaus ein gesamtgesellschaftliches Thema. Zu Beginn der Debatte waren es vor allem Aktivistinnen der Initiative »Frauen in die Bundeswehr? Wir sagen Nein!«, gegründet im Mai 1979, die mit Demonstrationen und so genannten »Verweigerungsaktionen« an die Öffentlichkeit traten. Die Frauen wurden aufgerufen, vorsorglich bei der zuständigen Behörde schriftlich jede Form des Kriegseinsatzes, von einem möglichen Wehrdienst bis hin zu medizinischen Hilfeleistungen, zu verweigern und gegen eine mögliche Frauenwehrpflicht zu protestieren.

Eine Internationalisierung der Frauenfriedensbewegung wurde mit dem im Februar 1980 in Dänemark initiierten Aufruf »Frauen für den Frieden« (zit. in Quistorp 1982, S. 20) ab Anfang der 1980er Jahre erreicht, in dem unter anderem Abrüstung und der Stopp des Wettrüstens zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion gefordert wurden. Auch die westdeutschen Frauen beteiligten sich an der internationalen Unterschriftenaktion und begleitenden Aktionen.2

Einen Bezug zu ihren historischen Vorfahrinnen mussten sich die Aktivistinnen der 1980er Jahre oft erst erarbeiten, dann jedoch nutzten sie ihn umso expliziter für die Herstellung der eigenen Identität als Bewegung und für die Darstellung nach außen. Wie wichtig diese Traditionslinien auch für die »neue« Frauenfriedensbewegung waren, zeigt das Vorwort von Eva Quistorp zum Band »Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Frauenfriedensbewegung«:

„Viele Probleme, die heute aufgegriffen werden, waren bereits Themen früherer Frauenfriedensbewegungen. Ideen und Energien jener Bewegungen setzen sich bis heute fort – wenn auch oft unbewußt. […] »Frauen für Frieden« knüpfen an eine […] Tradition an – die Tradition einer Widerstand leistenden Minderheit von Pazifistinnen wie Bertha von Suttner, Lydia [sic!]Gustava Heymann und Virginia Woolf, von Kommunistinnen wie Clara Zetkin, libertären Anarchistinnen wie Emma Goldmann, Sozialistinnen wie Rosa Luxemburg, Christinnen wie Dorothy Day und Luise Rinser. Ohne diese Geschichte wäre die Stärke und Vielfalt der neuen Frauenfriedensbewegung kaum denkbar.“ (Quistorp 1982, S. 9)

Auch hier waren es oft Bertha von Suttner und ihr Werk, an die bei zahlreichen Aktionen erinnert wurde: Im März 1981 benannten Friedensfrauen in Berlin in einer ihrer Aktionen die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Bertha-von-Suttner-Gedächtniskirche um. Sie fanden Nachahmerinnen an vielen weiteren Orten, wobei die Frauen nicht nur Kirchen, sondern – wie zum Beispiel in Düsseldorf – auch Platz- oder Straßennamen veränderten (Balistier 1996). Die Berufung auf ein historisches Vorbild unterstrich die Legitimität der eigenen Ziele. Die Friedensfrauen zeigten sich selbst und der Öffentlichkeit, dass ihre Forderungen auch schon Jahrzehnte früher aktuell waren. Dabei war auch der Verweis auf vergangenes Scheitern Bestandteil der Aktion und diente als Warnung an sich selbst und an die Öffentlichkeit. Die Gewalterfahrungen und Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts seien schließlich auch eine Folge der Nichtbeachtung weiblichen Friedensengagements gewesen. Darum sei es nun an der neuen Generation Frauenfriedensbewegung, dafür zu sorgen, dass ihre Anliegen ernst genommen würden.

Frauen für den Frieden heute

Mit der Thematisierung von Krieg und Frieden bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) und ihren nationalen Vorbereitungs- und Nachfolgekonferenzen hat sich das Engagement der Frauenfriedensorganisationen wieder stärker auf eine institutionalisierte Ebene verlagert. Getragen wird dies zum Beispiel von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), gegründet 1915, die beratenden Status bei verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen hat.3

Spätestens seit dem Jahr 2001 und der vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, ist die besondere Betroffenheit von Frauen von Krieg und seinen Folgen, wie Flucht, Vertreibung und (sexuelle) Gewalt an Zivilist*innen, international anerkannt.4 Anerkannt ist ebenfalls, dass Frauen aufgrund dieser Betroffenheit auch an Friedensprozessen beteiligt sein müssen. Die Umsetzung der Resolution geht jedoch nur schleppend voran. Hier sind nun wieder Frauen gefragt, die sich engagieren, Gruppen gründen und aktiv werden, um auf nationaler und internationaler Ebene die Umsetzung der Resolution zu überwachen und einzufordern.

Ein weiteres Beispiel ist das Frauennetzwerk für Frieden e.V., das seit 1996 besteht und als zentralen Wert eine Friedenskultur anstrebt, die „die Realisierung von Gerechtigkeit, die insbesondere auch das Ende der Gewalt gegen Frauen und die Implementierung der Geschlechtergerechtigkeit für Frauen, Männer und Transgeschlechtlichkeiten einschließt“ (Frauennetzwerk für Frieden o.J.). Die Netzwerkorganisation FriedensFrauen Weltweit wiederum, die aus der Initiative »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis« im Jahr 2003 hervorgegangen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Vernetzung zwischen Friedensstifterinnen zu stärken, ihre Arbeit mit praktischen Tools zu unterstützen und ihr Engagement sichtbar zu machen.“ (FriedensFrauen Weltweit o.J.)

Eines der wichtigsten solcher »Tools« ist der Hinweis auf die eigene Geschichtlichkeit. Die IFFF verweist auf ihrer Webseite dezidiert auf Bertha von Suttner und würdigt ihr Leben und Werk als einen wichtigen Beitrag weiblichen Friedensengagements. Ganz ähnlich wie die Frauenfriedensbewegung in den 1980er Jahren arbeitet das Frauennetzwerk für Frieden e.V. ganz praktisch mit der historischen Person Bertha von Suttner. Das Frauennetzwerk hatte jahrelang darauf hingewirkt, dass für Bertha von Suttner in Bonn ein Denkmal errichtet würde. Nach jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit, Spendensammlungen und Überzeugungsarbeit gegenüber der Stadt Bonn ziert nun seit 2013 eine Stele der finnischen Künstlerin Sirpa Masalin den Bertha-von-Suttner-Platz in Bonn. 2016 gründete sich innerhalb des Frauennetzwerkes zusätzlich eine eigene »Bertha-AG«, die sich dem Andenken an von Suttner verschrieben hat und „den Geist Bertha von Suttners in Bonn präsent“ halten möchte (Frauennetzwerk für den Frieden o.J.).

Die Beispiele zeigen, wie wichtig die eigene Geschichte für das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung und ganz allgemein für soziale Bewegungen ist. Die aktive Aneignung dieser Geschichte ist dabei ebenso wichtig wie ihre Verwendung als Vehikel für die eigenen Botschaften. Dabei muss bedacht werden, dass die Geschichtsarbeit sozialer Bewegungen stets selektiv ist und eben dazu dient, ein bestimmtes Bild von der eigenen Bewegung zu zeichnen. Die „Erfindung von Tradition“ kann die „Legitimation und das politische Gewicht der eigenen Mobilisierung verstärken“ (Roth/Rucht 2008, S. 21).

Anmerkungen

1) Vgl. zum Nutzen der Reflexion und Bewahrung der eigenen Geschichte für Neue Soziale Bewegungen, respektive der (neuen) Frauenbewegung, Wenzel 2013, S. 183.

2) Zur Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre ausführlich Bieschke 2018 (im Erscheinen).

3) Women’s International League for Peace and Freedom, WILPF; wilpf.org.

4) Zur Wirkung der Resolution 1325 vgl. Weiß (2016). Zur Resolution 1325 siehe außerdem die Artikel von Ruth Seifert und Heidi Meinzolt in diesem Heft.

Literatur

Balistier, T. (1996): Straßenprotest – Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Bieschke, A. (2018): Die unerhörte Friedensbewegung – Frauen, Krieg und Frieden in der Nuklearkrise (1979-1983). Essen: Klartext (im Erscheinen).

Faßbinder, K.M. (1956): Fünf Jahre Velbert. Frau und Frieden Nr. 10, S. 3.

Frauennetzwerk für Frieden e.V. (o.J.); ­frauennetzwerk-fuer-frieden.de.

FriedensFrauen Weltweit (o.J.); 1000peacewomen.org.

Hausen, K. (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, W. (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas – Neue Forschungen. Stuttgart: Klett, S. 363-393.

Küster, I.; Steinmann, E. (1990): Die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Hervé, F. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Köln: PapyRossa, 4. Auflage, S. 224-234.

Notz, G. (2015): Klara Marie Faßbinder (1890-1974) und die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Dunkel, F.; Schneider, C. (Hrsg.): Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Leverkusen-Opladen: Budrich academic, S. 87-102.

Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.) (2008): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York, campus, S. 21.

Quistorp, E. (Hrsg.) (1982): Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim: Päd-­extra-Buchverlag.

Weiß, N. (2016): Frauen, Frieden und Sicherheit – was hat Resolution 1325 gebracht? Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.

Wenzel, C. (2013): Springen, Schreiten, Tanzen – Die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung. In: Bacia, J.; Wenzel, C. (Hrsg.): Bewegung bewahren – Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin: Hirnkost, S. 179-196.

Dr. Anne Bieschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim und Historikerin. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik in der Nuklearkrise (1979-1983).

„Dieser Körper gehört mir!“


„Dieser Körper gehört mir!“

Der Kampf gegen Feminizid in Guatemala

von Jana Hornberger

Die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts – Feminizid – ist auch in Guatemala ein großes Problem. Das zentralamerikanische Land gehört mit El Salvador und Jamaika zu den Ländern mit den höchsten Feminizidraten weltweit. Die Ursprünge frauenfeindlicher Gewalt reichen bis in die Kolonialzeit zurück, in der sich eine patriarchale und rassistische Gesellschaftsstruktur herausbildete. Diese begünstigte den Genozid an der indigenen Bevölkerung während des internen bewaffneten Konflikts (1961-1996) sowie Akte des Feminizides als Strategie der Kriegsführung. In den letzten Jahren wandten sich immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit, um das Schweigen zu brechen und zu zeigen, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen.

Der Song »Ni una menos« der guatemaltekischen Hip-Hop-Künstlerin Rebecca Lane beginnt mit folgenden Zeilen:

“Quisiera tener cosas dulces que escribir /pero tengo que decidir y me decido por la rabia / 5 mujeres hoy han sido asesinadas y a la hora por lo menos 20 mujeres violadas / eso que solo es un día en Guatemala /multiplícalo y sabrás porqué estamos enojadas.” – „Ich würde gerne über schöne Dinge schreiben, aber ich muss sagen, dass ich mich für die Wut entscheide. Allein heute wurden fünf Frauen ermordet und mindestens 20 vergewaltigt, so etwas geschieht in Guatemala an einem einzigen Tag. Multipliziere diese Zahl und du weißt, warum wir wütend sind.“

Der Song trägt den Namen der im Jahre 2015 in Argentinien initiierten Bewegung »Ni una menos« (Nicht eine weniger), die sich gegen sexuelle Gewalt und Feminizide wendet. Die Bewegung erlangte schnell in ganz Lateinamerika eine wichtige Bedeutung. Sie hat vor allem Frauen mobilisiert sowie eine breite Öffentlichkeit für die Thematik geschlechtsspezifischer Gewalt in Lateinamerika sensibilisiert. International bekannt wurde das Phänomen im Zusammenhang mit der mexikanischen Stadt Ciudad Juaréz in den 1990er Jahren. Die Grenzstadt symbolisierte einen Ort des Schreckens. Gefolterte und vergewaltigte Frauen, deren Leichen außerhalb der Stadt abgelegt wurden, waren und sind traurige Realität. Die Täter werden meist nicht gefunden oder bestraft. Eine ernsthafte Suche nach den Straftätern findet jedoch auch nur selten statt.

Sowohl im deutschen wie im spanischen Sprachgebrauch existieren die Begriffe Feminizid sowie Femizid (spanisch feminicidio/femicidio). Beide Begriffe meinen die gezielte Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechtes. Die Täter sind in der Regel Männer. »Femizid« meint die konkrete Gewaltausübung und Tötung einer Frau, während »Feminizid« die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen miteinschließt, die solch eine Tat mitbegünstigen. Frauen in Lateinamerika sind nicht nur besonders stark von politischer und ökonomischer Exklusion und Diskriminierung betroffen, sondern auch von sexueller Ausbeutung und Gewalt. Alle 31 Stunden stirbt in Lateinamerika eine Frau durch die Schläge eines Mannes, in der Regel eines Mannes aus dem engeren sozialen Umfeld (Arte 2015). Statistiken der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist sexuelle Gewalt an Frauen in Lateinamerika weitgehend unabhängig vom Einkommen, von der sozialen Schicht und vom Bildungsniveau (WHO 2017). Sie ist Teil einer machistischen und patriarchalen Gesellschaftsstruktur, die tiefe historische und kulturelle Wurzeln hat.

In ihrer Anthologie »Femicide – the politics of woman killing« aus dem Jahre 1992 definieren die beiden US-amerikanischen Soziologinnen Diana Russel und Jil Radford Feminzid als eine Form der sexuellen Gewalt gegen Frauen, welche in der gezielten Vergewaltigung und Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts in Erscheinung tritt und eine tiefverankerte frauenfeindliche Haltung der Täter impliziert (Russel/Radford 1992). Außerdem weist der Begriff auf eine strukturelle Diskriminierung, Marginalisierung und Unterordnung von Frauen innerhalb eines Gesellschaftssystems hin, das zutiefst patriarchal geprägt ist. Die mexikanische Feministin und Anthropologin Marcela Lagarde hat dieses Verständnis für den lateinamerikanischen Kontext angepasst: Der Staat ist oftmals Komplize dieser Verbrechen, da schwache institutionelle Strukturen, fehlende Rechtsstaatlichkeit und Strafverfolgung sowie patriarchale und machistische Gesellschaftsstrukturen die Tötungen und Vergewaltigungen dulden, rechtfertigen und mitbegünstigen. »Feminicidio« ist somit ein Staatsverbrechen und damit auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (ECAP 2011, S. 189).

Feminizid in Guatemala – historische Ursprünge

In Guatemala sind Frauenmorde sowie sexuelle Gewalt gegen Frauen nur im Zusammenhang mit der Geschichte des Landes zu verstehen. So war die Gesellschaft der Kolonialzeit durch einen tief verankerten Rassismus und Machismus geprägt, welcher vor allen in einem männlichen Überlegenheitsgefühl der Mestizen gegenüber den Nachfahren der Maya-Bevölkerung in Erscheinung trat und sich bis heute fortsetzt. So bildete sich eine patriarchale und rassistische Gesellschaftsstruktur heraus, die mitunter den Genozid an der indigenen Bevölkerung der 1980er Jahre begünstigte. Während des 36-jährigen internen bewaffneten Konflikts (1961-1996) waren sexuelle Gewalt gegen Frauen sowie das gezielte Ermorden von Frauen Teil einer militärischen Strategie der Kriegsführung (Casaús 2010, S. 5).

Durch die Kolonialisierung entstand eine Gesellschaftsstruktur, in der Großgrundbesitz und ethnische Zugehörigkeit die beiden wichtigsten Kriterien sozialer Differenzierung darstellen. Diese prägen weiterhin die guatemaltekische Sozialstruktur. In der Kolonie standen auf oberster Ebene der gesellschaftlichen Hierachie die so gennanten »pensinsulares«, aus Spanien stammende Männer. Danach folgten bereits in der Kolonie geborene Spanier (Kreolen). An dritter Stelle folgten die gemeinsamen Nachfahren der Spanier mit indigenen Frauen, in der Regel die Folge gewaltsamer sexueller Beziehungen und Vergewaltigungen (Brunner/Dietrich/Kaller 1993, S. 28). Angehörige der mestizischen Bevölkerung werden in Guatemala als »Ladinos« bezeichnet. An unterster gesellschaftlicher Stelle standen und stehen die »Indígenas«, die Nachfahren der Maya-Bevölkerung.

Das Fundament der guatemaltekischen Besitz-und Machtverhältnisse bildet somit die Trennung zwischen einer Elite, die sich als »zivilisiert, gebildet und weiß« definiert, sowie der indigenen Bevölkerung, die als »unzivilisiert, ungebildet, schmutzig und nicht-weiß« gilt. Laut der guatemaltekischen Soziologin Marta Elena Casaús Arzú tradierte sich der Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung mit der Herausbildung des Nationalstaates und hatte somit eine konstituierende Rolle für das Selbstverständnis der Ladinos, die heute die guatemaltekische Elite stellen (Casaús 2010, S. 257). Innerhalb dieser Elite bestand die Rolle und Funktion der Frauen u.a. in der Aufrechterhaltung der elitären familiären Allianzen, denn durch die Heirat mit Frauen aus angesehenen spanischen Familien wurde der exklusive Kreislauf aufrechterhalten. Nach wie vor ist ein Großteil des Landbesitzes und des Kapitals in den Händen einer kleinen ladinischen Oligarchie, die sich auch in der politischen und militärischen Elite wiederfindet.

Sexuelle Gewalt als Strategie der Kriegsführung

Sexuelle Gewalt und die gezielte Ermordung von Frauen waren während des internen bewaffneten Konflikts Teil der Kriegsführungsstrategie. Die Studie »Tejidos que lleva el alma« des psychosozialen Zentrums ECAP aus Guatemala Stadt zeigt auf, dass während des Krieges ein Genozid an der indigenen Maya-Bevölkerung und in diesem Kontext ein Feminizid an vowiegend indigenen Frauen stattfand (ECAP 2011). 1 Der Genzid wurde auch im Abschlussbericht der Kommission zur historischen Aufklärung (Comisión del Esclarecimiento Histórico) bestätigt (CEH 1999).

Ein Großteil dieser Verbrechen fand zwischen 1968 und 1985 statt, während der Herrschaft der Diktatoren Lucas García (1978-1982) und Efraín Ríos Montt (1982-1983). Im Rahmen der »Politik der verbrannten Erde« (política de la tierra arrasada) wurden ganze Dörfer systematisch vernichtet und die Bewohner*innen auf grausame Art und Weise massakriert. Legitimiert wurde diese Aggression mit der Bekämpfung der Guerilla-Gruppen, die sich seit den 1960er Jahren vermehrt gegründet hatten. Da die Guerilla ihre Operationen und Aktivitäten überwiegend in den indigenen Gebieten des Landes durchführte, wurde die indigene Bevölkerung zum »internen Feind« erklärt und somit zur Zielscheibe der militärischen Aufstandsbekämpfung. Sie galt als Unterstützungsbasis der Guerilla, und diese sollte zerstört werden. In Guatemala wurde diese Strategie unter der Bezeichnung »quitarle el aqua al pez« (dem Fisch das Wasser entziehen) bekannt.

Neben der genozidalen Ermordung der indigenen Bevölkerung richtete sich die Gewalt des Staates gezielt gegen Frauen. Diese femizidale Dimension der Aufstandsbekämpfung wird, so die Studie von ECAP, allerdings bis dato in Analysen des Konflikts vernachlässigt. Ein Großteil der Maya-Frauen und -Mädchen erlebte damals sexuelle Gewalt. Viele wurden zuerst vergewaltigt und anschließend umgebracht. Frauen waren in der Kriegslogik ein Mittel zur Schwächung des Feindes: Sexuelle Gewalt gegen Frauen wurde vom Staat gezielt genutzt, um die biologische, soziale und kulturelle Reproduktion der Mayabevölkerung zu zerstören.

Feminizid in Guatemalas Gegenwart

Diese historischen Gewaltmuster durchziehen die guatemaltekische Gesellschaft bis heute. Die Kluft zwischen Stadt und Land ist enorm. Ein Großteil der indigenen Bevölkerung lebt in den ländlichen Gebieten des Landes, die oftmals mit einer schwachen Infrastruktur ausgestattet sind. Viele Frauen in Guatemala erleben alltäglich unterschiedliche Formen von Gewalt und Diskriminierung. Vor allem indigene Frauen leiden unter einer dreifachen Marginalisierung: weil sie Frauen, arm und indigen sind. Immer noch stehen sie an unterster Stelle hinsichtlich Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, ökonomischer Tätigkeit, politischer Partizipation und Schutz vor Gewalt und Tötung. Gewalt gegen Frauen findet meist im familiären Umfeld oder im Rahmen des organisierten Verbrechens statt. Sie ist gekennzeichnet durch das Nichteingreifen der Justiz, der Polizei und anderer Behörden.

Im Jahr 2008 wurde nach langem Bemühen von Frauenorganisationen und infolge eines interparlamentarischen Dialogs zwischen Guatemala, Mexiko und der EU das »Gesetz gegen Feminizid und andere Formen der Gewalt an Frauen« (ley contra el feminicidio y otras formas de violencia contra la mujer) verabschiedet. Seitdem ist Gewalt an Frauen in Guatemala ein eigener Strafbestand. Das Gesetz umfasst und definiert die unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt an Frauen, wie Feminizid, Frauenfeindlichkeit, diskriminierende Machtverhältnisse sowie ökonomische, physische, psychische, emotionale und sexuelle Gewalt (Zirke 2011). Der Tatbestand Feminizid kann mit Haftstrafen bis zu 50 Jahren geahndet werden. Im Idealfall soll das Gesetz gegen den Feminizid die strafrechtliche Verfolgung der Täter erleichtern und damit die Straflosigkeit verringern. Doch obwohl es seit Inkrafttreten des Gesetzes zu vereinzelten Gerichtsprozessen zum Strafbestand des Feminizides gekommen ist, sind die Frauenmorde in Guatemala nicht weniger geworden.

Aktuell ist Guatemalas Justiz z.B. mit dem Brand in dem staatlichen Kinderheim »Hogar Seguro, Virgen de la Asunción« (Sicheres Heim Jungfrau Maria Himmelfahrt) befasst. Im Frühling 2017 geriet das Kinderheim in Brand, 40 junge Mädchen kamen dabei ums Leben. In der Einrichtung war es in der Vergangenheit vielfach zu sexuellem und physischem Missbrauch gekommen, auch der Vorwurf der erzwungenen Prostitution und des Menschenhandels wurde erhoben. Zur strafrechtlichen Verfolgung der Taten war es nur in den seltensten Fällen gekommen. Aktivist*innen mach(t)en immer wieder darauf aufmerksam, dass der Staat von den Vergewaltigungen wusste und sprachen von einem »Staatsverbrechen. Nun steht der Vorwurf einer gezielten Vertuschung im Raum (Lehr 2017).

Der Widerstand der Frauen

„Zählt uns, denn auf den Straßen sind wir Tausende. Von Mexiko bis Chile und auf dem ganzen Planeten. Auf den Beinen, um zu kämpfen, weil wir lebendig sein wollen. Wir haben keine Angst, wir wollen nicht noch eine weniger werden. Nennt mich ruhig verrückt, hysterisch und übertrieben, aber heute singe ich in meinem Namen und in dem meiner Schwestern. Beschuldigt uns nicht als gewaltsam, das nennt man Selbstverteidigung. Wir gehen in den Widerstand, wir sind nicht mehr wehrlos.“

Die schockierenden Ereignisse in dem Kinderheim waren ein Anlass für den Song »Ni una menos« von Rebeca Lane. Die Hip-Hop-Künstlerin spricht in ihrer Musik von ihren Erfahrungen als Frau in Guatemala. In ihren Texten verwebt sie Sozial- und Gesellschaftskritik mit der Aufforderung, sich gegen patriarchale und machistische Machtverhältnisse sowie gegen sexuelle Gewalt zur Wehr zu setzten. Gemeinsam mit anderen zentralamerikanischen Hip-Hop-Künstler*innen gründete sie das Kollektiv »Somos Guerreras« (Wir sind Kriegerinnen). Die Künstler*innen organisieren Räume für junge Frauen, um sich mittels Rap, Poesie oder kreativem Schreiben mit dem weiblichen Körper und den Folgen von Machismus auseinanderzusetzen.

Ein weiteres Beispiel für künstlerische Formen im Umgang mit der Thematik sind die Performances der Künstlerin Regina José Galindo. Hervorzuheben sind hier die beiden Performances »(279) Golpes« und »perras« aus dem Jahre 2005. In »(279) Golpes« (279 Schläge) war die Künstlerin in einem großen Würfel eingeschlossen und fügte sich insgesamt 279 Schläge zu – einen für jede Frau, die zwischen dem 1. Januar und dem 9. Juni 2005 in Guatemala ermordet worden war. Das Publikum konnte bei der Performance die Künstlerin nicht sehen, sondern lediglich die Schläge hören. In »perras« ritzte sie sich das Wort »perra« (Hündin, Schlampe, Hure) in den Oberschenkel, um an die Verstümmelung ermordeter Frauen zu erinnern, in deren Haut frauenfeindliche Worte geritzt waren. Galindos Arbeiten sind oft schockierend und drastisch.

Desweiteren gibt es in Guatemala viele Frauenorganisationen, die über die Thematik aufklären sowie Räume des Austauschs und der therapeutischen Unterstützung für Frauen schaffen. So begleitet beispielsweise das feministische Kollektiv »Actoras de Cambio« seit 2004 Überlebende sexueller Gewalt bei der Verarbeitung, der Genesung und der Rückgewinnung des eigenen Körpers. Die Frauen des Kollektivs organisieren Festivals für Frauen, um auf einer kollektiven Ebene einen kraftvollen und heilsamen Umgang mit den Erfahrungen zu schaffen. Mittels Kunst, Spiritualität und Austausch findet eine Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen von sexueller Gewalt und Feminizid statt.

Fazit

Die dargestellten Beispiele von guatemaltekischen Frauen, die sich für ein selbstbestimmtes Leben und einen selbstbestimmten Umgang mit ihrem Körper einsetzen, sind einige von vielen. Sie stehen stellvertretend für viele weitere mutige Frauen, die genug von Gewalt und Diskriminierung haben. Ich selbst habe 2012/13 in Guatemala als Freiwillige in einem internationalen Begleitprojekt gearbeitet und war beeindruckt von der Stärke und dem Willen vieler Guatemaltek*innen, einen kreativen und selbstbestimmten Umgang mit den Folgen der Gewalt des Krieges und der gegenwärtigen Situation zu finden.

Anmerkung

1) Die Studie dokumentiert zudem die therapeutische Arbeit mit indigenen Frauen, die sexuelle Gewalt im Bürgerkrieg überlebten.

Literatur

ARTE (2015): Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika. 4.6.2015, arte.tv.

Brunner, M.; Dietrich, W.; Kaller, M. (1993): Projekt Guatemala – Vorder-und Hintergründe der österreichischen Wahrnehmung eines zentralamerikanischen Landes. Frankfurt: Brandes & Apsel.

Casaús Arzú, M.E. (2010): Guatemala – Linaje y Racismo. Guatemala Stadt: F&G Editores.

Commission for Historical Clarification (1999): Guatemala, Memory of Silence – Report of the Commission for Historical Clarification. Conclusions and Recommendations.

ECAP (2011): Tejidos que lleva el alma – Memoria de las mujeres mayas sobrevivientes de violación sexual durante el conflicto armado. Studie des psychosozialen Zentrums ECAP aus Guatemala Stadt; ecapguatemala.org.gt.

Lehr, C.C. (2017): Das war kein Unfall – Massive Proteste gegen die Regierung Guatemalas nach dem Brand in einem Kinderheim. Lateinamerika Nachrichten, Nr. 514, April 2017.

Russel, D.; Radford, J. (eds.) (1992): Femicide – The Politics of Woman Killing. New York: Twayne Publishers Inc.

World Health Organization (WHO) (2017): Violence against women – Key facts. who.int, 20.11.2017.

Zirke, L. (2011): Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. In: Frauenmorde in Zentralamerika und Mexiko. Dossier Nr. 3 der Lateinamerika Nachrichten.

Jana Hornberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz. Sie ist dort für die Erarbeitung eines Konzeptes zum Umgang mit den ehemaligen Westwall-Anlagen zuständig. Die letzten Jahre hat sie in Guatemala, Mexiko und Kolumbien zu Themen wie Erinnerungskultur und Vergangenheitsaufarbeitung gearbeitet.

UN-Resolution 1325 in Deutschland


UN-Resolution 1325 in Deutschland

von Heidi Meinzolt

Die Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats wurde im Jahr 2000 beschlossen, da gravierende Erkenntnissen und Untersuchungen vorlagen, die später durch eine globale Studie (UN Women 2015) und zahlreiche wissenschaftliche und Vor-Ort-Recherchen in Konfliktkontexten immer wieder bestätigt wurden. Ob als Verhandler*innen, Mediator*innen, Berater*innen, Entscheider*innen – wenn Frauen lokal und global an Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen und in Wiederaufbau-Szenarien im Bereich von Transitional Justice gleichberechtigt beteiligt sind, erhöht sich die Chance auf eine Einigung und auf eine nachhaltigere Konfliktlösung. Allerdings bleibt viel zu tun, damit die UN-Resolution 1325 eine Transformationsdynamik entwickelt für eine friedliche Gesellschaft, wie sie die Gründungsfrauen angestrebt hatten.

Die Resolution 1325(2000), »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats hat nicht nur den Schutz von Frauen in Konfliktsituationen und nicht nur ein quantitatives Eingliedern von Frauen in ein bestehendes, patriarchal geprägtes und einseitig sicherheitspolitisch orientiertes Konzept zum Ziel (Paffenholz et al. 2016). Die Resolution 1325 darf auch nicht auf eine symbolpolitische Dimension reduziert werden. Vielmehr geht es um einen grundsätzlichen Ansatz, der sich aus Alternativen zur herkömmlichen Sicherheitspolitik, einer klaren Priorität für Prävention und dem Bezug auf menschliche Sicherheit speist (Bricke 2003). Der Interpretationsspielraum ist breit, weil mit menschlicher Sicherheit nicht nur Schutz vor physischer Gewalt, sondern auch Schutz vor weiteren Bedrohungen der Lebensgrundlagen, wie z.B. Umweltzerstörung, Krankheit und wirtschaftliche Instabilität, sowie die Förderung von Bildung, Gesundheit, eigenständigem Einkommen, Empowerment und insbesondere Partizipation an politischen Prozessen gemeint ist.

Frauen nehmen sich zuspitzende Spannungen und Konflikte aufgrund ihrer sozialen Eingebundenheit und grenzüberschreitenden Verbindungen oft anders wahr, sind kritischer gegenüber Heldengeschichten und Männlichkeitskonstrukten und haben deutlich weniger Bezug zu Waffen. Die Resolution 1325 soll „einen Umkehrschub auslösen in dem Sinne, dass die Außen- und Sicherheitspolitik nicht weiter fast ausschließlich von Männern bestimmt wird, dass in Nachkriegssituationen auch Frauen die Chance erhalten, in Führungspositionen zu gelangen. So gut wie überall auf der Welt scheinen Kriege dazu zu führen, dass das männliche Geschlecht alle führenden Positionen in Politik und Gesellschaft an sich reißt und Frauen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Afghanistan und Irak sind hier nur zwei besonders anschauliche Beispiele. Doch mit Resolution 1325 liegt zum ersten Mal ein Werkzeug vor, diese extrem undemokratische Entwicklung zu stoppen.“ (Frauensicherheitsrat 2004)

Folgeresolutionen und Weiterarbeit

Zur Resolution 1325 sind im Laufe der letzten Jahre sieben weitere Sicherheitsratsresolutionen hinzu gekommen (1820 (2008), 1888 (2009), 1889 und 1960 (2010), 2106 und 2122 (2013), 2242 (2015)), die präzisieren und differenzieren, welches transformative Potential die Resolution 1325 in den Bereichen Geschlechtergerechtigkeit, Schutz, Partizipation, Prävention und Verfolgung sexualisierter Gewalt aufweist. Diese Resolutionen definieren die Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« (Women, Peace and Securiya/WSP) der Vereinten Nationen. Zu diesem Thema wurden außerdem zahlreiche internationale Studien erstellt (z.B. Swisspeace 2016, OSCE 2014, EU 2008). Weitere Bezugspunkte waren von Beginn an die Aktionsplattform der UN-Frauenkonferenz von Peking (1985) und die internationale Frauenrechtskonvention CEDAW von 1979 (von der Bundesrepublik unterzeichnet 1980 und ratifiziert 1985). Im deutschen Kontext spielt auch der »Entwicklungspolitische Aktionsplan zur Gleichberechtigung der Geschlechter 2016-2020« des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine wichtige Rolle.

74 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, das entspricht 38 %, haben Nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Resolution 1325 verabschiedet; es gibt darüber hinaus regionale Aktionspläne in der Afrikanischen und der Europäischen Union. Auf UN-Ebene gibt es einen Zusammenschluss der »Friends of 1325« unter der Regie von Kanada, ein Netzwerk so genannter National Focal Points, eine EU Task Force zum Thema und sogar einen Aktionsplan der NATO zur Resolution 1325.

Umsetzung in Deutschland

Das deutsche Netzwerk »Frauensicherheitsrat« forderte bereits 2003 einen eigenen Nationalen Aktionsplan für Deutschland; mit dem später gegründeten breiten »Bündnis 1325« wurde mit Stellungnahmen, Blaupausen, Anträgen, Vergleichen mit anderen solchen Plänen, dem WILPF1-Portal »Peacewomen« (peace­women.org) und parlamentarischen Initiativen nationaler und internationaler Legitimationsdruck aufgebaut. Dennoch weigerte sich die Bundesregierung lange, einen eigenen Nationalen Aktionsplan zu verabschieden. Begründet wurde dies damit, dass es bereits den »Aktionsplan Zivile Krisenprävention« und die Strategien zur Umsetzung von »Gender Mainstreaming« gebe und somit keine Notwendigkeit für ein zusätzliches Dokument bestehe.

Die Bundesregierung legte im Dezember 2012 dann doch überraschend einen ersten Nationalen Aktionsplan vor, für den sie teilweise auf die detaillierte Vorarbeit der Zivilgesellschaft zurückgriff, jedoch weitgehend ohne diese einzubinden. Ohne vorherige Evaluation des ersten Aktionsplans wurde 2016 ein erster Entwurf für den zweiten Nationalen Aktionsplans für den Zeitraum 2017 bis 2020 vorgelegt. Erst als es einen Proteststurm gegen das Papier gab, wurden zur weiteren Ausarbeitung Frauen- und Friedensorganisationen einbezogen.

Der zweite Aktionsplan, der von der Bundesregierung am 11. Januar 2017 verabschiedet wurde, hat an inhaltlicher Prägnanz und Konkretisierung gewonnen. Positiv zu bewerten ist eine institutionalisierte Zusammenarbeit durch regelmäßige Treffen der Interministeriellen Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Resolution 1325 mit der Zivilgesellschaft in einem operativen (z.B. zur Umsetzung der Resolution in Krisenregionen) und strategischen (konzeptionelle Grundsatzdiskussionen, z.B. zu Sicherheitskonzepten oder zum Projektanteil für Prävention) Austauschformat. Defizite gibt es weiterhin bei der finanziellen Ausstattung – der Aktionsplan hat kein eigenes Budget – und im Bereich von Monitoring und Evaluation. Insbesondere beim Thema Migration und Flucht wird die Anwendung der Resolution 1325 im Inneren verweigert (dem hat sich das Innenministerium im Rahmen der Interministeriellen Arbeitsgruppe widersetzt). Der Nationale Aktionsplan ist außerdem wenig verzahnt mit anderen außenpolitischen Grundsatzdokumenten, wie dem »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« (2016) und den »Leitlinien Krisenprävention« (2017). Es ist an der Zeit, die Problematik militarisierter Männlichkeit mit Blick auf Lösungsansätze ebenso breit zu thematisieren wie die Notwendigkeit, nach Geschlechtern unterschiedliche Schutzmaßnahmen gegen genderbasierte Kriegsgewalt zu ergreifen und Täter*innen konsequent zu bestrafen.

Internationale Umsetzung

Alle Gespräche mit Frauen in Kolumbien, dem Kongo, Bosnien (Women Organizing for Change in Bosnia and Herzegovina 2017), Syrien, Ukraine, Georgien (Kharashvili 2016) zeigen, dass die Umsetzung der Resolution 1325 im lokalen, regionalen und überregionalen Kontext komplex ist. Sie geht einher mit dem Abbau geschlechtsspezifischer Stereotype, patriarchaler Normen und Praktiken und der Stärkung der Partizipation von Frauen als »agents of change« im gesamten Konfliktzyklus: von der Prävention (z.B. durch spezifische Frühwarneinrichtungen im sozialen Kontext, Bildung, langfristige Projekte für zivilgesellschaftliches Empowerment) über konstruktives Konfliktmanagement bis hin zur Nachsorge, die wieder grundsätzliche Gerechtigkeitsfragen, insbesondere Geschlechtergerechtigkeit, ebenso wie geschlechtergerechte ökonomische Sicherheit auf den Prüfstand stellt. Als entscheidende Faktoren für eine Umsetzung der WPS-Agenda im Sinne einer sichtbaren Veränderung erwiesen sich immer wieder die grenzüberschreitende und ideologiefreie Kooperation lokaler Aktivist*innen, ihre aktive Wahrnehmung verschiedener Konfliktnarrative und vor allem Abrüstung und Entwaffnungsprogramme.

Neben Vor-Ort-Aktivitäten gibt es zahlreiche positive Ansätze zur Stärkung der Resolution 1325 durch Wortmeldungen bei internationalen und multilateralen Institutionen. Als geeignetes Instrument hat sich der UPR-Mechanismus des UN-Menschenrechtsrats (Universal Periodic Review, periodische Überprüfung jedes UN-Mitgliedsstaats hinsichtlich seiner Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen) erwiesen. Diesen nutzen verschiedene Ländergruppen der Women’s International League for Peace and Justice (WILPF), um weniger berücksichtigte Aspekte und Zusammenhänge im Rahmen der WPS-Agenda zu thematisieren.

Für Deutschland wird z.B. empfohlen, seine Rolle in multilateralen Organisationen, wie der EU und dem Internationalen Währungsfond, und die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die politische Teilhabe von Frauen in betroffenen Ländern kritisch zu beleuchten sowie das erhöhte Sicherheitsbedürfnis in der deutschen Bevölkerung und den drastischen Anstieg von Kleinen Waffenscheinen in den letzten Jahren zu thematisieren – alles unter dem Aspekt einer zusätzlichen Bedrohung für die Sicherheit von Frauen (WILPF 2017). WILPF weist in der Stellungnahme im Rahmen des UPR-Verfahrens auch auf die unbedingte Notwendigkeit hin, die Resolution 1325 im Bereich Migration anzuwenden, d.h. asylsuchende und geflüchtete Frauen in Entscheidungsprozesse um Asyl- und Flüchtlingsfragen miteinzubinden. Dies wäre ein Zeichen, dass Deutschland es ernst meint, die WPS-Agenda sowohl national als auch international voranzutreiben. Darüber hinaus ist es längst überfällig, für die Umsetzung der Resolution 1325 auch die notwendige personelle Ausstattung und finanzielle Unterfütterung bereitzustellen, damit sich die Zivilgesellschaft angemessen beteiligen kann und die Normen und Regeln überall angewandt und durchgesetzt werden können. Die Bereitstellung entsprechender Finanzmittel wird in zahlreichen Studien (siehe z.B. OSCE 2014) empfohlen und ist gute Praxis, z.B. in Großbritannien und den Niederlanden. Diese Gelder werden nicht nur für Empowerment- und andere Unterstützungsmaßnahmen für Frauen, in den Regionen, in Institutionen gebraucht, sondern besonders an den Verhandlungstischen für Menschen jeden Geschlechts mit Genderexpertise und -qualifikationen. Das heißt zum Beispiel, Verhandler*innen, Vermittler*innen, Mediator*innen in Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen müssen entsprechend ausgebildet und zertifiziert werden.

Ausblick

Die Resolution 1325 läuft inzwischen Gefahr, auf die Einbindung von Frauen in militärische Kontexte (NATO, nationale Armeen) reduziert zu werden und damit in der Systemkonformität zu verharren und Frauen symbolpolitisch zu instrumentalisieren. Im Zusammenhang mit der Nachfolgeresolution 2242(2015) formuliert die Schweizer Friedensforscherin Annemarie Sancar (2017) Bedenken auch dahingehend, dass „sie einen großen Interpretationsspielraum schafft, der der postkolonialen Zuschreibung von Frauenrollen in der Terrorismusbekämpfung Vorschub leistet sowie interessengeleitete Interventionen ermöglicht“. Strategien und Maßnahmen müssen jeweils konkret daraufhin überprüft werden, wie sie insbesondere Frauen und Kindern vor Ort, Gender-Aktivist*innen und Grassroots-Expert*innen in den Regionen zugute kommen.

Die Resolution 1325 betreibt als ­solche keine Ursachenforschung für Gewalt und Krieg, aber sie macht einen kritischen Blick auf sozioökonomische Verwerfungen, zunehmende Prekarisierung und die internationale Tendenz zum »degendering« im politischen Kontext unverzichtbar. Sie verweist auch auf eine dringend erforderliche Umorientierung der Vereinten Nationen, die laut ihrer Charta als Friedensorganisation gestartet ist. WILPF hat dazu die Kampagne »Reclaiming the UN as a Peace Organisation« initiiert. Für die Frauenfriedensbewegung kommt es darauf an, in der WPS-Agenda statt Top-down-Prozessen und Militärpolitik inklusive und genderbewusste Bottom-up-Aktionen und Überprüfbarkeit der Umsetzung voranzubringen. Ob diesem Ziel mit dem von der Regierung angestrebten Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat gedient ist, bleibt eine offene Frage.

Fazit

Eine feministische Friedensbewegung hat ein breites Aufgabenfeld, für das die WPS-Agenda nur den Rahmen schafft. Beispielhafte Problemfelder aus verschiedenen Ländern sind: Entwaffnung der gesamten Gesellschaft, nicht nur von Rebellengruppen in Kolumbien; Aufbau politischer Friedensökonomien statt international verordneter Austeritätsmaßnahmen und neoliberaler Privatisierung in Bosnien; Pflege eines gendersensiblen Frühwarnsystems in Nigeria; Stopp von Waffenexporten in Konfliktregionen aus Deutschland; Schutz von Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt mit Unterstützung der Opfer und entsprechender Strafverfolgung in Afghanistan und im Kongo. Immer geht es darum, Spielräume zu schaffen für echte Transformation, Vernetzungen und Allianzen zu unterstützen und patriarchale Dominanz umzuwandeln in Gerechtigkeit und Respektieren von Frauenrechten als Menschenrechte – für ein verträgliches Gemeinwesen und zur Förderung inneren wie äußeren Friedens.

Anmerkung

1) Women’s International League for Peace and Freedom.

Literatur

Bricke, D. (2003): Das Human Security-Konzept. W&F 2-2003, S. 70-72.

Frauensicherheitsrat (2004): Schattenbericht zum Bericht der Bundesregierung Deutschlands über die Umsetzung der UN-Resolution 1325.

European Union (2008): Comprehensive ap­proach to the EU implementation of the United Nations Security Council Resolution 1325 and 1820 on women, peace and security. EU-Dokument 15671/1/08 REV 1.

Kharashvili, J. (2016): Frieden braucht Frauen – auch in Georgien. online.

Organization for Security and Co-operation in Europe (OSCE) (2014): OSCE Study on Na­tional Action Plans on the Implementation of the United Nations Security Council Resolution 1325. Vienna.

Paffenholz, T.; Ross, N.; Dixon, S.; Schluchter, A.-L.; True, J. (2016): Making Women Count – Not Just Counting Women: Assessing Women’s Inclusion and Influence on Peace Negotiations. Geneva: Inclusive Peace and Transition Initiative (The Graduate Institute of International and Development Studies) and UN Women.

Sancar, A. (2017): Gender-Mainstreaming »smart« – Vereinnahmung der Frauen im Krieg gegen den Terrorismus. Widerspruch 70, 36. Jg., 2.Halbjahr 2017, S. 55-64.

Swisspeace (2016): Women Peace Security – reloaded. Civil Society Alternative Report on the National Action Plan 1325 as seen from the Gender Perspective. Bern.

UN Women (2015): Preventing Conflict, Transforming Justice, Securing The Peace – A Global Study on the Implementation of United Nations Security Council Resolution 1325.

Women’s International League for Peace and Freedom/WILPF (2017): Women, Peace and Security – A Review of Germany’s National Action Plan 1325. Submission to the UPR Working Group 30th Session (May 2018). New York.

Women Organizing for Change in Bosnia and Herzegovina (2017): A Feminist Perspective On Post-conflict Restructuring And Recovery – The Study Of Bosnia And Herzegovina. Sarajewo und Genf.

Heidi Meinzolt ist Europakoordinatorin der Women’s International League for Peace and Freedom/WILPF (wilpf.de, wilpf.org), Mitglied im Frauensicherheitsrat und im »Bündnis 1325« in Deutschland sowie Koordinatorin einer Arbeitsgruppe zu »Women and Gender Realities in the OSCE Region« (civicsolidarity.org).

Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?


Sexualisierte Gewalt als »Kriegsstrategie«?

Zur Problematik dieser Rahmung

von Ruth Seifert

In einer Reihe von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates wurden in den vergangenen 20 Jahren die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt behandelt. In diesen Resolutionen wird sexualisierte Gewalt – gemeint ist sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen- als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« gerahmt. Die Autorin hinterfragt diese Rahmung, begründet, warum sie sogar kontraproduktiv sein kann, und weist darauf hin, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer in diesem Kontext fast aus dem Blick gerät. Deshalb fordert sie eine neue theoretische und politische Auseinandersetzung mit der Thematik.

Nach einer Hochkonjunktur des Themas »sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten« im politischen und akademischen Diskurs in den 1990er Jahren verlagerte sich das Interesse nach der Jahrhundertwende schwerpunktmäßig auf empirische Erhebungen und politisch-rechtliche Interventionen. Wegweisend war dabei die Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrats im Jahr 2000, in der – auf eine kurze Formel gebracht – die Mitgliedsstaaten aufgerufen wurden, Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten vor geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu schützen und ihre Teilnahme am Friedensprozess zu sichern.

Die Nachfolge-Resolutionen 1820 (2008), 1888 (2009) sowie 1960 (2010) bekräftigen jeweils die Forderungen der Resolution 1325 und fordern darüber hinaus Maßnahmen zur effektiven Verfolgung der Täter, die Einsetzung eines*einer Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und von Expertenteams zur Untersuchung von sexualisierter Gewalt sowie ein Mandat für Peacekeeper-Truppen zum Schutz von Frauen und Kindern. Resolution 2272 (2016) thematisiert schließlich sexuelle Übergriffe von Seiten des Peacekeeping-Personals. All diese Resolutionen verfolgen das Ziel, die Position von Frauen in bewaffneten Konflikten und das Problem sexueller bzw. sexualisierter Gewalt zu einem Thema der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen zu machen. Insbesondere argumentieren sie, dass sexualisierte Gewalt zum Aufgabenbereich des UN-Sicherheitsrats gehört.

Das Interesse verlagerte sich im Zuge dieser Initiativen zunehmend von der Analyse der Hintergründe und verursachenden Mechanismen sexualisierter Gewalt auf die »Lösung des Problems«, die in politischen und rechtlichen Initiativen gesehen wurde. Wesentlich dafür war die Rahmung sexualisierter Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie«, wie sie in den oben genannten UN-Resolutionen vorgenommen wurde.

Die Verlagerung der Debatte auf die politisch-rechtliche Ebene ging einher mit einem Wechsel der Akteur*innen, die die Resolutionen anschoben. Ging Resolution 1325 noch überwiegend auf Bottom-up-Initiativen von transnationalen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zurück, waren die folgende Resolutionen Top-down-Initiativen von Akteur*innen, die von Crawford (Crawford 2017) als »systemimmanente Expert*innen« (embedded experts) bezeichnet werden, unter ihnen Spitzenpolitikerinnen, wie Hilary Clinton und Condoleezza Rice.

In den ersten Interventionen, die in den 1990er Jahren erfolgten, wurde der Terminus »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zur Charakterisierung sexualisierter Gewalt eher in skandalisierender und weniger in analytischer Absicht eingeführt: In den 1990er Jahren waren die (geschlechter-) politischen Verhältnissen dergestalt, dass es möglich geworden war, sexualisierte Gräueltaten aus einer kulturellen Grauzone des Verdrängens und (aktiven) transnationalen Verschweigens zu holen. Es gelang zu verdeutlichen, dass sie offenbar integrale Bestandteile gewaltsamer Konflikte vieler (wenn auch nicht aller) Konflikte waren und der Politisierung, der wissenschaftlichen Untersuchung und der menschenrechtlichen Thematisierung bedurften.

Es war bereits damals klar, dass die Begrifflichkeiten »Kriegswaffe« und »Kriegsstrategie« in analytischer Hinsicht problematisch waren (vgl. dazu Seifert 1995). Mit Blick auf neuere Arbeiten ist zwar festzuhalten, dass der Begriff der »Strategie« Wechselfällen unterliegt und von gesellschaftlichen Institutionen, Normen und kulturellen Besonderheiten abhängig ist (vgl. Heuser 2010). Insbesondere in so genannten »neuen Kriegen« findet, wie Gause feststellt, eine Vermischung von taktischer, operativer und strategischer Ebene statt, die amorphe Zustände höchster sozialer Spannung auslöst, in denen das Verhalten der Akteure „Mustern und Strukturen der Vergangenheit […] sowie den Umweltbedingungen des Systems (Gause 2011, S. 189) folgt. Entsprechend darf man folgern, dass die Konfliktdynamik damit nicht völlig militärisch planvoll ist. Dennoch: Soll der Begriff der »Strategie« oder des »Einsatzes als Kriegswaffe« Sinn ergeben, so beinhaltet er ein Minimum an planvollem und mit Bewusstsein vorgenommenem Einsatz militärischer Mittel zu bestimmten, insbesondere politischen, Zielsetzungen mit dem Zweck der Durchsetzung eigener Ziele gegen den Willen des Gegners (vgl. Heuser 2010; Liddell Hart 1967, S. 351).

Eben hier lag von Anfang an die Problematik, sexualisierte Gewalt als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« zu bezeichnen. Zwar gibt es in einigen Fällen Hinweise darauf, dass sexualisierte Gewalt vonseiten der militärischen Führung eingeplant und/oder zielvoll eingesetzt wurde. So stellte Bassiouni1 fest, dass die sexualisierten Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien an ganz verschiedenen Orten stattfanden, aber dennoch systematische und konsistente Muster aufwiesen und über lange Zeiträume hinweg anhielten, was ohne die Billigung der politischen und militärischen Führung auf allen Ebenen nicht möglich gewesen wäre. In der Folge drängte sich die Schlussfolgerung einer systematischen Planung und Durchführung auf. Darüberhinaus gab es Aussagen von Soldaten, die über Vergewaltigungsbefehle berichteten (Bassiouni 1994, S. 22 ff.; Mazowiecki Report 1995). Für die Demokratische Republik Kongo wurde berichtet, dass sexualisierte Gräueltaten bewusst zur Provokation der kongolesischen Regierung eingesetzt und von lokalen Milizen und Rebellen dazu benutzt wurden, die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen (Autessere 2012). Aus einer empirisch gesättigten Untersuchung verschiedener Konfliktszenarien geht hervor, dass sexualisierte Gewaltakte in Sierre Leone ebenfalls bestimmten Mustern folgten und die Funktion hatten, die Gruppenkohäsion in wenig kohäsiven militärischen Gruppen zu erhöhen (Cohen 2013). Allerdings ist zumeist nicht nachweisbar, dass es sich um Befehle handelte oder Soldaten zu sexualisierten Gewalttaten aufgefordert wurden (Mühlhäuser 2010, S. 73 ff.).

Bei Resolution 1820 (2008) hingegen handelte es sich bei der Wahl des Begriffs »Kriegsstrategie« nicht um den Versuch der Skandalisierung, sondern um eine »strategische Rahmung«, verstanden als eine spezifische diskursive Konstruktion einer Problematik, die bestimmte Bedeutungsaspekte einer Situation hervorhebt und zu einer kohärenten Interpretation einer Situation führen soll (Cohen 2014, S. 55). Diese spezifische Rahmung beinhaltete zum einen eine tendenziell genderspezifische Verengung sexualisierter Gewalt. Zwar taucht in Resolution 1820 erstmals der Hinweis auf, dass auch Männer von sexualisierter Gewalt betroffen sein können, was in Resolution 1888 etwas weiter ausgeführt und spezifiziert wurde; allerdings wurden daraus keine praktisch-politischen Folgerungen abgeleitet. Die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« hatte zum anderen die Zielsetzung, den Sicherheitsrat, als „global höchste politische und normative Instanz“ (Crawford 2017, S. 4) davon zu überzeugen, dass sexualisierte Gewalt in seinen Zuständigkeitsbereich fällt und nicht ausschließlich ein menschenrechtliches, sondern auch ein sicherheitspolitisch relevantes Problem darstellt, das staatliche Sicherheitsinteressen tangiert. Ohne die Rahmung wäre, so Crawford (ibid., S. 14), Resolution 1820 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch den Sicherheitsrat gegangen.

Kosten der »strategischen Rahmung«

Für diese »strategische Rahmung« hatte es also gute politische Gründe gegeben; sie hatte allerdings Kosten, die sowohl auf politischer wie auch auf analytisch-theoretischer Ebene zu verorten sind. In praktisch-politischer Hinsicht muss, sofern eine Aktivierung des Sicherheitsrats angestrebt wird, nachgewiesen werden, dass sexualisierte Gewalt strategisch eingesetzt wird. Das schränkt die politischen, rechtlichen und humanitären Handlungsmöglichkeiten ein, da die systematische und taktische Natur der Gewalttaten bzw. ihr absichtsvoller, auf die Bekämpfung des Feindes ausgerichteter Einsatz nachgewiesen werden muss (Crawford 2017) – ein Nachweis der naturgemäß in vielen Szenarien schwer zu führen ist.

Desweiteren wird sexualisierte Gewalt gegen Männer politisch bzw. menschenrechtlich, aber ganz wesentlich auch theoretisch zu einem zunehmend dringenden Problem. Die Erhebung empirischer Daten ist notorisch schwierig, was auch daran liegt, dass, wie eine Abfrage in 189 Ländern ergab, in ihrem Strafrecht 62 nur Frauen als Opfer und 28 nur Männer als Täter sexualisierter Gewalt kennen (Solangon/Patel 2012). Dennoch häufen sich die Hinweise, dass sexualisierte Gewalt gegen Männer ein dramatisch unterschätztes und, wie eingeräumt wird, ein aktiv aus historischen und empirischen Quellen getilgtes Phänomen ist (O’Móchain 2015; Cohen 2014, S. 127 ff.).

Sexualisierte Gewalt gegen männliche politische Gegner ist, um einige Beispiele zu nennen, dokumentiert in Chile, im ehemaligen Jugoslawien, im Iran, in Kuwait, in der ehemaligen Sowjetunion, in der Demokratischen Republik Kongo. Von 6.000 befragten Gefangenen eines KZ nahe Sarajevo im Jugoslawien-Konflikt berichteten 80 %, sie seien vergewaltigt worden. Sexualisierte Gewalt gegen Männer war, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Bestandteil der von Angehörigen der US-Armee ausgeübten Folter in Abu Ghraib (Stemple 2009, S. 612 f.; Sivakumaran 2009). Allerdings können in 90 % der Krisengebiete dieser Welt Männer, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, weder Hilfe noch Schutz erhalten (Solangon/Patel 2012; Dolan 2014). Zeichneten sich die Menschenrechtsdiskurse lange Zeit durch eine fast völlig Vernachlässigung der Menschenrechtsverletzungen an Frauen aus, so ist aktuell sexualisierte Gewalt gegen Männer als blinder Fleck anzusehen.

Erneute Theoretisierung und Politisierung des Themas sind nötig

Was eine weitergehende Theoretisierung sexualisierter Gewalt anbetrifft, die auch das Problem der Betroffenheit von Männern zu berücksichtigen hat, so ist sie für die Rahmung als »Kriegswaffe« marginal, wenn nicht störend. Sie ignoriert darüber hinaus bereits vorhandene Ansätze, die über einen engen »Kriegsstrategie«-Ansatz hinausgingen und die kriegsstrategische Wirkung sexualisierter Gewalt in komplexeren, kulturtheoretisch zu erklärenden Kontexten verorteten. Beispielhaft dafür sind Ansätze, die auf die Verquickung von Konstruktionen von Gender, Nation und kollektiven Konflikten verweisen (z.B. Hayden 2000; Seifert 2003) und zumindest teilweise Antworten auf Fragen wie diese geben: Warum ist sexualisierte Gewalt alles andere als eine stets auftretende Begleiterscheinung aller bewaffneter Konflikte, sondern sind vielmehr bestimmte Erscheinungsformen an spezifische Kriegsszenarien gebunden? Warum gibt es unterschiedliche Häufigkeiten und Erscheinungsformen, je nachdem, ob es sich um Staatenkriege, Bürgerkriege, ethnonationale Kriege oder sezessionistische Kriege handelt? Warum wird sie von verschiedenen Akteuren in bewaffneten Konflikten in unterschiedlicher Weise gehandhabt? (Vgl. im Detail Wood 2006; Cohen 2013)

Illustriert werden kann dies mit der wegweisenden Arbeit von Hayden aus dem Jahr 2000, der sexualisierte Gewalt in der indischen Punjab-Region 1947, in Delhi 1985, in Hyderabad 1990 und im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahre untersuchte. Er stellte fest, dass in allen untersuchten Beispielen sexualisierte Gewalt dann verstärkt ausgeübt wurde, wenn neue geographische und soziale Grenzen gezogen werden sollten und sich eine Region in einem undefinierten Übergangszustand befand, in dem die Machtverhältnisse unklar waren. In diesen Situationen macht nicht ausschließlich »Weiblichkeit« Frauen zu Zielscheiben sexualisierter Gewalt, sondern die Intersektionalität von Gender mit anderen Identitätsmarkern, wie Nationalität, Ethnizität oder Religion (z.B. Hayden 2000; Seifert 2002 und 2003; Koo 2002).

Der hinter diese – hier nur kurz angedeuteten – Ansätze zurückfallende Topos von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe gibt eine Darstellung als in besonderer Weise verabscheuungswürdige Gräueltat, die jenseits der in kriegerischen Konflikten legitimen Gewaltausübung zu verorten sei. Diese Rahmung bezeichnet Meger (2016, S. 149 ff.) als „Fetischisierung“, da sie a) sexualisierte Gewalt dekontextualisiert und als »unakzeptable Kriegsgewalt« absondert von »akzeptabler« Gewalt, b) sie auch im internationalen Recht als sozusagen abweichenden Sonderfall von »normaler« Gewalt darstellt und c) sie in den Medien und in einer Helferindustrie, die nicht mehr unbedingt am Nutzen für die Betroffenen ausgerichtet ist, kommodifiziert (vgl. im Detail ibid.). Darüberhinaus, so könnte man hinzufügen, impliziert dies eine Hierarchisierung von Opfern und suggeriert, dass sexualisierte Gewalt aus dem Kriegsgeschehen zu tilgen sei, während andere Kriegsgräuel als »normal« und »akzeptiert« praktisch wie theoretisch unproblematischer seien und nicht in Bezug zu sexualisierter Gewalt gesetzt werden müssten.

Schließlich ist zu konstatieren, dass die weitgehend ignorierte sexualisierte Gewalt gegen Männer wesentlich ein feministisches Thema ist: Die Unsichtbarmachung des männlichen Opfers ist ein massiver Beitrag zu einer Geschlechterkonstruktion, in der Frauen als verletzungsoffen und Männer als verletzungsmächtig konstruiert werden. Angesichts der Realitätswirksamkeit kultureller Konstruktionen kann davon ausgegangen werden, dass die Ausblendung männlicher Opfer sexualisierter Gewalt keineswegs weiblichen Betroffenen zugute kommt (wie in einigen feministischen Zirkeln gelegentlich behauptet), sondern vielmehr die weibliche Opferrolle verstärkt und auf diese Weise die Positionierung von Frauen in gewaltsamen Konflikten eher noch prekärer macht.

Eriksson Baaz and Stern (2012 und 2018) stellen fest, theoretische Ansätze zum Thema sexualisierte Gewalt in kriegerischen Konflikten seien schwer fassbar und entzögen sich einer klaren Logik. Sie entziehen sich einer klaren Logik, weil das Phänomen selbst diese Logik nicht aufweist: Bei der Analyse der Problematik befinden wir uns in einem Minenfeld diverser politischer und sozialer Hintergründe, kultureller Muster und Mechanismen und nicht zuletzt strategischer Effekte. Was eine Fassung so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Gewalttaten im Allgemeinen und sexualisierte Gewalt im Besonderen tief eingebettet sind in variierende kulturelle Kontexte: Was wesentlich in einem Kontext ist, mag es im anderen nicht sein. Angesichts der kulturell hochgradig aufgeladenen Bedeutung von Gewalt und der vielen Bedeutungen und Funktionen, die sexualisierte Gewalt in kollektiven Konflikten haben kann, kann man einen symbolischen Overkill oder mit Foucault eine Hypersaturierung mit Bedeutungen konstatieren. Ansätze, die das ignorieren und sich auf die Rahmung als »Kriegswaffe« oder »Kriegsstrategie« kaprizieren, konnten bisher wenig zu einer effektiven Bekämpfung des Phänomens beitragen. Im Gegenteil, es gibt Hinweise darauf, dass sie eher Anreize zur Ausübung sexualisierter Gewalt geben, da einige bewaffnete Gruppen sie neuerdings als politische Verhandlungsmasse einsetzen (vgl. Autessere 2012). Die weitergehende theoretische Analyse mag weniger leicht zugänglich sein als ein policy-orientierter Diskurs über sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe, für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem scheint eine Re-Theoretisierung und in der Folge Re-Politisierung allerdings unverzichtbar.

Ansätze für eine weitergehende Analyse finden sich in Soziologien und Anthropologien der Gewalt, die davon ausgehen, dass Gewalthandlungen nicht nur Funktionen, sondern auch kulturelle Bedeutungen haben, die den Handelnden nicht bewusst zugänglich sind, sich aber gleichwohl in Gewalthandeln übersetzen, da die Handelnden auf „Archive unbewusster Erinnerungen“ (Hayden 2000, S. 30) zurückgreifen, die im kulturellen Bestand vorhanden sind und das kollektive Handeln beeinflussen. Im Gewaltakt werden somit die kulturell geformten Erfahrungen der Täter mit denen der Opfer in einem spezifischen sozialen Zusammenhang verknüpft (von Trotha 1997, S. 31). In der Folge kann eine Analyse des Gewaltaktes auf die „kulturellen, geschlechtsspezifischen, religiösen, politischen und sonstigen Vorstellungen, Deutungen und symbolischen Interpretationen des Leibes nicht verzichten“ (Nedelmann 1997, S. 76). Die Analyse muss also notwendigerweise kontextuell sein und kann sich nicht in der Feststellung einer strategischen Funktion erschöpfen, sondern muss die Aufmerksamkeit richten auf den kulturellen, organisatorischen, institutionellen und situativen Kontext, in dem Gewalthandeln stattfindet und in den die Leiblichkeit von Opfern und Tätern jeweils eingebettet ist.

Anmerkung

1) Sonderberichterstatter der Sachverständigenkommission des Sicherheitsrats zu Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien 1992-1994.

Literatur

Autessere, S. (2012): Dangerous Tales – Dominant Narratives on the Congo and their Unintended Consequences. African Affairs, Vol. 111, No. 442, S. 202-222.

Bassiouni, M.C. (Rapporteur) (1994): Final Report of the Commission of Experts Estab­lished Pursuant to Security Council Resolution 780 (1992). United Nations Security Council document S/1994/674, 27. Mai 1994.

Cohen, C. (2014): Male Rape is a Feminist Issue – Feminism, Governmentality and Male Rape. London: Palgrave Macmillan.

Cohen, D.K. (2013): Explaining Rape during Civil War – Cross-National Evidence (1980-2009). American Political Science Review, Vol. 107, No. 1, S. 461-477.

Crawford, K.F. (2017): Wartime Sexual Violence – From Silence to Condemnation as a Weapon of War. Washington: Georgetown University Press.

Dolan, C. (2014): Into the Mainstream – Addressing Sexual Violence Against Men and Boys in Conflict. Workshop held at the Overseas Development Institute, London, 14 May 2014.

Eriksson Baaz, M.; Stern, M. (2012): Sexual Violence as a Weapon of War? Perceptions, Prescriptions, Problems in the Congo and Beyond. London: Zed Books.

Eriksson Baaz, M.; Stern, M. (2018): Curious erasures – The sexual in wartime sexual violence. International Feminist Journal of Politis, online publication.

Gause, C. (2011): Das System der Strategie – Ein Vergleich zwischen Strategien biologischer System und militärischer Strategien. Eine Modellentwicklung. Dissertation an der Universität Potsdam.

Hayden, R.M. (2000): Rape and Rape Avoidance in Ethno-National Conflicts – Sexual Violence in Liminalized States. American Anthropologist, Vol. 102, Nr.1, S. 27-41.

Heuser, B. (2010): Den Krieg denken – Die Entwicklung der Strategie seit der Antike. Paderborn: Schöningh.

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Liddell Hart, B. (1967): The Indirect Approach. London: Faber.

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Meger, S. (2016): The Fetishization of Sexual Violence in International Security. International Studies Quarterly 60, S. 149-159.

Mühlhäuser, R (2010): Eroberungen – Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945. Hamburg: Hamburger Edition.

Nedelmann, B. (1997): Gewaltsoziologie am Scheideweg. In: Trotha, T. v. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.

O’Mochain, R. (2015): Sexual Violence in Conflict – Forgotten Victims in Secondary Source Literature. Ritsumeikan Annual Review of International Studies 14.

Seifert, R. (1995): The Second Front – The Logics of Sexual Violence in Wars. Women’s Studies International Forum, Fall 1995.

Seifert, R. (2002): Rape – the Female Body as a Symbol and a Sign: Gender-Specific Violence and the Cultural Construction of War. In: Taipale, I. (ed.): War or Health? A Reader. London: Zed Books.

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Sivakumaran, S. (2009): Sexual Violence Against Men in Armed Conflict. The European Journal of International Law 2, S. 253-276.

Solangon, S.; Patel, P. (2012): Sexual violence against men in countries affected by armed conflict. Conflict, Security & Development, Vol. 12, S. 4, S. 417-442.

Stemple, L. (2009): Male Rape and Human Rights. Hastings College of Law Journal 60, S. 605-647.

von Trotha, T. (1997): Zur Soziologie der Gewalt. In: ders. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Ruth Seifert ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Regensburg (OTH). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender und kriegerische Konflikte, Gender und Militär, Theorien von Inklusion /Exklusion.

Verantwortung für gewaltfreie Zukunft


Verantwortung für gewaltfreie Zukunft

Politik gegen sexualisierte Kriegsgewalt muss feministisch sein

von Monika Hauser

Am 31. Januar 2018 luden die Heinrich-Böll-Stiftung und medica mondiale e.V. in Berlin zur Konferenz »Sexualisierte Kriegsgewalt seit dem Zweiten Weltkrieg – Bedingungen, Folgen und Konsequenzen«. Die Organisator*innen wollten die Frage nach der Verarbeitung von sexualisierter Kriegsgewalt in Nachkriegsgesellschaften in den Fokus rücken. Nachfolgend dokumentiert W&F einen Ausschnitt aus dem Beitrag von Monika Hauser mit ihren Forderungen an die Politik.

Vor knapp drei Jahren verkündete die schwedische Ministerin Margot Wallström, sie wolle im Rahmen ihrer Amtszeit eine feministische Außenpolitik gestalten. Als ihren Worten kurz darauf auch Taten folgten und sie ein Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien platzen ließ, stieß dies nicht nur auf Gegenliebe. Vielmehr hagelte es zum Teil harsche Kritik. Doch was macht eigentlich eine feministische Außenpolitik aus? Und warum ist eine solche Politik wichtig für globale Gerechtigkeit und Frieden? […]

Ich möchte hier die für mich wesentlichen Elemente einer feministischen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik vorstellen. Sie bilden das Fundament, wenn wir sexualisierte Kriegsgewalt wirksam bekämpfen und Frauen gleichberechtigt an Friedensprozessen beteiligen wollen. Hierfür formuliere und begründe ich zwei Thesen:

These 1: Es bedarf einer transformativen Politik, die bei den zugrundeliegenden Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt ansetzt und sich das Ziel setzt, Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen.

Seit 25 Jahren unterstützt die Frauenrechtsorganisation »medica mondiale« weltweit Frauen und Mädchen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben. In dieser Zeit hat das Thema zunehmend Beachtung gefunden auf politischer Ebene – international und hierzulande. Gleichzeitig sehen wir, dass das Thema häufig genug von Politiker*innen und den Medien skandalisiert und instrumentalisiert wird. So legitimierte beispielsweise die Bush-Administration die militärische Intervention in Afghanistan im Jahr 2001 auch mit der systematischen Verletzung von Frauenrechten durch die Taliban. Die langfristige Unterstützung afghanischer Frauenaktivistinnen blieb hingegen aus.

Mangelnde Politik gegen sexualisierte Kriegsgewalt

Sicher, es hat in den letzten Jahrzehnten einige Meilensteine im Kampf gegen Gewalt gegeben. Zum Beispiel ächteten die Vereinten Nationen den Einsatz von sexualisierter Kriegsgewalt als strategisches Mittel der Kriegsführung. Das Internationale Strafrecht und zahlreiche nationale Gesetze wurden in den 1990er Jahren um sexuelle Straftatbestände erweitert. Der Sicherheitsrat und die Vollversammlung der Vereinten Nationen, das Parlament der Europäischen Union – sie alle haben sich in den letzten 25 Jahren immer wieder mit dem Thema befasst, haben wortstarke Resolutionen oder Statements verabschiedet. Es gab unzählige Konferenzen zur UN-Resolution 1325 »Frauen, Frieden und Sicherheit«, die Berichte darüber könnten Bibliotheken füllen.

Eine ernstgemeinte Politik, die darauf abzielt, dieses Unrecht präventiv zu verhindern oder die langfristigen Folgen der Gewalt konstruktiv zu bearbeiten, sehen wir jedoch selten. Eine solche Politik erfordert einen eindeutigen politischen Willen und ausreichend Geld – jedoch Peanuts im Vergleich zu militärischen Ausgaben. Erstaunlich, dass sich auf realpolitischer Ebene bis dato so wenig getan hat. Dabei belegen empirische Erkenntnisse längst den Zusammenhang von Geschlechtergerechtigkeit und Frieden. Nehmen Frauen beispielsweise direkt Einfluss auf Friedensverhandlungen als Beobachterinnen, Unterzeichnerinnen, Mediatorinnen oder Verhandlerinnen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Friedensabkommen auch halten, exponentiell.

Stattdessen wird das andauernde Kontinuum geschlechtsspezifischer Gewalt immer noch ignoriert – eine Realität im privaten und öffentlichen Raum vor, während und nach bewaffneten Konflikten. Sexualisierte Kriegsgewalt wird vielmehr als isoliertes Ereignis betrachtet. Diese verengte Sichtweise bringt uns jedoch im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt kein Stück weiter, sondern wird selbst zum Teil des Problems.

Feministische Politik hingegen beleuchtet die strukturellen politischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, die diese Verbrechen erst ermöglichen, und setzt in ihrer Analyse sowie den Lösungsansätzen genau da an. Es geht darum, diskriminierende Geschlechterverhältnisse in patriarchalen Gesellschaften aufzubrechen und zu überwinden.

An den Folgen sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten haben die Betroffenen, deren Angehörige und schließlich die gesamte Gesellschaft oftmals über Jahrzehnte und über Generationen hinweg zu tragen. Oft folgt dem Trauma der direkten Gewalterfahrung das Trauma der Stigmatisierung. Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Stigma, Retraumatisierung und transgenerationaler Traumatisierung können hier in hohem Maße friedensbildend wirken.

Ein trauriges Beispiel hierfür ist der Umgang mit Überlebenden in Bosnien und Herzegowina. Nach über 20 Jahren schilderte eine Bosnierin, eine ehemalige Klientin unserer Partnerorganisation Medica Zenica, ihre Erfahrungen wie folgt: „Ich glaube nicht mehr an Gerechtigkeit […]. Für mich ist das, was passiert, ein Lächerlichmachen der Opfer. Nichts sonst.

Diese Aussage spiegelt die Erfahrungen von medica mondiale in verschiedenen Länder wider: Betroffene Frauen und Mädchen, aber auch Männer und Jungen, werden von der Politik und Gesellschaft weitestgehend allein gelassen. Der Umgang mit den Folgen von sexualisierter Kriegsgewalt und den damit einhergehenden Traumata wird individualisiert. Überlebende bleiben auf der Last sitzen und müssen sehen, wie sie damit klarkommen. Unterstützung erhalten sie oftmals nur von unabhängigen Frauenorganisationen und in solidarischen Frauengruppen. […]

Gewalt und Trauma sind politisch zu betrachten

Um der gesellschaftlichen Dynamik von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Retraumatisierung entgegen zu wirken, bedarf es außerdem einer ganzheitlichen stress- und traumasensiblen Unterstützung von Überlebenden. Gemeint sind damit direkte Hilfsangebote, kombiniert mit gesamtgesellschaftlicher Aufklärung und Bearbeitung. Familien und Gemeinden müssen in diesen Prozess miteinbezogen und staatliche Institutionen aus dem Gesundheits-, Justiz-, und Sicherheitssektor entsprechend geschult werden. Für all diese Aktivitäten hat medica mondiale in den letzten 25 Jahren spezifische Ansätze entwickelt.

Gewalt und Trauma sind per se politisch zu betrachten und erfordern als Konsequenz politisches Handeln. Denn diese Verbrechen geschehen nicht einfach so. Politisch Verantwortliche lassen zu, dass sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ausgeübt wird, dass die Täter und Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und dass Überlebende keine adäquate Unterstützung erhalten. Auch hier können wir nach Bosnien schauen: Obgleich die systematischen Massenvergewaltigungen in den Jahren 1992 bis 1995 weltweite Empörung hervorriefen, hat sexualisierte Kriegsgewalt im so genannten Friedensabkommen von Dayton schlichtweg keine Rolle gespielt. Die Folgen davon sehen wir bis heute: Eine kollektive Aufarbeitung des Unrechts hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Die Gewalt geht weiter, Traumata übertragen sich auf die nächste Generation und der Friedensprozess wird untergraben.

Wenn weder lokale noch internationale Politik Frauenrealitäten ernsthaft in den Blick nehmen, wenn Frauen nicht an Friedensprozessen beteiligt sind, wenn sich ihr Leben in Nachkriegskontexten weiter verschärft, stehen sie oft nicht für Wiederaufbau und Demokratisierung zur Verfügung. Das ist fatal, wissen wir doch, dass Frauen das Rückgrat einer traumatisierten, desorientierten und fragmentierten Gesellschaft sind.

Forderungen an die deutsche Politik

Was sollte deutsche Politik also zur Transformation tun?

Es bedarf eines politischen Verständnisses der geschlechtsspezifischen Gewalt und Traumata. Hier geht es nicht um Wohltätigkeit oder um ein singuläres Gewaltverbrechen. Es geht darum, erfahrenes Unrecht sozial und politisch anzuerkennen, und um die Menschenrechte für eine Hälfte der Bevölkerung. Nur so kann nachhaltiger Frieden gelingen. […]

Eine stress- und traumasensible Unterstützung für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt muss langfristig und ganzheitlich angelegt sein. Die Bundesregierung sollte Projektaktivitäten von Frauenorganisationen vor Ort langfristig finanziell fördern. Frauen und Mädchen haben einen Anspruch auf qualifizierte Gesundheitsversorgung, Strafverfolgung und politische Teilhabe – drei wirksame Mittel gegen weitere Gewalt.

Die Bundesregierung muss konsequent für Geschlechtergerechtigkeit und die Durchsetzung der Rechte von Überlebenden eintreten. Unsere Erfahrung zeigt, dass dies viel zu selten der Fall ist. In deutschen Auslandsvertretungen braucht es Ansprechpartner*innen, die sich regelmäßig mit Frauenrechtsverteidiger*innen treffen, deren Anliegen diplomatisch unterstützen und sie im Notfall auch vor Repressionen schützen.

These 2: Es bedarf einer kohärenten deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, um sexualisierte Kriegsgewalt zu beenden.

Eine Politik, die auf die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit hinwirkt, stellt bestehende patriarchale Machtverhältnisse in Frage. Angesichts dessen, dass wir weltweit einen Rückwärtstrend in Sachen Frauenrechte erleben – beispielsweise wenn es um die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen geht –, kann Deutschland hier mit gutem Beispiel vorangehen und eine feministische Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik gestalten.

Das setzt voraus, dass die Bundesregierung ihr eigenes politisches Handeln kritisch auf den Prüfstand stellt. Dazu gehört auch die Frage, wie sich politische Entscheidungen auf Frauen und Mädchen sowie auf Geschlechterverhältnisse auswirken (Genderanalyse). So käme die Bundesregierung zwangsläufig zu dem Schluss, dass sich Rüstungsexporte in den Nahen Osten verbieten. Das gleiche gilt für die so genannte Fluchtursachenbekämpfung in Partnerschaft mit korrupten und frauenrechtsverletzenden Regimen.

Auch muss Sicherheitspolitik endlich weg vom militärischen Primat. Eine genderanalytische Auswertung der Afghanistan-Intervention würde die verheerenden Folgen aufzeigen, zum Beispiel die damit einhergehenden Traumata auf Generationen hinaus. Es gilt, das Konzept der menschlichen Sicherheit ernst nehmen. Genau genommen brauchen wir ein feministisches Sicherheitsverständnis. An diesem Punkt kann die Bundesregierung ansetzen und solche Ideen interdisziplinär und engagiert weiterentwickeln.

Ernsthafter politischer Wille zeigt sich auch daran, wieviel Geld zur Verfügung gestellt wird, um frauenpolitische Vorhaben voranzubringen. Zwar hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr einen Folgeaktionsplan zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 aufgelegt. Das nötige Geld für die Umsetzung wurde jedoch nicht bereitgestellt. So entfaltet die Agenda »Frauen, Frieden, und Sicherheit« kaum Wirkung.

Wir begrüßen, dass die Bundesregierung einen Aktionsplan »Frauen, Frieden und Sicherheit« verabschiedet hat, doch garantiert dieser noch keine Politikkohärenz. Das liegt auch daran, dass der Aktionsplan nur wenig wirkungsorientiert ausgerichtet ist. Eine querschnittsmäßige Verankerung der Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« in allen relevanten Ministerien steht ebenfalls aus. In den kommenden drei Jahren wird sich zeigen, wie ernst es die Bundesregierung mit dieser Selbstverpflichtung nimmt. […] Wir brauchen Mut für eine andere, eine feministische Politik!

Dr. Monika Hauser ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende von medica mondiale e.V. Für ihren Einsatz für vergewaltigte und traumatisierte Frauen und Mädchen und ihre Arbeit gegen sexualisierte Kriegsgewalt wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 mit dem Right Livelihood Award, dem »Alternativen Nobelpreis«.

Geld ist unser Hauptproblem!


Geld ist unser Hauptproblem!

Kann Aufklärung gewalthaltige Geschlechterverhältnisse verändern?

von Anne Menzel

Dieser Beitrag thematisiert die geberfinanzierten Aufklärungsmaßnahmen, die in Sierra Leone nach Kriegsende durchgeführt wurden und u.a. als Antwort auf die massive Aggression und Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Kontext des Krieges (1991-2002) dienen sollten. Ein positiver Wandel der Geschlechterbeziehungen war und ist erklärtermaßen ein zentrales Anliegen inter- und transnationaler Entwicklungs- und Friedenspolitik in Sierra Leone. Aber wie haben sich die Geschlechterbeziehungen seit Kriegsende verändert? Und sind tatsächlich positive Veränderungen spürbar?

Aufklärung, im Englischen meist »sensitization« genannt, ist ein zentrales Instrument geberfinanzierter inter- und transnationaler Entwicklungs- und Friedenspolitik. Sie wird üblicherweise in Projekten betrieben, die meist von internationalen Nichtregierungsorganisationen umgesetzt werden. Diese delegieren einen Großteil der direkten Umsetzung (nicht jedoch der Planung und Budgetierung) wiederum an nationale/lokale Partnerorganisationen. Konkret sollen solche Projekte durch Wissensvermittlung und Einstellungswandel das Verhalten bestimmter Zielgruppen in eine vorgegebene Richtung beeinflussen und nachhaltig verändern. Dies zumindest ist die zentrale Annahme, die »Theorie des Wandels«, wie es in der Sprache der Projektplanung üblicherweise heißt.1

Mögliche Zielgruppen solcher Aufklärungsprojekte sind, um die Bandbreite des Spektrums aufzuzeigen, etwa Beamt*innen in staatlichen Institutionen, die in den Prinzipien von »Good Governance« geschult werden (Billaud 2015, S. 62-79) oder ehemalige Kämpfer*innen, die auf ein ziviles Leben vorbereitet werden sollen (Abramowitz 2014, S. 165-177). Besonders verbreitet sind Aufklärungsprojekte zudem im Gesundheitsbereich, etwa in Form von Bemühungen um den Abbau von Vorurteilen gegenüber HIV-Infizierten oder in der Förderung reproduktiver Gesundheit (Benton 2015, S. 67-88). Mit beidem oft eng verbunden sind Maßnahmen in einem weiteren Betätigungsfeld, welches im Fokus meines Beitrags steht: dem Wandel gewalthaltiger Geschlechterbeziehungen in Nachkriegskontexten.

Vor allem auf Basis meiner jüngsten Feldforschung in Sierra Leone – von November 2016 bis März 2017, in der Hauptstadt Freetown und der Kleinstadt Koidu – will ich in diesem Beitrag die Widersprüche und andauernden Missstände aufzeigen, mit denen »aufgeklärte Frauen« aktuell in Sierra Leone zu ringen haben. Als »aufgeklärte Frauen« bezeichne ich Frauen und Mädchen, die in Interviews und Gesprächen gezeigt haben, dass sie mit den in den letzten eineinhalb Jahrzehnten (seit Kriegsende in Sierra Leone im Jahr 2002) vermittelten Aufklärungsinhalten vertraut sind – wenn sie auch nicht unbedingt viel mit ihnen anfangen können. Dies traf auf die meisten meiner Interview- und Gesprächspartnerinnen aus unterschiedlichen urbanen Milieus zu.

Sie stehen vor der Herausforderung, dass Aufklärungsprojekte Wissensbestände und Einstellungen vermitteln, die noch gar nicht in die aktuellen Strukturen passen. Stattdessen spiegeln die vermittelten Wissensbestände und Einstellungen bereits die »verbesserten« Verhältnisse wider, die nicht zuletzt durch die mit diesen Projekten beabsichtigten Einstellungs- und Verhaltensänderungen erst hervorgebracht werden sollen – bei denen jedoch keinesfalls sicher ist, dass sie tatsächlich hervorgebracht werden. Vermittelter Anspruch und erlebte Realität klaffen somit weit auseinander. »Aufgeklärte Frauen« erleben zudem, dass sie die Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit selbst überbrücken müssen. Und hierzu benötigen sie nicht neues Wissen oder mehr Selbstbewusstsein, sondern schlichtweg materielle Ressourcen, in der Regel Geld.

Im Folgenden gebe ich zunächst einen Überblick über die Nachkriegs-Genderpolitik in Sierra Leone und die Rolle, die Aufklärung darin neben anderen Maßnahmen spielt. Im nächsten Schritt steige ich direkt in meine Interviews und Gespräche mit »aufgeklärten Frauen« ein und schildere die vertrackte Lage, in der sie sich befinden.

Nachkriegs-Genderpolitik in Sierra Leone

Auch in Sierra Leone, wo von 1991 bis 2002 ein mittlerweile vielbeforschter Krieg ausgetragen wurde (Coulter 2009; Hoffmann 2011; Wai 2012), kamen Aufklärungsprojekte in den eingangs genannten Bereichen zum Einsatz. Sie waren zudem zentraler Bestandteil geberfinanzierter Bemühungen um einen Wandel der Geschlechterbeziehungen. Im Fokus standen insbesondere der Schutz und die rechtliche Besserstellung von Frauen und Mädchen (Denney und Ibrahim 2012). Denn nicht nur waren Frauen und Mädchen im Kontext des Krieges massenhaft Opfer von Entführungen, Vergewaltigungen und sexueller Sklaverei geworden. Unter anderem mit dem Bericht der sierra-leonischen Wahrheits- und Versöhnungskommission stand auch die Diagnose zur Verfügung, dass Frauen und Mädchen bereits in der Vorkriegszeit Missbrauch und Ausbeutung weitgehend schutzlos ausgeliefert waren (Truth and Reconciliation Commission 2004, S. 85-227).2 Es musste folglich darum gehen, tief verwurzelte Missstände zu beheben.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde vor diesem Hintergrund ein Dreiklang an Maßnahmen angestoßen, der einen tiefgreifenden Wandel bewirken sollte. Zum einen sollten Frauen und Mädchen über nationale Gesetzgebung Rechte bekommen, die sie vor Gewalt und Ausbeutung schützen und ihnen Möglichkeiten verschaffen sollten, Täter gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen. Zweitens schufen geberfinanzierte Polizeireformen neue und speziell auf die Bearbeitung häuslicher und sexueller Gewalt ausgerichtete Polizeieinheiten, die dafür sorgen sollten, dass Frauen und Mädchen ihre Rechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen können. Und drittens wurden Aufklärungskampagnen zu Menschenrechten durchgeführt, die insbesondere die Rechte von Frauen und Kindern betonten. Zudem wurde jeweils über neue Einrichtungen, wie die genannten Polizeieinheiten, und über neue Gesetze informiert, und Männer, Frauen und Kinder wurden dazu angehalten, von ihnen Gebrauch zu machen. Die neuen Geschlechterbeziehungen, so wie sie in Aufklärungsprojekten angedacht und vorgestellt wurden, sollten fest auf dem Boden von Gewaltfreiheit und Rechtsstaatlichkeit stehen, und gegebenenfalls sollten Rechte über die neugeschaffenen Wege selbstbewusst eingefordert werden (Denney und Ibrahim 2012).

Mittlerweile, mehr als fünfzehn Jahre nach Kriegsende, zeigt sich, dass von diesen Maßnahmen vor allem die Gesetzgebungskomponente erfolgreich war. Unter nationalem (vonseiten sierra-leonischer Aktivistinnen) und vor allem internationalem Druck verabschiedeten sierra-leonische Regierungen in den Jahren 2007 und 2012 Gesetze, die häusliche Gewalt sowie Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt (auch in der Ehe) kriminalisierten und Frauen Eigentumsrechte zusprachen.3 Es hakt allerdings an der Umsetzung.

Die extra zum Schutz von Frauen und Mädchen eingerichteten Polizeieinheiten sind in einem desolaten Zustand, seit sie kaum noch direkt Gebergelder erhalten und stattdessen regulär über den Staatshaushalt finanziert werden sollen (Menzel 2017a). Es mangelt nicht nur an qualifiziertem Personal (zumal Gehälter nur unregelmäßig ausgezahlt werden), sondern auch an Fahrzeugen, Benzin und sogar an Papier und Stiften. Es ist üblich, dass Frauen und Mädchen dem Polizeipersonal zunächst aus eigener Tasche Materialien zur Verfügung stellen sollen, damit ihre Anzeigen überhaupt aufgenommen werden können. Zudem werden von Hilfesuchenden »Beiträge« zu den mageren Gehältern der Polizist*innen erwartet. Viele meiner Interviewpartnerinnen berichteten mir, dass sie deshalb schon gar nicht mehr in Erwägung ziehen, überhaupt zur Polizei zu gehen. Von einigen habe ich zudem gehört, dass wohlwollende Polizist*innen ihnen gleich davon abrieten, ihre Anzeigen überhaupt weiterzuverfolgen. Denn selbst in dem unwahrscheinlichen und dann sehr teuren Fall, dass sie es bis vor Gericht schaffen, sind Verurteilungen sehr selten. Dies liegt zum einen an der oft schwierigen Beweislage bei häuslicher und sexueller Gewalt, zumal wenn sie nicht sofort zur Anzeige gebracht wird und es an forensischer Expertise fehlt. Darüber hinaus behandeln Richter diese Fälle häufig als Lappalien, betrachten sie als Privatangelegenheiten oder übernehmen die Sichtweisen und Rechtfertigungen der mutmaßlichen Täter (Denney und Ibrahim 2012). Letztlich, so argumentierten viele Frauen, seien Polizei und formales Rechtssystem für sie nur Zeit- und Geldverschwendung: „Vor Gericht zu gehen bedeutet Geld. Soll ich meine Kinder dafür hungern lassen? Das kann ich nicht tun. Wir haben Menschenrechte in diesem Land, aber sie sind nicht für die Armen.“ (Gruppendiskussion, 16.2.2017)

Die Bilanz der dritten Komponente, der Menschenrechtsaufklärung mit Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderrechten, fällt hingegen gemischt aus. Es ist in Sierra Leone deutlich spürbar, dass die Geschlechterbeziehungen in Bewegung geraten sind. Gerade Frauen, die alt genug sind, um sich noch an den Krieg oder sogar an die Vorkriegszeit zu erinnern, betonen die Veränderungen, die sie seitdem erlebt haben. Sie beschreiben, Frauen hätten gelernt, dass sie »eine Stimme« haben, und trauten sich zu, für ihre Belange einzutreten. Außerdem seien Frauen und Mädchen nicht mehr bereit, sich von Männern misshandeln zu lassen. Sie seien selbstbewusster und hätten gelernt, dass sie Rechte haben. Obwohl diese Einstellungen in Sierra Leone sicher nicht universell verbreitet oder zustimmungsfähig sind, habe ich solche Einschätzungen in mehreren Feldforschungen seit 2009 in Städten und Dörfern von vielen Frauen gehört – auch von solchen, die nicht oder kaum schreiben und lesen können und die oft sehr stolz darauf sind, dass sie an Aufklärungsprojekten (häufig in Form von Workshops und Trainings) teilgenommen haben. Einige Male traf ich auch Männer, die mir stolz ein Gender-Zertifikat vorzeigten, welches die Teilnahme an Aufklärungsprojekten belegt, und die sich als aktive Befürworter von Frauenrechten verstanden.

»Gender« ist in Sierra Leone kein abstraktes Thema nur für akademische Kreise. Vielmehr wird die Frage, welches die Rechte – und Pflichten – von Männern, Frauen und Kindern sind, im Alltag intensiv diskutiert (Menzel 2015, S. 200-202). Derzeit gibt es zudem intensive Alltagsdebatten über vermeintlich ansteigende Teenager-Schwangerschaften, die von vielen Männern und Frauen als Anzeichen eines weiblichen moralischen Verfalls gedeutet werden. Frauen beklagen außerdem oft, dass Männer sie weiterhin kontrollieren wollen und ihnen keine Rechte zugestehen, ohne sie dabei wenigstens angemessen materiell versorgen zu wollen oder zu können. Insgesamt seien sierra-leonische Männer zunehmend verantwortungslos. Demgegenüber beklagen Männer einen weiblichen Materialismus, der sich darin äußere, dass Frauen nur noch hinter Geld her seien und ihren Männern zugleich nicht mehr gehorchen würden. So entstehen Konfliktpotentiale, die sich in Familien und Beziehungen alltäglich in Streit und sehr oft in heftiger Gewalt entladen (Menzel 2017a; 2017b, S. 91-95). Gegen diese Gewalt versuchen Frauen sich zu schützen oder zur Wehr zu setzen, ohne dass sie dabei auf die Wege – Polizei und Justiz – zurückgreifen können, die ihnen über Aufklärungskampagnen als die eigentlich richtigen und besten Wege nahegelegt wurden.

„Unser Hauptproblem ist Geld!“ Die Lage »aufgeklärter Frauen«

In meiner jüngsten Feldforschung habe ich Frauen und Mädchen aus unterschiedlichen urbanen Milieus – vor allem Schülerinnen, Studentinnen, Kleinhändlerinnen und Sexarbeiterinnen – in Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und informellen Gesprächen gefragt, was aus ihrer Sicht die größten Probleme für Frauen in Sierra Leone sind.4 Über diese offene Frage wollte ich herausfinden, ob und wie sie sexuelle Gewalt als Problem erleben und darstellen. Allerdings passierte es häufig, dass Frauen und Mädchen sexuelle Gewalt gar nicht von sich aus ansprachen. Stattdessen standen materielle Herausforderungen im Fokus ihrer Schilderungen, und es herrschte insgesamt recht große Einigkeit, dass das Hauptproblem Geld sei.

Eine Verbindung zu Gewalt wurde in diesen Interviews und Gesprächen oft erst implizit durch Aussagen dazu deutlich, wozu Geld so dringend benötigt wird bzw. warum es ein so drängendes Problem darstellt. Zusätzlich dazu, dass die allermeisten Sierra Leoner*innen alltäglich um Mahlzeiten und weitere Lebenotwendigkeiten, wie insbesondere medizinische Versorgung, ringen, sehnen meine Interview- und Gesprächspartnerinnen sich nach einem Mindestmaß an finanzieller Unabhängigkeit, um sich und ihre Kinder nicht gewalttätigen Männern ausliefern zu müssen. Ihre Argumentation folgte häufig einer Selbstschutzlogik, nach der Geld die beste präventive Verteidigung ist. Wer selbst kein Geld hat bzw. nicht weiß, wie sie jeden Tag über die Runden kommen kann, hat kaum eine Wahl, als sich von vergleichsweise bessergestellten Liebhabern oder von einem Ehemann versorgen und gegebenenfalls misshandeln zu lassen. Eine Studentin brachte dies in einem informellen Gespräch auf den Punkt: „Eine Frau, die sich nicht selbst versorgen kann, wird bei einem Mann bleiben, der sie schlägt. Was soll sie auch sonst tun?“ (Informelles Gespräch, 20.11.2016) Allerdings wird Gewalt in Situationen, in denen die betreffende Frau ansonsten tatsächlich »gut versorgt« wird, vielfach durchaus als annehmbar oder sogar normal angesehen – solange gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Ein paar Prügel seien im Rahmen oder sogar erwünscht, zumal wenn sie die Leidenschaft und andauernde Versorgungsbereitschaft des Täters anzeigen (Menzel 2015, S. 200, S. 308-309).

Allerdings bevorzugen die meisten Frauen das Ideal einer selbstbestimmten und selbständigen Frau, und sie wünschen sich dies auch für ihre Töchter, in die viele unbedingt investieren wollen (auch in der Annahme, dass diese es dann zu etwas bringen werden und sie ihre Mütter im Gegenzug unterstützen können). Eine Kleinhändlerin erklärte mir beispielsweise: „Wenn Kinder alles haben, was sie brauchen, werden sie nicht auf die Straße gehen [um sich Männern anzubieten]. Ich habe eine Tochter […], die auf das College geht, und ich zahle ihre Studiengebühren. Was soll ich sonst machen? [Sie hatte mir gerade erzählt, dass sie sich dafür hoch verschulden musste.] Andernfalls hat sie keine andere Wahl, als sich einen Mann zu suchen, der sie doch nur missbrauchen und ihre Zukunft zerstören wird.“ (Interview, 26.11.2016)

Dabei haben Frauen und Mädchen durchaus auch romantische Vorstellungen von einer liebevollen Beziehung mit einem Mann. Aber auch hierzu bedarf es des Geldes, damit es „zu Hause ein Einvernehmen geben kann“, wie mir eine weitere Kleinhändlerin darlegte. Denn schließlich hätten auch Männer es extrem schwer, ein Auskommen zu finden, und wissen deshalb eine Frau zu schätzen, die ihren Beitrag leistet (Interview, 26.11.2016). In einer Diskussion mit einer Gruppe befreundeter junger Frauen in Freetown (unter ihnen Schulabbrecherinnen, Studentinnen und Kleinhändlerinnen), von denen mehrere aktuell in gewaltsamen Beziehungen lebten, hieß es: „Liebe ist nur schön, wenn Du eine mächtige Familie im Rücken hast.“ (Gruppendiskussion, 16.2.2017) Auf Nachfrage erklärten sie mir, dass ihre Liebhaber sie nicht schlagen würden, wenn sie Brüder oder Väter hätten, die für sie eintreten würden.

Insgesamt zeigt sich ein Bild, das wenig mit den »neuen Geschlechterbeziehungen« zu tun hat, wie sie in den Aufklärungsprojekten der Nachkriegszeit angedacht und vorgestellt wurden. Die tatsächlichen Geschlechterbeziehungen sind vielmehr von gegenseitigem Misstrauen geprägt, und weder Gewaltfreiheit noch Rechtstaatlichkeit spielen in ihnen eine nennenswerte Rolle. »Aufgeklärte Frauen« streben in dieser Situation nach Selbstbestimmtheit und Selbständigkeit, die sie und ihre Kinder zudem vor ausbeuterischen und gewaltsamen Beziehungen bewahren sollen. Statt durch Rechte, Polizei und Justiz abgesichert zu sein, wollen sie sich selbst absichern können. Und die Sicherheit, die sie anstreben, ist für sie nur mit und durch Geld zu bekommen. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Streben nach Geld und die Schwierigkeiten, es zu bekommen, unsere Interviews und Gespräche oft dominierten.

Aufklärung, Struktur und Wandel – ein Ausblick

Was also hat Aufklärung in Nachkriegs-Sierra Leone zum Wandel gewalthaltiger Geschlechterbeziehungen beigetragen? Die Antwort muss gemischt ausfallen: einerseits eine Menge und andererseits sehr wenig. Denn ohne Frage haben sich Einstellungen teils drastisch und teils weniger drastisch verändert, und die Geschlechterbeziehungen sind in Bewegung gekommen. Dass sie dadurch weniger gewalthaltig geworden sind, erscheint insgesamt unwahrscheinlich. Stattdessen ist eine Situation entstanden, in der Frauen zunehmend auf Selbstschutz setzen und sich weder auf Polizei und Justiz noch auf Männer als Beschützer und Versorger verlassen wollen.

Wie diese Entwicklung weitergeht und wohin sie führen wird, ist völlig offen. In jedem Fall aber wird in Sierra Leone weiterhin auf Aufklärung gesetzt, während strukturelle Herausforderungen eher weniger als mehr thematisiert werden. Dies frustriert auch die Vertreter*innen vieler lokaler Nichtregierungsorganisationen, die in Interviews und informellen Gesprächen vielfach beklagten, dass sie von Gebern überhaupt nur noch Fördermittel für Aufklärungsprojekte erhalten. Diese seien einfach und vergleichsweise günstig durchzuführen und würden deshalb bevorzugt.

Das aktuelle Fokus-Thema vieler dieser Projekte ist derzeit die Prävention von Teenager-Schwangerschaften, für die insbesondere Aufklärungsprojekte für junge Mädchen realisiert werden. Sie sollen lernen, selbstbewusst »nein« zu Sex zu sagen, um sich auf ihre Bildung konzentrieren und eine selbstbestimmte Zukunft anstreben zu können. Strukturelle Zwänge, die das individuelle »nein« tendenziell erschweren, werden hingegen kaum berücksichtigt (Denney u.a. 2016, S. 11-22). Hier wird die Betonung der Einzelnen, die sich durchsetzen und letztlich selbst schützen muss, also noch weiter bestärkt.

Anmerkungen

1) »Theorie des Wandels« (bzw. gebräuchlicher auf Englisch »Theory of Change«) ist ein technischer Begriff der Projektplanung in humanitärer Hilfe, Peacebuilding und Entwicklungszusammenarbeit. Darunter werden Annahmen verstanden, die bestimmte Aktionen/Maßnahmen sinnvoll und plausibel mit erwünschten Wirkungen verbinden.

2) Der Bericht der sierra-leonischen Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde erheblich von externen Gender-Expertinnen geprägt, die sehr darum bemüht waren, ein Dokument zu schaffen, welches dazu geeignet seien würde, (geberfinanzierte) Reformen in Nachkriegs-Sierra Leone anzustoßen. Die Arbeit der Kommission ist u.a. Gegenstand des vergleichenden Forschungsprojekts, in dessen Kontext die Forschung durchgeführt wurde, auf der dieser Beitrag basiert. Vgl. uni-marburg.de/­konfliktforschung/personal/buckley-zistel/truth-commissions-eng?language_sync=1.

3) In einem Interview beschreibt eine der beteiligten externen Lobbyistinnen/Expertinnen, wie die Verabschiedung verschiedener Gesetze im Jahr 2007 schließlich zustande kam; archive.skoll.org/2008/01/29/implementing-the-­gender-acts-in-sierra-leone/.

4) Alle Interviews und Gespräche wurden in der sierra-leonischen Verkehrssprache Krio geführt.

Literatur

Abramowitz, S. (2014): Searching for Normal in the Wake of the Liberian Civil War. Philadel­phia, PA: University of Pennsylvania Press.

Benton, A. (2015): HIV Exceptionalism – Development through Disease in Sierra Leone. Minneapolis, MA, und London: University of Minnesota Press.

Billaud, J. (2015): Kabul Carnival – Gender Politics in Postwar Afghanistan. Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press.

Coulter, C. (2009): Bush Wives and Girl Soldiers – Women’s Lives through War and Peace in Sierra Leone. Ithaca, NY, und London: Cornell University Press.

Denney, L.; Ibrahim, A. (2012): Violence against Women in Sierra Leone – How Women Seek Redress. London: Overseas Development Institute.

Denney, L.; Gordon, R.; Kamara, A.; Lebby, P. (2016): Change the context not the girls – Improving efforts to reduce teenage pregnancy in Sierra Leone. London: Overseas Development Institute.

Hoffman, D. (2011): The War Machines – Young Men and Violence in Sierra Leone. Durham, NC, und London: Duke University Press.

Menzel, A. (2017a): Sexual violence in post-Ebola Sierra Leone – Old problems and new policy priorities. Beitrag für den Blog des Mauerpark­instituts, 14.5.2017; mauerparkinstitute.org.

Menzel, A. (2017b): Betterment versus Complicity – Struggling with Patron-Client Logics in Sierra Leone. In: Højbjerg, C.; Knörr, J.; Murphy, W. (eds.): Politics and Policies in Upper Guinea Coast Societies – Continuity and Change. New York, NY: Palgrave MacMillan, S. 77-98.

Menzel, A. (2015): Was vom Krieg übrig bleibt – Unfriedliche Beziehungen in Sierra Leone. Bielefeld: transcript.

Truth and Reconciliation Commission (2014): Witness to Truth – Report of the Sierra Leonean Truth & Reconciliation Commission, Volume 3b. Graphic Packaging Ltd. GCGL: Freetown.

Wai, Z. (2012): Epistemologies of African Conflicts – Violence, Evolutionism and the War in Sierra Leone. New York, NY: Palgrave MacMillan.

Dr. Anne Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps Universität Marburg. Der Beitrag basiert auf ihrer aktuellen Forschung im DFG-Projekt »Anerkennung von sexualisierter Gewalt in Wahrheitskommissionen. Opferzuschreibungen und ihre gesellschaftlichen Implikationen in Zeiten des Übergangs«.

Gender und Drohnen

Gender und Drohnen

Folgen des bewaffneten Drohneneinsatzes

von Ray Acheson

Dieser Artikel untersucht die geschlechtsspezifischen Implikationen des Einsatzes von bewaffneten Drohnen. Wie verstetigt die Drohnentechnologie geschlechtsspezifische Stereotype, einschließlich der gewaltsamen militarisierten Männlichkeit? Wie, im Gegenzug, beeinträchtigt die Entwicklung dieser Art ferngesteuerter Gewalt Männlichkeitsvorstellungen? Wie werden Drohnen eingesetzt, um damit genderspezifische Gewalt auszuüben?
In diesem Text wird als erstes aufgezeigt, wie Geschlechter konstruiert werden, mit speziellem Fokus auf hegemonialen Normen der »militarisierten Männlichkeit«. Anschließend wird kurz die Beziehung zwischen Gender und Militärtechnologie untersucht. Zum Schluss wendet sich die Analyse dem besonders pikanten Fall zu: den bewaffneten Drohnen. Wie können diese Waffen hegemoniale Gendernormen gleichzeitig verstärken und unterminieren, und welche Implikationen hat dies für geschlechtsspezifische Gewalt, Genderessentialismus1 und Gendergerechtigkeit?

Es ist keineswegs eine akademische Übung, Drohnen durch eine gendertheoretische Brille zu betrachten, sondern dies ist für die gezielte Politikberatung wichtig. Den Kontext und die Implikationen von Drohnen unter Gendergesichtspunkten zu verstehen ist nützlich, um überzeugendere, umfassendere Antworten auf die Entwicklung und den Einsatz von Drohnen zu geben. Gleichzeitig ist die gendertheoretische Brille auch nützlich, um Militarismus insgesamt zu verstehen.

Eine Untersuchung der Genderaspekte von bewaffneten Drohnen impliziert nicht, dass andere Formen der Kriegsführung akzeptabler sind oder dass bestimmte Vorgehensweisen, wie »gezielte Tötungen«, zulässig seien, wenn sie mit anderen Mitteln durchgeführt werden. Eine Untersuchung, in welcher Weise Genderkonstruktionen zum Einsatz bewaffneter Drohnen beitragen oder ihrerseits von einem solchen Einsatz betroffen sind, kann Entscheidungsträger*innen, Drohnenoperatoren oder Aktivist*innen helfen, die besonderen Herausforderungen durch bewaffnete Drohnen für Frieden, Sicherheit und Gendergerechtigkeit sowie für Militarismus in weiterem Sinne zu adressieren. Genderanalysen dürfen keine Fußnote sein. Sie bieten ein besonderes Set von Werkzeugen, die dabei helfen können, zu erklären oder zu verstehen, wie Drohnen von den Nutzern und von den Opfern wahrgenommen werden, welche physischen und psychischen Reaktionen auf den Einsatz bewaffneter Drohnen es gibt und in welchem situativen militärtechnologischen und genderbezogenen Kontext Drohnen stehen.

Wie Geschlechter konstruiert werden

»Gender« beschreibt nicht das biologische Geschlecht, sondern die sozial konstruierten Konzepte, die den Geschlechtern Bedeutung zuschreiben und anhand derer die Geschlechter unterschieden werden. Genderfragen beziehen sich nicht ausschließlich auf Frauen, sondern auf alle Geschlechter und sexuellen sowie Genderidentitäten. Dabei sind Individuen einer bestimmten Geschlechts- oder Gendergruppe keineswegs homogen. Frauen, Männer, Transgender, Queere und andere sind unterschiedlichen Alters, verschiedener Hautfarbe, gehören unterschiedlichen Ethnien und Religionen an und haben verschiedene sexuelle Orientierungen, Fähigkeiten, politische Einstellungen und sozioökonomische Positionen. Sie haben gänzlich unterschiedliche Erfahrungen in der Welt, in Gesellschaften, Gemeinschaften und zu Hause. Dieser Diversität werden Genderstereotype, -erwartungen und -normen aber kaum gerecht.2

Genderidentitäten werden von menschlichen Gemeinschaften konstruiert. Die Vorstellungen von Gender können sich mit der Zeit ändern. Sozial konstruierte Genderverständnisse beeinflussen die Wahrnehmung von sozialen Rollen, Verhaltensweisen und Identitäten und wirken sich auf die Beziehungen zwischen Menschen aus. Im Prinzip ist Gender eine Form der sozialen Organisation. Es „strukturiert soziale Beziehungen, reproduziert Regeln und Erwartungsmuster und hält diese aufrecht“ (Barrett 1996, S. 130). Wenn Individuen gemäß der Gendernormen handeln und dabei bestehende Erwartungen erfüllen, verstärken sie nicht nur den Genderessentialismus, der von Gemeinschaften und Kulturen aufgebaut wurde, sondern sie tragen damit auch zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von Machtbeziehungen zwischen Geschlechterkategorien bei (Lorberg 1994, S. 6).

Machtbeziehungen sind, wie Michel Foucault erklärte, in Prozesse der Kategorisierung und Unterscheidung eingebettet (Foucault 1977). Mit Blick auf Gender erzeugen diese Prozesse eine Hierarchie zwischen den Genderidentitäten und hegemoniale Normen innerhalb und zwischen den Geschlechtern. „Hegemoniale Männlichkeit“ ist ein „besonders idealisiertes Bild von Männlichkeit, wohingegen Bilder von Weiblichkeit oder anderen Männlichkeiten marginalisiert und untergeordnet werden.“ (Barret 1996) In vielen heutigen Kulturen wird hegemoniale Männlichkeit durch den heterosexuellen Mann repräsentiert, der unabhängig, risikofreudig, aggressiv, rational, physisch stark, mutig und emotionslos ist (Eichler 2014; Connell 1995). Diese »hegemoniale Männlichkeit« wird in Bezug gebracht mit der Möglichkeit, Bereitschaft und Aussicht zur Gewaltausübung. Jungs lernen, sich selbst durch Gewalt als Männer zu definieren (Chemaly 2012). Frauen, Mädchen und andere werden so sozialisiert, dass sie solche Identitäten unterstützen (Eichler 2014).

Wissenschaftler*innen argumentieren, das Militär spiele eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Männlichkeitsbildern in der Gesellschaft (Kimmel/Messner 1989, S. 176-183; Morgan 1994; Arkin/Dobrofsky 1987, S. 151-168). Vorrang hat im Militär „Stärke, geschickter Einsatz von Gewalt, männliche Kameradschaft, die Unterdrückung eigener Emotionen sowie Disziplin (selbst diszipliniert zu sein und dies von anderen zu erwarten)“ (Enloe 1990, S. 150). Die Praktiken militärischer Institutionen tragen aktiv zur Unterscheidung und Abgrenzung gegenüber dem »Anderen« bei, was wiederum das Ideal von Männlichkeit und gegenderten Hierarchien verstärkt. Es gibt im Militär zum Beispiel eine Tradition, das »Andere« mit Begriffen zu belegen, die mit Weiblichkeit assoziiert werden. Viele Militärs diffamieren eine potentiell oder tatsächlich geschlagene Armee als »Frau« (ebd.; siehe auch Strange 1983).

Gender und Militärtechnologie

Judy Wajcman argumentiert, Genderbeziehungen „materialisieren [sich auch] in Technologie“, und zwar dadurch, dass die Bedeutung und das Wesen von Männlichkeit und Weiblichkeit „durch ihre Einbeziehung und Einbettung in Arbeitsmaschinen“ (Wajcman 2010, S. 144) weiterentwickelt werden. Sie führt aus, dass schon die bloße Definition von Technologie mit Begriffen »männlicher Aktivität« erfolgt – Aktivitäten, die mit der hegemonialen Männlichkeit assoziiert werden. Traditionell stellt man sich unter Technologie Industriemaschinen und militärische Waffen vor – Werkzeuge der Arbeit und des Krieges (Harding 1986).

Das bringt uns zu bewaffneten Drohnen. Im Kontext einer Kultur der militarisierten Männlichkeit und vermännlichten technologischen Entwicklung haben diese Werkzeuge der Gewalt und des Krieges spezifische Charakteristika, die hegemoniale Gendernormen zugleich verstärken und unterminieren. Dies hat seinerseits Implikationen für die Vorstellung vom Mann als entbehrlich und verletzlich, als Raubtier und Beschützer, und stellt damit eine große Herausforderung dar, den Genderessentialismus zu überwinden und Gendergerechtigkeit in größerem Rahmen zu schaffen.

„Macht demonstrieren, ohne verwundbar zu sein“

Den Drang, „Militär ohne Rücksicht auf Grenzen einzusetzen“ und „imperiale Macht vom Zentrum auf die Welt, also auf ihre Peripherie, auszuweiten“ (Chamayou 2015, S. 12), gibt es schon viel länger als die bewaffnete Drohne. Aber das Militär scheint zu glauben, mit der bewaffneten Drohne eine Lösung für diese Aufgabe gefunden zu haben. David Deptula von der US Air Force konstatierte: „Der wirkliche Vorteil unbemannter Luftfahrzeuge ist, dass man mit ihnen Macht demonstrieren kann, ohne Verwundbarkeit zu zeigen.“ (Link 2001)

Drohnen strahlen ein Ethos der Unverwundbarkeit aus. Sie erlauben es den Drohnenoperatoren, Ziele in weiter Entfernung in Sekundenschnelle ohne Vorwarnung anzugreifen. In Wirklichkeit haben sich Drohnen aber weder als so wirksam noch als so zielgenau erwiesen, wie die Nutzer die Öffentlichkeit glauben machen wollen. Die Werkzeuge und Verfahren zur Zielauswahl für so genannte »signature strikes«3 haben Hunderte von zivilen Drohnenopfern zur Folge.

2015 wurden an die Online-Publikation »The Intercept« Dokumente geleakt, die zeigen, wie »signature strikes« auf der Basis »nachrichtendienstlicher Erkenntnisse« ausgeführt werden – Erkenntnisse, die von Videoaufnahmen, E-Mails, sozialen Netzwerken, Aufklärungsflugzeugen und Mobiltelefonen stammen. Die »nachrichtendienstlichen Erkenntnisse« werden mit Hilfe von Algorithmen nach Mustern durchsucht. Dieses Verfahren gibt es nur für Drohnenschläge.4 Es ist nicht gefeit vor Fehlinterpretationen, Vorurteilen oder Fehlern derjenigen, die anhand dieser Informationen die Ziele für Drohnenangriffe festlegen. »Targetet killings« – gezielte Tötungen –, u.a. mit Drohnen, sind angewiesen auf die Identifizierung und Überwachung einer Zielperson, aber die Auswahlverfahren gehen einher mit einer kulturellen Prägung, die vorgibt, was gesehen wird und wie es gesehen wird (Grayson 2012, S. 120-128).

Nichtdestotrotz schreiben US-Militärs und andere Nutzer den Drohnen weiterhin gottesähnliche Qualitäten zu – einschließlich ihrer Unverwundbarkeit und Allmächtigkeit. Ein Zeichen dafür ist, dass ihnen oft Spitznamen gegeben werden. Nach Aussagen eines früheren Drohnenoperators des U.S. Joint Strike Operating Command, der von »The Intercept« interviewt wurde, wird eine Drohne »Sky Raper« genannt, was sich übersetzen lässt mit »Vergewaltiger der Lüfte«. Er sagte, die Drohne wird so genannt, „weil sie eine Menge Leute getötet hat“ (Scahill/Greenwald 2014). Der Spitzname weist allerdings über die Benennung einer Tötungsmaschine hinaus. Es perpetuiert die Kultur der Dominanz, die eine Schlüsselkomponente für die Entwicklung militarisierter Männlichkeiten ist. Der Spitzname untermauert überdies die Institutionalisierung von Vergewaltigung als ein Werkzeug des Krieges. Indem sie der Drohne den Spitznamen »Sky Raper« geben, geben die Drohnenoperatoren – die ja im Auftrag des Staates handeln – zu, dass sie Vergewaltigungen einsetzen, um eine Zielperson zu dominieren und zu besiegen; gleichzeitig beteiligen sie sich an der umfassenderen und systematischen Normalisierung von Vergewaltigung“, stellt Erin Corbett fest. „Nicht nur unterstellen die Drohnenoperatoren damit, dass Vergewaltigung in Kriegszeiten eine legitime Waffe ist, sie verharmlosen damit auch sexuelle Gewalt generell.“ (Corbett 2015) Darüberhinaus trachten sie danach, diejenigen, die sie zu »Feinden« erklärt haben, zu »entmannen«, mit einem rassistischen, sexistischen und sexualisierten Konzept von Waffengewalt zu »entmannen«. Der »Sky Raper« repräsentiert die „weiße westliche phallische Macht“, die über »die Anderen« Macht und Männlichkeit vollzieht (Puar/Rai 2002, S. 137).

Dies gilt vielleicht besonders in Staaten, deren »Gast«-Regierung einem Drohneneinsatz nicht zugestimmt hat. Ein »Weißpapier« des US-Justizministeriums aus dem Jahr 2013 hält fest, dass ein Drohnenangriff durchgeführt werden kann „mit der Zustimmung der Regierung des Gastlandes oder nach der Feststellung, dass das Gastland unfähig oder unwillig ist, die Bedrohung selbst zu bekämpfen“. Lorraine Bayard de Volo sieht darin eine „Entmannung“ der Regierungen der Gastländer, die „nicht in der Lage [sind], ihre eigenen Grenzen gegen das Eindringen von US-Drohnen zu schützen“ (de Volo 2016, S. 63). Ihr zufolge legt dies außerdem nahe, die Vereinigten Staaten seien der „selbsternannte Patriarch“ und dass „Staaten, die nicht einwilligen, im Effekt juristisch als unfähig zur Einwilligung erklärt werden“ (ebd.). Natürlich sind solche Aktionen nicht auf bewaffnete Drohnen beschränkt. Auch andere Waffensysteme können und wurden eingesetzt, um Grenzen ohne Einwilligung zu »penetrieren«. Doch solche Praktiken scheinen nun, mit dem Einsatz bewaffneter Drohnen, auf der Ebene der offiziellen Politik angekommen zu sein.

Die Symbolik von Vergewaltigung und nicht einvernehmlichen Akten ist kein Ausreißer im Militär. Eine Kultur der sexuellen Gewalt – und anschließender Straffreiheit – ist Teil der Kultur von Dominanz und Unverletzlichkeit, die tief verwurzelt ist in den oben bereits beschriebenen gewalttätigen Männlichkeiten und einem »Kriegerethos«. Eine unmittelbare Konsequenz dieser »Kultur« ist, dass Soldatinnen oft von sexuellen Übergriffen betroffen sind.5 Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt im Militär und der Benennung einer Drohne als »Sky Raper«: Gewalttätige Männlichkeiten dominieren und steuern das Verhalten von Soldaten – unverwundbaren Kriegern, die immun sind gegen die Verfolgung von Vergewaltigungen und Kriegsverbrechen – sowohl auf dem wie abseits des Schlachtfeldes.

Den Krieger »entmannen«

Der Glaube, Drohnen seien unverwundbar, bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch die Drohnenoperatoren unverwundbar sind. Im Gegenteil: Die scheinbare Unverwundbarkeit von Drohnen basiert auf der räumlichen Trennung der Operatoren von der Gefahr. Diese sind durch die räumliche Entfernung vor den Subjekten geschützt, welche sie mit der Drohne ins Visier nehmen. Dies trennt den »Krieger« vom Kriege, den Körper vom Schlachtfeld – und hat erhebliche Implikationen für militarisierte Männlichkeiten.

Die Mechanisierung des Krieges und der Schutz des Soldaten vor körperlicher Gefahr scheinen im Widerspruch zu stehen zu dem Ethos der militarisierten Männlichkeit. Den »Feind« aus einer Entfernung anzugreifen, aus der er oder sie nicht zurückschlagen kann, ist wie jemanden in den Rücken zu schießen. Es ist die Antithese der Kriegsführungsmethoden, die Tapferkeit, Mut und Opferbereitschaft hochhalten.

„Eines der Probleme mit unbemannten Luftfahrzeugen ist buchstäblich die Gefahr, in jedem denkbaren Wortsinn »unbemannt« zu werden“, sagt Chamayou. „Das ist auch der Grund, warum sich Offiziere der U.S. Air Force anfangs so vehement gegen die allgemeine Einführung von Drohnen wehrten. Die Drohnen gefährdeten zunächst offensichtlich ihren Arbeitsplatz, ihre fachliche Qualifikation und ihre Position innerhalb der Institution Militär, aber des Weiteren war sie auch eine Bedrohung ihrer eigenen Potenz, die direkt mit dem Eingehen von Risiken assoziiert war.“ (Chamayou 2015, S. 100; siehe dazu auch Sauer/Schörnig 2012 und Manjikian 2013)

Die Doktorandin Lindsay Murch führte eine Gender-Diskursanalyse von Interviews mit Drohnenpilot*innen durch und fand heraus, dass ein Drohnenpilot überlegte, diesen Job aufzugeben, da „er einfach ein »Held« sein wollte, und dass ihm seine Rolle als Drohnenpilot das Erreichen dieses Zieles nicht ermöglichte“. Murch legt nahe, dies könne als Wahrnehmung interpretiert werden, er werde „verweiblicht“ (Murch 2015).

Statt die »Verweiblichung« zu akzeptieren, ist eine Alternative, die Regeln grundlegend zu ändern. Einige Medienberichte, die auf dem Sprachgebrauch von Militärs basieren, sind dazu übergegangen, technische Fertigkeiten als Kriegerfertigkeit zu preisen (Manjikian 2013, S. 53). Doch um den »Techkrieger« zu rühmen, wird eine Anpassung der Ethik nötig – von einer der Selbstaufopferung zu einer der Selbsterhaltung. Was einst als Feigheit galt, muss nun als Mut wahrgenommen werden (Chamayou 2015, S. 101). Dazu bedarf es aber des Beweises, dass dieser Akt – das Steuern der Drohne – selbst seinen Preis hat (Chamayou 2015, S. 102).

In diesem Kontext können die psychischen Schäden, die bei den Drohnenoperatoren zu beobachten sind, als ein »Ehrenabzeichen« und ein Zeichen von männlichem Mut kodiert werden: Drohnenpilot*innen riskieren im Kampf zwar nicht mehr ihren Leib, aber sie riskieren ihre mentale Gesundheit. „Dies wäre eine spezielle Form der Tapferkeit“, schreibt Chamayou, „die nicht mehr die eigene physische Verletzlichkeit der feindlichen Gewalt aussetzt, sondern die eigene psychische Verletzlichkeit den Folgen der eigenen Destruktivität.“ (Chamayou 2015, S. 103)

Während diese sich herauskristallisierende Form von »Tapferkeit« bestehende Männlichkeiten verstärkt, wird sie zusätzlich durch die Normen der Männlichkeit geleitet und gelenkt, die ohnehin schon in der Kultur verankert sind. Lindsay Murchs Analyse der Interviews mit Drohnenpilot*innen ergab wie zu erwarten, dass es als weiblich kodiert ist, im Angesicht dieser »psychischen Wunden« Emotionen zu zeigen. Niemand sprach darüber. Niemand sprach darüber, wie sie sich nach einem Einsatz fühlen. Es war wie eine unausgesprochene Übereinkunft, dass du nicht über deine Erfahrungen sprichst“, sagte ein Pilot. Der Duktus des Interviewten ist unerschütterlich männlich“, schreibt Murch, und stützt sich stark auf das Rationale (es gibt keine emotionalen Aufrufe zur Rache gegen Zielpersonen oder Weichheit beim Nachdenken über die Kinder der Zielpersonen), es wird auf die Einsatzregeln und das Kriegsvölkerrecht verwiesen, um die Tötungen zu rechtfertigen.“ (Murch 2015)

Dieser Aspekt des Kriegerethos der hegemonialen Männlichkeit – emotionslos, unbeteiligt, rational – wird geschützt. Während man mit der »Feigheit« zu ringen scheint, sich beim Töten hinter einer Maschine zu verstecken, können bewaffnete Drohnen zugleich „eine raubtierhafte Männlichkeit demonstrieren, eine mächtige und beleidigende Maschine, die die ins Visier genommenen Männer entmannt“ (de Volo 2016, S. 65). Dies, so zeigt Bayard de Volo auf, „provoziert und legitimiert eine männliche Reaktion“ (ebd.). Betroffene Bevölkerungen, welche die Verursacher der Drohnenangriffe als rücksichtlose männliche Wesen wahrnehmen, werden dadurch gedrängt, in ihren Gemeinschaften die Rolle des männlichen Beschützers zu etablieren, der gegen den Aggressor zurückschlägt.

Unterordnung und Entbehrlichkeit

Diese Reaktion wiederum führt zu Akten geschlechtsbasierter Gewalt, bei der »signature strikes« auf Männer durchgeführt werden, einfach weil sie Männer sind. Drohnenangriffe richten sich zwar nicht notwendigerweise gegen Einzelne, nur weil sie Männer in einem bestimmten Alter sind, jene aber, die den Angriff ausführen, scheinen Geschlecht als ein Identifizierungsmerkmal zu nutzen, um festzulegen, ob eine Person angegriffen wird, ob ein Angriff erlaubt ist (d.h. das Geschlecht derjenigen, die sich im Umfeld der Zielperson befinden, wird berücksichtigt) bzw. um im Nachhinein das Ergebnis eines Angriffs zu analysieren (d.h. bei der Dokumentation der Toten und Verwundeten). Das Geschlecht des Einzelnen ist nicht der Grund für den Angriff, aber es steht stellvertretend für ein anderes Merkmal – Kämpfer –, das den Grund liefert. Wenn Menschen auf Grund ihres Geschlechts zum Ziel werden, dann ist auch dies eine Form von genderbasierter Gewalt (mehr dazu bei Acheson/Moyes 2014).

Über die unmittelbaren moralischen und juristischen Probleme einer solchen Herangehensweise hinaus: Das Geschlecht als Identifizierungsmerkmal bei der Zielauswahl oder der Auswertung eines Angriffs heranzuziehen, verstärkt den Genderessentialismus, insbesondere das Bild der passiven und schwachen Frau. Die Konstruktion eines »schwächeren Geschlechts«, welches des Schutzes »bedarf«, geht über die Zuschreibung hinaus, Frauen seien physisch schwächer, und definiert sie auch als sozial schwächer. Dies reproduziert Machtasymmetrien und Genderhierarchien, welche viele Akte genderbasierter Gewalt gegen Frauen und andere Menschen untermauern, und verstärkt bereits bestehende Genderhierarchien, die dem Aufbau und der Aufrechterhaltung einer gerechteren Gesellschaft entgegenwirken. Frauen als schwach und hilfsbedürftig darzustellen, trägt zu ihrem weiteren Ausschluss von relevanten sozialen wie politischen Rollen bei.

Die Nutzung des Geschlechts als Identifizierungsmerkmal bei der Zielauswahl oder Angriffsanalyse festigt zudem die Vorstellung, es sei schlimmer, wenn Frauen getötet werden als Männer. Dies wiederum führt zur breiten Akzeptanz des Bildes vom entbehrlichen Mann (Acheson/Moyes 2014). Männlichkeit mit Gewalttätigkeit in Verbindung zu bringen, erhöht unmittelbar die Verwundbarkeit von Männern und verschärft damit andere „gender-basierte Verwundbarkeiten, mit denen erwachsene männliche Zivilisten konfrontiert sind, einschließlich dem Risiko der zwangsweisen Rekrutierung für die Armee, willkürlicher Verhaftung und standrechtlicher Hinrichtung“ (Carpenter 2005, S. 296).

Fazit

Die Kultur bewaffneter Drohnen, die sowohl in der Technologie selbst und in ihrem Einsatz sowie in den allgemeineren Normen des Militarismus und der militärischen Praxis eingebettet ist, schafft neue Probleme für die Gewaltverhinderung, den Schutz von Zivilist*innen und die Überwindung von Gender­essentialismus oder -diskriminierung. Es ist entscheidend zu verstehen, wie Drohnenoperatoren und Drohnenopfer diese Waffen genderspezifisch wahrnehmen, um Strategien auszuarbeiten, die dabei helfen können, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Dazu gehört, das raubtierhafte, aggressive Wesen bewaffneter Drohnen zu begreifen, welche ohne das Einverständnis der Gastländer eingesetzt werden und zum Tod und zur Verletzung von Zivilist*innen, zu psychischen Schäden und zur Zerstörung von ziviler Infrastruktur führen, und dass dies in den betroffenen Gemeinschaften eine militarisierte männliche Antwort zur Folge hat. Diese Erkenntnis sollte erhebliche Implikationen haben und zumindest zur Einschränkung einiger Einsatzpraktiken führen, z.B. in Bezug auf den Einsatz bewaffneter Drohnen außerhalb bewaffneter Konflikte, den Schutz von Zivilist*innen oder die Luftüberwachung ohne konkreten Anlass. Entsprechend könnte die Erkenntnis, wie »signature strikes« als Akte genderbasierter Gewalt wirken und welchen Nachhall dies auf die Gendergerechtigkeit in anderen Bereichen hat, dabei helfen, die politischen Vorgaben zu gezielten Tötungen mit bewaffneten Drohnen oder anderen Waffensystemen zu überarbeiten.

Anmerkungen

Der Text ist eine gekürzte Version des Kapitels »Gender and drones« aus der Publikation »The humanitarian impact of drones« (2017, New York: Reaching Critical Will of the Women’s International League for Peace and Freedom, Article 36, and the International Disarmament Institute of Pace University); online unter reachingcriticalwill.org.

1) Der Geschlechteressentialismus weist jedem Geschlecht bestimmte »natürliche« Eigenschaften zu.

2) Die Tatsache, dass es Unterschiede in Klasse, Ethnie, Kultur, Fähigkeiten usw. zwischen Frauen, Männern und anderen gibt, machen die Analyse komplexer, aber es macht die Genderperspektive nicht auf einer theoretischen Ebene unwichtig oder politisch weniger relevant. „In buchstäblich jeder Kultur”, gibt Sandra Harding zu bedenken, “sind Genderunterschiede eine entscheidende Möglichkeit, wie sich Menschen selbst als Personen sehen, ihre sozialen Beziehungen organisieren und bedeutende natürliche und soziale Ereignisse und Prozesse symbolisieren“ (Harding 1986, S. 18).

3) Unter »signature strikes« werden Angriffe auf Personen bezeichnet, die sich nach Ansicht der US-Geheimdienste wie Terroristen verhalten. [der Übersetzer]

4) Für nähere Informationen, wie dieser Prozess abläuft, siehe Currier 2015.

5) Siehe den Dokumentarfilm »The Invisible War«, online unter pbs.org/independentlens/films/invisible-war, und Enloe 1990, S. 156.

Literatur

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Ray Acheson ist Geschäftsführerin von Reaching Critical Will, dem Abrüstungsprogramm der Women’s International League for Peace and Freedom. Sie bringt sich seit 2005 in zwischenstaatliche Abrüstungsprozesse ein, u.a. zu den Themen Atomwaffen und globaler Waffenhandel. Sie hat einen Master in Politikwissenschaft der New School for Social Research (New York City, USA) und ein BA mit Auszeichnung in Friedens- und Konfliktstudien der University of Toronto (Kanada).

Aus dem Englischen übersetzt von ­Marius Pletsch.