Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Vereinten Nationen:

Rüstungskontrolle und Abrüstung

von Harald Müller

Der Umgang mit den Mitteln organisierter Gewaltanwendung ist ein zentrales Thema von »global governance«. Da die Vereinten Nationen (VN) deren zentrales institutionelles Element darstellen, fragt sich, welche Rolle sie in der Rüstungskontrolle und Abrüstung spielen können und wollen.1 Im folgenden Artikel wird zunächst die Aufgabenstellung skizziert, die die VN-Charta vorgibt, und sodann die Praxis der Vereinten Nationen betrachtet. Der Umgang mit der Thematik in den verschiedenen Vorschlägen zur VN-Reform wird in den Schlussfolgerungen kurz angerissen.

Die Charta der Vereinten Nationen enthält eine erstaunlich kräftige Sprache zur Abrüstung. In Art. 26 verpflichtet sie den Sicherheitsrat, „für ein System der Regelung der Rüstungen Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen vorzulegen sind.“ Damit ist nicht weniger geschaffen als die Autorität der Vereinten Nationen, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, wie sie mit ihren Streitkräften und deren Bewaffnung umzugehen haben, und zwar in Friedenszeiten, denn der Sicherheitsrat könnte zu solchen Plänen unter Kapitel VII der VN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) auch Entschließungen fassen. Mit dieser Vorschrift ist ein qualitativer Schritt gegenüber dem klassischen kriegsvölkerrechtlichen Ansatz gemacht, nur die Anwendung der Waffen im Kriegsfall Einschränkungen zu unterwerfen. Die dahinter stehende Idee reflektiert eine doppelte Erkenntnis:

  • Die Möglichkeit zur Aggression setzt eine einsprechende Streitkräftekonstellation und ein vorteilhaftes Kräfteverhältnis voraus; diese Voraussetzungen können durch verbindliche Begrenzungen der Streitkräftekonfigurationen beseitigt werden. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zugrunde, der die für eine raumgreifende Offensive unerlässlichen Waffensysteme einer Begrenzung unterzieht.
  • Wildwüchsige Rüstung verschärft das Sicherheitsdilemma, treibt in die Überrüstung und kann im schlimmsten Fall präemptive Kriegshandlungen provozieren. Eine international verbindliche Streitkräfteordnung wirkt beruhigend auf das Sicherheitsdilemma ein und ist insofern ein Eckstein für internationale Stabilität und Frieden.

Mit der Ausarbeitung dieses Rüstungskontrollplans betraut die Charta den Generalstabsausschuss des Sicherheitsrates (Art. 26, Art. 47,1). Damit sollte sichergestellt werden, dass es sich nicht um utopische Luftschlösser handeln würde, sondern um einen soliden, von einschlägiger professioneller Expertise geprägten Entwurf.

Die Praxis der Vereinten Nationen

Bekanntlich ist diese Vorschrift nie verwirklicht worden, und der Generalstabsausschuss war nie arbeitsfähig. Der Ost-West-Konflikt gab den Selbsthilfestrategien der beiden Lager den Vorrang, das für die Ausarbeitung des Planes erforderliche normative Einvernehmen gab es zu keiner Zeit.2 Als das Ende des Konflikts die Neuaufnahme des Abrüstungsprojekts hypothetisch möglich machte, war seitens der Supermacht USA der Enthusiasmus für multilaterale Regelungen zumindest im konservativen Lager einer Präferenz für die Nutzung der eigenen Überlegenheit gewichen. Die Erhaltung amerikanischer Handlungsfreiheit im Sicherheitssektor wurde zunehmend nicht nur als Bedingung nationaler Sicherheit, sondern auch internationaler Stabilität verstanden, als deren einziger Garant sich Washington zusehends sah. Einzelne Vereinbarungen waren auf selektiver Basis immer noch möglich (zumindest für das politische Zentrum der USA, wenn auch nicht für die neokonservative Rechte), umfassende Pläne mit lang anhaltenden Konsequenzen kamen jedoch nicht mehr in Frage.3 Statt eines ganzheitlichen Neuanfangs blieb damit nur die bereits existierende Praxis fragmentierter Aktivitäten.

Der Regimeansatz

Der kooperationsstiftende Nutzen der Strategie, Streitfragen in ihre teilbaren Einzelkomponenten zu zerlegen und diese durch je spezifische Sets von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zu behandeln, ist in der Regimeanalyse ausführlich untersucht und bestätigt worden.4 Genau so verfuhr die internationale Gemeinschaft im Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Als »Produkte« liegen eine Reihe von bilateralen, regionalen und globalen Abkommen vor, denen es um die Einhegung der von einzelnen Waffen- oder Operationstypen ausgehenden Gefahren geht und die der Vertrauensbildung innerhalb je spezifischer Sicherheitskomplexe5 dienen.

Die Vereinten Nationen sind nicht die »Eigentümer« dieser Regime. Diese »gehören« vielmehr ihren jeweiligen Vertragsparteien. Die VN spielen jedoch eine gewichtige Rolle beim Zustandekommen, der Erhaltung und Weiterentwicklung vor allem jener Verträge, die der Idee und Absicht nach universal sind, vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Biowaffenregimes. In beiden Fällen, wie auch bei den Gesprächen, die zum Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens führten, bot die Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) den Rahmen, in dem die Staaten die schwierigen strittigen Fragen klären konnten: Die CD, die früher verschiedene andere Namen trug, ist das einzige Verhandlungsforum für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen. Sie besteht ausschließlich zum Zwecke von Abrüstungsverhandlungen, ihr gehört eine (über die Jahre gewachsene) Minderheit der VN-Mitgliedsstaaten nach dem Prinzip regionaler Repräsentation an und sie entscheidet nach Einstimmigkeitsregeln. Die CD ist kein Teil des VN-Sekretariats, sondern eine semi-autonome Einrichtung, deren administrative Betreuung gleichwohl im Verantwortungsbereich des VN-Sekretariats (Department for Disarmament Affairs, DDA) liegt.

Seit 1996, dem Abschluss des umfassenden Teststoppvertrages (der aufgrund amerikanischer Resistenz nicht in Kraft trat), konnte sich die CD nicht mehr auf eine Tagesordnung und ein Arbeitsprogramm einigen, denn leider gilt auch für Verfahrensfragen die Einstimmigkeitsregel. Viel wertvolles diplomatisches Kapital liegt also in Genf brach. Eine Änderung ist wohl nur unter zwei Auspizien denkbar: Einer fundamentalen Änderung der amerikanischen Politik, deren Weigerung, über Regelungen für Waffen im Weltraum auch nur zu sprechen und in Verhandlungen über ein Produktionsverbot von Spaltmaterialien die Frage der Überprüfbarkeit einzubeziehen, maßgeblich verantwortlich für die Stagnation ist; oder einer Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in Verfahrensfragen, die es der Mehrheit ermöglichen würde, Verhandlungsforen zu etablieren, in die nach angemessener Zeit wohl auch die widerstrebenden CD-Teilnehmer einziehen würden. Insgesamt sind die direkten Einflussmöglichkeiten der VN hier noch weit begrenzter als im Falle der Überprüfungskonferenzen.

Die zweite wichtige Rolle der Vereinten Nationen besteht nämlich in der Betreuung der Überprüfungskonferenzen jener globaler Verträge, die über keine eigene Vertragsorganisation verfügen, wie das beim Chemiewaffenübereinkommen der Fall ist. Diese Aufgabe nimmt das Department for Disarmament Affairs übrigens auch für den Nichtverbreitungsvertrag wahr, denn die Internationale Atom-Energie-Organisation in Wien unterstützt den Vertrag zwar mit Dienstleistungen für die Verifikation im Rahmen des Artikels III, ist aber nicht eine eigene Vertragsorganisation mit Autorität über den gesamten Umfang des Vertrages. Die Vollversammlung der VN beschließt auf Antrag der Vertragsmitglieder bzw. Depositare die Bereitstellung von Ressourcen (Räumlichkeiten, Sekretariat) für die Überprüfungskonferenzen. Diese Leistung ist nicht gering zu schätzen, sind doch diese Konferenzen, richtig gehandhabt, das entscheidende Mittel für die Stabilisierung, insbesondere aber für die den Umständen angemessene Weiterentwicklung der Regime gegenüber neuen Herausforderungen. Erfolge und Misserfolge dieser Konferenzen sind in einem engen Korridor beeinflussbar durch die mehr oder weniger fähige Stabsarbeit der zugeteilten VN-Beamten, namentlich des jeweiligen Konferenzsekretärs. Dieser Faktor kann jedoch nur wirksam werden, wenn seitens der Mitgliedsstaaten ein Minimum an politischem Willen vorhanden ist, auf eine Einigung hinzuarbeiten. Wo dies fehlt, wie bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2005, kämpft auch ein guter Konferenzsekretär vergeblich.6

Die dritte und wichtigste (potentielle) Funktion der VN im Zusammenhang der globalen Regime ist der Umgang mit Situationen, in denen ein ernster Regelbruch vermutet oder bewiesen wird und Schritte unternommen werden müssen, um die Einhaltung des Vertrages – gegebenenfalls zwangsweise – zu gewährleisten. Für all diese Regime ist der Sicherheitsrat der ultimative Garant ihrer Integrität. Diese Rolle ist im Lichte der Charta angemessen, handelt es sich doch beim Bruch der Regeln, mit denen Massenvernichtungswaffen kontrolliert werden sollen, praktisch immer um eine Gefährdung von internationalem Frieden und Sicherheit, also jener Lage, in der der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta die Aufgabe des universalen Sicherheitsgaranten wahrzunehmen hat; daher hat der Sicherheitsrat durchaus auch die Möglichkeit, sich außerhalb der Regime aus eigener Initiative um diese Problematik zu kümmern, wie etwa nach dem Golfkrieg von 1991, als er mit der Einsetzung der UNSCOM (Sonderkommission), später der UNMOVIC (Überwachungskommission), eigene Instrumente schuf, um die Abrüstung des Irak sicherzustellen.7 Da die Robustheit aller Regime davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder darauf verlassen können, im Krisenfall nicht auf Selbsthilfe angewiesen zu sein, sondern auf einen verlässlichen Mechanismus der Krisenreaktion vertrauen zu können, ist diese Funktion des Sicherheitsrats von herausragender Bedeutung. Es ist um so bedenklicher, dass er dieser Aufgabe bislang unzureichend nachgekommen ist. Die laufenden Krisen im nuklearen Sektor – Nordkorea und Iran – werden anderswo betreut. Im Feld der Chemiewaffen werden zwar Verdachtsmomente gegen Mitgliedsstaaten geäußert, der Sicherheitsrat wird jedoch nicht damit befasst, und das Gleiche gilt für biologische Waffen. Damit fällt der wichtigste Mechanismus für die Stabilisierung der vom Vertragsbruch – oder dem folgenschweren Verdacht, ein solcher liege vor – bedrohten Regime weitgehend aus. Hier sind Schritte notwendig, um eine nicht nur unbefriedigende, sondern direkt gefährliche Situation zu korrigieren.

Dazu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, wobei die Idee, ein neues, großzügig ausgestattetes Verifikationsorgan als unabhängige VN-Behörde einzurichten,8 aus politischen wie aus haushaltlichen Gründen keine Chance hat. Wesentlich zur Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, und zwar sowohl des Sicherheitsrats wie des Generalsekretärs, ist die Fähigkeit, streitige Datenlagen über den Bruch eines der globalen Abkommen technisch und strategisch beurteilen zu können. Hierzu sollte bei den Vereinten Nationen eine entsprechende Einheit platziert werden, und zwar am besten im Department of Disarmament Affairs, dessen vielfältige Routineaufgaben sicherstellen, dass die Fähigkeiten der neuen Experten auch außerhalb von Krisenzeiten sinnvoll genutzt werden können. Eine solche Einheit könnte dem Sicherheitsrat Entscheidungshilfe leisten und ihn von der einseitigen Abhängigkeit von notorisch unzuverlässigen nationalen Geheimdienstinformationen entlasten. Andererseits würde sie dem Generalsekretär zur Verfügung stehen, der durch seinen Untersuchungsauftrag für das Genfer Protokoll (Einsatz von chemischen und biologischen Waffen) ebenso auf derartige Hilfe angewiesen ist wie durch seine Aufgabe, unter Art. 99 der Charta, friedens- und sicherheitsgefährdende Umstände aus eigener Initiative in die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats zu rücken. Gerade dieses Mandat kann von Nutzen sein, um zwischenzeitlich die Lücke im Biowaffenregime zu schließen: Denn dieses ist nach der amerikanischen Weigerung, sich auf den Entwurf eines Verifikations- und Transparenzprotokolls einzulassen, ohne belastbare Verfahren geblieben, um mit Vertragsbrüchen umzugehen. Der Generalsekretär könnte hier nach Art. 99 einspringen, aber nur, wenn er über entsprechende Ressourcen verfügt, um vorhandene Informationen zu sammeln und zu bewerten.9

Auch die Verfahrensweise des Sicherheitsrats muss überholt werden. Es bedarf formalisierter Prozeduren, um die heikle Frage des Vertragsbruchs und der Antwort darauf angemessen zu entscheiden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fakten auf den Tisch kommen und von einer übernationalen Warte bewertet werden und dass auch die Sichtweisen der Nachbarstaaten, die sowohl von Massenvernichtungswaffen-Programmen als auch von wirtschaftlichen oder gar militärischen Gegenmaßnahmen am stärksten betroffen sind, angemessen in die Erörterungen einbezogen werden. Nach den irakischen Erfahrungen sind hier grundlegende Revisionen erforderlich.10

Eine neue und umstrittene Rolle der VN – wiederum des Sicherheitsrates – besteht in der »universellen Gesetzgebung«, in der der Rat quasi ersatzweise für das Fehlen weltweit geltender Verträge einspringt. Im Feld der Rüstungskontrolle hat er dies mit der Entschließung 1540 getan. Sie verpflichtet die Staaten, eine Reihe von Maßnahmen im Innern (Umgang mit gefährlichen Stoffen) und Äußeren (Exportkontrollen) zu treffen, um den Zugriff von nichtstaatlichen Akteuren auf Massenvernichtungswaffen, ihre Technologien und Vorprodukte zu verhindern. Viele dieser Maßnahmen sind Teil der globalen Verträge, andere sind in den exklusiveren »Exportkontrollclubs«, d.h. der Gruppe der nuklearen Lieferländer und der Australien-Gruppe, vereinbart worden. Der Sicherheitsrat rechtfertigte diesen ungewöhnlichen und für viele anstößigen Eingriff in die Prärogative der Nationalstaaten mit der Dringlichkeit der Gefahr und der Tatsache, dass die diversen Regime auf absehbare Zeit nicht wirklich universalisierbar sein werden. Gleichwohl bleibt ein Beigeschmack, wenn fünfzehn Staaten über die nationale Souveränität aller übrigen, Verträge zu verhandeln oder ihnen beizutreten, einfach hinwegrollen, wobei klar ist, dass diese »Gesetzgebungsfunktion« des Sicherheitsrats die nationalen Interessen vieler verletzen mag, sicherlich aber nie die jener fünf mit Veto-Macht ausgestatteten permanenten Mitglieder. Es ist anzuraten, von dieser Option möglichst sparsam Gebrauch zu machen und jede zu diesem Zweck verabschiedete Entschließung mit einem Verfallsdatum zu versehen, die den Sicherheitsrat zu einer Neubefassung, d.h. einer Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme, nötigt.11

Die Vereinten Nationen als Agenda-Setzer, Deliberator und Verhandlungsort

Eine der wichtigsten Aufgaben der VN ist es, neue Themen der Abrüstung zu identifizieren und für existierende Themen neue Aspekte zu benennen. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Vollversammlung und ihres ersten Ausschusses, der jährlich eine Vielzahl von Entschließungen zu Abrüstungsfragen verhandelt und anschließend die Entwürfe der Vollversammlung unterbreitet, wo über sie abgestimmt wird. Freilich ist festzustellen, dass die Mehrheit dieser Resolutionen nach dem Motto »und ewig grüßt das Murmeltier« Jahr für Jahr neu vorgelegt werden, ohne politische Wirksamkeit zu zeigen. Ein Großteil dieser Aktivitäten scheint der Selbstbefriedigung der Organisationsmitglieder zu dienen (nicht zuletzt der Blockfreien), ohne dass irgendjemand wirkliche politische Funktionen darin sieht. Indes ist die Möglichkeit vorhanden, auf diesem Wege neue Themen in die internationale Abrüstungsdiskussion einzuführen. Von besonderer Wirksamkeit sind in diesem Zusammenhang die Sondervollversammlungen der VN zu Abrüstungsfragen – allerdings hat seit zwei Jahrzehnten keine mehr stattgefunden, auch dies wegen US-amerikanischer Opposition.

Bisweilen setzt die VN nicht nur neue Agendathemen, sondern sorgt für deren Bearbeitung. Ein vorzügliches Beispiel ist das VN-Waffenregister, ein Instrument weltweiter Transparenz, das jährlich Berichte über Exporte und Importe von sieben konventionellen Hauptkampfsystemen auflegt. Das Register wird von einer Mehrzahl der Mitglieder regelmäßig beschickt. Seine bloße Existenz ist eine ständige Mahnung, dass das Prinzip militärischer Transparenz ein entscheidender Faktor globaler wie regionaler Vertrauensbildung ist. Dieses Register wurde innerhalb der Vereinten Nationen »erfunden«, verhandelt und operativ betreut.12

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinwaffenprogramm, dessen Existenz dem gezielten Einsatz verschiedener VN-Instrumente (Expertengruppe, Vollversammlungs-Deliberationen, Sonderkonferenz, Sekretariatsdienste) zu verdanken ist.13 Aus diesem Programm ist gleich die nächste Maßnahme, die Ausarbeitung eines Übereinkommens über die Kennzeichnung und Nachverfolgung von solchen illegalen Waffenströmen hervorgegangen: Hier hat die Vollversammlung unter Schweizer Vorsitz eine offene Verhandlungsgruppe eingesetzt, die es geschafft hat, einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten, der demnächst zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

Agenda-setting und Verhandeln ist eine Sache, Problemfelder gründlich zu durchdenken und zu diskutieren, um Lösungen zu entwerfen, ohne unter dem politischen Druck verbindlicher Verhandlungen zu stehen, eine andere. Die VN verfügen über zwei Institutionen für diesen Zweck. Das eine ist die Abrüstungskommission (Disarmament Commission, DC), ein Organ der Vollversammlung, das andere der Abrüstungsbeirat des Generalsekretärs.

Die Abrüstungskommission steht allen Mitgliedern der Vollversammlung offen. Sie tagt jährlich mehrere Wochen, jeweils auf drei Themenblöcke konzentriert. Ihre Teilnehmer sind Vertreter der Regierungen. Damit ist ihr Handicap gekennzeichnet: Alle stehen unter Instruktionen, und statt stressfreier Deliberation herrscht ein Verhandlungsklima mit allen Rigiditäten des diplomatischen Verkehrs. Die DC leidet insoweit unter den Mängeln der Genfer CD, ohne je deren verbindliche Ergebnisse produzieren zu können oder zu sollen. Sie ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Themenkatalog für ihre Sitzungen zu einigen – gerade wie die CD. Eingerichtet als Placebo für Mitgliedstaaten der VN, die in Genf nicht mittun dürfen, erscheint sie überflüssig, eine Geldverschwendung angesichts knapper Mittel, die weder zum Image der Vereinten Nationen noch zum Erfolg von Abrüstung beitragen kann. Als einziges der VN-Organe wäre ihr Ableben nicht zu bedauern.

Dies gilt um so mehr, als im Abrüstungsbeirat eine Institution zur Verfügung steht, deren Konstruktion geeigneter ist, den Bedingungen von Deliberation zu genügen. Nichts ist perfekt, auch im Beirat halten die Diplomaten die Mehrheit, obgleich alle 22 Mitglieder, die nach einigen Jahren ausgewechselt werden, nach repräsentativen Gesichtspunkten in persönlicher Kapazität berufen werden, also idealiter instruktionsfrei miteinander sprechen können. Realiter sind die Diskussionen des Beirats weitaus weniger vom Stress politischen Drucks gekennzeichnet. Das unverbindliche Setting erlaubt es, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Format der jährlichen Berichte, die Sache des Vorsitzenden sind und nicht im Konsens abgestimmt werden, erlaubt freiere Diskussionen. Das setzt voraus, dass der Vorsitzende seine Position nicht missbraucht, eine Norm, die durchweg eingehalten wird. Die Berichtsentwürfe werden unter den Mitgliedern zur Kommentierung zirkuliert, und im Ergebnis kommt etwas heraus, dass keinen vollständigen Konsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, aber eben auch keine fundamentale Konfrontation gegenüber dem »Eingemachten« der Sicherheitsinteressen eines der repräsentierten Staaten darstellt.

Der Beirat tagt halbjährlich für drei volle Tage und konzentriert sich dabei auf zwei, maximal drei Themen, wozu auch jeweils geeignete Experten aus Nichtregierungsorganisationen angehört werden. Im Zusammenhang mit der VN-Reform hat der Beirat es geschafft, einen Bericht mit sehr substantiellen Empfehlungen zustande zu bringen.14 Neuerdings ist der Vorsitzende aufgefordert, die Ergebnisse seiner Arbeit der Vollversammlung zu präsentieren, womit die deliberative Arbeit des Beirats beträchtlich aufgewertet worden ist.

Generalsekretär und Sekretariat

Auf einige Funktionen des Generalsekretärs ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Rolle als Stimme der VN, selbst machtvoll als Agenda-Setter und Mahner aufzutreten. Im Feld der Abrüstung haben Generalsekretäre davon weitaus sparsamer Gebrauch gemacht als in anderen Themenfeldern, etwa Armutsbekämpfung oder humanitäre Intervention. Dies ist um so betrüblicher, als dem Generalsekretär mit dem Abrüstungsbeirat ein kompetentes und durchaus effektives Instrument zugeordnet ist, von dem er weitaus aktiver Gebrauch machen könnte.

Die Abrüstungsabteilung (Deparment of Disarmament Affairs, DDA), geleitet von einem Untergeneralsekretär, ist die kleinste Abteilung der VN. In Unterabteilungen nach den verschiedenen Waffentypen aufgegliedert, verfügt sie über einen multinationalen Stab, der anderen Organen der VN, aber auch den Vertragsregimen in Dienstleistungsfunktionen, zur Verfügung steht. Die DDA versieht auch die Vollversammlung mit Berichten über die komplizierten Abrüstungsfragen. Gerade kleinere und unterentwickelte Mitgliedsstaaten haben auf nationaler Basis kaum die Möglichkeit, selbständig Information zu beschaffen und Analysen zu erstellen. Die Arbeit des DDA ist für sie unerlässliche Voraussetzung, dem Gang der Dinge folgen zu können.

Schließlich sollte die Rolle des VN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) nicht unerwähnt bleiben. Mit einer minimalen Grundfinanzierung gelingt es dieser Institution unter ihrer gegenwärtigen Direktorin, für das gesamte Spektrum von Abrüstungsfragen Publikationen von hoher Qualität und dichtem Informationsgehalt zu erarbeiten, die gerade für die VN-Mitgliedsstaaten aus der Dritten Welt von großem Nutzen sind.

Schlussfolgerung: VN-Reform und Abrüstung

Die Analyse hat ergeben, dass die Vereinten Nationen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zahlreiche Funktionen zu erfüllen haben. Da die VN eben die Vereinigung ihrer Mitgliedsstaaten sind, gelingt dies so gut, wie es der kollektive politische Wille der Staatenwelt zulässt. Ein Überschuss über diesen Vektor kann nur durch das Eigengewicht des Sekretariats und besonders des Generalsekretärs erzielt werden. Diese Variable ist größer als Null und kann beachtlich sein, darf andererseits auch nicht überschätzt werden – ein Generalsekretär, der sich in dieser Rolle überhebt, wäre schnell isoliert.

In der Diskussion wurden etliche Defizite notiert. Um so enttäuschender ist es, dass die offiziellen Vorschläge zur VN-Reform das Thema stiefmütterlich behandeln. Sie enthalten sporadische Vorschläge zur Abrüstung, aber wenig zum Verhältnis Abrüstung-VN. Eine Ausnahme bilden die Vorschläge des Abrüstungsbeirats, die jedoch von Kofi Annans hochrangiger Expertengruppe mangels Expertise in der Gruppe und ihrem Sekretariat weitgehend ignoriert wurden.15 Es ist zu befürchten, dass der Reformschwung, den der Millenium-plus-fünf-Gipfel mit sich bringt, am Feld VN/Abrüstung recht spurlos vorbeigehen wird.

Anmerkungen

1) Tanja Brühl/Volker Rittberger: From international to global governcance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the twenty-first century, in Volker Rittberger (Hrsg.): Global Governance and the United Nations System, Tokio u.a., United Nations University Press 2001, S. 1-47.

