Wozu noch UN – Wir haben doch die USA

Wozu noch UN – Wir haben doch die USA

von Andreas Buro

Am Golf roch es nach Entspannung. Der Irak sollte nach UN-Beschluß bald wieder in begrenztem Maße Öl verkaufen dürfen, um Schadensersatzzahlungen zu leisten, aber auch um für die eigene Bevölkerung Lebensmittel und Medikamente einkaufen zu können. Ein guter Gedanke, nachdem Saddam und die Weltgemeinschaft hunderttausende irakischer Kinder hatten an Hunger und Krankheit sterben lassen.

Doch der Hauch von Frieden lockte die Kriegsherren. Die nördliche, sogenannte Schutzzone für irakische Kurden war dem Diktator schon lange ein Dorn im Auge und er wußte sehr wohl, weder die Nachbarländer noch die USA sind an kurdischer Selbständigkeit interessiert. Die Nachbarländer Syrien, Türkei und Iran haben selbst kurdische Bevölkerungsteile, deren Freiheitsbestrebungen sie bekämpfen. Die USA, die den Diktator Saddam lange Zeit zur Bekämpfung der »Fundamentalisten« in Teheran in jeder Hinsicht unterstützten und erst später wegen Öl bekämpften und so im Golf-Krieg die in Kuwait nicht vorhandene Demokratie retteten, sind letztlich mehr an der Erhaltung der Einheit des Iraks interessiert, als an der kurdischen Freiheit. So war die Schutzzone im nördlichen Irak niemals eine wirkliche Zone des Schutzes, deren Lebens- und Entwicklungsfähigkeit von den Golf-Akteuren gewollt wurde.

Dem amerikanischen Präsidenten und seinem CIA fiel dann auch noch ein, die Schutzzone zu nutzten, um von dort aus die Herrschaft Saddams zu unterminieren. Ziel: die Person zu beseitigen ohne den Zwangsstaat selbst zu gefährden. Dieser ist schließlich – geopolitisch kalkuliert – noch immer ein potentielles Bollwerk des »freien Westens« gegen die »Terroristen« in Teheran.

Bagdad deutete also die Zeichen der Zeit, erhörte einen Hilferuf der DKP-Kurden, die in verzweifeltem Kampf gegen die PUK-Kurden um die Aneignung der lukrativsten Zölle standen und ließ die Panzer, die Elitetruppen und seine Geheimagenten von der Kette, um den kurdischen Norden des Irak wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Dabei verstieß der Diktator nicht einmal gegen die internationalen Auflagen, denn die Ermordung von Untertanen in diesem Gebiet ist ihm ja nicht verboten worden. In den internationalen Auflagen stand auch nicht, er dürfe nicht gegen CIA-Verschwörungen kämpfen, die sich gegen ihn richten.

Trotzdem war der Panzervorstoß provokativ für einen US-Präsidenten mitten im Wahlkampf. Der konnte sich doch nicht einfach von dem personifizierten Teufel die Initiative wegnehmen lassen. Es galt die einfache Lehre zu beherzigen: Im Wahlkampf darf kein Präsident zögern – vor allem kein Präsident der einzigen verbliebenen Weltmacht, der Herrin über die Neue Weltordnung. Dabei vergaß er, verständlich wegen der Dringlichkeit der bevorstehenden Wahlen, sich auf mühsame Verhandlungen im Weltsicherheitsrat einzulassen. In guter Western-Tradition entschied er sich, spontan zu handeln – komme, was da kommen mag.

Doch Spott beiseite, der Fall ist bitter ernst. Der Präsident der USA wischt die Vereinten Nationen und den Sicherheitsrat wie eine quantité negligable beiseite und damit das erreichte Maß an internationaler Rechtsordnung. Er mißbraucht seine enorme Machtfülle im internationalen Bereich, um sich die Macht im Heimatland zu sichern, als habe die einzige Weltmacht keine Verantwortung für die Verrechtlichung des internationalen Systems, als ginge es nur um die Willkür der Starken!

An diesem Fall amerikanischer Intervention zeigt sich die wirkliche Bedeutung des Begriffes Neue Weltordnung, der fälschlicherweise von manchen nur als PR-Formel verkannt wurde. Die neue Weltordnung beinhaltet – um es formelhaft zu sagen – die Strategie der Globalisierung des kapitalistischen Systems im Korsett der militärischen Potentiale der USA in Kooperation mit den Streikräften der G 7. Weltherrschaft, wie es sie in diesem Ausmaß bislang noch nicht gegeben hat!

Die NATO, längst vom Verteidigungsbündnis zur euro-asiatisch-afrikanischen Ordnungsmacht gemausert, hüllt ihre Aktivitäten zwar immer noch in den Schleier der humanitären Intervention. Doch wer scharf hinsieht, erkennt die Absicht: Die reichen Industrieländer wollen gewappnet sein, um notfalls ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen auch militärisch durchzusetzen. Dem dient auch der Aufbau der schnellen Eingreiftruppen, die in Deutschland halb ideologisch, halb realistisch als Krisenreaktionskräfte bezeichnet werden.

Die Bundesrepublik ist mittlerweile fest in diese »Out-of-area-Weltordnung« eingebunden. Es verwundert deshalb nicht, wenn der Bundeskanzler – Fellowtraveller in Leadership – die völkerrechtswidrige US-Intervention sogleich abnickte. Freilich fragt man sich da, warum die Bundesregierung so eifrig einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt. Wäre es nicht sinnvoller, sich um einen Sitz im US-Senat zu bewerben?

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie e. V.

Der Pazifismus und die Vereinten Nationen

Der Pazifismus und die Vereinten Nationen

von Sibylle Tönnies

In dem folgenden Text handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Buch »Pazifismus passé«, das im vorigen Jahr im Auftrag des Rowohlt-Verlags für die Reihe roroaktuell geschrieben wurde. Nach Meinung der Autorin haben aber die Lektoren des Verlages unter dem Eindruck der Ereignisse in Srebrenica ihre Meinung dahingehend geändert, daß auch ihnen der Pazifismus heute als »passé« erscheint und die Veröffentlichung abgelehnt. Im Rahmen unserer Debatte über Pazifismus dokumentieren wir Auszüge aus dem letzten Kapitel.

Es ist in den Jahren nach dem Golfkrieg gelungen, den Pazifismus als provinziell und versponnen hinzustellen; als eine Richtung, die von der großen Welteinigung wegführt und der UNO schädlich ist. Damit werden die Tatsachen verdreht, denn tatsächlich ist die UNO ein Kind des Pazifismus. Die sie tragende Völkerbundidee ist auf seiner Grundlage entstanden; sie wurde von Pazifisten entwickelt und in unermüdlicher Anstrengung durchgesetzt.

Die Geburt der Völkerbundes aus dem Geist des Pazifismus

Ein Meilenstein auf dem Weg zum Völkerbund war das Manifest des russischen Zaren von 1898, in dem es hieß: „Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten. Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher ungekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken … Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen wird, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern machen. Diesen unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die Mittel zu suchen, dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heutzutage allen Staaten aufzwingt.“ Das Manifest endete mit einer Aufforderung an alle Regierungen, ihre obersten Kriegsherren zu einer Konferenz zusammenzuführen, um „den großen Gedanken des Weltfriedens siegen zu lassen.“

Gegen diese schönen Worte kann man einwenden, daß sie den Absturz in den Ersten Weltkrieg nicht verhindert haben. Das ist richtig. Aber sie gaben den entscheidenden Impuls für die Haager Friedenskonferenzen, die den Völkerbund von 1919 nach sich zogen. Auch dieser konnte einen Weltkrieg nicht verhindern – richtig. Aber er war die Vorstufe für die UNO, und hier geht es nicht darum, die friedensstiftende Effektivität des Pazifismus unter Beweis zu stellen, sondern darum, eine Bildungslücke zu schließen und ihm sein Verdienst zukommen zu lassen: die UNO ist sein Kind! – und so schwach oder so stark wie der Pazifismus ist, so schwach oder so stark ist auch die UNO.

Das Manifest, das der Zar 1898 erließ, war beeinflußt von dem Werk I.v. Blochs »Der künftige Krieg in technischer, politischer und wirtschaftlicher Bedeutung«, in dem der verheerende Charakter eines modernen Krieges vorhergesehen wurde; den entscheidenden Impuls erhielt der junge Zar aber durch die Lektüre von Bertha v. Suttners »Die Waffen nieder!« Dieses Buch wurde von allen großen Staatsmännern gelesen; es hatte einen ungeheuren Einfluß auf seine Zeit.

Die Tatsache, daß der UNO-Gedanke auf den Ideen der Friedensbewegung aufbaut, ist uns heute durch die Tatsache verstellt, daß diese Ideen Gemeingut sind… »Natürlich« ist man für den Frieden, und »natürlich« ist die UNO eine Institution zur Friedenssicherung – darüber verliert man kein Wort mehr. Aber diese Ideen sind keineswegs natürlich, sondern eine späte und stets gefährdete Kulturerscheinung, die sich mit den allergrößten Anstrengungen gegen die natürliche Bereitschaft zum Krieg durchsetzen mußte.

Die deutsche Antwort auf das russische Manifest war die Rede, die Kaiser Wilhelm II. im Anschluß an eine Parade bei einem Bankett hielt: „Der Friede wird nie besser gewährleistet sein als durch ein schlagfertiges, kampfbereites Heer, wie wir es jetzt in einzelnen Teilen zu bewundern und darüber uns zu freuen Gelegenheit hatten. Gebe uns Gott, daß es uns immer möglich sei, mit dieser stets schneidigen und guterhaltenen Waffe zu siegen.“ Eine Tageszeitung schrieb damals: „Der Abrüstungsvorschlag des Zaren geht gegen die Natur und gegen die Kultur. Damit ist ihm das Urteil gesprochen. Freifrau von Suttner, die vor einigen Jahren 'Die Waffen nieder!' kommandierte und damit bei allen Männern einen Heiterkeitserfolg erzielt, erlebte zwar den großen Triumph, daß der Zar in ihren Ruf einstimmt, allein mehr wie eine kurze Freude wird für Frau von Suttner und alle guten Seelen nicht herauskommen.“ Dieses Urteil war richtig in Hinblick auf den Ersten Weltkrieg; es war aber falsch in Hinblick auf die Völkerbundidee und die UNO – eine Einrichtung, die ihre große Zeit erst vor sich hat.

Der Pazifismus war immer weltbezogen und besiedelte nie die parochiale Idylle, in die man ihn heute gern stellt. Selbst ein Mann wie Gandhi, dessen Bestreben ja war, indische Eigentümlichkeit gegen westliche Einflüsse abzuschirmen, antwortete 1947 auf die Frage „Sehen Sie die Möglichkeit voraus, daß die Welt einmal unter einer regierenden Körperschaft, die aus Vertretern aller beteiligten Staaten besteht, vereinigt sein wird?“Dies ist die einzige Möglichkeit, wenn die Welt leben soll.“

Wenn der Pazifismus mehr Tradition in Deutschland hätte, könnte man ihn auch nicht mit dem Argument bekämpfen, daß die von einer Weltzentrale aus wahrzunehmende Menschenrechtsdurchsetzung nun einmal nicht ohne Gewalt auskomme. Diese Ansicht ist mit dem Pazifismus nämlich durchaus vereinbar und wurde in seinen Reihen immer vertreten. Die Bewegung war sich in dieser Frage uneins, es gab zwei Flügel – vergleichbar mit den heutigen Auseinandersetzungen zwischen Realos und Fundis bei den Grünen. Von den sogenannten »organisatorischen Pazifisten« wurde ein Sanktionskrieg im Rahmen des Völkerbundes überwiegend bejaht; problematisch war dieser Gedanke für die radikalen Pazifisten (wie Helene Stöcker im sogenannten »Linkskartell«), die den Völkerbund zwar im Prinzip bejahten, aber vor den Konsequenzen der Völkerbundexekutive zurückschreckten und ihre Hoffnungen auf Kriegsdienstverweigerung und Generalstreik setzten. Der »völkerbundnahe« Pazifismus hingegen forderte eine im internationalen Auftrag tätig werdende internationale Exekutionsarmee.

Diese pazifistische Tradition, die eine Völkerbundexekutive fordert, erlaubt aber nicht, daß sich die Befürworter von NATO-geleiteten Interventionen in die Reihen der Pazifisten einordnen. Erstens wollen sie das gar nicht – es geht ihnen ja gerade darum, ihren schlottrigen Pazifismus endlich abzuschütteln wie Phönix die Asche. Zweitens aber handelt es sich bei der NATO trotz ihrer Verbindung zur UNO nicht um die »Völkerbundexekutive«- im Gegenteil. Die NATO ist ein Bündnis von der Art, wie sie in dem Manifest des Zaren gekennzeichnet wird: „Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher ungekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken.“ Die Völkerbundidee aber will diese Art von Bündnissen überwinden – das atlantische Bündnis stand von Anfang an in Rivalität zum UNO-Gedanken und wurde von dessen Anhängern deshalb auch von Anfang an bekämpft.

Jetzt ist eine problematische Vermischung zwischen NATO- und UNO-Idee eingetreten. Dadurch, daß die NATO in Bosnien durch die UNO bevollmächtigt war, genoß ihre Intervention eine Legitimation, die den wahren Machtverhältnissen nicht entsprach. Rußland nämlich – die Macht, deren Einmischung zu einer furchtbaren Eskalation führen könnte – ist nicht NATO-Mitglied und lehnte die Intervention ab. Insofern kann keine Rede davon sein, daß sich hier die Weltgesellschaft zum Eingreifen gegen einen Ruhestörer zusammengefunden und eine weltpolizeiliche Maßnahme gegen ihn durchgeführt hat. Es handelte sich um ein Bündnis im alten Stil, gegen das sich eine pan-slawische Vereinigung hätte formieren können. Die NATO-Aktivitäten waren ein Spiel mit dem Feuer eines neuen Weltbrandes. Der deutliche Warncharakter des Wortes »Sarajevo« wurde überhört. Man fühlte sich legitimiert durch die Tatsache, daß der Geist der UNO im Hintergrund schwebte; man verteidigte ja die UNO-Schutzzonen: Man beschützte die UNO und fühlte sich dadurch von ihr beschützt.

Die UNO ist aber noch viel zu unreif, um diesen Schutz gewähren zu können. Die Welt ist noch weit davon entfernt, daß die einzelnen Nationen – bzw. ihre Bündnisse – ihre militärische Souveränität der UNO übertragen hätten. Solange das nicht der Fall ist, ist die Legitimation, die die UNO einem Einsatz verleiht, trügerisch und gefährlich.

Historische Vorläufer: Der mittelalterliche Landfrieden und die nationale Gewaltmonopolisierung

Die Bemühungen, die Welt unter die Autorität der UNO zu stellen, lassen sich mit den Anstrengungen vergangener Jahrhunderte auf nationaler Ebene vergleichen. In diesem kleineren Maßstab hat sich der Staat seine Souveränität gegenüber den Teilgewalten der Gesellschaft erkämpft. Eine solche vergleichende Betrachtung bringt aus drei Gründen Gewinn: Erstens zeigen die nationalen Beispiele, daß ein solcher Prozeß sich gegen die massivsten Widerstände durchsetzen kann – das ermutigt. Zweitens belehrt das historische Vorbild, auf welche Weise dieser Prozeß, wenn er erfolgreich sein soll, abläuft: nicht als gewaltsam-natürliches Geschehen, sondern geistgelenkt. Drittens sieht man, welche Umstellung das Militärische erfährt, wenn es nicht mehr zwischen souveränen Staaten eingesetzt, sondern von einem Gewaltmonopol aus innenpolitisch dirigiert wird: es wandelt sich ins Polizeiliche um. Damit geht ein verändertes Ehr- und Moralgefühl einher.

Innerhalb der pazifistischen Literatur, die den Völkerbund vorbereitet hat, wurde deshalb, – insbesondere von Ludwig Quidde – immer die Parallele zwischen der Überwindung des Fehderechts am Ausgang des Mittelalters und der Überwindung der Kriege der einzelnen Nationen untereinander betont.

Erich Fechner schrieb: „Es besteht eine strenge soziologische Parallele zwischen der Überwindung der Blutrache durch die jungen staatlichen Mächte, die sich über den souveränen Familienverbänden entwickelten, einerseits, und der sich gegenwärtig in Teilräumen des Erdballs anbahnenden Überwindung des Krieges durch überstaatliche Organisationen oberhalb der ihrer Souveränität insoweit entkleideten Einzelstaaten andererseits. Auch die Blutrache (und die ihr verwandte Fehde) war ein primitives Mittel zum Ausgleich eines erlittenen Schadens, auf das das Gemeinwesen nur verzichten konnte, wenn die Aufgabe von einer anderen Stelle übernommen wurde. Wäre dieser Zusammenhang hinreichend bekannt, es ließe sich eine Unmenge fehlgeleiteter Energie und wohlgemeinten aber falschgerichteten Wollens in fruchtbare Bahnen lenken.“ 1

Die Fehden zwischen einzelnen Familien waren für die mittelalterliche Gesellschaft eine größere Plage als die nach außen geführten Kriege. Ihre Bekämpfung gelang durch die Anstrengungen einer großen Friedensbewegung, in deren Tradition sich die entsprechenden Bemühungen unserer Zeit stellen sollten. Es handelte sich um die »Gottesfriedensbewegung«, durch deren bis auf den heutigen Tag anhaltende Erfolge die Skeptiker, die von einer unausrottbar kriegerischen »anthropologischen Grundkonstante« sprechen, widerlegt sind.

Die Gottesfriedensbewegung war eine religiöse Bewegung. Im Süden Frankreichs, zwischen den Pyrenäen und der Rhône, wo die Königsgewalt schwach war, nahm sich die Kirche des Fehdeproblems an. Auf Diözesansynoden und anderen großen Versammlungen wurde der Adel dazu veranlaßt, sich durch Eid zur Einhaltung der Pax Dei zu verpflichten. Kirchen, Klöster und geistliche Personen, aber auch Frauen und Mädchen, der Bauer auf dem Feld, sein Pflug und sein Dorf sollten vor Totschlag, Vergewaltigung, Raub und Brandstiftung bewahrt sein. Zunächst gelang es lediglich, für die Sonn- und Feiertage einen Frieden auszuhandeln (die Treuga Dei); mit der Zeit gelang aber eine immer größere Ausdehnung des zunächst räumlich und zeitlich begrenzten Gottesfriedens. Im Jahre 1085 erließ Heinrich IV. auf dem Reichstag in Mainz den ersten Gottesfrieden für das ganze Reich, und es wurde Sache der königlichen Gewalt, diesen Frieden durchzusetzen. In regelmäßigen Abständen mußte der Adel ihn neu beschwören; nur dadurch erlangte er seine fortgesetzte Geltung.

Mehr als sich im allgemeinen Geschichtsbewußtsein ausdrückt, ist die Bekämpfung der Fehde durch die Gottesfriedensbewegung beteiligt an der Herausbildung des modernen Staates. Solange die Fehde, also die Befugnis, sich in selbständiger Entscheidung und mit eigener Kraft Recht gegen Unrecht zu verschaffen, ein legitimes Institut der Rechtsordnung war, konnte von einem Staat im modernen Sinne noch nicht die Rede sein. Er setzt voraus, daß seine Bürger entmachtet, das Recht auf Selbsthilfe abgeschafft und ein juristisches und faktisches Machtmonopol begründet ist. Da die Geschichtsschreibung bis vor kurzem im wesentlichen eine Kriegsberichterstattung war und die diskursiven, konsensualen Prozesse vernachlässigt hat, sind diese Zusammenhänge wenig bewußt. Tatsächlich aber läßt sich die Entstehung des modernen Staates genauso auf die Gottesfriedensbewegung zurückführen, wie die UNO auf den Pazifismus zurückzuführen ist – ein Hergang, der ebenfalls im Geschichtsbewußtsein unterzugehen droht, das die Völkerverbindung lieber auf die Peitschenhiebe von Lehrmeister Krieg zurückführen möchte.

Man betont seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts lieber die gewaltsame Entstehung der zivilisatorischen Errungenschaften. Der Sozialdarwinismus hat sich auf diese Weise ausgewirkt und ist – nach einer Unterbrechung in der Nachkriegsepoche – heute wieder einflußreich. Zwar ist die Blutspur in der Geschichte nicht zu übersehen; bei der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols hat aber der bewußte, formende menschliche Geist den entscheidenden Einfluß gehabt. Die beiden Männer, die in diesem Geisteskampf in der vordersten Reihe standen, sind der Franzose Bodin und der Engländer Hobbes. Sie begründeten die Theorie der staatlichen Souveränität, einer Macht also, die keine andere Macht über oder neben sich hat, und nahmen damit unmittelbar Einfluß auf die Politik ihrer Zeit.

Wir sind so an den Gedanken gewöhnt, daß man den Staat in seiner Machtfülle wiederum einschränken muß, daß wir den großen historischen Fortschritt, den die Souveränität gebracht hat, nur unzureichend würdigen und Thomas Hobbes Name sogar einen schlechten Klang bekommen hat. Tatsächlich aber ist es ihm zu verdanken, daß sich die europäischen Nationen (innenpolitisch) friedlich unter einer Machtzentrale vereinigt haben, und man kann der Weltgesellschaft nur wünschen, daß sie einen Kopf findet, der ebenso wirkungsvoll den Weg weist, auf dem sich ein globales Machtmonopol bilden kann.

Hobbes legte den größten Wert auf den rationalen und konsensualen Hergang bei der Einrichtung des Staates. Er beginnt seinen »Leviathan« damit, daß er den Staat mit einem Kunstmenschen vergleicht: „Denn künstlich geschaffen wird jener große Leviathan“, und sagt: „Die Abmachungen und Verträge, durch die die Teile dieses politischen Körpers gemacht, zusammengesetzt und vereint werden, gleichen jenem Fiat oder 'Lasset uns Menschen machen', das Gott bei der Schöpfung aussprach.“ Kein Naturvorgang ist die Staatsentstehung also, sondern ein bewußter und gelenkter, demokratischer Vorgang; Hobbes geht von einer konstituierenden Urversammlung aus. Hobbes spricht vom Staat als einem Kunstwerk, um zum Ausdruck zu bringen, daß er keine Naturbildung ist, deren natürliche Elemente von natürlichen Kräften bewegt werden; er ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes. Diese Auffassung steht in der Tradition einer Lehre, die den Staat als »corpus artificiale« oder als »homo artificialis« bezeichnet.2

Überträgt man diesen Gedanken auf die jetzt anstehende Weltstaatsbildung, so sind sie unverträglich mit den wieder modern werdenden sozialdarwinistischen Vorstellungen von dem bevorstehenden Prozeß, wie sie Karl-Otto Hondrich in seinem »Lehrmeister Krieg« vorträgt: Zwar sieht auch er die historische Parallele zu der nationalen Befriedung, aber sein Konzept läuft auf eine Weltstaatsbildung hinaus, die nicht konsensual, sondern gewaltsam ist. Er stellt sich den Vorgang so vor, daß die Weltpolizei in einem bewußtlosen Prozeß durch die wachsende tatsächliche Dominanz eines Weltteils – und er denkt natürlich an Amerika – von allein entsteht. Er nennt das Gebilde deshalb »Quasi-Weltstaat« (in Anlehnung an eine bewährte juristische Terminologie, die von »faktischer Gesellschaft« und »faktischer Ehe« spricht, hätte er gut »faktischer Weltstaat« sagen können). Ganz zu Unrecht hat man Hondrich vorgeworfen, seine Vorstellungen stammten von Hobbes.3 Hondrich setzt nämlich nicht dessen Modell fort, sondern rückt von ihm ab, wenn er auf Weltniveau das Gesetz der freien Wildbahn propagiert und der Durchsetzung der »bewußtlosen Dominanz« Vorschub leistet. Auch wenn er mit seinen Vorstellungen letzten Endes auf einen Weltstaat aus ist, unterminiert er die Völkerbundidee und demoralisiert die Friedensbewegung.

Hondrichs sozialdarwinistisches Entstehungsmodell, das die Weltgesellschaft aufgrund des Rechts des Stärkeren auf natürliche Weise um die Vereinigten Staaten herum anwachsen läßt, stößt auch gegen ein Faktum: Jenseits des Atlantik gibt es eine deutliche Neigung zum Isolationismus, die durch den Einsatz in Bosnien und im Irak nur überdeckt ist. Und wenn man historisch etwas weiter zurückblickt, stellt man fest, daß die Neigung, die Weltzentrale zu bilden, in den Vereinigten Staaten keineswegs eine feste Tradition hat. Im Gegenteil: Zu den schweren Schlappen, die die Weltvereinigung erlebt hat, gehört die Wahlniederlage, die Wilson mit dem von ihm ausgearbeiteten Völkerbundskonzept 1919 erlitt – mit der Wirkung, daß das Bündnis ohne die Mitgliedschaft der Vereinigten Staaten auskommen mußte. Mit Recht wurde gegen Hondrichs aus dem Golfkrieg stammende Euphorie eingewandt: „Was geschieht, wenn der amerikanischen Öffentlichkeit aufgeht, daß es sich nicht lohnt, Sheriff der ganzen Welt zu sein, während zu Hause das Geld für die Sozialausgaben fehlt?“ 4 Inzwischen zeichnet sich diese Situation schon ab. Wir können uns deshalb nicht darauf verlassen, daß sich die Weltmacht in einem naturwüchsigen Prozeß um die USA herum agglomeriert. Wir müssen die Zentralisation von allen Seiten der Welt her bewußt in Angriff nehmen.

Anmerkungen

1) Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 264. Zurück

2) Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 153. Zurück

3) Rezension Kößler. Zurück

4) Armin Adam in der SZ v. 5.6.1992. Zurück

Sibylle Tönnies ist Professorin an der Universität Bremen

(K)Ein Platz im Sicherheitsrat

(K)Ein Platz im Sicherheitsrat

von Michael Berndt und Werner Ruf

Seit der deutschen Vereinigung steht das Thema eines Ständigen Sitzes der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf verschiedensten Tagesordnungen: der Tagesordnung zur (notwendigen) Reform der Vereinten Nationen, der Tagesordnung der Beziehungen Deutschlands zu seinen westlichen Verbündeten und Partnern und somit schließlich der Tagesordnung über die Ziele der neuen deutschen Außenpolitik. Hier soll nun weder diskutiert werden, inwieweit ein ständiger deutscher Sitz im Sicherheitsrat dazu beitragen würde, die Vereinten Nationen handlungsfähiger bezüglich der weltpolitischen Problemlagen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu machen, noch der Frage gefolgt werden, welche Interessen die westlichen Verbündeten und Partner Deutschlands in dieser Frage verfolgen. Der hier gewählte Ausgangspunkt ist die Frage, warum Deutschland, d.h. seine Regierung, aber auch wesentliche Teile der Opposition, ein Interesse an diesem »Ständigen Sitz« haben. Dieser Frage wollen wir uns in drei Schritten nähern: Welche Bedeutung hat ein »Ständiger Sitz« im UN-Sicherheitsrat (I); Warum strebt Deutschland einen solchen »Ständigen Sitz« an (II)? Abschließend ist zu fragen, welche Verwirklichungschancen dem deutschen Interesse eingeräumt werden, und welche Rückwirkungen daraus sowohl für die zukünftige Politik der UNO als auch für die zukünftige deutsche Außenpolitik abgeleitet werden können.

Die UNO und ihr Sicherheitsrat

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts begann eine Euphorie über die endlich erreichte Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen, die ihren Höhepunkt im zweiten Golfkrieg und vor allem in der Somalia-Intervention fand. Von Weltgemeinschaft und Weltgewissen war hier die Rede, der UN-Sicherheitsrat wurde gar euphemistisch als Weltregierung bezeichnet. Zwar wurde gesehen, daß diese plötzliche »Handlungsfähigkeit« durchaus Folge des Endes des Systemgegensatzes war, vergessen bzw. unterschlagen wurde die banale Tatsache, daß die Vereinten Nationen – und erst recht ihr Sicherheitsrat – von Anfang an keine supranationale, auf den Egalitäts- und Souveräntitätsprinzipien der Charta beruhende Organisation war, sondern vielmehr ganz konkreter Ausdruck der Mächtekonstellation am Ende des Zweiten Weltkriegs: Zwar sind formal in der UN-Vollversammlung alle Staaten gleich, jedoch bereits der Sicherheitsrat verläßt in seiner Konstruktion dieses Gleichheitsprinzip, konzediert dort doch die Charta fünf Staaten – den Ständigen Mitgliedern – eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Die herausragende Stellung dieser fünf Staaten besteht zum einen in ihrem – möglichen – Konsens, der notwendig ist, um eine Verletzung des Friedens und der internationalen Sicherheit festzustellen. Zum anderen aber kann das Veto eines jeden Ständigen Mitglieds die Verurteilung eines mutmaßlichen Friedensbrechers und darauf basierend die Verhängung von Sanktionen verhindern. Diese Privilegien der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs verletzen nicht nur das Gleichheitsprinzip, sie erhalten in der Charta dadurch eine besondere Bedeutung, das diese das Fundament bürgerlicher Rechtstaatlichkeit, die Gewaltenteilung, nicht kennt: Weder untersteht der Sicherheitsrat in seinen Entscheidungen der Kontrolle einer Legislative, der Vollversammlung, noch ist er der Normenkontrolle einer Judikative unterworfen, die dem Internationalen Gerichtshof hätte übertragen werden können. Somit ist der Sicherheitsrat ein genuin politisches und zugleich demokratischer Kontrolle durch die Staatengemeinschaft entzogenes Organ (vgl. Ruf 1994).

Durch das Ende des Ost-West-Konflikts und des Systemgegensatzes hat sich das Kräfteverhältnis im internationalen System radikal verändert: Die noch immer durch die Feindstaatenklauseln der UN-Charta diskriminierten Mächte Deutschland und Japan hatten bereits im Verlauf des Kalten Krieges aufgrund ihrer ökonomischen Potentiale wieder eine herausragende Stellung erreicht, und Spekulationen über die Herausbildung eines tripolaren Systems – USA-Deutschland/Europa-Japan/Ostasien – erscheinen nicht unbegründet. Wenn also der Sicherheitsrat die jeweilige epochale Großmächtestruktur abbilden soll, dann erscheint das (konzertierte?) Drängen Deutschlands und Japans auf einen Sitz im Sicherheitsrat »mit vollen Rechten und Pflichten« durchaus im Lichte machtpolitischer Logik. Der politische Charakter des Sicherheitsrats lädt geradezu dazu ein.

Kompliziert wird dieses Drängen Deutschlands und Japans nach einer auch in der UN-Charta festgelegten Anerkennung der Veränderung des Internationalen Systems durch die Tatsache, daß die Welt von 1944 dezidiert noch eine Staatenwelt war. Durch die Globalisierungsprozesse der beiden vergangenen Jahrzehnte, die durch das Ende der Bipolarität eine ungeheure Beschleunigung erfahren haben, haben sich Tendenzen zu einer »Verweltgesellschaftlichung« entwickelt, die letztendlich einen Funktionsverlust des Staates bedeuten. Auch dies schlägt sich im Wandel der Begrifflichkeit wieder: Implizierte früher der Begriff »Sicherheit« in erster Linie territoriale Sicherheit, gefaßt in den Unterbegriffen von Bedrohung und Verteidigung, so hat sich in der sicherheitspolitischen Diskussion beginnend mit den siebziger Jahren ein neuer Sicherheitsbegriff etabliert, der zunehmend von der territorial definierten Bedrohung Abschied nimmt und von Gefährdungen und Risiken spricht, die transnationale Entwicklungen zum Gegenstand haben wie beispielsweise Migration, Ökologie, Folgen ökonomischer Verflechtung (Standortdiskussion), aber auch Terrorismus, Drogenhandel und dgl. mehr. Unbestreitbar ist, daß diese Entwicklungen auch von den Regierungen der hochentwickelten Industriestaaten tendenziell immer weniger kontrollierbar sind und somit die Souveränität des Nationalstaates untergraben. Eine Sicherheitspolitik, die diesen sogenannten neuen Risiken Rechnung trägt, versucht mit den Mitteln des alten Nationalstaates Prozesse zu erfassen und zu regulieren, die sich ihm per definitionem (???) entziehen. Insofern erscheint der erweiterte Sicherheitsbegriff als Antwort auf diese Entwicklungen ein Widerspruch in sich selbst: Wie selbst das Weißbuch 1994 des Verteidigungsministeriums feststellt, ist diesen Entwicklungen mit militärischen Maßnahmen nicht zu begegnen. Das Streben nach einem Ständigen Sitz im Sicherheitsrat gerät somit zu einem Anachronismus: Wenn schon die als »neue Herausforderungen« oder »neue Risiken« titulierten Entwicklungen sich nationalstaatlicher Regulierung zunehmend entziehen, so können sie erst recht nicht Gegenstand von Regulationsversuchen rein staatenweltlicher Art – wie des UN-Sicherheitsrats – sein: In dem Maße, in dem Systemstabilität als sicherheitspolitisches Ziel definiert wird, werden

  • die Ursachen solcher Systemgefährdung ausgeblendet und letztlich auf das zu ihrer Beseitigung untaugliche Mittel militärischer Intervention reduziert und
  • werden diese Konfliktursachen als potentielle Konfliktpunkte gerade zwischen den hochindustrialisierten Industriestaaten wegdefiniert. Gerade hierin aber liegen Rivalitätspotentiale zwischen eben diesen (neuen und alten) Großmächten, die die staatenweltlich organisierte UNO und erst recht ihren Sicherheitsrat erneut zu blockieren drohen.

Bedeutung eines »Ständigen Sitzes« für die deutsche Außenpolitik

Um den Stellenwert der deutschen Diskussion über einen Ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat einordnen zu können, ist es notwendig, auf die Strategie der deutschen Außenpolitik einzugehen (siehe auch Berndt 1991). Dabei erscheint zunächst die Frage von Bedeutung, wo mit der Betrachtung der deutschen Außenpolitik begonnen wird. Von zahlreichen Autorinnen und Autoren und aus unterschiedlicher Perspektive wird die deutsche Vereinigung und der Abschluß des 2+4-Vertrages als Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte gesehen: So spricht Schwarz (1994), der der »realistischen« deutschen Außenpolitik wohlwollend gegenübersteht, von „Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne“ und dem Wiederfinden seiner Rolle als „Zentralmacht Europas“. Aus kritischer Sicht gegenüber der gegenwärtigen bundesdeutschen Außenpolitik sprechen Thomas/Weiner (1993b) von einem neuen deutschen Interventionismus.

Beide Thesen setzten daran an, daß das Ende des Ost-West-Konflikts und Systemgegensatzes für die Bundesrepublik Deutschland erhebliche – nicht zu bestreitende – Veränderungen mit sich gebracht hat. Nicht nur, daß Deutschland nun vereint ist, sondern gerade die Tatsache, daß mit der Vereinigung auch die Wiedererlangung der vollen Souveränität verbunden war, unterfüttert die These, daß das neue Deutschland mehr Verantwortung – wie auch immer sie gedeutet wird – in der Welt tragen muß und daß so durchaus seit der Vereinigung von einer neuen Rolle Deutschlands, von einer neuen deutschen Außenpolitik gesprochen werden kann. So formulierte auch Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung am 31.Januar 1991:„Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu. So sehen es auch unsere Partner in der Welt. Sie erwarten vom vereinten Deutschland, daß es dieser neuen Rolle gerecht wird.“

Der These von der »neuen«deutschen Außenpolitik steht allerdings entgegen, daß das vereinte Deutschland durchaus in der Kontinuität der alten Bundesrepublik steht. Somit erscheint es angebracht, nicht bei der Außenpolitik nach der Vereinigung zu beginnen, sondern schon davor: die außenpolitische Strategie der BRD bestand und besteht darin, durch Mitgliedschaft in möglichst vielen internationalen Organisationen den von der Regierung formulierten nationalen deutschen Interessen zur Durchsetzung zu verhelfen. Dieser Weg der Integration ist darin begründet, daß sich der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nur durch Integration in den Westen und dessen zwischenstaatliche Organisationen – wie EGKS, EWG, NATO, WEU – die Rückgewinnung von Souveränitätsrechten und internationalen Handlungsoptionen ermöglichte. Während die anderen westlichen Staaten, wie die USA, Frankreich und Großbritannien als Resultate des Zweiten Weltkrieges ihre vermeintlich nationalen Interessen nötigenfalls national zur Geltung bringen konnten, blieb der Bundesrepublik – auf Grund des Mißtrauens gerade von Seiten der westlichen Staaten – nur der Weg, sich zunächst unterzuordnen, sich zu integrieren, um dann – als Musterschüler – die jeweiligen Organisationen auch zur eigenen Interessensdurchsetzung zu nutzen. Nationale Alleingänge waren ausgeschlossen. Ein entscheidendes Mittel im Rahmen dieser Strategie war das Militär: Nur durch zunächstmalige vollständige Integration in die NATO war es möglich, die Bundeswehr zu einer kriegstüchtigen Streitmacht auszubauen, um dann – Interessendivergenzen innerhalb des Westens nutzend – die WEU als europäischen Pfeiler der NATO und militärischen Arm der EG/EU zu reaktivieren.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes hat sich nun zwar das Umfeld der deutschen Außenpolitik geändert, nicht aber, so unsere These, deren Strategie. Das Umfeld ist nun dadurch charakterisiert, daß auf der einen Seite ein direkter militärischer Angriff auf einen der westlichen Staaten und auch die Bundesrepublik so gut wie ausgeschlossen ist. Auf der anderen Seite aber kann, auf Grund der internationalen Verflechtungen der bundesdeutschen Ökonomie, letztlich jede Entwicklung auf der Welt Auswirkungen auf die bundesdeutsche Gesellschaft haben. Da aber keine der Organisationen, in denen die Bundesrepublik bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes ihre Stellung so weit ausgebaut hatte, daß sie wesentlichen Einfluß ausüben konnte, bezüglich der neuen Konfliktdimensionen über das geeignete Mandat verfügt, international legitimiert ist weltweit einzugreifen, erscheint der UN-Sicherheitsrat als wichtiges Objekt der Begierde. Nur durch einen mit Veto-Recht ausgestatteten Sitz in diesem Gremium erscheint es möglich, Einfluß auf die Partner und Verbündeten zu nehmen – ja, sich gegebenenfalls zur Durchsetzung eigener Interessen legitimieren zu lassen, wie beispielsweise Frankreich in Ruanda. Demgegenüber könnte die These vertreten werden, daß diese Partner und Verbündeten ja im westlichen Interesse agieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß es letztlich nach dem Wegfall des „sicherheitspolitischen Deckel(s)“ (Nye, Biedenkopf, Shiina 1992: 3) das westliche Interesse nicht mehr gibt, was sich ja gerade in der Politik der westlichen Staaten gegenüber dem Krieg und dessen Parteien in Ex-Jugoslawien zeigte.

Verwirklichungschancen eines deutschen Sitzes und Auswirkungen

An den zunehmenden Interessendivergenzen zwischen den westlichen Staaten scheint das Streben Deutschlands nach einem Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ebenso zu scheitern, wie dem forschen Auftreten der »neuen« deutschen Außenpolitik, was sich exemplarisch an der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens (und den westlichen Reaktionen) zeigte. Obwohl alle drei Ständigen westlichen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nach außen das deutsche Interesse unterstützen, bleibt dessen Verwirklichung, zumindest gegenwärtig, höchst zweifelhaft und wird an die gesamte Reform der UNO gebunden. Ob diese aber, in der Form der von der zu diesem Zweck zusammengestellten UNO-Expertengruppe (Siehe: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 1995) stattfinden wird, ist u.E. mehr als fraglich. Sicherlich verfolgt die Bundesrepublik mit Blick auf ihre Rolle in den Vereinten Nationen und mit dem Ziel ihrer weiteren außenpolitischen Emanzipation eine Politik nach dem Prinzip: Das eine tun, das andere nicht lassen (Berndt 1991). So wird der Wunsch nach einem Ständigen Sitz im Sicherheitsrat weiterhin begründet mit der gewachsenen Verantwortung des vereinten Deutschland, unterfüttert von formal vorgetragenen Wünschen vieler von deutscher Hilfe abhängiger Entwicklungsländer. Andererseits kann davon ausgegangen werden, daß die Bundesrepublik die NATO und die WEU als wichtigere Instrumente zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen sieht und daher deren verstärkte Handlungsfähigkeit und Kompetenzzuwachs auch als Ausweitung eigener Handlungsspielräume sieht und nutzt.

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994 ist außerdem dazu der Weg geebnet. Sich mit dieser Realität abzufinden, heißt dann auf der einen Seite die UNO und hier den Sicherheitsrat immer noch hoch zu halten, wenn es um die Beschaffung eines Mandates geht. Wohlwissend aber, daß keiner der fünf Vetoberechtigten bereit ist, auf sein Vetorecht zu verzichten und eine Ausweitung des Vetorechts auf andere Staaten höchst unwahrscheinlich ist, gilt es zwar einerseits Einfluß auf die Entscheidungen des Sicherheitsrates auszuüben – was gerade auch über NATO, EU und G 7 möglich ist –, andererseits aber die Umsetzung dieser Entscheidungen in Organisationen zu verlagern, in denen die Bundesrepublik gleichberechtigt ist. Gerade damit wird auch die von der Bundesrepublik unterstützte Andienung der NATO und der WEU an die UNO (und KSZE/OSZE) verständlich (siehe: Berndt 1995). Damit wird es zwar nicht möglich, das Mandat zu ändern, aber über die gleichberechtigte Beteiligung an der Umsetzung oder der Finanzierung der Durchsetzung des Mandates, die bundesdeutschen Interessen verstärkt zur Geltung zu bringen. Die Diskussion über eine deutsche militärische Beteiligung an UN-Aktionen erscheint so nur als Durchgangsstadium einer Politik, die nicht primär dem Ziel folgt, internationale Organisationen zu stärken, sondern diese zur eigenen Interessendurchsetzung zu nutzen.

Literatur

Berndt, Michael (1991): Das Eine tun und das Andere nicht lassen. Der Golfkrieg und die militärpolitische Emanzipation der Bundesrepublik Deutschland; in: Ruf, Werner (Hrsg.); Vom Kalten Krieg zur heißen Ordnung. Der Golfkrieg: Hintergründe und Perspektiven; Münster/ Hamburg; S. 114-129.

ders. (1995): Blauhelme als Einstieg: Deutsche Begehrlichkeiten II; in: WEED – Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung (9/ 11.12.); S.3-4.

ders. (im Druck): Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in der Neuen Weltordnung; in: Calließ, Jörg (Hrsg.); Deutsche Interessen in den internationalen Beziehungen; Loccum.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (1995) (Hrsg.): Die Vereinten Nationen in ihren nächsten 50 Jahren. Ein Bericht der unabhängigen Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen; Bonn.

Nye, Joseph S./ Biedenkopf, Kurt/ Shiina, Motoo (1992): Globale Kooperation nach dem Ende des Kalten Krieges: eine Neueinschätzung des Trilateralismus. Ein Task-Force-Bericht an die Trilaterale Kommission (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) (Hrsg.); Arbeitspapiere zur Internationalen Politik: 67; Bonn.

Ruf, Werner (1991) (Hrsg.): Vom Kalten Krieg zur Heißen Ordnung. Der Golfkrieg: Hintergründe und Perspektiven; Münster/ Hamburg.

ders. (1994): Die neue Welt-UN-Ordnung – Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der 'Dritten Welt'; Münster.

Schwarz, Hans-Peter (1994): Die Zentralmacht Europas – Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne; Berlin.

Thomas, Caroline/ Weiner, Klaus-Peter (1993a) (Hrsg.): Auf dem Weg zur Hegemonialmacht? Die Deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung; Köln.

dies./ Weiner, Klaus-Peter (1993b): Neuer Interventionismus – Die deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung; In: Thomas, Caroline / Weiner, Klaus-Peter (Hrsg.); Auf dem Weg zur Hegemonialmacht? Die Deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung; Köln; S. 149-165.

Michael Berndt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dr. Werner Ruf Professor an der Uni-GH Kassel

Die UNO reformieren

Die UNO reformieren

Stand der Diskussion

von Steffen Rogalski

Was die UNO so faszinierend macht, ist ihr Nimbus, der auf die Charta zurückgeht und auf die Tatsache, daß es eine so große, ausdifferenzierte zwischenstaatliche Organisation überhaupt gibt. Mit der UN-Charta wurde ein Völkerrecht mit universeller Geltung geschaffen, das ein internationales Gewaltverbot, die Achtung der Menschenrechte und menschenwürdige soziale und wirtschaftliche Verhältnisse als Rechtsgrundsätze und Ziele festschrieb.

Die UNO ist aber eine zwischenstaatliche Organisation, und als solche ist sie in einem nationalstaatlich und bündnismäßig dominierten, interessen- und machtmäßig ausgerichteten internationalen System in nur sehr geringem Maß ein selbstständiger Akteur, d.h. sie bekommt (im wesentlichen) als Organisation ihre Macht nur von ihren Mitgliedstaaten geborgt. Sie folgt – insbesondere im Sicherheitsrat – den Interessen der Mächtigen, der dominierenden Akteure im internationalen System und in ihrer Organisation, die auch den Großteil ihres Haushaltes bestreiten. Jedes Gerede von »der Unfähigkeit der UNO« bei der Bewältigung internationaler Krisen und Konflikte greift meistens zu kurz, weil es nicht die dazugehörigen finanziellen und personellen Voraussetzungen und organisatorischen Strukturen thematisiert und die Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten einbezieht.

Weitere Bedingungen, die in Überlegungen über die Reform der Vereinten Nationen einbezogen werden sollten, sind ihr Charakter als zwischenstaatliche (intergovernmental) Organisation (d.h. die Dominanz der Regierungen in ihrer Politikgestaltung) und ihr Demokratiedefizit, besonders im Sicherheitsrat. Die UNO ist eine Organisation, die den Regierungen ihrer Mitgliedstaaten viele Möglichkeiten des Agierens im Feld der internationalen Sicherheitspolitik eröffnet, ohne dafür effektive Regelungen zur Kontrolle ihres Handelns zu haben. Die Charta der Vereinten Nationen dient eher der Verregelung von Macht statt der Machtkontrolle und der Machtbindung an Prinzipien wie Demokratie und Gerechtigkeit. Auch diese Überlegungen über die Chancen und Gefahren einer weiteren Multilateralisierung der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik unter verstärkter Einbeziehung der UNO müssen bei Konzepten oder konkreten Utopien über zukünftige sicherheitspolitische Systeme einbezogen werden.

Letztlich geht es um die Tragfähigkeit und Reichweite des friedens- und sicherheitspolitischen Konzeptes der Weltorganisation oder einfacher um die Ausgestaltung der UNO als allgegenwärtiger Weltpolizist (mit erhöhtem militärischen Engagement) oder als Weltfriedensmacht, die es sich zur Hauptaufgabe macht, ein System von Sicherheit zu schaffen, das vor allem die ökonomische und ökologische Sicherheitsdimension aktiv mitgestalten will.

Zwei grundsätzliche Fragen sollten jedoch geklärt werden, um die Realisierbarkeit eines solchen Systems abschätzen zu können: Zum einen sollte Klarheit darüber herrschen, ob innerhalb der UNO ein System umfassender Sicherheit möglich ist und zum anderen, welches Gesamtkonzept von Sicherheit in Zukunft angestrebt wird und welches Gewicht einzelne sicherheitspolitische Mittel (z.B. präventive Diplomatie, peace-keeping, Sanktionen, militärische Zwangsmaßnahmen) darin mittelfristig haben könnten.

Der veränderte Kontext der internationalen Politik in der UNO seit 1988

Der Wandel zwischen 1987/88 und heute ist enorm: Die Veränderungen der internationalen Politik von 1987/88 und insbesondere die Veränderung der Außenpolitik der Sowjetunion in bezug auf die UNO schufen die Möglichkeit zur Kooperation zwischen den Supermächten im Sicherheitsrat und warf die Frage nach der Erweiterung der Sicherheitsbegriffes auf. Eine Diskussion über ein „umfassendes System von Weltfrieden und internationaler Sicherheit“ wurde von der sowjetischen Regierung unter Führung von Michail Gorbatschow vorgeschlagen.1

Mit der Änderung der sowjetischen Außenpolitik und der Überwindung der Blockierung von weiterreichenden Aktivitäten der UN durch die Supermächte wurde der Diskussion um die Reform der Vereinten Nationen neuer »Schwung« verliehen. Seit der Änderung des Klimas zwischen den Supermächten und einer partiellen Kooperation innerhalb der UNO ab 1987-88 wird von einer neuen Bedeutung der UNO auf dem Gebiet der internationalen Friedenssicherung und auch auf anderen Gebieten gesprochen. Die Debatten um die Reform der Vereinten Nationen ist wieder voll entfacht, von der „Wiederentdeckung der Vereinten Nationen“ (Doeker/ Volger) ist die Rede, eine „Weltorganisation der Dritten Generation“ (Bertrand) wird gar gefordert.

Ein zweiter Einschnitt für die neuere Geschichte der UNO war der sog. zweite Golfkrieg, in dem der Sicherheitsrat eine internationale Gewaltanwendung von einigen seiner Mitgliedstaaten (insbesondere der USA) legitimierte.

Die Vereinten Nationen haben durch die »Wiederherstellung des Völkerrechts« im zweiten Golfkrieg ihren Ruf als neutraler Konfliktschlichter in den Entwicklungsländern beschädigt, den sie sich mit den international anerkannten UN-Friedenstruppen erworben hatten. Der Sicherheitsrat der VN hat sich die Handlungsmöglichkeiten zum Krisen- und Konfliktmanagement aus der Hand nehmen lassen, und sein größter Fehler war, sich in der Resolution 678 vom 29. November 1990 nicht selbst weitere Schritte vorzubehalten, sondern eine pauschale Ermächtigung für Mitgliedstaaten auszusprechen.

Jedoch hat der zweite Golfkrieg auch dazu beigetragen, die Forderungen nach einer Reform der UNO zu verstärken. Diese Debatte ist sichtbarstes Zeichen eines globalen Unbehagens, daß sich nach dem Ende des Kalten Krieges eine unipolar, durch die USA (und andere Industriestaaten) dominierte Welt verfestigt. Die Reform der UNO böte eher die Chance einer allseitigen Beteiligung an der Gestaltung der »neuen Weltordnung«. Die Forderungen, die nach dem »zweiten Golfkrieg« in bezug auf die Reform der UNO (insb. von der Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltfrieden2 und auch von Parteien, insb. SPD3) erhoben wurden, können in vier Feldern zusammengefasst werden:

  • Reform der Charta,
  • Reform der institutionellen Regelungen innerhalb und zwischen den Organen der UNO,
  • und Finanzierungs- und Organisationsreform sowie
  • eine Erweiterung der Rolle und Funktionen der Vereinten Nationen, in den Bereichen Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik sowie Menschenrechts- und Umweltschutzpolitik, usw.. Die Forderungen – die hier selbstverständlich nicht vollständig aufgelistet werden können – zielen ihrem Inhalt nach hauptsächlich auf die genannten Politikfelder und reichen von Vorschlägen wie:
  • Demokratisierung des Sicherheitsrates (z.B. durch die Repräsentanz aller Staatengruppen und die Einschränkung des Vetorechts) und Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten von nationalen Parlamenten und nationalen und internationalen Bürgerinitiativen innerhalb des UN-Reformprozesses4,
  • Stärkung der Rolle des Generalsekretärs und des Sekretariats (z.B. in der Frage präventiver Diplomatie und Friedenssicherung),
  • Stärkung der Rolle des Internationalen Gerichtshofes (und Einführung eines Internationalen Strafgerichtshofes),
  • Erweiterung der Aufgaben des Sicherheitsrates auch auf Felder nicht-militärischer Sicherheitspolitik (im Sinne eines umfassenderen Sicherheitsbegriffes),
  • Erhöhung der friedensbewahrenden und konfliktschlichtenden Kapazitäten der UNO sowie ständigen UNO-Streitkräften (nach Generalsekretär Boutros-Ghali als nationale Kontingente, die aus den Militärhaushalten der Mitgliedstaaten zu finanzieren sind und der UNO durch spezielle Abkommen unterstellt werden),
  • der Einrichtung eines Waffenexportregisters und UN-Agenturen zur Überwachung regionaler Sicherheit (Frühwarnsysteme) 5

bis hin zu:

  • verstärkter Koordination und Kooperation mit anderen internationalen Organisationen des UN-Systems (GATT, IWF und Weltbank) und die Einrichtung von internationalen Fonds für Umweltschutz und Grundbedürfnisbefriedigung,
  • einer kompetenzmäßigen Stärkung der UN-Organe (Generalsekretär und Sicherheitsrat) und einer damit verbundenen Reform der UN-Charta einerseits und der Neugestaltung des gesamten UNO-Systems im Wirtschafts- und Sozialbereich andererseits.6

Damit verbunden ist eine erhebliche Änderung des Politikansatzes der UNO insgesamt hin zu einer mehr aktiven und eingreifenden Rolle, die eine erhebliche Änderung des auf nationaler Souveränität beruhenden Staatensystems notwendig machen würde.

Ist dies überhaupt realistisch? Entspricht dies den Grundsätzen der Charta, d.h. der Satzung der UNO? Ist dort ein erweitertes Verständnis von Sicherheit und Frieden überhaupt angelegt oder welche Möglichkeiten bieten sich noch?

Der Friedens- und Sicherheitsbegriff der Charta der VN

Das Hauptziel der VN, das den anderen übergeordnet ist, ist die Wahrung des Weltfriedens: in der Charta taucht am häufigsten die Formulierung „maintenance of international peace and security“ auf. Einundfünfzigmal erscheint in der UN-Charta ein Begriff, der in der Nähe zum Hauptwort »Frieden« steht (neben Frieden selbst z.B. peaceful, peaceloving, international peace oder auch threat to peace, breach of the peace usw.) auf.7 Der Frieden ist aber an keiner Stelle von den Vätern der Charta definiert worden, und die Interpretationen von Völkerrechtlern und Politikwissenschaftlern dazu sind recht unterschiedlich. Aus der Präambel läßt sich ein weiter Friedensbegriff im Sinne gutnachbarlicher Beziehungen ableiten, ebenso wie aus den Abschnitten zu Wirtschafts- und Sozialfragen. In Art. 73 wird davon gesprochen, daß ein „System des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ durch die Charta geschaffen wurde. Aus dem Gesamtzusammenhang der Charta läßt sich ersehen, daß keinesfalls ein negativer Friedensbegriff (d.h. Abwesenheit von Krieg) der Charta zugrunde liegt, sondern aufgrund eines allgemeinen Gewaltverbotes auch „Bedrohungen des Friedens“ und sonstige „Friedensbrüche“ (insb. Art. 39) geahndet werden können. Dies weist auf ein sehr breites Verständnis von Frieden und Friedenssicherung hin. Die wichtigste Aufforderung an die Staaten ist, von Bedrohungen und Gewalt Abstand zu nehmen und Möglichkeiten zur friedlichen Konfliktlösung zu ergreifen, wobei sie sich auch den Vereinten Nationen bedienen können (Art. 1, Ziff.1 , Art. 2, Ziff. 3,4,5, und Kap. VI). Der Ausdruck „Weltfrieden und internationale Sicherheit“ hat – innerhalb einer engen Interpretation der Charta – nur tautologischen Charakter, denn letzterer Bestandteil wird nirgendwo als eigenständiger Begriff gebraucht.

Die Charta enthält zwar viele Elemente eines positiven Friedensbegriffes, aber innerhalb einer engen Interpretation der Charta sind auch – sowohl in der Präambel als auch in Art.1 – Gerechtigkeitsprinzipien dem Ziel der Friedenssicherung nachgeordnet, d.h. die Friedenssicherung hat Vorrang vor Gerechtigkeit und Rechtsansprüchen.8 (Das heißt nicht unbedingt, daß sie nebenrangig oder niederrangig sind.)

Nach einer erweiterten Interpretation des positiven Friedensbegriffes der UN-Charta, könnten aber im Sinne des Ziels „der Stärkung des Friedens durch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Staaten“ sich viele Maßnahmen begreifen lassen, die gewohnheitsrechtlich von einem Organ der UN im Sinne der Charta verfolgt werden. Dieses wird daraus abgeleitet, daß die Mehrzahl der Vorschriften der Charta – mit einigen Ausnahmen – prozeduraler Art sind oder dazu dienen, den Organen der VN Funktionen zuzuweisen bzw. die Funktionen der Organe untereinander abzugrenzen. Diese Vorschriften „verweisen gleichzeitig teilweise ausdrücklich (Art.14, 24 Abs.2, 52, 76, 104 und 105) oder indirekt auf die Ziele und Grundsätze, indem sie deren Wortlaut wiederholen (Art. 11, 12, 13, 24 Abs.1, 33-39, 42, 43, 48, 51, 55, 73, 84 und 99). Insofern ist jedes Organhandeln Beleg für die praktische Anwendung und Interpretation der Ziele der Charta.“ 9

Das heißt, daß sich aus einer lange anhaltenden Praxis ein internationales Gewohnheitsrecht ergeben kann, bestimmte Fragen auch als wichtig für die Erreichung der Ziele der Charta zu interpretieren. Insbesondere die Generalversammlung hat auf die Wichtigkeit der Fragen der Abrüstung, der Dekolonisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung hingewiesen. Das in der UN-Charta vorgesehene System Kollektiver Sicherheit kann auch durch Abrüstungs- und vertrauensbildende Maßnahmen ergänzt werden, usw.usf..

Das Problem dabei ist die umstrittene Bindungswirkung der interpretierenden Resolutionen und Deklarationen der Organe der UN. Sie sind nicht rechtserzeugend, sondern entsprechen eher einer politischen Selbstverpflichtung. Eine größere rechtliche Bindungswirkung ergibt sich allerdings dann, wenn ein bestimmtes Handeln in dauerhafter Form als internationales Gewohnheitsrecht übergeht oder durch den Konsens vieler Staaten über die Bindungswirkung einer Resolution festgelegt haben. Um den Inhalt solchen internationalen Gewohnheitsrechts rechtsverbindlich zu machen, stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: a) die nochmalige Wiederholung in Konventionen, b) die Festschreibung in (möglichst zu ratifizierenden) Verträgen oder c) eine Chartaänderung (bzw. -revision oder -ergänzung).10

Blauhelme – Produkt einer gewohnheitsrechtlichen Auslegung der Charta

Zu solchen Maßnahmen, die einer Interpretation der Charta entsprechen und gewohnheitsrechtlich etabliert sind, gehört die Einrichtung von Friedenstruppen zur Friedenssicherung (maintenance of peace and international security), die als Hilfsorgan der Organisation (sog. Blauhelme) operieren und dazu bestimmt sind, „die Ausweitung eines friedensbedrohenden Konfliktes zu verhindern, die Verwirklichung vereinbarter Konfliktlösungen zu erleichtern und die Beziehungen zwischen den Streitparteien zu stabilisieren, ohne jedoch dabei die Rechte der Streitparteien zu berühren. Je nach Lage im Spannungsgebiet umfaßt ihr Einsatz folgende Aufgabenbereiche: »observation« (Überwachung von Abkommen, Beobachtung, Berichterstattung, Untersuchung, Mittlerfunktion), »interposition« (Pufferbildung, Blockierung), »maintenance of law and order« (Befriedung innerstaatlicher Konflikte, Herstellung von Ruhe und Ordnung, Polizei- und Verwaltungsaufgaben).13 Stabilere Bedingungen in Somalia hätte man mit weniger militärischen und mehr zivilen Mitteln »billiger haben können«.

Ausblick und Reaktionsmöglichkeiten

Wenn die Prognose stimmt, daß in Zukunft die Anzahl der in den Entwicklungsländern aufbrechenden Konflikte weiter zunehmen wird, dann werden zuerst einmal jetzt die Maßnahmen gestärkt werden müssen, die der Generalsekretär unter „preventive diplomacy“ zusammenfaßt: Vertrauensbildende Maßnahmen, Fact-finding, Frühwarnung, präventive Truppenstationierung und humanitäre Hilfe sowie die Etablierung von demilitarisierten Zonen.

Dies ist aber nur ein Teil der Maßnahmen, die in der Agenda for Peace vorgesehen sind, um eine Friedenssicherung zu gewährleisten. Im Hintergrund stehen militärische und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen (Sanktionen) und politische und rechtliche Maßnahmen, wie z.B. die Stärkung der Autorität des Internationalen Gerichtshofes.14

Die militärischen Zwangsmaßnahmen machen zwar innerhalb der Agenda für den Frieden nur in direkter Benennung drei Abschnitte von insgesamt 86 Abschnitten (paragraphs) aus, aber wegen der Beharrlichkeit, mit der der Generalsekretär ständige Truppen nach vertraglich mit der UNO fixierten Beistellungsabkommen (stand-by arrangements nach Art. 45 UN-Charta) fordert und die Erweiterung des peace-keepings ausdrücklich miteinschließt, weist darauf hin, daß das System als ein Ganzes gesehen werden soll. Das heißt, das letztlich der Gedanke glaubwürdiger militärischer Abschreckung seitens der VN etabliert werden soll15, um Konfliktparteien notfalls mit der Androhung militärischer Gewalt dazu zwingen zu können, einer Konfliktschlichtung nach Kapitel VI der UN-Charta o.ä. zuzustimmen oder positiv: sie in jeder möglichen Konfliktlage in Richtung auf eine adäquate Maßnahme von Konfliktschlichtung, Konfliktverregelung, Schiedsspruch oder Konfliktbeilegung mit Hilfe von neutralen Beobachtern ö.ä. hinweisen zu können.

Die Wahl der sicherheitspolitischen Mittel wird auch in Zukunft von Fall zu Fall sehr schwankend sein. Dementsprechend unterschiedlich – und zum Teil widersprüchlich – sind auch die Schwerpunkte, die der Generalsekretär Boutros-Ghali in zahlreichen Artikeln seit Ende 1992 gesetzt hat.

In der ersten Hälfte von 1992 stiegen die Kosten für die friedenserhaltenden Maßnahmen um das Vierfache von 700 Mio. $ auf 2,8 Mrd. $, was die UNO in arge Finanznöte brachte.16 Ende 1992 waren die Forderungen Boutros-Ghalis nach schnellen Einsatztruppen und einem erweiterten peace-keeping, bei dem UNO-Truppen zur Verteidigung ihres Auftrages Waffengewalt anwenden dürfen, in aller Munde. Die UNO-Missionen gehen aber weit über die Herstellung von Sicherheit und Ordnung oder die Trennung von Kriegs- oder Bürgerkriegsparteien hinaus. So fordert der Generalsekretär den Aufbau einer verbesserten Kapazität für Gute Dienste, vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung, Forschung und Analyse sowie den Ausbau der Frühwarnung und eine Verstärkung der Planungs- und Führungsfähigkeit des Sekretariats auf dem Gebiet der Friedenssicherung. Bei den Kosten, die friedenssichernde und friedensschaffende Aktionen der UNO verursachen, müssen auch einfach in einer umfassenden Weise die Verfahren und Methoden der friedlichen Konfliktbeilegung (nach Kapitel VI der UNO-Charter) wieder voll zur Geltung gebracht werden. Schließlich gibt es zur Zeit etwa 70 potentielle oder faktische Konflikte, die ihrer Regelung oder »Bearbeitung« harren. In Reaktion auf die gestiegenen Anforderungen im Bereich des peace-keeping, wo es zum Teil auch auf eine schnelle Reaktionsfähigkeit der UNO ankommt, bevor ein Konflikt eskalieren kann, beschloß die Generalversammlung mit der Resolution 47/217 die Einrichtung eines Reservefonds für solche Aufgaben in Höhe von 150 Mio. $. Solche einzelnen Maßnahmen sind immer im Gesamtzusammenhang des angestrebten Konzeptes für die internationale Sicherheit zu sehen. Die UNO und insbesondere ihr Generalsekretär streben ein effektives Krisenmanagement an, bei dem es schließlich darum gehen wird, ein optimalen Mix von politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen zu finden. Dazu wird eine organisatorische Umstrukturierungen und Neuorganisation vieler Bereiche notwendig sein, an der die grundsätzliche Orientierung und Richtung des sicherheitspolitischen Systems der UNO ablesbar sein wird.

Organisatorische Reformen

Die bisherigen Reformen, die in organisatorischer Hinsicht erfolgt sind, beziehen aber nicht nur die Erweiterung der Aufgaben und Funktionen von Friedenstruppen ein (von denen es mittlerweile 14 bis 15 gibt, wobei die UNO insgesamt eine Truppenstärke von 55.000 – 60.000 erreichte und mit der Somalia-Aktion auf die Personalgrenze von 90.000 »zumarschierte«), sondern eben auch andere Missionen, die in das Gebiet der präventiven Diplomatie fallen, nur sind diese nicht so bekannt.

Seit fünf Jahren gibt es das Frühwarn- und Fact-finding-Instrument des Office for Research and the Collection of Information (ORCI), das sich aber nur partiell bewährt hat. Es soll dort helfen, wo regionale Sicherheitsorganisationen (wie z.B. die KSZE) nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen, um Aufgaben der präventiven Diplomatie erfüllen zu können.17 Der Generalsekretär schätzt, daß sich etwa 20% seiner Arbeit auf die vorbeugende Diplomatie konzentrieren wird.18

Zu den nennenswerten Neuerungen innerhalb der UN gehört auch die Bildung eines Departement of Humanitarian Affairs (DHA) des Sekretariats der UN durch den Generalsekretär mit Wirkung vom 1. April 1992, in der die bisherige Organisation der Katastrophenhilfe (UNDRO – Office of the United Nations Disaster Relief Organisation) und andere mit Nothilfemaßnahmen befaßten Abteilungen des Sekretariats aufgingen. Dies alles soll zur Straffung und besseren Koordination – auch mit anderen UN-Organisationen (z.B. WHO, UNHCR, UNDP) und auch internationalen NGOs (insb. IKRK) – dienen. Gerade der Fall Jugoslawiens hat gezeigt, wie wichtig eine solche Stelle sein kann.

Dieses Feld deutet auch schon auf die Erweiterung des Verständnisses von Sicherheit im UN-Kontext und auf die Zunahme der Bedeutung von nicht-militärischen Bedrohungen für die Sicherheit im Nord-Süd-Verhältnis hin. Zu diesen Bedrohungen zählt Boutros-Ghali in seiner Agenda for Peace eine »bunte Mischung« von Faktoren von unkontrolliertem Bevölkerungswachstum, Verschuldung, weltweiter Armut und Migration über ökologische Probleme wie das Ozonloch bis hin zu den bewaffneten Konflikten unserer Zeit.19 Seine Schilderung, die auf ein erweitertes Verständnis von Frieden und internationaler Sicherheit hindeutet, zeigt m.E. zwei Grundsätze: 1. Nicht-militärische Bedrohungen können gewaltmäßige Konsequenzen haben und gehören deswegen zum Tätigkeitsfeld der VN. 2. Die direkten Aktivitäten der Friedenssicherung sind als vorrangig anzusehen, denn Frieden und Sicherheit können als Grundvoraussetzung für ein weiteres Handeln zum Beseitigen von Gewaltursachen gesehen werden.

Die Debatte um die Reform der UNO wird sich aber (mit der für 1995 vorgesehenen »Agenda für Entwicklung«) mittelfristig wahrscheinlich auf ökonomische und soziale Problematiken konzentrieren, deshalb wird es in Zukunft immer notwendiger werden, alternative Vorstellungen für ein erweitertes Verständnis von Sicherheit einzubringen.

Wie könnte ein alternatives System kollektiver Sicherheit aussehen?

Maßnahmen und Grundrisse eines Systems umfassender Sicherheit innerhalb der VN müßten folgende Bereiche umfassen:

  1. Politische und rechtliche Sicherheit

    • Stärkung der Menschenrechtsinstitutionen
    • Verbesserung des Minderheitenschutzes
    • Stärkung der politischen Konfliktregelung (Kapitel VI, Agenda for Peace)
    • Stärkung der Einrichtungen für fact-finding und Frühwarnung
    • Stärkung der Internationalen Gerichtsbarkeit
    • präventive Diplomatie, politische Sanktionen
    • Einschränkung und Kontrolle des Waffenhandels
  2. Militärische Sicherheit

    • Kontrolle des Waffenhandels
    • peace-keeping
    • erweitertes peace-keeping
    • Sanktionen im Sinne von Embargos
    • peace-enforcement, peace making
    • post-conflict peace building
  3. Wirtschaftliche und soziale Sicherheit
  4. Katastrophenschutz
  5. ökonomische Nothilfe (versch. Arten)
  6. Verstärkung und bessere Koordination der Entwicklungsaktivitäten
  7. Reformierung der Weltfinanz- und Handelsorganisationen
  8. Verbesserung der Weltflüchtlingsorganisation unter Leitung des UN-Hochkommisariat für Flüchtlingsfragen
  9. Ökologische Sicherheit

    • bessere Ausstattung des Natur- und Katastrophenschutzes
    • bessere Koordination der Umweltpolitiken der Mitgliedstaaten
    • Einrichtungen von besonderen Programmen beim UNEP

Chancen und Gefahren

Boutros-Ghali hat sich in der Agenda for Peace (Rdnr. 85) für einen kontinuierlichen Reformprozess ausgesprochen, dessen erste Phase 1995 zum 50. »Geburtstag« der UNO abgeschlossen sein soll. Allerdings wurde auch kritisiert, daß er sich überwiegend mit Fragen der internationalen Sicherheit beschäftigt hat und die entwicklungspolitischen Fragen vernachlässigte. Deshalb schlug er eine »agenda for development« (Programm für Entwicklungspolitik) vor, die Anfang 1993 von der Generalversammlung in Auftrag gegeben worden ist. Auf die Bretton-Woods-Institutionen (IWF und Weltbank) und das der Reform des Wirtschafts- und Sozialbereiches wird sich die Diskussion (insbesondere seitens der Entwicklungsländer) in den kommenden Jahren konzentrieren. Sollte sich die Schere zwischen zivilem Haushalt der UNO und militärischem Engagement weiter fortsetzen und mit einer weiteren Vernachlässigung der Entwicklungspolitik einhergehen, so wird es schwierig sein, die UNO vor der Bedeutungslosigkeit und vor dem Zerbrechen am Nord-Süd-Konflikt zu bewahren.

Es gibt momentan fast keine substanziellen politischen und rechtlichen Voraussetzungen dafür, daß sich in der Organisation der UN ein wirklich erweitertes Verständnis von Sicherheit als Grundlage ihrer Politik im Nord-Süd-Verhältnis im Sinne einer grundlegenden Reform durchsetzt. Grund: Ein solches System wäre zu teuer und entspräche nicht den Effektivitätsvorstellungen und Interessen der Industriestaaten. – Es bleibt nur die Hoffnung auf die Agenda für Entwicklung und die »Erd-Charta«, die für 1995 anvisiert wird und zu der bereits viele Vorschläge von Nichtregierungsorganisationen und einzelner Wissenschafler vorliegen (Süd-Kommission, Stockholmer Initiative, Nordic Project). Gerade jetzt ist es also wichtig, daß sich solche Vorschläge in der öffentlichen Diskussion »breitmachen«, die längerfristig auf die Integration wirtschaftlicher Entwicklungsziele, Bekämpfung von Konfliktursachen oder auf möglichst präventives, primär zivil geregeltes Konfliktmanagement orientiert sind.

Anmerkungen

1) Siehe insb. Michail Gorbatschow: Realität für eine sichere Welt – Vorschläge für ein effizientes VN-System, in: Günther Doeker/ Helmut Volger (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Vereinten Nationen. Kooperative Weltpolitik und Friedensvölkerrecht, Opladen 1990, 217-229 und: Towards comprehensive security through enhancement of the role of the United Nations, Aide-mémoire der Sowjetunion vom 22. September 1988 (UN-Dok. A/43/692), in: Günther Doeker/ Helmut Volger (Hrsg.), a.a.O. S.230-234. Zurück

2) Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) (Hrsg.) 1991. Gemeinsame Verantwortung in den 90er Jahren; Die Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltordnung, EINE Welt – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden (Saarbrücken: Verlag Breitenbach). Zurück

3) Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/1719, Antrag … Reform der Vereinten Nationen, vom 4. Dezember 1991. Zurück

4) Vgl. z.B. Wolfgang Ehrhart: UN-Politik: nicht mehr allein der Exekutive überlassen. Der neue Unterausschuß „Vereinte Nationen/ weltweite Organisationen“ des Deutschen Bundestages. In der Regel ist hierzulande (bis auf die SPD) nur eine kritische Begleitung der internationalen Reformdiskussion (unter Einbeziehung von Expertengremien der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen) zu erkennen. Im englisch-sprachigen (und im skandinavischen) Raum sind solche Diskussionen um die Demokratisierung der Weltorganisation wesentlich weiter fortgeschritten als in Deutschland. Zum Teil wird sogar eine Bürgervollversammlung gefordert, die der Generalversammlung beigeordnet sein soll. Siehe z.B. Hanna Newcombe, Proposals for a People's Assembly at the United Nations, in: Frank Barnaby (Hrsg.), Building a More Democratic United Nations, London 1991, S.83 – 92. Zurück

5) Siehe dazu unter anderem: Robert C. Johansen, Lessons for Collective Security, in: World Policy Journal, Summer 1991, S. 561 – 574 u.a. Siehe dazu auch gesamtbezogen und übersichtlich: Lothar Brock, Die weltpolitsche Bedeutung des Golfkrieges, in: Friedensgutachten 1991, FEST/ISFH/HSFK (Hrsg.), Münster/Hamburg 1991, S.105f und: Konrad Klingenburg/ Erwin Müller, Die UNO im Umbruch, in: Friedensgutachten 1992, FEST/ISFH/HSFK (Hrsg.), Münster/Hamburg 1992. Zurück

6) Zur Einführung vgl.u.a.Hans d'Orville, Die Vereinten Nationen im Umbruch. Gedanken zu einer radikalen Strukturveränderung des Wirtschafts- und Sozialbereichs,in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, 10/91, S.8-10; und: Rüdiger Wolfrum, Die Aufgaben der Vereinten Nationen im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 36/91, 30. August 1991, S.3-13. Zurück

7) Vgl. Detlev Christian Dicke/ Hans-Werner Rengeling, Die Sicherung des Weltfriedens durch die Vereinten Nationen. Ein Überblick über die Befugnisse der wichtigsten Organe, Baden-Baden 1975, S.15f. Zurück

8) Vgl. ebenda, S.19ff. Zurück

9) Rüdiger Wolfrum zu Art. 1 Rdnr.2, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, München 1991, S.7. Zurück

10) Vgl. insb. Meinhard Schröder, Völkerrechtsentwicklung im Rahmen der UN, Rdnr.19ff, in: Rüdiger Wolfrum, Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl., München 1991, S.1023ff. Zur Problematik der Chartarevision siehe zur Einleitung insb. Hans G. Petersmann, Die Revision der Charta der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen, 4/1976, S. 112. Zurück

11) Karin Rudolph: Friedenstruppen, Rdnr.1, in: Rüdiger Wolfrum, Handbuch Vereinte Nationen, a.a.O., S.180. Zurück

12) Hier können nicht ausführlich Bedingungen und rechtliche Grundlagen für humanitäre Interventionen erläutert werden. Vgl. dazu z.B. Christopher Greenwood: Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Europa-Archiv, 48.Jg., Folge 4/1993, S.93-106 und Klaus Otto Nass: Grenzen und Gefahren humanitärer Interventionen. Wegbereiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung?, in: Europa-Archiv, 48. Jg., Folge 10/1993, S.279-288. Zurück

13) Vgl. „Bundeswehr-Soldaten in Mogadischu eingetroffen.“ CDU Politiker fordert Burgfrieden im Parteienstreit, in: Süddeutsche Zeitung, 23.7.93, S.1. Zurück

14) Siehe »Agenda for Peace«, a.a.O., Rdnr. 38, 39 in der dargelegt wird, daß der Sicherheitsrat Staaten empfehlen kann ihre Streitigkeiten durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) beilegen zu lassen oder auch der Generalsekretär und auch andere UN-Organe Rechtsgutachten anfordern können. Weiterhin schlägt Boutros-Ghali vor, daß sich die Mitgliedstaaten verpflichten sollen, die Entscheidungen nach Art. 36 des Statuts des IGHs bedindungslos anzuerkennen. Zurück

15) Dieser Gedanke steckt schon in dem Aufsatz von (Sir) Brian Urquhart, The role of the United Nations in the Iraq-Kuwait conflict in 1990, in: SIPRI-Yearbook 1991: World Armaments and Disarmament, London u.a. 1991, S.617-626. Zurück

16) Vgl. z.B. Boutros-Ghali, Empowering the United Nations, in: Foreign Affairs, Winter 1992/93, S. 95. Zurück

17) So die Interpretation von Jürgen Dedring (Konfliktverhütung. Vorbeugende Diplomatie als neue Aufgabe der Vereinten Nationen, in: der überblick, 4/92, S.22), der im UN-Generalsekretariat tätig ist. Zurück

18) Boutros-Ghali, An Agenda for Peace: One Year Later, in: Orbis, 3/1993, S.325. Zurück

19) »Agenda for Peace« A/47/277 und S/24111 vom 17. Juni 1992, Rdnr. 13. Zurück

Steffen Rogalski ist Doktorand am Fachbereich Politische Wissenschaft. Er ist Mitglied im Vorstand des Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa.

Die UN zur Welt-Friedensmacht entwickeln

Die UN zur Welt-Friedensmacht entwickeln

von Fritz Vilmar

Infolge der Zunahme ethnisch-sozialer Konflikte entwickelt sich weltweit, krebsartig ein mit rüstungswirtschaftlichen und rivalisierenden politischen Herrschaftsinteressen sich verbindender, hochtechnisierter Militarismus. Nur eine durch einschneidende Embargo-Strategien ökonomisch und durch hocheffektive Streitkräfte militärisch abschreckend wirkende UN-Friedensmacht der Vereinten Nationen kann ihn eindämmen und vielleicht sogar schließlich beenden.

Dieser Militarismus zeigt sich nicht nur in (Süd-)Osteuropa, sondern in ähnlicher Weise auch in Afrika, in Nahost oder in Indochina. Die als brutale Polizeitruppe im Dienste der Mächtigen wirkenden Militärmaschinen in Südamerika, China etc. stellen ein besonderes Problem dar, das hier nicht erörtert werden kann.

Die Aussage, daß nur eine zentrale Embargo- und Militärmacht der UN den weltweiten – und speziell den osteuropäischen – Militarismus beseitigen kann, mag aus dem Munde eines Friedensbewegten und Friedensforschers provozierend klingen.

Aber erstens ist dies – keineswegs ausreichende, aber unabdingbare – Befriedigungskonzept sozialgeschichtlich gut belegt: Keine (sicher noch sehr relative) Zivilisierung bzw. Befriedung irgendwelcher Regionen wurde je vollbracht ohne die Entwaffnung bzw. Entmilitarisierung vieler »Stämme« und »Stammeshäuptlinge« durch eine mächtigere Zentralmacht. Und zweitens besitzt allein die UN den qualitativ höheren friedensstiftenden Rang gegenüber allen bisherigen »Zentralmächten«, weil sie nicht ihrerseits wieder infolge der Machtkonkurrenz mit anderen »Zentralmächten« neu-unfriedenstiftenden, »imperialen« Militarismus hervorbringen muß.

Aus diesem – und allein aus diesem – Grund sind alle regionalen militärischen »Sicherheits-Organisationen« als vorgebliche Garanten einer »Friedenserzwingung« prinzipiell abzulehnen. Das gilt ganz besonders für die NATO, welche genau diese Selbstrechtfertigungs-Ideologie des »peace enforcement« out of the area, d.h. weit über den eigenen Verteidigungsbereich hinaus, geltend zu machen versucht. Weshalb »ganz besonders« für die NATO? Weil sie das Militärbündnis genau jener westlicher Industriestaaten ist, die sich seit über 200 Jahren den übrigen Teil der Menschheit direkt oder indirekt (durch die von ihnen diktierten Austauschbedingungen) untertan gemacht haben. Sie genießt weltweit keinerlei Glaubwürdigkeit. Und im Golfkrieg haben die NATO-Staaten sogar der Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen schweren Schaden zugefügt, da es den USA gelang, sie vor ihren Karren zu spannen.

Daher können die Vereinten Nationen zur obersten Welt-Autorität auch nur werden, wenn sie sich von der westlichen und vor allem von der US-amerikanischen Vorherrschaft befreit haben, d.h. durch Demokratisierung: Wenn alle Staaten gemäß ihrem Bevölkerungsanteil an der Menschheit Stimmrecht in der Vollversammlung haben, gleichzeitig ein Minderheitenschutz fest verankert ist, und wenn ein – ebenfalls demokratisierter – Sicherheitsrat einer sehr qualifizierten Mehrheit (z.B. einer Vierfünftel-Mehrheit) bedarf, um einschneidende Embargo- oder gar Militärentscheidungen fällen zu können.

Ich verweise hier, was die erforderliche Demokratisierung der UNO betrifft, auf die detaillierten, vorbildlichen Vorschläge, die eine SPD-Arbeitsgruppe im Frühjahr 1991 dem Bremer Parteitag der SPD als Vorbedingungen für die Bejahung eines deutschen Blauhelmeinsatzes vorgelegt hat1. Die SPD zeigte jedoch ein weiteres Mal ihre mangelnde Entschiedenheit in schicksalhaften politischen Grundsatzfragen, indem sie mehrheitlich lediglich einen wesentlich schwächeren Text verabschiedete. Für die Friedensbewegung aber wird es umso mehr zu einer zentralen Zielsetzung, sich für eine Demokratisierung und einen wesentlichen Machtzuwachs der UN auf Kosten nationaler oder regionaler (NATO-)Militärsysteme einzusetzen. Die Frage ist freilich, ob dieses Ziel überhaupt erreichbar ist oder ob es eine Illusion bleibt. Als solche bezeichnete es der langjährige Vorsitzende des »Arbeitskreises Atomwaffenfreies Europa«, der Philosoph Ernst Tugendhat.

Tugendhats möglicher Trugschluß

Ernst Tugendhat leugnete 1987, noch ganz im Banne der Supermacht-Konkurrenz zwischen der USA und der UdSSR, die realistische Denkmöglichkeit eines friedensstiftenden »Weltstaats«, obwohl er langfristig vielleicht der einzige Schutz gegen eine Selbstzerstörung der Menschheit sei: Da die meisten Menschen, nicht zuletzt die Machteliten, jedoch „nicht in der Lage (sind), die langfristigen kollektiven Interessen zu berücksichtigen, wenn ihnen kurzfristige Interessen widersprechen“, und da die Staaten zur Verwirklichung eines »Weltstaats«, sprich einer UN-Friedensmacht, kurzfristig Machtpositionen abgeben müßten, bleibe dieser »unwahrscheinlich« es sei denn, eine Weltmacht setze ihn mit einem vernichtenden Krieg durch: „Der einzige denkbare Versuch, einen Weltstaat zu realisieren, bewirkt also gerade das, was der Weltstaat verhindern sollte“2.

Die negative Dialektik scheint plausibel. Zum Glück aber leidet sie aufgrund der all zu starken soziologischen Vereinfachung, die allen solchen klar scheinenden logischen Gedankenschritten eigen ist, an einem möglichen Trugschluß: Staaten sind nicht gleich Staaten, und »langfristiges« Interesse kann durchaus zum »kurzfristigen« werden. Viele kleinere und mittlere Staaten sind, wie die Geschichte zeigt, sehr wohl bereit, (Militär-)Macht, ja erhebliche Elemente ihres Gewaltmonopols an eine (Bündnis-)Zentrale abzugeben, wenn die von Großstaaten oder von der allgemeinen Anarchie des Krieges aller gegen alle ausgehende Existenzbedrohung greifbar naherückt. Und wenn die Staatengemeinschaft und ihre Militärpotentiale nicht mehr (wie noch zur Zeit des Vortrags von Ernst Tugendhat) als zwei Gravitationsfelder, wie Eisenspäne um die beiden Enden eines Magneten, auf zwei um die Weltmacht konkurrierende Supermächte fixiert sind, sondern wenn nur eine Supermacht existiert, deren Führungsrolle in jeder Hinsicht fragwürdiger wird, so könnte auch das kurzfristige Interesse der Staatengemeinschaft schnell wachsen, angesichts zunehmend selbstzerstörerisch sich entwickelnder Weltverhältnisse anstelle der jetzigen ohnmächtigen Vereinten Nationen eine handlungsfähige föderale Welt-Autorität zu schaffen. Und die zur Zeit noch im Sicherheitsrat privilegierten Staaten: Frankreich, England, Rußland (!), China und vor allem die USA würden ihre Vorrechte kaum aufrechterhalten können, wenn die große Mehrheit der Staaten eine demokratisierte und auf hochgradiger Konsensbildung basierende Entscheidungsstruktur der UN, also deren grundlegende Reform, einfordern würde. So könnte, der Not gehorchend, sehr wohl ein Weltstaat entweder als friedenssichernder Staatenbund oder aber als Bundesstaat objektiv real möglich werden. Die Einwände Tugendhats gegen den Realitätsgehalt der Utopie eines friedensstiftenden Welt-Staatenbundes würden dann obsolet. So schnell ändert Geschichte oft, kaum vorhersehbar, die wie ehern erscheinenden Grund-Annahmen der Politischen Philosophie3.

Weitere Einwände gegen eine UN-Friedensmacht: Zum Beispiel Wolf-Dieter Narr

Auch heute freilich erheben friedensbewegte Sozialtheoretiker noch und wieder ihre Stimme gegen die Delegation eines Gewaltrechts (wenn schon nicht: -monopols) an die Vereinten Nationen. Leider erschöpfen sie sich, statt präzise Argumente vorzutragen, meist in einer allgemein bleibenden Argumentation, exemplarisch bei Wolf-Dieter Narr, der gegen ein selbstgemaltes Schreckensbild eines „Leviathans der Leviathane“ ankämpft4.

Im Rahmen dieses Artikels kann auf die in der Narrschen Polemik versammelten Argumente der Vor-Verurteilung einer föderativen Friedensmacht der UN nicht en detail eingegangen werden. Auf die gravierendsten Fehlschlüsse sei wenigstens verwiesen:

1. Die von Narr und anderen unentwegt den UN-Friedensmacht-Befürwortern unterstellte Leviathan-Idee eines Welt-Superstaats wird von keinem ernstzunehmenden Theoretiker oder Politiker angestrebt und ist im übrigen völlig unrealistisch: Es geht darum, der zur Zeit fast machtlosen Föderation »Vereinte Nationen« soviel überparteiliche Eingriffsmacht zu verschaffen, daß sie ethnischen Massakern und (Bürger-)Kriegen ökonomisch und/oder militärisch möglichst wirksam entgegentreten kann. Ihr eine „despotisch-terroristische“ Tendenz zu unterstellen (S. 75), entbehrt angesichts der gegebenen UN-Struktur jeder realen Basis und spiegelt nur die alte fundamentalistische Staatsphobie der inzwischen alternden Neuen Linken wider.

2. Wer, wie Habermas, eine pazifizierende Weltinstanz angesichts „einer durch extreme Ungleichheit der Lebenschancen bestimmten Weltgesellschaft“ fordert, dem wird von Narr entgegengehalten, doch besser friedenspolitisch gegen diese im wesentlichen von den „westlichen Weltmächten“ geschaffenen Kriegsursachen zu Felde zu ziehen (S. 71f.), statt nach einem Weltstaat zu rufen: Als wenn solche ebenso richtige wie wohlfeile Langfrist-Strategie hier und jetzt die von materieller Not mitverursachten Massaker aus der Welt schaffen könnte; sie ähnelt dem Rat an die Menschheit, besser den FCKW-Ausstoß zu vermindern statt Schutzcremes gegen die vom Ozonloch ausgehende Hautkrebsgefahr zu benutzen. Die zweifellos notwendige „Kritik an der kapitalistischen Wachstumsökonomie und ihrer … machtversessenen Dynamik“ (S. 77) – ein Jahrhundertwerk! – kann uns doch nicht der Aufgabe entheben, gegenwärtig alle Kräfte gegen die militaristische Austragung der (nicht nur, aber auch) von ihr ausgelösten Konflikte zu unternehmen.

3. In den „diversen Weltstaatideen“ kommt nach Narr die „alte Suche nach … der Erlösung von Politik zum Ausdruck“; die Verantwortung soll „auf die…Instanz eines Weltstaats übertragen“ werden (S. 73). Umgekehrt wird ein Schuh draus: Viele Politiker wie (Friedens-)Wissenschaftler haben erkannt, daß die – notwendigerweise parteiischen – nationalen wie regionalen politischen Akteure (allen voran die NATO) weder die Kraft noch die moralische Autorität und Akzeptanz besitzen, die ethnischen Konflikte und Kriege auf dieser Welt zu beenden, und daß heute einzig noch die Vereinten Nationen, sofern sie reformiert werden, diese machtvolle Autorität gewinnen können.

4. Laut Narr machen sich die Befürworter einer UN-Friedensmacht keine Gedanken „über Struktur, Prozedur und Legitimation des herbeigewünschten … Weltstaats (und seiner die UNO verändernden Vorformen)“ (S. 74). Abgesehen davon, daß ich zumindest in der friedenspolitischen Debatte niemanden kenne, der nicht genau diese notwendigen Strukturveränderungen ausdrücklich einforderte: Wenn es in der Tat naive UNO-Gläubige unter den politischen wie den theoretischen Akteuren gibt, dann wäre es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit kritischer Friedensforscher, eben diese Naivität durch konsequente UN-Reformkonzepte zu destruieren, nicht aber mit der Naivität die ganze UNO-Idee zu denunzieren! Statt es sich leicht zu machen und im Blick auf eine notwendige Weltfriedensmacht zu erklären, ihr „Mangel an Kontrollmöglichkeit (solle) nicht thematisiert werden“ (S. 76), wäre genau dies das Geschäft des ansonsten so demonstrativ-engagierten Demokratietheoretikers, wenn er sich auf der Höhe der Zeit und ihrer global gewordenen Notstände bewegen will.

Zunahme der Chaoskräfte

Es könnte sich in wenigen Jahren und Jahrzehnten erweisen, daß die Chaoskräfte die politischen Systeme der heutigen Nationalstaten in einem solchen Ausmaß erschüttern, daß die heute vielen noch utopisch erscheinende Forderung nach sehr machtvollen Eingriffsmöglichkeiten von UN-Autoritäten unmittelbar zur »Tagesfrage«, zur akuten Überlebensfrage wird. Denn es geht nicht nur um die Schwel- und Flächenbrände der ethnisch-sozialen (Bürger-)Kriege und ihre Folgen, die jegliche sozio-ökonomische Stabilität bedrohenden Flüchtlings-Völkerwanderungen, sondern auch um

  • die strukturelle Kriminalität des nationalstaatlich nicht einzudämmenden internationalen Waffenhandels, der diese Kriegsschrecken erst ermöglicht; weiterhin aber auch um
  • die ökologische Selbstzerstörung der Menschheit: ihr Krieg gegen die Natur, sowie um
  • die durch Kapitalismus und endogene Politikunfähigkeit (vor allem: mangelnde Bevölkerungspolitik) erzeugte Massenarmut. Und nicht zuletzt droht
  • die generelle Kriminalisierung und Dehumanisierung der internationalen sozio-ökonomischen Beziehungen (organisiertes Verbrechen; insbesondere Drogenhandel).

All diese schon existenten oder sich entwickelnden Menschheitskatastrophen kann keine nationale Regierung aufhalten – schon gar nicht ein »peace enforcement« der NATO. Nicht idealistische Utopien, sondern die katastrophalen, selbstmörderischen Entwicklungen der Menschheit sind es, die nach einer UN als Weltfriedensmacht schreien.

UN-Wirtschaftsmacht wichtiger als Militärmacht

Nun hat es der Ausgang des Kuwait-Konflikts, des Golfkriegs, gezeigt und es zeigt sich von Tag zu Tag mehr angesichts der zunehmenden Selbstzerstörung Jugoslawiens, daß militärisches Eingreifen der UN (oder von wem auch immer) nur in seltenen Fällen und als »ultima ratio« friedensstiftend sein kann. Daher sollte Friedenspolitik und die Friedensbewegung mit Nachdruck gegen die Überbetonung der notwendigen militärischen Stärkung der UN Stellung beziehen. Bedeutend wirksamer, weniger zerstörerisch und daher politisch wichtiger ist die Stärkung und Effektivierung der UN-Autorität im Interesse ökonomischer Straf- und Embargo-Maßnahmen: die – allerdings militärisch zu sichernde – Verhinderung von Aus- und Einfuhren (speziell: von Öl und Waffen!), die Sperrung von Auslandskonten und Krediten sowie des Kapitaltransfers – also eine stufenweise zu radikalisierende Blockadepolitik. Diese trifft unvermeidlicherweise zwar auch die Bevölkerung, aber sie trifft mittelfristig weitaus wirksamer als alle anderen denkbaren Maßnahmen gerade die ökonomischen, politischen und militärischen Machteliten, die von den eben genannten unmenschlichen Politikformen profitieren bzw. ihre Machterhaltung erhoffen. Erinnert sei nur an Südafrika: Niemand hätte noch vor wenigen Jahren die Aufgabe der Apartheit-Politik seitens einer Mehrheit der herrschenden weißen Bevölkerung zu prognostizieren gewagt, und es steht fest, daß der zunehmende ökonomische Niedergang Südafrikas infolge der – ja keineswegs radikalen – ökonomischen Boykottpolitik wichtiger Länder und der mangelnden Investitionsbereitschaft vieler Konzerne dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat. Keine politisch-ökonomisch-militärische Machtelite eines Landes kann sich in unseren ökonomisch verflochtenen, von Rohstoffen und Handel abhängigen Gesellschaften lange an der Macht halten, wenn ihr die wirtschaftlichen Verbindungswege nach außen verläßlich gesperrt werden. Was aber militärische Einsätze betrifft, so kann ich im Rahmen dieses Beitrags nur drei Essentials formulieren:

Erstens sollten militärische UN-Kräfte, die den Namen des peace enforcement verdienen, primär dazu dienen, mit glaubwürdiger Interventionsmacht beschlossene politische und Wirtschaftssanktionen – insbesondere Ein- und Ausfuhrverbote – auch tatsächlich durchzusetzen, also die Handelswege wirksam kontrollieren. (Gegenwärtig lesen wir doch täglich von Geschäftsleuten, die die Wirtschaftsblockade gegen Serbien erfolgreich zu durchbrechen verstehen!)

Zweitens können direkte militärische UN-Aktionen wahrscheinlich nur entweder durch Blitzaktionen gegen diktatorische Machtübernahmen (Putsche) demokratische und rechtsstaatliche Strukturen retten (ein wegen der notwendigerweise langatmigen UN-Entscheidungsprozesse eher unwahrscheilicher Fall) – oder gegen holocaust-artige bzw. anarchische, von »Milizen« ausgeübte, der politischen Führung entglittene Kriegsverbrechen, wie wir sie derzeit in Jugoslawien erleben, durch lediglich »chirurgische« Eingriffe intervenieren (also durch Zerstörung von Waffenfabriken, Depots, Flugplätzen, schweren Waffen etc.), nicht aber durch u.U. endlose, die Kriegshandlungen eher vervielfältigende Einmischung in die – oft guerillaartigen – Kampfhandlungen vor Ort. Lebenswichtig dagegen kann ihr Einsatz zur kurzfristigen Versorgung der Zivilbevölkerung mit dem zum Überleben Notwendigsten sein – durch bloßen Blauhelmeinsatz ist dies offensichtlich nicht zu garantieren.

Drittens muß es bei dem Grundsatz bleiben, über den in der Bundesrepublik zwar – noch – Konsens besteht, der aber durch Aktionen in der Grauzone – Beteiligung deutscher Piloten an Aufklärungsflügen über Jugoslawien und Entsendung deutscher Soldaten für »humanitäre« Aufgaben nach Somalia – und durch scharfmacherische Äußerungen im CDU-Lager infragegestellt zu werden beginnt: daß aufgrund der schweren Hypothek militaristischer Verbrechen, die Deutschland im 1. und 2. Weltkrieg auf sich geladen hat, deutsche Beiträge im Rahmen friedenserhaltener Aktionen der UN auf absehbare Zeit keine militärischen sein dürfen. Stattdessen würde es deutschen Politikern, aber auch der Friedensbewegung wohl anstehen, den alten Gedanken der »Peace Corps«5, – neuerdings von Pax christi, der Evangelischen Kirche Brandenburgs, von OHNE RÜSTUNG LEBEN u.v.a. wiederentdeckt – zu aktualisieren: Die Aufstellung und Entsendung von freiwilligen »Friedensbrigaden« in Katastrophen- und Notstandsgebiete der Welt – weitaus breiter angelegt und besser ausgestattet als der Tropfen auf dem heißen Stein, genannt »Deutscher Entwicklungsdienst«.

Anmerkungen

1) Vgl. Frankfurter Rundschau vom 19.5.1991; vgl. hierzu auch den am 4.12.1991 von der SPD-Fraktion vorgelegten Antrag zur Reform und Demokratisierung der UNO (Drucksache 12/1719). Zurück

2) Ernst Tugendhat, Überlegungen zum Dritten Weltkrieg, in: DIE ZEIT vom 27.11.1987, S. 76. Zurück

3) Ernst Tugendhat rückte inzwischen in seinem Antwortbrief auf meine Kritik vom 22.11.1992 von seinem damaligen Standpunkt ab: „In der Tat vertrete ich nicht mehr die Auffassung von 1987. Ich habe mich da zuletzt in einem Vortrag …geäußert, er ist im Kursbuch 105…abgedruckt, aber ich stand damals noch zu sehr unter dem Eindruck des Golfkriegs und würde jetzt, nach Jugoslawien usw., die Akzente anders setzen.“ Zurück

4) „Bringt der Weltstaat Frieden?“, in: P. Krasemann (Hg.), Der Krieg – ein Kulturphänomen?, Berlin 1992, S. 58ff. Zurück

5) <>J. F. Kennedy, lange vor ihm Eugen Rosenstock-Huessy mit seinem Konzept eines »Weltfriedensdienstes«; vgl. die Zusammenfassung der Rosenstockschen Konzeption: Fritz Vilmar, Ein Weltfriedensdienst, in: Frankfurter Hefte 12/1958 (!), 841ff.<> Zurück

Fritz Vilmar ist Vorsitzender des Arbeitskreises atomwaffenfreies Europa und Professor an der FU-Berlin (Otto-Suhr-Institut).

Kontrovers: Gäb’s ihn doch, den Schlüssel zum Frieden

Kontrovers: Gäb's ihn doch, den Schlüssel zum Frieden

von Wolf Dieter Narr

An einer Kontroverse Pro oder Contra der Vereinten Nationen als weltstaatsartigem Friedensgaranten soll ich mich beteiligen. Mir ist, selbstverschuldet, der Contra-Part angetragen worden. Soweit, so gut. Mit liegt der argumentative Streit. Er soll gerade die Zuflucht zu allen anderen Konfliktmitteln vermeiden lassen, insbesondere solchen gewalttätiger Art. Darum ist der Streit mit Worten (wenn er nicht »nur« um Worte geht) immer erneut notwendig. Notwendiger denn je.

Doch ist in diesem Falle die Kontroverse nicht falsch arrangiert? Ich soll(te) mich gegen die friedensfördernde Rolle der UNO kehren? Wie albern, schlimmer noch: wie unverantwortlich.

In der gebotenen Knappheit will ich deswegen versuchen, Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den kontroversen Positionen so deutlich und stimmig wie möglich herauszuarbeiten, damit der friedenspolitischen Urteilsfindung am besten gedient werde. Cum studio, also mit aller friedenspolitischen Leidenschaft, aber möglichst sine ira, sprich ohne gar als persönlich addressiert mißverstehbare Polemik (ich selbst habe an anderer Stelle, ohne in der Sache meine Argumente zurücknehmen zu wollen, wohl ein Ferment zu viel Zorn meine argumentative Tinte schwärzen lassen; s. Krell vs. Narr in: links vom April und Mai 1993).

Übereinstimmungen

Beide Seiten der friedenspolitischen und friedensforscherlichen Kontroverse, verkürzt gesprochen: Für oder Wider militärische Interventionen der UNO (oder UNO-legitimiert) widerstreben allem Militarismus. Gerade das Entstetzen darüber, daß menschenvernichtende Kriege immer erneut vom Zaun interessierter Herrschaften gebrochen werden, Bosnien gegenwärtig als schreckende Schrift an der Wand – und die begründete Furcht, daß die Gefahren solcher regionalen Kriege zunehmen, führen verständlicherweise dazu, hektisch nach Wegen aus Kriegsnot und Kriegsgefahr zu suchen.

Beide Seiten wissen, daß Friede positiv mit keinerlei Waffen, auch nicht solchen die Uno-blaubeschirmt gehandhabt werden, bereitet werden kann. Die Bedingungen des Friedens müssen mit sozialen, mit ökonomischen, mit politischen Mitteln geschaffen werden.

Beide Seiten drängen deswegen darauf, daß die weltweiten, lokal und regional sich eigenartig schürenden Konfliktursachen behoben werden. Diese Ursachen sind alle, bald enger, bald loser, mit der Weltwirtschafts-, Weltwohlstands- und Weltherrschaftsordnung gekoppelt. Mittel- und längerfristig muß also alles getan werden, diese einseitig-ungleichen Ordnungen, die Aggressionen stauen und explodieren lassen, zu verändern (die zuletzt formulierten Feststellungen sind allerdings schon strittig. Mutmaßlich nicht zwischen Fritz Vilmar und mir, wohl aber beispielsweise zwischen Ulrich Menzel, Dieter Senghaas u. a. und mir).

Die Übereinstimmung geht weiter

Daß die meisten der heutigen gesellschaftlichen Probleme – wenn dies denn je der Fall gewesen sein sollte –, nicht mehr primär nationalstaatlich gelöst werden können. Daß die nationalstaatliche Organisation und exklusive Orientierung selbst eines der kriegsheckenden Hauptprobleme darstellt.

Der nationalstaatliche Souveränitätsanspruch ist nicht nur sachlich angesichts weltweiter Zusammenhänge und Durchdringungen nicht begründet. Dieser in seinen Fundamenten schwankende, wenn nicht hohle Anspruch, der dauernd kollektive Begrenzungen und Ausgrenzungen mit sich führt, läßt Konflikte herrschaftlich interessiert aggressiv aufladen und nach außen kehren. Außerdem kennen menschenrechtlich-demokratische Werte und diejenigen, die sich auf dieselben beziehen, ohnehin kein Interventionsverbot. Menschen in Ost-Timor oder China oder der Türkei kümmern prinzipiell gleicherweise wie die Nachbarn um die Ecke. Grenzen der Intervention ergeben sich nur, orientiert man sich am menschenrechtlich-demokratischen Konzept, aufgrund des menschenrechtlichen Zentralwerts: physische und soziale Integrität anderer Menschen. Sie folgen aus dem strikten Gebot, die eingesetzten Mittel dauernd mit den menschenrechtlichen Zielen abzugleichen. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Gewalt- und Kriegshemmung (mag sein, daß sich an dieser Stelle wieder Differenzen unter den friedenspolitischen Kontrahenten regten, doch ich lasse dieselben hier außer acht).

Gemäß den weltweiten (negativen, nämlich ökologisch-humane Kosten befördernden und positiven, nämlich Lebensbedingungen bessernden) Zusammenhängen und infolge nationalstaatlich unvermeidlicher Borniertheiten drängen deshalb alle friedenspolitisch engagierten Gruppen darauf, die überregionalen und die weltweiten Institutionen zu stärken, die für ausreichende wechselweise Information, für abstimmende Koordination und für gerechteren Ausgleich zwischen den ungleichen Regionen sorgen. Die NGO's, die nicht regierungsamtlichen Organisationen, genießen deswegen zu Recht wachsendes Augenmerk. Hierbei kommt es sehr darauf an, daß gerade in diesen Organisationen Ziele und Mittel nach innen und nach außen dauernd fein und durchsichtig aufeinander abgestimmt werden. Gleicherweise, ja noch mehr, ziehen deshalb die Vereinten Nationen unser Interesse auf sich. Ihren Möglichkeiten, auch in Richtung nötiger Reformen gelten viele Hoffnungen. Ernst-Otto-Czempiel ist beizupflichten: „Die Welt von heute braucht die internationale Organisation mehr denn je. … Durch Kooperation schafft sie (gemeint ist die UNO, WDN) Information und Gewißheit, Vertrauen und Verlaß und reduziert dadurch die Notwendigkeit nationaler Verteidigungsvorsorge, der nur zu leicht die militärische Gewaltanwendung entspringt. Es ist diese eigentliche und entsprechend wichtige Aufgabe (der „Verhinderung von Gewalt“, so Czempiel wenig später) der Vereinten Nationen, die der westlichen Begeisterung über die jetzt möglichen Gewaltanwendungen zum Opfer zu fallen droht“ (s. E.-0. Czempiel: UNO im Mächtekonzert, in: Der Spiegel Nr. 16 vom 19. 4. 1993, S. 23 und S. 25).

Differenzen

Die Differenzen zwischen den Kontrahenten, die sich in der unterschiedlichen Einschätzung der möglichen und nötigen Rolle der UNO nur besonders deutlich zeigt, gründen in teilweise verschiedenen Wirklichkeitssichten und entspringen anderen Hoffnungen. Beides: Verschiedene Annahmen über das, was wirklich und wirksam sei und auf welches »Fundament« man die eigene Hoffnung zu gründen vermag, beeinflußen die Schlußfolgerung darüber erheblich, ob man antimilitaristisch annimmt, ein spezifischer Militäreinsatz sei um des Friedens willen notwendig oder ob man behauptet, gerade unter den heutigen Umständen habe der Krieg als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln endlich ausgespielt; er wirke in jedem Falle friedenspolitisch kontraproduktiv. Denn beide Positionen sind zukunftsgerichtet zu einem Teil unvermeidlich spekulativ. VertreterInnen beider Konzeptionen argumentieren riskant. Niemand kann vorweg die Wirkungen und die Wirkungen der Wirkungen zureichend einschätzen. In der täglich erforderlichen Antwort auf die Friedensfrage – wie und mit Hilfe welcher Mittel und welchen Verhaltens ist mehr Frieden, mehr organisierte Friedensverantwortlichkeit möglich? –, gibt es keine Gewißheit. Insofern werden wir alle, wenn ich ausnahmsweise den vereinnahmenden Plural der ersten Person gebrauchen darf, immer wieder auf Freuds Antwort auf Einsteins besorgte Frage zurückverwiesen: Ist Friede möglich? Er bedarf, wenn er denn möglich werden soll(te), unserer dauernden, nie nachlassenden Anstrengung. Es gibt keinen revolutionären, institutionellen Akt, der die brennende Friedensfrage ein und für alle Mal beantworten ließe. Mit Fontane zu sprechen: „Die Frage bleibt.“

Die hauptsächlichen Differenzen kristallisieren sich an folgenden Problemen und Einschätzungen aus: a) Gibt es Umstände, unter denen Krieg heute noch als Mittel der Politik gerechtfertigt werden kann? Um den Krieg zu unterdrücken „ja“, sagen die einen, weil es immer Herrschaftsverrückte geben kann, die andere Menschen kriegerisch unterdrücken und ausrotten wollen. Dieselben müssen zur Räson gebracht werden. An ihnen muß mit überlegener kriegerischer Macht ein solches Exempel statuiert werden, daß andere Herrschaftstolle davon abgeschreckt werden, ihre Machtinteressen kriegerisch auszuleben. Politik muß dann unmittelbar nach einem überlegen geführten, möglichst nur »chirurgisch« wirksamen »Militärschlag« sofort wieder das »Kommando« übernehmen.

Diese antimilitaristische Militärantwort ist falsch, sagen die anderen, denen ich mich zurechne. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, zuvor schon nach der Erfindung der »absoluten Waffe«, der Atombombe, und infolge des weltweiten Zusammenhangs ist es überfällig, endlich aus der verhängnisvollen Logik: Politik-Krieg-Politik-Krieg … herauszuspringen. Es ist historisch und gegenwärtig begründbar falsch, anzunehmen, das Kriegsmittel könne von denjenigen Mächten, die es gebrauchen, wie eine Axt eingesetzt werden, die auf den Menschen, der sie handhabt keine charakterlichen Wirkungen zeitigt. Die Politik, für die der Krieg die ultima ratio bleibt, nimmt selbst vorkriegerische Rationalität an. Politik, der die Ausflucht des Krieges bleibt, schöpft nicht alle politisch-gewaltfreien Mittel aus, die zu Gebote stünden – denn insbesondere den Stärkeren bleibt notfalls die Gewalt. Konsequenterweise zerstört der antikriegerische Krieg nicht nur Menschen und Kulturen, er wirkt vorweg zerstörerisch auf das, was als Politik nachfolgt. Gerade in einer eng und enger zusammenrückenden Welt voll von Konflikten käme es entscheidend darauf an, endlich Konfliktlösungen zu inszenieren, die die unendliche Geschichte der Gewalt zu erzählen aufhören ließen. Wer in einer konfliktvollen Welt mehr Frieden will, muß damit anfangen, Konfliktlösungen mit friedlichen Mitteln und ansonsten allem möglichen Einsatz herbeizuführen. Am Beginn notfalls einseitig.

Der von der UNO geführte Krieg

Die andere Qualität erhält in den Augen seiner BefürworterInnen dieser antikriegerische Krieg deshalb, weil er von der UNO geführt werde. Er wird somit zum Nachfahren der ursprünglich religiös untermauerten Lehre vom »gerechten Krieg«. Fritz Vilmar hebt hervor, „allein die UN“ besitze „den qualitativ höheren friedensstiftenden Rang … weil sie nicht ihrerseits wieder infolge der Machtkonkurrenz mit anderen »Zentralmächten« neu-unfriedenstiftenden »imperialen« Militarismus hervorbringen“ müsse. Der friedenspolitische Qualitätssprung wird also der UNO zugetraut, die zu „einer handlungsfähigen staatlichen Welt-Autorität“ umgeschaffen werden soll.

In solcher Argumentation wird die UNO über- und unterschätzt und entwertet zugleich. Sie wird unterschätzt und entwertet, weil die UNO selbst zu Zeiten des Kalten Krieges, die ihre Geschichte bis ans Ende der 80er Jahre bestimmten, dann und gerade dadurch wirksam gewesen ist, daß sie aus der Logik normaler Kriegspolitik und normalen Politikkrieges herausgefallen ist. Czempiel, der oben zitierten Artikel seltsam gebrochen fortsetzt, hat die nötigen Argumente angedeutet. Sobald die UNO im herausragenden Mittel des Krieges die »alte« Politik in einer anderen Institution, eben ihr selbst, fortzusetzen sucht(e), sobald würde sie (und ist dies z.T. schon geworden) unvermeidlicherweise zu einem Organ einseitiger Interessen, das gerade deshalb seine politisch ausgleichende, Frieden hütende und zum Frieden überleitende Aufgabe nicht mehr erfüllen könnte. Reformen müßten vor allem darauf hinausgehen, die UNO in ihrer ausgleichenden Rolle einer menschenrechtlich orientierten Fast-pouvoir neutre zu stärken.

Was aber die Rollenzuweisung an die UNO angeht, sie solle mit ihrem Gewaltmonopol je und je für den Weltfrieden eintreten und regionale Brandherde notfalls mit militärischer Spritze löschen, so bleiben Vilmar und viele andere die Antwort auf eine ganze Kaskade von Fragen weithin schuldig. Präzision, wenigstens spekulative Präzision ist aber hier, wo's um Krieg und Frieden geht, die erste Pflicht und Schuldigkeit aller, die sich dazu äußern:

  • einmal vorausgesetzt, daß demokratisch-menschenrechtlich eine Art Weltstaat wünschenswert wäre, wie soll denn die UNO dazu gelangen, eine solche Weltautorität mit bewehrter Hand auszuüben? Eine radikal anders begründete Organisation wäre dann vonnöten. Es ist indes nicht zufällig, daß gegenwärtig die im und nah um den Sicherheitsrat versammelten Mächte, daß die sieben Weltwirtschaftsgipfelstaaten hauptsächlich bestimmen, wenn militärische Einsätze der UNO oder, die UNO noch mehr mißbrauchend, UNO legitimiert in Frage stehen. Der zweite Golfkrieg bietet hierfür ein geradezu bedrückendes Exempel herrschaftsinteressierter Einseitigkeit unter dem bauschig blauen Legitimationsgewand der UNO. Dieser Krieg hat, wie dies andere tun würden, die UNO nicht gestärkt, sondern in ihrer notwendigen und zugleich notwendig begrenzten, soweit es kriegerische Mittel angeht – Funktion geschwächt;
  • wie soll das immer wieder argumentativ umkreiste und mit verschiedenen Ausdrücken und Abschwächungen versehene Weltgewaltmonopol der UNO zustandekommen? Czempiel, der begrifflich-institutionell unverständlich sogar vom »Gewaltmonopol« des Sicherheitsrats spricht, der Weltstaatspropagandist Rolf Knieper (s. dessen „Nationale Souveränität“, Ffm 1991 und zahlreiche Aufsätze seither), viele andere und schließlich Fritz Vilmar bleiben die Antwort schuldig. Es wird gehofft. Eine solche Hoffnung ist aber fahrlässig, wenn sich keine guten Gründe dafür angeben lassen. Entweder heißt Weltgewaltmonopol (das in der Staatsmetapher enthalten ist), daß dieser Weltstaat a l l e n Nationalstaaten in seinem Mittel physischer Gewaltsamkeit überlegen sei, wie der sich etablierende moderne Staat allen feudalen Restgewalten oder neuentstehenden Machtgruppen; oder dieser Weltstaat ist nichts anderes als das verallgemeinerte Instrument einer herrschaftsstarken Staaten- und Gesellschaftsgruppe. Wie aber müßte und könnte ein solcher Weltstaat in phantasievoller Realistik zustandekommen, der gegebenenfalls in die USA oder in die BRD entgegen dem Willen von deren Regierungen intervenieren könnte? Letzteres müßte er u. a. schon tun, um den von Vilmar zurecht bekämpften Waffenhandel wirkam zu unterbinden. Wenn aber ein solcher Weltstaat nicht angestrebt werden sollte (könnte), dann sollte doch wenigstens unter Intellektuellen und Friedensgesinnten/FriedensforscherInnen darüber Einverständnis bestehen, daß eine in ihrer kriegerischen Interventionsgewalt angereicherte und in ihren Kompetenzen erweiterte UNO nicht viel mehr darstellen kann, als den verlängerten Arm der westlich-nördlichen Staats-Gesellschaften und ihrer in sich ungleichen Schutzinteressen (als eine Art pendent der abwehrenden Asylpolitik);
  • die zuletzt gestellte Frage sei beantwortet; das Weltgewaltmonopol i. S. des über Hobbes qualitativ und quantitativ hinausgehenden Leviathan bestehe (warum wehrt sich Fritz Vilmar gegen diese angemessene Metapher?): Wie stünde es mit Menschenrechten und Demokratie in dieser mit einem superstaatlichen Gewaltmonopol zusammengehaltenen Weltgesellschaft? Käme der „Prozeß der (allemal westlich definierten, WDN) Zivilisation“ dann zu seinem glücklichen Ende? Mit aller historisch möglichen Einsicht gesprochen: gewiß nicht. Demokratien, auch liberale Demokratien, bedürfen sozioräumlicher Umgrenzungen; dieselben verflüchtigten sich in der Globalität. Selbst ein noch so technologisch sublimierter und ausgeweiteter Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß ist nicht vorzustellen, der noch einen Hauch bürgerlicher Teilnahme erlaubte, und der eine die Millionen von Minderheiten schützende Mehrheitsbildung zuließe. Außerdem: Es träfe zu, daß dieser Weltstaat, solange keine außerterrestrischen Mächte entdeckt werden, keine konkurrierenden Götter neben sich hätte; jedoch: gegen den notwendig einseitigen, interessevollen Herrschaftsanspruch dieses prätentiös-hybriden Weltstaats käme es nach menschlich-historischem Ermessen zu einem Dauerkampf derjenigen Kräfte, die von ihm unterdrückt oder nicht zureichend berücksichtigt werden. Die Staatsanalogie führt hier in die Irre. Das kriegsträchtige, aber auch Freiheit sichernde Moment der Staatenpluralität würde aufgehoben. Im Welteinheitsstaat gäbe es kein Entrinnen mehr, keinen exit.

Ich breche platznotgedrungen ab. Dort, wo der UNO, mehr oder minder so wie sie heute besteht, militärische Interventionen zugemutet werden, verfangen sich die Argumente unvermeidlich in habhaften Widersprüchen, wie dies Czempiels Artikel beispielhaft ausweist. Die Wahrscheinlichkeit kriegerisch erhöhter Friedenschancen auf Dauer kann nicht plausibel gemacht werden. Das Gegenteil ist der Fall. Dort aber, wo die UNO zum Weltstaat neu gestaltet werden soll, fehlen alle zureichenden Gründe, die eine solche »Reform« bewirken könnten. Es wird stattdessen deutlich, wie wenig durchdacht diese Weltstaatsidee ventiliert wird. Sie stellt eine schon in ihren Prämissen erkenntliche trügerische Hoffnung dar, die dazu herhalten muß (oder doch dafür mißbraucht werden kann), die Ideologie des gerechten Krieges zu erneuern.

Aktiver, Machtmittel einsetzender Pazifismus

Nur wer redlich genug ist, den Zustand der friedlosen Welt nüchtern zu diagnostizieren und weiß, daß es aus diesen Zustand keine andere Entlastung gibt als durch die Brosamen der eigenen Gedanken und Taten, nur der wird sich aller neuen irdischen Gottsuche verweigern können. Die UNO wie der Gott des Deismus, der ab und an in die Weltuhr greift und dieselbe wieder zum normalen Ticken bringt, wenn sie verschmutzt ist oder ihre Mechanik im Material ermüdet.

Fast mit biblischem Pathos formuliert: Die (irdische) Wahrheit einer konflikthaften Welt, deren Konflikte aber »nur« politisch zu behandeln sind, wird »uns« frei machen. Ein erfahrener, nicht um der eigenen schönen Seele willen, sondern um der Menschenrechte aller willen aktiver Pazifismus eröffnet das Feld der Politik neu. Für Enttäuschungen, Blockaden und gewalthaft ausgetragene Konflikte ist durch unterschiedliche Formen etablierter (Pseudo-)Politik genügsam gesorgt. Entscheidend ist u. a., daß sich diejenigen, die sich der Friedenspolitik verschrieben haben – und dieselbe umfaßt alle Sparten der Politik, sie stellt kein besonderes »Politikfeld« dar – nicht durch die herrschenden Verhältnisse und die von ihnen gerade auch westwärts und vom ach so zivilisierten Westen aus bewirkten kriegerischen Konflikte nicht dazu verleiten lassen, nun spät auch auf kriegerische Konflikte mit pazifistischem Propagandamund zu setzen. Eine solche Verführung liegt nahe. Wer möchte nicht ab und an ob der gewaltsamen Verhältnisse und »außen« und »außeninnen“/“innenaußen« das pazifistische Verstandesherz verlieren. Doch genau darauf kommt es an, zu erkennen, daß es außer einem aktiven, Machtmittel einsetzenden, aber nie kriegerisch-gewaltsame Mittel benutzenden oder befürwortenden Pazifismus keine andere menschenrechtlich-demokratische Möglichkeit gibt. Und vor allem ist einzusehen, daß es den sterblichen Gott auch im institutionellen Gewande der UNO nie geben wird, der uns das Erschrecken über den Krieg und das Engagement gegen den Krieg für die Bedingungen friedlich austragbarer Konflikte abnehmen wird. Wir müssen unsere Menschlichkeit schon in ihrer ganzen Horrortiefe tragen, um die Chance zu besitzen, dieselbe befreiend zu überwinden.

P.S.: Weil ich über keinen Schreibraum mehr verfüge, möchte ich wenigstens anmerken, daß mir der von Fritz Vilmar am Ende angeritzte Gedanke eines anderen »Peace Corps« durchaus wert scheint, weiter verfolgt zu werden (aus den Erfahrungen eines z. T. falschen und hemdsärmeligen Einsatzes westlicher Fürsorge ist dann freilich zu lernen).

Prof. Dr. Wolf Dieter Narr ist Hochschullehrer für politische Wissenschaften an der FU-Berlin.

Sonderorganisationen

Sonderorganisationen

Das UN-System besteht nicht nur aus dem Sicherheitsrat

von Caroline Thomas

Um zu verdeutlichen, daß das UN-System aus mehr als dem Sicherheitsrat und peace-keeping- und Kampfeinsätzen besteht, werden im folgenden kurz einige Sonderorganisationen, ihre Aufgabenbereich, ihr Finanz- und Personalvolumen etc. beschrieben.

Es gibt in den Vereinten Nationen insgesamt 16 Sonderorganisationen, die autonome, staatliche Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit, eigener Mitgliedschaft, eigenem Haushalt und eigenem Personal darstellen. Durch Sonderabkommen sind sie mit der UN verbunden. Demgegenüber unterscheiden sich die sog. Spezial-Organisationen der UNO, wie die UNICEF, das UNDP, das UNEP u.a., die entweder von der Generalversammlung oder vom Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) gegründet wurden und verwaltungs- und haushaltsrechtlich ein Teil der UN sind.

Im folgenden werden die vier Sonderorganisationen ILO, FAO, UNESCO und die WHO, die ein breit definiertes soziales, kulturelles und humanitäres Aufgabengebiet haben, kurz gegenübergestellt, wobei ein Schwerpunkt auf die FAO gelegt wird. Die sog. technischen Sonderorganisationen (ITU, UPU, WIPO u.a.) und die Finanzorganisationen (IMF, Weltbankgruppe, IFAD) werden hier außen vorgelassen.

ILO

Die Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation geht davon aus, daß „der Weltfriede auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden“ kann (Präambel der ILO-Satzung). Daraus folgend ist ihr Ziel die globale Förderung der sozialen Gerechtigkeit durch Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Anerkennung fundamentaler Menschenrechte.

Aufgaben: Die ILO stellt den Entwicklungsländern sog. Technische Hilfe zur Verfügung, indem sie bspw. Experten entsendet, Ausbildungszentren errichtet und für Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sorgt. Sie setzt darüberhinaus international anerkannte arbeits- und sozialpolitische Mindestnormen, wie z.B. zur Arbeitszeit, Entlohnung, Sozialversicherung etc.. Weitere Tätigkeitsfelder sind Forschung, Information und Dokumentation im arbeits- und sozialpolitischen Bereich.

UNESCO

Die Gründung der UNESCO wurde geprägt von der Erkenntnis, daß „Kriege im Geiste der Menschen entstehen“, deshalb müßten óauch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden“. (Präambel der UNESCO-Satzung)

Ziele: Förderung der internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Erziehung, Kultur und Wissenschaft; Wahrung des Friedens durch Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Arbeitsbereiche: Weltweites Forum für Ideen und Erfahrungen zu aktuellen Erziehungs-, Kultur und Wissenschaftsproblemen. Servicefunktion in Form von Sammlung und Weiterverarbeitung von Informationen in ihrem Arbeitsfeld. Förderung der internationalen Zusammenarbeit durch Konventionen und Abkommen.

WHO

Das Ziel der WHO ist ein möglichst guter Gesundheitszustand aller Völker. Gesundheit wird hier aber nicht nur als Fehlen von Krankheit definiert, sondern als „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ (Art. 1, WHO-Satzung). Die Gesundheit wird als Grundrecht aller Menschen und als eine Grundbedingung für den Weltfrieden angesehen.

Aufgaben: Koordinationsstelle für internationale Arbeiten im Gesundheitswesen; Hilfe beim Aufbau von Gesundheitsdiensten; Förderung der Arbeit zur Ausrottung epidemischer, endemischer und sonstiger Krankheiten; Verbesserung der Ernährungssituation, der Wohnverhältnisse, der sanitären Einrichtungen, der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Arbeitsbedingungen.

FAO

Die FAO ist die größte Sonderorganisation der UN. Sie wurde am 16.10.1945 gegründet – es unterzeichneten damals 42 Staaten die FAO-Satzung – und ist seit Dezember 1946 aufgrund eines Sonderabkommens eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Mit der UNDP ist sie die wichtigste Entwicklungsinstitution der UN.

Der Kreis der Mitgliedsstaaten war immer bis auf wenige Ausnahmen mit den Mitgliedsstaaten der UN identisch, d.h. etwa 2/3 der Mitglieder sind Entwicklungsländer. Die Schweiz und Österreich waren auf der einen Seite die Ausnahmen, da sie zwar Mitglied der FAO, aber nicht Mitglied der UN waren bzw. sind. Auf der anderen Seite waren z.B. die Sowjetunion und Südafrika die Ausnahmen. Während Südafrika 1964 aus der FAO austrat, war die Sowjetunion nie Mitglied.

Zielsetzung und Aufgaben

Die Ziele der FAO, die in der Präambel der Satzung festgeschrieben sind, beinhalten:

  • die Hebung des Ernährungs- und Lebensstandards der Völker;
  • die Verbesserung der Erzeugung und Verteilung von Nahrungsmitteln;
  • die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung;
  • und (seit 1965 in der Satzung aufgenommen) die Befreiung der Menschheit von Hunger.

Schon damals gingen die Gründer davon aus, daß eine ausreichende Ernährung eine Voraussetzung für den Weltfrieden darstellt.1

Die Aufgaben der FAO können in zwei Bereiche zusammengefaßt werden:

1. Forschungs- und Dienstleistungen: Die FAO sammelt und veröffentlicht Daten zur Welternährungssituation; Methoden und Lösungsvorschläge werden entwickelt und die Ergebnisse in Form von Gutachten o.ä. zur Verfügung gestellt. Diese Informationen beziehen sich bspw. auf Bodenverbesserungsmaßnahmen, die vernünftige Anwendung von Düngemitteln, Wasserbewirtschaftung, die Verbesserung des Ernteertrags und der Viehwirtschaft, den Technologietransfer und die Entwicklung der Agrarforschung in den Entwicklungsländern.

2. Projektförderung: Die FAO gewährt technische Hilfe für Entwicklungsprojekte in der Dritten Welt. Diese sog. Feldprojekte müssen von den betreffenden Regierungen genehmigt und dann der FAO zur Finanzierung vorgelegt werden. Im Jahre 1988 wurden mehr als 2800 Projekte abgewickelt2, davon etwa 50% für die Region Afrika, die eindeutige Priorität bei der gesamten Arbeit der FAO hat.

Organisation

Die FAO weist folgende drei Hauptorgane auf: Die Konferenz, den Rat und das Sekretariat. In der Konferenz, die alle zwei Jahre zusammentrifft, hat jedes Mitglied eine Stimme. Hier werden die Richtlinien der Tätigkeit, das Arbeitsprogramm und der Haushalt verabschiedet. Der Rat besteht aus Vertretern von 49 Mitgliedsländern, die von der Konferenz auf drei Jahre gewählt werden. Der Rat ist das Exekutivorgan zwischen den Konferenzsitzungen und bestimmt mehrere Nebenorgane und Ausschüsse. Der Generaldirektor wird auf sechs Jahre von der Konferenz gewählt. Er leitet unter der Aufsicht der Konferenz und des Rates die Arbeit der FAO.

Finanzen

Die FAO finanziert sich – wie andere Sonderorganisationen auch – nicht aus dem Haushalt der UN, sondern verabschiedet einen eigenen ordentlichen Haushalt, der sich aus den Mitgliedsbeiträgen zusammensetzt. Diese wiederum richten sich nach dem Beitragsschlüssel der UN, der sich an der Wirtschaftskraft der Staaten orientiert. So werden von den OECD-Ländern etwa 85% des Haushaltsvolumens aufgebracht. Der Mindestanteil (dies betrifft die meisten Entwicklungsländer) eines Staates beträgt 0,01% am Gesamthaushalt.

Der Haushalt der FAO läßt sich in den ordentlichen und den außerordentlichen Haushalt unterteilen. Das Jahresbudget beträgt für das Haushaltsjahr 1992/1993 645,6 Mill. US-$, der Anteil der BRD beträgt 10,90%, das entspricht 70,37 Mill. US-$, bzw. 116,11 Mill. DM; das entspricht in etwa einem Eurofighter bzw. einem ehemaligen Jäger 90.

Hinzu kommt der außerordentliche Haushalt, der für das Jahr 1990 383,6 Mill. US-$ betrug. Dieser Haushalt setzt sich zusammen aus Sonderzuweisungen einzelner Mitgliedsstaaten und Mittel aus anderen Organisationen, wie dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) und der IBRD (Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung/Weltbank) Insgesamt beschäftigte die FAO am 31.12.1990 6370 Angestellte.

Das Problem der FAO, wie auch das der gesamten UN, ist die Zahlungsmoral der Mitgliedsstaaten. Obwohl der Haushalt jedes Jahr von den Mitgliedern verabschiedet wird, kann die Organisation nicht mit den zugesagten Beiträgen kalkulieren. So waren am 30. September 1990 erst 51,94% der zugesagten Beiträge an die FAO bezahlt. Während einige Staaten tatsächlich aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten oder aufgrund anderer Prioritätensetzung ihre Beiträge nicht bezahlen, gibt es andere Staaten, die die Verweigerung der Beiträge als politisches Druckmittel einsetzen. Eine effektive Handhabe gegen Nicht-Zahler gibt es nicht.

Entwicklung

Während die FAO in ihrer Anfangsphase in erster Linie Dienstleistungen übernommen hat (Informationsgewinnung und -weitergabe, Expertenfachtagungen, technische Beratung, Nahrungsmittelnothilfe etc.) trat nach der Dekolonialisierungsphase in den 50er und 60er Jahren (Anstieg der Stimmen der Entwicklungsländer) eine Erweiterung der Aufgaben ein. Parallel dazu gab es eine Steigerung des Finanzvolumens, das insbesondere den außerordentlichen Haushalt betraf. Den Feldprojekten kam eine immer größere Bedeutung zu. Die Finanzierung von Projekten in Entwicklungsländern nahm im Vergleich zu anderen Projekten immens zu. Es wurde eine eigene Entwicklungsabteilung innerhalb der FAO neben den herrkömmlichen Abteilungen für Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft eingerichtet, die z.B. die „Freedom from Hunger Campaign“ (1960) ins Leben rief, aus der resultierend in Deutschland die „Deutsche Welthungerhilfe“ gegründet wurde.

Kritikpunkte, die im Zusammenhang mit einer Reform der FAO benannt werden, sind Mängel im Bereich der Koordination mit anderen Organisationen und die Ineffektivität der Arbeit. So finden viele Feldprojekte z.B. ohne Beteiligung der Bevölkerung der betroffenen Länder statt und werden auch in Bezug auf ihren Nutzen nur mangelhaft überprüft. Darüberhinaus könnte der bürokratische Kopf der FAO »entschlackt« werden, indem z.B. die Arbeit mit anderen Organisationen besser koordiniert wird.

In den 70er Jahren entstand aufgrund der neuen Schwerpunktsetzung ein Konflikt zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern über die Ausrichtung und die Prioritätensetzung der FAO. Während sich die OECD-Länder in erster Linie auf die herkömmlichen Aufgaben der FAO (Informationsgewinnung und -weitergabe, wissenschaftliche Beratung) beschränken wollten und die ineffiziente Mittelverwendung kritisierten, wurde die FAO immer mehr zu einer Organisation mit entwicklungs- und sozialpolitischen Zielsetzungen, und somit zu einer Entwicklungsinstitution für die sog. 3. Welt-Staaten. Während die einen gerade in der Entwicklungsarbeit, den durchgeführten Projekten, die eigentliche Aufgabe der FAO sehen, haben die anderen die Bedenken, daß die FAO sich nur verzettelt, diese Aufgabe besser anderen Organisationen überlassen sollte und sich ihren ursprünglichen Aufgaben zuwenden soll.

Dieser Konflikt eskalierte in den 80er Jahren in der (satzungswidrigen) Zurückhaltung der Beiträge bspw. der USA und ist bis heute nicht ausgestanden.

Deutsche Verantwortung

Auffällig ist eine Gemeinsamkeit all dieser Sonderorganisationen: überall stehen die Lebensbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern im Vordergrund der Ziele und Aufgabenstellungen. Es wird deutlich, daß die sog. Dritte-Welt-Staaten es in diesen Organisationen geschafft haben, Inhalte zumindest mitzubestimmen und ihre Probleme, wie Hunger, Weltwirtschaft, Gesundheitsversorgung, mangelnde Ausbildung usw. in den Vordergrund zu rücken.

Wenn man eine Verantwortung der Bundesrepublik für die Probleme der internationalen Gemeinschaft einfordert und eine Stärkung und Unterstützung des UN-Systems fordert, wäre dann nicht eine konstruktive Mitarbeit der Bundesrepublik in diesen Organisationen mindestens genauso friedensfördernd, wie eine Beteiligung an Militäreinsätzen der UN und ein Sitz im Sicherheitsrat der UN.

UNO-Sonderorganisationen (ohne IMF und Weltbankgruppe)

ILO International Labour Organisation/Internationale Arbeitsorganisation

FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations/Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen

UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization/Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur

ICAO International Civil Aviation Organization/Internationale Zivilluftfahrt-Organisation

UPU Universal Postal Union/Weltpostverein

WHO World Health Organization/Weltgesundheitsorganisation

ITU International Telecommunication Union/Internationale Fernmeldeunion

WMO World Metereological Organization/Internationale Seeschiffahrtsorganisation

Vergleichsdaten ausgewählter Sonderorganisationen1
Ordentliche Haushalte Außerordentliche Haushalte
(in 1000 Dollar) (Ausgaben)
1988/89 1990/91 1992/93 1989 1990 1992/93
FAO 493,6 568,8 645,6 368 856 383 603 645 600
ILO 324,9 330,4 405,7 113 587 138 841
UNESCO 350,4 378,8 444,7 77 550 82 525 230 000
WHO 634,0 653,7 734,9 324 675 321 406 735 000
Zahlungsmoral der Mitgliedsstaaten* Personal**
September 1991 31.12.1990
FAO 51,94 % 6370
ILO 56,97 % 3077
UNESCO 55,59 % 2803
WHO 61,04 % 5391
* Anteil der eingegangen Beiträge für das Jahr 1991 im September 1991 (in Prozent des festgelegten Beitrages/des ordentlichen Haushaltes)

Anmerkungen

1) Hans-Joachim Schütz: FAO – Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, in: Wolfrum, R. (Hrsg.): Handbuch Vereinte Nationen, München 1991, S.132 Zurück

2) Günther Unser: Die UNO, München 1992, überarbeitete 5. Auflage, S.159 Zurück

1) Daten aus: K. Hüfner: Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Strukturen, Aufgaben, Dokumente. Eine Orientierungshilfe für Wissenschaftler, Lehrer und Studenten. Teil 2, Die Sonderorganisationen, Bonn: UNO-Verlag, 1992

Caroline Thomas

Editorial

Editorial

von Caroline Thomas

das System der Vereinten Nationen: für die einen das Heil der Welt, für andere eine Quatschbude und für noch andere eine Ansammlung von Dritte-Welt-Diktatoren. Die UNO hat von allem drei ein bißchen.

Klar ist, daß es zur Zeit keine andere globale Organisation mit gleicher Legitimation und ähnlich positivem Ansatz als Alternative gibt, um die Gewalt in den internationalen Beziehungen einzugrenzen. Klar ist aber auch, daß sich die Vereinten Nationen in den letzten Jahren in ihrer Funktion als neutrale Friedensinstanz selbst desavouiert haben; Stichworte hierzu sind der Golfkrieg II, aber auch Jugoslawien und Somalia. Missionen, in denen sie das Heft aus der Hand gab. Ein fataler Fehler!

Dies war aber nicht nur Resultat der Machtverhältnisse im internationalen System und der Strukturen im Sicherheitsrat, sondern ist auch Resultat der Weigerung der Mitgliedsstaaten endlich als ersten Schritt – solange es noch Streitkräfte gibt – ihre militärpolitischen Souveränitätsrechte an die UN abzutreten. Hieran wird jede grundsätzliche Reform des UN-Systems scheitern, solange sich Nationalstaaten über ihre Streitkräfte definieren.

Ein zweites Problem des UN-Systems: Der reguläre Haushalt der Weltorganisation 1992/93 beträgt 2,39 Milliarden $. Nur der Militärhaushalt eines einzigen Mitgliedsstaates (z.B. Deutschlands) beträgt das 12,5-fache des gesamten ordentlichen Haushaltes der UN; ein Verhältnis von 2,39 zu 30 Milliarden Dollar. Der Jahresbeitrag der Bundesrepublik für die FAO, der wichtigsten Entwicklungsinstitution der UN, ist etwa so hoch wie die Anschaffungskosten eines Jäger 90 bzw. eines Euro-Fighters.

Von diesem von allen Mitgliedsstaaten verabschiedeten Haushalt kann ungefähr mit der Hälfte kalkuliert werden. Von den für den Januar '92 zugesagten Beiträgen waren im Juli '92 erst etwa 60% eingetroffen (“Namen“ werden hier nicht genannt). Den verbalen »Liebeserklärungen« – insbesondere der Bundesregierung – müssen endlich (zivile!) Taten folgen.

Somalia, Solingen und sonstiges aus dem Sortiment deutscher Peinlichkeiten

Die 23 toten Pakistanis, die in Ausübung ihres UN-Auftrages in Somalia ermordet wurden, rissen viele Politiker aus der SPD und FDP und sogar aus der CDU aus ihrem Schlaf. Aber nicht dieses Erwachen soll hier positiv erwähnt werden, sondern ihre vorherige blau-äugige Zustimmung verurteilt werden. Wer heute sagt, er habe nicht gewußt, daß solche »Zwischenfälle« vorkommen können, der behauptet er hätte nicht gewußt, daß Krieg unmenschlich ist.

Im Krieg wird geschossen und gemordet! Und auch UN-Soldaten haben keinen blauen Engel über sich schweben, auch wenn sie ab und an „Engel (von Pnom Penh)“ genannt werden.

Aber zum Glück wächst der Widerstand gegen die „out-of-Area“-Salamitaktik der Bundesregierung. So ist es z.B. begrüßenswert, daß sich sogar der Bundeswehrverband zur Zeit gegen eine Entsendung der Bundeswehr-Soldaten nach Somalia ausgesprochen hat.

Die Bundesregierung ist »Opfer« ihrer eigenen Propaganda. Wer monatelag von „rein humanitären Aufgaben in befriedeten Gebieten“ spricht, braucht sich nicht zu wundern, wenn plötzlich nach der Ermordung der 23 Pakistanis und dem darauffolgenden sog. Vergeltungsschlag selbst in vergleichsweise unkritischen Lagern der Widerstand erwacht.

Es ist Krieg in Somalia und die Bundeswehr mischt mit. Deutsche Soldaten werden wieder zu Tätern und Opfern in einem Krieg in Afrika.

Deutsche Täter prägen aber nicht nur das Bild deutscher Außenpolitik, sondern auch wieder das innenpolitische Bild. Hier sind die Deutschen allerdings ausschließlich (rassistische) Täter. Aber auch hier trägt – ähnlich wie bei der Entsendung deutscher Soldaten nach Afrika – 2/3 des deutschen Parlamentes wieder eine Mitschuld. Die Morde in Solingen wurden einen Tag nach der Verabschiedung des neuen »Abschottungs«-Artikels (auch »Asylkompromiß« genannt) begangen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der wieder verordneten Gewaltbereitschaft nach außen (auch Verantwortung oder Bündnisfähigkeit genannt), und der wiedererstarkenden rassistischen Gewaltbereitschaft nach innen (auch als asoziale Gewaltausbrüche verharmlost)?

Wie sagte doch Kohl in seiner Regierungserklärung 1991: Er möchte das, was in anderen Ländern normal erscheint, auch bei uns wieder ermöglichen: „Gelebten Patriotismus“.

Somalia und Solingen: Gelebter Patriotismus nach innen und nach außen?!

Ihre Caroline Thomas

Abrüstung, Entwicklung, Sicherheit: Eine überflüssige Konferenz?

Abrüstung, Entwicklung, Sicherheit: Eine überflüssige Konferenz?

von Herbert Wulf

Vom 24. August bis 11. September 1987 tagte in New York – nach 1978 und 1982 zum dritten Mal – eine Konferenz der Vereinten Nationen über den Zusammenhang von Abrüstung und Entwicklung. Die Konferenz fand unter dem Vorzeichen statt: im Süden nichts Neues, im Osten ein wenig Bewegung, im Westen einen Schritt zurück.

Bei der Konferenz legte die Gruppe der Entwicklungsländer bekannte und als richtig erkannte Forderungen über die Notwendigkeit der Umschichtung von Ressourcen weg von der Rüstung für Entwicklung vor. Um Unterentwicklung zu überwinden, so lautete der generelle Tenor in zahlreichen Vorbereitungspapieren, müssen im Rüstungsbereich Mittel freigemacht werden. Die Gruppe der Entwicklungsländer forderte: Abrüstung soll durch „konzentrierte Anstrengungen aller Staaten, besonders derjenigen mit den größten Arsenalen“, erreicht werden, in dem „die militärischen Budgets eingefroren und reduziert werden; bis derartige internationale Vereinbarungen abgeschlossen werden, sollen alle Staaten, besonders die am höchsten gerüsteten, Selbstbeschränkung in ihren Militärausgaben praktizieren.“1

Die UdSSR und ihre Verbündeten verzichteten – im Gegensatz zu früheren UNO-Konferenzen – darauf, die Verantwortung der ehemaligen Kolonialherren für die Unterentwicklung zu betonen. Vielmehr stellte die Gruppe der sozialistischen Länder die Notwendigkeit von Abrüstung und Entwicklung im Interesse des Überlebens der Menschheit in den Mittelpunkt. Die Verbindung von Abrüstung und Entwicklung ist für sie ein möglicher Hebel, um Abrüstung in Gang zu bringen. Gleichzeitig aber hieß es in einer Stellungnahme des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen zur sowjetischen Rüstungspolitik unmißverständlich und ohne jede Spur von Selbstkritik: „Die UdSSR investiert keinen einzigen Rubel mehr für diese Zwecke als absolut notwendig ist, um die Sicherheit der sowjetischen Bevölkerung, ihrer Alliierten und Freunde zu sichern.“2

Im Westen gingen einige Regierungen hinter frhere Positionen zurück. Vor allem wollten sie Rüstung und Unterentwicklung in der Dritten Welt behandeln und nicht mit der Kritik der Entwicklungsländervertreter an den riesigen Militärarsenalen und hohen Militärausgaben in der NATO konfrontiert werden.3 Die US-Regierung boykottierte die Konferenz, weil sie den Zusammenhang von Abrüstung und Entwicklung als nicht existent betrachtet. In Wirklichkeit ging es der Reagan-Regierung nicht um eine ernsthafte (und wissenschaftlich auch notwendige) Auseinandersetzung über diesen Zusammenhang. Vielmehr demonstrierte sie – mit Blick auf die innenamerikanische Diskussion – ihre generelle Abneigung gegen die UNO und den UNO-Apparat, die sich früher schon im Austritt aus der UNESCO niedergeschlagen hatte.4 Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland „vertritt die Auffassung, daß Abrüstung und Entwicklung notwendige und eigenständige Ziele verfolgen.“5 Im Klartext: Man ist bereit, über Abrüstung und über Entwicklung zu reden, nicht aber die beiden globalen Bedrohungen der Menschheit in ihrer wechselseitigen Verknüpfung zu sehen. Die französische Regierung – die ursprünglich zur Konferenz eingeladen hatte – ließ 1986 die Konferenz platzen – und war, zusammen mit anderen westlichen Regierungen, nicht mehr bereit, den ursprünglich anvisierten Entwicklungsfond im Schlußdokument zu erwähnen, geschweige denn zu gründen.

Eines der zentralen Ziele verfehlte die Konferenz: die Mobilisierung der Öffentlichkeit. Die Berichterstattung war relativ mager, zum Teil negativ.6 Für die weitere Arbeit und die Durchsetzung der Ziele Abrüstung und Entwicklung ist Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn die Konferenz nicht nur als überflüssige Papierproduktion und Ohnmachtsgeste abgetan werden soll.

Die Idee, Ressourcen umzuschichten und Rüstung bzw. Abrüstung mit Entwicklung zu verknüpfen, hat inzwischen Tradition in der UNO und wurde in verschiedenen Berichten ausführlich behandelte Doch in und außerhalb der UNO ist das Konzept aus praktischen wie inhaltlichen Gründen problematisiert worden. Ein Entwicklungsfond, gespeist durch Abrüstung oder eine Steuer, mit der die Rüstungsanstrengungen belegt würden, mache Entwicklung von Fortschritten in der Abrüstung abhängig und legitimiere damit die verbleibende Rüstung. Auf keinen Fall solle eine weitere UNO-Bürokratie für einen neuen Entwicklungsfond geschaffen werden. Abrüstung und Entwicklung seien jedenfalls für sich große Probleme, deren Lösung durch ihre Verknüpfung nicht leichter werde.

Schließlich dürfe Rüstung und Abrüstung nicht getrennt von Sicherheit gesehen werden. Denn Rüstung und Unterentwicklung bedrohten die internationale Sicherheit. Prompt wurde in der UNO das Paar Abrüstung und Entwicklung durch das Dreieck Abrüstung, Entwicklung, Sicherheit ersetzt. Sicherheit – so heißt es in UNO-Konferenzpapieren – darf nicht als militärisches Konzept verstanden werden.9 Sicherheit beinhaltet auch die Sicherheit, Grundbedürfnisse befriedigen zu können, Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen. So wichtig und richtig diese Erkenntnis ist, so wenig werden militärische Sicherheitskonzepte an diesen Kriterien orientiert.

Die Konferenz war nicht „überflüssig“ – auch wenn keine bemerkenswerten wissenschaftlich-analytischen Fortschritte erzielt wurden. Folgende frühere Ergebnisse wurden bestätigt.10

  • Zwischen Abrüstung, Entwicklung und Sicherheit besteht Interdependenz. Fortschritt in einem Bereich hat positive Wirkungen für die übrigen Probleme.
  • Substantielle Ressourcen, die durch Abrüstung freigesetzt werden können, müssen von den großen Militärmächten kommen. Wie diese Mittel für Entwicklung zugänglich gemacht werden können, darüber besteht keine Einigkeit.
  • Entwicklung darf nicht nur als die Empfängerseite möglichen Fortschritts in der Abrüstung verstanden werden. Fortschritte in der Beseitigung der Unterentwicklung haben auch positiven Einfluß auf Abrüstung.
  • Unterentwicklung, mangelnde oder langsame Entwicklung bedeuten eine nichtmilitärische Bedrohung der internationalen Sicherheit.
  • Entwicklung darf nicht zum Nebenprodukt der Abrüstung werden; Abrüstung kann nicht direkt zur Entwicklung führen. Entwicklung und Abrüstung sind zwar zwei distinkte Prozesse, aber Frieden, Sicherheit und ökonomische und soziale Entwicklungen lassen sich nicht voneinander trennen.
  • Das wichtigste Ziele der Abrüstung ist die Beseitigung der Bedrohung der Menschheit im Nuklearzeitalter. Das größte Problem ist die mangelnde Bereitschaft, ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen, wie es in der UNO-Charta vorgesehen ist.
  • Konversion – die Umstellung von militärischer auf zivile Fertigung – muß gezielt geplant durchgeführt werden, damit die Verwirklichung von Abrüstung und Entwicklung nicht an ökonomischen oder industriell-technischen Hürden scheitert.

Ursachen – weitgehend ausgeklammert

Wenn der krisenhafte Zustand von Rüstung und Unterentwicklung nicht in eine menschenvernichtende Katastrophe umschlagen, sondern stattdessen konstruktiv in Abrüstung und Entwicklung umgekehrt werden soll, müssen die Ursachen für die heutige Situation klar benannt werden. Die analytische und politische Schwäche der UNO-Diskussion, in der zwar deutlich auf den unerträglichen Zustand des gleichzeitigen Anwachsens von Hunger und Elend sowie der weltweiten Rüstungsaufwendungen hingewiesen wird, liegt zum einen darin, daß innergesellschaftliche Triebkräfte für Rüstung und Militarisierung nicht benannt werden. Mit mystifizierenden Bemerkungen bezeichnete der Präsident der Konferenz, der indische Außenminister Natwar Sing, die ruinösen Militärausgaben als „ein Teufel, der in jedes Haus und Heim zu kommen droht und einen langen Schatten auf jegliches menschliche Tun wirft.“11 Natürlich ist allen Konferenzteilnehmern klar, daß der Zustand von Aufrüstung und Unterentwicklung nicht Teufelswerk ist, sondern durch handfeste Interessen, Ängste und bestehende Konflikte perpetuiert wird. Hinter der Ausklammerung innergesellschaftlicher Ursachen steht das politische Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Wenn auch auf der Ebene der Diplomatie diese Nichteinmischung weitgehend eingehalten wird, so steht diese Politik in diametralem Gegensatz zu der geübten Praxis der Waffenlieferungen, die eine klare Parteinahme und wesentliche Beteiligung an der Konfliktaustragung bedeutet.12 Abgesehen von Waffenlieferungen, Militärhilfeangeboten, verdeckten Interventionen usw. sind die Industriegesellschaften offen und direkt an 68 von 170 Kriegen beteiligt gewesen. Das gängige Bild, die Dritte Welt führe untereinander Krieg, während die Industrieländer nur im Frieden lebten, ist falsch.13

Faktisch heißt die Konzeption der Nichteinmischung auf diplomatischer Ebene das Ausklammern eines wesentlichen Teils gewaltsamer Konfliktaustragung: Empirische Untersuchungen zeigen, daß zwei Drittel aller Kriege bzw. militärischen Konflikte innerstaatlich, als Bürgerkriege, ausgetragen werden. Die klassische Form des Krieges – der Krieg zwischen den Staaten – ist dagegen sehr viel seltener geworden.14 Militär und Rüstung als Instrument zur innergesellschaftlichen Herrschaftssicherung, Unterdrückung und systematische Menschenrechtsverletzungen mit militärischen Mitteln werden in der Diskussion ebenso ausgeklammert wie die wirtschaftlichen Antriebskräfte der Rüstung oder die Propagierung von Feindbildern.

Zweitens deutet die allgemein akzeptierte Formel von Überrüstung und Unterentwicklung auf Übereinstimmung hin. Es ist allgemein akzeptiert, daß zuviel gerüstet und die Entwicklung vernachlässigt wurde. Der katastrophale Zustand von Überrüstung und Unterentwicklung ist offensichtlich und läßt keine Zweifel an der Notwendigkeit einer Kursänderung aufkommen. Die Erkenntnis vorhandener Überrüstung und Unterentwicklung setzt explizit oder implizit Vorstellungen über ein Normalmaß von Rüstung und Entwicklung voraus. Es existiert jedoch kein objektiver Maßstab für ein „normales“ Niveau der Entwicklung oder Rüstung, das ausschließlich der Verteidigung dient. Eine Gruppe sogenannter „eminent personalities“, in der vor allem ehemalige Regierungschefs, Präsidenten und Minister vertreten waren, empfahl der Konferenz: „Worauf wir abzielen sollten ist, daß jeder Staat angemessene Sicherheitsinteressen zum Kriterium für die Rüstungsausgaben macht.“15 Auch der Begriff „angemessene Sicherheitsinteressen“ löst das Problem der Überrüstung nicht. Denn die allgemeine Übereinstimmung schlägt in ihr Gegenteil um, wenn vor der eigenen Haustür gekehrt werden soll. Keine Regierung erklärt, sie habe zuviel für Rüstung und zu wenig für Entwicklung getan. Wenn von Abrüstung in offiziellen Erklärungen die Rede ist, ist die Abrüstung der anderen – des vermeintlichen Gegners – oder die in Verträgen vereinbarte Abrüstung gemeint. Konkrete, unabhängige nationale Maßnahmen als erste Schritte auf dem Weg aus der Krise bleiben die Ausnahme.

Interdependenz in Krise und Katastrophe

Um Erwartungen und Hoffnungen nicht zu enttäuschen, bedarf es der weiteren analytischen Durchdringung des Zusammenhangs von Abrüstung und Entwicklung, bevor etwa voreilig konkrete entwicklungs- oder abrüstungspolitische Empfehlungen gegeben werden. In guter Absicht, aber zu vordergründig werden die politisch attraktiven Ziele von Abrüstung und Entwicklung proklamiert. Nur wenn die Hindernisse auf dem Weg zu Abrüstung und Entwicklung klar erkannt werden, ist es möglich, die fortschreitende Aufrüstung und Unterentwicklung zu überwinden. Weder in der wissenschaftlichen Diskussion noch in politischen Auseinandersetzungen besteht Zweifel daran, daß sich Unterentwicklung und Rüstung gegenseitig verstärken. Rüstung führt zu Unterentwicklung in der Dritten Welt und zu wirtschaftlichen Verzerrungen in den Industrieländern. Der Einsatz knapper finanzieller und menschlicher Ressourcen für Rüstung, die für Entwicklungsaufgaben verlorengehen, ist hinlänglich belegt; der Ressourcenentzug ist das zentrale Argument in der Diskussion innerhalb und außerhalb der UNO. Sechs Prozent des Bruttosozialproduktes – so heißt es im Schlußdokument – gehen in die Rüstung, zwanzig mal mehr als in die staatliche Entwicklungshilfe. (Zum Verhältnis Öffentlicher Entwicklungshilfe und Militärausgaben siehe Schaubild). Negative indirekte Effekte der Rüstung verschärfen das Problem. So vor allem die technologische Bugwelle, die durch Rüstungsimporte und Rüstungsproduktion hervorgerufen wird; Rüstungstechnologie etabliert in Entwicklungsländern industrielle Strukturen, die dem Entwicklungsproblem nicht angemessen sind und zu wirtschaftlichen Verzerrungen führen. Darüber hinaus beeinflussen große Rüstungsanstrengungen (besonders Rüstungsimporte) das Entwicklungskonzept nachhaltig. Entwicklungsländer greifen zur Tilgung der durch Rüstung mit verursachten Schulden auf den Export nicht erneuerbarer Ressourcen zurück – so beispielsweise auf den Abbau tropischer Wälder mit entsprechenden langfristigen Folgen für das Klima auf dem gesamten Globus.16

So wie Rüstung die Unterentwicklung verstärkt, so verursacht umgekehrt Unterentwicklung weitere Aufrüstung. Von der „Bombe Armut“, die die Erde ebenso nachhaltig zerstören kann wie die Atombombe, ist gelegentlich die Rede.17 Statt wirtschaftliche und soziale Konflikte mit Reformen zu bekämpfen Für die häufig der politische Wille, aber auch die finanziellen Mittel fehlen), werden oft die Streitkräfte eingesetzt, um das Unruhepotential zu kontrollieren. Zahlreiche Beispiele zeigen, daß Rüstung und Militarisierung nicht immer zur Herrschaftsstabilisierung führen (so der Iran unter der Herrschaft des Schah); umgekehrt zeigen andere Beispiele (so Haiti unter der Herrschaft der Duvals), daß mit relativ geringem finanziellen Aufwand Repression über lange Zeiträume wirksam aufrechterhalten werden kann.

Abrüstung und Entwicklung: Konkrete Utopie oder utopische Erwartung

Jedes plausible Argument spricht für eine Trendumkehr. Die Verbindung Abrüstung und Entwicklung läßt die Verwirklichung konkreter Utopien erwarten. Die Hindernisse auf diesem Weg sind jedoch erheblich, manche Erwartung bleibt utopisch. Denn Abrüstung führt nicht notwendigerweise zu Entwicklung. Die Verwendung im Rüstungsbereich eingesparter finanzieller Mittel zur Dämpfung oder Lösung des Schuldenproblems wäre zweifellos ein willkommener und entwicklungspolitisch sinnvoller Schritt. Aber: Erstens ist eine quasi automatische Umschichtung der Mittel aus der Rüstung hin zur Entwicklung sicher nicht zu erwarten. Vielmehr dürfte – angenommen, Ressourcen würden durch Abrüstung freigesetzt – ein Teil der freiwerdenden Finanzen unabhängig von Entwicklungsaufgaben verwendet werden (z.B. zur jeweils nationalen Haushaltskonsolidierung). Zweitens ist ein großer Teil der durch Abrüstung frei werdenden Produktionsmittel (überzüchtete, barocke Rüstungstechnologie) für die Lösung von Entwicklungsproblemen ungeeignet, teils auch schädlich. Nicht Entwicklung, sondern eine ungeeignete und unangepaßte Enklaven-Industrialisierung mit kapitalintensiver, komplexer Technologie könnte eine Folge sein, wenn nicht entwicklungspolitische Kriterien bei diesem Transferprozeß angelegt werden. Andererseits aber kann heute militärisch genutzte Technologie auch eine Funktion für Entwicklung haben (so beispielsweise Satellitentechnologie für Katastrophen- oder Erntevorhersagen, wenn sie nicht wie bisher als Herrschaftsinstrument eingesetzt wird). Drittens: Solange Entwicklungspolitik vornehmlich oder auch ausschließlich als Rohstoffsicherungs- und Exportförderungspolitik der Industrieländer verstanden wird, solange eine privilegierte Elite in Entwicklungsländern „Entwicklung“ im partikularen Eigeninteresse definiert, werden zusätzliche Entwicklungsmittel den Nord-Süd-Gegensatz und die innergesellschaftlichen Ungleichgewichte verschärfen und Unterentwicklung perpetuieren. Viertens: Zahlreiche Entwicklungshindernisse bestehen unabhängig von der Rüstungsdynamik. (Z.B. die EG-Agrarmarktordnung oder Verwüstung und Versteppung aufgrund von Holzraubbau). Abrüstung ist kein entwicklungspolitisches Allheilmittel. Abrüstung ist eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für Entwicklung.

Ebenso problematisch ist auch die umgekehrte Kausalbeziehung und Erwartung, daß Entwicklung den Abrüstungsprozeß befördert. Die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme könnte Regierungen veranlassen, abrüstungsbereiter zu werden und die Sicherung des instabilen Status quo nicht mehr oder nicht mehr nur durch militärische Anstrengungen erhalten zu wollen. Doch Rüstung hat auch andere Ursachen: Aggressionen von außen abzuwehren, Machtdemonstration, Machtprojektion, Einflußzonen zu sichern, Prestige usw. Diese Ziele werden durch Entschärfung oder Beseitigung der Unterentwicklung nicht hinfällig.

Perspektiven

Zur Zeit besteht nur wenig Anlaß für die Hoffnung, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung in Frieden in absehbarer Zukunft schaffen zu können. Wissenschaft und Politik sind in der Lage, aus der jetzigen Situation der allgemeinen Gefährdung sämtlicher Lebensbereiche die Apokalypse zu prognostizieren. Es gelingt auch – zumindest in Ansätzen – die positive Utopie einer friedlichen und gerechten Welt zu entwicklen. Es mangelt aber an der Planung und vor allem Durchsetzung realistischer und effektiver Maßnahmen, um auf dem Weg weg von der Katastrophe hin zur Utopie die erste große Etappe zu bewältigen. Nicht einmal das erforderliche Krisenmanagement funktioniert. Betrachtet man den vorfindlichen weltweiten Trend zur Aufrüstung und Unterentwicklung, so fällt es schwer, politische Ansätze dafür zu erkennen, daß die bislang in die Rüstung fließenden Ressourcen für Entwicklungsaufgaben umgeleitet werden. Dies hat die UNO-Konferenz bestätigt. Ein erster wichtiger, angesichts des globalen Problems dennoch aber nur bescheidener Schritt könnte die in Aussicht genommene Abrüstung der Mittelstreckenraketen sein. Für das weltweite Problem von Rüstung und Unterentwicklung ist die potentielle Vereinbarung jedoch nur dann von Bedeutung, wenn aus dieser ersten Übereinstimmung eine Abrüstungsdynamik entsteht. Auch die Friedensbemühungen in Mittelamerika sind hoffnungsvolle Zeichen. Doch hier zeigt sich, welch fatale Wirkungen die Intervention von außen hat und wie sehr der Friedensprozeß vom guten Willen der Vereinigten Staaten abhängt. Positiver sieht das wissenschaftliche Spektrum aus (auch das haben die Vorbereitungspapiere zur UNO-Konferenz bestätigt); denn die Analyse der Probleme und Hindernisse zeigt Wege zur Trendumkehrung auf.

So paradox es klingen mag, um die großen internationalen Ziele von Abrüstung und Entwicklung zu erreichen, sind – neben den jetzt laufenden internationalen Bemühungen – auch substantielle nationale Maßnahmen erforderlich und möglich, um Blockaden im internationalen Bereich zu überwinden und handlungsfähig zu werden. Für die Bundesrepublik Deutschland heißt das, mit Abrüstung und Entmilitarisierung dort zu beginnen, wo schon vor Erzielung internationaler Absprachen (und teils über das Aktionsprogramm der UNO-Konferenz hinaus) Schritte möglich sind, ohne die eigene Sicherheit zu gefährden. Dazu gehört z.B. eine strikte Einhaltung bestehender Rüstungsexportgesetze, ein Verbot von Rüstungswerbung, die Unterstützung regionaler Initiativen zur Kontrolle der Rüstung durch die bevorzugte Behandlung in der Entwicklungszusammenarbeit, das Einfrieren und Kürzen der Rüstungsausgaben, die Unterstützung der Verwirklichung des in der UNO-Charta vorgesehenen Systems kollektiver Sicherheit und ähnliches. Diese Maßnahmen im Rüstungsbereich dienen zumindest dazu, das Ziel Abrüstung als die notwendige Bedingung für Entwicklung schrittweise einlösen zu können. Voraussetzung für eine umfassendere Politik der Abrüstung und Entwicklung ist jedoch auch eine Umorientierung der Entwicklungszusammenarbeit, die auf partnerschaftlicher Kooperation mit den Entwicklungsländern beruht.

Anmerkungen

1 Zitiert nach The United Nations General Assembly and Disarmament 1986, New York 1987, S. 196.Zurück

2 Institute for World Economics and International Relations, Military Spending and Economic Structure, With Reference to Centrally-Planned Economies UNO-Dokument A/CONF.130/PC/INF/12, 24. April 1986, S. 1.Zurück

3Im Vorfeld der Konferenz hatte die indische Regierung beispielsweise – ohne die eigene Aufrüstung zu erwähnen – deutlich darauf hingewiesen, „daß nicht alle Mitgliedstaaten in gleichem Maße verantwortlich für das hohe Niveau der globalen Militärausgaben“ seien. Siehe: The United Nations General Assembly on Disarmament 1986, a.a.O., S. 198.Zurück

4 Ausgerechnet die US-Regierung argumentierte, angesichts des Haushaltsdefizits der UNO sollten die vorgesehenen 1,3 Millionen Dollar Kosten der dreiwöchigen Konferenz eingespart werden.Zurück

5 Zitiert nach epd-Entwicklungspolitik 16/1987, S. 14.Zurück

6 Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit schickte auf Anfrage mit der Bitte um umfassende Dokumentation lediglich neun Berichte überregionaler deutscher Zeitungen, die sich mit der UNO-Tagung beschäftigten. Die FAZ überschrieb einen kritischen Leitartikel vom 15. September 1987 folgendermaßen: „Eine überflüssige Konferenz“.Zurück

7 Economic and Social Consequences of Disarmament (United Nations Publication, Sales No. E.62.IX.1); Economic and Social Consequences of Arms Race and of Military Expenditures (United Nations publication, Sales No. E.72.IX.16); Disarmament and Developement (United Nations publication, Sales No. E.73.IX.I); Economic and Social Consequences of the Arms Race and of Military Expenditures (United Nations Publication, Sales No. E.78.IX.I); The Relationship between Disarmament and Developement (United Nations publication, Sales No. E.82.IX.I); and Economic and Social Consequences of the Arms Race and of Military Expenditures (United Nations Publication, Sales No. E.83.IX.2).Zurück

8 Zu der langen Geschichte derartiger Vorschläge in der UNO, deren erste Ansätze bis 1950 zurückreichen, siehe United Nations – Disarmament Yearbock, New York 1986, S. 357 ff. sowie das Konferenzpapier, Consideration of Ways and Means of Releasing Additional Resources Through Disarmament Measures, for Developement Purposes, in Particular in Favour of Developing Countries, UNO Dokument A/CONF.130/PC/INF/8.Zurück

9 Siehe Review of the Relationship Between Disarmement and Developement in All it Aspects and Dimensions With a View to Reaching Appropriate Conclusions, UNO-Dokument A/CONF.130/PC/INF/6. Dazu bereits die Diskussion während der Konferenz 1982, dokumentiert in: Herbert Wulf (Hg.), Aufrüstung und Unterentwicklung. Aus den Berichten der Vereinten Nationen, Reinbeck 1983.Zurück

10 SieheSchlußdokumentA/CONF.130/PC/INF/21.Zurück

11 Zitiert in Frankfurter Rundschau vom 26. August 1987Zurück

12 Die doppelte Moral dieses Verhaltens zeigt sich beispielsweise im Sicherheitsrat der UNO, in dem Mitte 1987 auf einen Waffenstillstand im Golfkrieg gedrängt wird. Gleichzeitig aber sind die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates China, Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA für mehr als die Hälfte der Waffenlieferungen in diese Region verantwortlichZurück

13 J. Gantzel, J. Meyer-Stamer, Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1984 München 1986. Eine Interpretation dazu in: U. Menzel, D. Senghaas, Europas Entwicklung und die Dritte Welt, Frankfurt 1986 S. 240-252.Zurück

14 Ebenda.Zurück

15 Declaration by the Panel of Eminent Personalities, Disarmament and Developement, United Nations New York 1986, S. 4.Zurück

16 Im Brundtland-Bericht werden sehr eindrucksvoll die globalen Verpflichtungen verschiedener Krisen dargestellt. World Commission for Ecology and Developement, Our Common Future, Oxford University Press, 1987Zurück

17 William Clark, „Das Mexiko-Syndrom“, München 1986, zitiert in: J. Betz, V. Matthies, Dritte Welt und Weltfrieden, in: Deutsches Übersee Institut (Hg.), Jahrbuch Dritte Welt 1987, München 1987, S. 27Zurück

Dr. Herbert Wulf ist Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Ohne Perspektive?

Ohne Perspektive?

Die OSZE zwischen Stagnation und Krise

von Kurt P. Tudyka

Die OSZE sucht seit einigen Jahren nach einer Schärfung ihres Profils und ihrer Rolle neben der NATO, der EU und der Russischen Föderation. Diese kann in der regionalen Ausweitung in den Mittelmeerraum und nach Asien, der Verschränkung mit der UNO und der stärkeren Hinwendung zum Thema »Klimaschutz« bestehen.

Dem Anschein nach funktioniert die OSZE im Großen und Ganzen auf bekannte Weise (vgl. Tudyka 2007). In Wien treffen sich jeden Mittwoch das Forum für Sicherheitskooperation und jeden Donnerstag der Ständige Rat. Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, der Repräsentant für die Freiheit der Medien oder die Leiter der Missionen rapportieren, Außenminister geben Erklärungen ab, das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte beobachtet Wahlen; der Ministerrat kam turnusgemäß 2005 in Ljubljana und 2006 in Brüssel zur Beschlussfassung zusammen und hat sich 2007 in Madrid sowie 2008 in Helsinki verabredet. Alles erscheint routinemäßig, doch reibungslos drehten sich die Rädchen des OSZE-Getriebes nur zeitweise seit 1999, dem Jahr des letzten Gipfeltreffens, und wenn sie sich auch fleißig drehten, bewegten sie zu wenig.

Krisenbewältigung?

Als Slowenien 2005 den Vorsitz übernahm, hatte die schon lange schwelende innere Krise der OSZE ein ihre Existenz gefährdendes Stadium erreicht. Der Haushalt war noch nicht verabschiedet, Uneinigkeit bestand über die Höhe der Beitragsschlüssel, Personalentscheidungen waren blockiert. Ein weiteres Mal hatte die Zerstrittenheit der Teilnehmerstaaten auf dem vorangegangenen Ministerrat in Sofia am 6./7. Dezember 2004 die Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung verhindert; manche von ihnen hatten die Tätigkeit, ja selbst Zweck und Sinn der Organisation angefochten und in Frage gestellt. „Eine hochrangige Debatte über Bedeutung und Fairness der Arbeit der OSZE hatte das Gefühl einer tiefen politischen Krise entstehen lassen“, verriet der slowenische Außenminister Dimitrij Rupel als Amtierender Vorsitzender später rückblickend selbst (Rupel 2005, S.87).

In seiner Antrittsrede vor dem Ständigen Rat im Januar 2005 kündigte er schlagwortartig einen Dreiklang »Revitalisieren-Reformieren-Rebalancieren« als Priorität für seine Amtsführung an. Vornehmlich verstand er unter »Revitalisieren« ein Einvernehmen über die Finanzen zu vermitteln, unter »Reformieren« eine Stärkung des Sekretariats und des Verhältnisses zwischen dem Vorsitz und dem Generalsekretär sowie eine neue Regelung der Beziehungen zu den Missionen zu erreichen und unter »Rebalancieren« eine andere Gewichtung den drei Dimensionen der OSZE – der militärpolitischen, der wirtschaftlich-ökologischen und der menschlichen – zu geben.

Als besondere Aufgaben nannte Rupel eine Inangriffnahme der Probleme des Überschusses an konventioneller Munition, von Klein- und Leichtwaffen, eine Erörterung der veränderten Militärdoktrinen und die Entscheidung über das Konzept zur Grenzsicherung und -verwaltung, eine Konferenz zur Sicherheit der Energie und größere Aufmerksamkeit gegenüber dem Menschenhandel, vor allem dem Handel mit Kindern. Im Unterschied zu seinem Vorgänger wollte der slowenische Vorsitz sich nach der Konsolidierung der politischen Verhältnisse in der Ukraine in erster Linie den regionalen Problemen auf dem Balkan, insbesondere im Kosovo, widmen. Indem er die dort schon bisher betriebene Arbeit – Flüchtlingsrückführung, Schutz nationaler Minderheiten, Aufbau von Justiz, Polizei und Wahlsystem – aufzählte, war nicht ersichtlich, ob es ihm auch um eine Akzentverschiebung oder gar Verlagerung der OSZE-Präsenz nach Mittelasien ging, wie sie andere, z.B. sein Vorgänger, angeregt hatten. Denn eher nachrangig sprach er die anderen Konfliktherde und Krisengebiete an, so im Südkaukasus (Berg-Karabach, Georgien mit Südossetien und Abchasien), in Moldau und allgemein in Mittelasien, wobei er erst an letzter Stelle das weitere Streben dort nach Demokratisierung nannte. Eine besondere Bedeutung maß er der Berufung des »Rates der Weisen« bei, die er – wie auf dem Treffen des Ministerrats in Sofia gerade beschlossen – vornehmen wollte. Schließlich wollte Dimitrij Rupel die Aufmerksamkeit der OSZE auch auf Regionen außerhalb der Mitgliedsländer richten, indem sie erneut die Organisation der Wahlen in Afghanistan unterstützte und sich in den palästinensischen Gebieten engagierte.

Begrenzte Erfolge des »slowenischen Jahres«

Das Programm ließ die Absicht erkennen, der Russischen Föderation und anderen GUS-Staaten entgegenzukommen und vor allem ihrer Kritik keine neue Nahrung zu geben. Der slowenische Vorsitz war in dem Bereich, den er »Revitalisierung« der OSZE genannt hatte, erfolgreich. Es gelang ihm, den laufenden und den folgenden Haushalt durch den Ständigen Rat verabschieden zu lassen und einen Beschluss über die Höhe der jeweils fälligen Beitragszahlungen herbeizuführen. Er konnte eine Reihe von Neubesetzungen vornehmen. Das »Gremium hervorragender Persönlichkeiten« oder der »Rat der Weisen« konnte sich nicht nur konstituieren und seine Tätigkeit aufnehmen, sondern diese auch wie vorgesehen abschließen und einvernehmlich einen Bericht mit Empfehlungen vorlegen, der vom Ständigen Rat zur Grundlage für die Reform der OSZE angenommen wurde. Ein erstes Ergebnis konnte dem Ministerrat in Brüssel im Dezember 2006 vorgelegt und durch ihn beschlossen werden.

In der Frage von Berg-Karabach war 2005 zum ersten Mal seit Jahren die Rede von einer beginnenden Annäherung zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Präsidenten beider Länder trafen sich während des Gipfeltreffens des Europarates in Warschau und während des GUS-Gipfels in Kazan. Der »Prager« Berg-Karabach-Prozess konnte weitergeführt werden; allerdings wurde er durch beunruhigende Aufrüstungsprogramme beider Seiten flankiert. Auch das Verhältnis zwischen Georgien und der Russischen Föderation hatte sich anscheinend entspannt; beide Länder schlossen ein Abkommen über die Aufhebung der russischen Militärbasen in Georgien ab. Ein Abzug hat im Mai 2006 tatsächlich begonnen. In der Moldau-Frage schien man wieder kurz vor einem Übereinkommen. Umso größer war die Enttäuschung nach fünf arrangierten Gesprächen zwischen den Präsidenten, an denen sich als Vermittler neben der OSZE auch die Russische Föderation und die Ukraine beteiligt hatten.

Trotz seiner immensen und oft geradezu hektisch anmutenden Reisetätigkeit und eines großen diplomatischen Einsatzes war der slowenische Außenminister außerstande, auch nur einen der »eingefrorenen Konflikte« einer stabilen Lösung zuzuführen. Ebenso wie im Kosovo zwischen Serben und Albanern blieb die Lage in Georgien mit Südossetiern und Abchasen, in Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan und in Moldau mit der Transnistrien-Region angespannt. Hinzu kamen zwei unerwartet aufbrechende neue Konflikte in Mittelasien, in Kirgisien und in Usbekistan. Im März 2005 brach in Kirgisien ein Aufstand aus; der kirgisische Präsident wurde abgesetzt. Es kam zu einem Regimewechsel. In Usbekistan wurde eine Demonstration der Opposition durch die Regierung mit Waffengewalt erwidert; es gab zahlreiche Tote. Einer Untersuchung durch die OSZE verschloss sich die Regierung Usbekistans. Der Moskau-Mechanismus wurde angerufen, doch er war gescheitert. Kritik war an den Wahlen in Kasachstan und Aserbaidschan zu üben.

Am Ende des »slowenischen Jahres« während des Treffens des Ministerrats in Ljubljana am 5./6. Dezember 2005 war erkennbar, dass die Krise der OSZE eingedämmt worden war. Der slowenische Vorsitz war sichtlich stolz auf das Resultat, das er während seines Amtsjahres erreicht hatte. Doch wie in den beiden Vorjahren endete der Ministerrat erneut ohne eine gemeinsame Schlusserklärung. Wieder ging es um die umstrittene Verpflichtung der Russischen Föderation auf dem Gipfeltreffen 1999 in Istanbul, die Truppen aus der von Moldau abtrünnigen Region Transnistrien abzuziehen. So machte die OSZE Ende 2005 einen widersprüchlichen Eindruck. Einerseits schien die drohende Lähmung ihrer Arbeitsfähigkeit gebannt, andererseits blieben die Konfliktherde weiterhin bestehen. Erreicht wurde eine Stabilisierung nach innen; die Atmosphäre war verbessert worden. Beachtlich waren die entsprechenden substanziellen internen Leistungen. Eine Beruhigung war also eingetreten. Die Bekenntnisse zur Reform der Organisation hatten die Gegensätze verringert, man hatte eine gemeinsame Plattform gefunden, Reform war kein Tabu mehr.

Ehrgeizige Ziele des belgischen Vorsitzes

Die Regierung Belgiens, das den Vorsitz der OSZE für 2006 übernahm, erarbeitete eine beispiellose zwanzigseitige Erklärung ihrer Grundsätze und Absichten, die sie noch vor dem Amtsantritt sogar dem belgischen Parlament unterbreitete. In der Erklärung wurden vier Prioritäten für die OSZE-Arbeit bestimmt, die teilweise an den Vorhaben der letzten Amtierenden Vorsitzenden anschlossen. Erstens wollte Belgien aktiv die Reform der Institutionen der OSZE betreiben. Zweitens wollte auch der belgische Vorsitz die Dimensionen anders gewichten; dazu wollte er die wirtschaftliche Dimension stärken und sie analog der Zusammenarbeit im Stabilitätspakt für den Balkan gestalten. Konkret sollte es dabei besonders um den Transportsektor gehen. Transport sollte auch als »Sicherheitsrisiko« (hinsichtlich Terrorismus, Netze illegaler Migration, Menschenhandel und Drogenschmuggel sowie Umweltbedrohungen) betrachtet werden. Drittens sollten der Kampf gegen die internationale Kriminalität (Kinderhandel) und die Förderung des Rechtsstaates (Folterverbot, Haftbedingungen, Ausbildung und Unabhängigkeit der Richter, Rechtshilfe, Opferschutz) zentrale Themen werden. Aufmerksamkeit wollte der belgische Vorsitz schließlich auch dem Thema Medienfreiheit und in diesem Zusammenhang dem Schutz journalistischer Quellen schenken.

Im Februar 2006 verwirklichte der belgische Vorsitz bereits eine Zusage, die vor allem den lange vorgetragenen Forderungen der Russischen Föderation nach Stärkung der ersten Dimension entgegen kam, und führte ein Seminar über den Wandel der Militärdoktrinen durch. Es war das Fünfte seiner Art, das innerhalb der KSZE/OSZE veranstaltet worden ist. Untersucht wurde, wie sich die Militärdoktrinen auf Grund neuer Bedrohungen, Konfliktformen und Technologien verändert haben, und wie sich diese Veränderungen auf Streitkräfte und deren Struktur auswirken.

Die Stimmungslage in der und um die OSZE schien zu Beginn von 2006 nicht mehr von einer Atmosphäre der Krisenhaftigkeit beherrscht. Doch schon auf der Sicherheitsüberprüfungs-Konferenz im Mai erwies sich, dass die Gegensätze zwischen Russland und den NATO-Staaten über die so genannten »Verpflichtungen von Istanbul« (Abzug des russischen Militärs aus Transnistrien und Ratifikation des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte durch die NATO-Staaten) nach wie vor bestanden und dass wieder an kein gemeinsames Dokument über den Stand und die Perspektiven der OSZE am Jahresende zu denken war. Immerhin beschloss der Ständige Rat im Oktober 2006 eine Reihe von institutionellen Reformen und nahm die nach langen Beratungen vereinbarten Verfahrensregeln an; der nur noch als formale Hülse bestehende Hohe Rat wurde für aufgelöst erklärt.

Im Herbst verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und Georgien dramatisch. Fünf russische Offiziere waren wegen Spionageverdachts in Tiflis durch die georgische Polizei verhaftet worden. Sie kamen durch Vermittlung des Amtierenden Vorsitzenden der OSZE wieder frei. Die Russische Föderation begann, den Handel und Verkehr zwischen beiden Ländern zu blockieren und Georgier auszuweisen.

Zu einem Dissens anderer Art entwickelte sich die Bewerbung Kasachstans um den Vorsitz der OSZE in 2009, die vor allem die USA ablehnten. Bis zuletzt hatte man in diesem – wahlfreien – Jahr 2006 gehofft, dass sich Armenien und Aserbaidschan über eine Regelung des Berg-Karabach-Konflikts verständigen könnten; eine erneute Zusammenkunft der Präsidenten beider Länder verlief wieder ergebnislos.

Erwartungsgemäß endete wie in den Vorjahren auch das Treffen des Ministerrats am 4./5. Dezember 2006 in Brüssel ohne eine gemeinsame Schlusserklärung. Wieder ging es vor allem um die umstrittene Verpflichtung der Russischen Föderation auf dem Gipfeltreffen 1999 in Istanbul, die Truppen aus der von Moldau abtrünnigen Region Transnistrien abzuziehen, und zwar als Vorleistung für die Ratifikation des angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte durch die NATO-Staaten.

Für das Jahr 2007 übernahm Spanien als neues Vorsitzerland die Erblast der permanenten Probleme, wie ungelöste Regionalkonflikte, Ostlastigkeit, wachsendes Missverhältnis zwischen Engagement für Normen und Resistenz der Realität. Hinzu kamen die Herausforderungen neuer Krisen, wie sie der Streit um die Bewerbung Kasachstans als Vorsitzerland 2009, die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Polen und Tschechien, neue Spannungen zwischen der Russischen Föderation und Georgien und die auch die OSZE berührende Kündigung des KSE-Vertrages durch die Russische Föderation darstellen.

Sichtlich hat sich trotz des unbestreitbar großen Einsatzes der jeweiligen Vorsitzenden von Amtsjahr zu Amtsjahr ein Unvermögen der OSZE fortgesetzt. Es führte mit der wachsenden Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Erfolg bei Versuchen der Lösung der »eingefrorenen Konflikte« zu einer bedenklichen Infragestellung des Nutzens der Organisation durch die betroffenen, kleinen Länder. Für die Lähmung der Organisation während dieser Jahre ist allerdings noch mehr das interesselose Verhalten der großen Mitglieder – Russische Föderation, USA und EU-Staaten – verantwortlich zu machen, die den Blick auf Gemeinsamkeiten im Rahmen der OSZE verloren zu haben scheinen. Qualitativ empfanden manche direkt Beteiligte die letzen Jahre als einen Zeitraum der Stagnation, des Attentismus und der Quieszenz. Es mangelte zwar nicht an Aktivitäten und schließlich bot sich sogar die Aussicht auf eine Therapie der Organisation mit der einvernehmlichen Bildung des »Gremiums hervorragender Persönlichkeiten« in 2005. Doch viele Empfehlungen konnten noch gar nicht behandelt, geschweige denn beschlossen werden.

Perspektiven

Eine wesentliche Frage bleibt beharrlich untergründig gestellt – die Frage, wozu die OSZE effizienter werden soll. Sie war nach dem Ministerrat von Ljubljana zu Recht bereits in der Öffentlichkeit aufgeworfen worden (z.B. Veser 2005). Der gute Wille der OSZE-Staatengemeinschaft zu einvernehmlichen Beschlüssen über ungelöste Aufgaben aus der Vergangenheit wird nicht ausreichen, wenn ihr von den Lenkern in den Hauptstädten keine Zukunft jenseits von NATO und EU gegeben wird. Die OSZE ist nach wie vor auf der Suche nach ihren Animatoren. Im Dreiecks-Verhältnis USA/Europäische Union/Russische Föderation wird sie in absehbarer Zukunft von diesen Akteuren kaum als politische Plattform gebraucht werden. Doch wird sie diesen Mächten und den anderen Staaten nicht nur als herkömmliche Berufungsinstanz auf Grundwerte und vereinbarte Normen und Standards, sondern mindestens fallweise auch als präventives und selbst intervenierendes Instrument der Sicherheitspolitik nützlich bleiben können.

Was wir gemeinsam haben, ist unsere Vergangenheit, erklärte scharfzüngig und leicht resignierend jüngst ein langjährig als Vertreter seines Landes bei der OSZE in Wien aktiver Botschafter. Tatsächlich werden immer wieder die »Acquis« beschworen, die man gemeinsam erarbeitet habe und die man bewahren und überall zwischen Vancouver und Wladiwostok verwirklichen müsse. Das zielt auf die Normen von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Hinzufügen kann man die Aufgaben der Rüstungskontrolle, der Grenzregime und der Bekämpfung von Terrorismus. Natürlich fehlt in keiner Erklärung eines Amtierenden Vorsitzenden über seine Ziele der Hinweis auf die »eingefrorenen Konflikte« in Moldau, in Berg-Karabach und in Georgien sowie auf die unterschwelligen Probleme im ehemaligen Jugoslawien, die gelöst werden müssten. Das alles ist nicht wenig. Doch das ist nicht genug. Es ist nicht genug, wenn es um eine OSZE der Zukunft gehen soll. So wie aus der KSZE nach 1990 aufgrund der veränderten Verhältnisse die »neue OSZE« geworden ist, so ist angesichts der sich verändernden Umstände eine abermals erneuerte OSZE gefragt.

Vorerst gibt es keine Zweifel, dass die OSZE auch im bisherigen Format weiter bestehen kann. Die Frage ist allerdings, in welcher Qualität und in welchem Umfang sie künftig wirksam sein kann. Sie kann als eine politisch geschrumpfte Agentur zur Beobachtung von Wahlen, Minderheitenrechten und Pressefreiheit funktionieren. Die Veranstaltung von Tagungen und Seminaren über entsprechende Themen wird Interessenten finden. Vielleicht ist sie auch noch eine Zeit lang als Organisation denkbar, in der 47 Staaten kein anderes Interesse haben, als sich um neun andere wegen ihrer gravierenden Defizite an Demokratie, Menschrechte und Rechtsstaatlichkeit zu bemühen – die drei kaukasischen und fünf mittelasiatischen Republiken sowie Weißrussland. Doch das ist kein Szenario für die Zukunft der OSZE.

Die erste Voraussetzung für ihre Existenz als politische Organisation in der Zukunft ist das gemeinsame Interesse aller 56 Mitglieder an ihr, darunter vor allem der drei nicht nur schwergewichtigen, sondern auch potentiell leitenden Akteure, der USA, der Russischen Föderation (RF) und der Europäischen Union. Zweitens bedarf es eines politisch substanziellen Auftrags für die Organisation. Drittens muss sie – nur sie und keine andere internationale Organisation – für die Ausführung der gestellten Aufgabe geeignet erscheinen. Selbstverständlich muss die OSZE der Zukunft nicht neu erfunden werden, sondern wird Elemente ihrer bisherigen Existenz einbringen müssen. Zu diesen Elementen gehören ihre territoriale Reichweite in der nördlichen Hemisphäre und ihr oberstes Ziel der Förderung und Erlangung von wechselseitiger Sicherheit und Zusammenarbeit, wie es ihr Name verheißt.

Die OSZE der Zukunft beruht also darauf, dass die drei Großakteure USA, RF und EU sie als das für ihr gemeinsames, wechselseitiges Verhältnis zentrale politische Forum wieder entdecken. Diese Renaissance müssen vor allem die Mitglieder der Europäischen Union betreiben, indem sie vorab in der EU ihre Interessen bündeln und diese als EU im Rahmen der OSZE gegenüber den USA und der RF vertreten.

Der Amtierende Vorsitzende für das Jahr 2007 und spanische Außenminister, Miguel Angel Moratinos, hat sich schon für seine Amtsperiode die weitere Heranführung der so genannten Partnerstaaten der OSZE im Mittelmeer als Aufgabe gestellt. Das wären heute Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Marokko und Tunesien; diese sollten um Libyen, Syrien, Palästina und den Libanon vervollständigt werden. Der nächste Schritt kann in diesem Zusammenhang nur heißen, diese Staaten als Mitglieder aufzunehmen und damit die Erweiterung der territorialen Sphäre der OSZE zu beginnen. Damit hätte sie ihre Zukunft erst partiell berührt. Der Logik der Erweiterung muss die Aufnahme der asiatischen Partnerstaaten folgen, das sind heute Afghanistan, Japan, die Republik Korea, die Mongolei und Thailand. Und dann wäre noch ein bedeutender Akteur in der nördlichen Hemisphäre nicht nur ausgeschlossen, sondern müsste sich gar durch die OSZE eingekreist wahrnehmen: China. Diesem Land wäre schon heute der Status eines Partnerstaates zuzuerkennen. Mit einer solchen mehr oder minder großen Erweiterung würde die OSZE ein Forum für die gemeinsame Kommunikation zwischen Akteuren darstellen, deren Belange heute oft nur punktuell, bilateral und zu Lasten abwesender Dritter verhandelt werden. Selbstverständlich wird wie schon in der Vergangenheit die Organisation ihren Namen verändern; aus der OSZE wird die OSZ werden.

Der zweite Aspekt einer OSZE der Zukunft kann in der Verlagerung des Aufgabenschwerpunktes »Sicherheit« liegen. In der ersten und zweiten Periode der Geschichte der OSZE lag er im ersten »Korb«, d.h. entlang der Dimension Rüstungs- und Militärpolitik. In den nachfolgenden Perioden verlagerte er sich zur dritten Dimension – zu Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaat. Die Frage muss gestellt werden, ob deren – zum Teil schwere – Mängel in vielen schon heute der OSZE angehörenden Ländern die Sicherheit der OSZE-Staaten insgesamt am stärksten bedrohen und gefährden. Sind es nicht Entwicklungen entlang der zweiten Dimension, welche die Zukunft der Menschen, ihrer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und ihrer Staaten am stärksten gefährden? Zusammengefasst wird das bereits in der Schlussakte von Helsinki von 1975 im Begriff der Umwelt. Jedoch hat dieser Begriff schon seither eine ganz andere, auch politische Bedeutung gewonnen. Im Besonderen ist es der Klimawandel, der die Sicherheit aller gefährdet und dessen Eindämmung und Steuerung darum auch das gemeinsame Interesse aller sein werden. Hier kann die große Aufgabe einer Zukunft der OSZE – als OSZ – liegen.

Ein dritter Aspekt einer OSZE der Zukunft bezieht sich auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen. Schon jetzt umfasst die OSZE mehr als ein Viertel aller Mitglieder der VN; nach einer Erweiterung könnten das mehr als ein Drittel werden. Diese Organisation müsste den Status einer zentralen Regionalorganisation der VN haben, der alle anderen hier für die nördliche Hemisphäre heute noch tätigen VN-Sonderorganisationen bzw. -Büros zugeordnet sind. Mit einer substanziellen Verknüpfung mit den Vereinten Nationen wäre auch vermieden, dass die OSZE der Zukunft als eine sich separierende und konkurrierende Einrichtung wahrgenommen wird.

Literatur

Rupel, Dimitrij (2005): Tätigkeitsbericht des Amtierenden Vorsitzenden für 2005, in: OSZE (Hrsg.): Dreizehntes Treffen des Ministerrats, 5. und 6. Dezember 2005, Laibach, S.87-107). Der Text ist – wie andere hier verwendete Materialien – unter: http://www.osce.org verfügbar.

Tudyka, Kurt P. (2007): Die OSZE – Besorgt um Europas Sicherheit. Kooperation statt Konfrontation. Mit einem Geleitwort von Egon Bahr, Hamburg: merus.

Veser, Reinhard (2005): Effizienter, aber wozu? in: FAZ vom 05. Dezember 2005, S.6.

Kurt P. Tudyka ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Nijmegen/Niederlande und externer Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg