Zivil handlungsfähig? – Beiträge zur »Culture of Peace«. 50 Jahre UNESCO

Zivil handlungsfähig? – Beiträge zur »Culture of Peace«. 50 Jahre UNESCO

von Christiane Lammers / Norbert Ropers / Christine M. Merkel und Dr. Jörg Calließ / Günther Gugel und Uli Jäger

zum Anfang | Das Programm »Kultur des Friedens«

von Christiane Lammers

Die Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) besteht 1995 50 Jahre. In ihrer Präambel heißt es zur Zielsetzung der Organisation „daß, da die Kriege im Geiste der Menschen entstehen, auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden müssen“. Die UNESCO setzt sich deshalb weltweit für die Verständigung zwischen den Völkern ein. Sie bemüht sich, den Dialog zwischen Nord und Süd, Ost und West zu befördern. Im September 1994 beriet die UNESCO das Programm »Kultur des Friedens«, das eine wichtige Rolle in der mittelfristigen Planung der Organisation für 1996 bis 2001 spielen soll.

Die Zielsetzung des Programms erläuert Frederico Mayor in dem Endreport der Sitzung: „Lassen Sie uns – um der Kultur des Kriegs entgegenzutreten – eine Kultur des Friedens aufbauen, das heißt eine Kultur der sozialen Wechselwirkungen, gegründet auf den Prinzipien Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, Toleranz und Solidarität sowie dem Respekt vor den Menschenrechten; eine Kultur, die Gewalt ablehnt und stattdessen Problemlösungen durch Dialog und Verhandlung sucht; eine Kultur der Vorbeugung, die sich bemüht, Konfliktursachen und ihre Wurzeln aufzudecken, um mit ihnen wirksam umzugehen und sie soweit wie möglich zu vermeiden.“

Fünf Bereiche werden genauer entwickelt:

  1. Der Begriff der »Entwicklung« soll dahingehend neu definiert und eingeordnet werden, als inzwischen die Erkenntnis vorliegt, daß verschiedene Phasen von konkreten Entwicklungsprogrammen unterschiedliche Erwartungen hervorrufen, die möglicherweise nicht erfüllt werden können und in der Folge zu schwerwiegenden Konflikten führen können. Entwicklungskonzepte, die ausschließlich auf ökonomischem Wachstum beruhen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn nicht von vornherein die humanökologischen und sozialen Dimensionen miteinbezogen werden.
  2. Militär-Industrie-Komplexe sollen in »Friedens-Industrie-Komplexe« umgewandelt werden. Der militärisch-industrielle Komplex hat über Jahrzehnte ökonomische Macht und Profit für Kriege zur Verfügung gestellt. Der »Friedens-Industrie-Komplex« soll attraktive Alternativen für profitable Unternehmen beim Aufbau einer gewaltfreien und friedlichen Gesellschaft zur Verfügung stellen. Rüstungskonversion ist deshalb ein entscheidender Faktor.
  3. Konzepte und Fähigkeiten zum gewaltfreien Konfliktmanagement sollen intensiv ausgebaut und genutzt werden. Formen des selbstverständlichen gewaltfreien Umgangs auf der Mikroebene sollen Vorbilder für das Konfliktmanagement auf der Makroebene sein. Dazu ist sowohl die theoretische Erarbeitung von Konzepten als auch die praktische Ausbildung in Mediations- und Verhandlungstechniken notwendig.
  4. In der methodischen Umsetzung einer Kultur des Friedens soll der Schwerpunkt auf dem Bereich der Erziehung, respektive der Friedenserziehung liegen. Die Prinzipien Frieden, universale Menschenrechte und Gewaltfreiheit sollen sich als Leitgedanken durch die verschiedenen Entwicklungsphasen der Menschen und Gesellschaften ziehen und dazu beitragen, daß die Zivilgesellschaft eines Tages in der Lage sein wird, gewalttätige Reaktionen auf Konflikte konstruktiv umzuwandeln und sie letztendlich zu eliminieren.
  5. Beim Aufbau des Programms und seiner Umsetzung wird die UNESCO die Natur-, Sozial-, Geistes-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften intensiv miteinbeziehen und durch gezielte Projektförderung dem Programm eine wissenschaftliche Begleitung ermöglichen. Daneben werden Studien über konkrete Probleme beim Aufbau einer Kultur des Friedens gefördert und angeregt.

Wir veröffentlichen im vorliegenden Dossier drei Beiträge, die im Rahmen eines Buchprojektes (hrg. von W.R. Vogt im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung) entstanden sind.1 Beteiligt an diesem Projekt sind 50 WissenschaftlerInnen und 20 Organisationen aus der Bundesrepublik. Verstanden wird dieses Projekt – und auch dieses Dossier – nicht nur als Geschenk an die UNESCO zu ihrem 50jährigen Bestehen, sondern vor allem auch als Bemühen, einer Ausweitung der Gewaltlogik und der militärischer Lösungen in der Bundesrepublik entgegenzuwirken.

Drei Bereiche sind deshalb vor allem zu bearbeiten: Methoden sind zu entwickeln, die eine zivile Konfliktbearbeitung ermöglichen (hierzu der Beitrag von Norbert Ropers); Akteure der Zivilgesellschaft sind so zu fördern, daß ein abgestimmtes Handeln mit Nutzung der verschiedensten Kompetenzen ermöglicht wird (hierzu der Beitrag von Christine Merkel und Jörg Calließ); und nicht zuletzt ist eine Pädagogik vonnöten, die die Menschen im Sinne eines »Globalen Lernens« politisch bildet (hierzu der Beitrag von Günther Gugel und Ulli Jäger).

zum Anfang | Zur universellen Anwendbarkeit von »Mediation« bei ethnopolitischen Auseinandersetzungen

von Norbert Ropers

Bei der weit überwiegenden Zahl der gegenwärtig gewaltsam ausgetragenen Konflikte handelt sich um Auseinandersetzungen innerhalb von Staaten zwischen rivalisierenden politischen Gruppen bzw. zwischen diesen Gruppen und dem jeweiligen Staat. Eine Schlüsselrolle bei der Identifikation der streitenden Gruppen spielen ethnische Kriterien, so daß diese Auseinandersetzungen auch als ethnische Konflikte bezeichnet werden. Sie sollte freilich nicht mit einer Erklärung gleichgesetzt werden, denn in vielen dieser Fälle gibt es etliche Ursachen und Streitgegenstände, die wenig mit der ethnischen Zugehörigkeit der streitenden Parteien zu tun haben. Sinnvoller ist es deshalb von »ethnopolitischen Konflikten« zu sprechen, da in der Regel erst die Politisierung ethnischer Merkmale ihre Schlüsselrolle im Konfliktprozeß begründet.1aDas traditionelle Instrumentarium der Konfliktbearbeitung im internationalen System ist mit dieser Art von Auseinandersetzungen in mehrfacher Hinsicht überfordert:

  • Die Möglichkeiten zur legitimen Einmischung in die »inneren« Angelegenheiten anderer Staaten sind begrenzt.
  • Bei diesen Konflikten geht es zumindest für eine Seite um die grundsätzliche Frage der Anerkennung ihrer ethnischen Identität, die mit konventionellen Methoden wechselseitiger Zugeständnisse auf der Ebene politischer Führungen nur schwer verhandelt werden kann.
  • Die Strukturen der ethnopolitischen Interessenvertretung sind häufig derart komplex und im Wandel begriffen, daß es schwerfällt, eine mehr oder weniger legitimierte Führungsebene zu identifizieren, auf die sich die Intervention konzentrieren kann.

Diese Schwierigkeiten sowie das zunehmende Engagement von nicht-gouvernementalen Organisationen (NGOs) bei der Prävention, der Vermittlung sowie der Aussöhnung nach militärischen Auseinandersetzungen haben zum vermehrten Einsatz von neuen Konzepten der Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte geführt. An erster Stelle ist dabei der in den USA entwickelte Ansatz der »Alternative Dispute Resolution« (ADR)-Bewegung zu nennen, der auch mit dem Begriff der »Mediation als Win-Win-Problemlösung« umschrieben werden kann. Auf ein zunehmendes Interesse stieß ferner der Ansatz der »Interactive Conflict Resolution«,.

Diese angelsächsischen Verfahren, mit deren Hilfe dritte Parteien sich um die De-eskalation, Beilegung oder Lösung ethnopolitischer Konflikte bemühen, unterscheiden sich deutlich von all jenen Interventionen, die auf der Autorität von Gesetzen (Gerichtsverfahren) oder auf der Androhung bzw. Anwendung von Machtmitteln beruhen (Mediation mit Machtmitteln). Die letzte Entscheidung darüber, ob ein unter Mitwirkung der dritten Partei zustande gekommenes Ergebnis angenommen wird, liegt allein bei den streitenden Parteien.

Die Attraktion dieser Konzepte für ethnopolitische Konflikte liegt auf der Hand: Eine rechtliche Bearbeitung scheidet für die meisten dieser Spannungsfelder aus, da es für sie bislang auf der internationalen Ebene weder hinreichende Prinzipien, Normen, Regeln, Prozeduren noch Mechanismen gibt. Machtpolitische Eingriffe erfolgen beim gegenwärtigen Zustand der internationalen Politik nur, wenn die Interventen ein massives eigenes Interesse an der Konfliktregelung haben. Den im internationalen System am ehesten legitimierten dritten Parteien, den Vereinten Nationen sowie diversen Regionalorganisationen, stehen solche Machtmittel ohnehin kaum zur Verfügung. Außerdem sind sie in besonderer Weise dem Gewaltverbot der UN-Charta verpflichtet. Schließlich sprechen auch die Aspekte der wechselseitigen Anerkennung sowie der Nachhaltigkeit der Vereinbarungen für diese Konzepte, da im Mittelpunkt die Ermächtigung, das »empowerment« der Konfliktparteien steht. Eine Regelung kann nur erreicht werden, wenn sie von den Beteiligten selbst erarbeitet wird. Mithin sind auch die Chancen, daß sie dauerhaft eingehalten wird, relativ groß.

Die Methode, Konflikte zwischen zwei oder mehr Parteien durch die Intervention dritter Parteien friedlich zu regeln, ist vermutlich so alt wie die Geschichte der Menschheit. In den angelsächsischen Konzepten der ADR-Bewegung und der Interactive Conflict Resolution ist diese Methode auf eine je spezifische Weise systematisiert und für diverse Anwendungsfelder weiterentwickelt worden. Viele Vertreter dieser Konzepte halten ihre Methodik für universell anwendbar. Sie seien zwar im Kontext einer bestimmten westlich-angelsächsischen Kultur entstanden. Gerade der Pragmatismus dieser Kultur qualifiziere sie jedoch als kulturübergreifend geeignet. Führende Vertreter der Harvard-Schule innerhalb der ADR-Bewegung halten ihr Konzept sogar für die Systematisierung des gesunden Menschenverstandes.2

An dieser Annahme ist jedoch in jüngerer Zeit zunehmend Kritik geäußert worden.3 Sie bezog ihre Argumente unter anderem aus der Anwendung dieser Konzepte auf ethnopolitische Konflikte außerhalb der westlichen Welt, insbesondere in Lateinamerika, Afrika und Asien. In diesen nicht-westlichen Kulturen, so der kritische Einwand, gäbe es viele andere traditionelle Formen der Konfliktbearbeitung, die in wesentlichen Punkten mit den westlichen Modellen nicht übereinstimmten. Gerade diejenigen, die an einer Verbesserung der friedlichen Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte interessiert seien, sollten deshalb ihre Ansätze im Hinblick auf die kulturellen Implikationen und eventuellen kulturellen Blindheiten überprüfen.

Im folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die kulturellen Prägungen der Konzepte »Mediation als Win-Win-Problemlösung« und »Interactive Conflict Resolution« im einzelnen darstellen und in welcher Weise sie einer Erweiterung bedürfen, um den besonderen Herausforderungen ethnopolitischer Konflikte gewachsen zu sein, die ja in aller Regel auch interkulturelle Konflikte sind. Dazu sollen zunächst die Grundmerkmale der beiden Konzepte sowie ihr besonderes Leistungsprofil im Hinblick auf ethnopolitische Konflikte dargestellt werden. Darauf aufbauend werden dann einige Grundzüge nicht-westlicher Konfliktbearbeitung diesen Konzepten idealtypisch gegenübergestellt und ein Modell kulturell angepaßter Mediation vorgestellt. Anschließend wird diskutiert, welche Konsequenzen sich daraus für die Entwicklung eines angemessenen Modells interkultureller Konfliktbearbeitung ergeben.

Mediation als Win-Win-Problemlösung

Die Ursprünge dieses Ansatzes liegen in der Kritik an den autoritären und bürokratisierten Formen der innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitung in den USA in den 60er Jahren.4 Inspiriert wurde die Ausbreitung der Alternative Dispute Resolution durch die Bürgerrechtskampagnen und andere soziale Bewegungen, die auf die Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten sowie die Verringerung von Machtdifferenzen zielten. Ihre methodischen Wurzeln liegen in der Humanistischen Psychologie und der Human Relations Trainingsbewegung.

Heute gibt es eine Vielzahl von Ausformungen dieser Art von Mediation, die zum einen mit dem jeweiligen Anwendungsfeld, zum anderen mit der Schulbildung in stark professonalisierten Berufsfeldern zu tun hat. Die bekannteste ist das »Harvard Negotiation Project«, das seinen Ursprung in der Analyse von Verhandlungsprozessen hat, bei denen beiden Parteien »gewinnen« können.5 Zu einer Institutionalisierung der Mediation ist es vor allem in den Anwendungsfeldern Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Schul- und Familienkonflikte sowie kommunale Auseinandersetzungen gekommen.6

Grundlegend für den Ansatz der-ADR-Bewegung ist die These, daß in den meisten herkömmlichen Verfahren der innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitung die Gewichtung der Einflußfaktoren Macht, Recht und Interessen in einem gestörten Verhältnis zueinander stehen. Danach entscheiden in der Regel die Machtüberlegenheit sowie Rechtspositionen über die Art und Weise der Konfliktbearbeitung (Wer hat die größere Durchsetzungsmacht bzw. wer hat »mehr Recht« bzw. den besseren Rechtsanwalt?). Nur eine untergeordnete Rolle spielten demgegenüber die Interessen der beteiligten Parteien. Für eine von den Beteiligten als gerecht empfundene und mithin dauerhafte Konfliktbearbeitung sei das Übergewicht von Macht- und Rechtspositionen gegenüber der Interessenberücksichtigung jedoch kontraproduktiv. Im Mediationsverfahren sollte sich die dritte Partei deshalb bemühen, dieses Verhältnis umzukehren.

Zu einem effizienten Konfliktbearbeitungssystem gehören nach Auffassung der ADR-Bewegung vor allem drei Funktionen: Menschen und Probleme getrennt voneinander zu behandeln, auf Interessen und nicht auf Positionen zu konzentrieren sowie Optionen zum beiderseitigen Vorteil zu entwickeln.

1. Bei jeglicher Bearbeitung sozialer Konflikte gibt es eine Sach- und eine Beziehungsebene. Konstruktive Konfliktbearbeitung ist nur möglich, wenn auch die Beziehungsebene ernst genommen wird und es in dem Verfahren Raum für die Äußerung von Gefühlen, Ängsten, Wünschen, Erfahrungen usw. gibt. Allerdings sollte diese Ebene, so der ADR-Ansatz, nicht vermischt werden mit der Bearbeitung der Sachkonflikte. Im Gegenteil, ihre möglichst saubere Trennung sei eine gute Voraussetzung, um erfolgreich an den sachlichen Differenzen zu arbeiten.

2. Insbesondere bei länger anhaltenden und hoch eskalierten Konflikten neigen die Parteien dazu, ihre Unterschiede in Positionen zuzuspitzen, die nicht notwendigerweise ihren Interessen entsprechen. Die dritte Partei sollte deshalb die Streitenden dabei unterstützen, über die Positionsdifferenzen hinaus zu den tieferliegenden Interessen vorzudringen. Unterstellt wird dabei, daß es auf der Ebene der Interessen leichter fallen wird, Gemeinsamkeiten zu entdecken, insbesondere im Hinblick auf das längerfristige Interesse der Beteiligten an einer kooperativen Beziehung, von der letztlich alle profitieren werden.

3. Entscheidend für den Erfolg der Mediation ist letztlich, ob es gelingt, die verbreitete Neigung, Konflikte als eine Interaktion mit Gewinn für die einen und Verlust für die anderen zu interpretieren, zu überwinden. Konflikte sollten vielmehr als etwas normales und als ein wesentlicher Bestandteil gesellschaftlichen Wandels und Fortschritts betrachtet werden – und auch als Chance persönlichen Wachstums für die beteiligten Individuen. Die Herausforderung besteht deshalb darin, die Konflikte so zu interpretieren und zu bearbeiten, daß sie zu einer gemeinsamen Problemlösungsaufgabe mit Gewinnen für alle Beteiligten werden.

Die Konfliktbearbeitung in der ADR-Perspektive gleicht einem gemeinsamen Lernprozeß. Im Zentrum sollen dabei die Betroffenen selbst stehen, da sie zu grundsätzlich besseren Regelungen fähig sind als außenstehende Personen, geht es doch um Entscheidungen über ihr eigenes Leben und ihre eigene Zukunft. Die Chance, daß eine erreichte Übereinkunft auch tatsächlich eingehalten wird, ist außerdem größer, wenn die Betroffenen selbst für sie verantwortlich sind. Die dritte Partei sollte sich deshalb vor allem als Prozeßbegleiter verstehen und dafür sorgen, daß die streitenden Parteien tatsächlich die Verantwortung für ihre eigenen Interessen und die Konflikt-=Problemlösung übernehmen können.

Für die Akzeptanz und den Erfolg der dritten Partei ist ihre Neutralität bzw. Unparteilichkeit von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es am besten, wenn es sich dabei um Personen handelt, die vollständig außerhalb des jeweiligen Spannungsfeldes stehen. Der Prozeß der Konfliktbearbeitung folgt je nach Anwendungsfeld und Mediations-Schule bestimmten Phasen, in denen die dritte Partei unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hat. Das kompakteste Verlaufsschema einer Mediation ist das Kreislaufdiagramm der Harvard-Schule.

Nach diesem Schema sollte die Konfliktbearbeitung vier Phasen umfassen: 1. die genaue Klärung dessen, worum es in dem Konflikt geht; 2. die Analyse der Ursachen des Konflikts, seiner Rahmenbedingungen, der zugrundliegenden Interessen usw.; 3. die gemeinsame Entwicklung und Reflexion möglicher Konfliktregelungen; 4. die Entscheidung für eine bestimmte Konfliktregelung und die Vereinbarung von konkreten Maßnahmen zu ihrer Umsetzung. Für den Erfolg des Verfahrens ist es dabei von ausschlaggebender Bedeutung, daß eine neue Phase erst begonnen wird, wenn die vorhergehende Phase tatsächlich abgeschlossen ist. Viele Vermittlungsbemühungen scheitern daran, daß die dritte Partei viel zu früh versucht, Optionen für die Problemlösung (= 3. Phase) zu entwickeln. Selbst bei gelingenden Bearbeitungsprozessen ist davon auszugehen, daß es in späteren Phasen immer wieder zu Rückschlägen kommt, die eine erneute Klärung des Konflikts und seiner Ursachen erforderlich machen. Schließlich erklärt sich der zirkuläre Charakter des Schemas daraus, daß die ADR-Bewegung jeweils nur die Bearbeitung konkret definierter Streitpunkte im Auge hat. Nach einer Einigung über diese Punkte kann daher der Prozeß über weitere Kontroversen erneut aufgenommen werden.

Die erste Phase der genauen Konfliktbeschreibung erweist sich in vielen Fällen bereits als eine entscheidende Barriere für die konstruktive Bearbeitung des Konflikts. Dies läßt sich exemplarisch an ethnopolitischen Mehrheiten-Minderheiten-Konflikten darstellen, bei denen die Vertretung der Minderheit bereits einen hohen Mobilisierungsgrad erreicht hat. Die Minderheit wird dann in der Regel eine lange Liste von Benachteiligungen, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten vorweisen, die nach ihrer Auffassung grundlegend für die Konfliktbeschreibung ist. Aus der Sicht der Mehrheit ist bereits die Länge der Mängelliste eine Provokation, erweckt sie doch den Eindruck, als ob es über all diese Punkte einen zu schlichtenden Streit gäbe. Der eigentliche Konflikt sei doch vielmehr, daß die Minderheit generell die Situation verzerrt darstelle und für sich ungerechtfertigte Vorteile entgegen den Prinzipien der Mehrheitsdemokratie verlange.

In derartigen Konfliktkonstellationen ist deshalb bestenfalls das wechselseitige Nachvollziehen und Verstehen der Konfliktbeschreibung zu erreichen. Die Methoden, mit deren Hilfe die dritte Partei dieses Ziel erreichen kann, sind zum einen getrennte Einzelgespräche mit den Parteien und zum anderen gemeinsame Sitzungen, bei denen sie die Interaktion zwischen den Parteien mit Hilfe kommunikationsfördernder Techniken unterstützt. Zu diesen Techniken gehören z.B. das aktive Zuhören, »Paraphrasieren« und »Spiegeln« des jeweils Sprechenden, die Unterstützung von Ich-Botschaften, die Versachlichung von Aussagen sowie strukturierende Zusammenfassungen.7

In der zweiten Phase der Konfliktanalyse geht es darum, die vorher identifizierten Streitpunkte unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten: ihrer Entstehungsgeschichte und ihren Rahmenbedingungen; dem Zusammenhang der »issues« und ihrer Mikroanalyse; den Positionen, Interessen, Wünschen, Erwartungen und Ängsten der Parteien. Bei sehr schwierigen Konfliktkonstellationen kann auch zunächst die Analyse und Verständigung über ein angemessenes Verfahren der Bearbeitung im Vordergrund stehen. Wesentlich ist auf jeden Fall, daß es im Laufe der zweiten Phase gelingt, die Sichtweise des Konflikts zu einer der Problemlösung zu erweitern, die einen Bezug zu den Interessen aller Beteiligten aufweist.8

Für die dritte Partei besteht die Herausforderung in dieser Phase vor allem darin, der Neigung bei allen Beteiligten zum rein argumentativen Austausch entgegenzuwirken (Entweder-Oder).9 Hilfreich sind dafür Interventionsformen, die nicht polarisieren und Negatives benennen, sondern Gemeinsamkeiten herausarbeiten, das Konstruktive am Konflikt betonen und Ambivalenzen tolerieren. Empfehlenswert sind ferner Methoden und Techniken, die über das Verstehen des jeweils anderen hinaus auch die direkte Verständigung mit ihm begünstigen: zu direkten Aussagen auffordern, Antworten verstärken und differenzieren, die Konkretisierung fördern, non-verbale Botschaften aufgreifen, Ambivalenzen thematisieren, »Doppeln« von unverständlichen bzw. unverstandenen Botschaften usw.10 Sinnvoll können auch gruppenbezogene Interventionen wie Rollenspiele, Gruppen-Standbilder u.ä. sein, wenn die KonfliktvertreterInnen hierfür aufgeschlossen sind.11 Schließlich geht es in dieser Phase auch um die Artikulation und Kanalisierung von Gefühlen, die mit der bisherigen Art und Weise der Konfliktbearbeitung zusammenhängen.

Die dritte Phase dient der Entwicklung von möglichen Optionen für die gemeinsame Konflikt-=Problemlösung mit Vorteilen für alle Beteiligten. Der Ausgangspunkt hierfür ist umso besser, je klarer die gemeinsamen Interessen (und weiterbestehenden Interessendifferenzen), die Probleme sowie die zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen in der vorhergehenden Phase definiert werden konnten. Wichtig ist es in dieser Phase, die Kreativität und Phantasie der Beteiligten derart anzuregen, daß auch innovative Lösungen ins Blickfeld geraten. Geeignete Methoden und Techniken dafür sind die Erörterung von bereits praktizierten Lösungsmodellen für vergleichbare Konflikte, das Brainstorming, visuelle Moderations-Ansätze12 oder das Konzept der Zukunftswerkstätten13. Der Austausch über diese Regelungsperspektiven sollte möglichst offen gestaltet werden, so daß die Parteien sich nicht vorschnell auf »ihre« Eingaben festlegen. Aus diesem Grund empfiehlt die Harvard-Schule für schriftliche Vereinbarungen auch das »Ein-Text-Verfahren«, nach dem die ersten Entwürfe nur von einer (idealerweise der dritten) Partei stammen sollten.14 Dieser Entwurf wird dann solange verbessert, bis er die Zustimmung aller Parteien findet.

In der vierten Phase geht es schließlich darum, die Optionen zu vergleichen, zu gewichten und zu einer konkreten Vereinbarung zu kommen. Die Rolle der dritten Partei liegt hier vor allem darin, die Verbindlichkeit, Konkretion und Überprüfbarkeit tragfähiger Vereinbarungen zu betonen. Die Harvard-Autoren heben hier die Bedeutung sachbezogener Beurteilungskriterien hervor. Basis der Verständigung sollte nicht primär das Vertrauen der Verhandlungspartner aufeinander sein, sondern die Einhaltung dieser sachbezogenen, objektiv überprüfbaren Beurteilungskriterien.15

Das Mediationskonzept der Win-Win-Problemlösung hat zweifellos maßgeblich zur Verbreitung einer Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung in den angelsächsischen Ländern beigetragen. Während der Zeit der Carter-Administration fand es Eingang in die Beschäftigung mit Konflikten im internationalen System. Mittlerweile orientieren sich viele Ausbildungsprogramme für Diplomaten und professionelle Verhandler sowie Vermittler an den Konzepten der ADR-Bewegung. Über sie sowie eine Reihe von Conflict Resolution-NGOs ist dieser Ansatz schließlich auch zu einem verbreiteten Modell für die Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte geworden.

Um die Zweckmäßigkeit der ADR-Konzepte für diesen Bereich beurteilen zu können, ist es sicher noch zu früh, zumal es nur sehr wenige und noch dazu meist nicht veröffentlichte Evaluationsstudien gibt. Die Reflexion der bisherigen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Besonderheiten ethnopolitischer Konflikte läßt jedoch zumindest einige Schwachstellen erkennen. Einige dieser Kritikpunkte werden übrigens inzwischen auch in der ADR-Bewegung im Hinblick auf ihre innergesellschaftliche Anwendung diskutiert.16

1. Die Einschaltung der dritten Partei kann zwar einen die Machtungleichgewichte relativierenden Charakter haben. In Fällen extremer Ungleichgewichte sowie einer starken Fragmentierung der unterlegenen Parteien besteht jedoch die Gefahr, daß das ADR-Instrumentarium vor allem den besser organisierten Eliten zugute kommt und ihnen hilft, den Status quo zu stabilisieren. Dieser Effekt ist insbesondere in Transformationsgesellschaften nicht ausgeschlossen, in denen andere Mechanismen der politischen Interessenvertretung und der rechtsstaatlichen Kontrolle der Eliten noch wenig entwickelt sind.17 Der präventive Einsatz der ADR-Konzepte sollte deshalb nicht als Ersatz für das gesamte Spektrum der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung sowie Zivilisierung der Transformationsgesellschaften angesehen werden.

2. Im Mittelpunkt der ADR-Bemühungen steht die Bearbeitung eines möglichst eng definierten Konflikts (=Problems), den die Parteien in einer bestimmten Situation miteinander haben. In vielen gesellschaftlichen und insbesondere ethnopolitischen Spannungsfeldern ist es jedoch außerordentlich schwierig, den Konflikt auf ein derartiges Sachproblem einzuengen. Stattdessen geht es oft genug um die gesamte Beziehungskonstellation zwischen den Parteien. Müßte deshalb nicht die Beurteilung des Interventionserfolgs von der Win-Win-Problemlösung auf Empowerment, wechselseitige Anerkennung, Beziehungsverbesserung u.ä. verschoben werden?18

3. Die Vorstellung, Konflikte unter anderem dadurch zu bearbeiten, daß an die Stelle von Positionskontroversen der Ausgleich von Interessen tritt, beruht auf einer Art Schichtenmodell menschlicher Bestrebungen: Je tiefer ihre Reflexion verankert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer zwischenmenschlichen Verständigung.19 Die Konfliktrealität läßt diese Annahme oft genug als höchst optimistisch erscheinen. Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit dieses Schichtenmodell auch herangezogen werden kann für die Bearbeitung von Identitätskonflikten. Hier geht es in der Regel um die prinzipielle Frage der Anerkennung anderer Identitäten. Was bedeutet das für die Chancen einvernehmlicher Konfliktbearbeitung? Einerseits gibt es die These, daß gerade die Nicht-Verhandelbarkeit von Identitätskonflikten ihre Bearbeitung so schwer macht. Andererseits behaupten manche Anhänger des Interactive Conflict Resolution-Ansatzes, daß prinzipiell das Grundbedürfnis nach Anerkennung leichter zu befriedigen ist als die Verteilung knapper materieller Ressourcen.

4. Eine grundlegende Kritik des ADR-Ansatzes richtet sich auf seine kulturelle Bindung an westliche bzw. nordamerikanische Wertvorstellungen der individuell-rationalistischen Bearbeitung von Konflikten, der Trennung von Personen und Problemen sowie der Betonung externer und strikt neutraler Vermittlungsbemühungen.

Drei Einwände bzw. Überlegungen zielen auf zentrale Prämissen dieses Ansatzes:

1. Der Konsultationsansatz stellt in den Mittelpunkt der Workshop-Arbeit die Verbesserung der Kommunikation und die wechselseitige »Öffnung« für die Grundanliegen der anderen Seite bei den beteiligten Individuen. Werden damit aber nicht die institutionellen und strukturellen Aspekte der Konfliktbearbeitung sträflich vernachlässigt?

2. Viele Konsultationsprojekte stehen in dem grundlegenden Dilemma, zwei widerstrebende Tendenzen miteinander verknüpfen zu müssen. Auf der einen Seite kann die angestrebte Arbeit an der Beziehungsklärung nur gelingen, wenn die Kräfte der sozialen Integration stark genug sind, um die Konfliktparteien in dem Projekt zusammenzuhalten. Auf der anderen Seite wird der Zweck der Übung nur erreicht, wenn es gelingt, die zentralen Kontroversen und Differenzen auch tatsächlich herauszuarbeiten. Das erfordert jedoch auch Konfrontationen, die ihrerseits wieder das Wagnis der Des-Integration, des Scheiterns des Projekts beinhalten.

3. Inwieweit ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Grundbedürfnisse universell seien und daß es letztlich möglich ist, durch einen empathischen und rationalen Diskurs zumindest die nicht-materiellen Grundbedürfnisse aller Konfliktteilnehmer zu befriedigen?20 Besteht nicht ein wesentliches Merkmal ethnopolitischer Konflikte darin, daß zumindest die Bedürfnishierarchien gesellschaftlich und kulturell geprägt sind und nicht durch eine noch so optimale Kommunikation egalisiert werden können? Was bringt im übrigen die individuelle Einsicht in ähnliche Grundbedürfnisse, wenn das eigentliche Problem der Überbau konkurrierender Eliten, Institutionen und Ideologien ist? Inwiefern ist dieses Konzept nur anwendbar auf westlich geprägte Gesellschaften, da es letztlich »menschliche Entwicklung« primär mit einem individuellen Maßstab mißt?

Konfliktbearbeitung in nicht-westlichen Kulturen

Konflikte sind zwar ein universelles Phänomen; die Art und Weise ihrer Austragung und Bewertung unterscheidet sich jedoch in mehr oder weniger starkem Maße zwischen den Kulturen. Die Erforschung der kulturspezifischen Austragung von Konflikten steht zwar noch am Anfang.21 Etliche vergleichende Studien haben jedoch zumindest die Bedeutung einiger Schlüsseldimensionen demonstriert, insbesondere die Prägung der Konfliktkultur durch die Kollektivismus-Individualismus-Dimension.22

Danach werden Konflikte in individualistischen Kulturen primär als Spannungen zwischen Individuen gesehen, deren Bearbeitung in der Regel im Kleinarbeiten des Konflikts besteht. Konflikte spielen eine wichtige Rolle, um Ziele zu erreichen. Die Austragung erfolgt eher direkt, konfrontativ und im bilateralen Austausch zwischen den unmittelbar Betroffenen. In kollektivistischen Kulturen werden Konflikte hingegen vorwiegend als Störungen des betreffenden sozialen Systems wahrgenommen. Die expressive Funktion ist mindestens so wichtig wie die instrumentelle Funktion. Bei der Bewältigung des Konflikts werden indirekte, nicht-konfrontative und multilaterale Methoden bevorzugt. Erstrebenswert ist es, die gegebene soziale Struktur zu bewahren und niemandem einen Gesichtsverlust zuzumuten.

Infolge der zunehmenden Verbreitung des ADR-Konzeptes wurde auch die nordamerikanische Mediationsbewegung spätestens in den 80er Jahren mit den Schwierigkeiten konfrontiert, ihr Vermittlungsverständnis in anderskulturellen Zusammenhängen anzuwenden, sei es innerhalb der ethnischen Minderheitenkulturen oder im Ausland. Die Erfahrungen, die die ADR-Anhänger dabei sammeln konnten, haben maßgeblich zur genaueren Bestimmung der kulturellen Implikationen von »Mediation als Win-Win-Problemlösung« geführt. Einer der ersten amerikanischen Experten, der systematisch über die kulturellen Begrenzungen dieses Ansatzes reflektiert hat, war John Paul Lederach.23 Sein Ausgangspunkt waren Beobachtungen und Analysen von innergesellschaftlichen Konfliktbearbeitungsmethoden und -techniken mit Hilfe dritter Parteien in mehreren zentralamerikanischen Ländern. Inzwischen gibt es eine Reihe weiterer Studien zu Drittpartei-Interventionen in nicht-westlichen bzw. traditionalen Gesellschaften.24

Aufgrund dieser Studien müssen einige der Grundannahmen des ADR-Konzeptes zumindest in traditionalen Kulturen problematisiert werden. Dazu gehört vor allem das Axiom, Personen und Probleme (= Konflikte) möglichst strikt zu trennen. In vielen traditionalen bzw. kollektivistischen Gesellschaften wäre das jedoch kontraproduktiv, da soziale Integration und damit das zentrale Konfliktbearbeitungspotential hier gerade auf der engen Verknüpfung von Personen und Problemen beruht. Auf jeden Fall ist der Beziehungsverbesserung bzw. -wiederherstellung mindestens soviel Aufmerksamkeit zu widmen wie der Problemlösung. Fraglich erscheinen auch die Betonung des offenen Austausches von Bekenntnissen, der Beteiligung aller Betroffenen, der Zeitökonomie und der Eindeutigkeit von Aussagen im ADR-Konzept für seine Anwendung in traditionalen Kulturen.

In vielen traditionalen Gesellschaften spielen dritte Parteien eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Konfliktsituationen, insbesondere mit dem Ziel, die überkommenen sozialen Strukturen zu sichern bzw. wiederherzustellen. »Traditionale Mediation« in diesem Sinne ist deshalb stark kontextabhängig und kontextorientiert, indirekt, »polychrom« (mehreres geschieht nebeneinander) und die dritten Parteien sind Angehörige des jeweiligen sozialen Systems. »Mediation als Win-Win-Problemlösung« ist demgegenüber formalisierter, hoch strukturiert, aufgaben- und ergebnisorientiert, »monochrom« (eins nach dem anderen) und die dritte Partei steht möglichst außerhalb des jeweiligen sozialen Systems.

Ob und inwieweit diese Besonderheiten traditionaler Kulturen auch für die Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte relevant sind, kann nur im Einzelfall beurteilt werden. In vielen ethnopolitischen Konflikten in Afrika, Asien und Lateinamerika spielen traditionale Bezüge zweifellos eine große Rolle. Ein Beispiel dafür ist die Intervention der Vereinten Nationen in Somalia 1992/93, bei der die traditionalen Konfliktbearbeitungsstrukturen und -prozesse der somalischen Gesellschaft nach Auffassung des ehemaligen UN-Sonderbeauftragten für dieses Land sträflich vernachlässigt wurden.25

Lederach hat deshalb für die Intervention in derartige Konfliktkonstellationen eine Strategie der »elicitive« Mediation vorgeschlagen. Danach ist es für die externe dritte Partei vor allem wichtig, die Konfliktbearbeitungsmuster der jeweiligen regionalen bzw. lokalen Kultur kennenzulernen, sie in die eigene Arbeit zu integrieren und möglicherweise mit den Akteuren vor Ort weiterzuentwickeln – anstatt rezeptartig Konzepte von außen zu importieren. Er schlägt ein Modell mit drei Phasen vor, in dem lediglich der Einstieg in und der Ausstieg aus der Konfliktbearbeitung einer linearen Entwicklung folgen. Dabei kommt es in der Einstiegsphase vor allem darauf an, das Vertrauen der Konfliktparteien zu gewinnen und ein möglichst dichtes Netzwerk sozialer Beziehungen vor Ort zu schaffen. Die mittlere Phase ist gekennzeichnet durch ein flexibles Pendeln zwischen der Kultivierung sozialer Beziehungen, der Bearbeitung von Blockaden und der Ausarbeitung von Vereinbarungen, aus der sich die Ausstiegsphase ergibt.

Interkulturelle Konfliktbearbeitung

Soweit zur Herausforderung, kulturadäquate Verfahren der Konfliktbearbeitung zu entwickeln. Noch schwieriger gestaltet sich freilich die Aufgabe, diesen Faktor zu berücksichtigen, wenn es um die Bearbeitung von Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen geht. Genau darum handelt es sich aber in einer großen Zahl der ethnopolitischen Auseinandersetzungen. Zwar sind die Differenzen in der Regel weniger extrem als diejenigen zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen. Angesichts der starken Fokussierung auf Fragen der politischen Selbst- und Mitbestimmung wird zudem der Faktor Kultur relativiert. Gleichwohl können kulturelle Differenzen auf zweierlei Weise die Konfliktbearbeitung erschweren:

1. Sie belasten das Verstehen und die Verständigung zwischen den Beteiligten, weil und insofern sie die Art und Weise der Kommunikation und Interaktion beeinflussen, bestimmte Normen und Spielregeln für Konfliktaustragung, für Fairness und Angemessenheit beinhalten, kurz: Normalität definieren. Die andere Partei verfolgt dann nicht nur andere Bestrebungen, sie erscheint auch als weniger »normal«, als »unverständlich« (Ethnozentrismus-Problem).

2. Die Unterschiede werden als Ausdruck eines tief verwurzelten Gefühls von »Wir« und »Sie« gedeutet, von kollektiven Identitäten, und mit der Frage verbunden, ob und inwieweit »wir« von »ihnen« respektiert und anerkannt werden. Genau um diese Frage geht es ja auch in vielen ethnopolitischen Konflikten, auch wenn sich die Kontroversen auf der kulturellen Ebene oft sehr viel subtiler äußern als auf derjenigen des Streits um die politische Selbst- bzw. Mitbestimmung (Anerkennungs-Problem).

Das Ethnozentrismus-Problem ist bislang in der Mediationsbewegung nicht befriedigend gelöst. Die konsequente Anwendung einiger Ausgangs-Prinzipien dieser Bewegung (Empowerment, Relativierung von Machtdifferenzen, prozedurale Gerechtigkeit) legt jedoch den Schluß nahe, daß das Verfahren interkultureller Konfliktbearbeitung selbst Gegenstand eines Aushandlungsprozesses sein sollte. Mit anderen Worten: Die kulturspezifischen Vorstellungen der Konfliktparteien sollten bereits in das Design des Mediationsverfahrens einbezogen werden, bevor die eigentliche Konfliktbearbeitung beginnt. Eine Phase der Verfahrensklärung ist also vorzusehen, in der zunächst getrennt mit den streitenden Parteien die für sie kulturell adäquaten Formen erarbeitet werden.

Erst im zweiten Schritt gilt es dann, zusammen mit beiden Parteien einen Weg zu finden, der ihren kulturell geprägten Vorstellungen gerecht wird. Das Verfahren getrennter Vorbereitungen kann zudem den Vorteil haben, daß die Parteien an Handlungsfähigkeit gewinnen. Dies ist vor allem bei asymmetrischen Konfliktkonstellationen sowie bei stark fragmentierten Gruppen wichtig. Es kann ferner hilfreich sein, wenn die Personen innerhalb der Konfliktparteien sich noch wenig kennen.

Die Verständigung über ein konsensfähiges Verfahren ist im übrigen bereits ein Testlauf für die konstruktive Beschäftigung mit den substantiellen Fragen des Konflikts. Dieser Zusammenhang läßt sich bei vielen Verhandlungsprozessen unabhängig vom Faktor Kultur beobachten. Im interkulturellen und ethnopolitischen Kontext gewinnt er allerdings dadurch an besonderer Bedeutung, daß mit dem Einvernehmen über das Bearbeitungsverfahren auch bereits ein Stück wechselseitiger Anerkennung gelungen ist.

Die Vorstellung, jeweils konflikt- und kulturenspezifische Verfahren zu entwickeln, sollte allerdings nicht mißverstanden werden als Zwang, ein bis zum Ende vollständig strukturiertes Ablaufschema zu erarbeiten, zumal dies ohnehin nur in einem monochromen Bezugssystem Sinn machen würde. Angemessener ist eine Leitlinie, die nach dem Konzept der »rollenden Planung« der Dynamik der Konfliktbearbeitung angepaßt werden kann.

Während der Phase der Sachkonflikt- bzw. Beziehungsklärung legen sowohl der Mediations- wie der Konsultationsansatz großen Wert auf das »aktive Verstehen« der jeweils anderen Seite. Bei interkulturellen Konflikten erfordert das Ethnozentrismus-Problem hier allerdings besondere Anstrengungen. Mit Hilfe der dritten Partei geht es darum, die Bedeutungs- und Orientierungssysteme der jeweils anderen Seite zu erkennen und aktiv nachvollziehen zu können, wie diese Differenzen zur Konfliktentstehung bzw. zur Konfliktwahrnehmung beigetragen haben. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Vermittlung spezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit einer konkreten anderen Kultur und der Förderung interkultureller Wahrnehmungs- und Interaktionskompetenzen generell.

Zu beiden Bereichen gibt es aus dem Arbeitsfeld des Interkulturellen Lernens mittlerweile eine Vielzahl von Modellen, Trainingskonzepten und Erfahrungsberichten.26 Die allermeisten von ihnen sind allerdings bezogen auf Zusammenhänge, in denen es positive Anreize zum Kennenlernen anderer Kulturen gibt, z.B. im Jugend- und Studentenaustausch, in multikulturellen Teams oder im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine direkte Auseinandersetzung mit den Widerständen gegen das aktive Verstehen anderer Kulturen hat vor allem im Arbeitsfeld der Antirassismus-Trainings stattgefunden.27

Die Anwendung dieser Methoden setzt voraus, daß in dem jeweiligen Konfliktbearbeitungsverfahren genügend Raum und Zeit für die interkulturelle Kommunikations- und Beziehungsklärung ist. Sofern sich das Konzept der Mediation als Win-Win-Problemlösung vorrangig auf die Regelung eines Sachproblems konzentriert, stößt es bei interkulturellen Konflikten schnell an seine Grenzen. Neben der Vorphase der Verfahrensklärung gebührt deshalb der Arbeit an den Beziehungen und insbesondere an den durch die kulturellen Differenzen entstehenden Mißverständnissen eine durchgängige Aufmerksamkeit. Der Ansatz der Interactive Conflict Resolution ist in dieser Hinsicht offener. Allerdings erschwert bislang der oft sehr akademische Charakter der Workshops die interkulturelle Sensibilisierung.

In der Praxis sind nach allen bisherigen Erfahrungen neben dem Mediationsverfahren die Interactive Conflict Resolution erforderlich, um sowohl erfolgreich in akuten Krisen intervenieren als auch um eine nachhaltige Friedensstiftung bewirken zu können. In beiden Fällen kommt es darauf an, daß die dritten Parteien über hinreichende interkulturelle Kompetenzen verfügen. Was das jenseits der personellen Fähigkeiten zur differenzierten interkulturellen Wahrnehmung und (Selbst-)Reflexion heißt, ist bislang noch wenig erforscht. Viele offene Fragen gibt es auch im Hinblick darauf, wie die Implikationen des hier vorgestellten Konfliktbearbeitungskonzeptes – Empowerment, Relativierung von Machtdifferenzen, prozedurale Gerechtigkeit, wechselseitige Anerkennung von Grundbedürfnissen – mit den Ausschließlichkeitsansprüchen ethno-kultureller Konfliktparteien im einzelnen in Einklang gebracht werden können. Gleichwohl dürfte dieses Konzept wichtige Elemente einer neuen Kultur des Friedens darstellen.

zum Anfang | Akteure ziviler Konfliktbearbeitung

von Christine M. Merkel und Dr. Jörg Calließ

Krieg ist Realität. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Die Medien zeigen uns selektiv die Leidensbilder aus dem Kaukasus, aus Afrika und Asien, vor allem aber aus dem auseinandergefallenen Jugoslawien. Diese Bilder versetzen uns in eine Mischung aus Entsetzen und Hilflosigkeit. Ein Entsetzen, in dem die Empörung über Täter und Mitleid für die Opfer ebenso enthalten ist wie ein diffuses Gefühl der Schuld, weil wir dieses mörderische Treiben nicht beenden können.

Zur Komplexität gewaltsam ausgetragener Konflikte

Daß die öffentliche Diskussion darüber mit überhitzter Leidenschaft und immer wieder auch mit unfruchtbaren Polarisierungen geführt wird, ist kaum verwunderlich, wenn auch sehr problematisch. Ein noch ernsteres Problem jedoch ist der eklatante Mangel an Orientierung, der in diesen Diskussionen offenkundig wird. Wir kommen wieder und wieder in Situationen, in denen uns angeblich nur die Alternative bleibt, in ohnmächtigem Zorn dem blutigen Morden zuzusehen oder mit militärischen Kräften die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen zu erzwingen.

Richtig ist, daß wir in der derzeitigen Umbruchphase des Staatensystems mit gewaltsam ausgetragenen gesellschaftlichen Konflikten konfrontiert werden, bei denen Macht, Interessen und Identitätsfragen ins Spiel gebracht werden. Ökonomische und kulturelle Globalisierungsprozesse lassen den Nationalstaat als Organisationsform obsolet erscheinen, ohne daß neue demokratische Formen schon in Sicht sind, die vorsorgende menschenwürdige Sicherheit zustande bringen könnten. Öffnungs- und Demokratisierungsprozesse bringen Menschen und Gesellschaften in Bewegung und fordern überkommene Machtstrukturen heraus.

Als unmittelbar in der Umbruchzeit von 1989/90 in Rumänien, der jugoslawischen Föderation und auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion Auseinandersetzungen bewaffnet ausgetragen wurden, reagierten die westlichen Regierungen und die internationalen Organisationen wie die UN, die EU oder die KSZE eher rat- und konzeptionslos. Europäische und amerikanische Friedens- und Menschenrechtsorganisationen sahen diese Situation als unmittelbare Herausforderung. Mit dem gleichen Nachdruck, mit dem sie in ihren eigenen Gesellschaften für Menschen- und Bürgerrechte, für Selbstbestimmung, Demokratie und Gewaltfreiheit eintreten, entwickelten sie praktische Initiativen, um in den eskalierten Konflikten präsent zu sein, zum Teil zu vermitteln, zumindest aber auf eine Begrenzung oder Beendigung der Gewalt hinzuwirken.

Trotz einiger beeindruckender Elemente, wie z.B. einer gemeinsamen Frontüberquerung von armenischen und azerischen Frauen 1992, der Serie von ambulanten Runden Tischen in Jugoslawien 1991 und der Friedensarbeit in Osijek und Pakrac zeigte sich rasch, daß die Aufgabe der Friedensstiftung in Konflikt- und Kriegsgebieten außerordentlich vielschichtig ist. Auch bei starkem Engagement ist dies mit mehr oder weniger spontanen und meist eher kurzfristigen Vermittlungsinitiativen nicht getan. Viele der engagierten Nichtregierungsorganisationen merkten rasch, daß es um Beiträge zu einem wesentlich längerfristigen Prozeß gehen müßte, in dem und durch den überhaupt erst die kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine friedliche Bearbeitung von Konflikten geschaffen werden. Dies erfordert eine andere Art der Arbeit, auch des Zusammenarbeitens, um genügend kreative und handfeste Ressourcen zusammenzubringen.

Geboten ist dies auch durch die Komplexität der jeweiligen Konfliktkonstellationen. Eine vertiefte Einsicht über die Ursachen und Zusammenhänge braucht arbeitsteilige Gemeinschaftsanalyse, in der auch das international vorhandene Wissen automatisch mit einbezogen wird.

Ein entscheidender Faktor im Gesamtbild ist die Frage der Rolle der Eilten in der Konfliktdynamik. Was ist ihre Herkunft, ihre Interessenbindung und Loyalität? Worin besteht ihre Strategie, wie wirkt sich ihr Verschleiß und ihre Diskreditierung aus? Welche Dynamik bewirkt die Entstehung von neuen konkurrierenden Eliten, was passiert, wenn solche sich nicht bilden können? Spielt eine ökonomisch potente Diasporagruppe in der Gewaltdynamik eine Rolle, besonders wenn sie in einer der mächtigeren Industriestaaten wie den USA, Großbritannien oder Deutschland residiert?

Insbesondere die Angst alter Eliten vor Rollen- und Machtverlust leistet der Instrumentalisierung von Geschichte Vorschub. Politiker, Militärs und andere Mitglieder der Eliten nutzen ethno-nationale Elemente teils systematisch als Mobilisierungs- und Kampfmittel und sprechen damit offenbar die Vorstellungskraft der Bevölkerung an, die ihre Sorgen und Hoffnungen in diesen Identitätsbildern aufgehoben sieht. Diese Auseinandersetzungen können teils lange schwelen. Entscheidend ist, ob sich die Ausübung des Gewaltmonopols substantiell verändert, sei es durch Neugliederung, Aushöhlung oder Auflösung. Gewalteindämmung wird am schwierigsten, wenn Gesellschaften in ihrer Selbstorganisationsfähigkeit zusammenbrechen und Staaten kollabieren.

Hinzu kommt, daß bisherige Regelsysteme versagen. Die Konflikte, mit denen wir zu tun haben, können nicht angemessen erfaßt werden, wenn wir sie ausschließlich im Koordinatensystem der Staatenwelt verorten und bearbeiten wollen. Tief gesellschaftlich verwurzelt hängt aber ihre Gewaltförmigkeit davon ab, ob massive Interessen der Staatenwelt tangiert werden oder nicht: Ob es einen Willen der Staatengemeinschaft oder Führungsambitionen einer Großmacht gibt, zur Lösung beizutragen, oder ob die betreffende Region eher in der Mischung aus Gleichgültigkeit, Überforderung und selektiver Stützung von Konfliktparteien ihrem Schicksal überlassen wird. Es gibt zahlreiche Beispiele aktiver Außeneingriffe, die zusätzlich zu Destabiliserung und dem Anstacheln von Gewalt führten, wie z.B. die US/UN-Initiative zu Somalia, das Agieren der französischen Politik in Ruanda und Burundi sowie die Kriegsaktion der russischen Föderation in Tschetschenien. International wird sehr kontrovers diskutiert, welche Rolle die deutsche Anerkennung Kroatiens, Sloveniens und später von Bosnien-Herzegowina im Kriegsverlauf gespielt hat, der dadurch eine zwischenstaatliche Qualität bekam. Im Windschatten dieser Brandherde dauern die sogenannten Kriege niedrigerer Intensität an, z.B. in Mittelamerika, Sri Lanka und Afghanistan, wenn auch nicht mehr ungebrochen in der Logik der Blockkonfrontation gefangen und alimentiert.

Ebenfalls kontrovers ist das Urteil, ob und inwieweit Militär und Polizei eher Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Frage wie Ströme von (Klein-)Waffen, Landminen eingeschlossen, staatlich organisierte Menschenrechtsverletzungen, Terror und Gewalt durch (reguläre) Streit- und Polizeikräfte bis hin zum Genozid wurden in der sicherheitspolitischen Diskussion des Kalten Krieges so gut wie gar nicht thematisiert. Auf deren Konto ging jedoch der Großteil der getöteten Kinder, Frauen und Männer der »schmutzigen« Kriege dieser Jahrzehnte.

Gewalteindämmung und Konfliktlösung als Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure

Es macht zwar keinen Sinn, die zivilen, die polizeilichen und die militärischen Mittel der Gewalteindämmung gegeneinander auszuspielen, aber es muß doch sehr beunruhigen, daß drei Jahre nach Boutros Boutros-Ghali's Plädoyer für eine verstärkte zivile Bearbeitung von Konflikten immer noch vorrangig mit militärischen Kräften operiert wird, und dieser Trend sich derzeit zu verstärken scheint. Bei weltweit 30 Millionen Soldaten (darunter auch einige Tausend Soldatinnen) standen der UNO 1994 73.000 Blauhelmsoldaten, 2.100 Zivilpolizisten und 2.200 Zivilkräfte zur Verfügung. Lediglich 40 MitarbeiterInnen widmeten sich innerhalb der UNO Aufgaben der Gewaltprävention.

Auf deutscher Seite stellt sich das Bild nicht anders dar: Während der derzeitige Bundesverteidigungshaushalt 47,9 Milliarden DM beträgt (49,2 Milliarden bei Berechnung nach NATO Kriterien) und alleine dem Reservistenverband der Bundeswehr 26 Millionen DM zur Verfügung stehen, werden für Aufgaben der OSZE lediglich 3,95 Millionen DM und für Entwicklungszusammenarbeit 8,1 Milliarden DM bereitgestellt. Innerhalb der Kirchen zeigt sich ein vergleichbares Mißverhältnis: Während z.B. die EKD jährlich ca. 30 Millionen DM für Militärseelsorge zur Verfügung stellt, werden für die Aufbauphase des ökumenischen Friedensdienstes (Schalomdiakonat) lediglich DM 181.000 (1994) aufgewendet.

Dies ist besonders widersprüchlich im Lichte der artikulierten Bedarfsschätzungen: Alle Beteiligten gehen davon aus, daß die zivilen Aufgaben von Gewalteindämmung und Konfliktlösung quantitativ und qualitativ erheblich zunehmen werden. Die Erkenntnis, daß es in 95% der Gewaltsituationen um nicht-militärische Antworten auf menschliches Leid gehe, war eines der wesentlichen Ergebnisse der Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuß des Bundestages im Mai 1994.

In der Praxis der Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Friedensstiftung der letzten fünf bis sieben Jahre haben eine Vielzahl von Akteuren friedenspolitische Verantwortung in neuer Weise übernommen. Teils bewußt und teils unbewußt beeinflussen sich ihre Bemühungen gegenseitig. Da, wo intergouvernamentale Organisationen und Ministerien im Sinne der Prävention von Gewalt zu arbeiten beginnen, zeichnet sich eine Öffnung hin zur Arbeitsweise zivilgesellschaftlicher Akteure ab. Institutionelle Innovationen wie z.B. der OSZE Hochkommissar für Minderheitenfragen, OSZE Langzeitmissionen, der UNO Hochkommissar für Menschenrechte, der OAU Mechanismus zur Konfliktregelung sowie vertrauensbildende Maßnahmen des Europarates zeugen von Lernfähigkeit unter dem Druck veränderter Anforderungen.

Diese Formenvielfalt, die noch vor fünf Jahren im sicherheitspolitischen Konzeptdenken fast völlig fehlte, ist wohl nicht zufällig dort entstanden, wo die institutionelle Praxis eher Elemente von Dialog und Kommunikation zeigt. Dies stößt dann an Grenzen, wenn, wie z.B. im Fall Somalia, verschiedene Machtlogiken in der UNO aufeinanderprallen und positive Entwicklungen der Gewalteindämmung konterkarieren, oder wenn, wie im ehemaligen Jugoslawien, gegensätzliche nationale Interessen innerhalb der EU die Gewalteskalation der internen Machtkämpfe eher begünstigen denn bremsen.

Ein deutlicher Akzent in dieser Praxis liegt auf Strategien, Gewalteindämmung und Deeskalation durch Aktivierung und Stärkung des intermediären Bereiches in den von Krieg und Gewalt bedrohten oder geschüttelten Ländern zu erreichen. Zentral ist dann weniger die Frage, wie neutrale Außenstehende zur direkten Konfliktlösung beitragen, sondern wie sie mitwirken können, daß die involvierten Insider Raum, Zeit und Instrumente schaffen können, um die gesellschaftlichen Macht- und Identitätskonflikte ohne Gewalt auszutragen. Diese Einsicht wird v.a. von den internationalen NGOs artikuliert, findet aber teils auch Eingang in das konzeptionelle Denken intergouvernamentaler Organisationen. In der Praxis erfordert dies integrierte und längerfristig aufeinander abgestimmte Arbeitsweisen zwischen internationalen und örtlichen Personen einerseits sowie zivilgesellschaftlichen und politischen Kräften andererseits.

Als wesentlicher singulärer Problemfaktor wird von fast allen Akteuren das Vorhandensein eines Medienmonopols in potentiellen Konfliktgebieten bezeichnet. Wirksame Informationskapazität, vor allem Radiosender, für internationale Teams kann über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Entwicklungs- und wahrnehmungsbedürftig ist auch die kulturelle Diversität der Konflikttransformation, wobei man es kaum mit unangetasteten Formen traditioneller Befriedung und Aussöhnung zu tun hat, sondern mit Mischformen und Überlagerungen von Symbolen und Ritualen.

Für die Überlegungen zur Neugestaltung von Friedensdiensten ergeben sich daraus weitreichende konzeptionelle und praktische Konsequenzen.

Probleme und Defizite

Als Hauptmangel wird inzwischen nicht mehr die Frühwarnung genannt, sondern die frühe Handlungsfähigkeit und Ideenumsetzung auf Basis einer praxisrelevanten Auswertung der vorhandenen Daten. Wirklich nützliche Kenntnisse über Konfliktverläufe und vor allem auch Konfliktparteien werden als konzeptionelle Lücke vermerkt. Die Verarbeitung der Informationsfülle ist sowohl für intergouvernamentale Organisationen als auch für NGOs ein Problem. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir wissen und kommen sehen, und dem, was wir als Einzelne oder als Organisationen tatsächlich tun und abwenden können, wird verstärkt empfunden.

Die praktischen Defizite sind legio. Sie hängen weitgehend mit dem Unwillen zusammen, vorausschauend und gut beraten tätig zu werden sowie örtliche Akteure tatkräftig und nachhaltig zu unterstützen. Dies hat sicherlich auch mit dem mangelnden politischen Willen zu tun, sich auf die Risiken früher Handlung einzulassen, wenn die Probleme noch nicht unumgehbar geworden sind. Diese Klage zieht sich wie ein roter Faden durch die Äußerungen der meisten Verantwortlichen, Beamte einiger Ministerien und intergouvernamentaler Organisationen eingeschlossen, wobei sich teils die Frage aufdrängt, wer auf einen Impuls von wem wartet.

Abgeleitet von derzeit 79 gewaltsam ausgetragenen Konflikten und den 250 sich abzeichnenden Konfliktsituationen mit Risiko der Gewalteskalation schätzen zivilgesellschaftliche Organisationen einen effektiven Bedarf von dreißig- bis vierzigtausend Menschen pro Jahr weltweit (zum Vergleich: hunderttausend UN-Blauhelme 1994). Für Deutschland würde dies eine Beteiligung von 1500 in Konfliktbearbeitung und Gewalteindämmung geübten Frauen und Männern pro Jahr in der Anfangszeit erfordern.

Den derzeitigen Mangel an geeigneten Personen sowie die Fülle der ungenügend gelösten Organisations- und Managementfragen sollte man jedoch auch nicht unterschätzen. Allerdings zeigen die Beispiele der Organisation von humanitärer Hilfe sowie von Wahlbeobachtung, daß bei entsprechender politischer Motivation der Bundesregierung oder auch der Europäischen Union auf erhebliche praktische Defizite sehr schnell mit verstärkter Ressourcenmobilisierung und konzeptioneller Verbesserung reagiert wurde.

Freilich, ein tragfähiges und vor allem stimmiges politisches Konzept hat man damit noch nicht. Dies kann auch wohl kaum als »Grand Design« entstehen, sondern nur aus der reflektierten Praxis, mit hoher Lernbereitschaft. Genauso wichtig ist der starke politische Wille, Gewalt nicht zu akzeptieren und der Zivilisierung hartnäckig auf den Fersen zu bleiben. Für den Einstieg in diese Kultur des Friedens ist erforderlich, daß Akteure und Akteursgruppen ihre Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten systematisch auf die Anforderungen und Notwendigkeiten von Zivilisierungsprozessen hin entwerfen, miteinander abstimmen und gegebenenfalls verknüpfen.

Das »zivilisatorische Hexagon« (Senghaas 1994, S. 17ff.) bietet dafür eine begriffliche Grundlage. Seine Nützlichkeit besteht vor allem darin, die Bedingungen für zivilisierte Konfliktbearbeitung im Zusammenhang zu sehen. Diese wird dann möglich, „wenn kollektive Akteure ihre inneren und externen Konflikte ohne Rückgriff auf kollektive Gewalt erfolgreich bewältigen“. Sie ist an sechs Bedingungen geknüpft, von denen jede grundlegend, aber keine für sich alleine hinreichend ist und zwischen denen vielfältige Rückkopplungen bestehen: Das legitime, in aller Regel staatliche, Gewaltmonopol, dessen Kontrolle durch Rechtsstaatlichkeit, die Entwicklung von Interdependenzen und damit von Affektkontrolle, die demokratische Teilhabe, die soziale Gerechtigkeit und eine konstruktive Konfliktkultur.

In der Tat geht es in erster Linie um politische Prioritäten und Werte. Es muß grundsätzlich entschieden werden, daß der Gewaltprävention eine gesellschaftlich, politisch, organisatorisch und finanziell gesteigerte Bedeutung zukommt. Sonst bleibt es mit den Worten des österreichischen Diplomaten Freudenschuß „eine Medizin, von der viel geredet, die aber ungern genommen wird“. Eine Konzentration auf die Gewaltprävention setzt voraus, die zivilen Aspekte von Konfliktlösung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit aufzuwerten, im Sinne der Erkenntnis »vorbeugen ist besser und billiger als Soldaten stationieren und wiederaufzubauen«. Es erfordert auch eine Veränderung der Denkweise. Negativ ist das Phänomen und die Kultur der Gewalt, nicht die Tatsache von Konflikten, die für Veränderung und Wandel nötig sind. Hier bahnt sich ein Umdenken an, welches Konfliktlösungsprozesse nicht als Kompromißbildung mit Siegern und Verlierern versteht, sondern als Ringen um Kooperation mit potentiellem Gewinn für alle Beteiligten.

Der Sinn einer systemischen Zusammensicht aller Beiträge zu ziviler Konfliktarbeitfolgt aus dem bisher Gesagten. Selbst wenn man sich als Akteursgruppe aus guten Gründen für begrenzte oder gar keine Kooperation entscheidet, macht es einen großen Unterschied, wenn man den je eigenen Beitrag aus dem Verständnis der Gesamtdynamik aller Akteure heraus konzipiert und einbringt. Je mehr sich diese Einsicht durchsetzt, desto eher kommt es zu Friedensdiensten und intergouvernamentalen Missionen, die mehr werden können, als nur eine ad-hoc Ansammlung von fähigen Menschen guten Willens oder administrativer Zugehörigkeit. Die Stärke dieser Sichtweise ist zudem ihre Multi-Polarität: Der Aufbau und die Verstärkung ziviler Konfliktlösung kann und muß in Such- und Lernbewegungen von allen Akteuren vorangebracht werden, ohne zeitliche oder hierarchische Nachordnung. Wir haben es hier mit Integrationsprozessen zu tun.

Die einzelnen Akteure sind unterschiedlich weit von einer solchen Gesamtsicht entfernt. In Teilen des Diskurses von UNO und OSZE ist das Problem durchaus erkannt, teils artikulieren sie dies stärker als die entsprechenden Ministerien der Bundesregierung (AA, BMZ, BMVg). Die deutschen friedenspolitischen NGOs beziehen sich in ihrer eigenen Arbeit mit wenigen Ausnahmen nicht auf die Praxis von UNO, OSZE und Europarat, sehen dies jedoch mehrheitlich als Nachholbedarf, ebenso wie die Kommunikation mit den entsprechenden Ministerien. Je nach Praxisfeld bestehen Kooperationsbeziehungen mit internationalen NGOs sowie Stadtbehörden und Landesregierungen. Das gute Dutzend deutscher AkademikerInnen, welche die Konfliktbearbeitungspraxis reflektierend verarbeiten, bezieht sich vorrangig auf internationale NGOs und Institute sowie auf UNO und OSZE.

Das entwicklungspolitisch orientierte Milieu im kirchlichen Umfeld stellt im deutschen Kontext eine deutliche Ausnahme dar, auch was ihre Kontakte zu Parlamentariern und Bundesministerien betrifft. Ihr Fokus ist die direkte (amts-)kirchliche Beteiligung an Mediationsarbeit und Kriegsbeendigung bzw. die Unterstützung von NGOs wie International Alert und Peace Brigades International. Sie haben aber in der Regel kaum Verbindungen zum OSZE-Praxisfeld.

Natürlich werden auch bei stark verbesserter systemischer Zusammenschau Konflikte zwischen Kooperation und Autonomie bleiben und für Innovationen auch nötig sein. Die zivilgesellschaftliche Stärke, im eigenen Handeln nicht weisungsgebunden zu sein, macht es möglich, auch heiße Eisen anzupacken, so eine ausreichende Unabhängigkeit der Ressourcen gegeben ist.

Aspekte zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit

Im Interesse des Friedens in der Welt sind erheblich institutionelle und konzeptionelle Neuerungen dringend geboten. Sie müssen die Entwicklung von Konzepten und Instrumenten ziviler Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Konfliktbearbeitung voranbringen und auf den Aufbau einer Infrastruktur für die Zivilisierung der Konflikte hinzielen.

Das Szenario für die Infrastruktur der zivilen Konflikttransformation erfordert keine zusammenfassend-zentralen Strukturen, die nur Verdrängungsängste und Abwehr mobilisieren, sondern halb-durchlässige Verzahnung, Kommunikation und offene Kooperationsangeboteauf der Basis der Stärkung der Arbeitsfähigkeit der jeweiligen Akteure.

Bezogen auf die intergouvernamentalen Strukturen geht es – auf der Basis nüchterner Einschätzung des politischen Willens – um die Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit und Autorität. Aus der Gesamtsicht der Konfliktbearbeitungsaufgaben ist größere Durchlässigkeit und Transparenz sowohl von Regierungsstellen als auch von internationalen Delegationen und Gremien vordringlich.

Zur Erreichung des ersten Zieles gibt es Reformvorschläge wie die Stärkung des internationalen Gerichtshofes, Eigeninitiativen des UN-Generalsekretärs, pro-aktive Nutzung der UN-Menschenrechtsinstrumentarien und die Einrichtung eines Petitionsausschusses. Neue Gedanken sind die Aufnahme der Rolle internationaler Mediatoren in der UN-Charta und die Schaffung eines Konfliktrates. In der Ergänzung zur Agenda für den Frieden vom Januar 1995 wird die Unterstützung von Sonderbotschaftern durch kleine Langzeitmissionen vor Ort vorgeschlagen. Bei den Blauhelmeinsätzen seien vor allem drastische Mängel in Ausrüstung und Ausbildung zu beheben. Die Trennlinie zwischen Friedensdurchsetzung und Friedenssicherung sei klar zu ziehen, militärische Gewalt könne politische Prozesse nicht beschleunigen, es handle sich hier nicht um benachbarte Elemente eines Kontinuums. Die Forderung nach der Aufstellung rasch mobilisierbarer Bereitschaftskräfte in Brigadengröße (10.000 Soldaten) wird wiederholt, die unter integriertem UN-Kommando zum Einsatz kommen sollen.

Kontrovers wird beurteilt, ob eine Verrechtlichung der OSZE ihre politischen Handlungsmöglichkeiten tatsächlich verstärken würde. Die Kernfrage – wie auch in der UNO – ist, wie Staaten zur Teilnahme an vorbeugenden oder gewalteindämmenden Maßnahmen verpflichtet werden können, wenn es ihr jeweiliges Staatsgebiet und ihr eigenes Handeln betrifft.

Zur Erweiterung des Handlungsspielraums ziviler Akteure und intermediärer Institutionen in gefährdeten Regionen kann auch die Präsenz von UN-Einrichtungen, wie z.B. Ressourcenzentren für präventive Diplomatie beitragen. OSZE-Foren zu Spannungsherden können eine vergleichbare Rolle spielen. Zur Programmförderung ziviler Akteure in gewaltbedrohten Regionen sollte in Deutschland ein parlamentarisch kontrollierter Fonds analog der Strukturen der politischen Stiftungen oder der Einrichtungen der Entwicklungspolitik geschaffen werden. Aus diesem Fonds könnten auch Arbeits- und Reisestipendien für komplementäre internationale Unterstützung zur Verfügung gestellt werden.

Dauerhafte Wege aus der Gewalt kann es nur mit Frauen geben

Von allen Akteursgruppen wird die schnelle Verfügbarkeit von geeigneten freiwilligen zivilen Kräften als Haupthindernis genannt. Dies erfordert sowohl praktische als auch administrative und gesetzliche Antworten. Potentere gesellschaftliche und öffentliche Arbeitgeber wie Bundes- und Landesbehörden, größere Kommunen, wissenschaftliche Institute, Kirchen, NGOs u.a. sollten trotz bekannter Stellenstreichungspolitik ihre Möglichkeiten prüfen, Freistellungsressourcen zu poolen und aufeinander abzustimmen. Auch institutionell nicht gebundene Personen sollten dafür in Frage kommen. In der kommunalen Nord-Süd-Arbeit gibt es bereits Vorläufer dieser Idee. Ein Bundes-Freistellungsgesetz könnte die Rahmenbedingungen dafür schaffen und durch entsprechende steuerliche und administrative Anreize stimulieren. Als Resultat würde dann für interessierte und fähige Frauen und Männer die Möglichkeit bestehen, im Zeitraum von fünf bis sieben Jahren wiederholt für drei bis sechs Monate friedensschaffende Aufgaben wahrzunehmen. Dies ist besonders deswegen so wichtig, weil alle vorhandenen empirischen Auswertungen betonen, daß Lebenserfahrung, -klugheit und Charakter die entscheidenden Merkmal seien, die die Wirksamkeit von Beiträgen zu ziviler Konfliktbearbeitung ausmachen. Im Felde der Wahlbeobachtung erbrachten diejenigen Länder (wie z.B. die Niederlande) die sinnvollsten Beiträge, die ihre BeobachterInnen über öffentliche Ausschreibungen rekrutierten.

Erhebliche Mühe macht fast allen Akteursgruppen die Einstellung auf diesen neuen Typus von Aufgaben. Veränderung und Umlernen ist für Diplomaten, Administration, Polizisten und Militärs am schwierigsten, vor allem, wenn sich die Institutionen und Befehlshierarchien, in denen sie handeln, nicht oder nur ungenügend mit verändern. Polizisten und Militärs sind bislang am geringsten in das Gespräch über die Gesamtsicht der Akteursgruppen involviert.

Zivilgesellschaftliche Akteure müssen ihre Heterogenität so verbinden, daß sie sektorübergreifend in Richtung Makroebene handlungsfähiger werden. Dies setzt entsprechende Professionalisierung, Kapazität zu (internationaler) Kooperationsfähigkeit, Teilen von Ergebnissen und Entbürokratisierung großer NGOs voraus.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in Deutschland angesiedelte weltoffene Lernorte für zivile Akteure dringend erforderlich sind. Sie können graduell durch Bündelung und Fortentwicklung bereits bestehender Angebote zu Konfliktanalyse und Training entstehen, sofern die international bereits vorhandene Qualität vergleichbarer Lernzentren systematisch einbezogen wird. Das wichtige Ziel interkultureller Kompetenz kann wesentlich besser erreicht werden, wenn solche Orte koedukativ für TeilnehmerInnen aus verschiedenen Kulturen und Erdteilen offenstehen sowie unterschiedliche Akteursgruppen zusammentreffen. Offene Kooperationsangebote an die Einrichtungen der Diplomaten-, Polizei- und Blauhelmausbildung sind eine notwendige Ergänzung. Für eine stabile Wissensbasis und die Verankerung in Schulen und Universitäten ist das Auftauen der Mittel für Friedensforschung unabdingbar.

Zur Erhöhung der Ressourcen und mittelfristigen Korrektur der dramatischen Unverhältnismäßigkeit der Mittelverteilung braucht es klare Zielvorgaben. Als Methode wird die Einrichtung eines festes Prozentsatzes des Verteidigungsetats (für den EKD Bereich: des Militärseelsorgehaushaltes) für Zwecke präventiver Diplomatie empfohlen. Als weitere Einstiegsmaßnahme bietet sich an, mindestens ein Promille des Etats, der jeweils ad hoc für Auslandseinsätze der Bundeswehr mobilisiert wird, für zivile Aufgaben und Projekte der Konfliktbearbeitung zur Verfügung zu stellen. „Put your money where your mouth is“, diesen markanten Satz steuerte die bekannte schottische Journalistin Joyce McMillan zum Kernproblem dieser Debatte bei.

Es ist unabdingbar, daß signifikante Beiträge zur Infrastruktur ziviler Konfliktarbeit aus Deutschland kommen und multilateral wirken, sowohl in den unmittelbar betroffenen Konfliktregionen als auch in Synergie mit anderen Akteuren aus dem In- und Ausland. Von einer Mittelmacht mit erheblicher materieller und menschlicher Kraft ist hier ein politisch-ethisches Engagement zu fordern, vergleichbar den Rollen Kanadas, Schwedens, der Niederlande oder Australiens, und sei es auch hauptsächlich mit der Motivation der Befriedung der unmittelbaren Interessenszonen in Mittel- und Osteuropa sowie im Mittelmeerraum.

Verglichen mit dem international vorhandenen Erfahrungsreichtum stehen wir in Deutschland am Anfang, wenn auch die Intensivierung der Arbeit in den letzten zwei bis drei Jahren deutlich sicht- und spürbar ist. Abgesehen von unserer unterentwickelten gesellschaftlichen Streitkultur fällt auch die Abwesenheit transnationaler NGOs hierzulande auf. Es gibt kaum Einrichtungen mit multinationalem Personal, Vorstand oder Beiräten, im günstigsten Fall ist man mit ausländischen Organisationen dieses Typus verbunden. Weltoffenheit mit Augenmaß und Bodenhaftung hat es so noch schwerer, als dies auf dem Weg ins 21. Jahrhundert sein müßte.

Bei konstatierter unbeständiger Motivation der Bürger und Bürgerinnen einer vereinzelnden Medien- und Konsumgesellschaft, die auf Erlebniskitzel ohne Risiko orientiert, brauchen wir sowohl lebensbejahende mutige Menschen als auch eine gesellschaftliche Verfassung, die „Geier des Friedens“ (Manfred Drewes) darin bestärken, Gewaltentschlossene nicht in Ruhe zu lassen. Sicher, noch fehlen entscheidende Voraussetzungen für das Projekt der zivilen Konfliktbearbeitung. Es fehlt die konzeptionelle Phantasie, die wissenschaftliche Aufklärung, die theoretische Verankerung. Es fehlen Mechanismen, Instrumente und Infrastruktur. Es fehlen menschliche Fähigkeiten, personelle Kapazitäten und entsprechende Ressourcen. Damit dürfen wir uns aber nicht abfinden, wenn wir nicht wieder und wieder mit falschen tragischen Alternativen konfrontiert werden wollen, entweder in ohnmächtigem Zorn dem blutigen Morden zuzusehen oder mit militärischen Kräften die Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen erzwingen zu sollen.

Aber hier öffnet sich ein neues Fenster: Jede auch noch so ausgereifte Konzeption der Konfliktzivilisierung läuft Gefahr, über der Erfassung der Bombensplitter in den Konflikten der anderen den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Bei einer internationalen Übersicht zeigten so gut wie alle Akteursgruppen gravierende Lücken in der Geschlechterparität.In den für Konfliktlösung relevanten Gremien und Abteilungen der internationalen Organisationen und der Kirchen findet sich ein Männeranteil zwischen 97 % und 90 %. Im Bereich der Institute und NGO-Hauptamtlichen sind es zwar »nur« achtzig bis siebzig Prozent Männer, jedoch haben sie – bis auf Ausnahmefälle – die leitenden Rollen fest im Griff. Lediglich im Bereich der Freiwilligendienste nähern wir uns einem etwas ausgeglichenerem Verhältnis: Hier kommen auf drei Männer zwei Frauen.

Den Ton im Konzert der Konflikttransformation geben im wesentlichen die »weißen, westlichen Männer« sowie einige farbige, nicht-westliche Männer an. Ein Forschungsprojekt der UN-Universität macht diese Schieflage neuerdings zum Thema. Es ist dem Vorbereitungsprozeß auf die Weltfrauenkonferenz 1995 zu danken, an eine UNO-Resolution aus dem Jahre 1982 erinnert zu haben, die Geschlechterparität innerhalb der UNO als wichtiges Ziel vorgibt.

Mit der Trilogie »Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden« hatte die 4. Weltfrauenkonferenz die Fragen der »Auswirkungen von bewaffneten und anderen Konflikten auf Frauen«. bewußt in den Mittelpunkt gestellt. Fragen der Konfliktbearbeitung und Friedensstiftung wurden auch im deutschen Vorbereitungsprozeß intensiv erörtert. Das Nationale Vorbereitungskomitee hatte 12 beratende Arbeitsgruppen mit Fachfrauen berufen, darunter eine AG Frauen und Frieden (AG 11). Ihre Vorschläge zur Einrichtung eines UN-Konfliktrates sowie zur Einberufung einer UN-Weltfriedenskonferenz im Jahre 2000 wurden in Peking diskutiert. Die Durchsetzung der Menschenrechte aller Frauen sowie der Ziele der Weltfrauenkonferenz erfordern die Beendigung kriegerischer Konflikte sowie zivile Formen der Konfliktlösung – so ein Kernsatz des Memorandums des NRO-Frauenforums zur Vierten Weltfrauenkonferenz.

Eine Delegation von 25 Frauen aus allen Landesteilen und unterschiedlichen Klanen Somalias war mit Unterstützung des schwedischen Life & Peace Instituts nach Peking gekommen. Ihre Botschaft an die UNO war eindeutig: Hätten sie in Somalia nicht nur die Warlords, sondern auch die Frauen und andere Kräfte der Zivilgesellschaft als Verhandlungspartner und Friedensstifter anerkannt, die Dinge wären anders gelaufen. Dauerhafte Wege aus der Gewalt heraus können nur auf zwei Beinen zustande kommen. Selbstverständlich organisieren sie Projekte des Überlebens unter schwierigsten Bedingungen. Ihre Kinder haben seit fünf Jahren keine Schulen mehr gesehen, Minenräumen ist flächendeckend nötig und sie versuchen, wenigstens ein Minimum an Geburtshilfe zu leisten. All das kann jedoch nicht tragfähig werden, wenn es auf den humanitären Bereich begrenzt bleibt.

Diese Lebensfragen werden die Nagelprobe für eine Kultur des Friedens sein. Es stünde der UNESCO gut an, hier Hebammendienste zu leisten und Rolle und Verhalten bewaffneter Männerbanden zu thematisieren. Tragen wir dazu bei, daß diese Hürde genommen wird.

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4. Weltfrauenkonferenz 1995, Memorandum des deutschen NRO Frauenforums.

zum Anfang | Perspektive politischer Bildungsarbeit

von Günther Gugel und Uli Jäger

In den politischen Erklärungen und wissenschaftlichen Expertisen der letzten Jahre über die neuen »globalen Herausforderungen« wird immer häufiger darauf verwiesen, daß für eine angemessene Problembearbeitung neben technischen Innovationen und politischen Umorientierungen auch große Anstrengungen im Bereiche der Erziehung und Bildung erforderlich sein werden.28 Tief in das Wertesystem reichende Umorientierungen von Einstellungen und Verhaltensweisen und die Veränderungen bestehender Weltbilder seien notwendig, damit die anstehenden Zukunftsaufgaben von Regierungen und den Menschen auch tatsächlich gemeinsam bewältigt werden können.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen weist in seinem Jahresgutachten 1993 auf die Notwendigkeit der Entwicklung und der Vermittlung einer neuen Verantwortungsdimension hin: „Da Menschen dazu tendieren, eher lokal zu denken und zu handeln, besteht eine der größten Aufgaben darin, das Verständnis für diese Wechselbeziehungen zu vermitteln, damit es in angemessenes Handeln umgesetzt werden kann. Das Erkennen der globalen und generationenübergreifenden Dimensionen des Umgangs mit der Umwelt muß zur Grundlage einer allgemeinen Ethik werden.“ 29 Da viele globale Umweltprobleme nicht unmittelbar anschaulich und erlebbar sind, kommt ihrer Vermittlung in alltäglicher Kommunikation, durch die Medien oder durch Bildungsmaßnahmen große Bedeutung zu.

Folgt man der Agenda 21, so spielt dabei besonders das organisierte Lernen, vor allem in Schulen sowie anderen Bildungseinrichtungen und die Schaffung eines öffentlichen Bewußtseins eine zentrale Rolle für die „Förderung nachhaltiger Entwicklung und die Verbesserung der Fähigkeit der Menschen, Umwelt- und Entwicklungsprobleme gleichzeitig zu bewältigen.“ 30

Bei der 44. Sitzung der Internationalen Bildungskonferenz der UNESCO (in Genf vom 3. bis 8. Oktober 1994) verabschiedeten die Bildungsminister einen Integrierten Rahmenaktionsplan zur Friedens-, Menschenrechts- und Demokratieerziehung. Der Rahmenplan formuliert äußerst konsequent die Notwendigkeit, die Bereiche Frieden, Menschenrechte, Demokratie, Umwelt gemeinsam nicht nur in der Politik, sondern auch in der Erziehung und allen Bildungsbereichen zu entwickeln. Darin heißt es u.a.: „In einer Zeit des Übergangs und des beschleunigten Wandels, der durch Anzeichen von Intoleranz, Erscheinungsformen des rassischen und ethnischen Hasses, des Wiederaufkommens von Terrorismus in allen seinen Formen und Ausprägungen, der Diskriminierung, des Krieges und der Gewalt gegen solche, die als »andersartig« gelten, gekennzeichnet ist, in der die Kluft zwischen reich und arm auf internationaler wie auf nationaler Ebene immer größer wird, müssen Gegenstrategien darauf abzielen, sowohl die Grundfreiheiten, den Frieden, die Menschenrechte abzusichern als auch eine langfristig tragfähige und sozial gerechte wirtschaftliche und soziale Entwicklung sicherzustellen, da alle diese Elemente einen wesentlichen Anteil am Aufbau einer Kultur des Friedens haben. Dazu gehört notwendigerweise die grundlegende Veränderung traditioneller Formen der Bildung.“ 31

Schließlich betont der 1995 vorgelegte Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik: „In der Tat müssen die Bürger der Einen Welt zu vielen Zwecken zusammenarbeiten: Für die Erhaltung von Frieden und Ordnung, für die Ausweitung wirtschaftlicher Aktivitäten, beim Kampf gegen die Umweltverschmutzung, für die Beendigung oder Minimierung des Klimawandels, bei der Seuchenbekämpfung, der Einschränkung der Waffenverbreitung, der Verhinderung von Desertifikation (…). Immer mehr Themen verlangen nach gemeinsamen Anstrengungen der Nationalstaaten, mit anderen Worten, erfordern nachbarschaftliches Handeln.“ 32

Diese und andere Stellungnahmen zeigen, daß auch auf regierungspolitischer Ebene nicht mehr (nur) technologische Lösungen für die anstehenden Probleme gefragt sind. Immer wieder wird betont, daß die Menschen lernen müssen, die Welt mit »neuen Augen« zu sehen und daß das Weltbild in den Köpfen sich ändern muß, ehe man sich wirklich neuen Lebensweisen zuwenden kann.33 Man scheint erkannt zu haben, daß die notwendigen Formen der »technologischen« Problembearbeitung erst dann wirksam werden, wenn sie von den (betroffenen) Menschen verstanden und akzeptiert werden und in alltägliches Handeln umgesetzt werden können. Denn neue Sichtweisen müssen sich in realem Verhalten niederschlagen, damit umfassende Problemlösungen möglich werden. So müssen bei allen Lernprozessen auch Strategien der Verhaltensänderung einen wichtigen Stellenwert erhalten.

Politische Bildung und globale Gefährdungen

Der Bildung, insbesondere der politischen Bildung, wird somit von Politik und Wissenschaft eine Schlüsselfunktion für den Weg ins 21. Jahrhundert34 zugeschrieben. Adressaten sind vor allem Jugendliche, zumal sie Untersuchungen zufolge für das Thema sehr sensibel sind und sich schon heute mit keinem anderen Problembereich stärker auseinandersetzen.35

Doch den daraus resultierenden Anforderungen und Hoffnungen kann politische Bildung in ihren heutigen Strukturen und ihrer heutigen Ausrichtung kaum gerecht werden, da sie im Rahmen der gesamten Bildungsarbeit nur eine untergeordnete Rolle spielt. So waren 1992 nur 0,5 % aller Kursangebote an deutschen Volkshochschulen der politischen Bildungsarbeit gewidmet und nach empirischen Untersuchungen nehmen nur ca. 1 % der Bevölkerung an Veranstaltungen zur politischen Bildungsarbeit teil.36

Hinzu kommt, daß es bislang nicht gelungen ist, praxisrelevante Konzeptionen für die politische Bildungsarbeit zu entwerfen, um der Suche nach neuen Orientierungen gerecht zu werden.37 Sowohl beim Themenangebot als auch in der Umsetzung sind erhebliche Lücken im Hinblick auf die notwendigen zukunftsorientierten Lernprozesse festzustellen. Und nicht zuletzt werden die Vorteile der neuen Medien für die Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen bislang noch viel zu wenig genutzt. Es gibt z.B. zwar eine Reihe von mehr oder weniger guten Computerspielen, aber noch kaum Computersimulationen, mit deren Hilfe sich Jugendliche spielerisch Einblicke in Problemzusammenhänge und -abhängigkeiten, aber auch in unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten erarbeiten können. Dies liegt wohl mit daran, daß die Diskussion im Bereich der neuen Medien zu sehr unter dem Aspekt der Gefährdungen und nicht dem der Chancen geführt wurde.38

Aufgrund der Themennähe, der vielfältigen methodischen Ansätze und der langjährigen Erfahrungen sind die entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die Umwelterziehung, die Friedenserziehung sowie die Menschenrechtserziehung für die Auseinandersetzung mit den globalen Herausforderungen besonders qualifiziert. Betrachtet man diese Ansätze in bezug auf ihren derzeitigen Diskussionsstand sowie die vorfindbare Praxis, so können Trendaussagen über die Reichweite und den jeweiligen Beitrag zum Umgang mit globalen Gefährdungen gemacht werden.

Menschenrechtsschutz und damit verbunden das Verständnis von Menschenrechtserziehung wurde lange Zeit als Schutz von Individualrechten (klassisch in der Ausprägung der politischen Rechte) vor staatlichen Übergriffen verstanden. Mit der Etablierung einer zweiten und dritten Generation von Menschenrechten, den sozialen Menschenrechten sowie den Rechten von Völkern gegenüber der Gemeinschaft von Staaten hat sich sowohl der Blickwinkel, als auch die Diskussion um Menschenrechte entscheidend verändert. Immer mehr tritt die Forderung auf, neben einem Individualschutz die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen als Gegenstand von Menschenrechtsarbeit zu sehen.39 Damit verbunden ist auch eine Verschiebung klassischer Menschenrechtsarbeit von der »nachsorgenden Betreuung« hin zur Prävention. Konsequenterweise treten deshalb Fragestellungen und Themen in das Blickfeld der Menschenrechtserziehung wie Ursachen von Armut, Welthandel, Krisen und Kriege, die bislang klassische Themen entwicklungspolitischer und friedenspädagogischer Ansätze waren.

Obwohl die sozialwissenschaftliche Forschung generell zu dem Ergebnis kommt, daß es keinen direkten Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten gibt,40 basieren viele Ansätze im Bereich der Umweltbildung (insbesondere im schulischen Bereich) immer noch auf der Vermittlung kognitiven Wissens. Eine synoptische Untersuchung von 400 empirischen Studien der Umweltbewußtseinsforschung kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß fast durchgängig kein oder nur ein sehr schwacher Zusammenhang zwischen dem Umweltwissen und dem Umweltverhalten einer Person nachzuweisen sei. Ebenso gäbe es kaum einen Zusammenhang zwischen dem Umweltbewußtsein und dem Umweltverhalten.41 Eine Lehrerbefragung zur Umwelterziehung kommt zu dem Ergebnis: „Der in der Umweltbildung und Umwelterziehung bisher vorherrschende pädagogische Ansatz, der ja ausdrücklich verhaltensorientiert sein will, knüpft an den Aufbau ökologischen Wissens und Bewußtseins die Erwartung umweltverträglichen Verhaltens. (…) Probleme der Umsetzung von Verhaltensdispositionen in konkretes Verhalten bleiben ausgeblendet bzw. werden marginalisiert.“ 42

Umweltbildung, so der wissenschaftliche Beirat Globale Gefährdungen, bleibe meist auf eine lokale und nationale Sichtweise beschränkt, die der neuen Qualität komplexer globaler Umweltveränderungen nicht gerecht werde. Globale Umweltveränderungen fänden bislang erst in geringem Ausmaße Aufmerksamkeit.43

Der politisch-wirtschaftliche und der politisch-ethische Bereich sind in der Umweltbildung unterrepräsentiert.44 Doch sich als Subjekt ökologischer Veränderungen zu begreifen und in das umwelt(-politische) Geschehen einzugreifen, ist eine der zentralen Aufgaben von Umweltbildung.45 Denn Umweltprobleme sind in der Regel durch Interessengegensätze, unterschiedliche Bewertungen und divergierende Vorstellungen über Handlungskonsequenzen gekennzeichnet. Umweltbildung muß deshalb in den gesellschaftlich-politischen Kontext eingebunden sein muß in weiten Teilen auch zur politischen Bildung werden.46 Dabei darf nicht übersehen werden, daß „ein neues Gesamtbewußtsein des Menschen zu seiner Umwelt die wichtigste Grundlage ist, auf der allein technisch/naturwissenschaftliche Arbeit wirken kann.“ 47

Auch Analysen zur Reichweite entwicklungspädagogischer Bildungsarbeit kommen zu dem Schluß, daß trotz beachtenswerter Erfolge erhebliche Defizite zu verzeichnen seien.48 Bei der Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten und pädagogischen Konzepten für die Auseinandersetzung mit den »globalen Problemen« wie Verschuldung, Umweltzerstörung oder Flüchtlingsbewegungen seien Unsicherheiten und Ungewißheiten hinsichtlich der Problembeschreibung und der Bearbeitungsmöglichkeiten auch in der Entwicklungspädagogik und der Dritte-Welt-Bewegung noch nicht überwunden.49 Die dort verwendeten zentralen Begriffe wie »Eine Welt« und »Globales Lernen« werden erst nach und nach mit Inhalten gefüllt.50 So kann es nicht wundern, daß in der entwicklungspädagogischen Bildungspraxis die Leerstellen überwiegen. Ein von der Kultusministerkonferenz 1995 erstelltes Papier (Zum Unterricht über die »Eine Welt / Dritte Welt«) kommt zu dem Schluß, daß wegen des raschen Wandels in der Entwicklungsdiskussion derzeit noch ein Mangel an geeigneten Schülermaterialien herrsche51 und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zieht zu Recht ein ernüchterndes Fazit: „Trotz verschiedener erfolgreicher Bemühungen, entwicklungspolitische Fragestellungen in den schulischen Unterricht einzubringen und in die bestehenden Unterrichtsformen zu integrieren – dies gilt insbesondere für den Grundschulbereich –, ist festzustellen, daß entwicklungspolitische Themen gerade im Unterricht häufig noch ein Schattendasein führen. Eine kontinuierliche, interdisziplinäre Behandlung globaler und entwicklungsbezogener Fragestellungen im Laufe der Schulzeit findet kaum statt.“ 52 Dieser Befund für allgemeinbildende Schulen wird auch für den Bereich der beruflichen Schulen bestätigt. Dort komme „entwicklungspolitische Bildung schlicht zu kurz“, so eine 1994 veröffentliche Studie.53 Die jahrzehntelang von den verantwortlichen Stellen vernachlässigte Förderung der Auseinandersetzung mit dem Thema Dritte Welt in den Schulen macht sich jetzt, in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruches, besonders negativ bemerkbar. In Bildungsmaterialien zum Bereich Umwelt und Entwicklung – einem der zentralen neuen Problemfelder – stehen Einzelthemen weitgehend unvermittelt und unverbunden nebeneinander, während integrierende und interdisziplimäre Ansätze, in denen die Vernetzung und wechselseitigen Abhängigkeiten deutlich werden, selten sind. Die Art der Darstellung variiert zwischen Einzelproblemdarstellungen, Falldarstellungen, didaktischen Materialien, Aktions- und Handlungsanleitungen. Bei der Mehrzahl handelt es sich dabei um Einzelproblemdarstellungen und nur wenige didaktische Materialien bauen auf den Erkenntnissen der Forschung auf und berücksichtigen deren neueste Ergebnisse.

Darüber hinaus sind auch eine Reihe von Themenlücken bei didaktischen Materialien zum Thema Umwelt und Entwicklung festzustellen: so werden z.B. die Bereiche Konflikte, Krisen, Kriege als Folge des Spannungsverhältnisses von Umwelt und Entwicklung in didaktischen Materialien bislang nicht thematisiert. Anschauliche und komplexe Verflechtungen der Ursachen und Lösungsmöglichkeiten sind kaum verfügbar. Ebenso fehlen Fallstudien als didaktische Materialien zu konkreten Einzelprojekten. Auch der Themenbereich Umweltgefährdungen und Entwicklungshemmnisse durch Rüstung und Militär (etwa durch Atomtests oder Landminen) ist als Leerstelle zu verzeichnen. Diese Aussagen beruhen auf einer von den Autoren im September 1995 vorgenommenen Sichtung und Bewertung von Unterrichtsmaterialien im Bereich Umwelt und Entwicklung.

Die Friedenspädagogik54 war stets darauf bedacht, vielfältige Aspekte in ihre Arbeit zu integrieren. So wurde z.B. der Gedanke der Völkerverständigung bereits in den 50er Jahren in friedenspädagogischem Kontext aufgegriffen. Die Dritte Welt war unter den Aspekten »Krisen und Kriege« (nicht nur in Zusammenhang mit Rüstungsexporten) stets Gegenstand friedenspädagogischer Bildungsarbeit und der Zusammenhang zwischen Ökologie und Frieden wurde seit 1980 intensiv thematisiert. Notwendige Neuorientierungen, die vor allem in den Bereichen des Umgangs mit (persönlicher, gesellschaftlicher und politischer) Gewalt sowie der konstruktiven Konfliktbearbeitung zu finden sind, werden jedoch nur langsam vollzogen. Insbesondere werden die Notwendigkeit und die Möglichkeiten transnationalen Handelns noch viel zu wenig aufgegriffen.

Zusammenfassend kann man festhalten: Weder die Beschreibung und Analyse, noch die Vermittlung von Zusammenhängen der heutigen zentralen Herausforderungen und Problemlagen lassen sich von den »klassischen« pädagogischen Spartendisziplinen wie entwicklungspolitische Bildung, Umweltbildung, Menschenrechts- oder Friedenserziehung befriedigend bewältigen, wenngleich diese Bereiche ohne Zweifel in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld in der Vergangenheit beachtliches geleistet haben. Doch nicht eine naive Integration dieser Bereiche ist anzustreben, sondern die Herausarbeitung der spezifischen gemeinsamen Aufgaben, die eine multiperspektivische und interdisziplinäre Betrachtungs- und Herangehensweise ermöglicht und neue Orientierungshilfen gibt. Dies klar zu fassen, ist zugleich ein wichtiger Beitrag einer zukunftsweisenden politischen Bildung für die Bewältigung globaler Herausforderungen. Dieser Beitrag könnte mit dem Konzept des Globalen Lernens näher identifiziert werden. Das Konzept des Globalen Lernens soll Friedenserziehung, Menschenrechtserziehung, Umweltbildung und entwicklungspolitische Bildungsarbeit nicht ablösen, sondern ihnen eine gemeinsame zukunftsorientierte Dimension verleihen, die über die bisherigen Sichtweisen und praktischen Ansätze hinausreicht.

Gobales Lernen – eine Antwort auf globale Gefährdungen?

Das Konzept des Globalen Lernens wird in den letzten Jahren zunehmend im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit diskutiert und in Ansätzen entwickelt. Der Begriff des Globalen Lernens wird dabei nicht einheitlich verwendet. Er soll jedoch deutlich machen, daß dieses Konzept über nationale (oder gar nationalistische) Interessen hinausweist und sich mit den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwickungen und Zusammenhängen im globalen Raum und damit verbundener pädagogischer Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten beschäftigt. Das Schweizer Forum »Schule für Eine Welt« definiert Globales Lernen als „die Vermittlung einer globalen Perspektive und die Hinführung zum persönlichen Urteilen und Handeln in globaler Perspektive auf allen Stufen der Bildungsarbeit. Die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten und ganzheitlichen Zusammenhang zu sehen, bezieht sich nicht auf einzelne Themenbereiche. Sie ist vielmehr eine Perspektive des Denkens, Urteilens, Fühlens und Handelns, eine Beschreibung wichtiger sozialer Fähigkeiten für die Zukunft.“ 55 In der Schweiz ersetzt dieser Begriff zunehmend den Begriff des »Lernens für die Eine Welt«.

Für die von Brot für die Welt und dem Verein für Friedenspädagogik 1995 eingerichtete »Schulprojektstelle« und die von ihr herausgegebene Zeitschrift wurde ebenfalls der Name »Globales Lernen« gewählt.

>Die erzieherische und bildungspolitische Umsetzung eines Globalen Lernens ist neben der Vermittlung kognitiver Orientierungen stark in sozialen Lernbereichen angesiedelt. Herkömmliche Unterrichtsformen müssen verändert und ergänzt werden. Dies bedingt auch, die Organisation des Lehrens und Lernens neu zu überdenken. Ziel dieser Anstrengungen muß es dabei sein, den Beitrag der Bildung zur Bewältigung der großen Menschheitsprobleme zu stärken.

Aus der Sicht der Friedenserziehung sollten fünf Grundprinzipien bei der Weiterentwicklung des Konzeptes »Globales Lernen« eine zentrale Rolle spielen:

1. Bezugspunkt: Globale Gefährdungen

Globales Lernen sollte als Bezugspunkte die globalen Gefährdungen der Gegenwart haben. Der Bereich der globalen Gefährdungen wird als zentral für die zukünftige Entwicklung der Menschheit eingestuft. Als Gemeinsamkeiten aller globalen Gefährdungen gelten, daß sie überregional sind, die Mehrzahl der in den betroffenen Gebieten lebenden Menschen betreffen, sich auch auf zukünftige Generationen auswirken und nicht versicherungsfähig sind.56 Denn globale Gefährdungen stellen das herkömmliche Prinzip der Verantwortlichkeit und Verursachung radikal infrage, da sie meist einem komplexen Gebilde von sozialen und technischen Dynamiken, das von niemandem alleine kontrolliert wird, entspringen. Deshalb erfordern globale Gefährdungen neue Denk- und Handlungsweisen, die zu entwickeln eine mindestens ebenso große Herausforderung darstellt, wie die technische Bewältigung der anstehenden Problembereiche. Globale Veränderungen und Herausforderungen beinhalten jedoch nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen und Perspektiven – dies sollte auch im Bildungsbereich berücksichtigt werden.

2. Innovatives Lernen ermöglichen

Kreative Problemlösungen, die antizipatorisch und partizipatorisch mögliche Entwicklungen und zukünftige Gegebenheiten in die eigenen Überlegungen einbeziehen, müssen gelernt und zum allgemeinen Bildungsprinzip erhoben werden. Innovatives Lernen steht im Gegensatz zu einem tradierten Lernverständnis, dem es um den Erwerb festgelegter Auffassungen, Methoden und Regeln und somit letztlich um den Erhalt einer etablierten Lebensform geht.57 Innovatives Lernen orientiert sich an der Zukunft, berücksichtigt langfristige Trends sowie die Auswirkungen heutiger Entscheidungen auf spätere Generationen. Vor allem aber: Es arbeitet auf die Realisierung wünschenswerter Ereignisse hin, es versucht Alternativen zu entwickeln und bereitzustellen. Nicht die Ansammlung von Wissen, sondern der Prozeß der Problemlösung steht dabei im Mittelpunkt des Lernens. Wobei sich der Lernprozeß nur gemeinsam mit allen Beteiligten vollziehen kann und ganzheitlich vonstatten gehen muß. Das innovative Lernen verbindet also das vernetzte Denken sowie die gewaltfreie und solidarische Lebensform.

3. Vernetztes Denken vermitteln

Nicht nur die ökologischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte, sondern auch zahlreiche Kriege und Krisen haben deutlich gemacht, daß sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Frage nach Handlungsmöglichkeiten nicht einzelne Entwicklungen und Phänomene isoliert betrachtet werden dürfen. Entscheidend ist das Zusammenwirken verschiedener Ursachenstränge, so daß auch vielfältige Bearbeitungsansätze notwendig werden. Die isolierte Veränderung nur einer Variablen kann nicht nur zu unvorhergesehenen Reaktionen führen, sondern geradezu neue gravierende Probleme schaffen. Weder bei ökologischen Entwicklungen noch bei politischen Krisen oder Gewaltkonflikten gibt es also einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Das Denken in vernetzten Systemen ist zwar ungewohnt, für Politik und Bildung jedoch unabdingar.58

4. Zum solidarischen Leben ermutigen

Durch den eigenen Lebensstil gilt es, Solidarität mit anderen auszudrücken. Das Bild von der »Einen Welt« ist nicht nur eine Zukunftshoffnung. Es ist in vielen Bereichen bereits Beschreibung von Wirklichkeit. Dennoch realisieren wir in unserem Alltag kaum, wie die Lebensweisen der einen eng mit dem Schicksal der anderen zusammenhängen. Solidarisch, im Bewußtsein der »Einen Welt« zu leben, bedeutet, Auswirkungen des eigenen Lebensstils auf die Lebens- und Arbeitssituation anderer Menschen in anderen (oft weit entfernten) Ländern und auf die gesamte Biosphäre mitzubedenken. Dazu gehört auch die Einsicht, daß unser Wohlstands- und Konsummodell nicht auf andere Länder übertragbar ist.

Wollen reiche Länder ihren Wohlstand langfristig sichern, müssen sie neue Wohlstandsmodelle entwickeln, denn die alten sind nicht zukunftsfähig. Ein neuer Lebensstil, der geprägt ist von »Langfristigkeit«, von Genügsamkeit und »Gemächlichkeit«59, ist Voraussetzung für eine gemeinsame Entwicklung der Erde. Der Club of Rome sieht folgende Prinzipien eines solidarischen Lebens:

  • Wenn wir einen Weg durch den vielschichtigen und verschlungenen Problemkomplex unserer Zeit finden wollen, ist notwendig, daß jeder einzelne einen engagierten Beitrag leistet.
  • Wir müssen erkennen, daß den Motiven und Werten, die unser Verhalten bestimmen, die Möglichkeiten positiver Veränderung innewohnen.
  • Wir müssen begreifen, daß das Verhalten einer Nation und einer Gesellschaft das Verhalten ihrer Bürger widerspiegelt.
  • Wir dürfen von seiten der Regierungschefs keine drastischen Lösungen erwarten, sondern müssen davon ausgehen, daß Tausende kleiner und kluger Entscheidungen, in denen sich das neue Bewußtsein von Millionen von Menschen widerspiegelt, notwendig sein werden, das Überleben der Gesellschaft zu sichern.
  • Wir müssen dem Prinzip Geltung verschaffen, daß Privilegien von Individuen oder Nationen stets mit einem entsprechenden Maß an Veranwortung verbunden sein müssen.60

5. Zur gewaltfreien Konfliktaustragung befähigen

Veränderungs- und Transformationsprozesse verlaufen nie ohne (z.T. tiefgreifende) Konflikte. Entscheidend ist jedoch, wie und mit welchen Mitteln diese ausgetragen werden. Eine der wesentlichsten und wichtigsten Aufgaben für Globales Lernen ist es deshalb, Wissen, Fähigkeiten und die Bereitschaft zur konstruktiven Konfliktaustragung zu fördern und hierzu entsprechende Programme bereitzustellen. Dies bezieht sich sowohl auf den individuellen, gesellschaftlichen als auch auf den internationalen Bereich, zumal die beobachtbare Differenzierung in eine Staaten- und eine Gesellschaftswelt neue Handlungsspielräume für Individuen, Gruppen und Verbände eröffnet.

Denn nur wenn es gelingt, anerkannte Verfahren zur Auseinandersetzung mit Konflikten zu etablieren, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen oder durch vielfältige konstruktive Methoden gewaltfrei auszutragen, ist eine gemeinsame Entwicklung möglich.

Probleme und Gefahren

Doch auch die konzeptionellen Überlegungen zu einem Globalen Lernen werfen eine Reihe prinzipieller Fragen auf:

So ist die Gefahr einer neuen Etikettierung alter Praxis nicht zu verkennen. Dies macht sich besonders dort bemerkbar, wo im Zuge eines (vermeintlichen Trends oder Zeitgeistes) bisherige Praxis, Ausarbeitungen oder Reflexionen, vor allem im Bereich entwicklungspolitischer Bildungsarbeit, nun mit dem Begriff des Globalen Lernens belegt werden.

Da Bildungsansätze prinzipiell einer langfristigen Orientierung bedürfen, ist die Anfrage, ob angesichts des raschen Wandels und der Schnelligkeit, mit der sich Problemlagen zuspitzen, überhaupt ausreichend Zeit für solche Bildungsprogramme zur Verfügung steht, äußerst ernst zu nehmen.

Eine dritte Anfrage bezieht sich auf die Ernsthaftigkeit der Forderungen. So hat die Hervorhebung der Bedeutung von Bildung und Erziehung durch Politik und Wissenschaft bei der Bewältigung globaler Probleme so lange nur Symbol- und Legitimationscharakter als keine ernsthaften Bemühungen zu erkennen sind, zukunftsorientierte Lernprozesse auf allen bildungspolitischen Ebenen zu initiieren und zu fördern.

Zentral scheint auch zu sein, daß einschneidende und tiefgreifende Bildungsprozesse, wenn sie nicht in gesellschaftlichen Nischen verbleiben sollen, immer einer Flankierung durch eindeutige politische Signale und Umorientierungen bedürfen. Diese Umorientierungen sind bislang nicht festzustellen. Wohl aber ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß zukunftsorientierte politische Bildung (und als solche ist auch das Konzept des Globalen Lernens zu verstehen) ständig in der Gefahr ist, politisch vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden. Damit würden jedoch sämtliche Chancen eines Globalen Lernens zunichte gemacht.

Anmerkungen

1) Vgl. Regine Mehl „50 Jahre UNESCO: Das Programm »Kultur des Friedens““. In: AFB-Info 2/95. Mitteilungen der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn.
Vgl. United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization: First Consultative Meeting of the Culture of Peace Program. Paris, 27-29 September 1994. Final Report. Die vorliegenden überarbeiteten Beiträge erscheinen in einem von W. Vogt herausgegebenen Sammelband im Frühsomer 1996 im agenda Verlag, Münster. Zurück

1a) Vgl. Tobias Debiel: Kriege, in: Ingomar Hauchler (Hg.): Globale Trends 1995/96. Frankfurt a.M. 1995 (i.E.). Zurück

2) Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton: Das Harvard-Konzept: Sachgerecht verhandeln – erfoglreich verhandeln. 10. Aufl. Frankfurt / New York 1991, S.199. Zurück

3) Vgl. zusammenfassend David W. Augsburger: Conflict Mediation Across Cultures. Pathways and Patterns. Louisville, Kentucky 1992. Zurück

4) Vgl. Joseph A. Scimecca: Conflict Resolution in the United States: The Emergence of a Profession?, in: Kevin Avruch / Peter W. Black / Joseph A. Scimecca (Hg.): Conflict Resolution. Cross-Cultural Perspectives. Westport, Conn. / London 1991, S. 19 – 39. Zurück

5) Vgl. Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton: Getting to Yes. Negotiating Agreement Without Giving in. New York u.a. 1991 (deutsche Ausgabe: dies.: Das Harvard-Konzept. Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln. Frankfurt / New York 1993); William L. Ury / Jeanne M. Brett / Stephen Goldberg: Getting Disputes Resolved. San Francisco 1988 (deutsche Ausgabe: dies.: Konfliktmanagement. Wirksame Strategien für den sachgerechten Interessenausgleich. Frankfurt / New York 1991); William Ury: Getting Past No. Negotiating Your Way From Confrontation to Cooperation. New York u.a. 1993; Roger Fisher / Elizabeth Kopelman / Andrea Kupfer Schneider: Beyond Machiavelli. Tools for Coping with Conflict. Cambridge, Mass. / London 1994. Zurück

6) Für diese Bereiche gibt es dementsprechend auch eine Reihe von Lehrbüchern zur Mediation, auf die sich auch die folgende Zusammenfassung stützt. Vgl. exemplarisch Jay Folberg / Alison Taylor: Mediation. A Comprehensive Guide to Resolving Conflicts Without Litigation. San Francisco 1984; Christopher W. Moore: The Mediation Process. Practical Strategies for Resolving Conflict. San Francisco 1986 und als erste deutschsprachige Einführung Christoph Besemer: Mediation. Vermittlung in Konflikten. Baden 1993. Zurück

7) Vgl. Christoph Thomann / Friedemann Schulz von Thun: Klärungshilfe. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Theorien, Methoden, Beispiele. Reinbek 1988. Zurück

8) Vgl. Christopher Moore, a.a.O. (Anm. 7), S. 172ff. Zurück

9) Vgl. zu diesem Aspekt kreativer Konfliktbearbeitung vor allem Edward DeBono: Konflikte. Neue Lösungsmodelle und Strategien. Düsseldorf 1989. Zurück

10) Vgl. Christoph Thomann / Friedemann Schulz von Thun, a.a.O. (Anm. 7). Zurück

11) Vgl. Klaus W. Vopel: Handbuch für Gruppenleiter. Zur Theorie und Praxis der Interaktionsspiele. Hamburg 1978; ders.: Interaktionsspiele. 6 Bände. Hamburg 1978. Zurück

12) Vgl. Karin Klebert / Einhard Schrader / Walter Straub: ModerationsMethode. Gestaltung der Meinungs- und Willensbildung in Gruppen, die miteinander lernen und leben, arbeiten und spielen. Hamburg 1989. Zurück

13) Vgl. Robert Jungk / Norbert Müllert: Future Workshops. How to Create Desirable Futures? London 1987. Zurück

14) Roger Fisher / William Ury / Bruce Patton, a.a.O. (Anm. 5), S. 112ff. Zurück

15) Ebenda, S. 81ff. Zurück

16) Vgl. Robert A. Baruch Bush / Joseph P. Folger: The Promise of Mediation. Responding to Conflict Through Empowerment and Recognition. San Francisco 1994. Zurück

17) Vgl. die entsprechende Kritik für die ADR-Initiativen in Osteuropa und der früheren Sowjetunion bei Richard E. Rubinstein: Dispute Resolution on the Eastern Frontier: Some Questions for Modern Missionaries, in: Negotiation Journal 8, 3 (1992), S. 205-213. Zurück

18) Vgl. zu den Erfolgskriterien Empowerment und Recognition Robert A. Baruch Bush / Joseph P. Folger, a.a.O. (Anm. 16), S. 84ff. und zur Beziehungsverbesserung unten den Ansatz der »Interactive Conflict Resolution«-Bewegung. Zurück

19) Vgl. Kevin Avruch / Peter W. Black: Ideas of Human Nature in Contemporary Conflict Resolution Theory, in: Negotiation Journal 6 (1990), S. 221 – 228. Zurück

20) Vgl. Mark Hoffman: Third-Party Mediation and Conflict Resolution in the Post-Cold War World, in: John Baylis / N.J. Rengger (Hg.): Dilemmas of World Politics. Oxford 1992, S. 261 – 286. Zurück

21) Vgl. die Zusammenfassung bei David W. Augsburger: Conflict Mediation Across Cultures. Pathways and Patterns. Louisville, Kentucky 1992; Michelle LeBaron Duryea: Conflict and Culture. A Literature Review and Bibliography. Victoria: UVic Institute for Dispute Resolution 1992. Zurück

22) Vgl. zur Charakterisierung dieser Dimension Geert Hofstede: Cultures and Organizations. Software of the mind. London u.a. 1991. Hofstede unterscheidet nationale Kulturen ferner mit Hilfe der Dimensionen »Power Distance«, »Masculinity – Femininity« und »Uncertainty Avoidance«. Auch sie dürften einen erheblichen Einfluß auf die Konfliktkultur haben, wie die ersten empirischen Studien im Bereich der Geschäftswelt wie des Universitätsmilieus zeigen. Zurück

23) John Paul Lederach: Mediation in North America: An Examination of the Profession's Cultural Premises. Akron, Pa. 1985; ders.: Of Nets, Nails, and Problems: The Folk Language of Conflict Resolution in a Central American Setting, in: Kevin Avruch / Peter W. Black / Joseph A. Scimecca, a.a.O. (Anm. 19), S. 165 – 186. Zurück

24) Vgl. David W. Augsburger, a.a.O. (Anm. 21). Zurück

25) Vgl. das Interview mit Mohammed Sahnun in: Der Spiegel 26/1993, S. 141/2. Zurück

26) Vgl. Richard Brislin / Tomoka Yoshida: Intercultural Communication Training: An Introduction. Thousand Oaks u.a. 1994; dies. (Hg.): Improving Intercultural Interactions. Modules for Cross-Cultural Training Programs. Thousand Oaks u.a. 1994; Paul Pedersen: A Handbook For Developing Multicultural Awareness. 2. Aufl. Alexandria, Virginia 1994. Zurück

27) Vgl. exemplarisch Heike Blum / Gudrun Knittel: Training zum gewaltfreien Eingreifen gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt. Eine Methodensammlung und Diskussionsanregung. Köln 1995. Zurück

 

28) Vgl. u.a.: Umwelt und Entwicklung. Bericht der Bundesregierung über die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Juni 1992 in Rio des Janeiro. BMZ (Hrsg.): Entwicklungspolitik, Materialien Nr. 84, Bonn 1992. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel: Wege zur Lösung globaler Umweltprobleme. Jahresgutachten 1995. Heidelberg 1996. Vgl. aber auch die verschiedenen Regierungserklärungen und öffentlichen Stellungnahmen von Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. U.a.: Richard von Weizsäcker: Ansprache bei der Eröffnungsveranstaltung zur Ersten Europäischen Konferenz für Umwelt und Gesundheit der WHO. In: Ders.: Reden und Interviews (6), Bonn 1990, S. 134ff. Zurück

29) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, a.a.O., S. 7. Zurück

30) Bericht der Bundesregierung, a.a.O., S. 66. Zurück

31) UNESCO heute, IV, 1994, S. 479. Zurück

32) Nachbarn in Einer Welt. Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik. The Commission on Global Governance. Bonn 1995, S. 48. Zurück

33) Ebd., S. 54. Zurück

34) Die Beschränkung auf politische Bildungsarbeit wird hier deshalb vorgenommen, da im Rahmen des Projektes nicht technisches Know-how zur Krisenbewältigung, sondern notwendige gesellschaftliche Lernprozesse bearbeitet werden sollen. Zurück

35) Vgl. u.a. Spiegel Special, November 1994: Die Eigensinnigen. Selbstportrait einer Generation. Zurück

36) Vgl. Klaus-Peter Hufer: Zur Bedeutung der politischen Bildung. In: Landesverband der Volkshochschulen Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Handbuch Weiterbildung. O.O. 1994, S. 96ff.; vgl. Politische Bildung an Volkshochschulen in Zahlen. In: Die Zeitschrift für Erwachsenenbildung. 1. Jg., Nr. 3/1994, S. 37. Zurück

37) Vgl. u.a.: Klaus-Peter Hufer: Politische Bildung: Streitpunkte und Konfliktlinien – eine analytische Bestandsaufnahme. In: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): Außerschulische Bildung, Heft 2/95, S. 161ff. Zurück

38) Vgl. Das Parlament, 29.9.1995, Das politische Buch IX. Zurück

39)  Vgl. Jochen Buchsteiner: Wenn Helfer zuviel helfen. In: Die Zeit, 7.7.1995, S. 3. Der Menschenrechtsreferent des Diakonischen Werkes der EKD, Werner Lottje bescheinigt der bundesdeutschen Menschenrechtsarbeit gar erhebliche Strukturmängel, wie z.B. mangelnde Forschungskapazitäten, fehlende systematische Informations- und Dokumentationsarbeit, zu wenige professionelle Organisationen und Mitarbeiter und zu wenig präventive Diplomatie. Vgl. Werner Lottje: Deutschlandein Entwicklungsland? Mängel in der Menschenrechtsarbeit in der Bundesrepublik. In: Der Überblick, 3/94, S. 121ff. Zurück

40) Vgl. Evelien Mayer: Begleitforschung zur Umwelterziehung in der beruflichen Ausbildung. In: Günter Eulefeld / Dietmar Bolscho / Hansjörg Seybold (Hrsg.): Umweltbewußtsein und Umwelterziehung. IPN, Kiel 1991, S. 230. Zurück

41) Vgl. U. Kuckartz: Umweltbildung und Umweltbewußtsein, Berlin 1994. Zurück

42) Gerd-Jan Krol: Begründungen eines eigenständigen sozialökonomischen Beitrages zur Umweltbildung und UmwelterziehungLehrerbefragung zur Umwelterziehung. In: Eulefeld u.a., a.a.O., S. 137. Vgl. auch Albert Ilien: Schulische Bildung in der Krise. Aufsätze zur Öffnung der Schule, Umweltbildung und Selbstregulierung. Hannover 1994; und Ernst Ulrich von Weizsäcker / Uta von Winterfeld: Umwelterziehung war erst der Anfang. In: Jahrbuch Ökologie 1995. München 1994, S. 94ff. Zurück

43) Vgl. Wissenschaftlicher Beirat, Jahresgutachten 1995, S. 51. Zurück

44) Günther Eulefeld u.a., a.a.O., S. 39ff. Zurück

45) Vgl. Norbert Reichel: Demokratie und Umweltbildung in Deutschland: Es wird Zeit für neue Ideen. In: Hansjörg Seybold / Dietmar Bolscho (Hrsg.): Umwelterziehung. Bilanz und Perspektiven. IPN, Kiel 1993, S. 39. Zurück

46) Vgl. Wissenschaftlicher Beirat, Jahresgutachten 1995, a.a.O., S 39. Zurück

47) Gerade in diesem Bereich seien die größten Defizite festzustellen, so Reinhold E. Lob. Vgl. Reinhold E. Lob: Zum Stand der Bemühungen um Umwelterziehung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Jörg Calließ / Reinhold E. Lob: Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 1: Grundlagen. Düsseldorf 1987, S. 287. Diese Einschätzung trifft auch heute, nach nahezu zehn Jahren, noch zu. Zurück

48) Vgl. Annette Scheunpflug / Klaus Seitz (Hrsg.): Selbstorganisation und Chaos. Entwickungspolitik und Entwicklungspädagogik in neuer Sicht. Edition Differenz, Band 2. Tübingen 1993. Annette Scheunpflug, / Alfred K. Treml: Entwicklungspolitische Bildung. Bilanz und Perspektiven in Forschung und Lehre. Ein Handbuch. Tübingen / Hamburg 1993. Annette Scheunpflug / Klaus Seitz / Alfred K. Treml: Die pädagogische Konstruktion der Dritten Welt. Geschichte der entwicklungspolitischen Bildung. Band 1: Theorieliteratur, Unterrichts- und Arbeitsmaterialien. Band 2: Schule und Lehrerbildung. Band 3: Jugend- und Erwachsenenbildung. Band 4: Die pädagogische Konstruktion der Dritten Welt – Bilanz und Perspektiven. Frankfurt/M. 1994. Zurück

49) Vgl. David Simo: Kritische Reflexionen über die »Eine Welt«. In: Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg (Hrsg.): Lernen für die Eine Welt. Dokumentation des Bildungskongresses in Freiburg, 19.11. – 21.11.1992. Tübingen 1993, S. 31ff. Zurück

50) Vgl. Klaus Seitz: Eine Welt für alle? Herausforderungen für die Dritte-Welt-Bewegung und Entwicklungspädagogik. In: Jahrbuch Frieden 1994. München 1993, S. 249ff. Forum »Schule für eine Welt« (Hrsg.): Globales Lernen in der Schweiz. Eine Studie zum Stand, zu den Erwartungen und Perspektiven des Globalen Lernens in der Schweiz. Jona 1995. Zurück

51) Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Unterricht über die »Eine Welt/Dritte Welt«. Stand: März 1995, (von der Kultusminiserkonferenz am 12.5.1995 als Zwischenergebnis zur Kenntnis genommen) S. 21. Zurück

52) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Referat Presse und Öffentlichkeitsarbeit: Entwicklungspolitische Bildungarbeit in Schulen. BMZ aktuell 035. Bonn, o.J.: (1994), S. 2. Zurück

53) Vgl. Annette Scheunplfug / Barbara Toepfer (Bearb.): Eine Welt in beruflichen Schulen. Bestandsaufnahme und Perspektiven entwicklungsbezogenen Lernens. Forschungsberichte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Köln 1994. Zurück

54) Trotz aller Ausdifferenzierungen wird hier der zusammenfassende Begriff »Friedenspädagogik« verwendet. Zum Diskussionsstand vgl. Günther Gugel / Uli Jäger: Gewalt muß nicht sein. Einführung in friedenspädagogisches Denken und Handeln. Tübingen 1994. Zurück

55) Forum »Schule für Eine Welt« a.a.O., S. 9. Eine 1995 im SPAK-Verlag erschienene Handreichung zum Themenbereich Dritte Welt/Eine Welt trägt den Titel »Globales Lernen«. Vgl. Inge Ruth Marcus / Trudie und Heinz Schulze: Globales Lernen. Projekte – Prozesse – Perspektiven. München 1995. Eine erste systematische Klärung unter Lernzielaspekten versucht Christian Graf-Zumsteg: Die Rolle der Bildung in der einen Welt. In: Inge Ruth Marcus / Trudi und Heinz Schulze, ebd., S. 17-27. Zurück

56) Vgl. Michael Zürn: Globale Gefährdungen und internationale Kooperation. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der Bürger im Staat, Heft 1/1995: Sicherheitspolitik unter geänderten weltpolitischen Rahmenbedingungen. S. 49ff. Zurück

57) Der Begriff »innovatorisches Lernen« wird in Anlehnung an den 1979 von Club of Rome herausgegebenen Bericht verwendet. Vgl. Aureliao Peccei (Hrsg.): Das menschliche Dilemma. Zukunft und Lernen. Bericht an den Club of Rome. Wien u.a. 1979. Vgl. auch: Hans H. Wilhelmi: Welche »Bildung« für die Zukunft. In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik, 15. Jg., Heft 1, März 1992, S. 2ff. Wir betrachten innovatorisches Lernen als Teilbereich des Globalen Lernens. Zurück

58) Den Begriff des vernetzten Denkens hat Frederic Vester populär gemacht. Vgl. Frederic Vester: Unsere Welt, ein vernetztes System. Stuttgart 1978. Vgl. auch Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek 1992. Zurück

59) Vgl. Projektstelle UNCED '92 des Deutschen Naturschutzringes u.a. (Hrsg.): Unser trügerischer Wohlstand. Ein Beitrag zu einer deutschen Ökobilanz. Wuppertal 1992, S. 44. Zurück

60) Vgl. Spiegel Special 2/1991, Eine globale Revolution. Bericht des Club of Rome 1991. Zurück

Christiane Lammers, Redaktion W & F
Dr. Norbert Ropers ist Leiter der Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung Berlin.
Christine M. Merkel arbeitet bei der Deutschen UNESCO-Kommi
ssion in Bonn und Dr. Jörg Calließ ist Studienleiter der Ev. Akademie Loccum.
Günther Gugel und Uli Jäger sind Mitarbeiter im Verein für Friedenspädagogik in Tübingen.

Liberia, ein Prototyp?

Integrierte Missionen der Vereinten Nationen

Liberia, ein Prototyp?

von Tobias Pietz und Diana Burghardt

Die Schaffung so genannter »integrierter Missionen« ist ein aktueller Versuch, die Effizienz des Friedensengagements der Vereinten Nationen zu steigern. Er gründet auf der Erkenntnis, dass politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Akteure so weit wie möglich an einem Strang ziehen müssen, um nachhaltig friedliche Strukturen schaffen zu können. Im Folgenden wird das Konzept der Integration zunächst theoretisch vorgestellt und anhand einiger Ausführungen zum Spannungsfeld zwischen peacekeeping und humanitärer Hilfe problematisiert. Anschließend wird der Blick auf die praktische Umsetzung von »Integration« gelenkt und die Frage behandelt, ob bzw. inwieweit die United Nations Mission in Liberia (UNMIL) als »Prototyp« für künftige komplexe Friedensmissionen der Vereinten Nationen gelten kann. Den Schluss des Artikels bildet ein kurzer Ausblick.

Die heutigen Friedenseinsätze der Vereinten Nationen sind darauf ausgerichtet, Konfliktursachen zu überwinden.1 Dabei wird das robuste peacekeeping nach Kapitel VII der VN-Charta mit dem so genannten post-conflict peacebuilding verbunden, das neben der Beobachtung von Waffenstillständen auch Polizeiaufgaben, die Vorbereitung von Wahlen, humanitäre Hilfe, die Beobachtung der Menschenrechtssituation, den Aufbau der zivilen Verwaltung und des Justizwesens, die Rückführung von Flüchtlingen, die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Ex-Kombattanten etc. umfasst. Seit Beginn der 1990er Jahre ist damit die politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Kompetenz der Vereinten Nationen zunehmend gleichzeitig in »komplexen« Friedensmissionen gefragt.

Von der Koordination zur Integration

Im Laufe der 1990er Jahre zeigte sich jedoch durch eine Reihe von Debakeln die nur sehr begrenzte Fähigkeit der VN zur Schaffung nachhaltig friedlicher Strukturen – und dies wurde auf die Fragmentierung des VN-Systems zurückgeführt. Da zahlreiche Abteilungen, Programme und Sonderorganisationen der VN mehr oder weniger getrennt voneinander arbeiteten, entstand der Ruf nach verbesserter Koordination innerhalb der VN-Familie und schließlich das Konzept zur »Integration« aller relevanten VN-Akteure. Den Anfang zur Entwicklung des Konzepts der Integration machte der im August 2000 veröffentlichte Report of the Panel on United Nations Peace Operations (der Brahimi-Bericht, benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission, dem ehemaligen Außenminister von Algerien), der in der Öffentlichkeit große Beachtung und Anerkennung fand. Der Brahimi-Bericht stellte fest, dass es im UN Department of Peacekeeping Operations (DPKO) keine Einheit gebe, in der Vertreter aller in einer Friedensmission wichtigen Themenbereiche – Politische Analyse, Militäreinsätze, Polizei, Wahlhilfe, Menschenrechte, Entwicklung, humanitäre Hilfe, Flüchtlinge, Öffentlichkeitsarbeit, Logistik, Finanzen und Rekrutierung – zusammenkommen.2 Er schlug daher die Schaffung so genannter Integrated Mission Task Forces (IMTF) vor, die aus hochrangigen Vertretern aller genannter Bereiche bestehen und (jeweils für den Einsatz in einem Land) als zentraler Kontaktpunkt die interne Koordination der VN verbessern sollten. Trotz einiger anfänglicher Schwierigkeiten dieser thematisch breit gefächerten und gleichzeitig regional auf ein Land fokussierten Expertengremien gelten die Integrated Mission Task Forces heute als Weg der Zukunft. Sie sind zu einem integralen Bestandteil und zu Schlüsselgremien des Integrated Mission Planning Process (IMPP) geworden – einem klar strukturierten, sechsstufigen Planungsprozess für (künftige) VN-Friedensmissionen.

Der Entwurf des neuesten IMPP (vom Juni 2006) definiert das Ideal der Zukunft, die »Integrierten Missionen«, als solche, in denen es eine von der gesamten VN-Familie geteilte Vision (a shared vision) für eine Krisenregion gibt, d.h. ein Konzept, das die Ziele bzw. Prioritäten (center of gravity, main effort), die Begründung und die Strategie für das vielfältige Engagement der VN deutlich macht.3 Ähnlich spricht das Executive Committee on Humanitarian Affairs in seinem Definitionsversuch für Integrierte Missionen von einer »system-wide UN response«, die durch die Zusammenführung aller VN-Akteure und Ansätze innerhalb eines einzigen »overall political-strategic crisis management framework« gelingen soll.4 Dieses umfassende Rahmenwerk bzw. diese von allen geteilte Vision soll durch die Integrated Mission Task Forces entwickelt werden. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit und Entwicklung in einem Land einander bedingen. Die breit gefächerte Expertise in den IMTFs, d.h. auch die genaue Kenntnis der verschiedenen Mandate, Funktionen und Möglichkeiten der diversen Abteilungen der VN, soll dann dazu beitragen, aus der Vision eine sinnvolle und abgestimmte Arbeitsteilung gemäß komparativer Vorteile innerhalb der VN-Familie abzuleiten. Knapp gefasst könnte man wohl von vielgestaltiger Friedensarbeit aus einem Guss sprechen, durch die die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des VN-Friedensengagements erhöht werden soll.

Zwischen Peacekeeping und Humanitärer Hilfe

Das Konzept der Integration und der darin enthaltene Gedanke, dass alle VN-Akteure zur Umsetzung gemeinsamer Prioritäten an einem Strang ziehen sollten, ist nicht unproblematisch, da zwischen »peacekeepern« und humanitären Helfern (theoretisch) ein Spannungsverhältnis besteht. Zwar sind sich beide Gruppen in der Zielsetzung einig, Frieden schaffen und Menschenleben retten zu wollen, doch ihre (zumindest idealtypischen) Ansätze sind grundverschieden. Das heutige, multidimensionale und mit peacebuilding- Maßnahmen verknüpfte peacekeeping ist ein politischer und damit »parteiischer« Akt, während humanitäre Hilfe zwar in einem politischen Umfeld geleistet wird, sich aber nach den Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit richtet. Konkret bedeutet dies, dass humanitäre Hilfe ohne Ansehen der ethnischen, religiösen oder politischen Zugehörigkeit der Opfer, vielmehr ausschließlich nach dem Kriterium der Hilfsbedürftigkeit geleistet wird (Unparteilichkeit), dass niemals eine Konfliktpartei unterstützt oder bei ideologischen Disputen Partei ergriffen wird (Neutralität), und dass die politische und finanzielle Autonomie der Hilfsorganisationen gewahrt wird (Unabhängigkeit). Für humanitäre Helfer ist ein weitgehendes Festhalten an diesen Prinzipien wichtig, um ihren Zugang zu den Opfern auf allen Seiten eines Konflikts sichern zu können, statt selbst in Auseinandersetzungen hineingezogen und zu einem potenziellen Angriffsziel zu werden.5 Wichtig ist außerdem, dass der Zugang zu humanitärer Hilfe als Recht der Opfer bzw. die Gewährung von humanitärer Hilfe als internationale Verpflichtung begriffen wird.6 Humanitäre Helfer sehen in ihrer Arbeit in erster Linie kein Mittel zur Erreichung eines abstrakten politischen Ziels – auch nicht des Friedens –, sondern stellen die Rettung des individuellen Menschenlebens in den Vordergrund. Das theoretische Spannungsfeld zwischen peacekeepern und humanitären Helfern besteht also darin, dass peacekeeper stets das langfristige Ziel des Friedens und der Stabilisierung als erste Priorität vor Augen haben und die Auswahl der Menschen, denen sie helfen, entsprechend ausrichten. Humanitäre Helfer hingegen machen ihre Hilfe tendenziell nicht von langfristigen politischen Überlegungen, sondern (eher kurzfristig) von der unmittelbaren Bedürftigkeit der Opfer abhängig.7

Tatsächlich kann heute natürlich keine klare Trennlinie zwischen »politischen« peacekeepern und »unpolitischen« Hilfsorganisationen mehr gezogen werden. Kaum eine Hilfsorganisation kann von sich behaupten, allen oben genannten humanitären Prinzipien zu entsprechen. Besonders eine echte finanzielle Unabhängigkeit ist bei den meisten Hilfsorganisationen (mit Ausnahme solch etablierter Organisationen wie dem International Committee of the Red Cross oder Médicins sans Frontières) nicht gegeben. Zudem übernimmt die große Mehrheit ziviler Hilfsorganisationen heute parallel Aufgaben der humanitären Hilfe und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die Aufgabenfelder von humanitären Hilfsorganisationen und Einrichtungen der EZ, sowie die der mit weitreichenden Mandaten ausgestatteten peacekeeper, überschneiden sich damit zunehmend. Spannungen gibt es allerdings trotzdem – auch in der Praxis. Dies liegt daran, dass die humanitär ausgerichteten Organisationen der VN (z.B. die Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO; das United Nations Development Programm, UNDP; der United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR; der United Nations Children’s Fund, UNICEF; das World Food Programme, WFP; oder die World Health Organization, WHO) meist schon Jahre vor einem Friedenseinsatz als UN Country Team in einer Region arbeiten. Ihre Mitarbeiter, und auch die zahlreichen internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen (NROs), mit denen sie zusammenarbeiten, kennen daher die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation im Land sehr gut. Ihre Expertise – so der Vorwurf – finde aber nicht genügend Beachtung.8 Statt mit ihnen als gleichberechtigten Partnern zusammenzuarbeiten, würden sowohl der militärische als auch der zivile Part der neu im Land eintreffenden VN-Missionen die Landeskenntnisse und Ratschläge der Country Teams ignorieren und ihnen stattdessen autoritär und arrogant gegenübertreten. Der Gegenvorwurf von Mitarbeitern des Department of Peacekeeping Operations geht dahin, dass sich die »old-timer« aus den UN Country Teams neuen Realitäten nicht anpassen würden. Sie verstünden oft nicht, wie sehr sich der »politische Wind« aufgrund eines Friedensabkommens, einer anerkannten Übergangsregierung und einem Mandat durch den Sicherheitsrat verändere. Denn typischerweise verändere sich die grundsätzlich »unparteiische« Arbeit der VN dann insofern in eine »parteiische« Haltung, als ein spezifischer Friedensprozess gefördert wird.9

»Integrieren« vor Ort: das Beispiel Liberia

In der Diskussion um Integrierte Missionen der Vereinten Nationen wird oft auf Liberia verwiesen, denn die United Nations Mission in Liberia (UNMIL) gilt als erste wirklich integrierte Mission und damit auch als möglicher Prototyp für die Zukunft komplexer Friedensmissionen.10 Dabei war UNMIL nicht von Anfang an als eine integrierte Mission konzipiert worden, sondern veränderte sich erst als Reaktion auf angebliche Spannungen zwischen dem Senior Management von UNMIL und dem Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) in Liberia.11 Es scheint, als habe sich der zivile Teil von UNMIL (1.000 von 16.000 Personen) ohne nennenswerte Konsultationen mit anderen VN-Stellen im Bereich Nationbuilding engagiert, während militärische Einheiten – ebenfalls ohne Absprache – neben Aufgaben der Friedenssicherung auch in starkem Maße Quick Impact Projects durchführten. Dabei hätten beide Bereiche von existierender Länderkompetenz profitieren können. In einem Bericht der Peacekeeping Best Practices Unit von DPKO über die Anfangsphase von UNMIL heißt es, die Ressourcen der bereits bestehenden politischen Mission in Liberia (dem UN Office in Liberia, UNOL) seien nur „unzureichend genutzt“ worden, und UNMIL sei „nicht in ausreichendem Maße“ an einer Abstimmung mit dem UN Country Team interessiert gewesen.12 Dies hat zu Verärgerung und Frustration und nicht zu einem Gefühl von Partnerschaft geführt. Trotzdem ist der Vorwurf einiger NROs in Liberia, dass die Hilfe der militärischen und zivilen UNMIL-Einheiten auf einem qualitativ niedrigen Standard erfolgt sei, kaum nachzuweisen. Die Literatur kennt nur wenige Beispiele, u. a. die Problematik eines Militärkrankenhauses von UNMIL, in dem südasiatische Peacekeeper es ablehnten, Frauen zu behandeln, da es keinen weiblichen Arzt im Team gebe.13 Angeblich hat diese Diskriminierung eine negative Wirkung auf die Haltung der Bevölkerung nicht nur gegenüber UNMIL, sondern gegenüber der humanitären Hilfe insgesamt gehabt. Eine intensivere Beschäftigung mit der Qualität der durch UNMIL geleisteten Hilfe und möglichen Auswirkungen »schlechten« Peacebuildings steht allerdings noch aus: die bisherigen Beschreibungen einzelner Fälle erlauben noch keinerlei allgemeine Rückschlüsse.

Durch eine Entscheidung des Generalsekretärs im Juli 2004 wurde das bis dahin selbstständig operierende Office for the Coordination of Humanitarian Affairs formal in die Strukturen von UNMIL integriert, offiziell, um die Koordinierung der humanitären Hilfe zu verbessern.14 Das neu gebildete Humanitarian Action Committee (HAC) innerhalb UNMILs wurde jedoch nicht von OCHA Personal gestellt, sondern durch die Humanitarian Officers von UNMIL, die zuvor als Verbindung zu OCHA gewirkt hatten und damit nur indirekt mit den weiteren humanitären und entwicklungspolitischen Akteuren im Land kommuniziert hatten. Komplementär zu diesem Schritt wurden die Kompetenzen des Resident Coordinator (RC) und des Humanitarian Coordinator (HC) in der Position eines Deputy Special Representative of the Secretary General (DSRSG) zusammengeführt. Dieser Stellvertreter des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs ist gleichzeitig auch für die Bereiche Rehabilitation und Wiederaufbau innerhalb von UNMIL zuständig. Damit wurde die neutrale Position des Koordinators der humanitären Hilfe mit der politischen Position des Hauptpartners für die lokale Regierung im Bereich Wiederaufbau vermischt, und insgesamt wurde die humanitäre Hilfe – aufgrund der Zusammenführung der Positionen des HC und RC und der Integration von OCHA in die Struktur der Mission – dem mit einem eindeutig politischen Mandat ausgestatteten Leiter von UNMIL, dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs (SRSG), unterstellt.

In der Folge kam es immer wieder zu Vorwürfen dahingehend, dass die humanitäre Hilfe genutzt würde, um politische Ziele der Mission zu erreichen, oder aber dass die humanitäre Hilfe enorm an Priorität verloren hätte. Als Beleg für diese These wurde von verschiedenen Autoren die Vorbereitung der Wahlen im Winter 2005 angeführt. Um die Durchführung erfolgreicher Wahlen sichern zu können, drängten UNMIL und die internationalen Geldgeber darauf, alle Flüchtlinge vor dem gesetzten Wahltermin, d.h. noch innerhalb der Regenzeit, in ihre Heimatregionen zu bringen – und setzten dies trotz des großen Protestes von humanitären Organisationen, die vor den schwierigen klimatischen Bedingungen für die Rückführung warnten, auch durch. Manche mögen sich in dieser Situation an ein Zitat des Leiters der VN Mission in Liberia im Jahre 1993 erinnert gefühlt haben, der trocken festgestellt hatte: „If relief gets in the way of peacemaking then there will be no relief.“15 Aber auch diese Episode ist, wie so viele, nur anekdotischer Art. Ob, wie und mit welchen Folgen humanitäre Hilfe innerhalb integrierter VN-Missionen stärker als in anderen Strukturen politisch instrumentalisiert wird, harrt weiterhin einer eindeutigen Analyse.

Die Realität der Mission

Zu Beginn der Mission in Liberia war die Mitnutzung militärischer Kapazitäten von UNMIL durch humanitäre VN-Programme laut dem World Food Programme notwendig. Mangels ausreichender eigener Kapazitäten (insbesondere im Bereich Logistik, aber auch zur Absicherung von Aktivitäten im Feld), sei die Unterstützung durch UNMIL essentiell gewesen. Mittlerweile versuchen sich jedoch einige VN-Programme in Liberia etwas von UNMIL zu distanzieren. Sie tun dies u. a. durch eine farbliche Unterscheidung: während (militärische und zivile) UNMIL Einheiten einen schwarzen Schriftzug benutzen, tragen Fahrzeuge von UNDP und anderen Programmen allein blaue Symbole. Dies ist für viele internationale humanitäre Organisationen wichtig, denn in ihren Augen ist die »black UN« militärisch und politisch in Liberia tätig, und dementsprechend kein Kooperationspartner für ihre Arbeit. Die liberianische Bevölkerung macht laut Umfragen aber keine Unterscheidung zwischen schwarzer und blauer VN. Überhaupt scheint die Bevölkerung der komplexen Diskussion um zivil-militärische Kooperation, politische Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe oder Integration nur wenig Interesse beizumessen. Bemerkenswert ist, dass eine Umfrage mit knapp 800 Teilnehmern in Liberia im Januar 2006 eine überwältigend positive Einstellung der Bevölkerung gegenüber UNMIL zeigte.16 91 Prozent sagten, dass UNMIL bislang gute Arbeit geleistet habe, besonders hinsichtlich Stabilisierung und Sicherheit, aber auch bei der Implementierung von Quick Impact Projects, sowie bei der Durchführung der ersten freien Wahlen. Im Gegensatz dazu wurde die Arbeit der NROs meist viel kritischer betrachtet.17

Insgesamt kann man feststellen, dass die Idee der Integration innerhalb von UNMIL grundsätzlich begrüßt wird, sich aber derzeit noch in wenig mehr als einem erhöhten Austausch an Informationen äußert. Im Hinblick auf die VN-Programme außerhalb von UNMIL könnte sich die kritische und vielfach auf Unabhängigkeit bestehende Haltung langsam abschwächen. Konkret bahnt sich diese Änderung an, seit der Leiter von UNMIL ausgewechselt worden ist. Jaques Klein, der erste Leiter von UNMIL, war früher beim Militär, während der ihm nachfolgende Alan Doss einen zivilen Hintergrund hat – er kommt aus der humanitären Hilfe. Viele Akteure der humanitären Hilfe sehen darin eine große Chance, da Schlüsselfiguren an der Spitze integrierter Missionen enormen Einfluss darauf nehmen könnten, wie stark auf Missions-Externe zugegangen wird.

Kritik und Ausblick

Die Schaffung integrierter Missionen ist ein Versuch zur Steigerung der Effizienz des Friedensengagements der VN, der nach den Fehlschlägen in den 1990er Jahren unternommen werden musste. Um nachhaltig friedliche Strukturen schaffen zu können, müssen politische, militärische, humanitäre und entwicklungspolitische Akteure so weit wie möglich zusammenarbeiten. Es geht also nicht so sehr um das Ob, sondern mehr um das Wie der Integration.18 Die Art und Weise, in der komplexe Friedensmissionen mit den Anliegen der humanitären Gemeinschaft umgehen, steht im Mittelpunkt. Dabei werden die Missionen noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Sorgen bezüglich der Instrumentalisierung und Unterordnung von humanitärer Hilfe abzubauen. Andererseits sollten die UN Country Teams sowie die internationalen und lokalen NROs ihre bisweilen absolut gesetzten humanitären Prinzipien (Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit) erneut beleuchten – denn faktisch hat sich die klassische humanitäre Hilfe bei vielen Akteuren hin zu eindeutig politischen Aufgaben des langfristigen Wiederaufbaus gewandelt.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob die VN-Mission in Liberia ein Prototyp für kommende komplexe Friedensmissionen der Vereinten Nationen ist, kann bejaht werden. Allerdings steht bei den meisten aktuellen Friedensmissionen (bspw. in Afghanistan, Bosnien oder dem Kosovo) die militärische Komponente nicht unter der Kontrolle der VN. Liberia ist somit ein Idealfall für die Vereinten Nationen. Anstelle von integrierten Missionen nach liberianischem Vorbild könnte das Bild internationaler Friedensmissionen auch künftig eher von Situationen bestimmt werden, in denen militärische oder zivile Aufgabenbereiche einer VN-Mission von der NATO, der Weltbank, der EU oder der OSZE übernommen werden.

Anmerkungen

1) Winrich Kühne (2003): UN-Friedenseinsätze verbessern – Die Empfehlungen der Brahimi Kommission, S. 717, http://www.zif-berlin.org/Downloads/Analysen/Praxishandbuch_UNO_2003.pdf.

2) Brahimi Report, Paragraph 198, http://www.un.org/peace/reports/peace_operations/.

3) Draft UN Integrated Mission Planning Process (2006).

4) Espen Barth Eide et al. (2005): Report on Integrated Missions. Practical Perspectives and Recommendations, S. 14, www.globalpolicy.org/security/peacekpg/general/2005/05integrated.pdf.

5) Vgl. Andreas Heinemann-Grüder und Diana Burghardt (2006): Zivil-Militärische Zusammenarbeit – Der Wiederaufbau von Nachkriegsgesellschaften, S. 113, http://www.reader-sipo.de/artikel/0602_AII1.htm.

6) Principles of Conduct for The International Red Cross and Red Crescent Movement and NGOs in Disaster Response Programmes, http://www.ifrc.org/publicat/conduct/code.asp.

7) Vgl. Volker Franke (2006): The Peacebuilding Dilemma. Civil-Military Cooperation in Stability Operations, International Journal of Peace Studies (im Erscheinen).

8) Eide, S. 17-18.

9) Eide, S. 18.

10) Vgl. Georg Frerks et al. (2006): Principles and Pragmatism. Civil-Military Action in Afghanistan and Liberia, S. 75, http://www.reliefweb.int/library/documents/2006/cordaid-gen-02jun.pdf.

11) Vgl. Lewis Sida (2005): Challenges to Humanitarian Space. A Review of Humanitarian Issues Related to the UN Integrated Mission in Liberia and to the Relationship between Humanitarian and Military Actors in Liberia, S. 8, http://www.humanitarianinfo.org/Liberia/infocentre/general/docs/Challenges%20to%20humanitarian%20space%20in%20Liberia.pdf.

12) Peacekeeping Best Practice Section (PBPS) of the United Nations (2004): Lessons Learned Study on the Start-up Phase of the United Nations Mission in Liberia, S. 15, http://pbpu.unlb.org/pbpu/library/Liberia%20Lessons%20Learned%20(Final).pdf.

13) Erin A. Weir (2006): Conflict and Compromise. UN Integrated Missions and the Humanitarian Imperative, KAIPTC Monograph No 4, S. 42, http://www.kaiptc.org/_upload/general/Mono_4_weir.pdf.

14) Secretary General´s 4<^>th<^*> Report to the Security Council on Liberia. S/2004/725.

15) Zitiert nach Weir, S. 38.

16) Vgl. Jean Krasno (2006): Public Opinion Survey of UNMIL´s Work in Liberia, http://pbpu.unlb.org/pbpu/library/Liberia_POS_final_report_Mar_29.pdf.

17) Frerks, S. 95.

18) Vgl. Weir, S. 46.

Tobias Pietz, M.A. und Diana Burghardt, M.A. sind Mitarbeiter des Bonn International Center for Conversion (BICC) im Forschungsbereich Peacebuilding. Tobias Pietz studierte Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg und Peace and Security Studies am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH). Diana Burghardt, studierte Nordamerikastudien, Politische Wissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Bonn und der University of California, San Diego.

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

von Dr. Alexander Neu

Seit Jahren wird eine umfassende Reform der Vereinten Nationen (UN) diskutiert. Ein Gipfeltreffen im Herbst letzten Jahres sollte die UN fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel Mitte September letzten Jahres bereits im Anfangsstadium stecken. Der Autor dieses Artikels geht davon aus, dass internationale Regierungsorganisationen keine eigenständigen handlungstragenden Einheiten verkörpern, sondern lediglich Instrumente darstellen, deren Kompetenzen, deren finanzielle, materielle und personelle Ausstattung durch die sie tragenden Staaten – als die eigentlichen Akteure der internationalen Politik – bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, wie im sicherheitspolitischen Sektor die tatsächliche Unterstützung der UN seitens der die UN tragenden Staaten aussieht.

Mit dem Beitritt zur UN haben sich die UN-Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Normen der UN-Charta verpflichtet. Dass heißt:

  • Sie haben einen Teil ihrer Souveränität, das ius ad bellum in der Variante des Angriffskrieges, abgegeben. Damit haben sie das Gewaltmonopol an die UN delegiert.
  • Sie haben sich damit auch verpflichtet, die UN materiell, finanziell und personell (auch militärisch) so weit zu befähigen, dass diese schließlich das formale Gewaltmonopol auch durchsetzen kann.

Doch wie sieht es mit der Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UN relevanter Staatengruppen, wie der NATO, der EU und den USA, tatsächlich aus? In welchem Verhältnis stehen das »Strategische Konzept des Bündnisses«, die »Nationale Sicherheitsstrategie« der USA sowie die »Europäische Sicherheitsstrategie« der EU zu den normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektives?

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Eine der wichtigsten UN-Normen für das Funktionieren des UN-Systems ist die Vorrangklausel (Art. 103 UN-Charta). Sie stellt fest, dass im Falle internationaler Verpflichtungen und internationaler Verträge (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie vergleichbar. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verbot von subsidiären Sicherheitsstrukturen wie regionale Organisationen (hierzu Kapitel VIII der UN-Charta), sondern lediglich um deren UN-rechtskonforme Einbindung bzw. Unterordnung.

Zur Erfüllung der Kernaufgabe, der Gewährung kollektiver Sicherheit, wird dem UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, sowie das ausschließliche Recht zuerkannt, eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ festzustellen (Art. 39 UN-Charta), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42 UN-Charta) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages – seitens der UN-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47 UN-Charta). Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an dem UN-Sicherheitsrat nicht in die Hand gegeben.

Stattdessen wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1 UN-Charta) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser »Autorität«, d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführt) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatiert) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, als sie die irakische Besetzung Kuwaits mit einer multinationalen Truppe unter ihrem Oberkommando beendeten. Die UN verloren die komplette Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks, sie wurden de facto zum Mandatsbeschaffer degradiert.

Die Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren sollen, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UN selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UN vermittelt über »willige Staaten« bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine militärische Handlungsfähigkeit der UN. Die operative Umsetzung wird von den »willigen Mandatnehmern« gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Letztlich werden damit auch die weiteren politisch-strategischen Entscheidungen über die Maßnahmen zur Gestaltung der Nachkriegsordnung in der betreffenden Region der UN faktisch entzogen und der Machtsphäre des »willigen Mandatnehmers« zugeordnet.

Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und kann sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert werden.

Dass dieses Problem zeitverzögert – 45 Jahre nach Gründung der UN – erst so virulent wurde, erklärt sich durch die bipolare Ost-West Konfrontation: Diese verhinderte einen einseitigen Missbrauch durch die balancierende Kraft der jeweils anderen Seite, die das Vetorecht geltend machte.

Derzeit existiert keine ausreichend balancierende Gegenmacht, die die USA zur Respektierung internationalen Rechts bewegen könnte. Im Gegenteil, wie der Ingenuitätsprozess1 sich nach dem Ende der Bipolarität nicht nur in der praktischen internationalen Politik, sondern auch in völkerrechtlichen Dokumenten durchsetzte wird im folgenden ausgeführt.

Das Strategisches Konzept der NATO

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung drohte die NATO Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. 1991 verabschiedete die NATO ein Neues Strategisches Konzept in dem sie lediglich ihre verteidigungspolitische Funktion in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ wiederholte und ihre sicherheitspolitische Unabkömmlichkeit unterstrich.2

Diese Selbstrestriktion brachte das Bündnis jedoch in eine Identitätskrise. Es mussten neue Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, gefunden werden, um der Verteidigungsorganisation eine neue sinnstiftende Identität zu geben. Zunächst empfahl man sich den UN als militärischer Arm in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawien. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UN.3

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage ihres Strategischen Konzepts. Darin wird die »Autorität« des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.4 Allerdings wird diese »Autorität« in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben.“5 Die Wortwahl »anstreben« bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UN. Damit wird das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt. Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das Strategische Konzept spricht hier von der „primären Verantwortung“, statt der Hauptverantwortung (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UN für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.“6 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das Strategische Konzept exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung »primäre Verantwortung« Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit beansprucht für den Fall, dass die UN ihrer Funktion – gemäß der Erwartung des Westens – nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der Hauptverantwortung bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UN eigenmächtig substituieren. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta). Der Terminus Hauptverantwortung muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Demnach die Verantwortung der Staaten selbst, durch eine proaktive Haltung in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ beitragen müssen und „internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beilegen sollen.

Das Strategische Konzept muss in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung der realpolitischen Situation verstanden werden. Neben dem mangelnden Unterordnungswillen unter die UN bleibt auch der geographische Aktionsradius offen. Es werden der euro-atlantische Raum, die Peripherie desselben und schließlich der »globale Kontext«, genannt, indem die Sicherheitsinteressen, wie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“, berührt werden könnten.7

Insgesamt verweist das Konzept auf eine neue NATO, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, verstanden wissen will. Die neue NATO definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff (Stichwort: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch), der das Verteidigungsbündnis im Ergebnis zu einem globalen Sicherheitskollektiv ohne völkerrechtliche Legitimation erhebt. Hierbei bricht die NATO UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UN bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103 UN-Charta).

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS muss im Kontext des ein Jahr zuvor stattgefundenen Terroranschlags auf die USA verstanden werden. Die NSS verweist mit dem hohen Selbstbewusstsein einer Supermacht auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die „neue, produktive internationale Beziehungen“ eingehe und die „bestehenden neu“ definiere.8 Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle Korrekturen der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen ist hier beispielsweise die Weigerung der USA sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen.

Die UN werden ganze zweimal in dem umfassenden Dokument genannt. Im Vorwort wird auf eine sehr allgemeine und unpräzise formulierte Verpflichtung der USA gegenüber multilateralen Institutionen, wie der UN verwiesen. Der zweite Hinweis devaluiert gar die UN zu einer Organisation unter vielen, mit der bei Bedarf kooperiert werden kann.9

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Die USA beanspruchen die globale Führerschaft im Kampf gegen die neuen sicherheitspolitischen Risiken. Die wesentlichen Konfliktlösungsmechanismen sind hierbei repressiver Art, d.h. militärische Maßnahmen, deren Nennung wie ein roter Faden die gesamte NSS durchzieht. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UN. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus, selektivem Multilateralismus10 und einem dezidierten Unilateralismus.

  • Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip (aktive Selbstverteidigung bei einem gegenwärtig zu erwartenden Angriff) um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: „(…) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird.“11 Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verneint. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
  • Der selektive Multilateralismus exemplifiziert sich an Rüstungskontrollregimen und dem Nichtverbreitungsvertrag, die den USA einen Nutzen einräumen.12 Der selektive Multilateralismus ist gekennzeichnet durch punktuelle Kooperationen, die den nationalen Interessen förderlicher sind als eine rein unilaterale Vorgehensweise.
  • Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA „auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (…).“13Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, gemeint ist hier wohl insbesondere die UN ohne sie namentlich zu nennen, nicht die Hauptverantwortung, sondern bestenfalls eine kooperierende und schlimmstenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird.

Die signifikante Abwertung der UN, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die „Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt“ skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten, wie Japan, Südkorea und Australien, noch vier internationale Organisationen genannt: die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC. Die UN wird nicht aufgeführt.14

Nicht nur das die UN und das UN-Völkerrecht keine Rolle in der NSS spielen. Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Ein solcher Ansatz müsste eigentlich auf entschiedenen Widerstand der europäischen Partner stoßen. Wie die Reaktion der EU tatsächlich ausschaut, zeigt eine Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Angesichts der zunehmenden Integration der EU – auch in sicherheitspolitischen Fragen – zeigte sich die Notwendigkeit der strategischen Positionierung eines im Werden begriffenen sicherheitspolitischen Akteurs auf der Weltbühne. Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter und ausgeführter – kurzum gelebter – Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betont.15 Obgleich die ESS keine Bereitschaft bekundet, der UN Truppen unter UN-Befehl gemäß Art. 43 UN-Charta (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UN in deren Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen. Hierbei bekundet sie auch ihr Pflichtgefühl, zu einer „verstärkten Unterstützung“ der UN bei „kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.“16 Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.17

Aber exakt im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS. Die ESS fordert die Entwicklung einer Strategie-Kultur, „die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert“. Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie „humanitäre Krisen“ können durch „präventives Engagement“ reduziert werden.18

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der Wahrung des Völkerrechts. Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffskrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorial gebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“19

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit, „dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt“ halten müsse, aufzulösen.20 Hierbei »übersehen« die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

Fazit

Weder in dem Strategischen Konzept des Bündnisses noch in den Doktrinen wird der Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zur Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Handlungsspielraum der Großmächte zu erweitern (Interventionen mit Unterstützung der UN). Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der ESS unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, »modernisiert« werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur »weltweiten präventiven Selbstverteidigung« hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeuten würde.

Anmerkungen

1) Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert den Begriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff Ingenuität ist der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoption gerichtet ist“.

2) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom, 1991.

3) Nassauer, Otfried u.a.: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin, 1994.

4) Das Strategische Konzept des Bündnisses, Washington, 1999, Abs. 31.

5) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 11.

6) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 15.

7) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 24.

8) The National Security of the United States of America, Sept. 2002, S. 7.

9) The National Security…, Vorwort und S. 7

10) Hippler, Jochen, Die unilaterale Versuchung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2003, S. 818 ff.

11) The National Security…, S. 15, 13, 22.

12) The National Security…, S. 14.

13) The National Security…, S. 6, 42.

14) The National Security…, S. 25 f.f

15) Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 9.

16) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

17) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9f.

18) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

19) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7.

20) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 10.

Dr. Alexander Neu, Politologe, Mitglied der W&F Redaktion

UN-Reform für das 21. Jahrhundert

UN-Reform für das 21. Jahrhundert

von Christian Scherrer

In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen wies Generalsekretär Kofi Annan im September 2003 warnend darauf hin, dass die UN an einem Scheidepunkt angelangt seien. Damit berührte er das Thema, das in den letzten Jahren am meisten zur Spaltung der internationalen Gemeinschaft beigetragen hatte: der unprovozierte Überfall der anglo-amerikanischen Mächte, unter verlogenen Begründungen, auf den entwaffneten Irak, dessen Bevölkerung dezimiert, unterernährt und geschwächt war, und zwar auf Grund von UN-Sanktionen, für deren Manipulation und brutale prohibitive Anwendung während 13 Jahren die Aggressoren selbst gesorgt hatten. An einem Scheidepunkt müssen wir uns entscheiden, welchem Pfad wir folgen wollen. In diesem Fall führt ein Pfad zur vollständigen internationalen Anarchie, zur Verarmung ganzer Weltregionen, zu neuer imperialistischer Aggression, Instabilität, ökologischem Faschismus und zur Gefahr der Vernichtung durch Atomwaffen. Der andere Pfad würde das Völkerrecht gegen das Recht des Dschungels stärken, Verelendung verhindern, Armut reduzieren, begrenzt vorhandene Ressourcen gerecht verteilen, die Entwicklungsziele des UN-Milleniumgipfels erfüllen, dem Treibhauseffekt und der Umweltverschmutzung entgegenarbeiten, eine stabile Weltfriedensordnung aufbauen und Aggressionskriege, Völkermorde und illegales einseitiges Vorgehen der Großmächte ächten.

VN-Generalsekretär Annan richtete die Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel ein und beauftragte sie damit, Vorschläge zu entwickeln und zu evaluieren, welche Politiken und Institutionen die Vereinten Nationen benötigen, um die aktuelle Krise zu überwinden und die Weltfriedensordnung wirksam zu bewahren. Die Gruppe lieferte Ihren Bericht »Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« im Herbst 2004 ab. Die Kapitel mit Empfehlungen für eine effektivere UN stießen eine umfangreiche Diskussion an.

Die Aushöhlung des internationalen Rechts

Im September 2004 erklärte Annan ausdrücklich aber viel zu spät, dass der von den USA angeführte Krieg gegen Irak illegal sei. Gesetzeswidrige Handlungen sollten verfolgt werden, und dazu wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag eingerichtet. Die Hälfte aller Staaten sind dem Römischen Statut inzwischen beigetreten, darunter fast alle demokratischen Staaten. Die japanische Diplomatin Naoko Saiki stellte fest, der IStGH solle „sicherstellen, dass es keinen Platz auf der Erde gibt, wohin Gesetzesbrecher fliehen können.“ Allerdings ist Washington D.C. offensichtlich ein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher.

Der Weltstaatsanwalt Motreno Ocampo hat es allerdings nicht gewagt, eine Untersuchung des Überfalls auf und der Besetzung des Irak einzuleiten, ganz im Gegensatz zu den hehren Zielen des Weltstrafgerichts, wonach niemand (auch keine Großmacht) über dem Gesetz stehen kann. Wie man weiß, hat die US-Regierung die Unterschrift unter das Römische Statut, die Clinton kurz vor Ablauf seiner Amtszeit leistete, wieder zurückgezogen. Dieser völkerrechtlich einmalige Vorgang wurde »unsigning« genannt. Seither beschäftigt sich ein Großteil der US-Diplomaten damit, Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts mittels »bullying and bribing« (Bedrohen und Bestechen) zu nötigen, dass sie US-Bürgern Straffreiheit vor dem IStGH zusichern. Derartige Unterwerfungsverträge unter den Willen des Amerikanischen Imperiums wurden bisher mit über neunzig Staaten geschlossen, darunter einem erheblichen Teil der IStGH-Mitgliedstaaten. Die Sabotage dieser wichtigen neuen internationalen Institution, die als Zeitenwende im internationalen Recht gelobt wurde, könnte infamer nicht sein.

Die Untätigkeit des Weltstrafgerichtes

Ob das Weltstrafgericht bereits irreparablen Schaden genommen hat, ist vielleicht noch zu früh zu entscheiden. Einen erheblichen Legitimationsverlust hat der IStGH jedoch bereits erlitten. Der IStGH versäumte es sträflich, Untersuchungen gegen schlimmste Kriegsgräuel einzuleiten, wie die terroristischen US-amerikanischen »shock-and-awe«-Bombardierungen von zivilen Zielen im Irak; dem Einsatz von radioaktiv strahlenden und hochtoxischen Massenvernichtungswaffen gegen irakische Städte, die das so genannte »depleted u« (DU, abgereichertes Uran) enthalten, und zwar in der Größenordnung von geschätzten 2.000 Tonnen; die systematische Folterung und Erniedrigung von Kriegsgefangenen in Abu Ghraib (dem Foltergefängnis Saddam Husseins), in Guantanamo und auf Kriegsschiffen auf hoher See; die Verweigerung des Wiederaufbaus, insbesondere der 1991 systematisch zerbombten zivilen Infrastruktur; der Raub des Erdöls; die Installierung eines Regimes von Kollaborateuren; die andauernde illegale Besetzung und der brutale Krieg gegen die Widerstandskämpfer und die Zivilbevölkerung vor allem im Norden und Westen des Landes.

Die größten Verbrechen des Westens seit den Angriffskriegen in Indochina und Korea werden vom IStGH ignoriert, nicht jedoch von der internationalen Zivilgesellschaft. In Dutzenden von Tribunalen gegen Bush, Blair und andere Kriegsverbrecher, die in den USA, Europa, im Arabischen Raum und in Ostasien stattfanden, untersuchten Volksgerichte, was der IStGH versäumte, v.a. die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, Folter, Gängelung der Medien, Ressourcenraub und den Massenmord an den Schwachen und Ärmsten der Armen, der von höchsten UN-Beamten als Genozid eingestuft wurde. Seit 1991 ist und blieb ein Großteil der irakischen Wasserversorgung und der Abwasserreinigung zerstört, was unter den Bedingungen des brutalsten Embargos, das je verhängt wurde, zum Massensterben von Millionen Kindern, Frauen und Alten führte – bis heute. Stattdessen verfolgt der IStGH ausschließlich afrikanische Massenmörder in Kongo, Uganda und Sudan mit Strafverfahren. Diese Prozesse im Stil des Russell-Tribunals gegen die Verbrechen der US-britischen Allianz in Vietnam werden auch nach dem eigentlich als Abschluss gedachten World Tribunal on Irak (WTI), das im Juni 2005 in Istanbul stattfand, fortgesetzt. Weitere Hearings sind in Europa, West- und Ostasien geplant.

Trotz höchster Brisanz und schwerwiegenden Anklagen gelang es bisher nur punktuell an die globale öffentliche Meinung zu appellieren. Der Grund ist der Informationsboykott der internationalen und von den USA und Großbritannien kontrollierten Massenmedien. Die so genannte vierte Gewalt im demokratischen Rechtsstaat fällt fast völlig aus, besonders dann, wenn es um das politisch »Eingemachte« geht. Orwell lässt grüßen. Der Zustand der Nordatlantischen Allianz, der von der konservativen Journaille so beklagt wird, scheint angesichts der Gleichförmigkeit und Kritiklosigkeit der Massenmedien gegenüber dem amerikanischen Imperium tatsächlich bedenklich. Globalisierung und Profitorientierung haben längst zu medialem Einheitsbrei und (Selbst-) Zensur geführt. Von der neuen Weltkommunikationsordnung, einst von der UNESCO (damals dem Think Tank der Vereinten Nationen) als eine der wichtigsten Reformen des internationalen Systems gefordert, wird heute im Westen kaum mehr gesprochen.

Veränderungen, aber kein schlüssiges Konzept

Im März 2005 griff Annan die Überlegungen der Hochrangigen Gruppe auf und sprach in seinem Bericht »In größerer Freiheit: Auf dem Wege zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« davon, dass sich 2005 „eine historische Chance“ für einen Reformprozess biete, der die Organisation für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit macht. Auf dem Regierungsgipfel, zu dem die Staats- und Regierungschefs der Welt im September anlässlich des 60. Geburtstages der UN in New York zusammenkommen, sollen grundlegende Änderungen vereinbart werden. Die Hauptforderungen von Annan – versehen jeweils mit einer Anmerkung von mir – lauten:

  • Erweiterung des Sicherheitsrates [wobei der strittigste Punkt überhaupt nicht erwähnt wird: das Vetorecht, das abgeschafft werden sollte];
  • Klare Regeln für legitime Militärinterventionen [unter fast vollständiger Auslassung der Frage, wie die Verhinderung von Gewalt – insbesondere von Völkermord – operationalisiert oder das Konfliktmanagement als wichtigste Voraussetzung für künftige globale Regierungsführung ausgebaut werden kann];
  • Stärkung der Menschenrechte [aber kein Wort über die äußerst komplizierten Minoritätenrechte, welche bedrohte Minderheiten vor despotischen Staaten schützen sollten, eine Hauptursache gegenwärtiger Gewaltkonflikte];
  • Gerechte Entwicklung und Handelsbeziehungen und Erreichen der Milleniums-Entwicklungsziele bis 2015 [ohne verbindliche Regeln für die Finanzierung eines solchen Programms vorzusehen];
  • Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens und vollständiger Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt [eher ein Appell als eine verbindliche Verpflichtung];
  • Größere Kohärenz und grundlegender Umbau der UN-Bürokratie [ohne auf die Frage einzugehen, wie der zunehmend globale Prozess der Regierungsführung finanziert und gefördert werden kann].

Schlussfolgerung: Obwohl Annan die umfassendste Reform in der Geschichte der Vereinten Nationen vorschlägt, bleibt die anvisierte Reformagenda zu bescheiden.

Aufrechterhaltung der Weltfriedensordnung

Konfliktlösung hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Sie ist auf die konkrete Situation abgestimmt; sie wurde von allen Konfliktparteien einvernehmlich ausgearbeitet; und sie wird von abgestuften Erzwingungsmaßnahmen flankiert, die von vorbeugender Diplomatie über mehrgleisigen friedlichen Ausgleich bis hin zu gezielten politischen und wirtschaftlichen Sanktionen (die sich gegen unkooperative Regierungen und nicht gegen das Volk richten) oder im Notfall sogar zu friedenserzwingenden Maßnahmen unter Kapitel VII der UN-Charta reichen.

Völkermord darf nicht als »innere Angelegenheit« abgehandelt werden, sondern macht Intervention zur moralischen Pflicht. Die Ausarbeitung von strukturellen Maßnahmen zur Verhinderung von Völkermord hat höchste Priorität. Obwohl die Dringlichkeit erkannt wurde und die Afrikanische Union (AU) das Recht zur Intervention gegen Schurkenstaaten hat, wurde der Genozid in Darfur bislang nur verlangsamt aber nicht gestoppt. Der Westen, ausgerechnet die USA, beklagte den Völkermord, brachte eine UN-Resolution nach der anderen gegen das sudanesische Regime ein, weigerte sich aber, den einzigen glaubwürdigen Akteur (die AU) logistisch und finanziell bei der Befriedung und Kontrolle in Darfur zu unterstützen.

Renuklearisierung und Vertragsbruch

Der Nuclear Posture Review (Überprüfung der Nuklearpolitik und des Waffenarsenals) der US-amerikanischen Regierung von 2001 weckte Befürchtungen, dass die Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen sinken könnte. Das Ergebnis der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) vom Mai 2005 in New York machte nur allzu klar, dass das Nichtverbreitungsregime nutzlos wird und zusammenbrechen kann, wenn die Nuklearwaffenstaaten sich weiterhin einer umfassenden Abrüstung verweigern, aber andererseits Mittelmächten gar die zivile Nutzung der Atomenergie untersagen.

Seit George Bush und seine neokonservativen Freunde die Wahlen gegen Ende 2000 stahlen, wurde die überwunden geglaubte nukleare Konfrontation durch die USA mutwillig neu entfacht. Ein Vertragswerk nach dem anderen wurde vom Bush-Regime zerstört. Die schockierende neue beispiellose Aggressivität zeigte sich in der glatten Weigerung der USA, den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Nichtnuklearstaaten auszuschließen. Bereits seit 1991 werden von den USA radioaktive, hochgiftige Urangeschosse verwendet, also schon von Vater Bush im Südirak — nach 46 Jahren der Scham, die auf den nuklearen Holocaust in Hiroshima und Nagasaki vom August 1945 folgten. Der Einsatz von durch die UN 1996 verbotenen Uranwaffen wurde auch von Demokraten fortgeführt, einschließlich der Lügen über deren reale Auswirkungen. Clinton setzte Uranwaffen in Bosnien 1995 und Serbien 1999 ein, allerdings in weit geringerem Umfang als G. und G.W. Bush im Irak seit 1991 und in Afghanistan, letzteres Ziel ab November 2001, fast unbemerkt und im Windschatten des 11.9.

Der bedenkliche Geisteszustand der politischen Elite des Imperiums zeigte sich in der Zustimmung des Kongresses, sog. einsetzbare Atomstrengköpfe zu entwickeln, die »mini nukes«. Die erneute nukleare Bedrohung und die Frage, wie die Militärausgaben und imperialistische Aggressionsakte eingedämmt und kontrolliert werden können, sind neben der ungehemmten Umweltzerstörung und der andauernden Weigerung der USA und Japans, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen, die größten Herausforderungen, vor denen die Vereinten Nationen stehen.

Neue Agenda für Frieden und Veränderung

Die internationale Gemeinschaft muss sich den folgenden Hauptproblemen stellen:

  • der Notwendigkeit, innerstaatliche Konflikte friedlich zu lösen, wobei das Völkerrecht dazu momentan nur eingeschränkt taugt (Festklammern am überholten Prinzip der Nichteinmischung) und Durchsetzung des Verbots von Aufhetzung, rassischer und ethnischer Diskriminierung;
  • dem unabsehbaren Risiko einer irreparablen Destabilisierung der Weltwirtschaft, wenn die Armut im Süden weiter zunimmt;
  • der Ächtung von Massenvernichtungswaffen, insbesondere der Eliminierung aller Nuklearwaffen (einschließlich DU) und heimtückischer langlebiger Waffen (Minen, Streubomben, chemischer und biologischer Waffen);
  • der internationalen Ächtung von Völkermord, Aggressionshandlungen und Krieg, kombiniert mit weltweiter Reduktion und Kontrolle von Waffenproduktion und Waffenhandel;
  • der dringlichen Umsetzung von Maßnahmen, um eine globale Klimakatastrophe abzuwenden.

In allen fünf Bereichen laufen wir Gefahr, dass effektive Antworten blockiert werden oder letztlich zu spät kommen.

Die aktuelle Struktur der globalen Institutionen privilegiert die Großmächte, die politisch kurzsichtig handeln und aus Eigennutz ernsthafte Reformen verhindern. Aber ohne radikale Veränderungen wird es nicht zu einer globalen Regierungsführung durch eine gestärkte UN kommen. Wachsende geopolitische Multipolarität und die Erstarkung des Ostens (China, Indien, Tigerstaaten) werden die Blockade über kurz oder lang durchbrechen und die momentan herrschende eurozentristische Machtstruktur kippen. Eine Vergrößerung des Sicherheitsrates ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings mit Einschränkungen.

Die wesentlichen Hindernisse für die unentbehrlichen Reformen sind leicht auszumachen: Im UN-Sicherheitsrat halten immer noch die alten fünf Nuklearwaffenmächte das Vetorecht, nicht aber Länder wie Indien, Japan, Deutschland, Indonesien, Brasilien und Nigeria. Einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat müssten neu supranationale Organisationen wie Europäische Union, Afrikanischen Union, Shanghai Cooperative Organization (SCO), blockfreie Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), Assoziation südostasiatischer Staaten (ASEAN), Organisation amerikanischer Staaten (OAS), Arabische Liga und andere Regionalorganisationen einnehmen; deren Stimmkraft sollte jene der Staaten übertreffen.

Der Ruf nach Reformen kommt vor allem aus dem Lager der blockfreien Länder, die eine weitere Instrumentalisierung der Vereinten Nationen durch die Großmächte verhindern wollen. Die herrschende Dominanz der nördlichen Minorität über die südliche Mehrheit muss gebrochen werden – wobei China und den ostasiatischen Tigerstaaten zunehmend eine Vermittlerrolle zukommt.

Das Scheitern der Reformen Annans

Mit seiner jüngsten Aussage, dass die Vereinten Nationen keine Weltregierung sein können, obwohl doch nur eine Entwicklung von Instrumenten der global governance (der globalen Regierungsfähigkeit) den Weltfrieden sichern und die Millenium-Ziele in der Weltentwicklung ermöglichen können, gestand Annan bereits das Scheitern seiner UN-Reformen ein. Ist dies Feigheit oder Realismus?

Die Weltgemeinschaft kann nicht zum stummen Zeugen der permanenten Sabotagepolitik des US-Imperiums gemacht werden. Die stärkste Militärmacht der Welt gibt zwar nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI so viel für ihre einseitige Hochrüstung aus wie der Rest der Welt zusammen genommen. Dies zeigt jedoch wenig bzw. keine Auswirkung, dort wo das Imperium militärische Stärke demonstrieren wollte.

Wie im Vietnam- und Koreakrieg scheint die US-Militärmacht im Irak geschwächt und demotiviert, trotz gewaltiger Feuerkraft, die immer wieder frontal gegen zivile Ziele gerichtet wird. Nach Angaben des medizinischen Fachjournals The Lancet vom 27. Oktober 2004 hat eine empirische, von US-Ärzten gemeinsam mit irakischen Experten durchgeführte Studie ergeben, dass seit März 2003 über 100.000 Iraker, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, von den Invasoren getötet wurden. Die Abschlachtung der Zivilbevölkerung entfachte einen stetig zunehmenden Widerstandswillen, der zur völligen Destabilisierung des Irak geführt hat und inzwischen über 2.000 US-Soldaten das Leben und 200.000 die Gesundheit gekostet hat. Nach Angaben der Harvard-Ökonomin Linda Bilmes kostete der Irakkrieg den US-Steuerzahler bereits die gigantische Summe von US$ 1.300 Milliarden oder US$ 11.300 pro Haushalt (Herald Tribune vom 22 August 2005, S. 6). Die sich abzeichnende politische und militärische Niederlage der USA wird das Pendel zu den Demokraten zurückschlagen lassen, die UN-Reform kann aber darauf nicht warten.

Nach einer Meinungsumfrage mit über 11.000 Befragten aus 23 Ländern, durchgeführt von November 2004 bis Januar 2005, sprachen sich fast zwei Drittel (64%) aller Befragten dafür aus, dass die Vereinten Nationen eine „signifikant machtvollere Rolle in den Weltangelegenheiten“ spielen sollten. Deutschland lag mit 87% Zustimmung an der Spitze (nur 7% dagegen), gefolgt von Großbritannien mit 75%, China mit 69% und den USA mit 59% (BBC online 13. Juli 2005). Noch höher war die Zustimmung zur Vergrößerung des Sicherheitsrates weltweit, die von über zwei Dritteln (69%) der Befragten befürwortete wurde, angeführt von 87% der Inder und sogar satten 70% der US-Amerikaner. Eine gute Mehrheit von 58% gegen 24% unterstützten die Abschaffung des Einzelvetos, mit dem die USA seit Jahrzehnten den UN-Sicherheitsrat lahm legt.

Die Sabotagepolitik der USA wird von einer qualifizierten Mehrheit der Weltbürger verurteilt, welche die von Annan geforderte UN-Reform befürworten. Gäbe es heute schon ein vom Volk gewähltes Weltparlament, dann wären die Reformen Kofi Annans per Akklamation angenommen. Selbst 57% der US-Amerikaner (gegen 34% Bush-Bolton Anhänger) forderten dies. Die Haltung der US-Regierung in der Frage der Sicherheitsratsreform wird nur von einem Drittel der US-Bürger geteilt und von fast zwei Dritteln der Weltbürger abgelehnt. Deutlicher hätte die Umfrage kaum ausfallen können.

Bedarf an radikaleren Reformen

Radikale Reformvorschläge fordern die Modernisierung und Demokratisierung der UN-Strukturen und mehr Effizienz. Die Vereinten Nationen müssen nicht »neu erfunden« sondern an die heutigen Anforderungen angepasst werden. Dabei fehlt es an praktischen Modalitäten, um die Hindernisse bei der Reform zu überwinden. Vor diesem Hintergrund würden sich meine Reformvorschläge auf das gesamte UN-System auswirken:

  • Abschaffung des Vetorechts im Sicherheitsrat und Ernennung neuer ständiger Mitglieder, und zwar aus allen großen Weltregionen und aus Regionalkörperschaften wie der Europäischen und Afrikanischen Union;
  • Schaffung einer Weltsozialbehörde; Festlegung globaler Mindeststandards für das menschliche Dasein; eine einheitliche Weltwährung;
  • Einrichtung einer Weltzentralbank zur Eindämmung der Währungsspekulation auf den Finanzmärkten;
  • Auflösung des Internationalen Währungsfonds (IMF) und der Weltbank; Übernahme ihrer Aufgaben durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss der UN (ECOSOC);
  • Aufwertung der Generalversammlung;
  • Verbesserung der demokratischen Legitimität des UN-Systems durch Einrichtung eines Weltparlaments mit gewählten Vertretern, das dem Jahresbudget zustimmen muss und bei Bedarf das Sekretariat entlassen kann;
  • Aufbau eines unabhängigen Fonds durch globale Steuern auf Finanztransaktionen (z.B. mit 0,1%) und Umweltemissionen; mit »Steuern statt Beiträgen« würden die UN-Finanzprobleme behoben;
  • Erweiterung der Mitgliedschaft und Aktivitäten des IStGH; Stärkung des Internationalen Gerichtshofs (IGH);
  • Förderung von Maßnahmen zur Konfliktvermeidung als Kernelement der globalen Regierungsführung;
  • Gestaltung einer Kultur des Friedens anstelle der bisherigen repressiven Maßnahmen und Militäraktionen;
  • Globale Abschaffung von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen;
  • Verbot jeglicher Waffenexporte;
  • Förderung und Einbindung regionaler Strukturen, die integraler Bestandteil des UN-Systems werden sollten; Einbindung regionaler Sicherheitsräte und Konfliktregulierungsmechanismen; regionale Friedenstruppen (womit auch die Afrikanische Union ihre Probleme lösen könnte, vor die sie die destabilisierenden innerstaatlichen Konflikte stellen);
  • Einrichtung eines Weltökologie- und -umweltrates mit der Befugnis, Wirtschaftssanktionen zu verhängen;
  • Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in alle globalen Gremien; hohe Budgets und ausreichender Personalbestand machten internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) in den 1990ern zu globalen Akteuren; NGOs werden im 21. Jahrhundert zunehmend mehr an Einfluss gewinnen.

Christian Scherrer ist Professor für Friedens- und Gewaltforschung am Hiroshima Peace Institute (HPI) der Hiroshima City University. Gründer und Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR) seit 1987 und internationaler Experte für Wiederaufbau nach Kriegen und Massengewalt. Er war für zahlreiche UN-Organisationen, für Befreiungsbewegungen und Organisationen indigener Völker als Experte und Berater tätig. Der Artikel wurde am 1. September, also vor dem UN-Gipfel, abgeschlossen.

Erfolgreiche Simulanten

Erfolgreiche Simulanten

Zum didaktischen Potential von Model United Nations-Planspielen

von Dagmar Eichert und Kai Hebel

Die Vereinten Nationen befinden sich, mal wieder, in einer Krise: Korruption im »Öl für Lebensmittel«-Programm, sexueller Missbrauch durch Blauhelmsoldaten, weitgehende Reformunfähigkeit u.v.m. überschatten das 60. Gründungsjubiläum. Letzteres sollte trotzdem Anlass sein, sowohl Erfolge der Organisation als auch der VN-bezogenen, akademischen Lehre hervorzuheben. Dieser Artikel diskutiert Model United Nations (MUN)-Simulationen als ein besonders gelungenes Beispiel für das immense pädagogische Potential von Planspielen. Die politischen Mittel für eine grundlegende Erneuerung der Weltorganisation mögen fehlen; die Lehre zu den Vereinten Nationen – und, darüber hinaus: zu weltgesellschaftlichen Prozessen im allgemeinen – kann jedoch leicht und effektiv durch diese Methode reformiert werden.

Planspiele sind ebenso wie Rollenspiele Methoden simulativen Handelns. Kennzeichnend für die Simulation ist die möglichst realitätsgetreue Imitation eines realen Prozesses. Simulationsspiele eröffnen somit die Chance, „Entscheidungsfähigkeit in ungewohnten Zusammenhängen zu trainieren und mit neuen Sichtweisen zu experimentieren.“ (Hellert, S. 135)

Plan- und Rollenspiel stellen keine fest umrissenen Methoden dar, können jedoch trotzdem von einander abgegrenzt werden. Rollenspiele sind wenig verregelt; häufig werden nur Grundsituation und Rollenvergabe festgelegt. Die individuelle Ausgestaltung der Rollen durch die Teilnehmer beeinflusst somit das Spiel maßgeblich (Buddensiek, S. 369). Rollenspiele thematisieren häufig Konflikte, die nicht institutionalisiert sind, beispielsweise familiäre Streitigkeiten. Der didaktische Fokus liegt auf dem Verlauf des Konfliktaustrags und weniger auf der konkreten Problemlösung.

Planspiele hingegen sind vergleichsweise stark verregelt, ergebnisorientiert und behandeln institutionalisierte Konfliktaustragungs- und Regelungsmechanismen. Neben der prozessualen Konfliktlösung steht im Planspiel der Entscheidungszwang im Vordergrund. Dieser soll den Teilnehmern Einblicke in Kontexte sozialen Handelns bieten, in denen Machtgefüge, Interessendivergenzen sowie die Grenzen der damit verbundenen Kommunikationsabläufe das Handeln der Teilnehmer führen. Um dieses Lernziel zu erreichen, muss in einem Planspiel die Realität möglichst detailgetreu simuliert werden; es unterliegt dabei jedoch immer dem Prinzip der didaktischen Reduktion. Die Methode empfiehlt sich so nicht nur im Sinne gesteigerter Teilnehmer- und Handlungsorientierung (vgl. Geutling, S. 26f), sondern erweist sich als hervorragend für Inhalte der Sozial- und Geisteswissenschaften geeignet.

Der didaktische Wert dieser Methoden gilt in der Literatur als unbestritten (Gold, S. 57ff; Scholz, S. 81f). Dennoch werden sie nur selten in der universitären Lehre eingesetzt. Dieses Defizit erstaunt um so mehr, bedenkt man, dass ein sehr großer Teil aller Schüler und Studenten aufgrund der Dominanz herkömmlicher, direktiv-rezeptiver Formen der Stoffpräsentation nicht optimal lernen (Portele, S. 9). Direkt-rezeptiven Lernarrangements fehlt Handlungsorientierung, weswegen sie die Lernenden kognitiv wie affektiv zu wenig ansprechen. Ferner sind sie nicht genügend an den neuen Qualifikationsbedarf angepasst, so dass Schlüsselkompetenzen nicht ausreichend vermittelt werden. Planspiele als handlungsorientierte Methode stellen ein hervorragendes Mittel dar, den traditionellen Lehrbetrieb zu ergänzen und dessen Defizite zu mildern.

Welche Vorteile bieten Planspiele im Vergleich zu den vorherrschenden Lehrmethoden? Planspiele motivieren in hohem Maße, weil sie verschiedene Lerntypen ansprechen. Sie verbessern insbesondere soziale und kommunikative Fähigkeiten sowie die Selbstkompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darüber hinaus wird auch inhaltlich effektiv gelernt. Politisch-gesellschaftliche Planspiele mit hohem Konfliktpotential helfen Lernziele zu erreichen, die häufig lediglich beschworen werden: aktives Erfahren politikfeldspezifischer Prozesse im Gegensatz zu rezeptivem Lernen aus Vorlesungen und Büchern, Anregung eigener Lektüre, Kennenlernen typischer Verläufe von und Verhaltensmuster in Verhandlungen sowie die Fähigkeit im Krisenmoment zu entscheiden und die Konsequenzen zu tragen (vgl. Gold, S. 58; Portele, S. 17).

Diese Ziele werden in Schule und Universität oft teils oder gar komplett verfehlt. Das allgemeine Wehklagen hierüber führte jedoch bisher nicht zu einer konsequenten Anwendung von Planspielen als Bereicherung des Lehrportfolios. Das ist erstaunlich, denn Ausmaß und Vehemenz mit der an den eingeschliffenen, defizitären Methoden festgehalten wird, stehen in keinem Verhältnis zu den moderaten Bedenken, die in der Literatur vereinzelt zu finden sind. Im folgenden soll kurz auf Model United Nations-Planspiele eingegangen werden, um im Anschluss einen theoretisch-didaktischen Einwand gegen das Planspiel-Format per se an einem praktischen Beispiel diskutieren zu können.

Model United Nations-Simulationen werden insbesondere im anglo-amerikanischen Raum eingesetzt, um internationale Verhandlungen zu simulieren. Die TeilnehmerInnen agieren als Delegierte eines Mitgliedsstaates in einem Ausschuss der Vereinten Nationen und versuchen, die Interessen »ihres« Landes1 zu aktuellen Fragestellungen von weltpolitischer Tragweite so nachdrücklich wie möglich zu vertreten.2 In den grundsätzlich auf Englisch und gemäß VN-Verfahrensregeln durchgeführten Deliberationen werden die Positionen des Landes in formal gehaltenen Reden umrissen bevor in den informellen Verhandlungsrunden das Tauziehen um konkrete Formulierungen beginnt. Hier liegt der Teufel im diplomatischen Detail und so entscheidet sich oft erst nach langwierigen Verhandlungen, ob – um ein Beispiel zu nennen – die Generalversammlung die durch den Generalsekretär angestoßenen Reformen »begrüßt« oder lediglich von diesen »Notiz nimmt«. Am Ende der MUN-Konferenzen stehen durchweg in Fachsprache verfasste Resolutionsentwürfe, über die in UN-Manier nach dem Grundsatz »one state, one vote« abgestimmt wird.

MUNs blicken auf eine Tradition zurück, die bis ins Jahr 1923 zurückreicht als zum ersten Mal eine Simulation des Völkerbunds stattfand. Seit 1964 wird das renommierte National Model United Nations (www.nmun.org) in New York durchgeführt, an dem weit über 2.000 Studierende alle wichtigen UN-Organe simulieren. Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen geht davon aus, dass weltweit bis zu 200.000 Studenten und Schüler an MUNs teilnehmen. Mittlerweile kann auch in Deutschland von einer jahrelangen MUN-Tradition gesprochen werden,3 an einigen Universitäten sogar von einer »Simulationskultur«. Diese Hochschulen entsenden nicht nur Gruppen zu Simulationen, sondern integrieren MUNs regelmäßig in den eigenen Lehrbetrieb. Dass studentische Initiativen auch hierbei häufig entscheidenden Anteil haben, lässt auf ein Informationsdefizit in Bezug auf MUNs von Seiten des hauptamtlichen Lehrpersonals schließen. Oder können didaktische Einwände die Zurückhaltung erklären?

Zu den gehaltvolleren Kritiken gegen die Planspiel-Methodik zählt sicherlich, dass sie den zu betrachtenden Gegenstand in wissenschaftlich unzulässiger Weise verkürze. Das Prinzip der didaktischen Reduktion gilt jedoch gezwungenermaßen auch in der universitären Lehre, um soziale Komplexität überhaupt handhabbar zu machen. Gerade der Vergleich zwischen Realität und Simulation bietet eine wertvolle Gelegenheit, um gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Die gewonnene Erkenntnis der Teilnehmer um die Kontexte und Probleme politischen Handelns ermöglicht eine vertiefte Einsicht in das betrachtete Objekt, die besonders in den Nachbesprechungen zutage tritt. Diese Besprechungen, die obligatorisch jedem Planspiel folgen sollten, bilden die Grundlage für Analysen, die in ihrer Qualität herkömmlichen Diskussionen im Seminar in der Regel weit voraus sind.

Die didaktischen Vorzüge der Planspiel-Methodik im allgemeinen und der Model United Nations im speziellen legen nahe, die universitäre Lehre zu den Vereinten Nationen konsequent durch MUNs zu ergänzen. Dieses Konzept sollte jedoch nicht wie bisher auf Spezialistenkurse zu internationalen Organisationen beschränkt bleiben. Unsere eigenen Lehrerfahrungen ermutigen, das MUN-Format generell auf Seminare mit weltgesellschaftlichem Bezug auszuweiten sowie verschiedene Lehrveranstaltungen durch ein gemeinsames Planspiel miteinander zu verbinden – Model United Nations-Simulationen sind höchst facettenreiche und flexible didaktische Werkzeuge4, die weit mehr als Faktenwissen vermitteln. Das anstehende Jubiläum der Vereinten Nationen sollte Anlass sein, das Potential dieses Konzepts voll auszuschöpfen. Es gibt keinen Grund bis zum nächsten runden Geburtstag zu warten.

Literatur

Buddensiek, Wilfried: Rollen- und Simulationsspiele, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 1997, S. 369-373.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): UN Basis Informationen: Model United Nations. Bonn, DGVN, 2001, http://www.dgvn.de/pdf/bi-mun.pdf.

Edel, Andreas: Planspiele im Geschichtsunterricht – Ein Arbeitsbericht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jahrgang 50, Heft 5-6, 1999, S. 321-339.

Fröhlich, Manuel/ Gros, Jürgen: Außenpolitik erfahren und verstehen – Planspiel und Seminarkonzept zur Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa und der Welt. Mainz, Eigenverlag, 1995.

Geuting, Manfred: Soziale Simulation und Planspiel in pädagogischer Perspektive, in: Herz, Dietmar/Blätte, Andreas (Hrsg.): Simulation und Planspiel in den Sozialwissenschaften, Münster, Lit, 200, S. 15-62.

Gold, Volker: Probleme der Simulation politischer Prozesse im Planspiel. in: Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Simulations- und Planspiele in der Schule, Bad Heilbronn, Kleinhardt, 1977, S. 57-75.

Hellert, Inga Beningna: Interkulturelle Spiele zwischen Simulation und Alltag, in: Friesenhahn, Günter (Hg.): Praxishandbuch internationale Jugendarbeit. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2001, S. 135-140.

Klippert, Heinz: Planspiele – Spielvorlagen zum sozialen, politischen und methodischen Lernen in Gruppen. Weinheim/Basel Beltz, 1996.

McIntosh, Daniel: The Uses and Limits of the Model United Nations in an International Relations Classroom. International Studies Perspectives (2001) 2, S. 269-280. Malden/Oxford, Blackwell, 2001.

Portele, Gerhard: Zur Theorie des Simulationsspiels, in: Lehmann, s.o, S. 9-18.

Scholz, Lothar: Spielerisch Politik lernen – Methoden des Kompetenzerwerbs im Politik- und Sozialkundeunterricht. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 2004.

United Nations Society Marburg e. V., www.unsociety.de.

Anmerkungen

1) Um das Verständnis für die Positionen anderer Staaten zu vertiefen, wird bei den meisten MUNs darauf geachtet, dass die Teilnehmenden nicht ihr Herkunftsland repräsentieren.

2) Die Organisatoren der Simulation stellen die Themenliste (Agenda) zusammen und zirkulieren sie vorab, um eine sorgfältige Vorbereitung zu ermöglichen. Als Indiz für die Komplexität und Detailfülle von MUNs kann gelten, dass schon die Reihenfolge, in der die einzelnen Items debattiert werden sollen, ein Politkum darstellt. Viele Delegierte versuchen durch strategisch geschicktes »Agenda-setting« Themen, denen »ihr« Land Priorität einräumt, an den Anfang zu stellen, um möglichst lange über sie verhandeln zu können.

3) Schätzungsweise nehmen jährlich 1.000-1.500 deutsche Studentinnen und Studenten an MUNs im In- und Ausland teil.

4) Die ausführlichen VN-Geschäftsregeln können stark gekürzt und vereinfacht werde ohne dass der pädagogische Nutzen leidet; MUNs dauern häufig mehrere Tage, funktionieren jedoch auch, wenn nur wenige Stunden zur Verfügung stehen usw.

Dagmar Eichert unterrichtet Englisch, Geschichte und Politik an einem Gymnasium. Zur Zeit leitet sie die Delegation ihrer Schule zu »The Hague International Model United Nations« (THIMUN) in Den Haag. Kai Hebel arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg.

UNFOR 2007

UNFOR 2007

Die Kampagne für eine Reform der Vereinten Nationen

von Klaus Schlichtmann

Die von den Siegermächten 1945 gegründeten Vereinten Nationen (VN) sind die Nachfolgeorganisation des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Völkerbundes. Der Haager Staatenverband, der sich auf den beiden Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in Den Haag konstituiert hatte, nannte bereits als die zwei wichtigsten Verhandlungsziele: die Abrüstung und die friedliche Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch eine verbindliche internationale Gerichtsbarkeit. Das Haager Schiedsgericht nahm 1899 in Den Haag seinen Anfang; es ist der Prototyp des heutigen Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag und besteht neben dem IGH weiterhin fort.

UNFOR 2007 gründet sich auf diese Tradition.

Der Marburger Völkerrechtler und Neukantianer Walther Schücking schrieb 1925, die verbindliche internationale Gerichtsbarkeit sei „außerordentlich wichtig, weil nur auf diesem Wege der Schlüssel zur allgemeinen Abrüstung gefunden werden kann.“ Die Abrüstung „kann erst kommen, wenn der Rechtsschutz ausgebaut ist.“ Da die verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit wegen des deutschen Widerspruches 1899 und 1907 nicht zustande kam, war jedoch auch die Abrüstung in der Folge kein realistisches Ziel mehr. Die »Lücke« – die (fehlende) internationale Rechtsordnung – wurde im 20. Jahrhundert nicht gefüllt und der „Aufbau dauerhafter friedensfördernder Strukturen und Mentalitäten“ nicht erreicht (Senghaas, Zum Irdischen Frieden, S.27).

Auch die VN, wie zuvor der Völkerbund, konnten in der Frage der Verbindlichkeit in der internationalen Rechtsprechung keinen Durchbruch erringen. Inzwischen ist die »allgemeine und umfassende Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle« schon weitgehend von der Tagesordnung der internationalen Politik verschwunden.

UNFOR 2007 fordert die Umsetzung des Friedensgebots im Grundgesetz, Unterwerfung unter die Rechtsprechung des IGH sowie Verabschiedung eines Gesetzes im Bundestag, in dem die Bundesrepublik gemäß Art. 24 Abs. 1 GG dem Weltsicherheitsrat Kompetenzen überträgt und der militärischen Friedenssicherung eine Absage erteilt.

UNFOR 2007 wurde im Sommer 2003 gegründet, um über die historischen Zusammenhänge aufzuklären und die Möglichkeiten einer sinnvollen Reform der VN aufzuzeigen. UNFOR 2007 wird zur Zeit von etwa 40 Friedenswissenschaftlern und -aktivisten unterstützt.

UNFOR 2007 macht geltend, dass die VN bereits das Programm für eine verbindliche internationale Rechtsordnung enthalten, mit einer Völkerversammlung, einem Rechtsprechungsorgan und einer Exekutive. Leider ist dieser »gewaltenteilige« Apparat noch nicht in Kraft. Erst wenn die Staaten bereit sind, den VN Kompetenzen zu übertragen, können ihre Ziele und Grundsätze realisiert werden. Nach dem Friedensverfassungsrecht muss der Gesetzgeber tätig werden, damit die Bestimmungen der VN-Charta zur kollektiven Sicherheit wirksam werden. Die Bundesrepublik hat sich bislang weder der verbindlichen Rechtsprechung des IGH unterworfen, wie es das Grundgesetz vorschreibt, noch den Art. 24 GG im Hinblick auf die kollektive Sicherheit zur Anwendung gebracht. Statt der zivilen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten bestimmt weiterhin die militärische Streitbeilegung das politische Handeln. Die Verfügungsgewalt über militärische Einrichtungen in einzelstaatlicher, nationaler Hand ist jedoch eine Gefahr für den Frieden. Auch Militärbündnisse widersprechen im Prinzip dem Grundsatz der kollektiven Sicherheit in der VN-Charta und sind nur für eine Übergangszeit (siehe Art. 106 der VN-Charta) von Bedeutung.

Eine sinnvolle Reform bekräftigt die »vier Säulen« der Vereinten Nationen:

  • allgemeine und umfassende Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle,
  • eine Beschränkung oder Übertragung von Hoheitsrechten (durch die Mitgliedsstaaten zugunsten der VN),
  • verbindliche internationale Rechtsprechung und
  • eine demokratische Repräsentation der souveränen Völker der Vereinten Nationen.

Der Artikel 24 im Bonner Grundgesetz ist eine der zahlreichen Grundbestimmungen des Friedensverfassungsrechts, das in Europa besonders stark ausgeprägt ist und eine Übertragung von Hoheitsrechten mit dem Ziel der Schaffung eines echten Systems kollektiver Sicherheit vorsieht. Danach soll der Gesetzgeber als Schöpfer und Mitgestalter einer globalen Rechtsordnung aktiv werden. UNFOR 2007 unterstützt die Bemühungen Japans, das als einziger Staat in seiner Verfassung bereits eine Hoheitsbeschränkung vorgenommen und der militärischen Friedenssicherung eine prinzipielle Absage erteilt hat.

Bei der derzeitigen Diskussion zur VN-Reform stellt UNFOR 2007 folgende Prioritäten in den Vordergrund (Konsensmodell) und wirbt bei den Vereinten Nationen und den VN-Botschaften in New York für ihre Umsetzung:

  • eine ständige zivilgesellschaftliche Versammlung neben der Generalversammlung gemäß Artikel 22 der VN-Charta (Einrichtung eines beratenden Nebenorgans durch die Generalversammlung);
  • ein ständiger Sicherheitsratssitz für den »Globalen Süden«.

Weitergehende Reformen sollten für einen zweiten Schritt, etwa nach 5 Jahren, geplant werden. Die beiden oben genannten Maßnahmen könnten ohne umfangreiche Änderungen der VN-Charta nach dem »Konsensprinzip« durchgeführt werden. Im Idealfall würden die Europäer dabei einen gemeinsamen Sitz schaffen und den freiwerdenden Sitz an Indien als Vertreter des Südens abgeben. Es ist vorstellbar, dass Indien dann die atomare und allgemeine und umfassende Abrüstung einleiten würde.

Dr. Klaus Schlichtmann leitet das Projekt UN-Reform 2007, er ist Friedenshistoriker und lebt in Japan.

Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Vereinten Nationen:

Rüstungskontrolle und Abrüstung

von Harald Müller

Der Umgang mit den Mitteln organisierter Gewaltanwendung ist ein zentrales Thema von »global governance«. Da die Vereinten Nationen (VN) deren zentrales institutionelles Element darstellen, fragt sich, welche Rolle sie in der Rüstungskontrolle und Abrüstung spielen können und wollen.1 Im folgenden Artikel wird zunächst die Aufgabenstellung skizziert, die die VN-Charta vorgibt, und sodann die Praxis der Vereinten Nationen betrachtet. Der Umgang mit der Thematik in den verschiedenen Vorschlägen zur VN-Reform wird in den Schlussfolgerungen kurz angerissen.

Die Charta der Vereinten Nationen enthält eine erstaunlich kräftige Sprache zur Abrüstung. In Art. 26 verpflichtet sie den Sicherheitsrat, „für ein System der Regelung der Rüstungen Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen vorzulegen sind.“ Damit ist nicht weniger geschaffen als die Autorität der Vereinten Nationen, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, wie sie mit ihren Streitkräften und deren Bewaffnung umzugehen haben, und zwar in Friedenszeiten, denn der Sicherheitsrat könnte zu solchen Plänen unter Kapitel VII der VN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) auch Entschließungen fassen. Mit dieser Vorschrift ist ein qualitativer Schritt gegenüber dem klassischen kriegsvölkerrechtlichen Ansatz gemacht, nur die Anwendung der Waffen im Kriegsfall Einschränkungen zu unterwerfen. Die dahinter stehende Idee reflektiert eine doppelte Erkenntnis:

  • Die Möglichkeit zur Aggression setzt eine einsprechende Streitkräftekonstellation und ein vorteilhaftes Kräfteverhältnis voraus; diese Voraussetzungen können durch verbindliche Begrenzungen der Streitkräftekonfigurationen beseitigt werden. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zugrunde, der die für eine raumgreifende Offensive unerlässlichen Waffensysteme einer Begrenzung unterzieht.
  • Wildwüchsige Rüstung verschärft das Sicherheitsdilemma, treibt in die Überrüstung und kann im schlimmsten Fall präemptive Kriegshandlungen provozieren. Eine international verbindliche Streitkräfteordnung wirkt beruhigend auf das Sicherheitsdilemma ein und ist insofern ein Eckstein für internationale Stabilität und Frieden.

Mit der Ausarbeitung dieses Rüstungskontrollplans betraut die Charta den Generalstabsausschuss des Sicherheitsrates (Art. 26, Art. 47,1). Damit sollte sichergestellt werden, dass es sich nicht um utopische Luftschlösser handeln würde, sondern um einen soliden, von einschlägiger professioneller Expertise geprägten Entwurf.

Die Praxis der Vereinten Nationen

Bekanntlich ist diese Vorschrift nie verwirklicht worden, und der Generalstabsausschuss war nie arbeitsfähig. Der Ost-West-Konflikt gab den Selbsthilfestrategien der beiden Lager den Vorrang, das für die Ausarbeitung des Planes erforderliche normative Einvernehmen gab es zu keiner Zeit.2 Als das Ende des Konflikts die Neuaufnahme des Abrüstungsprojekts hypothetisch möglich machte, war seitens der Supermacht USA der Enthusiasmus für multilaterale Regelungen zumindest im konservativen Lager einer Präferenz für die Nutzung der eigenen Überlegenheit gewichen. Die Erhaltung amerikanischer Handlungsfreiheit im Sicherheitssektor wurde zunehmend nicht nur als Bedingung nationaler Sicherheit, sondern auch internationaler Stabilität verstanden, als deren einziger Garant sich Washington zusehends sah. Einzelne Vereinbarungen waren auf selektiver Basis immer noch möglich (zumindest für das politische Zentrum der USA, wenn auch nicht für die neokonservative Rechte), umfassende Pläne mit lang anhaltenden Konsequenzen kamen jedoch nicht mehr in Frage.3 Statt eines ganzheitlichen Neuanfangs blieb damit nur die bereits existierende Praxis fragmentierter Aktivitäten.

Der Regimeansatz

Der kooperationsstiftende Nutzen der Strategie, Streitfragen in ihre teilbaren Einzelkomponenten zu zerlegen und diese durch je spezifische Sets von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zu behandeln, ist in der Regimeanalyse ausführlich untersucht und bestätigt worden.4 Genau so verfuhr die internationale Gemeinschaft im Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Als »Produkte« liegen eine Reihe von bilateralen, regionalen und globalen Abkommen vor, denen es um die Einhegung der von einzelnen Waffen- oder Operationstypen ausgehenden Gefahren geht und die der Vertrauensbildung innerhalb je spezifischer Sicherheitskomplexe5 dienen.

Die Vereinten Nationen sind nicht die »Eigentümer« dieser Regime. Diese »gehören« vielmehr ihren jeweiligen Vertragsparteien. Die VN spielen jedoch eine gewichtige Rolle beim Zustandekommen, der Erhaltung und Weiterentwicklung vor allem jener Verträge, die der Idee und Absicht nach universal sind, vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Biowaffenregimes. In beiden Fällen, wie auch bei den Gesprächen, die zum Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens führten, bot die Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) den Rahmen, in dem die Staaten die schwierigen strittigen Fragen klären konnten: Die CD, die früher verschiedene andere Namen trug, ist das einzige Verhandlungsforum für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen. Sie besteht ausschließlich zum Zwecke von Abrüstungsverhandlungen, ihr gehört eine (über die Jahre gewachsene) Minderheit der VN-Mitgliedsstaaten nach dem Prinzip regionaler Repräsentation an und sie entscheidet nach Einstimmigkeitsregeln. Die CD ist kein Teil des VN-Sekretariats, sondern eine semi-autonome Einrichtung, deren administrative Betreuung gleichwohl im Verantwortungsbereich des VN-Sekretariats (Department for Disarmament Affairs, DDA) liegt.

Seit 1996, dem Abschluss des umfassenden Teststoppvertrages (der aufgrund amerikanischer Resistenz nicht in Kraft trat), konnte sich die CD nicht mehr auf eine Tagesordnung und ein Arbeitsprogramm einigen, denn leider gilt auch für Verfahrensfragen die Einstimmigkeitsregel. Viel wertvolles diplomatisches Kapital liegt also in Genf brach. Eine Änderung ist wohl nur unter zwei Auspizien denkbar: Einer fundamentalen Änderung der amerikanischen Politik, deren Weigerung, über Regelungen für Waffen im Weltraum auch nur zu sprechen und in Verhandlungen über ein Produktionsverbot von Spaltmaterialien die Frage der Überprüfbarkeit einzubeziehen, maßgeblich verantwortlich für die Stagnation ist; oder einer Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in Verfahrensfragen, die es der Mehrheit ermöglichen würde, Verhandlungsforen zu etablieren, in die nach angemessener Zeit wohl auch die widerstrebenden CD-Teilnehmer einziehen würden. Insgesamt sind die direkten Einflussmöglichkeiten der VN hier noch weit begrenzter als im Falle der Überprüfungskonferenzen.

Die zweite wichtige Rolle der Vereinten Nationen besteht nämlich in der Betreuung der Überprüfungskonferenzen jener globaler Verträge, die über keine eigene Vertragsorganisation verfügen, wie das beim Chemiewaffenübereinkommen der Fall ist. Diese Aufgabe nimmt das Department for Disarmament Affairs übrigens auch für den Nichtverbreitungsvertrag wahr, denn die Internationale Atom-Energie-Organisation in Wien unterstützt den Vertrag zwar mit Dienstleistungen für die Verifikation im Rahmen des Artikels III, ist aber nicht eine eigene Vertragsorganisation mit Autorität über den gesamten Umfang des Vertrages. Die Vollversammlung der VN beschließt auf Antrag der Vertragsmitglieder bzw. Depositare die Bereitstellung von Ressourcen (Räumlichkeiten, Sekretariat) für die Überprüfungskonferenzen. Diese Leistung ist nicht gering zu schätzen, sind doch diese Konferenzen, richtig gehandhabt, das entscheidende Mittel für die Stabilisierung, insbesondere aber für die den Umständen angemessene Weiterentwicklung der Regime gegenüber neuen Herausforderungen. Erfolge und Misserfolge dieser Konferenzen sind in einem engen Korridor beeinflussbar durch die mehr oder weniger fähige Stabsarbeit der zugeteilten VN-Beamten, namentlich des jeweiligen Konferenzsekretärs. Dieser Faktor kann jedoch nur wirksam werden, wenn seitens der Mitgliedsstaaten ein Minimum an politischem Willen vorhanden ist, auf eine Einigung hinzuarbeiten. Wo dies fehlt, wie bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2005, kämpft auch ein guter Konferenzsekretär vergeblich.6

Die dritte und wichtigste (potentielle) Funktion der VN im Zusammenhang der globalen Regime ist der Umgang mit Situationen, in denen ein ernster Regelbruch vermutet oder bewiesen wird und Schritte unternommen werden müssen, um die Einhaltung des Vertrages – gegebenenfalls zwangsweise – zu gewährleisten. Für all diese Regime ist der Sicherheitsrat der ultimative Garant ihrer Integrität. Diese Rolle ist im Lichte der Charta angemessen, handelt es sich doch beim Bruch der Regeln, mit denen Massenvernichtungswaffen kontrolliert werden sollen, praktisch immer um eine Gefährdung von internationalem Frieden und Sicherheit, also jener Lage, in der der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta die Aufgabe des universalen Sicherheitsgaranten wahrzunehmen hat; daher hat der Sicherheitsrat durchaus auch die Möglichkeit, sich außerhalb der Regime aus eigener Initiative um diese Problematik zu kümmern, wie etwa nach dem Golfkrieg von 1991, als er mit der Einsetzung der UNSCOM (Sonderkommission), später der UNMOVIC (Überwachungskommission), eigene Instrumente schuf, um die Abrüstung des Irak sicherzustellen.7 Da die Robustheit aller Regime davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder darauf verlassen können, im Krisenfall nicht auf Selbsthilfe angewiesen zu sein, sondern auf einen verlässlichen Mechanismus der Krisenreaktion vertrauen zu können, ist diese Funktion des Sicherheitsrats von herausragender Bedeutung. Es ist um so bedenklicher, dass er dieser Aufgabe bislang unzureichend nachgekommen ist. Die laufenden Krisen im nuklearen Sektor – Nordkorea und Iran – werden anderswo betreut. Im Feld der Chemiewaffen werden zwar Verdachtsmomente gegen Mitgliedsstaaten geäußert, der Sicherheitsrat wird jedoch nicht damit befasst, und das Gleiche gilt für biologische Waffen. Damit fällt der wichtigste Mechanismus für die Stabilisierung der vom Vertragsbruch – oder dem folgenschweren Verdacht, ein solcher liege vor – bedrohten Regime weitgehend aus. Hier sind Schritte notwendig, um eine nicht nur unbefriedigende, sondern direkt gefährliche Situation zu korrigieren.

Dazu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, wobei die Idee, ein neues, großzügig ausgestattetes Verifikationsorgan als unabhängige VN-Behörde einzurichten,8 aus politischen wie aus haushaltlichen Gründen keine Chance hat. Wesentlich zur Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, und zwar sowohl des Sicherheitsrats wie des Generalsekretärs, ist die Fähigkeit, streitige Datenlagen über den Bruch eines der globalen Abkommen technisch und strategisch beurteilen zu können. Hierzu sollte bei den Vereinten Nationen eine entsprechende Einheit platziert werden, und zwar am besten im Department of Disarmament Affairs, dessen vielfältige Routineaufgaben sicherstellen, dass die Fähigkeiten der neuen Experten auch außerhalb von Krisenzeiten sinnvoll genutzt werden können. Eine solche Einheit könnte dem Sicherheitsrat Entscheidungshilfe leisten und ihn von der einseitigen Abhängigkeit von notorisch unzuverlässigen nationalen Geheimdienstinformationen entlasten. Andererseits würde sie dem Generalsekretär zur Verfügung stehen, der durch seinen Untersuchungsauftrag für das Genfer Protokoll (Einsatz von chemischen und biologischen Waffen) ebenso auf derartige Hilfe angewiesen ist wie durch seine Aufgabe, unter Art. 99 der Charta, friedens- und sicherheitsgefährdende Umstände aus eigener Initiative in die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats zu rücken. Gerade dieses Mandat kann von Nutzen sein, um zwischenzeitlich die Lücke im Biowaffenregime zu schließen: Denn dieses ist nach der amerikanischen Weigerung, sich auf den Entwurf eines Verifikations- und Transparenzprotokolls einzulassen, ohne belastbare Verfahren geblieben, um mit Vertragsbrüchen umzugehen. Der Generalsekretär könnte hier nach Art. 99 einspringen, aber nur, wenn er über entsprechende Ressourcen verfügt, um vorhandene Informationen zu sammeln und zu bewerten.9

Auch die Verfahrensweise des Sicherheitsrats muss überholt werden. Es bedarf formalisierter Prozeduren, um die heikle Frage des Vertragsbruchs und der Antwort darauf angemessen zu entscheiden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fakten auf den Tisch kommen und von einer übernationalen Warte bewertet werden und dass auch die Sichtweisen der Nachbarstaaten, die sowohl von Massenvernichtungswaffen-Programmen als auch von wirtschaftlichen oder gar militärischen Gegenmaßnahmen am stärksten betroffen sind, angemessen in die Erörterungen einbezogen werden. Nach den irakischen Erfahrungen sind hier grundlegende Revisionen erforderlich.10

Eine neue und umstrittene Rolle der VN – wiederum des Sicherheitsrates – besteht in der »universellen Gesetzgebung«, in der der Rat quasi ersatzweise für das Fehlen weltweit geltender Verträge einspringt. Im Feld der Rüstungskontrolle hat er dies mit der Entschließung 1540 getan. Sie verpflichtet die Staaten, eine Reihe von Maßnahmen im Innern (Umgang mit gefährlichen Stoffen) und Äußeren (Exportkontrollen) zu treffen, um den Zugriff von nichtstaatlichen Akteuren auf Massenvernichtungswaffen, ihre Technologien und Vorprodukte zu verhindern. Viele dieser Maßnahmen sind Teil der globalen Verträge, andere sind in den exklusiveren »Exportkontrollclubs«, d.h. der Gruppe der nuklearen Lieferländer und der Australien-Gruppe, vereinbart worden. Der Sicherheitsrat rechtfertigte diesen ungewöhnlichen und für viele anstößigen Eingriff in die Prärogative der Nationalstaaten mit der Dringlichkeit der Gefahr und der Tatsache, dass die diversen Regime auf absehbare Zeit nicht wirklich universalisierbar sein werden. Gleichwohl bleibt ein Beigeschmack, wenn fünfzehn Staaten über die nationale Souveränität aller übrigen, Verträge zu verhandeln oder ihnen beizutreten, einfach hinwegrollen, wobei klar ist, dass diese »Gesetzgebungsfunktion« des Sicherheitsrats die nationalen Interessen vieler verletzen mag, sicherlich aber nie die jener fünf mit Veto-Macht ausgestatteten permanenten Mitglieder. Es ist anzuraten, von dieser Option möglichst sparsam Gebrauch zu machen und jede zu diesem Zweck verabschiedete Entschließung mit einem Verfallsdatum zu versehen, die den Sicherheitsrat zu einer Neubefassung, d.h. einer Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme, nötigt.11

Die Vereinten Nationen als Agenda-Setzer, Deliberator und Verhandlungsort

Eine der wichtigsten Aufgaben der VN ist es, neue Themen der Abrüstung zu identifizieren und für existierende Themen neue Aspekte zu benennen. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Vollversammlung und ihres ersten Ausschusses, der jährlich eine Vielzahl von Entschließungen zu Abrüstungsfragen verhandelt und anschließend die Entwürfe der Vollversammlung unterbreitet, wo über sie abgestimmt wird. Freilich ist festzustellen, dass die Mehrheit dieser Resolutionen nach dem Motto »und ewig grüßt das Murmeltier« Jahr für Jahr neu vorgelegt werden, ohne politische Wirksamkeit zu zeigen. Ein Großteil dieser Aktivitäten scheint der Selbstbefriedigung der Organisationsmitglieder zu dienen (nicht zuletzt der Blockfreien), ohne dass irgendjemand wirkliche politische Funktionen darin sieht. Indes ist die Möglichkeit vorhanden, auf diesem Wege neue Themen in die internationale Abrüstungsdiskussion einzuführen. Von besonderer Wirksamkeit sind in diesem Zusammenhang die Sondervollversammlungen der VN zu Abrüstungsfragen – allerdings hat seit zwei Jahrzehnten keine mehr stattgefunden, auch dies wegen US-amerikanischer Opposition.

Bisweilen setzt die VN nicht nur neue Agendathemen, sondern sorgt für deren Bearbeitung. Ein vorzügliches Beispiel ist das VN-Waffenregister, ein Instrument weltweiter Transparenz, das jährlich Berichte über Exporte und Importe von sieben konventionellen Hauptkampfsystemen auflegt. Das Register wird von einer Mehrzahl der Mitglieder regelmäßig beschickt. Seine bloße Existenz ist eine ständige Mahnung, dass das Prinzip militärischer Transparenz ein entscheidender Faktor globaler wie regionaler Vertrauensbildung ist. Dieses Register wurde innerhalb der Vereinten Nationen »erfunden«, verhandelt und operativ betreut.12

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinwaffenprogramm, dessen Existenz dem gezielten Einsatz verschiedener VN-Instrumente (Expertengruppe, Vollversammlungs-Deliberationen, Sonderkonferenz, Sekretariatsdienste) zu verdanken ist.13 Aus diesem Programm ist gleich die nächste Maßnahme, die Ausarbeitung eines Übereinkommens über die Kennzeichnung und Nachverfolgung von solchen illegalen Waffenströmen hervorgegangen: Hier hat die Vollversammlung unter Schweizer Vorsitz eine offene Verhandlungsgruppe eingesetzt, die es geschafft hat, einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten, der demnächst zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

Agenda-setting und Verhandeln ist eine Sache, Problemfelder gründlich zu durchdenken und zu diskutieren, um Lösungen zu entwerfen, ohne unter dem politischen Druck verbindlicher Verhandlungen zu stehen, eine andere. Die VN verfügen über zwei Institutionen für diesen Zweck. Das eine ist die Abrüstungskommission (Disarmament Commission, DC), ein Organ der Vollversammlung, das andere der Abrüstungsbeirat des Generalsekretärs.

Die Abrüstungskommission steht allen Mitgliedern der Vollversammlung offen. Sie tagt jährlich mehrere Wochen, jeweils auf drei Themenblöcke konzentriert. Ihre Teilnehmer sind Vertreter der Regierungen. Damit ist ihr Handicap gekennzeichnet: Alle stehen unter Instruktionen, und statt stressfreier Deliberation herrscht ein Verhandlungsklima mit allen Rigiditäten des diplomatischen Verkehrs. Die DC leidet insoweit unter den Mängeln der Genfer CD, ohne je deren verbindliche Ergebnisse produzieren zu können oder zu sollen. Sie ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Themenkatalog für ihre Sitzungen zu einigen – gerade wie die CD. Eingerichtet als Placebo für Mitgliedstaaten der VN, die in Genf nicht mittun dürfen, erscheint sie überflüssig, eine Geldverschwendung angesichts knapper Mittel, die weder zum Image der Vereinten Nationen noch zum Erfolg von Abrüstung beitragen kann. Als einziges der VN-Organe wäre ihr Ableben nicht zu bedauern.

Dies gilt um so mehr, als im Abrüstungsbeirat eine Institution zur Verfügung steht, deren Konstruktion geeigneter ist, den Bedingungen von Deliberation zu genügen. Nichts ist perfekt, auch im Beirat halten die Diplomaten die Mehrheit, obgleich alle 22 Mitglieder, die nach einigen Jahren ausgewechselt werden, nach repräsentativen Gesichtspunkten in persönlicher Kapazität berufen werden, also idealiter instruktionsfrei miteinander sprechen können. Realiter sind die Diskussionen des Beirats weitaus weniger vom Stress politischen Drucks gekennzeichnet. Das unverbindliche Setting erlaubt es, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Format der jährlichen Berichte, die Sache des Vorsitzenden sind und nicht im Konsens abgestimmt werden, erlaubt freiere Diskussionen. Das setzt voraus, dass der Vorsitzende seine Position nicht missbraucht, eine Norm, die durchweg eingehalten wird. Die Berichtsentwürfe werden unter den Mitgliedern zur Kommentierung zirkuliert, und im Ergebnis kommt etwas heraus, dass keinen vollständigen Konsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, aber eben auch keine fundamentale Konfrontation gegenüber dem »Eingemachten« der Sicherheitsinteressen eines der repräsentierten Staaten darstellt.

Der Beirat tagt halbjährlich für drei volle Tage und konzentriert sich dabei auf zwei, maximal drei Themen, wozu auch jeweils geeignete Experten aus Nichtregierungsorganisationen angehört werden. Im Zusammenhang mit der VN-Reform hat der Beirat es geschafft, einen Bericht mit sehr substantiellen Empfehlungen zustande zu bringen.14 Neuerdings ist der Vorsitzende aufgefordert, die Ergebnisse seiner Arbeit der Vollversammlung zu präsentieren, womit die deliberative Arbeit des Beirats beträchtlich aufgewertet worden ist.

Generalsekretär und Sekretariat

Auf einige Funktionen des Generalsekretärs ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Rolle als Stimme der VN, selbst machtvoll als Agenda-Setter und Mahner aufzutreten. Im Feld der Abrüstung haben Generalsekretäre davon weitaus sparsamer Gebrauch gemacht als in anderen Themenfeldern, etwa Armutsbekämpfung oder humanitäre Intervention. Dies ist um so betrüblicher, als dem Generalsekretär mit dem Abrüstungsbeirat ein kompetentes und durchaus effektives Instrument zugeordnet ist, von dem er weitaus aktiver Gebrauch machen könnte.

Die Abrüstungsabteilung (Deparment of Disarmament Affairs, DDA), geleitet von einem Untergeneralsekretär, ist die kleinste Abteilung der VN. In Unterabteilungen nach den verschiedenen Waffentypen aufgegliedert, verfügt sie über einen multinationalen Stab, der anderen Organen der VN, aber auch den Vertragsregimen in Dienstleistungsfunktionen, zur Verfügung steht. Die DDA versieht auch die Vollversammlung mit Berichten über die komplizierten Abrüstungsfragen. Gerade kleinere und unterentwickelte Mitgliedsstaaten haben auf nationaler Basis kaum die Möglichkeit, selbständig Information zu beschaffen und Analysen zu erstellen. Die Arbeit des DDA ist für sie unerlässliche Voraussetzung, dem Gang der Dinge folgen zu können.

Schließlich sollte die Rolle des VN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) nicht unerwähnt bleiben. Mit einer minimalen Grundfinanzierung gelingt es dieser Institution unter ihrer gegenwärtigen Direktorin, für das gesamte Spektrum von Abrüstungsfragen Publikationen von hoher Qualität und dichtem Informationsgehalt zu erarbeiten, die gerade für die VN-Mitgliedsstaaten aus der Dritten Welt von großem Nutzen sind.

Schlussfolgerung: VN-Reform und Abrüstung

Die Analyse hat ergeben, dass die Vereinten Nationen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zahlreiche Funktionen zu erfüllen haben. Da die VN eben die Vereinigung ihrer Mitgliedsstaaten sind, gelingt dies so gut, wie es der kollektive politische Wille der Staatenwelt zulässt. Ein Überschuss über diesen Vektor kann nur durch das Eigengewicht des Sekretariats und besonders des Generalsekretärs erzielt werden. Diese Variable ist größer als Null und kann beachtlich sein, darf andererseits auch nicht überschätzt werden – ein Generalsekretär, der sich in dieser Rolle überhebt, wäre schnell isoliert.

In der Diskussion wurden etliche Defizite notiert. Um so enttäuschender ist es, dass die offiziellen Vorschläge zur VN-Reform das Thema stiefmütterlich behandeln. Sie enthalten sporadische Vorschläge zur Abrüstung, aber wenig zum Verhältnis Abrüstung-VN. Eine Ausnahme bilden die Vorschläge des Abrüstungsbeirats, die jedoch von Kofi Annans hochrangiger Expertengruppe mangels Expertise in der Gruppe und ihrem Sekretariat weitgehend ignoriert wurden.15 Es ist zu befürchten, dass der Reformschwung, den der Millenium-plus-fünf-Gipfel mit sich bringt, am Feld VN/Abrüstung recht spurlos vorbeigehen wird.

Anmerkungen

1) Tanja Brühl/Volker Rittberger: From international to global governcance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the twenty-first century, in Volker Rittberger (Hrsg.): Global Governance and the United Nations System, Tokio u.a., United Nations University Press 2001, S. 1-47.

2) Dimitris Bourantonis: The United Nations and the quest for nuclear disarmament, Dartmouth, Aldershot 1993.

3) US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/Main, HSFK-Report 3/2003.

4) Harald Müller: Die Chance der Kooperation. Regime in den Internationalen Beziehungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.

5) Barry Buzan/Ole Waever: Regions and powers. The structure of international security. Cambridge, Cambridge University Press 2003.

6) Harald Müller: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M, HSFK-Report 4/2005; www.hsfk.de/downloads/report0405.pdf.

7) Brahma Chellaney: Arms control: The role of the IAEA and UNSCOM, in: Muthiah Alagappa/Takashi Inoguchi (Hrsg.), International Security Management and the United Nations, Tokio u.a., United Nations University Press 1999,S. 375-393.

8) Trevor Findlay: A Standing United Nations WMD Verification Body: Necessary and Feasible. An interim study prepared for the Commission on Weapons of Mass Destruction by the Canadian Centre for Treaty Compliance, Ottawa, Canada in cooperation with VERTIC, London, UK, May 2005; www.vertic.org/assets/Interim%20report%20UN%20WMD%20verification%20mechanism%20FINAL%20May%202005.pdf.

9) Una Becker, Harald Müller, Carmen Wunderlich: Während wir auf das Protokoll warten: Provisorische Wege, mit dem Bruch des Biowaffen-Übereinkommens umzugehen, Frankfurt/M, HSFK-Report 2005 (i.E.).

10) Hans Blix: Disarming Iraq, New York, Pantheon 2004.

11) Multilateral Disarmament and Non-Proliferation Regimes and the Role of the United Nations: An Evaluation. Contribution of the Advisory Board on Disarmament Matters to the High-Level Panel on Threats, Challenges, and Change, United Nations Department on Disarmament Affairs, Occasional Paper 8, New York 2004, S. 55/56.

12) Siemon T. Wezeman: The future of the United Nations register of conventional arms, Solna: SIPRI, 2003 SIPRI Policy Paper No. 4); http://editors.sipri.se/pubs/UNROCA.pdf.

13) Elli Kytömäki/Valerie Yankey-Wayne: Implementing the United Nations Programme of Action, Genf, UNIDIR 2004.

14) Vgl. Anmerkung 11.

15) Ich habe mich hierzu andernorts ausführlich geäußert und will das hier nicht verdoppeln. Vgl. Harald Müller: Multilaterale Abrüstung in der Krise. Die Vorschläge des High-level Panels und des UN-Abrüstungsbeirats zur Verbesserung der Nichtverbreitungsregime, in: Vereinte Nationen, 53 (2), April 2005, S. 41-45.

Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Vorsitzender des Beratungsausschusses zu Abrüstungsfragen (Abrüstungsbeirat) des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.

Neue Sicherheitsdiskurse

Neue Sicherheitsdiskurse

Vom »erweiterten Sicherheitsbegriff« zur globalen Konfliktintervention.

von Lothar Brock

Seit Ende der 1980er Jahre vollzieht sich auf breiter Front eine rhetorische »Versicherheitlichung« von nicht-militärischen Politikfeldern: Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Diskriminierung und neue Krankheiten (Aids) werden als nicht-militärische Gefährdungen von Sicherheit ausgewiesen. Die Anstöße dazu kamen aus der Zivilgesellschaft. Sie hoffte, mit Hilfe eines »erweiterten Sicherheitsbegriffs« Aufmerksamkeit und Ressourcen für die von ihr vertretenen Anliegen zu mobilisieren und die Sicherheitspolitik zu entmilitarisieren. Was ist erreicht worden? Heute ist der »erweiterte Sicherheitsbegriff« eine Standardformel, auf die sich auch die Hohe Politik gerne beruft – vom Sicherheitsrat der UNO bis zum Nationalen Sicherheitsrat der USA. Das High Level Panel, das im Dezember 2004 seinen Bericht zur Reform der UNO veröffentlichte, und Generalsekretär Kofi Anan, dem dieser Bericht als Vorlage für die eigenen Vorschläge diente, gingen ebenso wie der Sachs-Bericht zu den Millennium Development Goals von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus. Das wurde allgemein mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Ein Durchbruch auf der ganzen Linie? Zweifellos. Aber der vom Generalsekretär angestrebten Reform der Vereinten Nationen hat das nicht viel geholfen, und der Erfolg, den das allseitige Bekenntnis zu einem erweiterten Sicherheitsbegriffs bedeutet, könnte sich noch als Pyrrhussieg erweisen – dann nämlich, wenn die Militärpolitiker aus der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mehr Nutzen zögen als die Befürworter einer zivilen Konfliktbearbeitung. Ob eine solche Befürchtung berechtigt ist und was daraus gegebenenfalls folgen würde, soll hier in aller gebotenen Kürze erörtert werden.1

Die bisherige Bilanz der neuen Sicherheitsdiskurse ist gemischt. Auf der einen Seite ist es unter Berufung auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu einer erstaunlichen Ausdifferenzierung nicht-militärischer Formen der Konfliktbearbeitung gekommen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich eine regelrechte »Industrie« zur konzeptionellen Innovation auf dem Gebiet der zivilen Konfliktintervention, der Krisenprävention und der Friedenskonsolidierung herausgebildet. Diese Entwicklung ist von Anfang an in enger Wechselwirkung von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik vonstatten gegangen und hat inzwischen zu einer Professionalisierung der zivilen Konfliktbearbeitung geführt, die über das hinausgeht, was die Agenda für Frieden des damaligen UN-Generalsekretär, Boutros Boutros-Ghali, 1992 erwarten ließ. Was dabei die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so ist die Kooperation zwischen dem BMZ und der GTZ auf der einen Seite, und den auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung tätigen Nicht-Regierungsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen im Rahmen der Gruppe Friedensentwicklung2 institutionalisiert worden. Die Bundesregierung unterstützt die Ausbildung von Friedensfachkräften und hat selbst beim Auswärtigen Amt ein Zentrum für Internationale Friedenseinsätze eingerichtet, das u.a. Personal für die inzwischen zur Routine gewordenen Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausbildet. Die Bundesregierung hat außerdem in engem Austausch mit der hiesigen Zivilgesellschaft einen Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« erarbeitet und im Mai 2004 verabschiedet. Sie schließt damit an Länder wie Großbritannien, die Niederlande und Norwegen an, die auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung eine Avantgardefunktion erfüllen.

Aber der Auf- und Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung ist keineswegs gleichbedeutend mit einem Rückgang militärischer Interventionspraktiken. Im Gegenteil. Die verstärkten Bemühungen um eine Zivilisierung der Konfliktbearbeitung korrelieren zeitlich mit einer Ausweitung militärischer Einsatzoptionen. Die Territorialverteidigung weicht der globalen militärischen Konfliktintervention. NATO und EU sind dabei, sich militärische Eingreifverbände zuzulegen, die in kurzer Zeit an beliebigen Orten der Welt eingesetzt werden können. Die Bundeswehr ist heute mit 7.200 Soldatinnen und Soldaten an Friedensmissionen beteiligt. Tendenz steigend. Dem stehen 5.000 internationale Fachkräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegenüber.3 Tendenz gleichbleibend, wenn nicht fallend.4 Diese Entwicklung ist teilweise eingebunden in Bemühungen um einen Ausbau kollektiver Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen nach Kapitel VII der UN-Charta. Das ist erfreulich. Aber die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs geht auch mit einer Erweiterung des Begriffs der Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) einher und auf diesem Wege mit einer »Enttabuisierung des Krieges«5 als Mittel der internationalen Politik. Die kollektive Friedenssicherung steht dementsprechend unter dem Vorbehalt der einzelstaatlichen Gewaltanwendung, heute mehr als bei der Ausformulierung der Agenda für Frieden. Und nicht nur das: Während der erweiterte Sicherheitsbegriff in aller Munde ist, drohen die Hauptprotagonisten einer diesem Begriff entsprechenden Politik, die liberalen Demokratien, sich selbst zu Sicherheitsstaaten zu wandeln, in denen die Freiheit des Einzelnen erneut unter den Vorbehalt behördlicher Ermessensentscheidungen gestellt wird.6

Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, so meine These, ist politisch ambivalent: sie kann genutzt werden, um die Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung zu unterstreichen, aber ebenso dazu, eine Erweiterung militärischer Sicherheitspolitik nach außen und die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten nach innen zu rechtfertigen. Dieser politischen Ambivalenz des Begriffs entspricht seine analytische Unschärfe. Er eskamotiert Widersprüche und Zielkonflikte statt sie aufzudecken. An die Stelle einer Analyse des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung, Staatszerfall, kultureller Fremdbestimmung, Aufkommen neuer Krankheiten und Gewalt tritt die rhetorische Gleichschaltung der einschlägigen Politikfelder (Entwicklungszusammenarbeit, Aids-Bekämpfung, Stärkung des Sicherheitssektors und Anerkennung kultureller Differenz als Sicherheitspolitik). Diese Unschärfe des erweiterten Sicherheitsbegriffs ist einer der Gründe für seine politische Ambivalenz. Da er alles meint, kann sich jeder bedienen. Und nicht nur das: die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ist gleichbedeutend mit einer Erweiterung des Spektrums von Bedrohungen, mit denen die Menschen konfrontiert werden. Die Ausweitung von Bedrohungsgefühlen aber fördert nach aller Erfahrung eher die Akzeptanz militärischer Vorsorge oder militärischer Eingriffe in akute Konflikte als die politische Bereitschaft, sich auf langwierige zivile Formen der Konfliktbearbeitung einzulassen. Von daher besteht kein Anlass, die Anerkennung neuer Bedrohungen und jetzt auch der »responsibility to protect«7 durch die Hohe Politik als Durchbruch zu einer anderen Sicherheitspolitik zu feiern.

Vom Frieden zur (Un-)Sicherheit

In den frühen Jahren der Friedens- und Konfliktforschung wurde über den Friedensbegriff gestritten. Dabei ging es vor allem um die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden. Der negative Friede galt weitgehend als unzulänglich; denn er konnte ja auch einen Friedhofsfrieden, einen Frieden der gewaltsamen Befriedung umfassen und sich als trügerischer Firnis über struktureller Gewalt erweisen. Die flächendeckende Militarisierung politischer Herrschaft in Lateinamerika im Verlaufe der 1970er Jahre bot dafür in der Tat ein niederschmetterndes Beispiel. Der Frieden wurde dort mit Hilfe einer brutalen Repression hergestellt. Folgerichtig wurden die nationalen Befreiungskriege von Vielen als Kriege zur Herstellung eines positiven Friedens (stillschweigend) gerechtfertigt. Aber mit Blick auf die Konfrontation der Supermächte und die Möglichkeit eines Nuklearkrieges hatte der negative Friede doch auch eine positive Seite, und diese positive Seite wurde mit dem Begriff der Sicherheit belegt.

Paradoxerweise rückte der Sicherheitsbegriff im Laufe der 1980er Jahre in dem Maße in den Vordergrund der einschlägigen Debatten, in dem die Gefahr eines Nuklearkrieges zurückging – bis hin zu dem Punkt, an dem der Friedensdiskurs zu einem Sicherheitsdiskurs wurde.8 Der vollständige Umschlag erfolgte spätestens mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Kunststück, mit dem dies ohne Gesichtsverlust der Friedensbewegung geschehen konnte, bestand in dem Rekurs auf einen »erweiterten Sicherheitsbegriff«, der den Vorteil bot, für all das zu stehen, was man sich unter einem positiven Frieden nur wünschen konnte. Der erweiterte Sicherheitsbegriff ermöglichte es zugleich, jene Gefühle und Bedürfnisse wohlwollend anzusprechen, die in der alten Zuordnung zum negativen Frieden nur unzulänglich und mit einem pejorativen Unterton erfasst worden waren. Diese Gefühle (das Unbehagen an gewaltsam ausgetragenen Konflikten, also auch an Befreiungskriegen) und Bedürfnisse (nach Sicherheit in rasantem Wandel) wollten Friedens-, Umwelt-, Solidaritäts- oder Menschenrechtsgruppen nunmehr strategisch nutzen, um der Hohen Politik die Agenda streitig zu machen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit sowie mehr finanzielle Mittel für Zwecke zu mobilisieren, die bis dahin eher als »low politics« galten: den Schutz der Umwelt, die Durchsetzung der Menschenrechte, die Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung, die Anerkennung kultureller Differenz und nicht zuletzt den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit.

Wie die Einführung des Begriffs »soziale Sicherheit« dazu beigetragen hat, die öffentliche Absicherung privater Lebensrisiken als (Rechts-) Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu untermauern, genauso haben die neuen internationalen Sicherheitsdiskurse dazu beigetragen, die zivile Konfliktbearbeitung als Standard angemessenen Verhaltens aufzuwerten. Die zweite große Errungenschaft der neuen Sicherheitsdiskurse besteht zweifellos darin, dass der Einzelne als Objekt der internationalen Sicherheitspolitik gegenüber der bislang vorherrschenden Fixierung auf den Staat in das Blickfeld der internationalen Politik gerückt worden ist. Das Denken in Kategorien der nationalen Sicherheit wird durch die Einführung der Kategorie der menschlichen Sicherheit zumindest ansatzweise aufgebrochen.

Wie sich heute auch hierzulande zeigt, bietet die »soziale Sicherheit« aber selbst dort, wo sie als Standard angemessener Ansprüche anerkannt wird, keine Sicherheit gegenüber dem Versuch, eine erneute Privatisierung der Vorsorge zu forcieren, wobei dies vorzugsweise als Maßnahme zur Rettung der sozialen Sicherheit unter sich wandelnden Umweltbedingungen (Globalisierung) »verkauft« wird. Genauso wenig bietet die allgemeine Akzeptanz eines erweiterten Sicherheitsbegriffs ein verlässliches Bollwerk gegen die Versuchung der Politik, bei wachsendem Handlungsdruck die zivile Konfliktbearbeitung als Follow up eines militärischen Eingriffs zu handhaben und dabei die »human security« unter die nationale Sicherheit zu subsumieren. Der politische Stellenwerte der »menschlichen Sicherheit« im Sinne der »responsibility to protect« wächst in dem Maße, in dem sie mit den so verstandenen nationalen Sicherheitsinteressen potentieller Interventen übereinstimmt. Das zeigt sich gerade in Verbindung mit den militärischen Großereignissen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, nämlich mit dem Kosovo-Krieg sowie den Kriegen gegen die Taliban und das Saddam-Regime im Irak.

Von der Sicherheit zum Krieg

Was den Kosovo-Krieg betrifft, so stand hier zwar der demonstrative Bezug auf die Sicherheit von Menschen gegenüber der Sicherheit von Staaten im Vordergrund. Es kann aber weiterhin bezweifelt werden, dass die Möglichkeiten der zivilen Konfliktintervention (z.B. im Rahmen der OSZE-Mission) tatsächlich ausgeschöpft worden waren, als im Oktober 1998 die Entscheidung der NATO zur militärischen Konfrontation (mit der späteren Folge des Krieges) fiel. Auch die Verhältnismäßigkeit des Militäreinsatzes ist weiterhin umstritten, da die Gefährdung menschlicher Sicherheit im Krieg drastisch zunahm (was eigentlich niemanden überraschen konnte). Darüber hinaus stellte der Kosovo-Krieg den Einstieg in eine Völkerrechtspolitik dar, die darauf abzielt, den einzelstaatlichen Handlungsspielraum bei der Anwendung von Gewalt gegenüber den Restriktionen der UN-Charta auszuweiten. Diese Politik kam gegenüber Afghanistan und Irak voll zum Zuge. In beiden Fällen beriefen sich die USA zwar auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Dies geschah aber in einer Weise, die die Anwendung von Gewalt in das weitgehend freie Ermessen der intervenierenden Staaten stellte.

Dieser Völkerrechtspolitik traten die zivilgesellschaftlichen Sicherheitsdiskurse zwar in aller Regel entgegen, anderseits waren sie selbst an ihrer Herausbildung ungewollt beteiligt. Unter dem Eindruck des Ausmaßes der Gewalt in zahlreichen innerstaatlichen Konflikten und der Schwierigkeit zu bestimmen, wie auf diese Gewalt angemessen reagiert werden könne, bedienten sich die zivilen Sicherheitsdiskurse des Vokabulars der »neuen Kriege«, der »humanitären Intervention« und selbst des »gerechten Krieges«. Das Reden von den »neuen Kriegen« trug dazu bei, ein breites öffentliches Interesse für die Gewaltkonflikte im Süden und im ehemaligen sozialistischen Lager zu wecken. Zugleich suggerierte es, dass die alten völkerrechtlichen Regeln gegenüber diesen neuen Kriegen nicht mehr gelten konnten (und sollten). Die rasche Verbreitung der Denkfigur der »humanitären Intervention« konnte einerseits als Ausdruck der »Macht der Moral« verstanden werden, bedeutete aber andererseits, dass es fortan gegenüber den Staaten, in denen die »neuen Kriege« stattfanden, zweierlei Souveränität geben würde – die unantastbare Souveränität der liberalen Demokratien, die nicht bereit waren und sind, sich in verbindlicher Form einer kollektiven Friedenssicherung zu unterwerfen, und die eingeschränkte Souveränität der »failed states« oder der Schurkenstaaten, denen gegenüber sowohl das Interventionsverbot der UN-Charta (Art. 2/7) als auch das Gewaltverbot (Art. 2/7) nicht gelten sollen. Hier drängt sich ein Vergleich mit den Gefangenen in Guantanamo auf, denen wie den Schurkenstaaten ein Anspruch auf einschlägigen Rechtsschutz abgesprochen wird.

Das inzwischen wieder abflauende Reden von der »humanitären Intervention« unterstützte insofern die auf Handlungsfreiheit ausgerichtete Völkerrechtspolitik der liberalen Demokratien, als es die Unterscheidung zwischen kollektiver Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta und einer unilateralen oder bündnisgestützter Ausübung von Zwangsgewalt verwischte. Wenn Menschen in Not sind, so unterstellt die Denkfigur der »humanitären Intervention«, ist das eine hinreichende Rechtsgrundlage für ein Eingreifen – zumal wenn der Sicherheitsrat als einzige Instanz, die die Anwendung von Gewalt autorisieren darf, nicht handlungsfähig ist oder zu sein scheint.

Dieser Effekt war bei der Rückbesinnung auf den »gerechten Krieg« noch deutlicher. Wie sattsam diskutiert, kann die Lehre ebenso zur Legitimation wie zur Kritik von Kriegen herangezogen werden. Aber der Streit darüber, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht sei, geht an der Sache vorbei. Das Konzept selbst ist »ungerecht«, da es einer Logik verhaftet bleibt, nach der der Einzelstaat in einem Streit zugleich Partei und (Rechts-) Instanz ist. In diesem Sinne liegt das ausschlaggebende Problem darin, dass dieser Ansatz es letztlich dem Einzelstaat vorbehält, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit militärischen Handelns zu befinden. Damit höhlt auch dieses Konzept die Idee der kollektiven Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta aus.

Selbst die Denkfigur der »menschlichen Sicherheit« ist nicht ganz so unschuldig, wie sie daher kommt. Die Aufwertung von Menschen gegenüber Staaten als Subjekte legitimer Sicherheitsansprüche stützte die Argumentation, dass es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zum Schutz von Menschen vor rechtloser Gewalt gibt. Die Anerkennung dieser Verantwortung ist ein Fortschritt, der sich auch in der Aufwertung des Einzelnen als Völkerrechtssubjekt (vor allem im Bereich der Menschenrechte) zeigt. Wenn aber die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung nicht an feste Regeln gebunden wird, erweitert das Reden in Kategorien der »menschlichen Sicherheit« das Spektrum der Gründe, die für eine interventionistische Politik ins Feld geführt werden können. In diesem Sinne warnt das BMZ zu Recht vor der Gefahr, durch den Bezug auf einen humanitär begründeten Handlungsbedarf „eine völkerrechtliche Beliebigkeit zu fördern, die Schwellen für militärische Lösungen abzusenken sowie Weiterentwicklung und Nutzung ziviler, vor allem präventiver Handlungsmöglichkeiten in den Hintergrund treten zu lassen.“9

Von der erweiterten Sicherheit zum Schutz vor rechtloser Gewalt

Um dieser Gefahr entgegenzutreten, plädiere ich für einen engen Sicherheitsbegriff, nämlich Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt. Das eröffnet die Möglichkeit, die Aufgabenstellung der Sicherheitspolitik zu präzisieren. Es geht nicht um das gute Leben an sich, sondern um die Aufgabe, Menschen zu befähigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt auszutragen. Dieser Aufgabe sind insofern Grenzen gesetzt, als die Fähigkeit zu gewaltfreiem Konfliktaustrag nie gleichmäßig und umfassend ausgebildet werden kann. Deshalb ist der »zivilisatorische Prozess« nicht gleichbedeutend mit der Überwindung von Gewalt, sondern mit der Eindämmung rechtloser Gewalt, also der Selbstjustiz. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist dementsprechend das allgemeine Gewaltverbot und das Gebot der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI UN-Charta) mit Vorkehrungen zur kollektiven Friedenssicherung (Kapitel VII) verbunden worden, die die Anwendung von Zwangsgewalt nach Ausschöpfung aller anderen Mittel einschließt. Daraus folgt zweierlei: Der Vorrang der zivilen vor der militärischen Konfliktintervention und die Bindung militärischer Konfliktintervention an das Regelsystem der Charta. Bei der Gewährleistung von Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt bezieht sich das Kriterium »Recht« also immer auf beides: die Situation vor Ort und die Art und Weise, wie in diese Situation eingegriffen wird. Der so verstandene enge Sicherheitsbegriff ist also reflexiv. Er schließt die Selbstbeobachtung der Sicherheitspolitik als Politik, die ständig in Gefahr ist, neue Unsicherheit zu produzieren, ein.

Bei genauerer Betrachtung geht es auch bei der zivilen Konfliktbearbeitung nicht um einen weiten, sondern um einen engen Sicherheitsbegriff wie er hier verstanden wird. Auch die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung konstatiert einen Primat der zivilen vor der militärischen Konfliktbearbeitung und die strikte Bildung militärischer Eingriffe an die Regeln des UN-Systems. Die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung beruft sich insofern unnötiger und – wie oben gezeigt wurde – fahrlässigerweise auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff. Unnötig ist der erweiterte Sicherheitsbegriff, weil er nichts zur normativen Begründung ziviler Konfliktbearbeitung (viel aber zur Verwirrung der Probleme, um die es geht) beiträgt; fahrlässig ist die Berufung auf einen weiten Sicherheitsbegriff, weil er das normative Spannungsverhältnis zwischen ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung in der Denkfigur einer umfassenden Sicherheitspolitik aufhebt. Einem Sicherheitsbegriff, der als Schutz vor rechtloser (physischer) Gewalt verstanden wird, ist demgegenüber die Kritik der Gewalt eingeschrieben. Das schließt die Unterscheidung zwischen gesetzlicher und gesetzloser Gewalt ein, weil die Differenz zwischen beiden ja nicht der Politik vorgegeben ist, sondern von dieser selbst (z.B. im Weg der Völkerrechtspolitik) beeinflusst wird. Auf jeden Fall aber ist der Modus der Gewaltanwendung stets selbst Thema eines engen Sicherheitsbegriffs.

Beim Aktionsplan der Bundesregierung vom Mai 2004 ist bemängelt worden, dass er bei der Auflistung von 160 Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung auf politische Prioritätensetzungen verzichtet.10 Er könnte sich von daher als vergebliche Liebesmühe erweisen, da er selbst dem Muster des erweiterten Sicherheitsbegriffs folgt, nämlich gute Dinge zu addieren, wo es eigentlich darum ginge, eine Problematik zu strukturieren. Ein enger Sicherheitsbegriff bzw. die Konzentration auf ein Kernanliegen der Sicherheitspolitik (Schutz vor rechtloser Gewalt) könnte auch in dieser Hinsicht nützlich sein.

Anmerkungen

1) Zu weiteren Überlegungen siehe Lothar Brock, 2004: Der erweiterte Sicherheitsbegriff – Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung, in: Die Friedenswarte 79, Heft 3-4, 323-344; Ders. 2001: Sicherheitsdiskurse ohne Friedenssehnsucht. Zivilisatorische Aspekte der Globalisierung, in: Ruth Stanley (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Opladen: Westdeutscher Verlag; Ders. 1998: Umwelt und Konflikt in der internationalen Forschung, in: Alexander Carius/Andreas R. Kraemer (Hrsg.): Umwelt und Sicherheit – Herausforderung für die internationale Politik, Berlin: Springer, 39-56.

2) Es handelt sich um eine Arbeitsgemeinschaft von BMZ und GTZ sowie dem Evangelischem Entwicklungsdienst, Misereor, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Plattform zivile Konfliktbearbeitung, dem Konsortium Ziviler Friedensdienst und dem Institut für Entwicklung und Frieden der gleichnamigen Stiftung.

3) BMZ 2004: Zum Verhältnis von entwicklungspolitischen und militärischen Antworten auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen (BMZ-Diskurs 1), Bonn, S. 5.

4) Das ist allerdings ein bewusstes Ziel der Entwicklungspolitik, die seit Jahren das Ziel verfolgt, internationale durch einheimische Fachkräfte zu ersetzen. Ibid., S. 12.

5) Geis, Anna 2005: Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen, HSFK-Standpunkte 2.

6) Braml, Josef 2004: Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte durch die Bush-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45, 6-15.

7) International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa: International Development Research Center 2001

8) Krell, Gert 1980: Die Entwicklung des Sicherheitsbegriffs, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 10. 03., S. 33-57.

9) BMZ 2004 (Anm. 3), S. 11.

10) Debiel, Tobias 2004: Wie weiter mit effektiver Krisenprävention?, in: Die Friedenswarte, 79, Heft 3-4, 253-298.

Prof. em. Dr. Lothar Brock ist Forschungsgruppenleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Vorsitzender der Kammer für Entwicklung und Umwelt der EKD

Kann die UN den Terrorismus effektiv bekämpfen?

Kann die UN den Terrorismus effektiv bekämpfen?

von David Cortright

Das Konzept des »Kriegs gegen den Terror« könnte als politische Metapher nützlich sein, aber die Bekämpfung von Al-Kaida und ähnlich gesinnter Gruppen ist vorrangig eine Aufgabe der internationalen Strafverfolgung.1 Al-Kaida ist keine Regierung, die mittels Krieg unter Kontrolle gebracht werden kann, sondern ein facettenreiches Netzwerk nicht-staatlicher Akteure, das über mehr als sechzig Länder verteilt ist. Die Bekämpfung eines solchen Gegners erfordert die Kooperation vieler Staaten, eine Aufgabe, für die die Vereinten Nationen bestens geeignet sind.

Unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September verabschiedete der UN-Sicherheitsrat Resolution 1373, die allen 191 UN-Mitgliedsstaaten umfassende gesetzliche Verpflichtungen auferlegte. Sie verlangt von jedem Land die Finanzanlagen von Terroristen und ihren Unterstützern einzufrieren, ihnen die Durchreise oder einen sicheren Zufluchtsort zu verweigern, terroristische Rekrutierungsmaßnahmen und Waffenlieferungen zu verhindern und mit anderen Ländern bei der gemeinsamen Nutzung von Informationen sowie bei der Strafverfolgung zusammenzuarbeiten. Resolution 1373 verpflichtete die Staaten zu einer Kampagne nicht-militärischer kooperativer Strafverfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus.2

Um die staatliche Einhaltung dieser neuen Anti-Terror Mandate zu überwachen, wurde mit der Resolution 1373 das »Counter-Terrorism-Committee« (CTC) ins Leben gerufen, das Generalsekretär Kofi Annan als „das Zentrum der globalen Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus“ bezeichnete.3 Die vorrangige Aufgabe des CTC ist die Stärkung der Anti-Terror Kapazitäten der UN-Mitgliedsstaaten. Das Komitee dient als eine »Schaltzentrale«, die helfen soll die Bereitstellung technischen Beistands für Länder zu erleichtern, die Unterstützung bei der Umsetzung von Anti-Terror Mandaten benötigen. Es versucht ebenfalls die Anti-Terror Anstrengungen einer großen Zahl internationaler, regionaler und subregionaler Organisationen innerhalb des UN-Systems und darüber hinaus zu koordinieren.4

Das CTC hat seitens der UN-Mitgliedsstaaten eine große Unterstützung erfahren, aber es steht trotzdem vor erheblichen Problemen: Es ist ausschließlich auf Berichte der Mitgliedsstaaten angewiesen und verfügt über keine unabhängigen Mittel um zu entscheiden, ob Länder die Anti-Terror Mandate tatsächlich umsetzen. Außerdem wurde es in seinen Anstrengungen, die Aktivitäten internationaler, regionaler und subregionaler Organisationen zu koordinieren, mehrfach behindert. Anfang 2004 entwickelte sich im Sicherheitsrat ein Konsens über die Notwendigkeit das CTC durch die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen und Kompetenzen wieder zu beleben. Diese Überlegungen veranlassten den Sicherheitsrat im März 2004 zur Verabschiedung der Resolution 1535.5 Mit ihr wurde ein neues »Counter Terrorism Executive Directorate« (CTED) geschaffen, das die Komiteebesetzung mit qualifiziertem Personal erheblich ausweitete und seine Kapazitäten zur Unterstützung der Mitgliedsstaaten verbesserte.

Im April 2004 wurde mit der Resolution 1540 das UN-Anti-Terror Programm weiter gestärkt.6 Die neue Resolution verbietet Staaten jegliche Form von Unterstützung für nicht-staatliche Akteure, die versuchen nukleare, chemische oder biologische Waffen zu erlangen. Es ordnet eine Reihe von Vollzugsmaßnahmen an, die Staaten umsetzen müssen um solch eine Proliferation zu verhindern und richtete ein Komitee ein, um über die Implementierung zu berichten. Im Oktober 2004 befürwortete der Sicherheitsrat – als Antwort auf das Massaker in einer Schule im nordossetischen Beslan – die Resolution 1566, die größere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus fordert und eine Arbeitsgruppe einrichtete um zusätzliche Anti-Terror Maßnahmen zu prüfen. Diese neuen Resolutionen unterstrichen die Entschlossenheit des Rates zur Bekämpfung des Terrorismus aber sie schufen auch potenzielle Überschneidungen mit den Aufgaben des CTC und Verunsicherung darüber, wie diese neuen Gremien zusammenarbeiten werden.

Die Abschätzung der Fortschritte

Annähernd drei Jahre nach Arbeitsantritt weist das CTC eine beachtliche Liste an Leistungen hinsichtlich der Förderung der Anti-Terror Kooperation auf. Unter Kapitel sieben der UNO-Charta agierend hat das CTC geholfen politische und gesetzliche Behörden für die globalen Anti-Terror Bemühungen einzurichten. Vor allem hat es die Schaffung spezialisierter Systeme für die Koordination der weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung der Gefahren durch Terrorismus gefördert. Der kooperative Ansatz, den das UN-Anti-Terror Programm verkörpert, hat dabei geholfen internationale Normen zu entwickeln und zu stärken. Auf diese Weise spielte das CTC eine wichtige Rolle bei der Schaffung und Aufrechterhaltung der internationalen Dynamik zur Stärkung der Anti-Terror Bemühungen.

Die Anstrengungen des Komitees, Informationen von Mitgliedsstaaten über Anti-Terror Kapazitäten und die Implementierung zu sammeln, sind außerordentlich erfolgreich gewesen. Den CTC-Ersuchen nach Berichterstattung wurde seitens der Mitgliedsländer in weit größerem Maße nachgekommen als bei jeglichen vorherigen Sicherheitsratsbeschlüssen. Alle 191 UN-Mitglieder übermittelten dem CTC Erstrundenberichte, die ihre Anstrengungen, die Resolution 1373 zu befolgen, erklärten.7 Die Komiteeexperten reagierten auf diese Berichte mit dem Ersuchen nach Klarstellungen und zusätzlichen Informationen, was zu weiteren Berichtsrunden führte. Alles in allem erhielt das CTC mehr als 550 staatliche Berichte, was es zur Lagerstätte dessen macht, was ein Beobachter den „möglicherweise größten Informationsträger über die weltweiten Anti-Terror Kapazitäten“ nannte.8 Dass die staatlichen Reaktionen auf CTC-Ersuchen auf höchster Ebene erfolgten, bestätigt die Bedeutung, die viele Staaten der Einhaltung des UN-Anti-Terror Programms beimessen. Die Berichte weisen darauf hin, dass viele Staaten konkrete Schritte unternehmen, ihre Gesetze zu überarbeiten und ihre Vollstreckungskapazitäten für die Einhaltung der UN-Anti-Terror Mandate zu verbessern.

Einer der objektivsten und verlässlichsten Indikatoren für die Zustimmung zum Anti-Terrorismus besteht in der wachsenden Zahl von Staaten, die den zwölf UN-Anti-Terror Konventionen beitreten. Diese Konventionen schaffen eine Basis zur Kooperation von Staaten bei der Verhinderung von Terrorfinanzierung, der Ausübung gemeinsamer Strafverfolgung und den geheimdienstlichen Anstrengungen gegen Terroranschläge. Sie schaffen für die Staaten ebenfalls die gesetzliche Grundlage um ihre Strafjustiz zu harmonisieren und Vereinbarungen über gegenseitige Rechtshilfe auszuhandeln. Die wichtigsten dieser Rechtsvereinbarungen sind die »International Convention for the Supression of Terrorist Bombings« (1997) und die »International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism« (1999). Beide erfuhren eine deutliche Steigerung ihrer Ratifikationsquote seit September 2001. Der Anstieg der Unterstützung für die anderen zehn UN-Konventionen war weniger dramatisch, teilweise weil einige der Vereinbarungen, wie die Konvention über Luftsicherheit, bereits vor dem September 2001 breite Unterstützung genossen. Konventionen die bestimmte Felder terroristischer Aktivitäten behandeln (die Verhinderung und das Bestrafen von Verbrechen gegen international geschützte Personen, Maßnahmen gegen Geiselnahme, der Schutz von Nuklearmaterialien und die Kennzeichnung von Plastiksprengstoff) erfuhren einen zwanzig bis vierzigprozentigen Anstieg der Ratifikationsquote seit September 2001.

In ihren ersten vier Jahren ratifizierten nur 28 Staaten die Konvention über terroristische Bombenattentate. Zwischen September 2001 und Mai 2004 ratifizierten weitere 87 Staaten die Konvention. In den ersten beiden Jahren ratifizierten nur fünf Staaten die Konvention über die Finanzierung des Terrorismus, aber seit September 2001 folgten weitere 102 Nationen. Diese Ergebnisse veranschaulichen, dass die Vereinten Nationen in den meisten Weltregionen bei der Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft eine gesetzliche Grundlage für den institutionalisierten Kampf gegen den Terrorismus zu schaffen, erfolgreich gewesen sind.

Diese ganzen Aktivitäten werden von einem stetig steigenden Grad internationaler Kooperation in der Anti-Terror Kampagne ergänzt. Eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten arbeitet jetzt zusammen bei der internationalen Strafverfolgung und in dem Bemühen Al-Kaida – und Al-Kaida ähnlichen Gruppen – sichere Rückzugsgebiete, Finanzmittel und Reisemöglichkeiten zu verwehren. Durch die Handlungen einzelner Staaten und internationaler Behörden wurden Mittel in Höhe von schätzungsweise $200 Millionen zur Finanzierung von Terrorismus eingefroren.9 Durch unilaterale, bilaterale und multilaterale Strafverfolgungsanstrengungen in dutzenden von Ländern wurden mehr als 4.000 Terrorverdächtige, inklusive vieler hochrangiger Al-Kaida Funktionäre in Gewahrsam genommen.10 Obwohl Al-Kaida ein gefährliches und aktives Terrornetzwerk bleibt und es einen unerwarteten Rekrutierungsschub aufgrund des in der Folge der Invasion und Besetzung des Iraks erhöhten »Anti-Amerikanismus« erfuhr, hat das internationale Anti-Terror-Programm einige Erfolge erzielt.

Die Erleichterung technischer Unterstützung

Bei dem Treffen auf Ministerebene im November 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 1377 die die CTC auffordert mit internationalen, regionalen und subregionalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um Möglichkeiten auszuloten wie Staaten technische, finanzielle, behördliche, gesetzliche und andere Unterstützung erhalten können, um die Umsetzung von Resolution 1373 zu verbessern.11 Der Rat erkennt an, dass relativ wenige Staaten über die umfassenden legalen, administrativen und behördlichen Kapazitäten verfügen, die benötigt werden, um Finanzanlagen einzufrieren, das Reisen bestimmter Personen zu verhindern, Terroristen und ihren Unterstützern »sichere Häfen« zu verwehren und die Rekrutierung und militärische Versorgung terroristischer Gruppen abzustellen.

Die Erfordernisse für die Umsetzung von Resolution 1373 beinhalten häufig ein beträchtliches Ausmaß an Training, den Aufbau neuer administrativer Systeme und den Erwerb sowie die Installation technisch anspruchsvoller Ausrüstung. Viele Staaten benötigen Hilfe um ihre Polizei- und Strafverfolgungssysteme zu verbessern sowie Finanzregulierungsmechanismen und Finanzaufklärungseinheiten zu schaffen. Unterstützung wird ebenfalls gebraucht bei der Entwicklung computerisierter Verbindungen zwischen sicherheitsbezogenen Einheiten, für verbesserte Systemen zur Identifizierung gefälschter Reisedokumente, für bessere Mechanismen zur Zoll- und Einwanderungskontrolle sowie computerisierte Ausrüstung zur Durchleuchtung von Passagieren und Frachtgütern an Grenzübergängen.

Die Kosten für den Ausbau administrativer Systeme und die Beschaffung und Wartung technischer Ausrüstung können erheblich sein.12 Viele Staaten insbesondere in der Dritten Welt benötigen deshalb bei der Beschaffung dieser Kapazitäten Unterstützung. Wie ein afrikanischer Botschafter gegenüber dem Sicherheitsrat im Juli 2003 anmerkte, verfügen viele Länder, die Anti-Terror Gesetze verabschiedet haben, nicht über die notwendigen finanziellen, technischen und menschlichen Ressourcen um diese neuen Gesetze auch umzusetzen.13 Dies löste eine Diskussion um einen multilateralen Treuhänderfonds zur Förderung solcher Anstrengungen aus. Einige Geberländer deuteten den Wunsch an, die fehlende Unterstützung bereit zu stellen, verfügen aber nicht über die menschlichen Ressourcen und die Fachkompetenzen den Unterstützungsbedarf zu ermitteln und die Lieferung nachgefragter Hilfe zu gewährleisten. Diese Staaten ziehen es vor, ihre Anstrengungen über das CTC und andere multilaterale Gremien zu koordinieren.14

Viele der Maßnahmen, die für die Einhaltung der Anti-Terror Verpflichtungen von Resolution 1373 erforderlich sind – die Schaffung effektiverer Strafverfolgungskapazitäten, die Verbesserung der Grenz-, Einwanderungs- und Zollkontrollen, die Regulierung von Banken- und Finanzinstitutionen, die Verbesserung der Sicherheit an Flughäfen und Grenzübergängen – gehen Hand in Hand mit Schritten zur Stärkung verantwortungsbewusster Regierungsführung (Good Governance). Diese Schritte werden zunehmend als unverzichtbar für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entfaltung sozialer und ökonomischer Möglichkeiten erachtet. Technische Hilfsmaßnahmen, die Regierungskapazitäten schaffen, fördern somit auch die Perspektiven wirtschaftlicher Entwicklung.

Diese Verknüpfung zwischen technischer Unterstützung und wirtschaftlicher Entwicklung legt die Notwendigkeit integrierter Entwicklungshilfestrategien nahe, die das UN-Anti-Terror Programm berücksichtigen. Gelingt es das größere internationale Engagement zur Schaffung von Anti-Terror Kapazitäten mit der breiter gefassten UN-Entwicklungsagenda zu verknüpfen, dann könnte sich das genauso positiv auswirken auf die Modernisierung und Transparenz im Banken-, Investitions- und Finanzsektor wie auf die Bekämpfung des Terrorismus.

Die Verbesserung internationaler Kooperation

Das CTC hat die Koordination eines großen Spektrums spezialisierter internationaler Agenturen sowie regionaler und subregionaler Organisationen bewerkstelligt. Der Versuch, internationale Kooperation zu verbessern, ist immer eine große Herausforderung, aber die Aufgabe des CTC in diesem Bereich ist wahrlich gigantisch. Die Spannbreite regionaler und internationaler Organisationen mit tatsächlicher oder potenzieller Beteiligung am UN Programm zur Bekämpfung des Terrorismus ist riesig. Jede Region der Welt ist beteiligt und Anti-Terror Programme sind in vielen regionalen und subregionalen Organisationen entstanden. Die Mandate von Resolution 1373 betreffen ein weites Feld öffentlicher Aktivitäten – Finanzierung, Handel, Zölle, Strafverfolgung, die gemeinsame Nutzung von Geheimdienstinformationen, militärische Rekrutierung und Versorgung – und sie beeinflussen die Missionen dutzender spezialisierter Agenturen.

Das CTC hat bedeutende Schritte gemacht, regionale Organisationen zur Stärkung ihrer Anti-Terror Kapazitäten zu ermuntern. Viele regionale Organisationen, insbesondere in Europa, der asiatisch-pazifischen Region und Lateinamerika, haben eigene Anti-Terror Einheiten gebildet. Einige Regionen hinken dennoch hinterher. Die Region Mittlerer Osten/Nordafrika beispielsweise hat keinen adäquaten regionalen Kooperationsmechanismus entwickelt um der vollen Bandbreite der Anti-Terror Prioritäten gerecht zu werden. Eine breitere regionale Abdeckung wird ebenso in Südasien sowie in Ost- und Südafrika benötigt.

Eine verbesserte Kooperation ist auch unter den Organisationen innerhalb des UN-Systems gefragt. Das CTC war bei der Koordination mit der Expertengruppe, die die Umsetzung der Sanktionen gegen Al-Kaida und die Taliban überwacht (ursprünglich 1999 mandatiert durch Sicherheitsratsresolution 1267) langsam. Es gab Bedenken über die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen dem CTC und den Komitees die nach den Resolutionen 1540 und 1566 eingerichtet wurden. Das Problem der Kooperation zwischen diesen verschiedenen Gremien hat nicht genügend Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt augenblicklich vier spezialisierte Sicherheitsratsgremien die sich mit Anti-Terror Fragen beschäftigen: das CTC, das Al-Kaida und Taliban Überwachungsteam, das 1540 Komitee und die 1566 Arbeitsgruppe. Während die Mandate dieser Gremien voneinander unabhängig sind haben sie auch überlappende Pflichten und Verantwortlichkeiten.

Den politischen Herausforderungen begegnen

Während viele der Herausforderungen denen sich das UN-Programm zur Bekämpfung des Terrorismus gegenübersieht prozedural sind, sind andere mehr politischer Natur. Zu den sensibelsten Aspekten gehören diejenigen, die mit dem Schutz der Menschenrechte verbunden sind. Es gab Kontroversen um Fälle, in denen Individuen ohne Rechtsbehelf oder andere rechtsstaatliche Mittel festgesetzt oder finanziellen Restriktionen unterworfen wurden. In einigen Fällen haben Regierungsvertreter den Kampf gegen den Terrorismus als Rechtfertigung für die Unterdrückung langjähriger Dissidenten oder Minderheitengruppen benutzt, zu denen auch Verfechter von mehr Demokratie und Menschenrechten gehörten. Generell machen sich viele Beobachter Sorgen, dass Anti-Terror Maßnahmen – größere Überwachung durch die Regierung, verschärfte Strafverfolgung, verschärfte Grenzkontrollen, striktere Einkommenskontrolle – unweigerlich individuelle und soziale Rechte einschränken und grundlegende Freiheitsrechte gefährden werden.15 Indem die strikte Einhaltung menschenrechtlicher Standards im globalen Kampf gegen den Terrorismus gefordert wurde, waren UN-Erklärungen und Resolutionen eindeutig. Es gibt keinen Tauschhandel zwischen Menschenrechten und Terrorismus. Generalsekretär Kofi Annan sagte im September 2003: „Die Menschenrechte hoch zu halten widerspricht sich nicht damit, den Terrorismus zu bekämpfen: im Gegenteil, die moralische Vision der Menschenrechte – der tiefgehende Respekt für die Würde jedes Menschen – gehört zu unseren mächtigsten Waffen gegen ihn. Beim Schutz der Menschenrechte Kompromisse zu machen würde den Terroristen einen Sieg verschaffen, den sie aus eigenen Stücken nicht erlangen könnten. Die Förderung und der Schutz der Menschenrechte … sollte deshalb im Zentrum unserer Anti-Terror Strategien stehen.“16

Auf dem Ministertreffen im Januar 2003 verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 1456, die eine größere internationale Beachtung der UN-Anti-Terror Mandate fordert, die Staaten aber ebenso an ihre Pflichten erinnert im Einklang mit internationalen gesetzlichen Verpflichtungen zu handeln, besonders hinsichtlich den „internationalen Menschenrechten, Flüchtlingen und humanitärem Recht.“17

Es kann plausibel begründet werden, dass Menschenrechtsschutz und die Stärkung der Demokratie zentral im langfristigen Kampf gegen den Terror sind. Terroristische Bewegungen tauchen häufig in Gesellschaften auf, in denen zivile und humanitäre Rechte verwehrt werden und politische Ausdrucksmöglichkeiten fehlen.18 Menschenrechte zu schützen und die Freiheit abweichende Meinungen ohne Einmischung der Regierung äußern zu können, können dabei helfen dem Aufstieg von politischem Extremismus und Terrorismus vorzubeugen.19 Nichts wird die Unterstützung für Anti-Terror Mechanismen wie das CTC schneller untergraben als ein Eindruck unter normalen, gesetzestreuen Bürgern, dass solche Programme unweigerlich grundsätzliche Freiheiten einschränken.

Die langfristige und heikelste politische Herausforderung vor der das CTC steht, ist das Fehlen einer gemeinsam akzeptierten Definition von Terrorismus innerhalb der Vereinten Nationen. Die Definitionsfrage belastet die UN seit vier Jahrzehnten. Einige Staaten verdammen als Terrorismus alle Handlungen, die unschuldiges Leben in Gefahr bringen oder kosten, während andere versuchen zwischen dem was sie als legitime Widerstandshandlungen gegen Unterdrückung ansehen und Terrorismus zu differenzieren. Insbesondere Staaten im Mittleren Osten haben es abgelehnt Anti-Terror Initiativen zu unterstützen, die benutzt werden können, um den palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung zu verurteilen. Es ist kein Zufall, dass die Ratifizierung von Anti-Terror Konventionen und die Teilnahme an CTC-Initiativen im Mittleren Osten am niedrigsten ist.

Bislang hat sich das CTC aus diesem Dilemma herausgehalten indem es sich primär auf prozedurale Fragen und die Schaffung von Anti-Terror Kapazitäten konzentrierte. Klugerweise hat es die Meinungsverschiedenheiten über gegenläufige Definitionen ausgeklammert, indem es an den Konsens unter den UN-Mitgliedsstaaten appellierte, dass es größerer Anstrengungen bedarf, der von Al-Kaida ausgehenden globalen Gefahr des Terrorismus zu begegnen. Wie lange das CTC in der Lage sein wird, diese Balance aufrecht zu erhalten, ist Gegenstand vieler Debatten.20

Eine weitere politische Herausforderung betrifft die Frage der Vollstreckung. Das CTC hat sich entschieden nicht über UN-Mitglieder zu Gericht zu sitzen oder dem Sicherheitsrat Staaten zu melden, die es als unwillig erachtet. Es schränkt aber die Effektivität des Komitees ein, wenn es bestimmten Ländern erlaubt, sich ihrer Verantwortung für spezifische Handlungen zu entziehen.21 Wenn das CTC erfolgreich sein will, muss diese zurückhaltende Praxis überprüft werden. In der augenblicklichen »revitalisierten« Phase der UN-Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus, ist die Frage, was der Sicherheitsrat mit Staaten tun soll, die es ablehnen Anti-Terror Mandate umzusetzen, drängender geworden. Wird der Sicherheitsrat gewillt sein Sanktionen gegen Staaten in Betracht zu ziehen, die technische Hilfe erhalten haben, es aber weiterhin ablehnen den Verpflichtungen aus Resolution 1373 nachzukommen?

Das sind einige der neuen Herausforderungen, vor denen die künftigen UN Anti-Terror Anstrengungen stehen.

Anmerkungen

1) Die Recherche für diesen Artikel wurde durch eine großzügig vom Royal Danish Ministry for International Affairs und dem United States Institute of Peace unterstützt. Der Autor weist auch auf die wissenschaftliche Unterstützung seitens Benjamin Rooney und Olda Bures ebenso wie der Studenten des Counter-Terrorism Research Seminar und der University of Notre Dame im Frühjahr 2004 hin. Dieser Artikel ähnelt in einigen Teilen stark einem Dokument mit dem Namen »An Action Agenda For Enhancing the United Nations Program on Counter-Terrorism« (Goshen, Ind.: Fourth Freedom Forum, October 2004).

2) Nicholas Rostow: Before and After: The Changed UN Response to Terrorism Since September 11, 35 CORNELL I.L.J., no. 3, 482, 475-490 (Winter 2002); David Cortright and George A. Lopez: Sanctions and the Search for Security: Challenges to UN Action (Boulder, Colo.: Lynne Rienner Publishers, 2002), 126-130; Edward C. Luck: Tackling Terrorism, in David M. Malone (ed): The United Nations Security Council (Boulder, Colo.: Lynne Rienner Publishers, 2004), 85-100.

3) United Nations Secretary-General Kofi Annan: Statement at Ministerial Level Meeting of the UN Security Council. Vgl. United Nations Security Council, High-level Meeting of the Security Council: Combating Terrorism, S/PV.4688, New York, 20 January 2003.

4) Rostow: Before and After, 485.

5) United Nations Security Council: Proposal for the Revitalisation of the Counter-Terrorism Committee, S/2004/124, New York, 19 February 2004.

6) Einem ähnlichen Modell folgend, das mit Resolution 1373 verabschiedet wurde, entschied Resolution 1540, dass „alle Staaten effektive Maßnahmen ergreifen und die Schaffung angemessener und effektiver Gesetze durchsetzen“, die nicht-staatlichen Akteuren die Unterstützung oder Beteiligung an bestimmten terrorbezogenen Aktivitäten verbieten.

7) Eric Rosand: Current Developments: Security Council Resolution 1373, the Counter-Terrorism Committee, and the Fight Against Terrorism, 97 American J.I.L., no. 2, 337, 332-341 (April 2003).

8) Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 616.

9) White House: Progress Report on the Global War on Terrorism, U.S. Department of State, September 2003. Erhältlich online auf U.S. Department of State (eingesehen 2 Februar 2004).

10) United Nations Security Council: Second Report of the Monitoring Group Established Pursuant to Security Council Resolution 1363 (2001) und Extended by Resolution 1390 (2002) und 1455 (2003) on Sanctions Against Al-Qaida, the Taliban and Individuals and Entities Associated with them, S/2003/1070, New York, 2 December 2003.

11) United Nations Security Council: Security Council Resolution 1377 (2001), S/RES/1377, New York, 12 November 2001.

12) Ward: Purposes and Scope, 14.

13) Cited in Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 623.

14) Ward, Purposes and Scope, 20.

15) Vgl. Neil MacFarlane: Charter Values and the Response to Terrorism, in Jane Boulden and Thomas G. Weiss (eds.): Terrorism and the UN: Before and After September 11 (Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 2004), 43-46.

16) Kofi Annan: Conference Report (keynote address, Conference on »Fighting Terrorism for Humanity«, International Peace Academy, New York, 22 September 2003), 10.

17) United Nations Security Council: Security Council Resolution 1456 (2003), S/RES/1456, New York, 20 January 2003, para. 6

18) Analytiker haben eine signifikante statistische Korrelation zwischen Maßnahmen politischer Repression und dem Aufkommen terroristischer Bewegungen festgestellt. Vgl. Alan B. Krueger and Jitka Malesckova: Education, Poverty and Terrorism: Is There a Causal Connection?, Journal of Economic Perspectives 17, no. 4 (Fall 2003): 142.

19) Alan Krueger: Economic Scene, New York Times, 29 May 2002.

20) M.J. Peterson: Using the Security Council, in Boulden and Weiss (eds.): Terrorism and the UN, 180-187.

21) Rosand: Security Council Resolution 1373 and the Counter-Terrorism Committee, 612-13.

David Cortright ist Präsident des Fourth Freedom Forum in Goshen, Indiana und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Joan B. Kroc Institute for International Peace Studies an der University of Notre Dame. Übersetzung aus dem Englischen von Brigitte Keinath

Fragwürdiger Frieden

Fragwürdiger Frieden

Die UN und die Westsahara

von Jürgen Nieth

Seit 30 Jahren hält Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt. Die UN vermittelten vor 17 Jahren einen Waffenstillstand, der seitdem von UN-Blauhelmen überwacht wird. Ein fragwürdiger Frieden, denn die Probleme wurden in diesen Jahren nicht gelöst: Marokko verweigert nach wie vor dem Volk der Sahrauis die Selbstbestimmung, und die Mehrheit der Sahrauis lebt in Algerien in Flüchtlingslagern. Demokratische Proteste gegen diesen Zustand werden durch die marokkanische Polizei und Armee regelmäßig brutal niedergeschlagen. In dieser Situation findet unter den Sahrauis die Forderung nach Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes viele offene Ohren.

In der Nähe von Tindouf im Südwesten Algeriens, nahe der Grenzen zu Marokko, der Westsahara und Mauretanien, in einem der trockensten Gebiete der Sahara, leben 160.000 Flüchtlinge in großen Zeltstädten. Sahrauis, die hierhin vor dreißig Jahren vor den in die Westsahra einmarschierenden marokkanischen Truppen geflohen sind oder – und das dürfte schon die Mehrheit sein – hier geboren wurden. Im Lagerbild dominieren Frauen und Kinder,1 die meisten Männer sind in der Frente Polisario, der bewaffneten Befreiungsfront für die Westsahara. Sie leben überwiegend in den befreiten Gebieten, dem östlichen Teil der Westsahara, der an Mauretanien und Algerien grenzt und aus nichts als Wüste besteht. Der westliche Teil der Westsahara, mit seinen Bodenschätzen wie Öl, Eisen, Kupfer, mit einem der größten Phosphatvorkommen der Erde und mit der Atlantikküste und damit dem Zugang zu ertragreichen Fischgründen, ist von Marokko besetzt (siehe Karte S. 32).

Die gescheiterte Dekolonialisierung

Zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts können immer mehr ehemalige Kolonien in Afrika ihre nationale Unabhängigkeit durchsetzen. Nicht so die Kolonien der – damals noch – faschistischen Diktaturen Portugal und Spanien. Erst Mitte der siebziger Jahre ziehen sich Portugiesen und Spanier aus »ihren« afrikanischen Kolonien zurück. Aber für die ehemalige spanische Kolonie Westsahara – etwa so groß wie Deutschland – heißt das nicht Unabhängigkeit, sondern neue Besetzung. 1975 teilen Marokko und Mauretanien die Westsahara unter sich auf und Zehntausende Sahrauis flüchten vor den marokkanischen Truppen nach Algerien. Die Frente Polisario nimmt daraufhin den bewaffneten Kampf gegen die Invasionstruppen auf und proklamiert 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), die in den Folgejahren von 72 Staaten anerkannt wird.

Der bewaffnete Kampf der Polisario ist in den ersten Jahren erfolgreich. 1979 gibt Mauretanien nach einem Waffenstillstandsabkommen seine Gebietsansprüche auf und zieht sich zurück. Darauf besetzt Marokko auch den südlichen Teil der Westsahara. 1981 steht Marokko vor der militärischen Niederlage, die es mit massiver US-amerikanischer und französischer Rüstungshilfe sowie dem Bau einer »Mauer« – eine 1.200 km lange Befestigungsanlage quer durch die Wüste aus Sandwällen, Mauern, Stacheldraht, einem 200 m breiten verminten Streifen und elektronischen Sicherungsanlagen – verhindern kann.

Interventionen der UN

Die erste Resolution der UN für die Unabhängigkeit der Westsahara stammt aus dem Jahr 1965. Damals wird die Westsahara auf die Liste der Länder gesetzt, die es zu entkolonialisieren gelte. Drei Jahre später fordern die Vereinten Nationen erfolglos Spanien auf, ein Referendum einzuleiten, dass die Selbstbestimmung des Landes garantiert. 1979 verurteilen die Vereinten Nationen die marokkanische Besetzung der Westahara, sie erkennen die Polisario als rechtmäßigen Vertreter des sahrauischen Volkes an. Zwei Positionen, die ein Jahr später in eine Resolution der UN-Vollversammlung aufgenommen werden, verbunden mit dem Aufruf zu direkten Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario. In den Folgezeit wird diese Position fast jährlich in Resolutionen unterstrichen, ergänzt durch die Forderung nach Waffenstillstand und nach einem Referendum.

Doch wie schon Spanien 1968 ignoriert auch Marokko die von den UN gesetzten Termine. Erst 1988 akzeptieren Marokko und die Polisario einen UN-Friedensplan, der einen Waffenstillstand und die Durchführung eines Referendums vorsieht, indem die Bewohner der Westsahara über ihre Unabhängigkeit entscheiden sollen. Doch an der Frage, wer denn hier abstimmen darf, scheiden sich die Geister, und so wird das Referendum Jahr für Jahr verschoben. 1999 einigt man sich zwar auf die Bestimmung der Wahlberechtigten, Marokko blockiert aber trotzdem die Durchführung eines Referendums.

Nicht internationaler Druck auf Marokko – das sich nach wie vor auf die politische Unterstützung der USA und Frankreichs verlassen kann – ist die Folge, sondern ein Aufweichen der UN-Positionen. Obwohl der Internationale Gerichtshof sich schon 1975 mit der Westsahara befasst und jegliche Gebietsansprüche Marokkos und Mauretaniens als historisch nicht begründet zurückgewiesen hat, legt James Baker, einst US-Außenminister unter George Bush, sen. und von 1997 bis 2004 UN-Sondergesandter für die Westsahara, 2002 einen Plan vor, der entgegen den ursprünglichen UN-Positionen die Eingliederung der Westsahara in das Königreich Marokko vorsieht und den Sahrauis nur noch eine nicht näher definierte Autonomie verspricht. Ökonomischer Hintergrund: Kurz vorher gab es Berichte über riesige Erdölvorkommen vor der Küste der Westsahara, und die Erdölkonzerne McGee (USA) und Total S.A. (FR) hatten Prospektionsverträge mit der marokkanischen Regierung abgeschlossen.

Der Baker-Plan findet im Sicherheitsrat keine Mehrheit, stärkt aber durch seine Existenz die Position Marokkos. Ein modifizierter Plan Bakers (Baker-Plan II), der eine „begrenzte Autonomie unter eigener Verwaltung für vier bis fünf Jahre“ vorsieht, der dann ein Referendum folgen soll, findet dann 2003 auch die internationale Zustimmung.

Eine jahrzehntelange Einwanderung von Marokkanern in die Westsahara hat inzwischen die Sahrauis zur Minderheit im eigenen Land gemacht: 2005 wird die Zahl der Marokkaner, die in der Westsahara leben auf 400.000 geschätzt, die der Sahrauis auf 140.000 – hinzu kommen 160.000 in den Flüchtlingslagern. Bei einem Referendum kommt es also sehr darauf an, wer abstimmen darf. Der Baker-Plan II sieht vor: Alle Sahrauis, alle von Sahrauis abstammenden, und alle, die seit 1999 in der Westsahara leben. Der letzte Punkt dürfte einer Besatzungsmacht zahlreiche Manipulationsmöglichkeiten bieten.

Für die Sahrauis wird es also mit jedem Jahr schwerer, ein Referendum mit dem Ziel nationaler Unabhängigkeit zu gewinnen. Trotzdem stimmt die Polisario zu. Marokko aber lehnt den Plan ab, es ist offensichtlich nicht einmal zu einer begrenzten Autonomielösung bereit.

Dass die UN trotz der völkerrechtlich eindeutigen Lage und trotz der wiederholten Brüskierungen durch Marokko selbigem immer mehr entgegenkommt liegt wohl auch daran, dass eine wachsende Zahl von Regierungen das »Problem Westsahara« nur noch als Belastung betrachtet:

  • Seit 1991 überwachen 230 UN-Blauhelme die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen. Das Mandat für die MINURSO (Mission des nations unies pour le referendum au Sahara occidental) wird seit Jahren immer wieder verlängert – seit 2002 immer nur um jeweils wenige Monate. Der längste UN-Einsatz nach Zypern und Palästina kostet bisher über 600 Millionen US-Dollar.2
  • Seit 30 Jahren liefern die Vereinten Nationen Lebensmittelhilfe in die Flüchtlingslager. Nicht ausreichend, nicht einmal 1.200 Kalorien pro Tag und Person und dies nicht immer regelmäßig und in vollem Umfang. Ohne NGOs, die mit Lebensmitteln und Medikamenten helfen, wäre das für die Menschen in den Lagern »zum Leben zu wenig, aber zum sterben zu viel«. International wird die geringe Lebensmittelhilfe der UN-Organisationen aber offensichtlich als eine Last empfunden.
  • Seit dem Waffenstillstand – d.h. seit nunmehr 17 Jahren – sind die Sahauris aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Sahauris sind ein kleines Volk, gerade mal 300.000 Menschen, eine Größenordnung die vernachlässigbar scheint.

Vor diesem Hintergrund neigt wohl eine wachsende Zahl der Staaten dazu, dass dann, wenn sich die ursprünglichen, völkerrechtsmäßig abgesicherten Positionen – angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen im Sicherheitsrat – nicht durchsetzen lassen, notfalls irgendein Kompromiss gefunden werden muss. Auch wenn der zu Lasten der Sahauris geht.

Das mag man Realpolitik nennen, doch diese Realpolitik ist nicht nur rechtlich und moralisch Kritik würdig, sie beinhaltet auch reale Gefahren.

Ziviler Widerstand oder bewaffneter Kampf

Die offizielle Politik der Regierung der DARS und der Führung der Frente Polisario setzt darauf, dass die UN-Resolutionen durchgesetzt werden und internationaler Druck Marokko doch noch zum Rückzug aus der Westsahara zwingt. Die bewaffneten Einheiten der Polisario sind wohl in erster Linie ein politisches Druckmittel. Es ist kaum vorstellbar, dass die Polisario angesichts einer hochausgerüsteten und zahlenmäßig weit überlegenen marokkanischen Armee, die sich u. U. amerikanischer Satelliten zur Gefechtsfeldbeobachtung bedienen kann, die offene militärische Auseinandersetzung sucht. Dass die Regierung der DARS und die führenden Funktionäre der Polisario keine Neuauflage des bewaffneten Kampfes wollen, unterstreicht auch die Tatsache, dass die Polisario – trotz des gewaltsamen Vorgehens der Marokkaner gegen sahrauische Demonstranten – im August 2005 als »Friedensgeste« die letzten 404 marokkanischen Kriegsgefangenen freigelassen hat. Kriegsgefangene, die sie zum Teil seit über 20 Jahren in ihrer Gewalt hatte.3

Die Stimmung an der Basis, vor allem unter der Jugend, ist aber eine andere. Die Perspektivlosigkeit des Lebens in Flüchtlingslagern, die Frustration über die als »Untätigkeit« oder »Umfallen« wahrgenommene Politik der UN befördern die Tendenz zum aktiven Widerstand, und das heißt für viele: Bewaffneter Kampf.

Manche Beobachter befürchten bereits, dass in der Maghrebregion ein neuer Stützpunkt islamistischer Fundamentalisten entstehen könnte. Die Situation in den sahrauischen Flüchtlingslagern widerspricht dem. Auch nach 30 Jahren Lager sind die Sahrauis sehr stolz und selbstbewusst. Es gibt keine nennenswerte Emigration. Sie haben unter diesen widrigen Umständen demokratische Strukturen aufgebaut, von der Nahrungsmittelverteilung bis hin zu Wahlen, und soziale Strukturen, die eine medizinische und schulische Grundversorgung beinhalten. Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet. Aufgeklärte Frauen bestimmen den Alltag: Sie stellen Bürgermeisterinnen, es gibt Frauenbeauftragte, ein großer Teil der Ärztinnen hat in Kuba studiert, Lehrerinnen vor allem in Spanien und Algerien. Ehen könne geschieden werden, die Frau behält dann das materiell Wichtigste, das Zelt. Gegen einen islamistischen Fundamentalismus spricht auch die Geschichte der Polisario, die sich Anfang der 70er Jahre als antikoloniale und sozialistische Bewegung gründete. Trotzdem besteht die Gefahr, dass der Fundamentalismus angesichts einer Hoffnungslosigkeit in den Lagern an Einfluss gewinnt, dass islamistische Gruppen neben den Strukturen der Polisario entstehen und operieren.

Bleibt die Internationale Staatengemeinschaft bei ihrer Politik der »Resolutionen ohne Folgen« und kommt es nicht zu einer Verstärkung des Drucks auf Marokko mit dem Ziel einer zivilen Lösung des Konflikts, dann wird jede Regierung der Sahrauis zum Handeln gezwungen. Ein erster Schritt ist die Verstärkung der Protestaktionen in den besetzten Gebieten der Westsahara und in Marokko. Marokko reagiert mit äußerster Härte: Am 28. Juni 2005 werden drei Jugendliche zu insgesamt 50 Jahren Haft verurteilt. Ihr Vergehen: Sie sollen „Es lebe der Friede“ und „Es lebe die Unabhängigkeit“ gerufen sowie ein Hoch auf die Befreiungsbewegung Polisario ausgebracht haben, während sie die anrückende Polizei mit Steinen empfangen.4 In Folgeprozessen werden 21 weitere Personen nach Protestaktionen zu insgesamt 124 Jahren Haft verurteilt. Noch machen diese Protestaktionen einen unkoordinierten Eindruck, doch nach der brutalen Unterdrückung der demokratischen Proteste durch marokkanisches Militär sprechen auch Vertreter der Polisario von einer beginnenden »Intifada«.

Sollten in dieser Situation Befürworter von bewaffneten (Selbstmord-)Anschlägen an Einfluss gewinnen, dann wird wieder von der wachsenden Gefahr des Terrorismus gesprochen werden. Und mit Sicherheit werden weder der marokkanische König und seine militärische Kaste, noch deren Unterstützer in Paris und Washington einsehen, dass sie diese »Terroristen« produziert haben.

Und die Vereinten Nationen? Sie können dann vielleicht auf eine jahrelange erfolgreiche Waffenstillstandskontrolle zurückblicken. Ein fragwürdiger Frieden, in dem die wirklichen Probleme nicht konsequent angepackt und gelöst wurden. Das Ergebnis: Eine neue Krisenregion!

UN-Militäreinsätze und deutsche Beteiligung

Auf den beiden folgenden Seiten veröffentlichen wir eine Weltkarte, die die gegenwärtigen UN-Militäreinsätze und die deutsche Beteiligung verzeichnet. Erstellt wurde die Karte vom »Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF)«.

Das ZIF wurde im April 2002 in engem Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag gegründet. Seine Aufgabe ist es, zur Stärkung internationaler ziviler Kapazitäten zur Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung durch insbesondere die folgenden Maßnahmen beizutragen:

  • Training von zivilen Fach- und Führungskräften für internationale Friedens- und Beobachtungseinsätze, die von den Vereinten Nationen (UNO), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europäischen Union (EU) oder anderen internationalen Einrichtungen beschlossen oder durchgeführt werden.
  • Aufbau und Pflege einer Reserve von deutschem zivilen Fach- und Führungspersonal zur schnellen und gezielten Bereitstellung für solche Einsätze.
  • Rekrutierung, Betreuung und Nachbetreuung des eingesetzten Personals.
  • Unabhängige wissenschaftliche Analyse, Erarbeitung von Lessons Learned und Best Practices, Beratung und Information, Durchführung von Seminaren und Konferenzen etc.

Das ZIF ist eine gemeinnützige GmbH. Gesellschafter ist die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt. Geschäftsführer ist Dr. Winrich Kühne.

Nähere Informationen: Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin, Tel.: 030-5200565-0, www.zif-berlin.org

Anmerkungen

1) Der Autor besuchte 2001 die Flüchtlingslager der Sahrauis im Südwesten Algeriens und Einheiten der Frente Polisario in den befreiten Gebieten der Westsahara.

2) Axel Goldau: Westsahra weit entfernt von Unabhängigkeit, in Neues Deutschland, 17. Mai 2004

3) Polisario lässt die letzten marokkanischen Gefangenen frei, FAZ 19.08.2005

4) Reiner Wandler: Hohe Haftstrafen in der Westsahara, in Tageszeitung vom 30.06.2005; Leo Wieland: Es gärt in der Westsahara, FAZ 18.07.2005

Jürgen Nieth ist verantwortlicher Redakteur von Wissenschaft und Frieden