2) Dimitris Bourantonis: The United Nations and the quest for nuclear disarmament, Dartmouth, Aldershot 1993.

3) US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/Main, HSFK-Report 3/2003.

4) Harald Müller: Die Chance der Kooperation. Regime in den Internationalen Beziehungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.

5) Barry Buzan/Ole Waever: Regions and powers. The structure of international security. Cambridge, Cambridge University Press 2003.

6) Harald Müller: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M, HSFK-Report 4/2005; www.hsfk.de/downloads/report0405.pdf.

7) Brahma Chellaney: Arms control: The role of the IAEA and UNSCOM, in: Muthiah Alagappa/Takashi Inoguchi (Hrsg.), International Security Management and the United Nations, Tokio u.a., United Nations University Press 1999,S. 375-393.

8) Trevor Findlay: A Standing United Nations WMD Verification Body: Necessary and Feasible. An interim study prepared for the Commission on Weapons of Mass Destruction by the Canadian Centre for Treaty Compliance, Ottawa, Canada in cooperation with VERTIC, London, UK, May 2005; www.vertic.org/assets/Interim%20report%20UN%20WMD%20verification%20mechanism%20FINAL%20May%202005.pdf.

9) Una Becker, Harald Müller, Carmen Wunderlich: Während wir auf das Protokoll warten: Provisorische Wege, mit dem Bruch des Biowaffen-Übereinkommens umzugehen, Frankfurt/M, HSFK-Report 2005 (i.E.).

10) Hans Blix: Disarming Iraq, New York, Pantheon 2004.

11) Multilateral Disarmament and Non-Proliferation Regimes and the Role of the United Nations: An Evaluation. Contribution of the Advisory Board on Disarmament Matters to the High-Level Panel on Threats, Challenges, and Change, United Nations Department on Disarmament Affairs, Occasional Paper 8, New York 2004, S. 55/56.

12) Siemon T. Wezeman: The future of the United Nations register of conventional arms, Solna: SIPRI, 2003 SIPRI Policy Paper No. 4); http://editors.sipri.se/pubs/UNROCA.pdf.

13) Elli Kytömäki/Valerie Yankey-Wayne: Implementing the United Nations Programme of Action, Genf, UNIDIR 2004.

14) Vgl. Anmerkung 11.

15) Ich habe mich hierzu andernorts ausführlich geäußert und will das hier nicht verdoppeln. Vgl. Harald Müller: Multilaterale Abrüstung in der Krise. Die Vorschläge des High-level Panels und des UN-Abrüstungsbeirats zur Verbesserung der Nichtverbreitungsregime, in: Vereinte Nationen, 53 (2), April 2005, S. 41-45.

Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Vorsitzender des Beratungsausschusses zu Abrüstungsfragen (Abrüstungsbeirat) des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.

Neue Sicherheitsdiskurse

Neue Sicherheitsdiskurse

Vom »erweiterten Sicherheitsbegriff« zur globalen Konfliktintervention.

von Lothar Brock

Seit Ende der 1980er Jahre vollzieht sich auf breiter Front eine rhetorische »Versicherheitlichung« von nicht-militärischen Politikfeldern: Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Diskriminierung und neue Krankheiten (Aids) werden als nicht-militärische Gefährdungen von Sicherheit ausgewiesen. Die Anstöße dazu kamen aus der Zivilgesellschaft. Sie hoffte, mit Hilfe eines »erweiterten Sicherheitsbegriffs« Aufmerksamkeit und Ressourcen für die von ihr vertretenen Anliegen zu mobilisieren und die Sicherheitspolitik zu entmilitarisieren. Was ist erreicht worden? Heute ist der »erweiterte Sicherheitsbegriff« eine Standardformel, auf die sich auch die Hohe Politik gerne beruft – vom Sicherheitsrat der UNO bis zum Nationalen Sicherheitsrat der USA. Das High Level Panel, das im Dezember 2004 seinen Bericht zur Reform der UNO veröffentlichte, und Generalsekretär Kofi Anan, dem dieser Bericht als Vorlage für die eigenen Vorschläge diente, gingen ebenso wie der Sachs-Bericht zu den Millennium Development Goals von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus. Das wurde allgemein mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Ein Durchbruch auf der ganzen Linie? Zweifellos. Aber der vom Generalsekretär angestrebten Reform der Vereinten Nationen hat das nicht viel geholfen, und der Erfolg, den das allseitige Bekenntnis zu einem erweiterten Sicherheitsbegriffs bedeutet, könnte sich noch als Pyrrhussieg erweisen – dann nämlich, wenn die Militärpolitiker aus der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mehr Nutzen zögen als die Befürworter einer zivilen Konfliktbearbeitung. Ob eine solche Befürchtung berechtigt ist und was daraus gegebenenfalls folgen würde, soll hier in aller gebotenen Kürze erörtert werden.1

Die bisherige Bilanz der neuen Sicherheitsdiskurse ist gemischt. Auf der einen Seite ist es unter Berufung auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu einer erstaunlichen Ausdifferenzierung nicht-militärischer Formen der Konfliktbearbeitung gekommen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich eine regelrechte »Industrie« zur konzeptionellen Innovation auf dem Gebiet der zivilen Konfliktintervention, der Krisenprävention und der Friedenskonsolidierung herausgebildet. Diese Entwicklung ist von Anfang an in enger Wechselwirkung von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik vonstatten gegangen und hat inzwischen zu einer Professionalisierung der zivilen Konfliktbearbeitung geführt, die über das hinausgeht, was die Agenda für Frieden des damaligen UN-Generalsekretär, Boutros Boutros-Ghali, 1992 erwarten ließ. Was dabei die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so ist die Kooperation zwischen dem BMZ und der GTZ auf der einen Seite, und den auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung tätigen Nicht-Regierungsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen im Rahmen der Gruppe Friedensentwicklung2 institutionalisiert worden. Die Bundesregierung unterstützt die Ausbildung von Friedensfachkräften und hat selbst beim Auswärtigen Amt ein Zentrum für Internationale Friedenseinsätze eingerichtet, das u.a. Personal für die inzwischen zur Routine gewordenen Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausbildet. Die Bundesregierung hat außerdem in engem Austausch mit der hiesigen Zivilgesellschaft einen Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« erarbeitet und im Mai 2004 verabschiedet. Sie schließt damit an Länder wie Großbritannien, die Niederlande und Norwegen an, die auf dem Gebiet der zivilen Konfliktbearbeitung eine Avantgardefunktion erfüllen.

Aber der Auf- und Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung ist keineswegs gleichbedeutend mit einem Rückgang militärischer Interventionspraktiken. Im Gegenteil. Die verstärkten Bemühungen um eine Zivilisierung der Konfliktbearbeitung korrelieren zeitlich mit einer Ausweitung militärischer Einsatzoptionen. Die Territorialverteidigung weicht der globalen militärischen Konfliktintervention. NATO und EU sind dabei, sich militärische Eingreifverbände zuzulegen, die in kurzer Zeit an beliebigen Orten der Welt eingesetzt werden können. Die Bundeswehr ist heute mit 7.200 Soldatinnen und Soldaten an Friedensmissionen beteiligt. Tendenz steigend. Dem stehen 5.000 internationale Fachkräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegenüber.3 Tendenz gleichbleibend, wenn nicht fallend.4 Diese Entwicklung ist teilweise eingebunden in Bemühungen um einen Ausbau kollektiver Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen nach Kapitel VII der UN-Charta. Das ist erfreulich. Aber die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs geht auch mit einer Erweiterung des Begriffs der Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) einher und auf diesem Wege mit einer »Enttabuisierung des Krieges«5 als Mittel der internationalen Politik. Die kollektive Friedenssicherung steht dementsprechend unter dem Vorbehalt der einzelstaatlichen Gewaltanwendung, heute mehr als bei der Ausformulierung der Agenda für Frieden. Und nicht nur das: Während der erweiterte Sicherheitsbegriff in aller Munde ist, drohen die Hauptprotagonisten einer diesem Begriff entsprechenden Politik, die liberalen Demokratien, sich selbst zu Sicherheitsstaaten zu wandeln, in denen die Freiheit des Einzelnen erneut unter den Vorbehalt behördlicher Ermessensentscheidungen gestellt wird.6

Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, so meine These, ist politisch ambivalent: sie kann genutzt werden, um die Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung zu unterstreichen, aber ebenso dazu, eine Erweiterung militärischer Sicherheitspolitik nach außen und die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten nach innen zu rechtfertigen. Dieser politischen Ambivalenz des Begriffs entspricht seine analytische Unschärfe. Er eskamotiert Widersprüche und Zielkonflikte statt sie aufzudecken. An die Stelle einer Analyse des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung, Staatszerfall, kultureller Fremdbestimmung, Aufkommen neuer Krankheiten und Gewalt tritt die rhetorische Gleichschaltung der einschlägigen Politikfelder (Entwicklungszusammenarbeit, Aids-Bekämpfung, Stärkung des Sicherheitssektors und Anerkennung kultureller Differenz als Sicherheitspolitik). Diese Unschärfe des erweiterten Sicherheitsbegriffs ist einer der Gründe für seine politische Ambivalenz. Da er alles meint, kann sich jeder bedienen. Und nicht nur das: die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ist gleichbedeutend mit einer Erweiterung des Spektrums von Bedrohungen, mit denen die Menschen konfrontiert werden. Die Ausweitung von Bedrohungsgefühlen aber fördert nach aller Erfahrung eher die Akzeptanz militärischer Vorsorge oder militärischer Eingriffe in akute Konflikte als die politische Bereitschaft, sich auf langwierige zivile Formen der Konfliktbearbeitung einzulassen. Von daher besteht kein Anlass, die Anerkennung neuer Bedrohungen und jetzt auch der »responsibility to protect«7 durch die Hohe Politik als Durchbruch zu einer anderen Sicherheitspolitik zu feiern.

Vom Frieden zur (Un-)Sicherheit

In den frühen Jahren der Friedens- und Konfliktforschung wurde über den Friedensbegriff gestritten. Dabei ging es vor allem um die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden. Der negative Friede galt weitgehend als unzulänglich; denn er konnte ja auch einen Friedhofsfrieden, einen Frieden der gewaltsamen Befriedung umfassen und sich als trügerischer Firnis über struktureller Gewalt erweisen. Die flächendeckende Militarisierung politischer Herrschaft in Lateinamerika im Verlaufe der 1970er Jahre bot dafür in der Tat ein niederschmetterndes Beispiel. Der Frieden wurde dort mit Hilfe einer brutalen Repression hergestellt. Folgerichtig wurden die nationalen Befreiungskriege von Vielen als Kriege zur Herstellung eines positiven Friedens (stillschweigend) gerechtfertigt. Aber mit Blick auf die Konfrontation der Supermächte und die Möglichkeit eines Nuklearkrieges hatte der negative Friede doch auch eine positive Seite, und diese positive Seite wurde mit dem Begriff der Sicherheit belegt.

Paradoxerweise rückte der Sicherheitsbegriff im Laufe der 1980er Jahre in dem Maße in den Vordergrund der einschlägigen Debatten, in dem die Gefahr eines Nuklearkrieges zurückging – bis hin zu dem Punkt, an dem der Friedensdiskurs zu einem Sicherheitsdiskurs wurde.8 Der vollständige Umschlag erfolgte spätestens mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Kunststück, mit dem dies ohne Gesichtsverlust der Friedensbewegung geschehen konnte, bestand in dem Rekurs auf einen »erweiterten Sicherheitsbegriff«, der den Vorteil bot, für all das zu stehen, was man sich unter einem positiven Frieden nur wünschen konnte. Der erweiterte Sicherheitsbegriff ermöglichte es zugleich, jene Gefühle und Bedürfnisse wohlwollend anzusprechen, die in der alten Zuordnung zum negativen Frieden nur unzulänglich und mit einem pejorativen Unterton erfasst worden waren. Diese Gefühle (das Unbehagen an gewaltsam ausgetragenen Konflikten, also auch an Befreiungskriegen) und Bedürfnisse (nach Sicherheit in rasantem Wandel) wollten Friedens-, Umwelt-, Solidaritäts- oder Menschenrechtsgruppen nunmehr strategisch nutzen, um der Hohen Politik die Agenda streitig zu machen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit sowie mehr finanzielle Mittel für Zwecke zu mobilisieren, die bis dahin eher als »low politics« galten: den Schutz der Umwelt, die Durchsetzung der Menschenrechte, die Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung, die Anerkennung kultureller Differenz und nicht zuletzt den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit.

Wie die Einführung des Begriffs »soziale Sicherheit« dazu beigetragen hat, die öffentliche Absicherung privater Lebensrisiken als (Rechts-) Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu untermauern, genauso haben die neuen internationalen Sicherheitsdiskurse dazu beigetragen, die zivile Konfliktbearbeitung als Standard angemessenen Verhaltens aufzuwerten. Die zweite große Errungenschaft der neuen Sicherheitsdiskurse besteht zweifellos darin, dass der Einzelne als Objekt der internationalen Sicherheitspolitik gegenüber der bislang vorherrschenden Fixierung auf den Staat in das Blickfeld der internationalen Politik gerückt worden ist. Das Denken in Kategorien der nationalen Sicherheit wird durch die Einführung der Kategorie der menschlichen Sicherheit zumindest ansatzweise aufgebrochen.

Wie sich heute auch hierzulande zeigt, bietet die »soziale Sicherheit« aber selbst dort, wo sie als Standard angemessener Ansprüche anerkannt wird, keine Sicherheit gegenüber dem Versuch, eine erneute Privatisierung der Vorsorge zu forcieren, wobei dies vorzugsweise als Maßnahme zur Rettung der sozialen Sicherheit unter sich wandelnden Umweltbedingungen (Globalisierung) »verkauft« wird. Genauso wenig bietet die allgemeine Akzeptanz eines erweiterten Sicherheitsbegriffs ein verlässliches Bollwerk gegen die Versuchung der Politik, bei wachsendem Handlungsdruck die zivile Konfliktbearbeitung als Follow up eines militärischen Eingriffs zu handhaben und dabei die »human security« unter die nationale Sicherheit zu subsumieren. Der politische Stellenwerte der »menschlichen Sicherheit« im Sinne der »responsibility to protect« wächst in dem Maße, in dem sie mit den so verstandenen nationalen Sicherheitsinteressen potentieller Interventen übereinstimmt. Das zeigt sich gerade in Verbindung mit den militärischen Großereignissen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, nämlich mit dem Kosovo-Krieg sowie den Kriegen gegen die Taliban und das Saddam-Regime im Irak.

Von der Sicherheit zum Krieg

Was den Kosovo-Krieg betrifft, so stand hier zwar der demonstrative Bezug auf die Sicherheit von Menschen gegenüber der Sicherheit von Staaten im Vordergrund. Es kann aber weiterhin bezweifelt werden, dass die Möglichkeiten der zivilen Konfliktintervention (z.B. im Rahmen der OSZE-Mission) tatsächlich ausgeschöpft worden waren, als im Oktober 1998 die Entscheidung der NATO zur militärischen Konfrontation (mit der späteren Folge des Krieges) fiel. Auch die Verhältnismäßigkeit des Militäreinsatzes ist weiterhin umstritten, da die Gefährdung menschlicher Sicherheit im Krieg drastisch zunahm (was eigentlich niemanden überraschen konnte). Darüber hinaus stellte der Kosovo-Krieg den Einstieg in eine Völkerrechtspolitik dar, die darauf abzielt, den einzelstaatlichen Handlungsspielraum bei der Anwendung von Gewalt gegenüber den Restriktionen der UN-Charta auszuweiten. Diese Politik kam gegenüber Afghanistan und Irak voll zum Zuge. In beiden Fällen beriefen sich die USA zwar auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Dies geschah aber in einer Weise, die die Anwendung von Gewalt in das weitgehend freie Ermessen der intervenierenden Staaten stellte.

Dieser Völkerrechtspolitik traten die zivilgesellschaftlichen Sicherheitsdiskurse zwar in aller Regel entgegen, anderseits waren sie selbst an ihrer Herausbildung ungewollt beteiligt. Unter dem Eindruck des Ausmaßes der Gewalt in zahlreichen innerstaatlichen Konflikten und der Schwierigkeit zu bestimmen, wie auf diese Gewalt angemessen reagiert werden könne, bedienten sich die zivilen Sicherheitsdiskurse des Vokabulars der »neuen Kriege«, der »humanitären Intervention« und selbst des »gerechten Krieges«. Das Reden von den »neuen Kriegen« trug dazu bei, ein breites öffentliches Interesse für die Gewaltkonflikte im Süden und im ehemaligen sozialistischen Lager zu wecken. Zugleich suggerierte es, dass die alten völkerrechtlichen Regeln gegenüber diesen neuen Kriegen nicht mehr gelten konnten (und sollten). Die rasche Verbreitung der Denkfigur der »humanitären Intervention« konnte einerseits als Ausdruck der »Macht der Moral« verstanden werden, bedeutete aber andererseits, dass es fortan gegenüber den Staaten, in denen die »neuen Kriege« stattfanden, zweierlei Souveränität geben würde – die unantastbare Souveränität der liberalen Demokratien, die nicht bereit waren und sind, sich in verbindlicher Form einer kollektiven Friedenssicherung zu unterwerfen, und die eingeschränkte Souveränität der »failed states« oder der Schurkenstaaten, denen gegenüber sowohl das Interventionsverbot der UN-Charta (Art. 2/7) als auch das Gewaltverbot (Art. 2/7) nicht gelten sollen. Hier drängt sich ein Vergleich mit den Gefangenen in Guantanamo auf, denen wie den Schurkenstaaten ein Anspruch auf einschlägigen Rechtsschutz abgesprochen wird.

Das inzwischen wieder abflauende Reden von der »humanitären Intervention« unterstützte insofern die auf Handlungsfreiheit ausgerichtete Völkerrechtspolitik der liberalen Demokratien, als es die Unterscheidung zwischen kollektiver Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta und einer unilateralen oder bündnisgestützter Ausübung von Zwangsgewalt verwischte. Wenn Menschen in Not sind, so unterstellt die Denkfigur der »humanitären Intervention«, ist das eine hinreichende Rechtsgrundlage für ein Eingreifen – zumal wenn der Sicherheitsrat als einzige Instanz, die die Anwendung von Gewalt autorisieren darf, nicht handlungsfähig ist oder zu sein scheint.

Dieser Effekt war bei der Rückbesinnung auf den »gerechten Krieg« noch deutlicher. Wie sattsam diskutiert, kann die Lehre ebenso zur Legitimation wie zur Kritik von Kriegen herangezogen werden. Aber der Streit darüber, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht sei, geht an der Sache vorbei. Das Konzept selbst ist »ungerecht«, da es einer Logik verhaftet bleibt, nach der der Einzelstaat in einem Streit zugleich Partei und (Rechts-) Instanz ist. In diesem Sinne liegt das ausschlaggebende Problem darin, dass dieser Ansatz es letztlich dem Einzelstaat vorbehält, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit militärischen Handelns zu befinden. Damit höhlt auch dieses Konzept die Idee der kollektiven Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta aus.

Selbst die Denkfigur der »menschlichen Sicherheit« ist nicht ganz so unschuldig, wie sie daher kommt. Die Aufwertung von Menschen gegenüber Staaten als Subjekte legitimer Sicherheitsansprüche stützte die Argumentation, dass es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zum Schutz von Menschen vor rechtloser Gewalt gibt. Die Anerkennung dieser Verantwortung ist ein Fortschritt, der sich auch in der Aufwertung des Einzelnen als Völkerrechtssubjekt (vor allem im Bereich der Menschenrechte) zeigt. Wenn aber die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung nicht an feste Regeln gebunden wird, erweitert das Reden in Kategorien der »menschlichen Sicherheit« das Spektrum der Gründe, die für eine interventionistische Politik ins Feld geführt werden können. In diesem Sinne warnt das BMZ zu Recht vor der Gefahr, durch den Bezug auf einen humanitär begründeten Handlungsbedarf „eine völkerrechtliche Beliebigkeit zu fördern, die Schwellen für militärische Lösungen abzusenken sowie Weiterentwicklung und Nutzung ziviler, vor allem präventiver Handlungsmöglichkeiten in den Hintergrund treten zu lassen.“9

Von der erweiterten Sicherheit zum Schutz vor rechtloser Gewalt

Um dieser Gefahr entgegenzutreten, plädiere ich für einen engen Sicherheitsbegriff, nämlich Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt. Das eröffnet die Möglichkeit, die Aufgabenstellung der Sicherheitspolitik zu präzisieren. Es geht nicht um das gute Leben an sich, sondern um die Aufgabe, Menschen zu befähigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt auszutragen. Dieser Aufgabe sind insofern Grenzen gesetzt, als die Fähigkeit zu gewaltfreiem Konfliktaustrag nie gleichmäßig und umfassend ausgebildet werden kann. Deshalb ist der »zivilisatorische Prozess« nicht gleichbedeutend mit der Überwindung von Gewalt, sondern mit der Eindämmung rechtloser Gewalt, also der Selbstjustiz. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist dementsprechend das allgemeine Gewaltverbot und das Gebot der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI UN-Charta) mit Vorkehrungen zur kollektiven Friedenssicherung (Kapitel VII) verbunden worden, die die Anwendung von Zwangsgewalt nach Ausschöpfung aller anderen Mittel einschließt. Daraus folgt zweierlei: Der Vorrang der zivilen vor der militärischen Konfliktintervention und die Bindung militärischer Konfliktintervention an das Regelsystem der Charta. Bei der Gewährleistung von Sicherheit als Schutz vor rechtloser Gewalt bezieht sich das Kriterium »Recht« also immer auf beides: die Situation vor Ort und die Art und Weise, wie in diese Situation eingegriffen wird. Der so verstandene enge Sicherheitsbegriff ist also reflexiv. Er schließt die Selbstbeobachtung der Sicherheitspolitik als Politik, die ständig in Gefahr ist, neue Unsicherheit zu produzieren, ein.

Bei genauerer Betrachtung geht es auch bei der zivilen Konfliktbearbeitung nicht um einen weiten, sondern um einen engen Sicherheitsbegriff wie er hier verstanden wird. Auch die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung konstatiert einen Primat der zivilen vor der militärischen Konfliktbearbeitung und die strikte Bildung militärischer Eingriffe an die Regeln des UN-Systems. Die Idee der zivilen Konfliktbearbeitung beruft sich insofern unnötiger und – wie oben gezeigt wurde – fahrlässigerweise auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff. Unnötig ist der erweiterte Sicherheitsbegriff, weil er nichts zur normativen Begründung ziviler Konfliktbearbeitung (viel aber zur Verwirrung der Probleme, um die es geht) beiträgt; fahrlässig ist die Berufung auf einen weiten Sicherheitsbegriff, weil er das normative Spannungsverhältnis zwischen ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung in der Denkfigur einer umfassenden Sicherheitspolitik aufhebt. Einem Sicherheitsbegriff, der als Schutz vor rechtloser (physischer) Gewalt verstanden wird, ist demgegenüber die Kritik der Gewalt eingeschrieben. Das schließt die Unterscheidung zwischen gesetzlicher und gesetzloser Gewalt ein, weil die Differenz zwischen beiden ja nicht der Politik vorgegeben ist, sondern von dieser selbst (z.B. im Weg der Völkerrechtspolitik) beeinflusst wird. Auf jeden Fall aber ist der Modus der Gewaltanwendung stets selbst Thema eines engen Sicherheitsbegriffs.

Beim Aktionsplan der Bundesregierung vom Mai 2004 ist bemängelt worden, dass er bei der Auflistung von 160 Maßnahmen zur zivilen Konfliktbearbeitung auf politische Prioritätensetzungen verzichtet.10 Er könnte sich von daher als vergebliche Liebesmühe erweisen, da er selbst dem Muster des erweiterten Sicherheitsbegriffs folgt, nämlich gute Dinge zu addieren, wo es eigentlich darum ginge, eine Problematik zu strukturieren. Ein enger Sicherheitsbegriff bzw. die Konzentration auf ein Kernanliegen der Sicherheitspolitik (Schutz vor rechtloser Gewalt) könnte auch in dieser Hinsicht nützlich sein.

Anmerkungen

1) Zu weiteren Überlegungen siehe Lothar Brock, 2004: Der erweiterte Sicherheitsbegriff – Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung, in: Die Friedenswarte 79, Heft 3-4, 323-344; Ders. 2001: Sicherheitsdiskurse ohne Friedenssehnsucht. Zivilisatorische Aspekte der Globalisierung, in: Ruth Stanley (Hrsg.): Gewalt und Konflikt in einer globalisierten Welt. Festschrift für Ulrich Albrecht, Opladen: Westdeutscher Verlag; Ders. 1998: Umwelt und Konflikt in der internationalen Forschung, in: Alexander Carius/Andreas R. Kraemer (Hrsg.): Umwelt und Sicherheit – Herausforderung für die internationale Politik, Berlin: Springer, 39-56.

2) Es handelt sich um eine Arbeitsgemeinschaft von BMZ und GTZ sowie dem Evangelischem Entwicklungsdienst, Misereor, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Plattform zivile Konfliktbearbeitung, dem Konsortium Ziviler Friedensdienst und dem Institut für Entwicklung und Frieden der gleichnamigen Stiftung.

3) BMZ 2004: Zum Verhältnis von entwicklungspolitischen und militärischen Antworten auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen (BMZ-Diskurs 1), Bonn, S. 5.

4) Das ist allerdings ein bewusstes Ziel der Entwicklungspolitik, die seit Jahren das Ziel verfolgt, internationale durch einheimische Fachkräfte zu ersetzen. Ibid., S. 12.

5) Geis, Anna 2005: Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen, HSFK-Standpunkte 2.

6) Braml, Josef 2004: Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte durch die Bush-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45, 6-15.

7) International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa: International Development Research Center 2001

8) Krell, Gert 1980: Die Entwicklung des Sicherheitsbegriffs, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 10. 03., S. 33-57.

9) BMZ 2004 (Anm. 3), S. 11.

10) Debiel, Tobias 2004: Wie weiter mit effektiver Krisenprävention?, in: Die Friedenswarte, 79, Heft 3-4, 253-298.

Prof. em. Dr. Lothar Brock ist Forschungsgruppenleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Vorsitzender der Kammer für Entwicklung und Umwelt der EKD

Zweitausend plus fünf

Zweitausend plus fünf

Das Gipfeltreffen der Vereinten Nationen

von Jim Wurst

Das Gipfeltreffen bei den Vereinten Nationen von Mitte September sollte einen Höhepunkt der UN-Diplomatie markieren. Auf dem Gipfel – terminiert auf den 60. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen und den fünften Jahrestag des Milleniumgipfels, auf dem sich die Nationen auf die Milleniums-Entwicklungsziele verpflichtet hatten – sollte ein tatkräftiger Anlauf sein zur Festlegung der Ziele der UN im 21. Jahrhundert und zur Neuorganisation der häufig trägen und sich jeder Rechenschaftspflicht entziehenden UN-Bürokratie. Das »Gipfeldokument« – die Abschlusserklärung des Gipfels – sollte die Schlagworte dafür liefern. Es kam aber ganz anders.

Als die UN-Generalversammlung am Tag vor dem Gipfel schließlich das Dokument verabschiedete, war den ambitionierten Plänen von UN-Generalsekretär Kofi Annan und zahlreichen Regierungen jegliche Substanz entzogen. Einem komplizierten Dokument (dieses ist 35 Seiten lang), das im Konsens abgestimmt wird, wird es immer an Dynamik mangeln, aber in diesem Fall war das Ergebnis so schwach, dass die Diplomaten nicht einmal versuchten, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Einige der drängendsten Fragen wurden bis fast zur Bedeutungslosigkeit verwässert. Die UN-Mitarbeiter und Diplomaten, die federführend mit den Verhandlungen befasst waren, versuchten, das Papier ins beste Licht zu rücken, es hat aber unübersehbare Schwächen. Vor allem konnte keine Einigkeit hergestellt werden über die Reform des Sicherheitsrates oder der Menschenrechtskommission; Abrüstung und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind gar nicht einmal erwähnt. Wer gehofft hatte, das Gipfeltreffen werde ein umfassendes Mandat für die Reform der UN-Verwaltung erteilen, wurde enttäuscht.

„Wir hätten an manchen Textstellen eindeutigere Formulierungen vorgezogen“, sagte Annan nach Annahme des Dokuments auf einer Pressekonferenz. „Manche Regierungen waren nicht zu den nötigen Konzessionen bereit. Es gab in der Gruppe auch Störer, das kann man ruhig offen so sagen.“

Manche Staatschefs wurden in ihren Beiträgen auf dem Gipfeltreffen deutlicher. Der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki nannte die Erklärung „ein klägliches Scheitern.“ Die Aussagen zu den Milleniums-Entwicklungszielen seien „halbherzig, zurückhaltend und lauwarm.“ Zum Konsens sei es nicht gekommen „auf Grund der höchst ungleichen Lebensbedingungen und Interessen unter den Mitgliedsländern der UN sowie des krassen Machtungleichgewichts, das die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten bestimmt.“

Die Schuld für die geplatzten Verhandlungen wurde größtenteils bei den Vereinigten Staaten gesehen, insbesondere bei John Bolton, der sein Amt als UN-Botschafter erst drei Wochen vor dem Gipfeltreffen antrat. Bolton reichte bei den Verhandlungsführern hunderte von Änderungsanträgen zu buchstäblich jedem einzelnen Punkt des Dokuments ein. Insbesondere sollte jegliche Bezugsnahme auf die Milleniums-Entwicklungsziele, Abrüstung, den Internationalen Strafgerichtshof und das Kyoto-Protokoll gestrichen werden. Boltons Vorstoß lieferte anderen Ländern den Vorwand, nun ihrerseits Änderungswünsche einzubringen, und damit liefen die Verhandlungen rasch aus dem Ruder.

Bolton verteidigte seinen Ansatz, den Text Zeile für Zeile durchzugehen, mit der Begründung, es sei wichtig, offen zu sein „und sehr ehrlich mit den anderen Delegationen, was für Änderungen wir sehen wollen. Ja, ich denke sogar, dass andere Regierungen nur auf die Gelegenheit gewartet haben, und sie sollen diese Gelegenheit auch kriegen; schließlich ist das kein Text, der von namen- und gesichtslosen Schreiberlingen diktiert werden darf.“

Die Vereinigten Staaten waren nicht die einzigen Störer. Bei der Erweiterung des Sicherheitsrates wurde kein Durchbruch erzielt, weil Staaten der unterschiedlichen Regionalgruppen Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien nicht überwinden konnten und sich nicht auf Kandidaten für einen Ständigen Sitz im erweiterten Sicherheitsrat einigen konnten. Die Entwicklungsländer zögerten, die Macht des Generalsekretärs zu sehr auszuweiten, weil sie befürchteten, dass sich das Machtzentrum dann von der Generalversammlung (wo die schwächeren Staaten mehr Einfluss haben) hin zum Generalsekretariat verschieben würde. Viele Entwicklungsländer waren auch nicht glücklich mit dem Konzept der »Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung«, weil sie befürchteten, es verschaffe den mächtigeren Staaten die Lizenz, sich in die Angelegenheiten schwächerer Staaten einzumischen. Nichtregierungsorganisationen beschwerten sich, dass die Länder, die sich in der Öffentlichkeit für bestimmte Schlüsselthemen stark machen –wie zum Beispiel Großbritannien bei der Armutsbekämpfung – in den Verhandlungen nicht stark genug für eindeutige Formulierungen einsetzten.

„Bei meinen Diskussionen mit den Mitgliedstaaten (…) habe ich versucht, ihnen klar zumachen, dass wir in unserer so eng miteinander verzahnten Welt die Themen von einem breiteren Blickwinkel angehen müssen anstatt aus Sicht der enger gefassten nationalen Interessen, und dass man bei der Suche nach kollektiven Interessen (…) nicht automatisch davon ausgehen sollte, dass die kollektiven Interessen den eigenen nationalen Interessen entgegenstehen,“ sagte Annan. „Aber es besteht die Tendenz, den Blick nach innen auf die nationalen Bedürfnisse zu richten anstatt auf das größere Bild. Ich muss sagen, bei diesem Prozess in den vergangenen Wochen haben sich offensichtlich einige Delegationen auf die Bäume konzentriert und darüber den Wald übersehen.“

Entwicklung

Die größte Waldparzelle waren in diesem Fall die Milleniums-Entwicklungsziele. Es wurde erwartet, dass der Gipfel die Verpflichtungen bestätigt, die die Regierungen bezüglich Armutsbekämpfung, verbessertem Zugang zu sauberem Wasser, Gesundheitsversorgung und Bildung und der Erhöhung der Lebenserwartung von Kindern eingegangen waren. Bulletins aus Kofi Annans Büro betonen, dass der Gipfel neue finanzielle und institutionelle Anstrengungen zur Förderung dieser Ziele vereinbart hat, darunter zusätzlich US$ 50 Milliarden zur Bekämpfung der Armut und vermehrte Anstrengungen der reichsten Länder, ihre öffentlichen Entwicklungshilfebudgets aufzustocken. Manche Regierungen waren allerdings nicht sonderlich beeindruckt vom Gipfelergebnis. Der argentinische Präsident Nestor Carlos Kirchner beispielsweise bezeichnete die Ergebnisse als „alles andere als zufrieden stellend“ und führte dies überwiegend auf die „mangelnde Übereinstimmung zwischen Worten und Taten“ zurück.

Bob Geldorf, Sänger und treibende Kraft hinter den Live Aid- und Live 8-Benefizkonzerten, gestand, falls die Überprüfung der Milleniums-Entwicklungsziele „Gradmesser für den Gipfel ist, dann bin ich eher enttäuscht.“ Der UN-Gipfel hätte an das Programm zur Armutsbeseitigung des G8-Gipfels vom vergangenen Sommer anknüpfen müssen, meint er. Wenn die Welt das Armutsproblem nicht lösen kann, dann „sollten wir uns schämen,“ so Geldorf bei einer Pressekonferenz.

US-Präsident George W. Bush, dessen Botschafter zuvor – allerdings erfolglos – versucht hatte, die Milleniums-Entwicklungsziele ganz aus dem Gipfeldokument zu streichen, sagte beim Gipfeltreffen: „Wir sind den Milleniums-Entwicklungszielen verpflichtet (…) Wir haben eine moralische Verpflichtung, anderen zu helfen – und eine moralische Pflicht, die Effektivität unseres Handelns sicherzustellen.“ Armutsreduzierung setze voraus, dass die »Schuldenlast« aufgehoben und der Handel ausgedehnt werde, sagte er. „Wir müssen zusammenarbeiten (…) und Landwirtschaftssubventionen abschaffen, die den Handel verzerren und die Entwicklung hemmen, sowie Schutzzölle und andere Handelshemmnisse beseitigen, um Landwirten von allen Erdteilen den Zugang zum Markt zu verschaffen.“

Zu Gesundheitsfragen – insbesondere HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose – versprachen die Regierungen, mehr Mittel für den Kampf gegen Infektionskrankheiten zu mobilisieren und die Unterstützung für den Globalen Verbund der Weltgesundheitsorganisation zur Warnung und Reaktion bei Krankheitsausbrüchen zu erhöhen.

Abrüstung

Regierungen und Experten von Nichtregierungsorganisationen beklagen zwar, dass das Dokument im Rahmen der Konsensfindung erheblich an Substanz verloren hat; das Kapitel über »Abrüstung und Nichtverbreitung« ist aber als einziges Schlüsselthema komplett aus dem Papier verschwunden. Der erste Entwurf von Anfang Juni rief die Staaten dazu auf, „Verhandlungen zu verfolgen und zu verstärken im Hinblick auf Fortschritte bei der allgemeinen und vollständigen Abrüstung und das internationale Nichtverbreitungsregime.“ Eine ganze Reihe der einschneidenden Änderungswünsche von John Bolton bezog sich auf dieses Kapitel. Er schlug vor, die Abrüstung ganz zu streichen, und verschob den Schwerpunkt komplett auf die Nichtverbreitung. So wollte er zum Beispiel den Satz „Wir betonen, dass Fortschritte auf dem Gebiet der Abrüstung und Nichtverbreitung unerlässlich sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu festigen (…)“ ersetzen durch den Satz „Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Möglichkeit, dass Terroristen Zugriff auf solche Waffen erhalten, bleibt die größte Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit.“

Kaum lagen die US-Vorschläge auf dem Tisch, fühlten sich Diplomaten anderer Länder, die zuvor ihre Einwände zurückgehalten hatten, frei, ihrerseits Änderungsvorschläge einzubringen, die wiederum für andere Staaten unannehmbar waren. Als die USA versuchen, das Kapitel ganz auf Nichtverbreitung zu beschränken, brachten Länder wie Indien und Pakistan (die dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag nicht angehören) Formulierungen ein, die die Verpflichtung zur Abrüstung betonten und jeden Bezug auf den Nichtverbreitungsvertrag ausließen. Nachdem die Vorschläge und Gegenvorschläge vorlagen, „konnten wir nicht mehr hinter die Balance zwischen Nichtverbreitung und Abrüstung zurück“, die sich in früheren Entwürfen widergespiegelt hatte, sagte ein europäischer Diplomat, als es mit den Verhandlungen bergab ging.

Terrorismus

War die Diskussion zur Abrüstung einfach peinlich – Kofi Annan nannte sie „eine echte Schande“ – gab es bei anderen Sicherheitsthemen gewisse Fortschritte. Die internationale Gemeinschaft arbeitet seit Jahren, und seit den Terrorangriffen auf die Vereinigten Staaten vom September 2001 mit noch mehr Nachdruck, an wirksameren Strategien zur Bekämpfungen von Terrorismus. Hier kam der Gipfel etwas weiter. Das Gipfeldokument enthält die uneingeschränkte Verurteilung von Terrorismus: „Wir verurteilen mit Nachdruck den Terrorismus in allen seinen Arten und Erscheinungsformen, gleichviel von wem, wo und zu welchen Zweck er begangen wird (…)“ Es gab außerdem neue Zusagen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, um Terroristen ihre Handlungen zu erschweren.

Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung

Überlegungen, dass der Schutz des Individuums manchmal Vorrang hat vor der nationalen Souveränität, werden seit Jahren kontrovers diskutiert. UN-Generalsekretär Kofi Annan brachte das Thema 1999 zur Sprache, und einige Jahre danach befasste sich ein Gremium unter kanadischer Führung ausführlicher damit, wie das Konzept umgesetzt werden könnte. Während die Befürworter der Doktrin der »Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung« argumentieren, sie sei eine notwendige Weiterentwicklung der Art und Weise, wie auf Sicherheitsbedenken reagiert wird, liefert sie aus Sicht der Gegner den mächtigen Staaten die Rechtfertigung, in schwächeren Staaten zu intervenieren. Im Gipfeldokument konnten sich die Befürworter durchsetzen.

Der kanadische Premierminister Paul Martin meinte, die neuen Richtlinien versuchten, „Regeln [aufzustellen] zum Schutz Unschuldiger vor empörenden Angriffen auf ihr Leben und ihre Würde. Sie segnen keine unilateralen Aktionen ab. Sie treten ganz im Gegenteil ein für klare, multilateral abgestimmte Kriterien, was die internationale Gemeinschaft tun sollte, wenn Zivilisten in Gefahr sind.“ Auf der anderen Seite sagte Hugo Chavez, der Präsident von Venezuela, „die so genannte Pflicht zum Schutz [steht] nicht in Einklang mit einem effektiven Völkerrecht.“

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nannte die Formulierungen „einen historischen Schritt (…) Die Führer der Welt haben die ‚Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung’ anerkannt, das heißt, die Verantwortung, angesichts von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzugreifen. Diese Verpflichtung – das Ergebnis der schändlichen Geschichte internationaler Untätigkeit an Orten wie Ruanda, Srebrenica und Darfur – ist ein wichtiger Schritt hin zu einer sichereren Welt.“

Kommission für Friedenskonsolidierung

Ein Reformvorschlag, der UN-Friedenssicherungsmaßnahmen mehr Gewicht bei der Veränderung des internationalen Umfeldes zuweist und die Verhandlungen relativ unbeschädigt überstand, ist die Einsetzung einer Kommission für Friedenskonsolidierung. Der Gipfel stimmte der Einrichtung der Kommission zu, die die Aufgabe hat, bis Ende dieses Jahres „sämtliche maßgeblichen Akteure zusammenzubringen, um Ressourcen zu mobilisieren [und] zu integrierten Strategien für die Friedenskonsolidierung und den Wiederaufbau nach Konflikten Rat zu erteilen (…)“ Wie gut das gelingt, muss sich erweisen, denn die Formulierung „sämtliche maßgeblichen Akteure“ schließt Regierungen, regionale Organisationen, internationale Geld- und Währungsorganisationen und mehrere UN-Organisationen ein, so dass die Bühne für Revierkämpfe bei jedem einzelnen Schritt, der unternommen wird, schon bereitet ist.

Menschenrechtsrat

Eines der wenigen Themen, bei denen sich die UN-Kritiker von links bis rechts einig sind, ist der Mangel an Handlungsfähigkeit der UN-Menschenrechtskommission. Die Kommission, die sich mehrmals im Jahr trifft, wurde zur Heimstatt schwerer Menschenrechtsverletzer wie Sudan, die wirksames Handeln gegen Menschenrechtsverletzungen in der Regel blockieren. Der ursprüngliche Vorschlag sah vor, die Kommission abzuschaffen und durch einen Menschenrechtsrat zu ersetzen, dessen Statuten solchen Missbrauch verhindern sollten. Anstatt diesen Vorschlag einfach abzulehnen, schafften es die Gegner dieser Änderung erfolgreich, die Einrichtung des Rates auf dem Gipfel zu verhindern und die Entscheidung statt dessen an die Generalversammlung zu überweisen, wo sie die Debatte mit verfahrenstechnischen Tricks um Jahre verzögern können. Amnesty International sagte dazu: „Der Menschenrechtsrat ist beklagenswert unzulänglich, insofern es nicht gelang, die minimalen Grundelemente festzuschreiben, die für ein wirksameres und maßgeblicheres Menschenrechtsgremium unabdingbar sind. Die jetzige Lösung bietet der Welt kaum mehr als die diskreditierte Menschenrechtskommission unter neuem Namen.“

Anmerkung

Die deutsche Übersetzung des UN-Gipfeldokuments vom September 2005 steht unter www.un.org/Depts/german/gv-sonst/a-60-l1final.pdf.

Jim Wurst ist freiberuflicher Journalist bei den Vereinten Nationen in New York. Übersetzt von Regina Hagen

Eine Kriegserklärung: John Bolton und die UNO

Eine Kriegserklärung: John Bolton und die UNO

von Phyllis Bennis

Die Bush-Administration hat der Welt den Krieg erklärt. Die von Washington geforderten 750 Änderungen am Aktionsprogramm für das Treffen der Vereinten Nationen im September 2005 haben allesamt nichts mit einer UN-Reform, der Stärkung der Vereinten Nationen oder internationalem Recht zu tun. Der Gipfel sollte das Augenmerk auf die Stärkung und Reformierung der UN sowie Themen wie Entwicklungshilfe – mit einer besonderen Betonung auf der Umsetzung der fünf Jahre alten UN-Milleniumsziele (Millenium Development Goals, MDGs) – legen. Die Meisten erwarteten ein Forum, das, unter Beteiligung von Aktivisten der Zivilgesellschaft aus allen Teilen der Welt, die Regierungen des verarmten Südens und des reichen Nordens, ebenso wie die Vereinten Nationen selbst, dazu auffordert, eine brauchbare globale Kampagne gegen Armut und für Internationalismus auf die Beine zu stellen. Dann aber gab es eine andere, viel größere Herausforderung: Die Aussagen von John Bolton, Präsident George W. Bushs heftig umstrittenem aber dennoch neu ernanntem UN-Botschafter. Sie sind eine Demonstration des US-Unilateralismus, kompromisslos und vormachtheischend. Die Vereinigten Staaten haben damit eine offene Drohung gegenüber den 190 anderen UN-Mitgliedstaaten, den sozialen Bewegungen und den Menschen der ganzen Welt sowie der UNO selber ausgesprochen.

Das nach neun Verhandlungsmonaten im Vorfeld des Gipfels vorgeschlagene Reformpaket der Generalversammlung beginnt mit neuen Verpflichtungen, die Milleniumsziele umzusetzen, die im Jahr 2000 als eine Reihe internationaler Verbindlichkeiten etabliert wurden, mit dem Ziel die Armut bis 2015 zu reduzieren. Sie waren schon immer unzureichend, aber so dünn sie auch sind, sie müssen dennoch umgesetzt werden. Der 2005er „Millenium plus fünf Gipfel“ wollte auf die nicht erfüllten Verbindlichkeiten für diese Ziele aufmerksam machen. In seinen Reformvorschlägen vom März 2005 forderte UN-Generalsekretär Kofi Annan die Regierungen im Norden und Süden dazu auf, die Implementierung der MDGs als Mindestanforderung zu betrachten. Ohne wenigstens dieses geringe Maß an Armutsminderung, sagte er, könnten Konflikte innerhalb und zwischen Staaten so weit außer Kontrolle geraten, dass selbst eine gestärkte und reformierte künftige UN nicht in der Lage wäre, die Gefahren für den internationalen Frieden und die Sicherheit zu beherrschen.

Als John Bolton die Vorschläge der Vereinigten Staaten ankündigte, lag es nahe anzunehmen, er sei schlicht Amok gelaufen. Schließlich stellte Bolton, ein langjähriger Feind der UN, fest: „Es gibt keine Vereinten Nationen.“ Im Wall Street Journal schrieb er, die USA hätten keine gesetzliche Verpflichtung, internationale Verträge einzuhalten, selbst wenn diese unterzeichnet und ratifiziert wurden. Somit war es wenig verwunderlich, dass Bolton drei Wochen vor dem Gipfel mit einem Paket aufkreuzte, das 750 Änderungen in dem Dokument forderte, das fast ein Jahr lang sorgfältig ausgehandelt worden war.

Tatsächlich geht es hierbei aber nicht nur um Bolton. Diese Position wurde in einem „sorgfältigen zwischenbehördlichen Prozess“ überprüft und genehmigt, wie die US-Mission bei der UN prahlt, was soviel bedeutet wie, dass das Weiße Haus, das Außenministerium, das Pentagon und viele andere Agenturen sie durchgewunken haben. Es handelt sich also um ein eindeutiges Statement der offiziellen US-Politik – und nicht um die Wunschliste einiger marginalisierter extremistischer Fraktionen von Ideologen, die bald von den federführenden Realisten in ihre Schranken verwiesen werden. Diesmal waren die Extremisten federführend.

Die Geschichte der Quertreiberei

Dieser jüngste US-Anschlag gegen die UN steht in einer unrühmlichen Tradition. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA eine groß angelegte Attacke auf die Vereinten Nationen starten. Von den Nachkriegsanfängen 1945, als die Vorläufer der CIA die Büros und Hotelräume aller 50 Delegationen während der UN-Gründungsversammlung in San Fransisco verwanzten, über die Gewährung des Vetorechts für die wenigen Auserkorenen im Sicherheitsrat und die Marginalisierung der UNO während des gesamten Kalten Krieges, bis hin zur unter Reagan begonnen und von da ab ständigen Gewohnheit, der globalen Organisation die US-Gebühren vorzuenthalten. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und der UN ist eine Geschichte der Dominanz und – zumindest in einigen Fällen – eine des Widerstands.

Nachdem die US-Delegation eine führende Rolle bei der Schaffung der Vereinten Nationen gespielt hatte, gab es in ihr immer zwei Strömungen. Auf der einen Seite gab es innerhalb des US-Teams brillante Internationalisten, die sich der Errichtung einer wirklich globalen Organisation verpflichtet fühlten, die die »Plage des Krieges beenden« und weltweit Menschenrechte und Freiheiten stärken wollten. Aber die meisten von ihnen bekleideten innerhalb der offiziellen Delegation unwichtige Posten oder wurden, wie Eleanor Roosevelt, vollständig in das parallele Zivilgesellschaftsteam verbannt, das neben, nicht innerhalb der offiziellen Delegation des Außenministeriums arbeitete. Die gleichzeitig kollaborative und konfrontative Beziehung zwischen diesen beiden Flügeln spiegelte die zwei Strömungen wider, die bald innerhalb der im Entstehen begriffenen Vereinten Nationen zu Tage traten: der permanente Konflikt zwischen Macht und Demokratie.

Während des Kalten Krieges blieben die UN weitestgehend paralysiert. Die US-amerikanisch-sowjetischen Spannungen und die Machtpolitik der Noch-Kolonialmächte verhinderten eine wichtige Rolle der UN bei der Eindämmung der ersten heißen Kriege im Zeitalter des Kalten Krieges, einschließlich der beiden indochinesischen Kriege. 1950 zwangen die USA die Vereinten Nationen auf ihre Seite, sie erreichten die Billigung des Korea-Krieges, schufen damit aber gleichzeitig einen Präzedenzfall, dem Vormachtstreben der USA und der anderen Großmächte etwas entgegenzusetzen.

Der unter dem Namen »Uniting for Peace«-Resolution bekannte Präzedenzfall fiel in die Zeit unmittelbar nach der chinesischen Revolution 1949, in der der Volksrepublik der Sitz Chinas im UN-Sicherheitsrat verwehrt wurde. Den besetzte die zu dieser Zeit besiegte nationalistische Exilregierung in Taiwan. Aus Protest dagegen, dass China sein rechtmäßiger Sitz verweigert wurde, boykottierte die Sowjetunion die Treffen des Sicherheitsrates. Die USA ergriffen die Gelegenheit, an die immer noch kleine, den weithin kolonisierten Teil der Welt nicht repräsentierende und von den USA dominierte Generalversammlung heranzutreten, um eine Resolution zu verabschieden, die den Krieg gegen Korea autorisierte. Die UN-Charta sah vor, dass eine Entscheidung bezüglich Krieg oder Frieden ausschließlich Sache des Sicherheitsrates war. Aber die Vereinigten Staaten zwangen der Versammlung, die erst im Zuge der Dekolonisierung zu einem demokratischen Element des UN-Systems wurde, ihren Willen mit dem Argument auf, dass angesichts eines handlungsunfähigen Sicherheitsrates die Versammlung einspringen müsse. Und tatsächlich, als die USA und einige wenige alliierte Truppen in Korea einmarschierten, trugen sie die blauen Helme der Vereinten Nationen.

Ironischerweise wird der »United for Peace«- Präzedenzfall, der die UN in den Krieg gegen Korea führte, heute immer wieder herangezogen, um innerhalb der UN-Mechanismen die US-amerikanische Vorherrschaft in anderen Bereichen in Frage zu stellen. Die Palästinenser waren dabei vielleicht am kreativsten, indem sie sich auf diesen Präzedenzfall beriefen, um eine Reihe von Sondersitzungen der Generalversammlung durchzusetzen, mit dem Ziel, Israels illegale Siedlungspolitik anzugreifen, als Washingtons Veto es dem Sicherheitsrat unmöglich machte, etwas zu unternehmen.

Während der 1990er, in der Zeit vorwiegend US-geführter »UN-Interventionen« nach dem Kalten Krieg, versteckte sich Washingtons Instrumentalisierung der Vereinten Nationen natürlich hinter der freundlichen Sprache von Bill Clintons Politik eines »durchsetzungsfähigen Multilateralismus«. Es gab aber Momente, in denen klar wurde, dass die angebliche US-amerikanische Unterstützung der Vereinten Nationen während dieser Jahre kein wirklicher Beweis für Washingtons Unterstützung des Multilateralismus und der Teilung globaler Ressourcen und Macht darstellte. Im Mai 1995 beispielsweise teilte die damalige UN-Botschafterin und spätere US-Außenministerin, Madeleine Albright, einer Gruppe Zeitungsjournalisten in Washington mit, dass „die UN ein Werkzeug amerikanischer Außenpolitik ist.“

Bushs Anschlag auf die UN

Diese ständige Demonstration US-amerikanischer Vorherrschaft, die manche als eine Art »intelligenten Imperialismus« bezeichnet haben, ist jedoch nichts im Vergleich zu der von Bush junior 2001 gestarteten unilateralistischen Offensive. Schon vor den Attacken des 11. September dieses Jahres startete das Weiße Haus in den ersten Monaten unter Georg W. Bush eine beispiellose Eskalation der Angriffe gegen internationale Organisationen und internationales Recht. Weltweit waren viele Menschen und Regierungen in Sorge angesichts der Aussicht, dass George W. Bush, der für seine Geringschätzung anderer Länder bekannt war, Präsident werden würde. Er war ein Mann, der trotz seiner wohlhabenden und privilegierten Kindheit so gut wie nie im Ausland war (die einzige Ausnahme war ein kurzer Besuch in China, während sein Vater dort Botschafter war, und ein kurzer Abstecher über die texanische Grenze nach Mexiko). Bevor jedoch die Anschläge des 11. September diplomatische Widerstände zum Erliegen brachten, hatten Regierungen rund um die Welt begonnen, sich gegen die Vorherrschaftspläne der USA zu wehren und die UN war hier einer der wichtigsten Schauplätze:

  • Im Mai 2001 lehnten es die Mitglieder der Gruppe der »Westeuropäischen und anderen Staaten« (WEOG) in der UN ab, die traditionelle US-Kandidatur für die Menschenrechtskommission zu unterstützen und ersetzten die USA durch Schweden.
  • Die USA verloren ihren Sitz in der UN-Agenda zur Drogenpolitik.
  • Im August scheiterte das US-amerikanische Vorhaben, internationale Unterstützung für den Versuch zu erhalten, die Durban-Konferenz gegen Rassismus zu ruinieren.

Der im Entstehen begriffene Widerstand brach zusammen, als nach dem 11. September die internationale Anteilnahme einsetzte. Aber mit der Vorbereitung des Krieges gegen den Irak schloss sich die UN, dieses Mal sogar weit intensiver, einer sich formierenden massiven globalen Mobilisierung an, um den US-Kriegszug zu stoppen. Diese Zeit der Herausforderung war kurz – sie dauerte nur bis Mai 2003, als die UN unter dem US-amerikanischen Druck kollabierte und einer Resolution zustimmte, die die USA und Großbritannien als Besatzungsmächte im Irak »anerkennt«. Trotzdem ist es wichtig, sich an diese Anti-Kriegs-Bemühungen zu erinnern, wenn man die jüngsten US-Bemühungen sieht, mit denen die UN-Armutsbekämpfungs- und Reformanstrengungen unterminiert werden sollen.

Das amerikanische Vorschlagspaket ist darauf ausgelegt, die Welt dazu zu nötigen, die US-Strategie als ihre eigene zu akzeptieren, verarmte Staaten und Menschen im Stich zu lassen, internationales Recht abzulehnen, rücksichtslose Marktkräfte gegenüber jeglicher Regulierung zu bevorzugen, die Rolle internationaler Institutionen außer IWF, Weltbank und WTO zu minimieren und die UN selbst, möglicherweise tödlich, zu schwächen.

Die systematische Streichung aller 35 speziellen Bezüge auf die Milleniumsziele bildet den Anfang. Jeder Hinweis auf konkrete Auflagen für die Umsetzung der Verpflichtungen wurde gelöscht. Das Planziel von 0.7% des Bruttosozialprodukts der reichen Länder für Entwicklungshilfe – gestrichen. Größere Unterstützung für die Landwirtschaft und Chancengleichheit beim Handel für die ärmeren Länder – gestrichen. Hilfe für die ärmsten Staaten, insbesondere jene in Afrika, die mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen haben – gestrichen.

Die Vorschläge gefährden Verträge, die die USA bereits unterzeichnet haben, wie z.B. den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT). Der Gipfelentwurf der UN bezog sich auf die „drei Säulen [des NPT]: Abrüstung, Nichtverbreitung und die friedliche Nutzung der Atomenergie.“ Das bedeutet, dass Staaten ohne Atomwaffen zustimmen, nie welche zu bauen und zu beschaffen, ihnen aber im Gegenzug das Recht garantiert wird, Atomenergie für friedliche Zwecke zu nutzen. Als Gegenleistung verpflichteten sich die anerkannten Atommächte – die USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland – im Artikel VI des NPT, sich in Richtung „atomarer Abrüstung mit dem Ziel, all diese Waffen zu eliminieren“, zu bewegen. Die amerikanischen Änderungsvorschläge strichen alle Bezüge auf die drei Säulen und auf Artikel VI.

Die Aussage, dass „der Einsatz von Gewalt als ein letztes Mittel betrachtet werden soll“, wurde von den USA gestrichen. Angesichts des »interveniere zuerst und such dir deine Rechtfertigung später«-Ansatzes zur Krisenbewältigung der Bush-Administration war dies ebenfalls nicht überraschend.

Durch das ganze Dokument hinweg forderten die USA Änderungen, die universelle und bindende Rechte und Verpflichtungen neu definieren. In der deutlichsten Bezugnahme auf den Irak und Palästina engte Washington die Definition des »Selbstbestimmungsrechts der Völker« ein, indem diejenigen, die sich „unter Kolonialherrschaft und ausländischer Besatzung befinden“, ausgenommen werden.

Ein Großteil der amerikanischen Bemühungen zielt darauf ab, die Macht der UN zugunsten absoluter nationaler Souveränität zu untergraben – was aus Sicht Washingtons soviel wie uneingeschränkter Unilateralismus bedeutet. Bezüglich der Migration bezog sich beispielsweise die ursprüngliche Aussage auf die Verbesserung internationaler Kooperation, die Verknüpfung von Wanderarbeiterthemen mit Entwicklung und den Menschenrechten von Migranten. Die USA wollen das alles verschrotten und durch „das souveräne Recht der Staaten, ihre Migrationspolitiken zu gestalten und durchzusetzen“, ersetzen, wobei internationale Kooperation lediglich nationale Gesetze unterstützen soll. Menschenrechte wurden vollständig gestrichen.

In dem Abschnitt des Dokuments über die Stärkung der Vereinten Nationen löschten die USA alle Erwähnungen einer Erweiterung der Autorität der UN und konzentrierten sich stattdessen ausschließlich auf ihre Effizienz. Hinsichtlich der Generalversammlung, des demokratischsten Organs des UN-Systems, strichen die USA die Bezüge auf die Zentralität der Versammlung, ihre Funktion bei der Kodifizierung internationalen Rechts und schlussendlich ihre Autorität. Damit würde die Vollversammlung zu einer zahnlosen Quasselbude degradiert. Sie strichen selbst Bezüge auf die Rolle der Versammlung bei Washingtons eigenem Lieblingsprojekt, der Beaufsichtigung des UN-Sekretariats. Damit würde der US-amerikanisch dominierte und undemokratische Sicherheitsrat zusammen mit den Vereinigten Staaten selbst (in der Person eines Beamten des Außenministeriums, der vor kurzem zum Leiter des Managements in Kofi Annans Büro ernannt wurde) zum Wachhund.

Der Herausforderung begegnen

Die Bush-Administration geht davon aus, die Vereinten Nationen vor eine klare Wahl gestellt zu haben: Übernahme der US-amerikanischen Änderungen und Billigung der Tatsache, ein Anhängsel Washingtons und ein Werkzeug des Imperiums zu werden oder deren Ablehnung und damit Abstieg in die Bedeutungslosigkeit.

Aber die Vereinten Nationen könnten eine dritte Option wählen. Sie sollten nicht vergessen, dass sie selber einige Erfahrung im Umgang mit US-amerikanischen Drohungen haben. Präsident George W. Bush stellte die UN im September 2002 vor dieselben zwei Wahlmöglichkeiten, als er dem globalen Gremium mit »Irrelevanz« drohte, falls die UN seine Kriegserklärung gegen den Irak nicht übernahm. Doch die UN ergriff die dritte Option – sie besann sich auf ihre Charta und schloss sich weltweit mit den Menschen und Regierungen zusammen, die „Nein“ zum Krieg sagten. Es waren nicht nur die mächtigen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Russland, die gegen den Krieg waren, der Widerstand erfasste auch kleine, schwache und verarmte Staaten, die früher sehr oft vor amerikanischen Drohungen eingeknickt waren, angesichts der Gefahr, dringend benötigte Hilfe, Handelsmöglichkeiten oder diplomatische Unterstützung zu verlieren. Die »Unentschlossenen Sechs« im Sicherheitsrat – Angola, Kamerun, Chile, Guinea, Mexiko, Pakistan – trotzten dem amerikanischen Druck, und der Sicherheitsrat, wie auch die UN als Ganzes, weigerte sich, klein bei zu geben. Es war der Beginn von acht Monaten des Triumphes, in denen Regierungen und Menschen sowie die UN zusammen standen, um sich dem amerikanischen Streben nach Krieg und Imperium entgegenzustellen. Dabei schufen sie das, was die New York Times „die zweite Supermacht“ nannte.

Damals wie heute haben die USA den Vereinten Nationen und der Welt Krieg angedroht und erklärt. Wie damals ist es Zeit aufzustehen, um die UN zu verteidigen und „Nein“ zum Imperium zu sagen.

Phyllis Bennis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Policy Studies in Washington DC und Autorin des Buches Challenging Empire: How People, Governments and the UN Defy U.S. Power (Interlink Publishing, October 2005). Der Artikel von P. B. wurde am 1. September 2005, also zwei Wochen vor dem Milleniumsgipfel, abgeschlossen. Übersetzung aus dem Englischen: Brigitte Keinath

Menschenrechte und Konfliktprävention

Menschenrechte und Konfliktprävention

Zur Diskussion um die UN-Reform

von Silke Voß-Kyeck

Die Erwartungen waren gemischt, die Reaktionen sind größtenteils positiv, die Umsetzung wird möglicherweise sehr ernüchternd sein. Als Kofi Annan vor zwei Jahren 16 ausgewählte Experten beauftragte, globale Sicherheitsbedrohungen zu analysieren und notwendige kollektive Maßnahmen zu empfehlen, waren viele Beobachter skeptisch, ob dieses Gremium unterschiedlichster altgedienter Persönlichkeiten tatsächlich visionäre und gleichermaßen realistische Vorschläge für den Reformprozess der Vereinten Nationen unterbreiten würde.1 Im Rückblick auf die vergangenen Jahre und in Anbetracht der Angriffe auf die UN und das Völkerrecht im Kontext des Irak-Krieges und der neuen Sicherheitsstrategie der US-Regierung – und damit einer drohenden Rückentwicklung zum »Faustrecht« in den internationalen Beziehungen – war diese Skepsis sicherlich berechtigt. Im Dezember 2004 hat jedoch die Expertengruppe unter dem Titel »Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« eine umfassende und mitunter beängstigende Analyse der seit den Gründungsjahren der UN tief greifend veränderten Welt und größtenteils sehr differenzierte Handlungsempfehlungen vorgelegt. Das Ziel ist eindeutig, die beschädigte Autorität der Vereinten Nationen wiederherzustellen, um den Herausforderungen auf kollektiver Grundlage effektiv begegnen zu können. Das schließt Kritik zu manchen Details nicht aus, sondern ein.

Folgt man den bisherigen Stellungnahmen der Bundesregierung und ihrer diplomatisch-politischen Kampagne für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat, könnte man meinen, die Reform dieses zweifellos anachronistischen Gremiums sei der zentrale Aspekt des Expertenberichts. Diese verkürzte Sicht ist jedoch weder klug noch gerechtfertigt, zumal gerade dies der einzige Punkt ist, bei dem kein Konsens für die Empfehlungen gefunden wurde und die Sicherheitsratserweiterung nur ein Puzzlestein in einem weit größeren Bild ist.

Auch die isolierte Auseinandersetzung mit den Kriterien für die Legalität und Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt wird dem Bericht nicht gerecht, zeigt er doch Lösungsansätze auf, damit es zum Äußersten nicht kommen muss. Das Potenzial der Konfliktprävention und die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes für eine »sicherere Welt« bleiben in der Debatte des Expertenberichts bisher völlig unterbewertet und verlangen deshalb eine besonders sorgfältige und kritische Erörterung.

Kollektive Unsicherheit durch grenzüberschreitende Bedrohungen

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein Begriff von kollektiver Sicherheit, der über die Sicherheit von Staaten hinausgeht und auf drei Grundaussagen beruht:

  • die heutigen Bedrohungen überschreiten nationale Grenzen,
  • kein Staat kann sich alleine schützen und
  • nicht jeder Staat ist stets willens und fähig, seine eigene Bevölkerung zu schützen.

Ein Konsens über die heutigen Bedrohungen wird als Vorbedingung für die Herstellung kollektiver Sicherheit gesehen – und mit der unterschiedlichen Wichtigkeit, die Bedrohungen bislang zugemessen wurde, werden die bisherige Inkonsistenz und Selektivität multilateralen Handelns erklärt.

An erste Stelle setzt der Bericht die wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen durch Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörungen, und somit wird auch Entwicklung als erste aller Präventivmaßnahmen zur unabdingbaren Grundlage kollektiver Sicherheit. Dazu kommen zwischen- und innerstaatliche Konflikte, nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen, Terrorismus und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Die Interdependenz dieser Bedrohungen bestärkt die Notwendigkeit eines neuen Sicherheitsverständnisses zusätzlich.

An der Berechtigung dieser Bedrohungsszenarien kann kaum ein Zweifel bestehen. Ergänzt man aber über die Entwicklungsfrage hinaus das Prinzip kollektiver Sicherheit explizit um die Perspektive »menschlicherSicherheit«, stellt sich die Frage, wie vollständig die Bedrohungsanalyse tatsächlich ist. Denn die Sicherheit von Millionen Menschen weltweit, und Frauen und Mädchen in besonderer Weise, ist durch Verletzungen ihrer elementaren Rechte ganz konkret alltäglich bedroht. Nicht nur delegitimieren systematische Menschenrechtsverletzungen die verantwortlichen Staaten als Elemente des internationalen Systems. Die Gewährleistung aller Menschenrechte für alle Menschen ist das absolut notwendige Minimum, um die Sicherheit und Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Die Menschenrechte sind keine Gefälligkeitsleistungen der Regierungen. Ohne den Schutz des Rechtsstaates, inklusive Mechanismen zur Rechenschaftspflicht, können »Terrorismus-Verdächtige«, GewerkschafterInnen oder AktivistInnen für Zugang zu sauberem Wasser gleichermaßen Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen werden, wie geheime Festnahme, Verhaftung ohne Vorwürfe und Verfahren, Folter und Verschwindenlassen. Die Herausforderung für die Staaten besteht darin, die Sicherheit der Bürger nicht auf Kosten der Menschenrechte verbessern zu wollen, sondern sicherzustellen, dass alle Menschen in den Genuss des gesamten Spektrums ihrer elementaren Rechte gelangen. Wirkliche individuelle wie auch kollektive Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden.

Umso wichtiger ist es, hervorzuheben, dass der Bericht eine ganze Reihe wichtiger Empfehlungen enthält, die in der Diskussion nicht untergehen sollten. Allem voran steht hier der unmissverständliche Hinweis auf den „klaren Widerspruch“ (290)2 zwischen nur 2 Prozent der Haushaltsmittel für das Hochkommissariat für Menschenrechte und der Charta-Verpflichtung, Menschenrechtsschutz zu einem Hauptziel der UN zu machen. Weniger eine Frage der Kosten als des politischen Willens wäre die sofort umsetzbare Empfehlung, die Hochkommissarin für Menschenrechte regelmäßiger in Debatten des Sicherheitsrates einzubeziehen. Das Hochkommissariat kann nicht nur für die Mandatierung von Friedenseinsätzen, sondern generell für länderspezifische Debatten, Frühwarnung und die Umsetzung menschenrechtsrelevanter Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen einen unschätzbaren Beitrag leisten. Der vorgeschlagene Jahresbericht des Hochkommissariats über die Menschenrechtslage in »allen« UN-Staaten könnte sowohl zur Entpolitisierung der Debatte in der Menschenrechtskommission beitragen als auch der Arbeit der Sonderberichterstatter und Vertragsorgane deutlich mehr Gewicht verleihen. Dies allerdings führt wieder zurück auf die bisher völlig unzureichenden Ressourcen des Hochkommissariats und den notwendigen politischen Willen, dieses Amt zu stärken.

Herausforderungen für die Gewährleistung kollektiver Sicherheit

Die Schwäche in der Bedrohungsanalyse trägt mit dazu bei, dass die Notwendigkeiten und insbesondere Möglichkeiten für Menschenrechtsschutz und Konfliktprävention, die der Bericht teils ausdrücklich, teils erst auf den zweiten Blick offeriert, in der Diskussion des Berichts deutlich unterbelichtet bleiben und hier beträchtliches Potenzial zu versickern droht.

Eher beiläufig verweist der Bericht beispielsweise auf die Notwendigkeit, Frauen angesichts der massenhaften Anwendung sexueller Gewalt in Konflikten besonders zu schützen, oder in Friedensverhandlungen und -prozesse stärker einzubinden. Dies wird der Bedeutung, die Frauen bei der Verhütung und Beilegung von Konflikten und bei der dauerhaften Friedenskonsolidierung (und damit auch kollektiver Sicherheit im Sinne des Berichts) spielen können, nicht gerecht. Die Empfehlungen der vom Sicherheitsrat schon im Jahr 2000 beschlossenen Resolution 1325, deren Umsetzung die Expertengruppe en passant befürwortet, sehen dementsprechend vor, dass Frauen auf allen nationalen, regionalen und internationalen Entscheidungsebenen der Prävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung verstärkt eingebunden werden und eine Gender-Perspektive in allen Prozessen der Friedenssicherung systematisch integriert und implementiert wird.

Deutlicher ist der Bericht hingegen in seiner Forderung nach rechtsverbindlichen Vereinbarungen zur Kennzeichnung, Rückverfolgung, Vermittlung und zum Transfer von Kleinwaffen und leichten Waffen. Weltweit werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt getötet – ein Mensch pro Minute. Regierungen, die lautstark vor der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen warnen, tragen gleichzeitig durch den hemmungslosen Transfer von konventionellen Waffen, darunter Kleinwaffen, zur Eskalation von Konflikten rund um den Erdball bei. Für eine effektive Krisenprävention ist die verbindliche Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen – die als echte Massenvernichtungswaffen angesehen werden müssen – eine absolut notwendige Voraussetzung. Umso wünschenswerter wäre es, dass sich die Bundesregierung auch diese Empfehlung des Berichts zu Eigen macht und sich der Unterstützung für ein rechtlich verbindliches internationales Rüstungskontrollabkommen anschließt. Nur einheitliche Standards für den Waffenhandel und das Verbot aller Exporte, die zur Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts beitragen, können zu einer globalen Lösung für ein globales Problem führen.

Dass die Experten sich auf eine Definition des Terrorismus-Begriffs einigen konnten, ist nicht nur von Kofi Annan ausdrücklich begrüßt worden. Der präventive Aspekt einer eindeutigen Definition wird allerdings bisher wenig reflektiert. Eine solche Definition würde es vielen Staaten schwerer machen, Menschenrechtsverletzungen als notwendiges Mittel bei der »Terrorismusbekämpfung« zu rechtfertigen. Und sie ist eine Voraussetzung für eine umfassende, an den Ursachen ansetzende Strategie, die zugleich in einen strikten menschenrechtlichen Rahmen eingebunden sein muss.

Weitaus offensiver ist der Bericht in seiner Analyse der Defizite der UN bei der Prävention von zwischen- und innerstaatlicher Konflikten und entsprechenden Lösungsvorschlägen. Die Bedeutung präventiver Diplomatie und professioneller Vermittlung ist unbestritten, sie verlangt jedoch nach ausreichenden Kapazitäten und kompetenter Ausbildung, was bisher durch die „bewusst unzureichende Mittelausstattung“ (102) durch die Mitgliedstaaten verhindert wird. Aus menschenrechtlicher Perspektive besonders zu betonen ist die herausgehobene Rolle der Rechtsstaatlichkeit und entsprechender Unterstützung beim Kapazitätsaufbau in den Staaten. Insbesondere für Nachkonfliktsituationen macht der Bericht sehr deutlich, dass die Herstellung „ziviler Sicherheit durch Polizei-, Justiz- und Rechtsstaatsreform (und der) Aufbau örtlicher Kapazitäten für Menschenrechte und Aussöhnung“ (229) von außerordentlicher Bedeutung für die Realisierung von Menschenrechten und die langfristige Friedenskonsolidierung sind.

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer institutionellen Lücke bei der Verhinderung des Wiederaufflammens einmal beigelegter Konflikte stellt die Forderung, eine „Kommission für Friedenskonsolidierung“ einzurichten, die zentrale Empfehlung der Experten dar. Unter der Voraussetzung, dass hier tatsächlich eine Koordinationsfunktion und nicht nur eine neue Ebene politischer Bürokratie etabliert wird, und dass auch die Hochkommissarin für Menschenrechte ausdrücklich einbezogen wird, verdient dieser Vorschlag zweifellos weitere Diskussionen. Über den institutionellen Fragen sollten jedoch die politisch und finanziell weniger bequemen Empfehlungen – neben den genannten Rechtsstaatsinvestitionen auch Ressourcen für Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme, Wiedereingliederung und Rehabilitation – nicht vernachlässigt werden.

Den Finger in die Wunde legen die Experten schließlich auch mit ihrer Kritik an der bisherigen Sanktionspraxis des Sicherheitsrates. Je öfter in den letzten Jahren auf dieses Mittel zurückgegriffen wurde, umso deutlicher wurden die Unzulänglichkeiten vor allem in der Umsetzung: selektiv verhängt, nicht zielgenau eingesetzt und weder konsequent umgesetzt noch überwacht. Viel eher als einen Willen zur Prävention von Konflikten belegt diese Praxis die politischen und ökonomischen Partikularinteressen der Sicherheitsratsmitglieder. Nur ein aktuelles Beispiel: Während in der Elfenbeinküste, bedingt durch spezielle Interessen eines einzelnen Mitglieds, ein effektives Sanktionsregime mit allen notwendigen Überwachungsressourcen implementiert werden kann, wird im Sudan auf Intervention einer Vetomacht einer der Hauptverantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen gezielt vom Waffenembargo ausgenommen. Diese Praxis hat der Legitimität von Sanktionen erheblich geschadet. Die daraus folgenden Empfehlungen der Expertengruppe sind ebenso nahe liegend wie eindringlich: routinemäßige Überwachungsmechanismen mit der erforderlichen Autorität und Ermittlungskompetenz, ausreichende Analysekapazitäten für die gezielte Ausrichtung, Sekundärsanktionen für Sanktionsbrecher und regelmäßige Bewertung der humanitären Auswirkungen von Sanktionen. Allein schon mit der konsequenten Umsetzung dieser Empfehlungen hätte der Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zur Hand, die den Einsatz von Gewalt als »ultima ratio« Lügen strafen.

Die Gewaltfrage

Stellung zu beziehen zu der Frage, wann die Anwendung von Gewalt sowohl rechtmäßig als auch legitim ist, war mit Blick auf die jüngsten militärischen Interventionen wie auch auf die Bestimmung des Souveränitätsbegriffs zweifellos eine große Herausforderung an das Panel. Die Expertengruppe macht sich hier ganz deutlich das Souveränitätskonzept zu Eigen, das 2001 von der »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) formuliert wurde und Souveränität nicht nur als Abwehrrecht gegen Einmischung von außen definiert, sondern auch als Pflicht eines Staates, seine Bevölkerung zu schützen („responsibility to protect“).3 Mit dem Bezug auf diese „sich herausbildende Norm“ (203) einer kollektiven internationalen Schutzverantwortung und dem Rückverweis auf die Bedrohungsanalyse ist es letztlich folgerichtig, dass selbst präventive kollektive Gewalt von den Experten nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die normativen Grenzen werden jedoch eindeutig gesteckt: Weder eine Neufassung des Gewaltverbots in Art. 51 der Charta noch eine Neufassung des mit Kapitel VII gewährten Handlungsspielraumes wird für notwendig erachtet. Und ebenso deutlich wird der Sicherheitsrat als einzige Quelle der Autorität akzeptiert. Hier kommt die »Weisheit« der Experten tatsächlich zum Ausdruck: Jeder Vorschlag zur Änderung der Charta im Hinblick auf das Gewaltverbot und kollektive militärische Zwangsmaßnahmen hätte die Büchse der Pandora geöffnet und mit großer Wahrscheinlichkeit der noch verbliebenen Autorität des Sicherheitsrates den Todesstoß versetzt. Sie taten also gut daran, unmissverständlich den mit Art. 51 und Kapitel VII bestimmten völkerrechtlichen Rahmen zu bekräftigen.

Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre konnte das Panel aber zugleich Antworten auf die Legitimitätsfragen nicht verweigern. Inkonsistent, ineffizient, oft zu spät, zu zögerlich oder überhaupt nicht – so die schonungslose Analyse des bisherigen Handelns des Sicherheitsrates in Fällen so genannter humanitärer Interventionen. Somit ging es den Experten nicht darum, „Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden“, sondern darum, „dafür zu sorgen, dass er besser funktioniert als bisher“ (198), und darum, dass seine folgenreichen Resolutionen „besser getroffen, besser begründet und besser kommuniziert werden“ (205). Möglich werden soll dies durch die Festlegung auf fünf Legitimitätskriterien, die ebenso wie der Souveränitätsbegriff eng den Vorgaben der ICISS angelehnt sind:

  • der Ernst der Bedrohung,
  • die Redlichkeit der Motive,
  • die Anwendung als letztes Mittel,
  • die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
  • die Angemessenheit der Folgen.

Obwohl diese der Theorie des »bellum iustum« folgenden Kriterien weder falsch noch neu sind, bleiben dennoch ernstzunehmende Zweifel, ob damit sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen etabliert werden können. So fehlt beispielsweise die explizite Verpflichtung auf Einhaltung des humanitären Völkerrechts bei allen Zwangsmaßnahmen. Und bei der Schwere der Bedrohung bleibt unbegründet, warum hier nicht bereits den im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs völkerrechtlich kodifizierten Standards (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) gefolgt wird.

Eine wichtige Schlussfolgerung in Bezug auf diese Maßstäbe bleibt der Bericht ohne Zweifel schuldig – dass keine der Interventionen der letzten fünfzehn Jahre den Kriterien standgehalten hätten. Allein diese Erkenntnis macht in dieser Frage einen Konsens der Staatengemeinschaft höchst unwahrscheinlich.

Perspektiven

Auch wenn die Analyse sehr differenziert ist und die Experten versuchen, dort, wo bisher breiter Interpretationsspielraum bestand, engere Grenzen zu ziehen – insbesondere bei der Legitimierung militärischer Gewalt, der Verhängung von Sanktionen und der Definition von Terrorismus –, sind die Inhalte des Berichts weder neu noch revolutionär. Dies spricht allerdings eher für den Realitätssinn der Experten; denn alles andere wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Entscheidend ist die in jeder Hinsicht berechtigte Eindringlichkeit, mit der auf den notwendigen Wandel verwiesen wird.

So ist es aus menschenrechtlicher Perspektive sehr zu wünschen, dass die Halbwertzeit des Berichts über das Gipfeltreffen im Herbst 2005 hinausreicht. Auch Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft müssen dazu beitragen und sich nachdrücklich äußern. Viele der Empfehlungen ließen sich unmittelbar umsetzen, andere bedürfen eines förmlichen Beschlusses durch die Generalversammlung. Die »Vereinten Nationen« stehen aber sowohl für die Organisation als solche wie auch für die »Gemeinschaft« von 191 Staaten mit höchst unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen, Kapazitäten und ökonomischen Interessen. Es wäre illusorisch zu hoffen, dass tatsächlich von einer breiten Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten der politische Wille aufgebracht wird, sich umfassend an die Expertenempfehlungen zu binden. Die Panelmitglieder selber lassen keinen Zweifel, wovon die kollektive Sicherheit abhängen wird: „Die … Reformen werden für sich allein genommen die Vereinten Nationen nicht wirksamer machen. … Ihre Institutionen werden nur so stark sein wie die Energie, die Ressourcen und die Aufmerksamkeit, die die Mitgliedstaaten und deren Führer auf sie verwenden“.4

Die Bundesregierung täte gut daran, schnellstmöglich über den Tellerrand ihres Strebens nach einem Sicherheitsratssitz hinauszuschauen und auch die anderen Aspekte der Expertenempfehlungen ebenso energisch voranzutreiben. Dabei hätte sie durchaus Referenzen einzubringen – etwa die deutlich ausgebauten zivilen Krisenpräventionskapazitäten und zumindest theoretisch neue Ansätze der Entwicklungspolitik. Sonst droht mit provinzieller Kurzsichtigkeit die Chance vertan zu werden, wirklich etwas für eine sicherere Welt beizutragen.

Anmerkungen

1) Den Vorsitz der »Hochrangigen Expertengruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel« hatte Anand Panyarachun (ehem. Premierminister Thailands). Die weiteren Mitglieder: Robert Badinter, Joao Clemente Baena Soares, Gro Harlem Brundtland, Mary Chinery-Hesse, Gareth Evans, David Hannay, Enrique Iglesias, Amre Moussa, Satish Nambiar, Sadako Ogata, Jewgenij Primakow, Qian Qichen, Nafis Sadik, Salim Ahmed Salim, Brent Scowcroft.

2) Die Ziffern verweisen auf die nummerierten Absätze des Berichts.

3) Der entsprechende Kommissionsbericht ist verfügbar unter: http://www.iciss.ca [01.03.05]

4) Zusammenfassung des Berichts.

Dr. Silke Voß-Kyeck, Politologin, ist Fachreferentin für Lobbyarbeit im Generalsekretariat der deutschen Sektion von amnesty international und koordiniert u.a. die Arbeit der Sektion zu internationalen Organisationen.

Zurück zur Anarchie?

Zurück zur Anarchie?

Die Demontage des UN-Systems seit dem Ende der Bipolarität

von Werner Ruf

Für die herrschende Schule der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen, den Realismus, war das Internationale System schon immer anarchisch, gekennzeichnet vom Kampf aller gegen alle und vom Streben der Staaten nach Macht – eingeschränkt allenfalls durch die Macht und die Gewaltandrohung anderer, mächtiger Akteure in diesem System. Und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts scheint es, als ob die prominentesten Vertreter der realistischen Schule, die Huntingtons, Brzezinskis, Kissingers, Krauthammers endlich die empirische Bestätigung ihrer Theorie fänden, die sie fleißig durch ihre politikberatende Tätigkeit mit herbeigeführt haben: Krieg wird wieder zum Mittel der Politik, zur ultima ratio, wie unser olivgrüner Außenminister verkündigt – ohne dass auch nur der Versuch gemacht würde, Konflikte präventiv oder durch Vermittlung zu lösen.
In den letzten zehn Jahren mussten wir erfahren, dass nach dem realen Zusammenbruch des Sozialismus die Welt eben nicht friedlicher geworden ist, dass die Zahl der Kriege (Bürgerkriege eingeschlossen) geradezu explodiert, dass die erwartete Abrüstungsdividende allenthalben verkehrt wurde in neue gigantische Hochrüstungsprogramme, die die Welt nicht sicherer, sondern instabiler machen und zur Gewaltanwendung geradezu anreizen – ganz so als ob es gelte, mit immer perfekteren und perfideren Waffensystemen jene elementare Einsicht in Schutt zu bomben, die Immanuel Kant im dritten Präliminarartikel seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« vor über 200 Jahren formulierte: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden.“

Das UN-System bis 1990

Bereits 1928 war im Briand-Kellogg-Pakt der Krieg als Mittel der Politik geächtet worden. Es bedurfte jedoch erst der fürchterlichen Massenmörderei des Zweiten Weltkriegs, damit ein internationales Vertragssystem geschaffen wurde, das den Krieg als Mittel der Politik endgültig verbot und mit den Vereinten Nationen und ihrem Sicherheitsrat den Versuch unternahm, ein supra-staatliches Gewaltmonopol zu errichten, das in der Lage sein sollte, Krieg zu verhindern, Angreifer zu bestrafen, dem Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen, um Konflikte schon im Vorfeld der Anwendung von Gewalt zu lösen. Heißt es doch in Art. 1 Abs. 1 der Charta: „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“

Und Abs. 3 des Artikels 1 liefert eine der umfassendsten Definitionen dessen, was wir in der Friedensforschung den »positiven Frieden« nennen, nämlich die Abwesenheit von Konfliktursachen: „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“

Verantwortliche Akteure in diesem System sollten die souveränen Staaten sein. Eine Einmischung in deren innere Angelegenheiten – konnte sie doch gar nicht anders begriffen werden denn als Angriff auf die Staatensouveränität – war und ist nach Art. 2 der Charta streng verboten.

Nun wäre es naiv, feststellen zu wollen, der normative Charakter dieses internationalen Vertragssystems, eines Systems kollektiver Sicherheit, in dem gerade auch die potenziellen Feinde eingeschlossen sind und sich zu gegenseitigem gewaltfreiem Umgang verpflichten, hätte die Welt zwischen 1945 und 1990 vor Krieg und Gewalttätigkeit bewahrt. Da war der Kampf der kolonisierten Völker um ihre Unabhängigkeit wie in Algerien und Vietnam, da führte die globale Rivalität der Supermächte zu blutigen Stellvertreterkriegen wie in Angola und Nicaragua, zu endlosen Einmischungen in innere Angelegenheiten wie in vielen Staaten des südamerikanischen Kontinents seitens der USA oder in der Tschechoslovakei seitens der SU. Die Ursachen dieser Konflikte liegen in der Fehlkonstruktion des Sicherheitsrates der VN, die den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges einen das Gleichheitsprinzip der Charta verletzenden, privilegierten Status einräumten, ein Vetorecht gegen Resolutionen dieses Organs der VN zugestanden, womit jede dieser fünf Mächte jede Resolution blockieren kann.

Dennoch konnten zahlreiche Konflikte auf der Basis des geltenden Völkerrechts gelöst werden: Fast alle kolonisierten Völker erhielten schließlich ihre staatliche Unabhängigkeit, die Eskalation lokaler Stellvertreterkriege wurde verhindert, die Verletzungen von Völkerrecht wurden verurteilt: So wurde kein Staat so oft vom Sicherheitsrat wegen Bruchs des Völkerrechts verurteilt wie Israel – auch wenn diese Verurteilungen dank der Parteinahme der USA niemals von Sanktionen begleitet wurden.

Zusammenfassend kann für die Periode von 1945 bis 1990 festgestellt werden, dass nicht die VN sondern die bipolare Situation, allerdings auf der Grundlage der Charta, einen relativen Frieden zu erhalten vermochte.

Die Demontage der UN nach 1990

Die Zäsur im Übergang zum unipolaren System stellt der zweite Golfkrieg dar. Die völkerrechtswidrige Aggression des Irak gegen Kuwait, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den USA gefördert wurde, war der Anlass für den damaligen US-Präsidenten Georgen Bush, eine »neue Weltordnung« zu verkünden: „Aus diesen schwierigen Zeiten kann unser fünftes Ziel – eine neue Weltordnung – hervorgehen: Eine neue Ära, freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. … Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten. Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt. … eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert.“1 Am Rande sei erwähnt, dass diese Rede am 11. September 1990 gehalten wurde.

Wichtig aber ist die Umsetzung dieser »Neuen Weltordnung«: Nach Einstellung der Kampfhandlungen am Golf, nachdem der Irak alle vorausgegangenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates akzeptiert und umgesetzt hatte (Rückzug aus Kuwait, Anerkennung der kuwaitischen Souveränität etc.) beschloss der Sicherheitsrat jene geradezu historisch zu nennende Resolution 688, in der eine internationale Kontrolle der irakischen Rüstung beschlossen wurde, in der die Ökonomie des Irak dem IWF, der Weltbank und den Clubs von Paris und London unterstellt wurde, in der die Souveränität des Irak über Teile seines Territorium eingeschränkt bzw. aufgehoben wurde und in der vor allem das völkerrechtlich neue Prinzip der »humanitären Intervention« verankert wurde.

Dieses neue Konstrukt der »humanitären Intervention« rechtfertigt zum ersten Mal im modernen Völkerrechts die Intervention in einen souveränen Staat. Dieses Novum wurde dann flugs genutzt und erweitert, um die Intervention in Somalia zu begründen, an der zum ersten Mal auch die Bundeswehr beteiligt war. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass das Völkerrecht sich wesentlich aus zwei Quellen speist: Dem Vertragsrecht und dem Völkergewohnheitsrecht. Auch wenn in den Augen vieler Völkerrechtler das Vertragsrecht höher rangiert, so setzt doch das Gewohnheitsrecht wichtige interpretatorische und richtungweisende Normen. Mit der Etablierung des »Rechts auf humanitäre Intervention« wurde das Tor zu einem neuen Interventionismus in die inneren Angelegenheiten von Staaten geöffnet. Diese Schlussfolgerung ergab sich bereits aus der Instrumentalisierung des Sicherheitsrats nach dem Ende des 2. Golfkriegs: „Das kaum etablierte Novum »humanitäres Interventionsrecht« läuft so Gefahr, zur Legitimation eines unilateralen Interventionismus zu verkommen, der in der Folge der Resolution 688 und unter Berufung auf moralische Werte der Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht mehr bedarf.“2 Spätestens mit dem Krieg gegen Jugoslawien war dies erreicht.

Mit dieser Resolution 688 wurde das Gewaltmonopol der VN und ihres Sicherheitsrats aufgebrochen, die »humanitäre Intervention« gewissermaßen der Beliebigkeit der Definition der Mitgliedstaaten überantwortet. Gewaltanwendung – genauer Krieg – kann hinfort über dieses Konstrukt der »humanitären Intervention« einseitig von Einzelstaaten legitimiert werden. Das suprastaatliche Gewaltmonopol der VN wird außer Kraft gesetzt.

Mit Blick auf diesen Zusammenhang schrieb Ernst-Otto Czempiel, gleichfalls 1994: „(Wird) das Machtmonopol der Vereinten Nationen aufgebrochen, die Gewaltanwendung über die Selbstverteidigung hinaus wieder legitimiert, stürzt die Welt in jene Zustände zurück, in denen die Gewaltanwendung als akzeptierte ultima ratio der Außenpolitik galt. … Der Krieg kehrt wieder.“3

Und dieser Interventionismus, der mit der Resolution 688 gegen Irak begann, zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Konflikte in Somalia, Haiti, Bosnien bis zum Kosovo.

Der völkerrechtswidrige, durch keinerlei Mandat des UN-Sicherheitsrats gedeckte Angriffskrieg gegen Jugoslawien muss verstanden werden als ein weiterer entscheidender Schritt auf dem Wege zur Wiedereinführung des »jus ad bellum«, des Rechts auf Kriegführung. Dieser Krieg war gewollt. Denn: Die Jugoslawien vorgelegten Bedingungen in den Verhandlungen von Rambouillet beinhalteten den Verzicht Jugoslawiens auf seine staatliche Souveränität. Eine Bedingung, die kein Staat akzeptieren kann, es sei denn um den Preis der Aufgabe seiner Existenz. Dass es nicht um die vorgeschobenen »humanitären« Argumente ging, zeigt der Skandal um den von Minister Scharping präsentierten »Hufeisenplan«, der noch nicht einmal von der NATO selbst für glaubwürdig befunden wurde.4(Loquai 2000)

Es ist hier nicht möglich, in der notwendigen Differenziertheit auf das Verhältnis von Völkerrecht und Menschenrechten einzugehen, die durch zahlreiche Konventionen, die gerade von den VN etabliert wurden, geregelt sind. Diese enthalten die Möglichkeit von Sanktionen durch die Völkergemeinschaft gegen Rechtsbrecher, nicht aber das Mittel des Krieges, und schon gar nicht des einseitig und willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieges! Nicht um den Schutz der Menschenrechte ging es im Kosovo (und warum nur dort und niemals in Palästina?), sondern um die Wiedereinführung des Krieges als Mittel der Politik.

Diese arrogante Ausübung der Macht wurde schon 1991 von Politikberater Charles Krauthammer in seinem Aufsatz »The Unipolar Moment« gefordert: „Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit …. ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.“5 (Krauthammer 1991)

Der 11. September und danach

Der 11. September erscheint in diesem Kontext wie ein Geschenk des Himmels – für die USA sowohl wie für die Diktaturen dieser Welt. Jenseits des Schocks, den diese grauenhaften Anschläge in der US-amerikanischen Bevölkerung auslösten, ja auslösen mussten, erlebte das Land zwischen den zwei Weltmeeren doch den ersten Angriff auf eigenem Territorium. Jenseits dieses psychologischen Schocks und der Erwartungen der Mehrheit der Amerikaner an ihre Regierung, doch etwas zu tun, müssen der Kontext und die Perspektiven bedacht werden, die dieses fürchterliche Ereignis eröffnete. Dazu einige Bemerkungen:

Zum Begriff des Terrorismus

Ohne hier auf die historische Entwicklung des Begriffs eingehen zu können, ist festzustellen: Terror ist illegales Handeln von Gruppierungen zur Durchsetzung politischer Forderungen, denen – nach deren Meinung – anders nicht Gehör verschafft werden kann. Seltsam ist am 11. September, dass sich keine Organisation zu den Anschlägen bekannte (auch wenn jener Usama bin Laden seine Genugtuung darüber zum Ausdruck brachte) und dass keine Forderungen erhoben wurden.

Legitime Forderungen – wie beispielsweise die der Befreiungsbewegungen – wurden nach Erreichung des Zieles, der Unabhängigkeit, im Nachhinein legalisiert: Die Regierungen der Kolonialmächte erkannten die Führungen der Befreiungsbewegungen als Verhandlungspartner an. Wie sehr Terrorismus ein Definitionsproblem darstellt – ohne dass hier auf notwendige Differenzierungen eingegangen werden kann – lässt sich illustrieren an der Person Yassir Arafats, einst Top-Terrorist Nr. 1, dann Friedensnobelpreisträger, und nun wieder Terrorist zumindest für Israel, möglicherweise schon morgen wieder für die USA.

Eigentümlich ist dieser Akt auch, weil in der Regel »Terroristen« mit ihren Anschlägen politische Ziele verfolgen. Die Todesflieger gegen das WTC und das Pentagon haben sich nicht nur nicht zu den Anschlägen bekannt, sie haben auch keine Forderungen erhoben. Und die von den USA vorgetragenen »Beweise« für die Verantwortung bin Ladens wurden nur befreundeten Regierungen vorgelegt.

Wichtiger ist in diesem Zusammenhang jedoch ein theoretischer, aber auch in der Praxis wichtiger Aspekt: Transnational organisierte terroristische Netzwerke – so ein solches für die Anschläge verantwortlich ist – unterscheiden sich von Staaten dadurch, dass sie nicht die Kriterien von Staatlichkeit erfüllen, also kein Territorium kontrollieren, kein Staatsvolk vertreten und kein (legitimes) Gewaltmonopol über Volk oder Territorium besitzen. Einfacher ausgedrückt: Weder kann mit ihnen verhandelt werden noch können sie das Verhandlungsergebnis im Inneren eines Staatsgebietes und/oder Staatsvolks umsetzen.

Staat und Krieg

In der Welt vor 1945 war Krieg, jenes »jus ad bellum«, wesentlicher Bestandteil der staatlichen Souveränität. Krieg in der Staatenwelt war deshalb Krieg zwischen territorial verfassten und politisch identifizierbaren Akteuren. Wie kann mit den klassischen Mitteln des Staates, dem Militär, ein Krieg gegen »den internationalen Terrorismus« geführt werden, der sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass er weder territorial verfasst ist, noch als Akteur erkennbar ist, der als Repräsentant eines Staatsvolks die Staatsgewalt vertritt? Ist das Instrument Militär, dessen Aufgabe es ist, fremde Armeen zu bekämpfen, für eine solche Aktion überhaupt tauglich? Gegenüber Verbrechern sind polizeiliche Mittel angemessen. Und Dank internationaler Vernetzung und bestehender völkerrechtlicher Verträge wäre hierfür beispielsweise Interpol zuständig. Krieg dagegen kann, das ist gar nicht anders möglich, nur gegen Staaten geführt werden – und das geschah dann auch geradezu zwangsläufig: Gegen Afghanistan, nicht aber – beispielsweise – gegen Saudi-Arabien, das jahrzehntelang Drehscheibe des gegen die Sowjetunion instrumentalisierten Islamismus war und aus dem die Mehrzahl der von FBI und CIA identifizierten Attentäter stammen. Die Wahl des Mittels Krieg legt die Vermutung nahe, dass die Ereignisse des 11. September für ganz andere Zwecke benutzt werden.

Das Messen mit zweierlei Maß und die Arroganz der Macht

Zu fragen ist hier, ob es sich wirklich um einen Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei handelt, wie von Bush bis Berlusconi und von vielen anderen immer wieder betont wird, oder aber, ob der 11. September dazu genutzt wird, die weltweite Hegemonie der USA zu sichern. Hat der Westen wirklich das moralische Recht, sich als Hort der Zivilisation gegenüber einer Barbarei zu gebärden, die mehr oder weniger deutlich mit dem islamischen Kulturkreis assoziiert wird? Bahman Nirumand hat dies am 29. Sept. 2001 in einer Rede in Frankfurt auf den Punkt gebracht. Unter Bezugnahme auf die Äußerungen Berlusconis erklärte er6:

„Der Ministerpräsident hat die Worte nicht erfinden müssen. Seine Vorfahren in Italien und Deutschland sind vor nicht all zu langer Zeit derselben Idee von einer erhabenen Rasse gefolgt und haben die ganze Welt mit ihrer Zivilisation beglückt. Diese Arroganz ist ekelhaft und widerlich. Wer will es leugnen, dass der Westen Wunderbares hervorgebracht hat, in der Wissenschaften, den Künsten, der Literatur, der Philosophie, der Technik. Demokratie und Menschenrechte sind eine Errungenschaft des Westens. Aber gerade diese Errungenschaften werden oft aufgegeben, sobald man die Grenzen des Abendlands verlässt.

Lassen wir die Zeit des Kolonialismus beiseite, werfen wir nur einen Blick auf das soeben vergangene Jahrhundert. Ich bin kein Glaubensfanatiker und weiß wohl, welche Verbrechen im Namen des Islam begangen wurden und werden. Aber es waren nicht die Muslime, es war die zivilisierte Welt, die sechs Millionen Juden vergast und verbrannt, Millionen Vietnamesen mit Napalm verstümmelt und verseucht hat. Es war die zivilisierte Welt, die in Chile geputscht und Zehntausende in den Tod geschickt, in Algerien Massenmorde durchgeführt und in Südafrika das System der Apartheid den Einheimischen aufgezwungen hat. Es war die zivilisierte Welt, die in nahezu sämtlichen Entwicklungsländern Diktaturen errichtet und sie mit Waffen versorgt hat. Die Flüchtlingslager Sabra und Shatila sind nicht das Werk der Muslime. Es ist doch bekannt, dass Saddam Hussein, die Taliban und ähnliche Verbrecher Zöglinge des Westens waren. Selbst der Terrorist Bin Laden war ein Schützling der CIA. Waren es Muslime, die die Natur zerstört, die Umwelt verseucht haben? Zeugen diese Taten von Humanität, von geistiger, moralischer Erhabenheit, von Zivilität? Wenn man bedenkt, dass in Afrika Tag für Tag mehr Menschen an Aids sterben als bei dem Anschlag in New York und Washington, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Kinder und Erwachsene Armut, Hunger und Seuchenkrankheiten zum Opfer fallen, wenn man weiß, dass unzählige Menschen in den Entwicklungsländern ihre gesunden Organe gegen ein Handgeld an reiche Europäer und Amerikaner verkaufen, um ihr Dasein fristen zu können, dann sollte erlaubt sein, die Begriffe Zivilisation und Barbarei noch einmal anhand der Tatsachen unter die Lupe zu nehmen. …“

Es ist die Politik der doppelten Standards, des Messens mit zweierlei Maß, wie Pierre Bourdieu dies kurz vor seinem Tode auf den Punkt gebracht hat,7 die die Wut erklärt, die in den Ländern der ehemaligen Dritten und zunehmend in großen Teilen der Zweiten Welt jenen Hass fördert auf den Westen im allgemeinen und auf dessen Vormacht, die USA, im besonderen.

Und Jürgen Habermas, der noch den Krieg gegen Jugoslawien moralisch zu rechtfertigen vermochte, erklärt: „Die Bush-Regierung scheint den selbst-zentrierten Kurs einer abgebrühten Supermachtpolitik mehr oder weniger ungerührt fortzusetzen. Sie wehrt sich gegen die Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshofs und vertraut statt dessen auf eigene völkerrechtswidrige Militärtribunale. Sie weigert sich, die Biowaffen-Konvention zu unterschreiben. Sie hat den ABM-Vertrag einseitig gekündigt und fühlt sich durch den 11. September absurderweise in ihrem Plan, einen Raketenabwehrschirm zu errichten, bestätigt. Für diesen kaum verhohlenen Unilateralismus ist die Welt zu komplex geworden.“8

Und ganz im Sinne der »double standards« könnte man hinzufügen, dass die »Zivilisierten« gefahrlos aus ihren Flugzeugen ganze Landstriche mit Bomben und Zerstörung, mit Minen und Splitterbomben unbewohnbar machen können, ohne dass sie in solchem Krieg um ihr Leben fürchten müssten, während am Boden die zu neuen Bündnispartnern der Zivilisation erkorenen »warlords« die blutige Drecksarbeit erledigen.

Die Pervertierung der Charta der VN

Der anscheinend durch nichts mehr gebremsten Willkür der Gewalt in den internationalen Beziehungen entspricht die weitere Demontage der VN und ihres suprastaatlichen Gewaltmonopols. Auch wenn argumentiert werden kann, wie Gerhard Stuby dies tut9 – und diese Argumentation ist politisch wichtig – dass der Sicherheitsrat sich mit seiner Resolution 1368 keineswegs seiner Kompetenzen begeben habe, so lässt die Formulierung dieser Resolution doch aufhorchen, denn der Sicherheitsrat verweist explizit auf das „naturgegebene Recht (der Staaten) zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Einklang mit der Charta“.

Dies ist wörtliches Zitat aus Artikel 51 der Charta. Auch „bekundet (der Sicherheitsrat) in dieser Resolution seine Bereitschaft, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu antworten, und alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen, im Einklang mit seiner Verantwortung nach der Charta der Vereinten Nationen.“

Verblüffen muss allerdings, dass der Sicherheitsrat in dieser Resolution nur den ersten Halbsatz des entscheidenden Satzes des Art. 51 zitiert, denn, auf den Passus der „Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ folgt ein Komma, und hinter diesem geht der Satz folgendermaßen zu Ende: „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“

Genau dies aber tut der Sicherheitsrat nicht, sondern „er bekundet seine Bereitschaft“, dies zu tun – und legt damit seine Verantwortung ad acta! So ist es nicht verwunderlich, wenn die USA diese Resolution, die ja wesentlich unter ihrer Mitwirkung zustande kam, als Freibrief verstehen und George Bush in seiner Rede vom 29. Januar 2002, in der er die »Achse des Bösen«, (vorläufig) bestehend aus dem Irak, Iran und Nordkorea definierte, feststellt: „Afghanistan hat bewiesen, dass man mit teuren Präzisionswaffen den Feind besiegt und Unschuldige verschont, und wir brauchen mehr davon. Wir müssen alte Flugzeuge ersetzen und unser Militär beweglicher machen, damit wir unsere Truppen schnell und sicher auf der Welt stationieren können.“10

Auf das Feigenblatt eines Mandats des Sicherheitsrats scheint der Präsident hinfort verzichten zu wollen! Somit erscheint nach gut zehn Jahren die »humanitäre Intervention« nur noch als eine, wenn auch entscheidende Etappe, die den Krieg wieder führbar gemacht hat. Das jetzt reaktivierte »Recht auf individuelle Selbstverteidigung« und der Verzicht auf den zweiten Halbsatz des Artikels 51 in der Resolution des Sicherheitsrats, öffnet der staatlichen Willkür und dem Angriffskrieg Tür und Tor. Krieg ist wieder machbar!

Im Schatten dieser Entwicklungen versuchen auch andere Mächte, ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen: Weil Pakistan Terroristen unterstütze, droht Indien mit der »Lösung« des Kaschmirproblems bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Um die Vision eines Eretz Israel zwischen Mittelmeer und Jordan zu verwirklichen, definiert Israel die palästinensische Autonomiebehörde als Terrororganisation. Russland hat freie Hand in Tschetschenien, und Pastrana kann in Kolumbien die Verhandlungen mit der FARC abbrechen und den Kampf wieder aufnehmen. Die Beispiele können fortgesetzt werden.

Der 11. September wird von allen Diktaturen der Welt genutzt, um noch hemmungsloser als zuvor innenpolitische Gegner zu verfolgen und individuelle Freiheiten zu unterdrücken.

Was sind die wahren Ziele?

Dass Krieg untauglich ist, um die derzeitigen Probleme der zusammenwachsenden Weltgesellschaft zu lösen, wissen auch die Regierenden. Doch die wirklichen Ziele lassen sich erkennen, zum einen an den Staaten, die zur »Achse des Bösen« gezählt werden, vor allem aber an den Stationierungsorten von US-Truppen. So war schon der Golfkrieg die Gelegenheit, eine dauerhafte Militärpräsenz der US-Truppen auf der Arabischen Halbinsel einzurichten. Verfolgt man nun den wohl auf Dauer angelegten Einsatz in Afghanistan, die Waffenlieferungen und die Stationierung von Militärberatern in den früheren asiatischen Sowjetrepubliken, so wird klar, dass es hier um die Kontrolle der Erdölressourcen sowohl der Arabischen Halbinsel wie des Kaspischen Meeres geht.

Bedenkt man, dass die USA aus dem arabischen Raum knapp 10%, Europa aber 40% und Japan 70% ihrer Ölimporte beziehen, dann lässt sich unschwer folgern, dass die militärische Sicherung des vorderasiatischen Raumes den USA die Kontrolle über jene Energieressourcen sichert, die die beiden anderen Pole der Triade existentiell benötigen. Der Hegemon sichert militärisch seine Vormachtstellung gegenüber seinen wichtigsten ökonomischen Konkurrenten ab. Dies erklärt, warum die übrigen Mächte, um mitreden zu können, noch immer der US-Außenpolitik folgen. Es erklärt auch, warum die USA die NATO dazu bewegten, den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags feststellen zu lassen, um dann jedoch auf die NATO als militärisches Instrument zu verzichten: Fragen, die »nationale Interessen« betreffen, regelt der Hegemon allein und verhindert so Forderungen nach Mitsprache der Verbündeten!

Zusammenfassung

Viel wäre zu sagen zur Rolle und Politik der Bundesrepublik, die unter ihrer derzeitigen Regierungskoalition auf dem Wege ist, weltweit interventionistisch tätig zu werden – ganz wie dies der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 27. November 1992 gefordert hatte: Das vereinigte Deutschland sollte in die Lage versetzt werden, weltweit deutsche Interessen auch militärisch durchzusetzen, vor allem die Zufuhr von Rohstoffen zu schützen. Der regierenden Koalition ist es zu verdanken, dass diese Bundesrepublik an prominenter Stelle am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien teilgenommen hat und seither ihre militärpolitische Emanzipation weitertreibt. In diesem Zusammenhang heißt dies: Auch die Bundesrepublik beteiligt sich aktiv an der Demontage des Völkerrechts zugunsten der Durchsetzung sogenannter nationaler Interessen.

Es geht hier nicht darum, moralisch den Zeigefinger zu erheben, sei es gegen die Regierungen der Bundesrepublik oder der USA oder der übrigen Westmächte. Es geht um die Feststellung, dass eine Rechtsordnung zerstört wird, die aus der Einsicht in die Gräuel des Krieges geschaffen wurde. Eine Rechtsordnung, die umso dringender benötigt wird, als wir in der Folge der Globalisierungsprozesse auf dem Weg in eine Weltgesellschaft sind, die ökonomisch, finanziell, kulturell, ökologisch zusammenwächst und daher der suprastaatlichen Regulierung mehr bedarf denn je – ganz so wie es der Art. 1 Abs. 3. der Charta der VN zur Beseitigung der Kriegsursachen forderte: „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten … zu fördern und zu festigen.“

Vergessen wir bei dieser ganzen Debatte nicht, dass internationale Regelungen und Verrechtlichungen längst in unser nationales Recht hineinwirken: Sei es das Asylrecht, das Umweltrecht, oder eben das Völkerrecht, das seit 1945 den Staaten das »ius ad bellum« genommen hat. In den USA wie auch in der Bundesrepublik ist zu beobachten, dass die Demontage des Völkerrechts unmittelbare Konsequenzen hat auch für den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Binnenstruktur der Staaten. Internationale wie innerstaatliche Regelungen werden aufgelöst, Verfassungs- und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, kurzum: bürgerlich-demokratische, zivile Errungenschaften werden preisgegeben zugunsten staatlicher Willkür. Der Demontage des Völkerrechts und der Rückkehr zum Faustrecht in den internationalen Beziehungen entspricht die Demontage des demokratischen Rechtsstaats in der Innenpolitik.

Rechtsstaatliche Demokratien können es sich um den Preis ihrer eigenen Legitimität nicht leisten, in ihren Mitteln auf das Niveau der von ihnen angeklagten Barbarei herabsteigen – und sei es unter dem Vorwand, die Barbarei zu bekämpfen. Die Anwendung brutaler Gewalt gegen die Verlierer des globalisierten Kapitalismus, die Außerkraftsetzung rechtsstaatlicher Regeln auf allen Ebenen gegenüber dem »Rest« der Welt, wie Sam Huntington formuliert,11 zerstört die moralische Autorität, die die Grundlage demokratischer Systeme ist. Solch brutale Arroganz bestätigt nur die Diagnose eines bin Laden über die moralische Verkommenheit des Westens und produziert jene Terroristen, gegen die zu kämpfen der Westen behauptet. Denn das Faustrecht sichert die Reproduktion des Terrorismus, nicht aber die Sicherheit des Westens, die nur durch Anerkennung der Rechte und der Sicherheit der anderen zu haben sein wird.

Prof. Dr. Werner Ruf lehrt Politikwissenschaft an der Uni-GH Kassel

Anmerkungen

1) George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Rede vor dem US-Kongreß, Washington DC, 11. September 1990.

2) Werner Ruf, Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der „Dritten Welt“, Münster 1994, S. 119; vgl. dort auch die Analyse des 2. Golfkriegs.

3) Ernst-Otto Czempiel, Die Reform der UNO. Möglichkeiten und Missverständnisse, München 1994, S. 102f.

4) Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt: Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.

5) Charles Krauthammer, The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, Nr. 1/1991, S. 23.

6) Zitiert nach: Friedenspolitische Korrespondenz Nr. 3/2001.

7) Interview mit Pierre Bourdieu, in: Frankfurter Rundschau, 21. November 2001.

8) Jürgen Habermas, Fundamentalismus und Terror. Interview mit Giovanna Borradori. Zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2002, S. 165 – 178, hier S. 166f.

9) Gerhard Stuby, Internationaler Terrorismus und Völkerrecht; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11/2001 S. 1330 – 1341.

10) Zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/2002, S. 368.

11) Samuel P Huntington, The Clash of Civilizations; in: Foreign Affairs, Sommer 1993, S. 22 – 49, hier Zwischenüberschrift, S. 39.

Der Artikel ist in »Z«, Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Frankfurt a. M., Nr. 2-2002 erschienen. Er wurde für W&F leicht gekürzt.

Zur strukturellen Ungleichheit im internationalen System

Zur strukturellen Ungleichheit im internationalen System

von Rainer Falk

Mit dem Vorbereitungsprozess für die UN-Konferenz »Finanzierung für Entwicklung« im März 2002 in Monterrey/Mexiko war die Hoffnung verknüpft auf einen Einstieg in eine wirkliche Reform der internationalen Finanzarchitektur, auf den Beginn des Aufbaus eines Systems der internationalen Besteuerung (Tobin Tax; CO{sub}2{/sub}-Steuer), auf ein Ende des langjährigen Abwärtstrends in der öffentlichen Entwicklungshilfe und eine Steigerung derselben. Keine dieser drei Hoffnungen hat sich erfüllt. Als gewisser (prozeduraler) Fortschritt kann allenfalls gewertet werden, dass nunmehr erstmals nach langer Zeit wieder internationale Wirtschaftsfragen (und nicht nur die berühmten »soft issues«) auf einem Forum der Vereinten Nationen erörtert wurden. Da es an Substanz mangelte, ist dies freilich nur ein schwacher und formaler Trost. Unser Autor sieht die Ursachen für diesen erneuten »backlash« für die Nord-Süd-Politik in einem systemisch verfestigten Neoliberalismus, der seinerseits durch ungleiche internationale Machtverhältnisse gestützt wird.
Die neue Globalisierung unterscheidet sich von früheren Wellen der Globalisierung zweifellos auch dadurch, dass globale Organisationen und Institutionen stark an Bedeutung zugenommen haben. Am prägnantesten wird dies vielleicht durch die Trinität von Bretton Woods zum Ausdruck gebracht. Diese »Dreifaltigkeit« wurde traditionell durch den IWF und die Weltbank sowie das GATT repräsentiert und 1995 mit der Gründung der WTO vollendet; sie bildet – zusammen mit der G7er Gruppe – das Zentrum realexistierender global economic governance. Längst haben sich diese Institutionen über ihre ursprüngliche Rolle als währungspolitische Aufsichtsbehörde (z.B. der IWF als Wächter über die Stabilität der Wechselkurse), als bloße Entwicklungsagentur (z.B. die Weltbank als Instrument zur Mobilisierung und auch Umverteilung von Kapital für die Entwicklungswelt) oder als Forum des Zollabbaus (z.B. das GATT) hinaus entwickelt. Sie wurden zu institutionellen Grundpfeilern eines neuen globalen »Konstitutionalismus« transformiert und aufgewertet. Dessen wesentlicher Inhalt kann als »disciplinary neoliberalism« bezeichnet werden, der den Vorrang von Marktsteuerungsprinzipien und privaten Eigentumsrechten international garantiert (Gill, 2000):

Der Funktionswandel der ursprünglichen Bretton-Woods-Zwillinge zeigt sich – nach einem vorübergehenden Bedeutungsverlust für den IWF nach der Abkehr vom festen Wechselkurssystem – vor allem in der nahezu flächendeckenden Durchsetzung neoliberaler Strukturanpassungsprogramme seit Beginn der 1980er Jahre gegenüber den Schuldnerländern im Süden des Globus (Bello, 1994). Sie waren und sind nicht nur auf die Absicherung der Gläubigerinteressen im internationalen Kreditsystem („Schuldendienstfähigkeit“) gerichtet, sondern erwiesen sich als erstrangiger Mechanismus der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Disziplinierung der Schuldnerländer.

Auch der WTO kommt – über die Setzung handelspolitischer Regeln und die Regulierung diesbezüglicher Interessenkonflikte hinaus – eine konditionierende und disziplinierende Funktion gegenüber den Mitgliedsländern mit Blick auf die Globalisierung zu. Da Marktsteuerungselemente und Eigentumsgarantien (z.B. geistige Eigentumsrechte, Gleichstellung in- und ausländischer Investoren etc.) bereits in die Gründungsdokumente der WTO eingegangen sind, dürfte sich die disziplinierende Funktion einer WTO-Mitgliedschaft langfristig sogar als wirkungsvoller erweisen als die der (zeitlich grundsätzlich befristeten) Strukturanpassungskredite von IWF und Weltbank (Khor, 2000).

Zur Grundstruktur des herrschenden internationalen Settings

Den Kerninstitutionen der global economic governance kommt nicht nur selbst eine große Machtfülle zu; auch innerhalb der Institutionen sind Machtpositionen zumeist ungleich verteilt. Ungleichgewichte im internationalen System sind deshalb vor allem Machtungleichgewichte. Diese Machtungleichgewichte lassen sich an Hand der gegebenen internationalen institutionellen Infrastruktur leicht konkretisieren. Im globalen Machtsystem gibt es drei Typen bzw. Ebenen institutioneller Strukturen: erstens multilaterale Organisationen/Institutionen, zweitens globale Klub-Strukturen und drittens regionale Integrationsprozesse bzw. -strukturen. Als Kriterien können dabei der Grad ihrer Repräsentativität, die globale Reichweite und Relevanz ihrer Beschlüsse und die Symmetrie bzw. Asymmetrie ihrer Strukturen genommen werden:

Multilaterale Organisationen auf internationaler Ebene zeichnen sich in der Regel durch eine globale Repräsentation aus, aber diese ist zumeist auf die staatliche Ebene beschränkt. Wenngleich global, kann die Repräsentation wie im Falle der UNO und ihrer Sonderorganisationen annähernd symmetrisch organisiert sein. Oder aber wie im Falle der Bretton-Woods-Institutionen weitgehend asymmetrisch mit eingebauten Mehrheiten für die Industrieländer.

Globale Klubstrukturen wie die G7 oder auch das Davoser Weltwirtschaftsforum sind demgegenüber global nicht repräsentativ, aber von globaler Relevanz: ihre Beschlüsse stellen entscheidende Vorgaben beispielsweise für die Bretton-Woods-Institutionen dar (wie sich u.a. an der Rolle der G7 bei der Gestaltung des internationalen Schuldenmanagements zeigt). Ein Spezifikum von »Klubs« ist ihre extrem geringe Offenheit: In einen Klub kann man nicht ohne weiteres eintreten, man wird eingeladen oder berufen. So wurde Russland im Rahmen der Geostrategie der »Neuen Weltordnung« zum Mitglied der »politischen G8« gemacht.

Seit einiger Zeit gibt es Konsultationsmechanismen zwischen der G7/8 und den Entwicklungsländern, wobei afrikanische Staatschefs auf dem Gipfel in Genua sogar für ein paar Stunden im Kreise der Großen Acht zu Gast sein durften: Es ging um die sog. New Partnership for African Development (Nepad). Wie die »Financial Times« am 5.2.2002 süffisant kommentierte, enthält diese Initiative jedoch nichts Neues, was nicht vorher schon gesagt worden wäre: „The difference is that African leaders are saying it, not western institutions.“

Auch NGOs werden seit ein paar Jahren im Gipfelvorfeld von G8-Regierungen konsultiert – irgendeinen signifikanten Einfluss auf die Beschlussfassung hat dies jedoch nicht.

Regionale Organisationen nehmen in jüngster Zeit an Zahl und Bedeutung zu. Sie sind in der Regel regional repräsentativ, meistens (tendenziell) symmetrisch, aber in ihren Entscheidungsstrukturen mehr oder weniger auf die staatliche Ebene beschränkt. In diesem Zusammenhang ist auf eine wichtige Besonderheit EU-Europas hinzuweisen: Als einziges regionales Integrationsgebilde auf der Welt trägt EU-Europa supranationale und suprastaatliche Züge und funktioniert nicht ausschließlich als »gemeinsamer Markt«, sondern – zumindest dem Anspruch nach – als »soziales Meganetzwerk«, als „Sammelbecken für Ressourcen und Initiativen und als einheitlicher Rechtsraum mit einem umfangreichen Regelwerk, das von einer europäischen Judikative selbst gegenüber den Nationalstaaten wachsam und energisch umgesetzt wird“ (Therborn, 2000: 13).

Internationale Demokratiedefizite und die Nationalstaaten

Allen drei Ebenen sind mehr oder weniger große Demokratiedefizite gemein. Diese Machtungleichgewichte sind nicht zufällig, sie sind funktional in Bezug auf das System: Sie sind dort am größten, wo die globale Bedeutung der Institutionen für die Funktionsweise des Systems am höchsten ist. Am krassesten ist die Exklusivität bei der G7/8. Selbst in den Bretton-Woods-Institutionen gibt es demgegenüber Elemente der Repräsentation des Südens. Allerdings sind die Stimmenverhältnisse extrem ungleich verteilt: Das systematische Machtungleichgewicht im IWF wird im wesentlichen durch ein Stimmrechtssystem konsolidiert, das den Industrieländern gesicherte Mehrheiten und den USA in den meisten Fragen eine Sperrminorität sichert. Mit einem Stimmenanteil von 17,5 Prozent können letztere in allen zentralen Fragen Entscheidungen blockieren. Da wichtige Fälle, wie die Entscheidungen über Quotenerhöhungen, die im IWF einer Mehrheit von 85 Prozent bedürfen, in den USA nicht nur in die Zuständigkeit der Regierung, sondern auch des Kongresses fallen, werden derartige Entscheidungen letztlich vom Parlament eines einzigen IWF-Mitgliedslandes gefällt (Mohammed, 2000). Da die Stimmrechte der Mitgliedsländer auf der Verteilung der Quoten im IWF beruhen, aber auch eine Änderung der Quotenverteilung einer Mehrheit von 85 Prozent bedarf, gehört es zweifellos zu den schwierigsten Aufgaben einer konsequenten Reform der global economic governance, die strukturelle Macht-Asymmetrie innerhalb des IWF aufzubrechen.1

Die überragende Rolle der G7/8 innerhalb der Struktur globaler ökonomischer Governance verweist im übrigen darauf, dass die Nationalstaaten, wenngleich ihre Kompetenzen im Rahmen des neuen globalen Konstitutionalismus unterminiert werden, keineswegs schlechthin zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind; vielmehr erhöht sich vor allem das Gewicht der mächtigsten unter ihnen, wodurch der ungleiche Charakter des globalen Machtsystems weiter akzentuiert wird. Ein Musterfall für den Missbrauch des Multilateralismus zur Durchsetzung unilateraler Ziele stellt die Politik der USA dar. (Auch die seit dem 11. September verstärkten Bemühungen um eine Einbeziehung von Verbündeten in den »Anti-Terror-Krieg« kann bestenfalls als hegemonialer Multilateralismus klassifiziert werden).

Die Bedeutung alternativer Governance-Modelle

Es gibt verschiedene denkbare Modelle, die an die Stelle der ungleichen internationalen Machtstrukturen im Bereich der global economic governance treten könnten: ein Weltwirtschaftlicher Sicherheitsrat statt des G8-Direktoriums; ein nach dem PPP-Modell neu moduliertes Stimmrechtsmodell im IWF (Griffith-Jones/Kimmis, 2001) oder auch ein erweitertes Stimmrechtsmodell, das neben der ökonomischen Potenz auch die Bevölkerungszahlen und qualitative Kriterien, wie die Bewertung im Rahmen des Human Development Index (HDI) berücksichtigt (Falk, 2001). Eine diesbezügliche Reform des IWF muss sich nicht unbedingt am UN-Modell »Ein Land – eine Stimme« orientieren. Denkbar sind auch gemischte Governance-Modelle, etwa nach dem Muster des Montreal-Fonds oder der Globalen Umweltfazilität (GEF); diese schließen gegenseitige Majorisierungen aus und stützen sich dennoch auf ein wesentlich symmetrischeres Repräsentationsmodell als die traditionellen Bretton-Woods-Institutionen.

Da die internationalen Machtungleichgewichte jedoch funktional in Bezug auf das System sind, reicht zu ihrer Überwindung der bloße »Wettbewerb« demokratischerer Modelle nicht aus. Ebenso verkürzt wäre die Beschränkung auf die Identifikation von Funktionsmängeln der existierenden Governance-Strukturen im Rahmen des herrschenden Paradigmas und die bloße Effizienzsteigerung im internationalen System, wie dies für die bisherige Debatte um eine »Neue Internationale Finanzarchitektur« der Fall war. Die Alternative liegt in einem Konzept demokratischer und pluralistischer Global Governance. Ein solches Konzept schließt die Überwindung ungleicher Machtstrukturen und des herrschenden, neoliberalen Paradigmas ein. Es bleibt dabei insbesondere auf die globale Mobilisierung von unten angewiesen.

Neue Rolle für globale soziale Bewegungen

In der gewachsenen Bedeutung internationaler Organisationen liegt bei aller Kritik auch eine wichtige Chance zur Veränderung. In dem Maße wie eine wachsende Zahl von Menschen dies erkennt, wächst auch der Wille, die Politik dieser Institutionen zu beeinflussen; es entsteht so etwas wie ein „contest over global governance“ (O‘Brien/Goetz/Scholte/Williams, 2000): Seit den 80er Jahren können wir eine zunehmende Interaktion zwischen internationalen Wirtschaftsorganisationen und globalen sozialen Bewegungen (GSB) beobachten. Darin spiegeln sich erste Anfänge des Übergangs vom alten (exklusiv staatlichen) zu einem neuen Multilateralismus, der anerkennt, dass auch nichtstaatliche Akteure, z.B. NGOs, öffentliches Interesse zum Ausdruck bringen. Gegenstand der Auseinandersetzung ist in aller Regel die spezifische Form, in der der Globalisierungsprozess organisiert wird. Institutionen wie G7, IWF, Weltbank und WTO „treiben einen Prozess der Liberalisierung der Weltwirtschaft voran, in dem mehr und mehr gesellschaftliche und ökonomische Bereiche der Disziplin und den Imperativen der Marktkräfte unterworfen werden. GSBs engagieren sich oft als defensive Bewegungen gegenüber derartigen Zwängen. Dabei fordern sie die neoliberale Philosophie und die materiellen Interessen heraus, die hinter der Politik der multilateralen Institutionen steht. In der Tat gibt es Elemente innerhalb der GSBs, die wir untersuchen, die anti-systemisch insofern sind, als sie die Prinzipien, auf denen der existierende Multilateralismus beruht, herausfordern.“ (O‘Brien et al., 2000: 18f)2 Gramcianisch ausgedrückt: Es entsteht auch auf internationaler Ebene ein »vorstaatliches« Terrain, in dem um die Hegemonie gerungen wird: Global Governance wird zu einem »Feld« (Pierre Bourdieu) der Entfaltung sozialer Kämpfe.

Institutionelle ohne paradigmatische Veränderungen?

Veränderungen sind bis heute im wesentlichen auf institutionelle Modifikationen beschränkt, substantiell jedoch hat sich noch keine explizit neue politische Agenda durchgesetzt:

Während das Verhältnis der Bretton-Woods-Institutionen gegenüber den Vereinten Nationen jahrzehntelang durch eine Art einseitiger Unabhängigkeitserklärung ersterer gekennzeichnet war (obwohl diese formal immer Bestandteil des UN-Systems waren), hat im Nachgang zum Weltsozialgipfel ein (allerdings sehr bescheidener) Wandel eingesetzt. Inzwischen treffen die Führungsspitzen des IWF und der Weltbank regelmäßig mit dem UN-Generalsekretär zusammen und erstatten einmal pro Jahr auch dem UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) Bericht.

Gewisse Fortschritte konnten auch die NGOs mit ihren Forderungen nach der Veröffentlichung wichtiger Dokumente, etwa der »Letters of Intent«, zentraler Programmevaluierungen oder der Berichte über die Kapitel-IV-Konsultationen (wobei letzteres allerdings an die Zustimmung der betroffenen Mitgliedsregierungen gebunden bleibt) sowie in Bezug auf die Schaffung regelmäßiger Konsultationsmechanismen erreichen.

Gleichwohl spiegelt sich in diesen Veränderungen ein Dilemma, das besonders für NGOs von Bedeutung ist: Unter dem Aspekt wünschenswerter Korrekturen der Weltgemeinschaft an der politischen Ausrichtung der Bretton-Woods-Institutionen ist beispielsweise eine Berichtspflicht des IWF vor der UNO dann von beschränktem Wert, wenn sich auch dort – wie in jüngster Zeit zu beobachten – die Maximen der Marktgläubigkeit, der Privatisierung und Deregulierung verstärkt durchsetzen (Brühl/Debiel/Hamm/Hummel/Martens, 2001). Und auch die Durchschlagskraft von sozialen Bewegungen und NGOs gegenüber den Institutionen der globalen ökonomischen Governance bleibt letztlich von einem politischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel abhängig. Bleibt dieser aus, können institutionelle Reformen, wie die Einbeziehung von NGOs, die überkommene Politik sogar noch stärken, indem über ihre Kooptation Ressourcen (z.B. Expertise) abgeschöpft und die Durchsetzungsstrukturen der herrschenden Politik sogar noch effektiviert werden.

Literatur

Bello, Walden (1994): Dark Victory. The United States, Structural Adjustment, and Global Poverty, London.

Brühl, Tanja/Tobias Debiel/Brigitte Hamm/Hartwig Hummel/Jens Martens (Hg.) (2001): Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess, Bonn.

Falk, Rainer (2001): Die Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwischenbilanz und Perspektiven der internationalen Debatte, WEED Arbeitspapier, Bonn.

Gill, Stephen (2000): The Constitution of Global Capitalism, Paper presented to a Panel. The Capitalist World, Past and Present at the International Studies Association Annual Convention, Los Angeles.

Griffith-Jones, Stephany/Jenny Kimmis (2001): The Reform of Global Financial Governance Arrangements, Report prepared for the Commonwealth Secretariat, Institute of Development Studies/University of Sussex.

Khor, Martin (2000): Globalization and the South. Some Critical Issues, UNCTAD Discussion Paper, No. 147/April.

Mohammed, Aziz Ali (2000): The Future Role of the IMF. A Developing Country Point of View, in: Teunissen 2000.

O‘Brien, Robert/Anne Marie Goetz/Jaan Aart Scholte/Marc Williams (2000): Contesting Global Governance. Multilateral Economic Institutions and Global Social Movements, Cambridge.

Teunissen, Jan Joost (ed.) (2000): Reforming the International Financial System. Crisis Prevention and Response, The Hague.

Therborn, Göran (2000): Europa im 21. Jahrhundert: das Skandinavien der Welt, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 12/2000.

Anmerkungen

1) Wie das Tauziehen um die »Auswahl« des Nachfolgers von Michel Camdessus auf dem Posten des Geschäftsführenden Direktors des IWF gezeigt hat, ist von dieser Asymmetrie der Machtverhältnisse allerdings keineswegs ausschließlich die »Dritte Welt« betroffen, sondern auch die europäischen Mitgliedsländer, die bislang keineswegs in der Lage sind, mit einer Stimme im Fonds zu sprechen. Ein bescheidener Ansatzpunkt in diese Richtung kann in der Idee von Bundesfinanzminister Eichel gesehen werden, künftig eine gemeinsame Vertretung mit Frankreich im IWF anzustreben. Ein genuin »europäischer« Ansatz sollte jedoch wesentlich stärker die Bündnismöglichkeiten mit dem Süden zur Änderung der Kräfteverhältnisse im IWF ausloten.

2) „are engaged in a process of liberalizing the world economy and subjecting more social and economic areas to the discipline and imperative of market forces. GSMs are often engaged in a defensive movement against such coercion. In many cases, they challenge the underlying neoliberal philosophy and material interests behind MEI policy. Indeed, elements of the GSMs we are examine are anti-systemic in that they challenge the principles upon which existing MEI multilateralism is built“

Rainer Falk, Wirtschaftspublizist, ist verantwortlicher Redakteur des Informationsbriefs Weltwirtschaft und Entwicklung, Bonn

Mazedonien und der internationale Anteil am Konflikt

Mazedonien und der internationale Anteil am Konflikt

von Jan Oberg

Tausende sind in Mazedonien auf der Flucht. Jetzt wird scharf geschossen in dem Land, das uns noch vor nicht allzu langer Zeit in den westlichen Medien als „Oase des Friedens“ und Erfolgbeispiel für „präventive Diplomatie“ präsentiert wurde. Fragen wir nach den Gründen, so hören wir zum x-ten Male die Mär von der alleinigen Schuld der lokalen Konfliktparteien. Glaubt man dem politisch-militärisch-medialen Komplex, so spielt die internationale »Gemeinschaft« nur den noblen Part, die Konfliktpartner an den Verhandlungstisch zu bringen. Doch die Wirklichkeit sind anders aus, die internationale »Gemeinschaft« hat einen entscheidenden Anteil an diesem Konflikt:

  • Das Potenzial der OSZE wurde nie gänzlich ausgeschöpft. Die OSZE-Mission in diesem Land hat beeindruckende Arbeit geleistet durch Förderung einer demokratischen und toleranten politischen Kultur. Ihr wurden jedoch nie die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt, um wirklich prägend zu wirken. Schließlich wurde die OSZE in der neuen Welt-»ordnung« an den Rand gedrängt.
  • Mazedonien wurde gezwungen, sich gegen Jugoslawien auf die Seite des Westens zu stellen. Das Milosevic-Holbrooke-Abkommen vom Herbst 1998 über eine OSZE-Beobachter-Mission im Kosovo führte zum Einsatz einer »Extraction Force« in Mazedonien. Belgrad betrachtete diese Einheit als klaren Bruch des Abkommens und als Bedrohung. Dies wiederum zwang Mazedonien, eine antijugoslawische Rolle zu spielen, die allen anderen diente, nur nicht dem Land selbst. Belgrad sah von nun an Mazedonien als mögliches Ziel für Vergeltungsaktionen an.
  • Mazedoniens territoriale Integrität und Souveränität wurden verletzt. Mazedonien musste Luftraumverletzungen durch die NATO hinnehmen als Wesley Clarke Angriffssimulationen in großer Höhe durchführen ließ, um die jugoslawische Luftabwehr zu testen und mit Krieg zu drohen. Der damalige Präsident Mazedoniens, Kiro Gligorov, erzählte mir, er habe erst aus den Abendnachrichten von diesen Manövern erfahren. Die Souveränität des gerade unabhängig gewordenen und zerbrechlichen Mazedonien wurde also vom Westen nicht respektiert.
  • Mazedonien wurde Militärbasis und Flüchtlingscamp für den Westen. Die NATO-Bombenangriffe machten 1999 aus Mazedonien ein kombiniertes Militär- und Flüchtlingslager. Dass das Land dies physisch und politisch überlebte, ist schon ein Wunder. Aus psychologischer Sicht heraus wurde jedoch seine Identität als unabhängiges, souveränes Land in den Grundmauern erschüttert. Seither besteht Ungewissheit über seine Fähigkeit zum Zusammenhalt sowie über seinen künftigen Kurs gegenüber EU und NATO.
  • Die Sanktionen zerstörten die Wirtschaft. Ein Jahrzehnt westlicher Sanktionen gegen Jugoslawien hatte nur negative Auswirkungen auf Mazedonien. Mazedonien verlor seine wichtigsten Absatzmärkte. Es konnte entweder die Sanktionen befolgen durch Schließung der Grenzen; das hätte zum Bankrott geführt, oder es konnte sich durchmogeln durch Kriminalisierung seines Außenhandels, d.h. eine große Menge Waren durchzulassen nach Serbien/Kosovo. Die offizielle Lesart im Westen war die, dass Mazedonien sich loyal zum Sanktionsregime verhalte, internationale Beobachter wussten es besser. Das gab der Mafia Auftrieb. Die Kriminalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen fiel zusammen mit der Aneignung von Gemeineigentum, das die Arbeiter in den zurückliegenden Jahrzehnten erwirtschaftet hatten, durch Aktiengesellschaften, die von den Anführern neuer Parteien kontrolliert wurden. Im westlichen Sprachgebrauch nennt man so etwas Privatisierung und Demokratie. Die Korruptionsskandale von heute sind jedoch strukturelle Folge dieser von außen aufgezwungenen Privatisierung.
  • Mazedonien erhielt keinen Schadensersatz. Der Preis, den Jugoslawiens Nachbarländer für die Sanktionen zu bezahlen hatten, wird auf 25 Milliarden US-Dollar geschätzt, Der Anteil Jugoslawiens am mazedonischen Außenhandel war groß, im Gegensatz zu dem der westlichen Industrienationen, für die der Nicht-Handel mit Jugoslawien praktisch auch nichts bedeutete. Ein TFF-Mitarbeiter hat den mazedonischen Präsidenten Trajkowski gefragt, ob er irgendeine Entschädigung vom Westen für die Benutzung als Militärbasis, den Zustrom von Flüchtlingen und die Sanktionen erwarte. Seine gewundene, diplomatische Antwort kann man durchaus als Nein verstehen.
  • Die Internationale Gemeinschaft log bezüglich der Demobilisierung der KLA/UCK. Mazedoniens aktuelle Krise ist eine Folge des militärischen und politischen Scheiterns der KFOR/NATO und der UNMIK-Mission im besetzten Kosovo. Im Gegensatz zu dem Gedächtnisverlust, an dem der politisch-militärisch-mediale Komplex leidet, können einige von uns sich gut an die Geschehnisse vor zwei Jahren erinnern. Rambo-ähnliche NATO-Soldaten rollten ein und zerhackten den Kosovo in Sektoren, schickten die jugoslawischen Kräfte, Soldaten, Verwaltungsleute und ihre Familien nach Serbien und erklärten selbstsicher, die Kosovo-Befreiungsarmee UCK sei entwaffnet und aufgelöst worden, Stabilität sei eingekehrt. Die UCK und ihr nahe stehende Politiker zeigten sich wunderbar kooperativ und wurden für die Demobilisierung und Auflösung mit der Aufstellung des Kosovo Protection Corps, KPC, belohnt. Dieses wird buchstäblich von den gleichen Generälen befehligt, aber man behauptet, es sei rein zivil und diene unter anderem als Feuerwehr. Während die UCK 20.000 Mann zählte, umfasst das KPC nur 5.000 Mann. Wir haben nie gehört, was der Rest macht.
  • UN und NATO/KFOR sind blind für UCK-Aggressionen. Weniger als ein Jahr nach der »vollständigen Auflösung« der UCK sind UCK-Einheiten, wie es scheint, ungehindert durch den US-amerikanischen Sektor in die demilitarisierte Zone gelangt. Von Basislagern, die sie dort eingerichtet haben, greifen sie Ziele in Serbien an. Wenn Kosovo internationales Protektorat ist, dann kommt die UCK-Aktivität in Serbien einer internationalen Aggression gleich. Buchstäblich kein westliches Medium wirft die Frage auf, wie eine aufgelöste UCK, der alle Waffen abgenommen wurden, einen Angriff über eine international gesicherte und geschützte Grenze vortragen konnte? Wieso waren sie dazu in Lage unter den Augen von 40.000 NATO-KFOR-Soldaten? Auch bleibt die Frage unbeantwortet, woher die UCK die Waffen hat. Hat sie sie in Wirklichkeit behalten – das würde bedeuten, die NATO hätte den Rest der Welt belogen – oder wurde die UCK entwaffnet und erhielt später von irgend jemand die Waffen wieder zurück?

Als wäre dies noch nicht genug, tauchten im März albanische militärische Einheiten in Mazedonien auf. Nach Angaben aller Beobachter sind sie vorwiegend aus dem Kosovo ausgerüstet worden und treten meist offen als UCK auf. Sie erzählen den Medien, dass sie 40.000 Mann unter Waffen stellen können und dass die Mazedonier nur eine Sprache verstünden, die Sprache der Gewalt.

  • UN-Warnungen wurden ignoriert

Die UNPREDEP-Mission in Mazedonien war einer der besten Einsätze in der Geschichte der Vereinten Nationen. Es war das meistgelobte Beispiel für präventive Diplomatie. Das militärische und das zivile UN-Personal brachte mehr Stabilität als jeder andere Akteur. Die Leitung von UNPREDEP warnte aber auch wiederholt, dass, wenn die NATO Jugoslawien bombardieren sollte, sie das Leben des UN-Personals, das auf der anderen Seite der Grenze tätig war, nicht schützen könne. Die USA, NATO und EU-Länder wollten aber das benachbarte Jugoslawien bombardieren und das konnte Vergeltungsschläge Jugoslawiens gegen Mazedonien mit sich bringen. Deshalb wurde die Mission durch diplomatische Intrigen zum Verlassen des Landes gezwungen.

  • UNPREDEP wurde durch eine Intrige beendete Vasil Turpokowski war ein mazedonisches Mitglied im Jugoslawischen Staatsrat und lebte anschließend in den Vereinigten Staaten. Er kehrte zurück, um als Präsident Mazedoniens zu kandidieren und versprach, er könne 1.000 Millionen US-Dollar als Geschenk für Mazedonien erhalten, wenn Mazedonien Taiwan anerkenne. Eine große Summe für ein kleines Land und die damalige mazedonische Regierung erkannte Taiwan an. China, das als eines der ersten Länder das unabhängige Mazedonien anerkannt hatte, reagierte daraufhin mit einem Veto gegen die Verlängerung des UNPREDEP-Mandats. Eine Entscheidung, die den USA entgegen kam: Zum ersten Mal nahmen US-Amerikaner an einer Peacekeeping-Mission in Mazedonien teil und wenn die NATO Jugoslawien bombardieren würde, könnten junge US-Amerikaner (und anderes UN-Personal) bei jugoslawischen Vergeltungsaktionen gegen die Extraction Force und UN ums Leben kommen. Jetzt konnte man die eigenen Staatsbürger abziehen. Noch dazu konnte das chinesische Veto als Argument benutzt werden, um »humanitäre Intervention« von einem Mandat des UN-Sicherheitsrats abzukoppeln. »Gute Taten« dürfen schließlich nicht durch ein einzelnes Veto verhindert werden.

Wer die Schuld für diese Entwicklung einseitig China zuschiebt, muss sich allerdings fragen lassen, warum weder eine Regierung, die sich Sorgen über Mazedoniens Zukunft machte, noch die UN versucht haben, die Regierung Mazedoniens von dem verhängnisvollen Schritt abzuhalten, die Bedeutung der Taiwan-Frage für China ist doch nur zu gut bekannt.

Bleibt noch zu erwähnen, dass Mazedonien nur einen Bruchteil des versprochenen Geldes sah. Aber die NATO-Länder kriegten was sie wollten: Die UN war raus, die NATO war drin und China war sauer.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es in Mazedonien nicht darum geht, dass Mazedonier und Albaner »plötzlich« begonnen haben auf einander loszuschlagen. Die Wahrheit ist etwas komplexer. Natürlich trägt auch Mazedonien Verantwortung für die gegenwärtige Situation. Aber es ist ein vergleichsweise geringer Faktor. Ein Jahrzehnt westlicher Politik: Die Verhinderung einer gemeinsamen Mission für Kosovo und Mazedonien, das Einzige, was Ende der 90er Jahre noch Sinn gemacht hätte, die NATO-Bombardierung, das Scheitern der NATO/KFOR und UN-Mission im Kosovo, das sind die Faktoren, die diese Region unreparabel destabilisiert haben.

Jan Oberg, Direktor der »Transnational Foundation for Peace und Future Resaerch« (TFF), Lund, Schweden

Nicht der Sieg – der Krieg ist das Ziel

Nicht der Sieg – der Krieg ist das Ziel

von Jürgen Nieth

Seit über dreißig Jahren ist in Angola Krieg. Die vereinbarten Kampfpausen hielten nie lange. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung hatte also nicht einmal die Chance Frieden zu erleben. Aber – wenn auch die Folgen für die Bevölkerung gleich katastrophal sein mögen – der Krieg selbst ist nicht mehr der gleiche wie der in den siebziger Jahren. Am Anfang stand in Angola der Befreiungskampf gegen die portugiesischen Kolonialherren, es folgte der ideologisch motivierte – und im Kalten Krieg von den unterschiedlichen Lagern mit Waffen, Geld und Politik gestützte – Kampf der antikommunistischen Rebellenbewegung UNITA gegen die marxistisch orientierte MPLA-Regierung. Heute sind dem Namen nach die Konfliktparteien immer noch dieselben, doch die Inhalte haben sich grundlegend geändert. Das Kriegsziel mag noch der militärische Sieg über den anderen sein, doch längst geht es nicht mehr um unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen, es geht um Macht und zusätzlichen Ressourcen. Die Einen (UNITA) finanzieren sich und den Krieg aus dem Diamantenhandel und die Anderen (Regierung) aus dem Ölhandel. Vergleicht man die Situation mit der in Moçambique und Guinea-Bissau, die im antikolonialen Befreiungskampf an der Seite Angolas standen, wird sichtbar, dass eigene Rohstoffreserven, in denen früher eine Chance für die Entwicklung gesehen wurde, heute oft kriegsverlängernd wirken.

Sicher, die Bereicherung, der Zugang zu Rohstoffen etc., das waren auch im vergangenen Jahrhundert die herausragenden Kriegsziele – politische, ethische und religiöse Begründungen kaschierten die wahren Hintergründe und dienten nur all zu oft der Herstellung einer Kriegsbereitschaft.

Heute scheint in einigen Konflikten selbst diese Funktion der Politik eine immer geringere Rolle zu spielen. Wenn das »Soldaltsein« die Voraussetzung ist, um etwas zu essen zu bekommen, braucht man sich um Söldner selten Sorgen zu machen (Kinder, die Waffen tragen und bedienen können, sind in vielen Ländern ein zusätzliches – leicht zu handhabendes – Rekrutierungspotenzial). Und wenn Kriegsherren erkennen, dass sie sich vor allem im Krieg schamlos bereichern können, dann entsteht schnell eine Situation, in der nicht mehr der Sieg das Kriegsziel ist, sondern der Krieg selbst zum Ziel wird.

Das ist die Situation in einigen der »Raubökonomien« auf dem afrikanischen Kontinent und das gilt auch für »Drogenökonomien« wie Kolumbien und Afghanistan. Und es sind diese neuen Aspekte der »Ökonomie der Bürgerkriege«, die wir in der vorliegenden Ausgabe von W&F etwas näher beleuchten wollen.

Gleichzeitig geht es um Gegenstrategien, um Möglichkeiten der Eindämmung der Konflikte und der Prävention. Für mich steht dabei fest, dass »Bürgerkriege« mit Militäreinsätzen von außen nicht zu lösen sind. Ein Blick zurück unterstreicht das: Für die riesige Militärmaschinerie der USA endete die Parteinahme in Vietnam genauso in einem Desaster, wie für die Rote Armee der Einmarsch in Afghanistan; während des Bürgerkrieges in Somalia mussten gleich mehrere hochgerüstete Länder erfolglos abziehen und im Kosovo werden wohl auf Jahre Zehntausende NATO-Soldaten stationiert sein, da die Probleme verlagert aber nicht gelöst wurden.

Sicher sind auch die politischen und ökonomischen Möglichkeiten zur Eindämmung dieser Kriege begrenzt. Manche Kriege werden sich erst in einem langwierigen Prozess erschöpfen, andere werden trotz Hilfsangeboten oder Druck von außen noch Jahre weitergehen. Trotzdem gilt es alle politischen, diplomatischen und ökonomischen Möglichkeiten zu nutzen zur Beendigung von Bürgerkriegen. Es geht um Beratung, Vermittlung, um ökonomische Anreize, um Hilfe bei der Konversion der Kriegswaffen usw. Es geht aber auch um politischen Druck, um Handelsboykott und u. U. Blockade. Mit Öl und Diamanten lässt sich eben erst dann Krieg führen, wenn sie über den Weltmarkt zu Waffen werden, und geschossen wird immer noch vorwiegend mit europäischen und nordamerikanischen Waffen.

Mindestens genauso wichtig wie das Ausschöpfen aller Möglichkeiten zur Konflikteindämmung ist die Konfliktprävention. Eine erfolgreiche Arbeit auf diesem Gebiet erfordert allerdings deutliche Korrekturen in der »Entwicklungspolitik«. Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch und auch wenn hier nur punktuell Wirkung erzielt werden kann, so ist doch zu hoffen, dass diese endlich eine stärkere Beachtung finden. Dass die Entwicklungspolitik umfassend präventiv wirken könnte, davon ist allerdings angesichts des dauernd sinkenden Stellenwertes in der Bundespolitik – man sehe nur den erneut stark gerupften Etat – nicht auszugehen. Wirkliche Konfliktprävention, das hieße ein grundsätzliches Umsteuern in der Wirtschaftspolitik durchzusetzen: das Ende der Ausbeutung des Südens durch den Norden.

Doch bis dahin wird sicher nicht nur viel Wasser den Rhein runter fließen.

Ihr Jürgen Nieth

Die OSZE als Instrument ziviler Konfliktbearbeitung

Die OSZE als Instrument ziviler Konfliktbearbeitung

Eine kritische Bilanz

von Sabine Jaberg

Fünfundzwanzig Jahre nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ist die damalige Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und heutige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)1 kaum wiederzuerkennen: Aus einer stets gefährdeten Konferenzfolge zum Zweck der Entdramatisierung des globalen Macht- und Systemkonflikts ist mit Einschnitt des Pariser Gipfels 1990 schrittweise eine in Wien quasi sesshaft gewordene Institution ziviler Konfliktbearbeitung geworden, die sich mit gewaltfreien Mitteln um die friedliche Austragung von Streitigkeiten bemüht. Seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 gilt sie sogar als regionale Abmachung gemäß Kapitel VIII der UNO-Charta. Gerade aber der Krieg der NATO gegen Jugoslawien im letzten Jahr wirft Fragen nach der Leistungsfähigkeit der OSZE auf.2 Ihre Beantwortung erfolgt in drei Schritten: Zuerst geht es um eine kurze Skizzierung der zivilen Instrumente der OSZE, danach werden ihre grundlegenden Defizite bzw. Probleme aufgezeigt, um abschließend eine kurze Bilanz und Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Mittlerweile besitzt die OSZE zahlreiche Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung, so dass zumindest von Ansätzen eines umfassenden Gewaltvermeidungsregimes gesprochen werden kann:3

  • Langfristige Gewaltprävention: Sie zielt im Wesentlichen auf die Beeinflussung struktureller Rahmenbedingungen; Gewalt begünstigende Faktoren sollen abgebaut und Gewaltfreiheit fördernde Faktoren gestärkt werden. Der Schwerpunkt der OSZE liegt dabei auf zwei Feldern: Zum einen trägt sie zur Stärkung von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten bei. Wichtige Instrumente hierzu sind unter anderem Wahlbeobachtungen, Aktivitäten des Beauftragten für Medienfreiheit und vor allem dauerhafte Präsenz vor Ort: Mit Missionen und Verbindungsbüros ist die OSZE auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentral- und Osteuropa sowie in Zentralasien bereits über längere Zeit relativ stark vertreten. Zum anderen unterstützt sie auf militärischem Gebiet Abrüstung, Transparenz und Vertrauensbildung. Demgegenüber zeitigt sie beim ökonomischen Ausgleich – einem entscheidenden Element langfristiger Gewaltprävention – noch keinen signifikanten Mehrwert.4
  • Friedliche Streitbeilegung:In diesem Bereich verfügt die OSZE mit dem Valletta-Verfahren und dem Gerichtshof in Genf über spezialisierte Instrumente.5
  • Frühwarnung: Hier besteht seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 ein Verfahren, nach dem die politischen Institutionen bei einer problematischen Entwicklung nicht nur durch die Teilnehmerstaaten, sondern auch durch andere Mechanismen (etwa dem zur Menschlichen Dimension) aktiviert werden können. Mit dem Hohen Kommissar für nationale Minderheiten6 (HKNM) existiert ein Frühwarn-Instrumentarium speziell für Konflikte, in denen nationale Minderheiten involviert sind.
  • Aktive Konfliktintervention: Der HKNM dient nicht nur der Frühwarnung, sondern auch der aktiven Konfliktintervention zum frühstmöglichen Zeitpunkt. Obwohl seine Arbeit wenig sichtbar ist, hat er doch mit seiner Begleitung minderheitenrelevanter Gesetzgebungsverfahren zur Entschärfung mancher Spannungen beigetragen (z.B. in Estland und Rumänien). Das Geheimnis des Erfolgs sieht der gegenwärtige Amtsinhaber Max van der Stoel in seiner Rolle als für die Konfliktparteien akzeptabler „außenstehend(r) ehrliche(r) Makler.7 In den Bereich aktiver Konfliktintervention fallen des weiteren Aktivitäten des Amtierenden Vorsitzenden bzw. seiner Persönlichen Beauftragten (z.B. in Jugoslawien, Albanien und zu Nargono-Karabach). Darüber hinaus befindet sich die OSZE seit dem Istanbuler Gipfel Ende letzten Jahres im Aufbau »Schneller Einsatzgruppen für Expertenhilfe und Kooperation« (REACT) mit dem Ziel, ziviles und polizeiliches Expertenwissen bei Bedarf rasch einsetzen zu können.
  • Zwangsmaßnahmen: Als primär kooperatives Sicherheitssystem verfügt die OSZE kaum über Möglichkeiten zu Maßnahmen, mit denen sie säumige Teilnehmerstaaten zur Einhaltung eingegangener Verpflichtungen zwingen könnte. Eine einzige Ausnahme besteht: In Fällen von eindeutigen, groben und nicht behobenen Verletzungen im Bereich der Menschlichen Dimension sind der OSZE „politische Erklärungen oder andere politische Schritte, die außerhalb des Territoriums des betroffenen Staates anwendbar sind“8 erlaubt, ohne dass der sanktionierte Teilnehmer zustimmen müsste (»Konsens minus eins«). Bei weitläufiger Interpretation wären sogar Embargo-Maßnahmen – nicht jedoch deren gewaltsame Durchsetzung – erfasst. Bislang hat die OSZE von dieser Regelung mit der Suspendierung Jugoslawiens 1992 nur einmal Gebrauch gemacht – mit dem problematischen Resultat der Nichtverlängerung des Mandats für die Langzeitmissionen im Sandschak, im Kosovo und in der Vojvodina.
  • Konfliktnachsorge/Friedensstabilisierung: Hier besitzt die OSZE seit den Beschlüssen von Helsinki 1992 die Option traditionellen Peacekeepings – auch Langzeitmissionen (wie etwa in Georgien) und künftig auch REACT-Ressourcen könnten in diesem Stadium eingesetzt werden. Bereits jetzt übernimmt sie im Kosovo gemeinsam mit der UNO quasi Staatsaufgaben und trägt Verantwortung für den Aufbau einer multiethnischen Polizei.

Defizite/Probleme der OSZE

Die positiven Ansätze dürfen aber nicht über grundlegende Defizite und Probleme hinwegtäuschen.9

Radio Eriwan-Syndrom

Der Sachverhalt, dass die OSZE über Ansätze eines umfassenden Gewaltvermeidungsregimes verfügt, ist Ausdruck der abstrakten Einsicht ihrer Teilnehmerstaaten in dessen Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit. Die Umsetzung in konkrete Praxis jedoch leidet unter dem Radio Eriwan-Syndrom (»Im Prinzip ja, aber…«). Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.

  • Verfahren friedlicher Streitbeilegung: Im Prinzip erkennen die Teilnehmerstaaten den Vorteil friedlicher Beilegung ihrer untereinander bestehenden Streitigkeiten, denn auf dem Wiener Folgetreffen (1986-1989) akzeptieren sie „grundsätzlich die obligatorische Hinzuziehung einer Drittpartei.“10 Das ausgearbeitete Valletta-Dokument scheint diesem Auftrag entsprochen zu haben, denn es proklamiert ausdrücklich die „obligatorische Hinzuziehung einer Drittpartei.“11 Das konkrete Verfahren aber verfehlt den erhobenen Anspruch, denn es unterliegt einem Vorbehalt: So kann eine Partei die Aktivierung bzw. Fortsetzung des Verfahrens verhindern, wenn sie zur Auffassung gelangt sein sollte, dass „der Streitfall Fragen ihrer territorialen Integrität oder ihrer Landesverteidigung, ihrer Hoheitsansprüche auf Landgebiete oder konkurrierende Ansprüche hinsichtlich der Hoheitsgewalt über andere Gebiete berührt.“12 Damit sind besonders eskalationsträchtige Konflikte zumindest der Möglichkeit nach aus dem Verfahren ausgeklammert – ganz abgesehen von dem grundsätzlichen Defizit, dass die äußerst dringliche Problematik innerstaatlicher Konflikte gar nicht erst berücksichtigt worden ist. Auch die Ergebnisse des KSZE-Rates von Stockholm 1992 haben mit dem Vergleich auf Anordnung, der Einrichtung einer Vergleichskommission sowie der Etablierung eines Gerichtshofs auf völkerrechtlicher Grundlage keinen Durchbruch zu einem wirklichen Obligatum erzielt.13 Das Faktum, dass sowohl der Valletta-Mechanismus als auch der Gerichtshof bislang nicht angerufen worden sind, verwundert aufgrund ihrer immanenten Defizite nicht.
  • HKNM: Im Prinzip gestehen die Teilnehmerstaaten mit der Einrichtung dieser Institution 1992 in Helsinki ein14, dass die Entschärfung von Minderheitenkonflikte spezifischer Instrumente bedarf. Tatsächlich stellt der HKNM nicht nur die wohl effektivste, sondern auch die innovativste Einrichtung der OSZE dar: Erstens erlaubt das Mandat dem Amtsinhaber grundsätzlich, aus eigenem Entschluss tätig zu werden, zweitens übernimmt der HKNM eine für erfolgreiche Bewältigung nationaler Minderheitenkonflikte unverzichtbare Scharnierfunktion zwischen Staaten- und Gesellschaftswelt. Die konkrete Tätigkeit des HKNM aber unterliegt zahlreichen Restriktionen. Zum einen kann ein Teilnehmerstaat die Eigeninitiative des HKNM in einem speziellen Fall unterbinden, indem er diesbezüglich an den Hohen Rat/Ständigen Rat eine konkrete Frage heranträgt mit der Folge, dass der HKNM nun ein konsensual zu beschließendes Mandat benötigt. Diese Regelung kommt einem Vetorecht für jeden Teilnehmerstaat gleich.15 Zum anderen ist es dem HKNM strikt untersagt, in – letztlich von den Regierungen definierten – Fällen „organisierte(r), terroristische(r) Handlungen“16 aktiv zu werden. Dieses Verbot trägt dazu bei, virulente Minderheitenkonflikte (vornehmlich in den westlichen Staaten) aus dem Tätigkeitsfeld des HKNM auszuschließen. Schließlich darf sich der HKNM nur mit Fällen zwischenstaatlicher Relevanz befassen. Damit droht die Gefahr, dass explosive Konflikte nicht oder zu spät entschärft werden.

Konkurrenz von ziviler Konfliktbearbeitung
und militärischer Friedenserzwingung

Die OSZE befindet sich mit ihren Bemühungen um friedliche Friedens- und Sicherheitsgewährleistung in zweierlei Hinsicht in Konkurrenz zu militärischen Ansätzen:

  • Inkompatibilität ziviler und militärischer Logik: Beiträge ziviler Konfliktbearbeitung und Versuche militärischer Friedenserzwingung schließen sich im Prinzip gegenseitig aus. So musste die im Zuge des Holebrooke-Milosevic-Abkommens im Oktober 1998 etablierte Verifikationsmission der OSZE im Kosovo (KVM) nach glaubhafter Androhung von Luftschlägen im wahrsten Sinn des Wortes das Feld für den NATO-Krieg im März 1999 räumen.17 Wäre die Mission weiterhin im Land geblieben, hätte ihren Mitgliedern ebenso wie einigen UNO-Blauhelmen zuvor in Bosnien-Herzegowina im Frühjahr 1995 Geiselhaft gedroht. Dies hätte die Angreifer in eine politisch wie moralisch noch prekärere Lage gebracht als jene, in der sie sich aufgrund fragwürdiger völkerrechtlicher Grundlagen ihrer Erzwingungsaktion ohnehin schon befanden.
  • Kampf um knappe Ressourcen: Obwohl der Haushalt der OSZE von zwölf Mio. Euro im Jahr 1993 auf 208 Mio. Euro im Jahr 2000 um den Faktor achtzehn gestiegen ist,18 nimmt er sich im Vergleich mit dem NATO-Haushalt von 270,4 Mrd. US-Dollar im Jahr 1998 relativ bescheiden aus.19 Bereits diese Daten verdeutlichen die tatsächliche Prioritätensetzung jenseits politischer Rhetorik.

Instrumentalisierung für partikulare Anliegen

Dass die OSZE mit relativ wenig finanziellen Mitteln auskommt, lässt sich auf der einen Seite als komparativer Vorteil gegenüber finanziell aufwendigeren Organisationen (z.B. NATO und UNO) interpretieren. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass eine am Existenzminimum gehaltene Einrichtung für erfolgreiche Instrumentalsierungsversuche durch die mächtigeren Mitglieder besonders anfällig ist:

  • Verweigerung einer unabhängigen Organisationsidentität: Zahlreiche Defizite verhindern bislang die Entstehung einer von den Teilnehmerstaaten unabhängigen Organisationsidentität mit der Fähigkeit zur Erfahrungs- und Wissensakkumulation als Kern:20 Da die Aufgabe des Konfliktverhütungszentrums als Teil des Sekretariats im Wesentlichen darin besteht, Missionen infrastrukturell zu stützen, fehlt es erstens immer noch an einer Einrichtung, die problematische Entwicklungen unabhängig systematisch analysiert, Gegenmaßnahmen entwirft und Vorschläge in den politischen Prozess einspeist. Zweitens muss die OSZE im Einzelfall Personal aus den Teilnehmerstaaten rekrutieren und die Tätigkeitsdauer der – ohnehin relativ geringen – OSZE-eigenen Angestellten ist auf maximal sieben Jahre beschränkt. Drittens fehlen der OSZE Ausbildungskapazitäten. Damit gerät die OSZE in Abhängigkeit jener Staaten, die in der Lage sind, auftretenden Engpässen fallweise abzuhelfen.
  • Missbrauch von OSZE-Einrichtungen zu partikularen Zwecken: Zweifelsohne bietet der relativ große eigenständige Handlungsspielraum einiger Einrichtungen die Chance auf ein hohes Maß an Problemorientierung, sofern sich die jeweils handelnden Personen darum bemühen – wie etwa der gegenwärtige HKNM Max van der Stoel. Problematisch wird relative Autonomie aber dann, wenn AmtsinhaberInnen sich als verlängerte Arme ihrer jeweiligen Regierungen begreifen. Heinz Loquai, ehemaliger Militärberater der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE, kritisiert mit dem Leiter der KVM William Walker einen besonders prominenten Fall: „Es war kein Geheimnis, dass Missionschef Walker nicht so sehr Leiter einer internationalen Mission war, sondern die amerikanische Kosovo-Politik durchzusetzen hatte und von Washington gesteuert wurde.“21 Ähnlichen – von Alexander Matwejew geäußerten – Vorwürfen sieht sich der damalige Amtierende Vorsitzende, der Norweger Knut Vollebaek ausgesetzt: „Die Tatsache, dass der Amtierende Vorsitzende aus einem Staat kommt, der Mitglied der NATO ist und an dem Krieg beteiligt war, hat natürlich die Unabhängigkeit dieses Amtes und seine Fähigkeit, im Namen der ganzen OSZE zu sprechen, deutlich reduziert.“22

Zweiklassengesellschaft

Obwohl die Instrumente der OSZE bei Bedarf auf alle Teilnehmerstaaten gleichermaßen anwendbar sind, kristallisiert sich in der Praxis eine Zweiklassengesellschaft heraus.23 Auf der einen Seite befinden sich die Mitglieder westlicher Organisationen (insbesondere NATO und EU), auf der anderen Seite stehen die Staaten, welche in diese Einrichtungen drängen oder wie Russland auf massive wirtschaftliche Unterstützung angewiesen sind. Dieses Kräfteverhältnis verursacht ein geografisches wie politisches Ungleichgewicht innerhalb der OSZE: Sie dient im Wesentlichen der Intervention in Konflikte östlich der alten Systemgrenze. Dort entfaltet der HKNM seine Tätigkeiten, befinden sich Langzeitmissionen und werden Wahlen beobachtet. Dies mag auch Ausdruck davon sein, dass in diesem Gebiet immenses Konfliktpotenzial besteht und Demokratie noch weitgehender Unterstützung bedarf. Wenn jedoch massive Minderheitenkonflikte in westlichen Staaten (z.B. Spanien, Großbritannien und Türkei) systematisch ausgegrenzt und grundsätzliche Probleme bei der Beachtung der Menschenrechte (insbesondere in der Türkei) gleichsam tabuisiert sind, dann untergräbt diese Einseitigkeit langfristig Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der OSZE vor allem in jenen Staaten, die ihrer Unterstützung am meisten bedürfen.

Hegemoniale Ordnungspolitik

Parallel zur Etablierung kooperativer Sicherheitselemente haben nahezu sämtliche OSZE-Staaten mit einseitiger Machtpolitik ihren Vorteil gesucht. Der NATO bzw. ihren Mitgliedern ist es sogar gelungen, hegemoniale Ambitionen schrittweise durchzusetzen:24 Bereits auf dem Pariser Gipfel 1990 scheiterten weitergehende Vorschläge im Bereich ziviler Gewaltvorsorge und kollektiver Sicherheit nicht zuletzt am Widerstand der USA und Großbritanniens. Auf dem Budapester Gipfel wurde zwar die KSZE in OSZE umbenannt, die dort vorgesehene Diskussion über ein europäisches Sicherheitssystem war aber von der NATO mit ihrer Entscheidung über die Bündniserweiterung bereits unterlaufen. Ihr Beschluss symbolisierte den Anspruch »NATO first«. Der Luftkrieg gegen Jugoslawien setzte ihn in politische Praxis um: Spätestens mit der Entscheidung des Amtierenden Vorsitzenden der OSZE über den Abzug der KVM war endgültig „die Entscheidungskompetenz von Wien zur NATO nach Brüssel transferiert“25 (Heinz Loquai).

Bilanz und Perspektive

Fünfundzwanzig Jahre nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und zehn Jahre nach dem Pariser Gipfel muss gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher26 eine gemischte Bilanz gezogen werden: Einerseits ist die OSZE als Dienstleistungsunternehmen im Bereich ziviler Konfliktbearbeitung fester Bestandteil gesamteuropäischer Ordnung geworden. Ihre Stärke liegt in der Thematisierung und Beobachtung problematischer Entwicklungen. Mit dem Beschluss zur Einrichtung von REACT wird ihre eklatante Lücke zwischen early warning und early action ein wenig verringert. Andererseits müssten mittlerweile selbst diejenigen, welche die OSZE lediglich als Serviceleisterin erhalten wollen, sich die Frage stellen, wie lange dies bei ihrer politischen Marginalisierung und Instrumentalisierung noch möglich ist. Schließlich basiert der Erfolg ziviler Konfliktintervention auf der Legitimität der durchführenden Institution. Aber bereits jetzt begreifen betroffene Staaten (z.B. die Ukraine) den Einsatz von OSZE-Instrumenten als Makel.27 Letztlich führt im Interesse friedlicher Konfliktbearbeitung kein Weg an der politischen Aufwertung der OSZE und der Optimierung ihrer Instrumente vorbei. Insbesondere jene Regierungen, die wie die bundesdeutsche die Singularität des NATO-Krieges betonen, werden durch Initiativen zur Stärkung der OSZE, aber auch der UNO, beweisen müssen, dass ihr Bekenntnis keine bloße Rhetorik zum Zweck moralischer Eigenentlastung darstellt.

Anmerkungen

1) Die KSZE ist auf dem Budapester Gipfel 1994 mit Wirkung zum 1. Januar 1995 in OSZE umbenannt worden. Eine Organisation im völkerrechtlichen Sinne ist sie damit aber nicht geworden, sondern sie basiert weiterhin auf politischer Übereinkunft. Die Teilnehmerstaaten bekräftigen ausdrücklich: „Durch den Namenswechsel (…) ändert sich weder der Charakter unserer KSZE-Verpflichtungen noch der Status der KSZE und ihrer Institutionen.“ – Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE am 5. und 6. Dezember in Budapest. Budapester Dokument 1994. Der Weg zu echter Partnerschaft in einem neuen Zeitalter, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 120. Bonn, 23. Dezember 1994, S. 1097-1115; hier: S. 1101 (Beschlüsse von Budapest, Pkt. I/29.).

2) Vgl.: Schlotter, Peter: Die OSZE – Leistungsfähigkeit einer internationalen Organisation, in: Die Friedens-Warte, 1/2000, S. 11-30.

3) Vgl.: Jaberg, Sabine: Unvermeidbare Gewalt? Chancen und Grenzen präventiver Friedenssicherung, in: Solms, Friedhelm u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 1997. (…)Münster 1997. (zit.: Friedensgutachten 1997.) S. 171-184; hier: S. 181-184.

4) Vgl.: Switalski, Piotr: Die wirtschaftliche Dimension – Auf der Suche nach dem Mehrwert der OSZE, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg/IFSH (Hrsg.): OSZE-Jahrbuch 1999. (…) Baden-Baden 1999. (OSZE-Jahrbuch; 5.) (zit.: OSZE-Jahrbuch 1999.) S. 415-424.

5) Siehe unten.

6) Die deutsche Bezeichnung »Hoher Kommissar für nationale Minderheiten« (Herv. SJ) ist missverständlich. Es handelt sich nicht um einen Ombudsmann für nationale Minderheiten, sondern ausschließlich um ein Instrument der Frühwarnung und Konfliktbewältigung. Die englische Bezeichnung »High Commissioner on National Minorities« (und eben nicht »High Commissioner for National Minorities«) trifft den Sachverhalt präziser.

7) Stoel, Max van der: Gedanken zur Rolle des Hohen Kommissars der OSZE für nationale Minderheiten als Instrument zur Konfliktverhütung, in: OSZE-Jahrbuch 1999, S. 429-441; hier: S. 433. – Vgl.: Zellner, Wolfgang: Was der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten bewirkt, in: Lutz, Dieter S./Tudyka. Kurt P. (Hrsg.): Perspektiven und Defizite der OSZE. Baden-Baden 1999/2000. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 123.) S. 141-171.

8) Zweites Treffen des Rates der Außenminister der Teilnehmerstaaten der KSZE. Am 30. und 31. Januar 1992 in Prag. Prager Dokument über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und Strukturen, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 12. Bonn, 4. Februar 1992, S. 83-88; hier: S. 84 (Pkt. IV/16.).

9) Vgl.: Jaberg, Sabine: Die OSZE: Zwischen kooperativem Anspruch und hegemonialer Ordnungspolitik (zit.: Jaberg: Die OSZE.), in: antimilitarismus information, 11/1999, S. 23-30. Meyer, Berthold/Schlotter, Peter: Zwischen Marginalisierung und Überforderung – die OSZE vor einer Renaissance?, in: Friedensgutachten 1997, S. 143-155. Zellner, Wolfgang: Die OSZE zwischen organisatorischer Überforderung und politischem Substanzverlust (zit.: Zellner: Die OSZE.), in: Ratsch, Ulrich u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 2000. [_] Münster 2000, S. 99-108.

10) Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Abschließendes Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 10. Bonn, 31. Januar 1989, S. 77-95; hier: S. 79 (Fragen der Sicherheit in Europa, Prinzipien, Pkt. 6.).

11) Bericht über das KSZE-Expertentreffen über die friedliche Regelung von Streitfällen. Valletta 1991. (zit.: Valletta-Bericht.) S. 6.

12) Valletta-Bericht, Pkt. XII Absatz 1, S. 13.

13) Vgl.: Jaberg, Sabine: Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch. Baden-Baden 1998. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 112.) S. 680-690.

14) Eine kritische Analyse des Mandats findet sich in Jaberg, Sabine: KSZE 2001. Profil einer Europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Bilanz und Perspektiven ihrer institutionellen Entwicklung. Hamburg 1992. (Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik; 70.) S. 45-50.

15) Auch nach Abgabe einer Frühwarn-Erklärung durch den HKNM wird ein Mandat der politischen Gremien erforderlich. Deshalb bemüht sich der HKNM, diese Schwelle nicht zu überschreiten.

16) Vgl.: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Helsinki-Dokument 1992. Herausforderung des Wandels, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin, Nr. 82. Bonn, 23. Juli 1992, S. 777-804; hier: S. 783 (Beschlüsse von Helsinki, Pkt. II/5b.).

17) Vgl.: Loquai, Heinz: Die OSZE-Mission im Kosovo – eine ungenutzte Friedenschance?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1999, S. 1118-1126.

18) Vgl.: OSCE: Administration and Finance – facts & figures, in: http://www.osce.org/general/budget/old_budget.htm (abgerufen am 27. Juli 2000).

19) Vgl.: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (Hrsg.): Yearbook 1999. Armaments, Disarmament and International Security. Oxford 1999, S. 326.

20) Auf wichtige Probleme verweist hier: Zellner: Die OSZE, a.a.O, S. 99 f.

21) Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden 2000. (Demokratie, Sicherheit, Frieden; 129.) (zit.: Loquai: Der Kosovo-Konflikt.) S. 62.

22) Matjewew, Alexander: Die Identitätskrise der OSZE, in: OSZE-Jahrbuch 1999, S. 67-90; hier: S. 75.

23) Vgl.: Jaberg: Die OSZE, a.a.O., S. 24-26.

24) Vgl.: Jaberg: Die OSZE, a.a.O., S. 26-29.

25) Loquai: Der Kosovo-Konflikt, S. 63.

26) Vgl.: Rede von Bundesminister a.D. Hans-Dietrich Genscher bei der Festveranstaltung anlässlich 25 Jahre Schlussakte von Helsinki am 19. Juli 2000 in Wien. (PC.DEL/407/00 vom 18. Juli 2000.).

27) Vgl.: Meyer, Berthold: In der Endlosschleife. Die OSZE-Langzeitmissionen auf dem Prüfstand. Frankfurt/M. 1998. (HSFK-Report; 3/1998.) S. 48-50.

Dr. Sabine Jaberg ist Lehrbeauftragte für Friedensforschung an der WWU Münster und Dozentin für Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg